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German Pages 438 [439] Year 2010
Uta Schirmer Geschlecht anders gestalten
Uta Schirmer (Dr. phil.) arbeitet als Vertretungsprofessorin am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain.
Uta Schirmer
Geschlecht anders gestalten Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Uta Schirmer Satz: Holger Priedemuth Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1345-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Dank
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Einleitung
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I. Konzeptionelle Perspektiven und forschungspraktische Zugänge
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1. Geschlechtliche Wirklichkeiten und die Wirklichkeit des Geschlechts: Debatten um Drag und um transgeschlechtliche Seinsweisen
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1.1 Destabilisierung und Produktivität – Konzeptionen von Drag 1.2 Spannungen zwischen Queer und Transgender Studies 1.3 Spezifizität und Heterogenität/Hegemoniales und Minoritäres 1.4 Sozialkonstruktivistische und queer-theoretische Ansätze verbinden: Grundzüge einer Forschungsperspektive
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2. Drag Kinging im Blick der Forschung
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3. Forschungspraktische Zugänge
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3.1 Achsen der Rekonstruktion: Soziale Kontexte, Praxen und Selbstverhältnisse 3.2 Erhebung und Auswertung
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II. Die Drag King-Szene: Kollektive Praxen, Bezüge und Verortungen
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1. Die Szene – ein einführender Überblick
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2. Kontextualisierungen
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2.1 Lesben-Szenen 2.1.1 Lesben, Geschlecht und Männlichkeit – eine Skizze historischer Linien 2.1.2 Drag Kinging im Kontext lesbischer Zusammenhänge
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2.2 Trans*-Szenen 2.2.1 Die medizinische Konstruktion der Transsexualität und Weisen ihrer Aneignung und Anfechtung: Eine Skizze historischer Linien 2.2.2 Drag Kinging im Kontext von Trans*-Zusammenhängen 2.3 Links-alternative Bezüge 3. Performance-Praxen: Inszenierungen, Lesweisen, Adressierungen 3.1 Bühnen-Performances 3.2 Das Publikum 3.3 Zu Performance-Praxen anregen 4. Drag Kinging im Horizont von (Gegen-)Öffentlichkeit – ein Zwischenfazit
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III. Drag Kinging, geschlechtliche Selbst- und Weltverhältnisse 191 1. Bärte und Spiegel: Geschlechtliche Wahrnehmungsweisen und Selbstverhältnisse 192 1.1 Zwischen Schönheit und Selbsterkenntnis? Sich mit Bart im Spiegel sehen 1.2 Geschlechtswahrnehmung, »gestalthafte Schwellenwerte« und objektiviertes Geschlecht 1.3 »Das verändert das Gesicht ungeheuer«: Der Bart als »gestalthafter Schwellenwert« 1.4 ›Ich‹ und sein Spiegelbild: Sich-Sehen als Identifikation 1.5 »… in den Spiegel gucken und sich einfach mal freuen«: Bezüge zu sich 1.6 Als King unterwegs sein: Unterschiedliche Wahrnehmungsweisen des Bartes 1.7 Bärte, Wahrnehmungsweisen und Selbstverhältnisse: Ein Fazit »Ich will kein Mann sein wollen«: Tam 2. Bearbeitungsweisen von Körperstilen 2.1 Habitus, Performativität und der Begriff des Körperstils 2.2 »Was ihr daraus macht, müsst ihr wissen«: Intentionale Bearbeitungen 2.3 »… dass ich da schon sehr geübt hatte«: Erinnerungen an kindliches körperliches Tun 2.4 Die praktische Entselbstverständlichung der Zweigeschlechtlichkeit
195 198 203 209 216 222 227 230 235 236 241 246 253
2.5 »Subtile Männlichkeitswettbewerbe«: Alternative Normen 2.6 Körperstile, geschlechtliche Selbst- und Weltverhältnisse: Ein Fazit 3. Zwischen »Rolle« und »Leben«? Performance-Praxen und geschlechtliche Wirklichkeiten
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3.1 Was Kinging ›ist‹: Eine Frage der Rahmung? 3.2 »Spielen dürfen« 3.3 Ein »schleichender Prozess«: Wie ›etwas‹ als wirklich erfahrbar wird 3.4 Freiheit von den Zwängen des Wirklichen? 3.5 Kinging, Rahmen und Wirklichkeiten: Ein Fazit
271 277
»Es hat sich wie eine Täuschung angefühlt«: Niko
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IV. Interaktionen, Bezugnahmen, Beziehungen: Geschlecht in unterschiedlichen Kontexten
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1. Geschlecht in der Szene
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2. Geschlecht auf der Straße
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2.1 »… das ist dann selbstverständlich«: Die offensichtliche Sichtbarkeit von zwei Geschlechtern 2.2 Irritationen des gaze, Verkörperungen und Gewaltverhältnisse »Wenn die Leute dir ständig mit Unsicherheit begegnen, wirst du selbst unsicher«: Luka 3. Geschlecht bei der Arbeit 3.1 Das Konzept der »sexuellen Arbeit« 3.2 »Ich bin da schon irgendwie ein bunter Vogel«: Besondernde Einschlüsse 3.3 »Man merkt schon, dass man einfach ’nen anderen Stand hat«: Strategische Männlichkeit, Mannsein, »patriarchale Dividende« 3.4 »Dann find’ ich’s auch wichtig, mich in dem Moment als Frau zu bezeichnen«: Arbeiten im Männerberuf 3.5 »… weil das einfach ein Begriff ist, mit dem man weiter kommt«: ›Transsexuell werden‹ im Betrieb 3.6 »Sexuelle Arbeit« und Zonen des Sichtbarwerdens: Ein Fazit
314 319 329 337 338 342
349 354 358 366
4. Zonen des Sichtbarwerdens und die (Mit-)Teilbarkeit von ›etwas‹
374
»… was sie noch dazupacken, das ist dann quasi Filip mit aber«: Filip
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4.1 »Es fühlt sich so rum und so rum nicht richtig an«: Jenseits von passing und outing 4.2 »… dass das nicht nur bei mir ’n Thema ist«: ›Etwas‹ ansatzweise erfahrbar machen
384 390
V. Schlussbetrachtungen
395
1. Geschlechtliche Erfahrungsweisen und Qualitäten des Wirklichen
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2. Eine andere geschlechtliche Welt vorstellbar machen
405
3. Neutralisieren oder anders gestalten?
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Literatur
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Dank Dieses Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Herbst 2008 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt a.M. eingereicht habe. Die langjährige Arbeit, die dem vorausging, wurde von der Unterstützung zahlreicher Menschen getragen. Dem DFG-Graduiertenkolleg Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung verdanke ich neben der finanziellen Förderung inspirierende Diskussionen, konstruktive Kritiken und solidarische, vielfach freundschaftliche Arbeitsbeziehungen, die mir bis heute sehr wertvoll sind. Den beiden Betreuerinnen meiner Dissertation, Katharina Liebsch und Andrea Maihofer, möchte ich herzlich danken für ihre je eigene Weise, in der sie mich in meiner Arbeit begleitet, ermutigt und herausgefordert haben. Ich habe weit mehr von ihnen gelernt, als in diesem Buch sichtbar werden kann. In der Anfangsphase der Dissertation hat mich zudem Ute Gerhard entscheidend unterstützt, wofür ich mich ebenfalls bedanken möchte. Den Teilnehmer_innen der Forschungswerkstatt interpretative Sozialforschung, Biographie und Geschlecht danke ich für die produktive, geduldige und oft zugleich lustvolle gemeinsame Interpretationsarbeit und für spannende methodische und methodologische Diskussionen. Wertvolle Anregungen zur Frage, wie den Dimensionen von Körperlichkeit in meiner Arbeit konzeptionell-methodisch auf die Spur zu kommen sei, verdanke ich dem Arbeitszusammenhang, aus dem später das Wissenschaftliche Netzwerk Praxeologien des Körpers hervorgegangen ist. Bettina Brockmeyer, Ulle Jäger, Nicole Labitzke, Alek Ommert, Alexandra Rau, Eva Sänger, Katja Sarkowsky, Tanja Scheiterbauer, Uli Spenkoch, Elisabeth Wagner und Mica Wirtz danke ich herzlich für ihre überaus hilfreichen und klugen Kommentare zu verschiedenen Fassungen einzelner Kapitel, für ihre Geduld und für Spaß am gemeinsamen Denken. Herzlichen Dank auch an Bini Adamczak für erhellende Ge9
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spräche zu zentralen Fragen meiner Arbeit und für ihre wertvollen Anregungen zur Überarbeitung für die Publikation. Gesprächen mit Handan Atadiyen, Sophinette Becker, Sarah Elsuni, Corinna Genschel, Judith Halberstam, Sabine Hark, Josch Hoenes, Kim Hannah Hörbe, Juliane Karakayalı, Renate Lorenz, Ulrike Manz, Karin Michalski und Karen Wagels verdanke ich ebenfalls hilfreiche Anregungen und Einsichten, die diese Arbeit geprägt haben. Dem Förderkreis des Cornelia Goethe Centrums danke ich für die Anerkennung, die die Auszeichnung meiner Dissertation mit dem Cornelia Goethe Preis 2009 bedeutet, sowie für die damit verbundene Erleichterung der Finanzierung des Drucks. Danken möchte ich auch meinen Eltern für ihre Zuversicht und ihr Vertrauen in mich, meiner WG für umfassende Unterstützung und für ein wunderbares Zuhause sowie meiner Supervisorin Ulle Jäger für ihre unschätzbare Hilfe in vielerlei Hinsicht. Für ihre kompetente Hilfsbereitschaft, ihren Humor und zahlreiche aufmunternde Begegnungen danke ich den Mitarbeiter_innen der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main, wo ein Großteil dieser Arbeit entstanden ist. Ganz besonders dankbar bin ich denen, die in dieser auch schweren Zeit als Freund_innen für mich da waren und zugleich mein Projekt von der ersten Idee bis zur letzten Zeile durch ihre klugen Gedanken und ihre konstruktive Kritik intellektuell begleitet haben: Alexandra Rau, Uli Spenkoch und Mica Wirtz haben mir auf so vielfältige und umfassende Weise geholfen, dass es mir schwer fällt, meinen Dank in Worte zu fassen. Vor allem aber möchte ich mich bei meinen Interviewpartner_innen bedanken, die – so will es die wissenschaftliche Praxis der Anonymisierung – hier nicht namentlich genannt werden können und doch das Wichtigste zu dieser Arbeit beigetragen haben. Ihre Praxen und Reflexionen, ihr Mut, ihre Klugheit, ihr Humor und ihre beeindruckende Fähigkeit, inmitten der Widersprüchlichkeit gegenwärtiger geschlechtlicher Zwänge und Möglichkeiten kreativ zu handeln, bilden nicht nur das Herz und das Rückgrat der vorliegenden Arbeit; ihre Präsenz in den Interviewtexten hat mich über die Jahre hinweg begleitet und bestärkt und nicht nur mein Denken, sondern auch mein Leben sehr viel reicher gemacht. Dafür bin ich ihnen zutiefst dankbar.
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Einleitung »Wie wird eine von den Beteiligten geschaffene soziale Struktur wie der Geschlechterunterschied für die Betreffenden zu einer geradezu drückenden Wirklichkeit?« (Lindemann 1993: 21) »Irgendwie ist das Stück für Stück normaler geworden, irgendwie so: Gibt halt Kings, ne, so: ist halt da, gut ist.« (Karla/Klaus im Interview)
Dieses Buch handelt davon, wie Geschlecht im Horizont eines subkulturell geprägten sozialen Zusammenhangs – der hiesigen Drag King-Szene – gestaltet und gelebt wird. Es beschäftigt sich mit den kollektiven Praxen und Sinnhorizonten, durch die es in bestimmten Kontexten »Stück für Stück normaler« werden kann, dass es »Kings« – Drag Kings – »gibt«, und mit den geschlechtlichen Möglichkeiten und Selbstverhältnissen, die damit verbunden sein können. Es geht der Frage nach, ob und wenn ja, wie Geschlecht hier zu einer Wirklichkeit wird, die für die »Betreffenden« möglicherweise weniger »drückend« ist als die Wirklichkeit ausschließlicher und rigider Zweigeschlechtlichkeit. Die Möglichkeit dieser Fragestellung – der Frage nach einer alternativen, nicht strikt zweigeschlechtlich strukturierten Wirklichkeit – findet ihren Horizont in sich seit knapp zwei Jahrzehnten abzeichnenden Veränderungen, die sowohl die Weisen des (akademischen) Nachdenkens über Geschlecht als auch praktische Artikulationen geschlechtlicher Lebensweisen betreffen. Im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung bahnten sich in den frühen 1990er Jahren paradigmatische Neuorientierungen an, die sich durch eine grundlegende Denaturalisierung und 11
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Historisierung der strikt binären Verfasstheit von Geschlecht auszeichneten. Insbesondere queer-theoretische, sozialkonstruktivistische und (körper- und wissenschafts-)historische Arbeiten, die in dieser Zeit entstanden, erwiesen sich als einflussreich für ein verändertes Denken von Geschlecht.1 Im Zuge dessen rückte etwa die symbolische und gesellschaftliche Organisation von (Hetero-)Sexualität als konstitutives Moment rigider Zweigeschlechtlichkeit vermehrt in den Blick. Der Geschlechtskörper als vermeintlicher Garant binärer geschlechtlicher Klassifikationen und Identifizierungen wurde in seiner historischen Wandelbarkeit, in seiner diskursiven Bedingtheit und je spezifischen Konstitution durch wissenschaftliche, soziale und kulturelle Praxen sichtbar. In den Fokus gerieten die institutionellen sowie alltagspraktischen Routinen, die zweigeschlechtliche Strukturierungen beständig hervorbringen, in ihrer Geltung bestätigen und als naturgegeben erscheinen lassen. Im Nexus dieser heterogenen, durch sehr unterschiedliche theoretische und disziplinäre Zugänge geprägten Forschungsperspektiven erschienen die zentralen Bestimmungsmomente der gegenwärtig hegemonialen Verfasstheit von Geschlecht – als einer naturalisierten, somatisch-biologisch fundierten, heteronormativen und hierarchisierenden Zweigeschlechtlichkeit – nun grundsätzlich erklärungsbedürftig. Der Fokus richtete sich in diesem Zusammenhang zunächst auf die Dekonstruktion, das Aufzeigen des historischen Gewordenseins und der beständigen gesellschaftlichen und sozialen Reproduktion hegemonialer Diskurse, Praxen und Institutionen. Dass sich ebenfalls bereits seit Anfang der 1990er Jahre vorwiegend in westlichen Großstädten geschlecht-
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Für den deutschsprachigen Kontext lassen sich die folgenden Ansätze und Arbeiten als entscheidende Wegmarken benennen: Vehement diskutiert wurden die dekonstruktivistischen, sprachphilosophisch inspirierten Überlegungen Judith Butlers (1999 [1990]; 1995), deren heteronormativitätskritische Implikationen allerdings erst später im Zusammenhang mit der Rezeption weiterer queer-theoretischer Ansätze aufgegriffen wurden (vgl. für frühe diesbezügliche Anschlüsse aber Hark 1993). Sozialkonstruktivistische Ansätze in der Tradition der Ethnomethodologie (u.a. Garfinkel 1967; Kessler/McKenna 1978; West/Zimmerman 1987) wurden seit dem Beklagen einer diesbezüglichen »Rezeptionssperre« (Gildemeister/Wetterer 1992) verstärkt wahrgenommen und weiterentwickelt. In dieser Tradition stehen auch die Studien von Gesa Lindemann (1993) und Stefan Hirschauer (1993), die die Hervorbringung zweigeschlechtlicher Wirklichkeit ausgehend vom Phänomen der Transsexualität untersuchen. Die historischen Arbeiten von Claudia Honegger (1991), Thomas Laqueur (1992) und Barbara Duden (1991) schließlich trugen entscheidend zum Verständnis des historischen Gewordenseins des modernen, biologisch begründeten und hierarchisierende Zweigeschlechtlichkeit begründenden Geschlechtskörpers bei.
EINLEITUNG
liche Artikulationen zu mehren begannen, die als dezidierte praktische Anfechtungen zweigeschlechtlicher Strukturierungen interpretiert werden können, gelangte dagegen nur zögerlich in den Blick der Forschung. Ein vollständig neues Phänomen stellen derartige Artikulationen allerdings nicht dar: Soziale Zusammenhänge, in denen geschlechtliche Inszenierungen, Identifizierungen und Bezugnahmen ausgebildet wurden, die in zweigeschlechtlichen Strukturierungen nicht aufgehen, lassen sich weit in die Geschichte zurückverfolgen. Davon zeugen etwa die ›Bubis‹ und ›Damen‹ der lesbischen Kneipen- und Clubkultur im Berlin der 1920er Jahre (vgl. Plötz 1997; Schader 2004), Inszenierungen von ›Butch/Femme‹2 im Kontext US-amerikanischer lesbischer Barkultur der 1950er und 1960er Jahre (vgl. Kennedy/Davis 1993), die schwule Kultur der Drag Queens, die im gleichen Zeitraum zu erster Blüte kam (vgl. Newton 1972) sowie subkulturelle Zusammenhänge, die durch unterschiedliche transgeschlechtliche Lebensweisen an den Rändern und Schnittstellen von Transsexualität, Homosexualität und Cross-Dressing geprägt waren (vgl. ›Members‹ 1998; Genschel 1998) – um nur einige Beispiele des letzten Jahrhunderts zu nennen. Seit etwa zwei Jahrzehnten werden Artikulationen alternativer geschlechtlicher Lebensweisen und Ansprüche jedoch deutlicher vernehmbar: Im Kontext der in kritischer Auseinandersetzung mit schwul-lesbischen Politikformen sich formierenden Queer-Bewegungen, im Zeichen von ›Transgender‹ als einer Reartikulation transgeschlechtlicher Lebensweisen jenseits medizinisch-rechtlicher Definitionen, auch im Zuge neuerer feministischer politisch-kultureller Zusammenhänge nimmt die Infragestellung zweigeschlechtlicher Strukturierungen, Normierungen und Zwänge eine explizite, auch auf Öffentlichkeit und politische Veränderungen gerichtete Form an.3 Zahlreiche künstlerische Produktionen, Festivals, politische Treffen und Kampagnen, Diskussions- und Partyveranstaltungen künden von einem neuen Selbstbewusstsein, mit dem (trans-)geschlechtliche Geltungsansprüche und geschlechterpolitische Forderungen zumindest
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Das Begriffspaar bezieht sich auf verändernde Aneignungen von männlich (Butch) resp. weiblich (Femme) codierten Stilmitteln und Körperpraxen in lesbischen Kontexten. Vgl. Feinberg 1992; Califia 1997; Halberstam 1998; 2005; Genschel 1998; Stryker 1998; Hark 1998; Jäger 2001; polymorph (Hg.) 2002; Stryker/ Whittle (Hg.) 2006. Politische Bestrebungen, die gesellschaftliche, medizinische und rechtliche Verfasstheit der Zweigeschlechtlichkeit ausgehend von Erfahrungen von und Umgangsweisen mit Intersexualität zu problematisieren, stellen einen weiteren bedeutsamen Strang der hier aufgerufenen Entwicklungen dar; vgl. Chase 1998; NGBK (Hg.) 2005; Klöppel 2010. 13
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in vielen westlichen Großstädten nunmehr artikuliert werden.4 Soziale Zusammenhänge, in denen nicht strikt zweigeschlechtliche Körperlichkeiten, Identifizierungen, Wahrnehmungsweisen und wechselseitige Bezugnahmen entwickelt und gelebt werden, nehmen nicht nur an Zahl und Ausbreitung zu. Sie scheinen vielfach auch leichter und für mehr Menschen zugänglich geworden zu sein. Häufig weniger auf einer gemeinsamen geschlechtlich-sexuellen Identität als auf geteilten kulturellen Praxen und/oder politischen Interessen basierend, können sie von unterschiedlichen geschlechtlichen Erfahrungshintergründen und Verortungen aus als attraktiv empfunden werden. Dies heißt allerdings nicht, dass derartige Unterschiede – Verortungen etwa als ›Lesbe‹, als ›Frau‹, als ›Transmann‹,5 als ›Tunte‹ – hier bedeutungslos würden: Die Differenzlinien hierarchisierter Zweigeschlechtlichkeit und der damit verbundenen, oft pathologisierten ›Abweichungen‹ behalten eine strukturierende Wirkmächtigkeit auch da, wo sie zum Bezugspunkt kritischer Anfechtung und Umarbeitung werden. Auch wenn Vernetzungen über unterschiedliche geschlechtlich-sexuelle Verortungen hinweg zunehmen, ist die (sub-)kulturelle und politische Landschaft, von der hier die Rede ist, heterogen und auch von Konfliktlinien durchzogen. Sie ist geprägt durch je spezifische und situierte Artikulationen von Geschlecht, wenn diese auch in der hier beschworenen ›Anfechtung heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit‹ einen gemeinsamen Fluchtpunkt finden mögen. Die sich seit der Jahrtausendwende in bundesdeutschen Großstädten entwickelnde Drag King-Szene, die im Fokus dieser Arbeit steht, ist in dem Horizont der hier angedeuteten Entwicklungen situiert und gleich-
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Als (nicht repräsentative) Beispiele für solche Ereignisse können etwa die zahlreichen Queer- und Transgender-Filmfestivals gelten, die in vielen Städten zur festen Einrichtung geworden sind; politische Zusammenkünfte wie die Europäische TransGender-Ratsversammlung, die 2005 erstmals tagte; künstlerisch-politische Ausstellungen wie z.B. 1-0-1 intersex. Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung (vgl. NGBK [Hg.] 2005); die Kampagne Stop Trans Pathologization 2012, an der sich im Jahr 2009 mehr als 180 Gruppen in 40 Ländern beteiligten; das linksautonome, internationale queeruption-Festival, das jährlich an unterschiedlichen Orten der Welt zelebriert wird; oder auch die queer-feministischen Ladyfeste, die etwa seit der Jahrtausendwende in immer mehr Städten von lokalen Netzwerken organisiert werden. Die Bezeichnung ›Transmann‹ steht in einem engeren Sinne für eine nicht medizinisch geprägte Selbstbezeichnung von Frau-zu-Mann-Transsexuellen, in einem sehr weiten Sinne für »alle Menschen, die sich mit dem zugewiesenen Geschlecht ›weiblich‹ falsch oder unzureichend umschrieben fühlen« (Regh 2002: 195). Ähnliche Konnotationen hat das in englischsprachigen Kontexten gebräuchliche ›FTM‹ (für ›Female-to-Male‹).
EINLEITUNG
zeitig durch spezifische Traditionslinien und Bezüge geprägt. Drag Kings traten – unter dieser Bezeichnung und als Repräsentant_innen6 oder Vorboten eines als neu wahrgenommenen Phänomens – erstmals in den frühen 1990er Jahren auf den Bühnen US-amerikanischer lesbischer Clubs in Erscheinung. Charakteristisch für den Drag King-Act als Bühnenperformance waren (und sind) theatralische, oft überzeichnende und persiflierende Inszenierungen unterschiedlicher ›Männlichkeiten‹ – zumeist (wenn auch nicht notwendigerweise) aufgeführt von Menschen, die bei ihrer Geburt als weiblich klassifiziert wurden. Was mit vereinzelten Shows und Contests begann, sollte bald zu einer Kultur werden, die auch über die Bühne und über den engen Horizont der Clubs hinaus ihre Wirkung entfaltete: Praxen des Kinging7 – etwa das Experimentieren mit und Ausloten von männlich codierten Stilmitteln, Gesten, Bewegungsweisen und Charakteren – wurden in speziellen Workshops vermittelt, in Freund_innenkreisen erprobt und ihre Wirkungsweisen in verschiedenen Situationen des Alltags ausgelotet. In vielen (v.a. nordamerikanischen und europäischen) Städten entstanden Drag King-Gruppen und -netzwerke, die teilweise zum Kristallisationskern unterschiedlich geprägter lokaler Drag King-Szenen wurden: Szenen, in denen das Experimentieren nicht nur mit männlich codierten, sondern zunehmend vielfältigen geschlechtlichen Inszenierungsweisen gemeinsame, mal mehr auf die Bühne bezogene, mal sich veralltäglichende Praxis werden kann; in denen – zumeist ausgehend von (gegenwärtigen oder früheren) Erfahrungen des Positioniertwerdens als ›Frau‹ – unterschiedliche geschlechtliche Verortungen und Verkörperungen entwickelt und gelebt werden.8 Dies gilt auch für die hiesige Drag King-Szene, die um die Jahrtausendwende herum in Berlin und in Köln ihre Anfänge nahm. Vorwiegend aus lesbisch-queeren sowie aus im Entstehen begriffenen Transgender-Zusammenhängen heraus wurde die andernorts sichtbarer werdende Drag King-Kultur aufgegriffen und zum Anlass neuer Netz6
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Die in dieser Arbeit durchgängig verwendete Schreibweise mit Unterstrich (›_‹) geht auf einen Vorschlag von Steffen Kitty Herrmann (2003) zurück: Als Symbol einer Leerstelle steht der Unterstrich als Platzhalter für geschlechtliche Geltungsansprüche und Möglichkeiten, die in der zweigeschlechtlich strukturierten Sprache nicht repräsentierbar sind. Dem Sprachgebrauch vieler der in die hiesige Drag King-Szene Involvierten folgend, verwende ich den Begriff ›Kinging‹ in einem weiten Sinne zur Bezeichnung eines Bündels von (auch alltäglichen) Praxen geschlechtlicher Inszenierungen, sofern diese für die Beteiligten selbst im Zusammenhang mit ihrem Engagement in Drag King-Kontexten stehen. Zu unterschiedlichen lokalen Szenen und Praxen vgl. u.a. Volcano/Halberstam 1999; Troka et al. (Hg.) 2002; Thilmann et al. (Hg.) 2007. 15
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werke und kollektiver Aktivitäten. Es entstanden Performance-Gruppen, regelmäßige offene Treffen in beiden Städten und eine deutschsprachige Mailingliste für alle am Thema Interessierten; Drag King-Workshops, -Shows, -Partys und Diskussionsveranstaltungen werden organisiert, ein Drag King-Magazin herausgegeben, Festivals veranstaltet, Treffen mit auswärtigen Drag King-Gästen initiiert. Die Formen der Beteiligung an dieser Kultur sind vielfältig: Längst nicht alle derer, die sich hier engagieren, drängt es auf die Bühne. ›Als King unterwegs‹ zu sein, wie die eigene Praxis und Verortung von manchen der in die Szene Involvierten umschrieben wird, kann vieles bedeuten: Die Formulierung verweist sowohl auf das Engagement in bestimmten Praxen – etwa ›in Drag‹ auf Partys zu gehen, durch die Stadt zu streifen oder auch in anderen Situationen des Alltagslebens in Erscheinung zu treten – als auch auf geschlechtliche Selbstverständnisse und Lebensweisen, die sich einer Vereindeutigung als Mann oder als Frau teilweise entziehen. Damit gehen unterschiedliche Weisen der Verkörperung einher, die für einige auch hormonell und/oder operativ bewirkte Veränderungen einschließen. Die geschlechtlichen Möglichkeiten und Erfahrungsweisen, die mit dem Engagement in Praxen des Kinging und den damit verbundenen sozialen Zusammenhängen einhergehen, sollen in dieser Arbeit auf der Basis von narrativen Interviews, ergänzt durch teilnehmende Beobachtungen in Szene-Kontexten, rekonstruiert werden: Wie wird Geschlecht hier inszeniert, verstanden, gestaltet und gelebt? Welche geschlechtlichen Strukturierungen, welche Formen sozialer Beziehungen und Bezugnahmen, welche möglichen geschlechtlichen Selbstverhältnisse bilden sich heraus? Und inwiefern werden die hervorgebrachten geschlechtlichen Möglichkeiten als ›wirklich‹ erfahrbar bzw. konstituieren eine geschlechtliche Wirklichkeit, die sich von einer strikt zweigeschlechtlich strukturierten Wirklichkeit unterscheidet? Zugleich wird danach gefragt, wo und wie zweigeschlechtliche Strukturierungen, in denen alternative Geschlechtlichkeiten als ›Abweichungen‹ konfiguriert oder zum Verschwinden gebracht werden, weiterhin wirkmächtig sind. In den Blick rücken derart die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen und Verhältnisse, die das Wirklichwerden unterschiedlicher Geschlechtlichkeiten ermöglichen oder verhindern. Die Arbeit soll damit einen Beitrag leisten zu einem besseren Verständnis der sich abzeichnenden, möglicherweise grundlegenden Veränderungen geschlechtlicher Möglichkeiten und Wirklichkeiten, die mit den gegenwärtigen Bestrebungen einer grundsätzlichen Anfechtung heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit einhergehen. In den bislang überwiegend kulturwissenschaftlich orientierten Forschungen zu diesem 16
EINLEITUNG
Phänomen bilden meist kulturelle Repräsentationen (etwa Filme, Performances, literarische Zeugnisse) den Ausgangspunkt der Analyse. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse aus einer sozialwissenschaftlichen, auf qualitativer empirischer Forschung basierenden Perspektive zu ergänzen und zu erweitern, ist eines der Anliegen der vorliegenden Arbeit: Ich gehe davon aus, dass es für ein erweitertes Verständnis der skizzierten Veränderungen geschlechtlicher Artikulationen sinnvoll ist, konkrete und situierte soziale Kontexte, kollektive Praxen und Sinnhorizonte sowie geschlechtliche Selbstverhältnisse in ihrem Zusammenspiel empirisch zu rekonstruieren und zu analysieren. Auf diese Weise können unterschiedliche Erfahrungsdimensionen geschlechtlicher Möglichkeiten in ihrer sozialen Bedingtheit in den Blick genommen werden. Und es kann untersucht werden, in welcher Weise unterschiedliche Geschlechtlichkeiten als wirklich erfahrbar werden – und wodurch eine solche Erfahrung ermöglicht, nahegelegt, erschwert oder verhindert wird. Die Forschungsperspektive, die mich bei diesem Unterfangen leitet, wird im ersten Kapitel des Buches (I.1) entwickelt und begründet: Wie lässt sich den möglichen Qualitäten des Wirklichen in Bezug auf alternative, nicht strikt zweigeschlechtlich strukturierte Geschlechtlichkeiten empirisch auf die Spur kommen? Mit Bezug auf konzeptionelle Debatten um Drag sowie um transgeschlechtliche Seinsweisen zeichne ich mögliche Anschlussstellen, aber auch problematische Verkürzungen bisheriger Ansätze zur Bearbeitung einer solchen Frage nach. Davon ausgehend skizziere ich Grundzüge einer Forschungsperspektive, die die aufgezeigten Engführungen zu überwinden helfen soll. Sie zielt darauf, sozialwissenschaftliche Ansätze zur empirischen Rekonstruktion sozialer Wirklichkeiten mit einer queer-theoretisch inspirierten Aufmerksamkeit für die Überschüsse, Ränder und Ausschlussmechanismen dessen, was sich als ›wirklich‹ zu qualifizieren vermag, zu verbinden. Durch die Diskussion der genannten Debatten wird zugleich in das Forschungsfeld eingeführt, das den weiteren Horizont dieser Arbeit bildet. Nach einem im engeren Sinne auf den ›Gegenstand‹ der Arbeit bezogenen Überblick über Forschungen zu Drag Kinging (I.2) erläutere ich meine methodische Herangehensweise (I.3). In den folgenden drei Kapiteln (II, III und IV) werden die empirisch gewonnenen Ergebnisse entfaltet und im Horizont sich jeweils anbietender theoretischer Konzepte beleuchtet, die dadurch ihrerseits erweitert, präzisiert oder modifiziert werden. Kapitel II befasst sich mit den kollektiven Sinnhorizonten, Aktivitäten und Praxen, die die hiesige Drag King-Szene als eine solche konstituieren, und zeichnet die in ihnen wirksam werdenden kulturellen und sozialen Bezüge nach. Nach einem 17
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kurzen Überblick über Entstehungsgeschichte, Aktivitäten, Netzwerke und Beteiligte (II.1) liegt ein erster Schwerpunkt auf der Situierung der Szene in historischen und gegenwärtigen Entwicklungen alternativer geschlechtlicher Artikulationen (II.2). Rekonstruiert wird hier vor allem, in welcher Weise Geschichte und Gegenwart von lesbischen und Transgender-Zusammenhängen sowohl Bedingungen der Möglichkeit von Kinging als einer sinnhaft verstehbaren Praxis darstellen als auch Anlass zu Reibung und Auseinandersetzung bieten. Kapitel II.3 widmet sich den Drag Performance-Praxen im engeren (d.h. auf theatralische Bühneninszenierungen bezogenen) Sinne. Exemplarisch werden Bühnenperformances im Kontext der hiesigen Szene beschrieben und hinsichtlich der in ihnen entworfenen und in Szene gesetzten geschlechtlichen und sexuellen Möglichkeiten interpretiert. Im Fortgang des Kapitels werden unterschiedliche, teils kontextgebundene Rezeptionsweisen von Performances aufgezeigt und wird danach gefragt, in welcher Weise Performance-Praxen eine über die Bühne hinausweisende Veralltäglichung erfahren. Sowohl Performance-Praxen als auch andere kollektive Aktivitäten der Szene beziehen sich, so wird im gesamten Kapitel deutlich, auf unterschiedliche Formen von Öffentlichkeit. Inwiefern es sich hier um ›gegenöffentlichkeitskonstituierende‹ Adressierungen handelt in dem Sinne, dass sie performativ auf eine andere geschlechtliche Welt und Wirklichkeit zielen, wird in einem Zwischenfazit (II.4) diskutiert. Nachdem derart der kollektive Horizont von Praxen des Kinging ausgeleuchtet wurde, konzentriert sich das folgende Kapitel (III) auf subjektive Erfahrungsweisen und Selbstverhältnisse, die mit dem Engagement in diesen Praxen einhergehen. Ausgehend von je spezifischen Praxen bzw. Aspekten von Praxis wird nach den dadurch ermöglichten Bezügen zu sich (als einem verkörperten, geschlechtlichen Selbst) und zu geschlechtlichen Strukturierungen der sozialen Welt gefragt sowie danach, in welcher Weise geschlechtliche Möglichkeiten als wirklich erfahrbar werden. Kapitel III.1 beschäftigt sich mit der Praxis, sich zu ›bebärten‹, d.h. mit dem Kleben oder Malen von Drag King-Bärten. Im Zuge dessen werden Fragen nach unterschiedlich strukturierten geschlechtlichen Wahrnehmungsweisen und nach damit verbundenen Möglichkeiten geschlechtlicher Identifizierungen beleuchtet. In Kapitel III.2 werden Bedeutungen der Bearbeitung von Körperhaltungen, Bewegungsweisen und Gestik im Horizont des Kinging rekonstruiert: In welchen Bezügen stehen derartige, zumindest teilweise bewusste Körperpraxen zu routinisierten und habitualisierten körperlichen Stilen? Wie verändert sich durch solche Praxen das Verhältnis zu sich, die Erfahrung des geschlechtlichen In-der-Welt-Seins und die Wahrnehmung der 18
EINLEITUNG
(zwei-)geschlechtlich strukturierten Welt? Kapitel III.3 befasst sich mit unterschiedlichen Erfahrungsweisen geschlechtlicher Inszenierungen: Die in den Interviews diesbezüglich aufgerufenen Bedeutungshorizonte von ›Spiel‹ oder ›Rolle‹ einerseits, (alltäglichem) ›Leben‹ oder ›Sein‹ andererseits werden hinsichtlich ihrer Bezüge zu unterschiedlichen geschlechtlichen Wirklichkeiten und dadurch konstituierten Seinsmöglichkeiten beleuchtet. Die Ergebnisse aus Kapitel III hinsichtlich der Praxen, Wahrnehmungsweisen und wechselseitigen Bezugnahmen, die (diese These sei hier vorweg genommen) im Horizont der Drag King-Szene und ihres Umfelds eine alternative geschlechtliche Wirklichkeit zu konstituieren scheinen, werden in Kapitel IV.1 nochmals aufgegriffen und spezifiziert. Sie bilden den Hintergrund für die darauffolgende Rekonstruktion von Interaktionen, Beziehungen und Bezugnahmen in anderen sozialen Kontexten, in denen die Interviewten sich alltäglich bewegen und in denen eine strikt zweigeschlechtliche Strukturierung zunächst erwartbar ist. Im Zentrum stehen einerseits flüchtige Begegnungen im öffentlichen Raum (IV.2) und andererseits längerfristige und verbindliche Beziehungen in Erwerbsarbeitsverhältnissen (IV.3). Welche geschlechtlichen Möglichkeiten und Wirklichkeiten realisieren sich hier, und welche Erfahrungen, Selbst- und Weltbezüge und Weisen, für andere geschlechtlich in Erscheinung zu treten, gehen damit einher? Werden die im Horizont der Szene entwickelten kollektiven Praxen auch in anderen sozialen Kontexten wirksam, und wenn ja, auf welche Weise? Inwiefern wird eine alternative geschlechtliche Wirklichkeit in unterschiedlichen sozialen Situationen (mit-)teilbar? Einige der in Kapitel III und IV behandelten Aspekte werden zusätzlich zur interviewübergreifenden Rekonstruktion anhand einer vertiefenden Interpretation von Einzelinterviews entfaltet. Bei diesen insgesamt vier ›themenbezogenen Kurzporträts‹ handelt es sich nicht um eine Verdichtung des jeweiligen Gesamtinterviews, sondern um eine beispielhafte Vertiefung einzelner Themen durch ihre Kontextualisierung im Horizont individueller biographischer Bezüge. Die das gesamte Buch teils implizit, teils explizit durchziehende Frage nach möglichen Qualitäten des Wirklichen in Bezug auf Geschlecht wird am Schluss (Kapitel V) nochmals aufgegriffen und diskutiert. Ich schließe mit Überlegungen zur Bedeutsamkeit einer Forschungsperspektive, die – im Unterschied zu Bestrebungen, Prozesse der ›Neutralisierung‹ von Geschlecht zu fokussieren – auf die Rekonstruktion alternativer Weisen des Geschlechtseins setzt, um sich gegenwärtig abzeichnenden Veränderungen geschlechtlicher Praxen und Selbstverhältnisse auf die Spur zu kommen. 19
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I. Konzeptionelle Perspektiven und forschungspraktische Zugänge 1. Geschlechtliche Wirklichkeiten und die Wirklichkeit des Geschlechts: Debatten um Drag und um transgeschlechtliche Seinsweisen Die soziologische Frage nach den gesellschaftlichen und sozialen Prozessen, durch die Wirklichkeit als eine solche hervorgebracht wird (vgl. Berger/Luckmann 1980 [1966]), beschäftigt auch die soziologische Geschlechterforschung schon lange: Seit Harold Garfinkels ethnomethodologischen Studien von 1967 wird hier eine Forschungsperspektive entwickelt, der die Wirklichkeit alltäglicher Zweigeschlechtlichkeit grundsätzlich erklärungsbedürftig wird. In dieser Perspektive rückt Geschlecht nicht länger als ein (vorgängiges, natürliches, im Individuum und seinem Körper begründetes) Sein in den Blick, sondern wesentlich als ein Tun, als doing gender (vgl. Goffman 1977; Kessler/McKenna 1978; West/Zimmerman 1987). Untersucht wird, wie durch dieses Tun – durch routinisierte Alltagspraxen der Geschlechtsdarstellung und -wahrnehmung – Geschlecht in sozialen Interaktionen beständig hervorgebracht und reproduziert wird. Soziale Interaktionen werden derart als ›Ort‹ des Geschehens ausgemacht, gelten jedoch ihrerseits als strukturiert durch institutionelle Arrangements, die ein doing gender anreizen bzw. erfordern. Zudem sind die in ihnen vollzogenen geschlechtskonstituierenden Praxen als immer schon sinnhafte bezogen auf situationsübergreifende Wissensbestände, die in ihnen zur Wirkung kommen und durch sie in ihrer Geltung reproduziert werden. Das in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften gültige Alltagswissen von Geschlecht, von Garfinkel (1967) als »nat21
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ural attitude« bezeichnet, zeichnet sich Suzanne Kessler und Wendy McKenna zufolge durch folgende Basisannahmen aus: Es gibt zwei und nur zwei Geschlechter; dies ist eine natürliche Tatsache; das Geschlecht einer Person macht sich am Körper fest; das Geschlecht einer Person ist unveränderbar; Phänomene, die diesen Annahmen zuwider laufen, können nicht ›ernsthaft‹ sein: sie sind ein Witz, etwas Pathologisches o.ä. (vgl. Kessler/McKenna 1978: 113f.). In den Blick rückt also ein Verweisungszusammenhang von gesellschaftlichen Strukturen, Wissensweisen, institutionellen Arrangements, sozialen Interaktionen und individuellen Praxen, durch den Zweigeschlechtlichkeit nicht nur hervorgebracht, sondern zudem als eine bzw. als die Wirklichkeit abgesichert und naturalisiert wird: als etwas, das den Individuen als objektive Realität entgegentritt, die unabhängig von ihrer Wahrnehmung und ihrem Tun natürlicherweise existiert. Die frühen Studien von Garfinkel und Kessler/McKenna erforschen diesen Verweisungszusammenhang nun ausgehend vom Phänomen der Transsexualität, durch das grundlegende Annahmen über die geschlechtliche Wirklichkeit zunächst verletzt werden: Transsexuelle leben Geschlecht in einer Weise, die die Bindung an den biologisch bestimmten Geschlechtskörper und die lebenslange Zugehörigkeit zu einem Geschlecht in Frage stellt. Durch die Rekonstruktion der Praxen, Interaktionen und Annahmen, durch die sie dennoch zu ›wirklichen‹ Frauen oder Männern werden, suchen die Autor_innen die Funktionsweise nicht nur transsexueller, sondern jeglicher sozialer Praxen zu erhellen, durch die Zweigeschlechtlichkeit als stabile und verbindliche Wirklichkeit konstituiert wird. Diese Wirklichkeit wird so als Resultat sozialer Praxen (und nicht als natürliche Tatsache) sichtbar und damit als prinzipiell kontingent ausgewiesen. Die prinzipielle Kontingenz der zweigeschlechtlichen Wirklichkeit gilt in den genannten Studien (und in vielen an die ethnomethodologische Tradition anschließenden sozialkonstruktivistischen Forschungen) allerdings überwiegend als etwas, das sich allein aus der Perspektive der Forschung erkennen lässt – und nicht als etwas, das auf der Ebene der erforschten Wirklichkeit selbst erfahrbar wäre: So kontingent die Wirklichkeit aus der Sicht der Soziolog_innen erscheint, so stabil, unhintergehbar und fraglos scheint sie sich den ›Alltagsteilnehmer_innen‹ darzustellen. Dass auf diese Weise die als kontingent ausgewiesene Zweigeschlechtlichkeit gleichzeitig als (gegenwärtig) unausweichlich und alternativlos erscheint, mag zum Teil dem Gegenstand der Forschung geschuldet sein: Die institutionelle (medizinische und rechtliche) Verfasstheit der Transsexualität, so wie sie in den frühen Studien in den Blick rückt, zielt normativ auf eine (Wieder-)Herstellung der 22
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zweigeschlechtlichen Wirklichkeit.1 In späteren Studien zu Transsexualität, die an die ethnomethodologische Tradition anschließen (insbesondere Lindemann 1993 und Hirschauer 1993), rücken diese institutionellen Bedingungen stärker in den Blick und werden Inkongruenzen (d.h. auch Verkörperungen und Selbstreflexionen, die in einer zweigeschlechtlichen Wirklichkeit nicht aufgehen) deutlicher sichtbar.2 Dennoch bleibt das Erkenntnisinteresse auch dieser Studien vorwiegend darauf gerichtet, die soziale Hervorbringung ›der‹ Wirklichkeit als einer zweigeschlechtlichen zu rekonstruieren. Stefan Hirschauer hebt die zunächst lediglich theoretische bzw. forschungspraktische Relevanz der ›Kontingenzthese‹ explizit hervor: Der »konstruktivistische Ansatz« sei »zunächst gar nicht politikfähig«, denn er »konfrontiert die erlebte Tatsächlichkeit sozialer Realität […] mit ihrer großen Kontingenz und er setzt die Rezipientin so einer Spannung zwischen Möglichem und Wirklichem aus, die größer ist als die zwischen Utopischem und Wirklichem« (Hirschauer 1995: 68; Herv. i.O.). Die These von der »Konstruiertheit der Geschlechter« gilt Hirschauer daher als eine »erfahrungsferne These« mit einer nur geringen »Anschlussfähigkeit an Selbstdeutungen der eigenen Geschlechtszugehörigkeit« (ebd.: 69). Die »erlebte Tatsächlichkeit sozialer Realität«, so scheint es, ist lediglich intellektuell durch die soziologische Einsicht in ihre Kontingenz relativierbar. Diese Einsicht bleibt abstrakt und »erfahrungsfern«: Sie hat offenbar kein Korrelat auf der Ebene von Erleben und Erfahrung.3 Anders erscheint dies aus einer Forschungsperspektive, die seit den 1990er Jahren im Kontext der Geschlechterforschung an Bedeutung gewinnt: Forschungen im Feld der Queer und Transgender Studies, denen die zweigeschlechtliche Wirklichkeit ebenfalls als grundsätzlich 1 2
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Vgl. dazu ausführlich und differenzierter Kapitel II.2.2.1. Dies gilt insbesondere für die Studie von Gesa Lindemann (1993). Vgl. dazu sowie zu der Möglichkeit, mit Lindemanns Ansatz auch andere als strikt binär strukturierte geschlechtliche Wirklichkeiten erforschen zu können, Jäger 2004: 157ff. Die Selbstdeutungen und gelebten Erfahrungen der Akteur_innen bzw. überhaupt die Ebene von Subjektivität interessiert in der genannten Forschungsperspektive insgesamt wenig: Durch die Fokussierung von doing gender gerät Geschlecht vorwiegend als ein Tun in den Blick; die Frage nach dem dadurch konstituierten geschlechtlichen Sein nicht nur für andere, sondern auch auf der Ebene von Selbstverhältnissen wird dabei tendenziell vernachlässigt. Eine Ausnahme stellt allerdings die Studie von Gesa Lindemann (1993) dar, die im Anschluss an phänomenologische Ansätze vor allem die Ebene subjektiv erfahrener Leiblichkeit in den Fokus ihrer Analyse rückt (ich komme darauf in Kapitel III.1.2 zurück). 23
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erklärungsbedürftig gilt, richten ihr Augenmerk stärker auf Phänomene, die sozusagen an den Rändern der Zweigeschlechtlichkeit sich abspielen. In den Fokus geraten z.B. Geschlechterpraxen, Verkörperungen und Selbstverhältnisse, die in lesbischen, schwulen oder Transgender- (Sub-) Kulturen entwickelt und gelebt werden, sowie die Brüche, Inkongruenzen und Widersprüche in der alltäglichen Reproduktion zweier Geschlechter. Die Möglichkeit einer Infragestellung der zweigeschlechtlichen Wirklichkeit als der einzig möglichen ist aus dieser Perspektive nicht lediglich eine erkenntnistheoretische (bzw. forschungspraktische), sondern eine prinzipiell in der sozialen Wirklichkeit selbst zu rekonstruierende. Mit Bezug auf vorwiegend im Feld der Queer und Transgender Studies geführte konzeptionelle Debatten um Drag4 und um transgeschlechtliche Seinsweisen suche ich im Folgenden aufzuzeigen, wie die Wirklichkeit von Geschlecht darin adressiert und verhandelt wird. Diskutiert werden dabei auch konzeptionelle Verkürzungen bezüglich dieser Frage, die zum Teil der stark geistes- und kulturwissenschaftlichen Ausrichtung des Forschungsfeldes geschuldet sind und durch Anschlüsse an die skizzierten soziologischen Ansätze zur empirischen Erforschung von Wirklichkeit möglicherweise überwunden werden können. Die Diskussion zielt insgesamt darauf, mögliche Anschlussstellen und Konsequenzen für eine sozialwissenschaftliche Arbeit zu markieren, mit der ich die (mögliche) Wirklichkeit von alternativen Geschlechtlichkeiten in einem subkulturellen Kontext empirisch zu rekonstruieren suche. Ich werde die genannten Debatten allerdings nicht umfassend nachzeichnen, sondern beziehe mich exemplarisch auf einige Texte, an denen sich grundlegende Ansätze und Kontroversen aufzeigen lassen, die meine eigene Perspektive prägen. Ich beginne mit Judith Butlers Ausführungen zu Drag in ihrem frühen Buch Gender Trouble. Zwar sind
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Drag bezeichnet eine Praxis ›gegengeschlechtlichen‹ Kleidens und Inszenierens (insbesondere, aber nicht ausschließlich im Kontext von Bühnenperformances), die im Horizont homosexueller, zunächst vor allem schwuler Subkulturen entwickelt wurde. Diese Entwicklung steht in einem engen Zusammenhang mit ›Camp‹, einer ebenfalls vorwiegend in schwulen Subkulturen herausgebildeten Ästhetik bzw. einem kulturellen Sinnsystem, das sich durch die Liebe zum Übertriebenen, durch exzessive Theatralik, durch eine Feier von ›Künstlichkeit‹ und Stilisierung und durch einen spezifischen Humor auszeichnet (vgl. exemplarisch Sontag 2003 [1964]; Newton 1972: 104ff.; Case 1993; Meyer 1994; Hark 1998; Cleto 1999). Insbesondere die Drag Queen gilt als ›Camp‹ par excellence, als eine Figur, die die Camp-Kultur versinnbildlicht, verkörpert und zur Aufführung bringt.
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diese Überlegungen, die sich auf wenige Seiten ihres Buches beschränken, seit ihrem Erscheinen ausgiebig diskutiert worden. Aus drei Gründen möchte ich sie hier dennoch noch einmal aufrufen: Erstens haben diese Überlegungen trotz oder gerade wegen der dadurch hervorgerufenen Kontroversen paradigmatischen Status (nicht nur) für Forschungen zum Zusammenhang von Drag-Praxen und geschlechtlichen Wirklichkeiten erlangt. Eine Arbeit zu Drag Kinging kommt um eine Auseinandersetzung damit auch dann kaum herum, wenn sie (wie die meine) Drag Performances nicht ins Zentrum des Interesses stellt, sondern sie als eine Praxis unter vielen anderen im Kontext der Drag King-Szene entwickelten in den Blick nimmt. Zweitens entwickelt Butler im Kontext ihrer Diskussion von Drag ihre Theorie der Performativität von Geschlecht ausgehend von Körperpraxen (und nicht, wie in anderen Teilen von Gender Trouble und in vielen ihrer späteren Werke, ausgehend von performativen Sprechakten bzw. der Performativität von Sprache überhaupt): Wie in den Konzeptionen von doing gender wird Geschlecht auch hier als eine (körperliche) Praxis konzipiert. Und drittens lassen sich gerade an den in der Debatte geäußerten Kritiken an Butler bestimmte Weiterentwicklungen und Kursänderungen im queer-theoretischen und Transgender-Studies-Feld aufzeigen, die einen bedeutsamen Kontext meiner Arbeit darstellen.
1.1 Destabilisierung und Produktivität – Konzeptionen von Drag Drag als Modus der Anfechtung hegemonialer Wirklichkeit Die Frage nach den Bedingungen, die (nur) bestimmte Geschlechter als ›wirkliche‹ konstituieren, und nach einer möglichen Anfechtbarkeit dieser Bedingungen durchzieht mehr oder weniger explizit den gesamten Text von Butlers frühem Buch Gender Trouble (1999 [1990]):5 Was sind die Normen, die die Hervorbringung möglicher Geschlechter regulieren? Wie werden im Horizont dieser Normen bestimmte Geschlechtlichkeiten als legitim und wirklich, andere hingegen als unmöglich bzw. ›unwirklich‹ konstituiert? In ihrem Vorwort zur Neuauflage von 1999 formuliert Butler eine Intention ihres Textes wie folgt:
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Ich zitiere im Folgenden aus der U.S.-amerikanischen Ausgabe, da die deutsche Übersetzung von gender mit ›Geschlechtsidentität‹ den Bedeutungshorizont des englischen Begriffs (der z.B. auch die Dimension der Geschlechtsdarstellung umfasst) nicht adäquat wiedergibt. Dies sorgt gerade bei den mich hier interessierenden Passagen für Verwirrung. 25
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»To the extent the gender norms […] establish what will and will not be intelligibly human, what will and will not be considered to be ›real‹, they establish the ontological field in which bodies may be given legitimate expression. If there is a positive normative task in Gender Trouble, it is to insist upon the extension of this legitimacy to bodies that have been regarded as false, unreal, and unintelligible.« (Ebd.: xxiii)
Auf dem Spiel steht für Butler also eine Veränderung bzw. Ausdehnung des durch Geschlechternormen konstituierten »ontologischen Feldes«, das nur bestimmte Körper als sinnhaft menschliche und wirkliche konstituiert. Mit Gender Trouble möchte Butler eine Perspektive eröffnen, die eine Ausweitung geschlechtlicher Möglichkeiten denkbar macht: »[T]he aim of the text was to open up the field of possibility for gender without dictating which kinds of possibilities ought to be realized. One might wonder what use ›opening up possibilities‹ finally is, but no one who has understood what it is to live in the social world as what is ›impossible‹, illegible, unrealisable, unreal, and illegitimate is likely to pose that question.« (Ebd.: viii)
Anders als zumindest die frühen ethnomethodologischen Studien konfiguriert Butler die Frage nach der prinzipiellen Veränderbarkeit dessen, was die Wirklichkeit von Geschlecht ausmacht, damit implizit als eine, die auf eine Erfahrung bezogen ist: die Erfahrung, in der sozialen Welt als ›unmöglich‹, ›unwirklich‹ und ›illegitim‹ zu gelten. Evoziert werden in diesen Zitaten Körperlichkeiten und Selbstverhältnisse, die sozusagen an den Rändern des »ontologischen Feldes« der (zwei-)geschlechtlichen Wirklichkeit auftauchen. Allerdings sind solche Körperlichkeiten und Selbstverhältnisse in Gender Trouble selbst kaum explizit ein Thema: Die textliche Strategie, die Butler bei ihrer Bemühung um eine Ausweitung des Feldes geschlechtlicher Möglichkeiten verfolgt, richtet sich auf die Dekonstruktion dessen, was ›die‹ (hegemoniale) Wirklichkeit konstituiert, und nicht auf das Ausloten von Alternativen. Die Konsequenzen, die dies für ihre Adressierung von (möglichen) geschlechtlichen Wirklichkeiten hat, werden in ihren Überlegungen zu Drag besonders deutlich, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Butler diskutiert die mögliche Bedeutung von Drag Performances im Kontext ihrer Kritik an der hegemonialen Verfasstheit von Geschlecht, die sie als ›Ausdrucksmodell von Geschlecht‹ kennzeichnet. Dies bedeutet, dass Begehrensweisen, Körperstilisierungen, sexuelle und geschlechtliche Akte hegemonial als Ausdruck eines vorgängigen, im 26
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Inneren des Individuums verankerten geschlechtlichen Kerns, seiner geschlechtlichen ›Wahrheit‹ begriffen werden. Diese durch eine räumliche Entgegensetzung von ›innen‹ und ›außen‹ organisierte Vorstellung ist es nun, die Butler in Drag Performances zugleich aufgerufen und subvertiert sieht. Sie bezieht sich dabei auf eine Ende der 1960er Jahre durchgeführte anthropologische Studie von Esther Newton (1972), die US-amerikanische Drag Queen-Performances im Kontext schwuler Subkulturen vor ›Stonewall‹ (d.h. vor Beginn der neueren schwul-lesbischen Emanzipationsbewegungen) zum Gegenstand hat. Newton charakterisiert eine mögliche ›Aussage‹ von Drag Queen-Performances wie folgt: »At its most complex, [drag] is a double inversion that says, ›appearance is an illusion‹. Drag says […] ›my »outside« appearance is feminine, but my essence »inside« [the body] is masculine‹. At the same time it symbolizes the opposite inversion; ›my appearance »outside« [my body, my gender] is masculine but my essence »inside« [myself] is feminine‹.« (Newton 1972, zitiert nach Butler 1999 [1990]: 174)
Die Drag Performance, so dieses Zitat, scheint zunächst sehr wohl die hegemoniale Entgegensetzung von innerer Essenz und äußerer Erscheinung zu wiederholen. Die Position der inneren Essenz und damit des Trägers der geschlechtlichen Wahrheit kann dabei jedoch sowohl durch den (geschlechtlich bestimmten, naturalisierten) Körper als auch durch das (geschlechtlich bestimmte) ›Wesen‹ (oder ›Selbst‹) eingenommen werden. Aufgerufen werden damit die beiden zentralen Instanzen, die die Verankerung eines ›wahren Geschlechts‹ ›im‹ Individuum zu garantieren scheinen: Der biologisch bestimmte Geschlechtskörper sowie eine psychologisch als unwandelbarer Kern konzipierte Geschlechtsidentität.6 Was die Drag Performance vorführt, ist nun nach Butler nicht einfach das Auseinandertreten beider – d.h. die Inkongruenz von sex und gender – sondern die Struktur selbst, in der beides als mögliche ›Ursache‹ eines ›Geschlechtsausdrucks‹ eingesetzt wird: Indem beide zugleich aufgerufen werden, aber einander widersprechende geschlechtliche Wahrhei6
Mit ihrer Bezugnahme auf eine Konzeption von Geschlechtsidentität als »psychological ›core‹« (ebd.: 174) verweist Butler implizit auf psychologische Konzepte, die im Kontext der Forschung zu und ›Behandlung‹ von Trans- und Intersexualität in den 1960er Jahren entwickelt wurden und die später von Feminist_innen aufgegriffene Unterscheidung zwischen sex und gender begründeten: Mit dem Konzept der »core gender identity« bezeichnet Robert Stoller (1968) die Gewissheit, ein Geschlecht (d.h. eines von zwei Geschlechtern) zu sein – eine Gewissheit, die als frühkindlich entwickelt und dann unwandelbar und fix konzipiert wird. Vgl. dazu ausführlicher Kapitel II.2.2.1. 27
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ten signifizieren, wird die Entgegensetzung von (wahrer) Essenz und (illusorischer) Erscheinung selbst ad absurdum geführt. Drag verschiebt dadurch, so Butler, »the entire enactment of gender significations from the discourse of truth and falsity«, »fully subverts the distinction between inner and outer psychic space and effectively mocks both the expressive model of gender and the notion of a true gender identity« (ebd.: 174). Emanzipatorisch bedeutsam ist diese (mögliche) Subversion, so macht Butler deutlich, vor dem Hintergrund, dass das von ihr skizzierte ›Ausdrucksmodell‹ nur bestimmte Geschlechtlichkeiten als wahr, als wirklich, als authentisch und natürlich sanktioniert: nämlich diejenigen, in denen Begehren, gelebte Sexualität, Verkörperung, Geschlechtsdarstellung und geschlechtliche Identität so miteinander verknüpft sind, dass sie eine Kohärenz im Sinne der Normen heteronormativer, somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit herstellen. Mit Drag verbindet Butler nun das Potential, die (Selbst-)Setzung heterosexuell und zweigeschlechtlich bestimmter Geschlechtlichkeiten als Original und als Ausdruck einer vorgängigen Wahrheit parodierend vorzuführen und dadurch die bestehende Wirklichkeit fraglich zu machen. Eine solche Anfechtung vermag die Parodie der Drag Performance7 nach Butler selbst dann noch (potentiell) zu leisten, wenn in ihr die Marginalisierung alternativer Geschlechtlichkeiten bzw. ihr Ausschluss aus dem Bereich des Wirklichen wiederholt werden: »Practices of parody can serve to reengage and reconsolidate the very distinction between a privileged and naturalized gender configuration and one that appears as derived, phantasmatic, and mimetic – a failed copy, as it were. And surely parody has been used to further a politics of despair, one which affirms a seemingly inevitable exclusion of marginal genders from the territory of the natural and the real. And yet this failure to become ›real‹ and to embody ›the natural‹ is, I would argue, a constitutive failure of all gender enactments for the very reason that these ontological locales are fundamentally uninhabitable. Hence, there is a subversive laughter in the pastiche-effect of
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Butler diskutiert Drag Performances in Gender Trouble als immer parodistische, was allerdings nicht auf alle Drag Performances zutrifft, wie etwa Claudia Breger bemerkt: »[D]rag operiert […] nicht ausschließlich im parodistischen Modus, sondern mit komplexen Konstellationen des Ineinanders von Parodie und Hommage gegenüber beispielsweise den Bildern von Filmstars, die für die Herausbildung lesbisch-schwuler Identitäten im 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle gespielt haben.« (Breger 2001: 108) Vgl. dazu in Bezug auf Drag King-Performances auch Kapitel I.2.
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parodic practices in which the original, the authentic, and the real are themselves constituted as effects.« (Butler 1999 [1990]: 187)
Die parodistische Performance bringt demnach ein Scheitern zur Aufführung, das Butler als konstitutiv erachtet für jeden Versuch, geschlechtlich ›wirklich‹ zu werden (»to become real«) und ›das Natürliche‹ zu verkörpern. Die darin implizierte Behauptung, es sei letztlich generell unmöglich, geschlechtlich ›wirklich‹ zu werden (bzw. »to become real«), wirft allerdings Fragen auf: Um welche Konzeption des ›Realen‹ geht es hier, und in welchem Verhältnis steht dies zu einem soziologischen Wirklichkeitsbegriff? Steht Butlers Aussage im Horizont einer psychoanalytisch inspirierten Konzeption der Identifikation im Anschluss an Jacques Lacan, die deren notwendig imaginäre und phantasmatische Struktur betont und in der das ›Reale‹ sich einer Symbolisierung und möglichen Verkörperung per Definition entzieht (vgl. dazu Butler 1995: 247ff.)? Es bleibt unklar, was Butlers Ausführungen genau bedeuten, wenn sie – wie oben zitiert – ihre Überlegungen zugleich in den Horizont des Nachdenkens über die Möglichkeit, in der sozialen Welt wirklich zu sein, stellt. Wie lässt sich die Frage nach der Möglichkeit sozialer Wirklichkeit (in einem soziologischen Sinne) mit Butler adressieren? In einem früheren Text thematisiert Butler Performance-Praxen noch im Anschluss an phänomenologische Ansätze, die (so Butler) zu erklären suchen, wie »sozial Handelnde die soziale Wirklichkeit durch Sprache, Gesten und alle möglichen Arten symbolischer Zeichen erst konstituieren« (Butler 2002 [1988]: 301; Herv. i.O.). In diesem theoretischen Rahmen entwickelt sie bereits ihre Konzeption der Performativität von Geschlecht, die sie dem ›Ausdrucksmodell‹ entgegensetzt: Nicht eine vorgängige Wahrheit, sondern performative geschlechtliche Akte – Gesten, Stilisierungen und Darstellungen, die geschlechtliche Normen zitieren – konstituieren demzufolge Geschlecht, und zwar (in diesem frühen Text) als eine soziale Wirklichkeit. Performance-Praxen vermögen nun in diesem theoretischen Horizont für Butler nicht lediglich die hegemoniale Wirklichkeit parodierend vorzuführen, sondern performativ etwas anderes als ebenso wirklich hervorzubringen: Als Effekt performativer Akte (wie jede andere Geschlechtlichkeit auch) ist »[d]ie Geschlechterzugehörigkeit [gender] des Transvestiten […] in der Tat so vollständig wirklich wie die Geschlechterzugehörigkeit derjenigen, die den sozialen Erwartungen entsprechen« (ebd.: 315). In Gender Trouble wird der ontologische Status dessen, was durch performative Akte des Geschlechts (und zwar sowohl in hegemonialen als auch in Drag Performances) konstituiert wird, dagegen merkwürdig 29
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unklar. Ob es sich Butler zufolge dabei um eine (soziale) geschlechtliche Wirklichkeit handelt oder aber lediglich um die ›Illusion‹ oder ›Fiktion‹ dessen, kann auf der Grundlage dieses Textes nicht abschließend geklärt werden. Butler scheint hier selbst zwischen beiden Alternativen zu schwanken.8 Festgehalten werden kann jedenfalls Folgendes: Auch wenn Butlers Thematisierung von Drag deutlich darauf zielt, geschlechtliche Wirklichkeit als ein umkämpftes Feld auszuweisen mit dem Ziel seiner Veränderung,9 verfolgt sie die Frage nach einer durch Drag-Praxen möglicherweise konstituierten anderen Wirklichkeit in Gender Trouble nicht weiter. Drag interessiert hier ausschließlich in Hinblick auf die (potentielle) Vorführung und Destabilisierung der hegemonialen, ideologischen Funktionsweise von Geschlecht; eine produktive, möglicherweise wirklichkeitskonstituierende Dimension dieser Praxis gerät dabei aus dem Blick. So wird auch die Frage, inwieweit die beiden oben genannten ›Instanzen‹, die hegemonial als im Individuum verankerte geschlechtliche Wahrheit gefasst werden – Geschlechtskörper und Geschlechtsidentität – im Kontext von Drag-Praxen möglicherweise umgearbeitet werden, von Butler (hier) nicht bearbeitet: Die Bedeutung beider scheint sich im Kontext von Drag darin zu erschöpfen, ihren Status als Ursache oder Grund geschlechtlicher Akte zu subvertieren. Die Frage, welche Körperlichkeiten und welche geschlechtlichen Selbstverhältnisse durch Drag-Praxen möglicherweise hervorgebracht wer-
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Vgl. zu Butlers konzeptioneller Vernachlässigung der Dimension des Wirklichen bzw. der »Realität des Imaginären« (Maihofer 1995: 51; Herv. i.O.) nicht nur im Kontext der Drag-Diskussion, sondern in weiten Teilen von Gender Trouble ausführlich Maihofer 1995: 47 ff. Auf Maihofers u.a. auf dieser Kritik beruhenden Reformulierung von Geschlecht als »Existenzweise« (ebd.) gehe ich später noch ein. Noch deutlicher macht Butler dies in einem späteren Text, in dem sie ihre Intentionen bei der Thematisierung von Drag in Gender Trouble erläutert: »The point to emphasize here is not that drag is subversive of gender norms, but that we live, more or less implicitly, with received notions of reality, implicit accounts of ontology, which determine what kind of bodies and sexualities will be considered real and true, and which kind will not. This differential effect of ontological presuppositions on the embodied lives of individuals has consequential effects. And what drag can point out is that (1) this set of ontological presuppositions is at work, and (2) that it is open to rearticulation.« (Butler 2004b: 214; Herv. U.S.) Und: »How is it that drag or, indeed, much more than drag, transgender itself enters into the political field? It does this, I would suggest, by not only making us question what is real, and what has to be, but by showing us how contemporary notions of reality can be questioned, and new modes of reality instituted.« (Ebd.: 217; Herv. U.S.)
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den,10 interessiert ebenso wenig wie die Frage nach dadurch konstituierten geschlechtlichen Wirklichkeiten. Diese grundlegende Ambivalenz in Bezug auf die Frage des Verhältnisses von Drag zu (sozialer) Wirklichkeit und die damit zusammenhängende Fokussierung auf das subversive und weniger auf das produktive Potential von Drag, die Butlers Ausführungen in Gender Trouble kennzeichnet, wurde hier deshalb in Erinnerung gerufen, weil sie auch die daran anschließende Diskussion insbesondere im queertheoretischen Feld lange Zeit geprägt hat.11 Die Tendenz vieler früher 10 Die Bearbeitung dieser Frage wird zusätzlich noch dadurch erschwert, dass Butler die von ihr identifizierten, in der Drag Performance relevant werdenden und auseinander tretenden Ebenen von »anatomical sex, gender identity, and gender performance« (Butler 1999 [1990]: 175) als in sich jeweils eindeutig (zwei-)geschlechtlich bestimmbar konzipiert. Auf diese vielfach kritisierte Vereinfachung gehe ich hier nicht näher ein. Die mögliche Komplexität und Uneindeutigkeit von in Drag Performances zur Aufführung gebrachten Verkörperungen, Sexualitäten und ›Identitäten‹ wird später ausführlich bei der Analyse einzelner Performances der hiesigen Drag King-Szene ausgelotet (vgl. Kapitel II.3). 11 Der Fokus auf Subversion bedeutet allerdings nicht, dass die Frage nach der Produktivität von Drag in der an Butler anschließenden Debatte vollständig aus dem Blick gerät. So begreift etwa Sabine Hark Drag Performances bzw. (umfassender) die »Camp-Kultur der Geschlechterparodie« als politisch bedeutsam, weil sie auf eine »Infragestellung und Veränderung naturalisierter sozialer Wirklichkeiten« ziele (Hark 1998: 120). Camp gilt ihr als ein Modus der Darstellung »queere[r] Identität, wobei Darstellung hier verstanden wird als die Produktion sozialer Sichtbarkeit« (Hark 1998: 124). Anders als Butler thematisiert sie Drag bzw. Camp damit nicht vorwiegend in Relation zu hegemonialer Geschlechtlichkeit, sondern als Strategie der Repräsentation/Produktion von Alternativen. Durch ihre Bezugnahme auf zahlreiche historisch-kontextuell situierte Phänomene – von U.S.-amerikanischen Butch/Femme-Subkulturen der 1950er Jahre über Drag Queen-Inszenierungen im Kontext der ›Stonewall‹-Riots bis hin zu Reformulierungen von Butch/Femme und lesbischen Geschlechterparodien der 1990er Jahre – gelingt es Hark, die Produktivität von Drag bzw. Camp und deren Bedeutung im Horizont (subkultureller) geschlechtlicher Wirklichkeiten nicht nur zu behaupten, sondern auch aufzuzeigen. Dennoch verortet auch Hark gegen Ende ihres Aufsatzes die hauptsächliche politische Bedeutung von Drag bzw. Camp nicht im Potential der Produktion von Alternativen, sondern in der »Bloßstellung« der Performativität hegemonialer Geschlechter: »Camp dient einer subversiven Funktion […] in dem Maße, wie die banalen imitierenden Darstellungen widergespiegelt werden, mit denen heterosexuell ideale Geschlechter performativ realisiert und naturalisiert werden, und es unterminiert deren Macht dann, wenn jene Bloßstellung erzielt wird.« (Ebd.: 132; Herv. i.O.) – Für weitere frühe Beiträge zur theoretischen Diskussion um Drag und Camp, die differenzierter und kontextbezogener 31
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queer-theoretischer Analysen, das Augenmerk vorwiegend auf die Subversion, Dekonstruktion und Destabilisierung hegemonialer Geltungsansprüche zu richten, und das auffällige Zögern, alternative Geschlechterpraxen als (konstitutiv für) eigenständige Wirklichkeiten in den Blick zu nehmen und zu benennen, hat allerdings gute Gründe: Anstatt den hegemonialen, fest-stellenden Blick auf geschlechtlich Minorisierte einmal mehr zu wiederholen, wird hier die heteronormative Zweigeschlechtlichkeit selbst zum Objekt der kritischen Untersuchung. Als eine Denkbewegung, die eine permanente Entselbstverständlichung verfestigter, naturalisierter und ontologisierter sozialer Strukturen betreibt, ist queeres Denken zudem skeptisch gegenüber jeder fixierenden Bestimmung; und ›Wirklichkeit‹, auch als Effekt sozialer Praxen begriffen, bezeichnet notwendig etwas Verfestigtes, Geronnenes, ein So-Sein, das nicht gleichzeitig auch anders sein kann (auch wenn es das potentiell könnte). Die queer-theoretische Denkbewegung der Dekonstruktion zielt auf ein beständiges Offenhalten für neue Möglichkeiten, ohne diese Möglichkeiten ihrerseits positiv zu bestimmen. In diesem Horizont hat die Anstrengung, das Potential von Drag-Praxen zur subversiven Ausstellung und Anfechtung von Wahrheits-, Wirklichkeits- und Authentizitätsansprüchen theoretisch zu durchdringen und zu explizieren, seine Berechtigung. Die theoretische Denkbewegung stößt jedoch an Grenzen, wenn es darum geht, die spezifischen Bedeutungen und Wirkungsweisen konkreter Drag-Praxen zu rekonstruieren: Als historisch und geopolitisch kontextualisierte und je spezifische Artikulationen gehen diese nicht auf in einer Analyse, die vorwiegend auf eine Formbestimmung bezüglich der Anfechtung des Hegemonialen zielt.
Die Produktivität queerer Performance-Praxen auf dem Terrain der Identität: Der Modus der disidentification Die Engführung der Diskussion um Drag auf die mögliche subversive Anfechtung des Hegemonialen ist bereits vielfach kritisiert worden.12 argumentieren als Butler, aber dennoch die Frage nach der Subversion des Hegemonialen in den Mittelpunkt stellen, vgl. exemplarisch Tyler 1991; Case 1993. 12 Vgl. exemplarisch Eve Kosofsky Sedgwick (2003: 9f.) und im Anschluss daran Matthias Haase (2005): »In dem Moment, in dem die Dragperformance als Akt beschrieben wird, der die Performativität von Geschlecht überhaupt vorführt, wendet sich die oder der Beschreibende von der je spezifischen erotischen Wirklichkeit der Performance ab und konzentriert sich auf die allgemeinen Konstitutionsgesetze der hegemonialen Ordnung. Die Performance wird auf diese Weise aus dem sozialen Raum, in dem sie stattfindet, herausgelöst und der vielfältigen sexuellen Signifikanzen be32
PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE
Esther Newton, deren frühe Studie zu Drag einen zentralen Bezugspunkt von Butlers Ausführungen darstellt, betont in einem späteren Text auf der Basis neuer ethnographischer Untersuchungen, dass die spezifische Bedeutung von Drag Performances weniger in ihrer Relation zu hegemonialen als vielmehr zu subkulturell artikulierten Geschlechterpositionen zu suchen sei, die ihrerseits sehr wohl als ›authentisch‹ erfahren würden: »Contrary to assertions that drag subverts any gender position, or gender as a system, for many [of those involved in gay drag; U.S.] drag becomes a performance in relation to what is subjectively experienced and socially accepted as an authentic self, defined by more or less coherent gay gender positions: butch (for masculine gay women and men), femme (primarily for feminine gay women), and queen (only for effeminate men).« (Newton 2000 [1996]: 86)
Wie genau die Beziehungen zwischen Drag Performances und je kontextuell ausbuchstabierten Geschlechterpositionen beschaffen sind (z.B. ob es sich eher um ein Verhältnis der Parodie oder eines des (authentischen) Ausdrucks handelt), gilt Esther Newton als eine nur empirisch zu klärende Frage. Sie plädiert daher für sorgfältige ethnographische und historische Forschung und dafür, diese in der theoretischen Diskussion stärker zu berücksichtigen. Gegen Ende der 1990er Jahre wird dieses Plädoyer zunehmend aufgegriffen. Empirische Untersuchungen zu Drag nehmen zu,13 und dadurch verändern sich auch die Perspektiven und Fragestellungen. In den Blick rücken nun je kontextuell spezifische Praxen und Sinnhorizonte, wodurch auch die Frage nach der produktiven Dimension von Drag in Bezug auf alternative geschlechtliche Wirklichkeiten, auf alternative Selbstverhältnisse und Verkörperungen einer Bearbeitung zugänglich wird. Ich komme darauf in Kapitel I.2 zurück. An dieser Stelle möchte ich lediglich einen auch theoretisch ausgearbeiteten Ansatz skiz-
raubt, die sie für die Personen hat, die in diesem Raum miteinander interagieren. In der Folge werden genau diejenigen Relationen unsichtbar, die für die Konstitution von Drag von zentraler Bedeutung sind. Denn Drag ist, wie Sedgwick schreibt, ›weniger eine bestimmte Art von Akt als ein heterogenes System, ein ökologisches Feld, dessen intensive und bezeichnende Relationalität ebenso sehr intern ist, wie es auf die Normen gerichtet ist, die es möglicherweise in Frage stellt‹.« (Ebd.: 11f.) 13 Vgl. zu neueren empirischen Forschungen in Bezug auf Drag Queens exemplarisch Schacht 1998; Rupp/Taylor 2003; sowie einige Beiträge in Schacht/Underwood 2004. Auf die empirische Forschung zu Drag Kinging gehe ich später (in Kapitel I.2) ausführlich ein. 33
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
zieren, der Drag bzw. queere Performance-Praxen explizit unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Produktivität hinsichtlich alternativer geschlechtlicher Seinsweisen verhandelt: das von José Esteban Muñoz vorgestellte Konzept der disidentification. In seiner Studie Disidentifications. Queers of Color and the Performance of Politics entwirft José Esteban Muñoz (1999) in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von US-amerikanischen queer of colorPerformance-Künstler_innen wie Marga Gomez, Vaginal Creme Davis, Ela Troyano, Carmelita Tropicana und anderen eine Perspektive, die nach der Neuverhandlung bzw. Umarbeitung subjektivierender Anrufungen in und durch Performance-Praxen fragt: Wie werden in diesen Performances hegemonial verfügbare Subjektpositionen bearbeitet – d.h. Subjektpositionen, die durch hierarchisierte und ›Weiblichkeit‹ abwertende Zweigeschlechtlichkeit, durch Heteronormativität und durch die Normativität von ›Weißsein‹ strukturiert sind? Und vor allem: Welche alternativen, in hegemonialen Repräsentationen nicht vorgesehenen Subjektivitäten werden dadurch (wie) sichtbar gemacht? In den von ihm analysierten Performances sieht Muñoz insbesondere eine Strategie solcher Umarbeitungen am Werk, die er als »disidentification« fasst und in seiner Einleitung theoretisch expliziert. Er übernimmt den Begriff der disidentification von dem französischen Linguisten Michel Pêcheux, der dieses Konzept in seiner Auseinandersetzung mit Louis Althussers Theorie der Anrufung entwickelt. Als Anrufung fasst Althusser die Wirkungsweise ideologischer, institutionell verankerter Formationen, durch die Individuen zu Praxen angereizt werden, durch die sie sich als gesellschaftliche Subjekte konstituieren. Pêcheux unterscheidet drei Modi, in denen diese Subjektivierung vonstatten gehen kann: Im Modus der Identifikation konstituiert sich das Subjekt konform zu den innerhalb der symbolischen Ordnung verfügbaren Subjektpositionen. Der Modus der counteridentification ist dagegen durch den Versuch einer direkten Zurückweisung dieser Subjektpositionen charakterisiert – eine Rebellion, die allerdings Gefahr läuft, ex negativo durch die ideologische Struktur determiniert zu bleiben, die sie anzufechten versucht. Disidentification ist demgegenüber ein ›dritter Modus‹, ein Verhältnis zur dominanten Ideologie, in dem diese gleichsam ›von innen heraus‹ umgearbeitet wird (vgl. Muñoz 1999: 11f.). In einem späteren Text charakterisiert Muñoz disidentification als ein Durcharbeiten der »in der dominanten Kultur materiell und psychisch verankerten Plätze«, das diese »weder zurückweist, noch sich mit ihnen vollständig identifiziert. […] Disidentifikation ist ein gleichzeitiges Arbeiten
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PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE
an, mit und gegen dominante ideologische Strukturen« (Muñoz 2007: 35).14 Die hegemonial vorgesehenen ›Plätze‹, die derart eingenommen und angeeignet werden, ohne sie vollständig und bruchlos zu verkörpern, sind sowohl dominante Positionen (wie etwa weiße heterosexuelle Männlichkeit) als auch die innerhalb der gesellschaftlich-kulturellen Ordnung als ›abweichend‹ und/oder ›minoritär‹ konstituierten Positionen (d.h. z.B. unterschiedliche rassistisch und/oder als queer markierte Positionen). Mit dem Konzept der disidentification zielt Muñoz auf »an understanding of the ways in which queers of color identify with ethnos or queerness despite the phobic charges in both fields« (1999: 11). Bezogen auf die von ihm analysierten Performances untersucht Muñoz, wie darin hegemoniale geschlechtliche, sexuelle und ethnische Signifikationen und deren misogyne, homophobe und rassistische Implikationen aufgerufen und in einer Weise umgearbeitet werden, die alternative Verortungen aufzeigt. Neben der auch für Muñoz entscheidenden Dimension der destabilisierenden Anfechtung des Hegemonialen durch dessen distanzierende Wieder-Aufführung (ähnlich wie bei Butler) betont Muñoz damit die produktive Dimension hinsichtlich der Hervorbringung und/oder Repräsentation von Alternativen: »Disidentification is about recycling and rethinking encoded meaning. […] Thus, disidentification is a step further than cracking open the code of the majority; it proceeds to use this code as raw material for representing a disem14 Muñoz konturiert diese zunächst sehr formale Bestimmung des Konzepts in seinem 1999 erschienenen Buch einerseits durch eine Verzahnung theoretischer Reflexionen mit Analysen konkreter Performances und andererseits durch eine sorgfältige Kontextualisierung des theoretischen Konzepts in queer-theoretischen und (insbesondere feministischen) postkolonialen Traditionen des Nachdenkens über Identifizierungen und der Problematisierung gängiger Identitätskonzeptionen. Es sind insbesondere die im Kontext des Third World Feminism und politischer Women of ColorZusammenhänge theoretisch reflektierten Erfahrungen, in hegemoniale Repräsentationen zugleich verwickelt zu sein und in ihnen nicht aufzugehen, die er als maßgeblich für seine eigene Analyseperspektive ausweist. (Einer seiner zentralen Bezugspunkte ist die von Cherríe Moraga und Gloria Anzaldúa [1983] herausgegebene Anthologie This Bridge Called My Back: Writings by Radical Women of Color.) Sowohl durch diese Kontextualisierung als auch durch seine eigenen Analysen weist Muñoz das Terrain der Identifizierung als ein nicht nur immer schon geschlechtlich strukturiertes (wie in der Psychoanalyse), sondern auch immer schon durch die gesellschaftliche Verfasstheit von race bzw. Ethnizität strukturiertes aus. Die Stärke seiner Analysen besteht u.a. darin, den je konkreten und komplexen Verquickungen beider Dimensionen Rechnung zu tragen. 35
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powered politics or positionality that has been rendered unthinkable by the dominant culture.« (Ebd.: 31)
Muñoz begreift disidentification als eine Strategie minoritärer Subjekte, die ihren Subjektstatus innerhalb kultureller und symbolischer Systeme erstreiten, in denen sie nur in phobisch aufgeladenen Repräsentationen vorkommen. Damit stellt Muñoz das Terrain von Möglichkeiten der Identifizierung und Subjektivierung im Kontext gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse ins Zentrum seines Interesses und weist dieses Terrain als ein umkämpftes und durch Performance-Praxen bearbeitbares aus. In seinen genauen und kontextualisierenden Analysen ausgewählter Arbeiten von queer of color-Performance-Künstler_innen lotet er deren ›disidentifikatorisches‹ Potential zur Umarbeitung und Weiterentwicklung möglicher Subjektpositionen aus. Bei weitem nicht alle der von Muñoz interpretierten Performances sind Drag Performances im engeren Sinne (d.h. im Sinne einer Vorführung einer Inkongruenz zwischen geschlechtlich bestimmter ›Anatomie‹ und geschlechtlicher Darstellung). Muñoz diskutiert Drag (vgl. ebd.: 97ff.) und auch Camp (119ff.) als mögliche disidentifikatorische Performance-Strategien unter anderen, und umgekehrt macht er sehr deutlich, dass weder Drag noch Camp notwendig disidentifikatorische Effekte haben müssen. Auch wenn seine Studie daher nicht in erster Linie eine Arbeit ›über Drag‹ ist, erlaubt die darin ausgearbeitete Perspektive auf (queere) Performance-Praxen eine Adressierung auch von Drag, die die problematisierte Engführung der Diskussion im Anschluss an Butler aufbricht und an die ich daher anschließen möchte: Erstens gilt es aus dieser Perspektive, die mögliche Subversion des Hegemonialen als Maßstab der Analyse aufzugeben und stattdessen konkrete Artikulationen und ihre jeweiligen Bezüge auf sowohl hegemoniale als auch minoritäre Positionalitäten zu rekonstruieren. Dies eröffnet zweitens auch die Frage nach einer möglichen Produktivität von Drag für alternative Positionalitäten, d.h. für alternative Möglichkeiten der Identifizierung und Verkörperung. Das Terrain von Identität und von Körperlichkeit, das in Butlers Ausführungen zu Drag aus dem Blick geriet bzw. lediglich als zu subvertierender Garant des hegemonialen ›Ausdrucksmodell von Geschlecht‹ interessierte, rückt damit in den Fokus der Analyse. Aufgrund des von Muñoz in den Blick genommenen ›Materials‹ – theatralische Bühnenperformances und Filme, nicht aber Selbstzeugnisse wie Interviews o.ä. – wird dieses Terrain von Identität und Körperlichkeit von ihm allerdings vorwiegend auf der Ebene künstlerischer Repräsentationen adressiert. Rekonstruiert werden auf diese Weise Sub36
PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE
jektpositionen, d.h. mögliche Verortungen bzw. Identifizierungen, und weniger individuell gelebte Selbstverhältnisse und Seinsweisen. Die Frage, inwieweit durch Performance-Praxen eine auch subjektiv als solche erfahrbare (alternative) Wirklichkeit konstituiert wird, lässt sich auf dieser Ebene kaum beantworten. Um diese Frage bearbeiten zu können, gilt es daher, das Verhältnis zwischen Bühnenperformances einerseits und anderen, ›alltäglicheren‹ Geschlechterpraxen, Verkörperungen und Selbstverhältnissen andererseits empirisch zu rekonstruieren – und davon ausgehend zu untersuchen, in welchem Verhältnis die Erfahrungsweise beider Ebenen zu einer Erfahrung von ›Wirklichkeit‹ steht (vgl. dazu insbesondere Kapitel III.3). Ob sich auch hier Prozesse der disidentification ausmachen lassen bzw. welche anderen Dimensionen einer möglichen Produktivität von Drag bezüglich geschlechtlicher Selbstverhältnisse sich erschließen lassen, ist dabei eine offene und nur empirisch zu beantwortende Frage.
1.2 Spannungen zwischen Queer und Transgender Studies Die Tendenz früher queer-theoretischer Überlegungen, sich auf destabilisierende und subversive Effekte zu konzentrieren und eine Anfechtung des Hegemonialen implizit zum Maßstab der Analyse zu machen, führte nicht nur zu Kritik und Weiterentwicklungen hinsichtlich des Nachdenkens über Drag und andere künstlerische Performance-Praxen. Problematisiert wurden die benannten Engführungen auch aus der Perspektive der Transgender Studies: Diskussionen um die Frage, wie alltägliche transgeschlechtliche Seinsweisen und Verkörperungen zu konzeptualisieren und forschungspraktisch in den Blick zu nehmen seien, fanden in den skizzierten queer-theoretischen Überlegungen im Anschluss an Butler einen Bezugspunkt kritischer Auseinandersetzung. Einige Aspekte dieser Auseinandersetzung und der in ihrem Verlauf entwickelten Forschungsperspektiven, die für meine Frage nach dem (möglichen) Wirklichwerden alternativer Geschlechtlichkeiten bedeutsam sind, sollen nun kurz skizziert werden. Wie in den Debatten um Drag steht auch in diesem Strang der Auseinandersetzung die Problematisierung einer Perspektive im Vordergrund, die sich vorwiegend auf eine mögliche Anfechtung der hegemonialen Verfasstheit von Geschlecht konzentriert und dabei die Spezifizität und konkreten Bedingungen minoritärer Geschlechterpraxen und -lebensweisen vernachlässigt. So formuliert etwa Ki Namaste:
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»The violation of compulsory sex/gender relations is one of the topics most frequently addressed by critics in queer theory. These discussions, however, rarely consider the implications of an enforced sex/gender system for people who live outside it. Critics in queer theory are fond of writing about the ways in which specific acts of gender transgression can help dismantle binary gender relations and hegemonic heterosexuality. While such an intellectual program is important, it is equally imperative that we reflect on which aspects of transgender lives are presented and how this discussion is framed.« (Namaste 1996: 183f.)
Namaste vermisst in den (frühen) queer-theoretischen Bezügen auf geschlechtliche Transgressionen eine Reflexion auf das, was sie als »the daily realities of transgendered people« (ebd.: 184) bezeichnet. Als zu erforschende Aspekte dieser ›alltäglichen Wirklichkeit‹ benennt Namaste u.a. Diskriminierungen in Beschäftigungsverhältnissen und auf dem Arbeitsmarkt, die Pathologisierung und oft unzureichende medizinische Versorgung im Kontext des Gesundheitssystems, die spezifische Situation von Transgender-Sexarbeiter_innen und die in diesem Zusammenhang besonders häufige Erfahrung von Polizei- und anderer transphober Gewalt sowie die problematische Position von ›Transgender‹ in vielen lesbischen und schwulen Communities. In Bezug auf Letzteres problematisiert sie Butlers Vernachlässigung des Kontextes, in dem die von ihr aufgerufenen Drag Queen-Performances stattfinden: In vielen, insbesondere kommerziellen schwulen Zusammenhängen, so Namaste, wären Drag Queens lediglich auf der Bühne und als Unterhaltung willkommen. Als reines Schauspiel gerahmt, könne die Drag Performance dem schwulen Publikum gerade zur abgrenzenden Selbstvergewisserung der eigenen, vor dieser Folie als unproblematisch behaupteten schwulen Identität dienen, so dass von einer Anfechtung oder Destabilisierung geschlechtlicher Identitäten keine Rede sein könne.15 Entkontextualisiert und lediglich in Relation zu hegemonialen geschlechtlichen Normen thematisiert, fungiere Drag in vielen queertheoretischen Texten lediglich als Figur, die etwas anderes zu erhellen und/oder zu destabilisieren vermag, nicht aber als Artikulation einer spezifischen und eigenständigen geschlechtlichen Position: Die Möglichkeit einer »drag subject-position« (ebd.: 187; Herv. i.O.) – und damit eben genau die Frage nach der möglichen Konstitution alter-
15 Zum komplexen und teils widersprüchlichen Verhältnis US-amerikanischer schwuler Subkulturen zu Drag in den 1960er Jahren vgl. Newton 1972, auf deren anthropologische Studie Namaste sich explizit positiv bezieht. 38
PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE
nativer Positionalitäten und Wirklichkeiten in und durch Drag – gerate so aus dem (dekonstruktiven) Blick. Namaste problematisiert darüber hinaus die implizite Normativität der Fokussierung auf die Destabilisierung hegemonialer Geschlechtlichkeiten: Während die durch Drag Queens aufgeführte geschlechtliche Inkohärenz als subversiv gefeiert würde, gerieten Transsexuelle – wenn sie Frausein oder Mannsein in einer möglichst eindeutigen und kohärenten Weise zu verkörpern und zu leben wünschten – leicht in den Verdacht der unkritischen Reproduktion herrschender Geschlechternormen (vgl. ebd.: 188f.). Ähnlich argumentiert auch Henry Rubin: »Trans phenomena are the new queer chic; our lives have been appropriated to demonstrate the theories of gender performativity, but only to the extent that they fail to reproduce the normative correspondence between body morphology and gender identity […]. Transsexuals thus often continue to be disparaged even while transgenders – an umbrella term meant to represent a range of queer genders such as drag queens, cross-dressers, butches, and trannies who do not pursue all or any of the surgical/hormonal options – are celebrated.« (Rubin 1998: 276; Herv. i.O.)
Auch Jay Prosser (1998) kritisiert, dass Transgender in vielen der frühen queer-theoretischen Texte (so auch in Gender Trouble) als »queer icon« (ebd.: 24), als Figur der Transgression fungiere, aber nicht als gelebte Verkörperung in den Blick komme: »[T]he embodied subject of transgender barely occupies the text of Gender Trouble – a book very much, after all, about subjects’ failure of embodiment.« (Ebd.) Kritisiert werden also queer-theoretische Funktionalisierungen von Drag bzw. Transgender als Figur der Destabilisierung, als »queer chic« oder »queer icon« sowie die gleichzeitige implizite Abwertung transsexueller Geltungsansprüche, Selbstverständnisse und Verkörperungen. Als eine erste Konsequenz aus dieser Kritik gälte es – so legen die zitierten Autor_innen nahe – eine Forschungsperspektive zu entwickeln, die die Spezifizität, die subjektive Unverfügbarkeit, die gelebte Körperlichkeit und (mögliche) eigensinnige Wirklichkeit unterschiedlicher (trans-)geschlechtlicher Seinsweisen zu rekonstruieren vermag. Während ich diese Schlussfolgerung prinzipiell teile, gilt es meiner Ansicht nach zugleich, bei der Entwicklung einer solchen Forschungsperspektive nicht hinter queer-theoretische Problematisierungen essentialisierender und Identitäten fixierender Analysen zurückzufallen. Dazu tendieren jedoch einige der Autor_innen, die sich im Feld der Transgender Studies verorten und sich dezidiert von queer-theoretischen Zu39
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
gängen abgrenzen. Für Prosser (1998) etwa ist die Spezifizität transsexueller Erfahrung (die er als eine konzipiert, die sich unweigerlich durch das Streben nach einer [zwei-]geschlechtlich eindeutigen Verkörperung auszeichnet) queer-theoretisch schlicht nicht adressierbar: Die Relevanz von Verkörperung für das transsexuelle Selbst, der Wunsch, ohne Schwierigkeiten ›wirklich geschlechtlich‹ in der Welt zu sein (»the desire to pass as ›really gendered‹ in the world without trouble«; ebd.: 59) und vor allem die Tatsache, dass viele Transsexuelle ihr Geschlecht nicht als Effekt performativen Tuns, sondern in einer ›konstativen‹ Weise als schlichtes Sein erführen (vgl. ebd.: 32), zeige die Grenzen queer-theoretischer Ansätze wie insbesondere der Theorie der Performativität auf. Diese Kritik verfehlt allerdings die Ebene, auf der Butler mit ihrer Theorie der Performativität ansetzt: Wenn sie, wie gezeigt, den ontologischen Status dessen, was durch performative Akte hervorgebracht wird, in Gender Trouble unklar lässt, so gerät die Frage nach dem individuellen Selbsterleben (von Körperlichkeit und ›Identität‹) tendenziell aus dem Blick; dies bedeutet jedoch nicht, dass sie behaupten würde, Geschlecht würde von den Individuen als performativer Effekt (und nicht als ein Sein) erfahren. Sie sagt an dieser Stelle nur nichts darüber aus. Wenn Prosser also bemerkt, viele Transsexuelle würden ihre Geschlechtlichkeit nicht als Effekt eines (performativen) Tuns, sondern als ein einfaches So-Sein erleben, kann dies kaum als Gegenargument gegen Butlers Konzeption gelten. Jenseits theoretischer Spitzfindigkeiten ist dies bedeutsam, weil Prossers Bemühung, Transsexualität als entweder männliche oder weibliche Seinsgewissheit (mit dem unweigerlichen Wunsch nach einem dazu ›passenden‹ Körper) zu fassen, die Erfahrungen all derjenigen unberücksichtigt lässt, die unter dem Zeichen der Transsexualität oder an dessen Rändern diese Gewissheit nicht teilen und/oder nicht verkörpern (können). Genau hier wird die durch Butler und andere queer-theoretische Arbeiten aufgeworfene Frage, wer überhaupt sich in den herrschenden Verhältnissen als ›wirklich‹ und/oder als ›authentisch‹ begreifen kann, virulent – und von Prosser ausgeklammert.16 16 Prossers Ansatz steht damit für eine Tendenz einiger neuerer Arbeiten zu Transsexualität auf der Basis von Selbstzeugnissen, aus einer Kritik an queer-theoretischen Ansätzen heraus die subjektiv erlebte Wirklichkeit transsexueller Erfahrungen zu homogenisieren und teilweise auch zu essentialisieren. Die theoretisch anspruchsvollen und empirisch aufschlussreichen Studien von Prosser (1998) und Henry Rubin (2003), die sich auf der Basis von Autobiographien (Prosser) bzw. von Interviews (Rubin) mit FTM- (d.h. Female-to-Male-)Transsexualität befassen, fassen die in ihnen rekonstruierten geschlechtlichen Selbstverständnisse zwar 40
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Genau dies kritisiert Jacob C. Hale (1998) an Prossers Ansatz. Hale leistet selbst eine differenzierte Betrachtung unterschiedlicher geschlechtlicher Seinsweisen und Verkörperungen, die sich kategorialen Bestimmungen (etwa als Butch17 oder als FTM) entziehen und für die es eine Sprache, die sie in der sozialen Wirklichkeit verankern könnte, erst zu entwickeln gelte. Vor diesem Hintergrund erscheint ihm Prossers Versuch einer kategorischen Unterscheidung zwischen Transgender (von diesem als Transsexualität in dem genannten Sinne vereindeutigt) und queer kontraproduktiv, da sie das Leben solcher ›Grenzzonenbewohner_innen‹ (»border zone denizens«; ebd.: 119) in der sozialen Nichtexistenz belasse. Hale und mit ihm viele andere ziehen daher aus der skizzierten Spannung zwischen Queer und Transgender Studies nicht die Konsequenz, beide strikt von einander abzugrenzen. Der Tenor der meisten Debattenbeiträge zielt vielmehr darauf, queer-theoretische Perspektiven produktiv zu erweitern.18 Dies äußert sich teilweise auch in einer Problematisierung der starken geistes- und kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Queer Studies und einem Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Ansätze. Im Anschluss an die skizzierten Überlegungen möchte ich in dieser Arbeit eine queer-theoretisch informierte sozialwissenschaftliche Forschungsperspektive verfolgen, die der Spezifizität gelebter Verkörperungen und Subjektivitäten (einschließlich der Aspekte, die subjektiv als unverfügbar erfahren werden können) in einer nicht-essentialisierenden Weise Rechnung zu tragen sucht. Dabei gilt es, weder hinter sozial-
durchaus als durch gesellschaftliche Konventionen und historische Entwicklungen strukturierte Narrationen. Beide Autoren tendieren jedoch dazu, in dem von ihnen zitierten Material aufscheinende Widersprüche und Unstimmigkeiten zu glätten. Im Ergebnis zeichnen beide ein Bild von FTM-Transsexualität als Gewissheit einer männlichen Identität, die für Prosser zudem als fest an den Wunsch nach einer möglichst vollständigen ›männlichen‹ Verkörperung gekoppelt gilt. Auf Arbeiten, die – ebenfalls auf der Basis transsexueller bzw. transgeschlechtlicher Selbstzeugnisse – eine andere Perspektive verfolgen, gehe ich später noch ein (vgl. Kapitel I.1.4). 17 Vgl. zur Bedeutung von ›Butch‹ exemplarisch die Definition von Gayle Rubin (1992: 467): »Butch is the lesbian vernacular term for women who are more comfortable with masculine gender codes, styles, or identities than with feminine ones.« Rubin zeigt in dem genannten Text die große Bandbreite möglicher Verkörperungen, Identifizierungen, Inszenierungen und Sexualitäten auf, die mit diesem Terminus bezeichnet werden können. 18 Vgl. u.a. Namaste 1996; Halberstam 1998a; Stryker 1998; Franzen 2002; Genschel 2003. 41
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
konstruktivistische Konzeptionen von Wirklichkeit als Resultat gesellschaftlich strukturierter sozialer Praxen noch hinter queer-theoretische Einsichten in die mit Wirklichkeitskonstruktionen verbundenen Ausschlussmechanismen zurückzufallen. Das bedeutet, (Körper-)Praxen, Selbstdeutungen, soziale Kontexte, Institutionen und Wissensbestände in ihrem Zusammenspiel in den Blick zu nehmen und zu rekonstruieren, was durch dieses Zusammenspiel jeweils konstituiert wird. Davon ausgehend gilt es zu untersuchen, inwieweit das derart Konstituierte als Wirklichkeit erfahrbar wird (und in welchem Sinne), und zugleich aufmerksam zu bleiben für das, was an den Rändern intelligibler sozialer Wirklichkeit aufscheint: für geschlechtliche Wünsche, die nur schwer artikulierbar sind; für Geschlechterentwürfe, die nicht realisierbar sind oder scheinen; für Wirklichkeiten, die prekär und/oder auf bestimmte soziale Kontexte beschränkt bleiben; für das, was in bestehenden sozialen und sprachlichen Kategorien nicht erfasst werden kann und dennoch als ihr Überschuss in irgendeiner Weise wahrnehmbar wird.
1.3 Spezifizität und Heterogenität/Hegemoniales und Minoritäres In konzeptioneller und letztlich gesellschaftstheoretischer Hinsicht impliziert die Frage nach der Möglichkeit alternativer (d.h. nicht ausschließlich zweigeschlechtlich strukturierter) geschlechtlicher Wirklichkeiten die Frage danach, wie das Verhältnis zwischen Hegemonialem und Minoritärem bzw. Marginalisiertem theoretisch zu fassen ist. Diese Frage wurde bislang lediglich implizit angesprochen. Die folgende Diskussion diesbezüglicher Überlegungen und Konzepte zielt darauf, Anschlussmöglichkeiten für mein weiteres Vorgehen aufzuzeigen und meine Forschungsperspektive in dieser Hinsicht zu präzisieren.
Unbewohnbare Zonen bewohnen, oder: Paradoxien einer Logik von Identifizierung und Verwerfung Die bislang skizzierten Auseinandersetzungen um queer-theoretische Ansätze machten sich weitgehend an Butlers Diskussion von Drag in Gender Trouble fest. Dabei geriet aus dem Blick, dass die Frage nach geschlechtlichen Seinsweisen (d.h. nach Subjektivitäten und Verkörperungen), die bei ihrer Drag-Diskussion an den Rand gedrängt wird, in anderen Teilen von Gender Trouble sowie in Butlers späteren Arbeiten sehr wohl ausführlich behandelt wird: In kritischer Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Ansätzen entwickelt Butler eine Theorie geschlechtlicher Identifizierung, in der die Festigkeit und subjektive Un42
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verfügbarkeit geschlechtlichen Seins ausdrücklich adressiert wird. Entgegen immer wiederkehrender missverständlicher Rezeptionen bedeutet Butlers Verzicht auf jede Annahme einer essentiellen, natürlichen, biologischen Fundierung von Geschlecht und Sexualität alles andere als die Schlussfolgerung, Geschlecht und Sexualität seien daher ›eigentlich‹ flexibel oder gar Gegenstand freier Wahl: »Wir müssen eine Möglichkeit finden, diesen tieferen und vielleicht uneinholbaren Sinn von Konstituiertheit und Zwang beschreiben zu können, angesichts dessen die Vorstellungen von ›Wahl‹ oder ›freier Entfaltung‹ nicht bloß fremd, sondern undenkbar und manchmal sogar grausam erscheinen.« (Butler 1995: 131) Die Dimension der Festigkeit und subjektiven Unverfügbarkeit geschlechtlichen Seins (die auch als ›Zwang‹ erlebt bzw. beschrieben werden kann) ergibt sich aus Butlers Konzeption geschlechtlicher Identifizierung als einer, die dem Subjekt vorausgeht und dieses erst als solches hervorbringt. Wie schon Sigmund Freud lokalisiert auch Butler Prozesse der Identifizierung in (insbesondere frühkindlichen) affektiven sozialen Beziehungen. Sie arbeitet jedoch heraus, dass und wie gesellschaftliche, in der symbolischen Ordnung geronnene Normen diese Prozesse anreizen und zugleich strukturieren und beschränken. Butler bezeichnet dieses System von Normen als »Matrix der Intelligibilität« (Butler 1991: 39): eine Matrix, die bestimmt, welche Geschlechtlichkeiten als sinnhafte verstanden werden können, und die sowohl diese Geschlechtlichkeiten als auch einen Bereich nichtintelligibler Verkörperungen und Identifizierungen als Verwerfungen hervorbringt. Wichtig ist, dass diese Matrix der Intelligibilität, die Butler als »heterosexuelle Matrix« spezifiziert (ebd.: 63ff.), nicht erst im Nachhinein Geschlechter in sinnhafte und nicht-lesbare scheidet, sondern dass sie in den Prozessen der Konstitution jeder Geschlechtlichkeit wirksam wird, ja, diese erst ermöglicht. Identifizierungen geschehen daher Butler zufolge zwar in konkreten sozialen Beziehungen, jedoch nicht unabhängig von gesellschaftlichen Normen, die in diese Beziehungen eingelassen sind. Butler konzipiert damit die Ebene des Psychischen als eine durch und durch gesellschaftliche. Dies hat allerdings zur Konsequenz, dass sie, wie Antke Engel (vgl. 2002: 23ff.) bemerkt, die relative Eigenlogik psychischer gegenüber sozialen Prozesse(n) tendenziell aus dem Blick verliert: Der Mechanismus der Verwerfung strukturiert Butler zufolge nicht nur die psychischen Prozesse der Subjektkonstituierung, sondern organisiert in gleicher Weise das Feld des Sozialen. In Körper von Gewicht schreibt Butler:
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»Diese Matrix mit Ausschlusscharakter, durch die Subjekte gebildet werden, verlangt somit gleichzeitig, einen Bereich verworfener Wesen hervorzubringen, die noch nicht ›Subjekte‹ sind, sondern das konstitutive Außen zum Bereich des Subjekts abgeben. Das Verworfene [the abject] bezeichnet hier genau jene ›nicht lebbaren‹ und ›unbewohnbaren‹ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ›Nicht-Lebbaren‹ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen.« (Butler 1995: 23)
Während sich die hier beschriebenen Verwerfungen noch als hegemoniale Phantasie interpretieren ließen (und deren Bedeutung für das Feld des Sozialen damit noch unbestimmt wäre), besetzt Butler an anderer Stelle ihres Textes die solcherart ›verworfenen Wesen‹ mit konkreten (und damit sehr wohl intelligiblen) Figuren, nämlich dem ›verweiblichten Schwulen‹ (fag) und der ›phallizisierten Lesbe‹ (dyke) (vgl. ebd.: 143ff.). Genau dies kritisiert Antke Engel: »Meiner Ansicht nach besteht ein entscheidendes Problem darin, dass Butler den psychischen Mechanismus der Verwerfung bruchlos ins Soziale überträgt. Statt davon auszugehen, dass die ›Gestalten des Verworfenen‹, die ›unlebbaren Körper‹ oder die ›unbewohnbaren Zonen‹ imaginäre Figuren sind, und zu erklären, wie diese als Imaginationen soziale Wirksamkeit entfalten und Mechanismen der Subjektkonstituierung organisieren, bürdet sie sozialen Subjekten auf, die hegemonial-phobischen Phantasien zu inkarnieren.« (Engel 2002: 29f.)
Während Butlers Ansatz es einerseits (in produktiver Weise) gerade ermögliche, das geschlechtliche ›Andere‹/›Abweichende‹ nicht in besonders gearteten Individuen zu fixieren, sondern als »ein verwerfliches Außen, das im Grunde genommen ›innerhalb‹ des Subjekts liegt, als dessen eigene fundierende Zurückweisung« (Butler 1995, zitiert nach Engel 2002: 24) zu fassen und damit eine strikte Grenzziehung zwischen ›Normalität‹ und ›Abweichung‹ anzufechten, scheint genau eine solche Entgegensetzung hier wiederholt zu werden: Indem Butler das Feld des Sozialen mit der (einen) symbolischen Ordnung anscheinend gleichsetzt, kann es offensichtlich nur eine Matrix der Intelligibilität geben, die diejenigen, die durch sie nicht erfassbar sind, als Nicht-Subjekte konstituiert. Dass Butler Identifizierung und Verwerfung, intelligibel/ nichtintelligibel als »rigide Oppositionen« fasse, habe zur Konsequenz, »all diejenigen Repräsentationen und Existenzweisen, die zwar keine Anerkennung genießen, aber dennoch am sozio-diskursiven Geschehen teilhaben, nicht in ihrer Spezifik wahrnehmen [zu] können« (Engel 2002: 25) – und eben auch nicht wahrnehmen zu können, inwiefern diese 44
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»durchaus Subjektstatus für sich reklamieren und Formen finden, ihren vorgeblich nicht-intelligiblen Körpern und Subjektivitäten Ausdruck zu verleihen« (ebd.: 26). Wir sehen, dass sich die bereits an Butlers Drag-Diskussion aufgezeigte Problematik hier in ähnlicher Weise wiederholt: Auch in ihrer Konzeption der Subjektkonstitution durch Prozesse der Identifizierung und Verwerfung tendiert Butler dazu, das Feld gelebter Geschlechtlichkeiten nahezu ausschließlich in seiner Bedeutung für das Hegemoniale zu denken, so dass die jeweilige Relation zum Hegemonialen (d.h. die Position innerhalb der symbolischen Ordnung bzw. der Ausschluss aus dieser) alles zu strukturieren scheint.19 Hegemoniale Repräsentationssysteme scheinen dadurch das gesamte Feld des Sozialen zu beherrschen: »Die feministische Filmtheoretikerin Chris Straayer hebt hervor, dass durch die von Butler produzierten Oppositionen der Eindruck entsteht, dass mit den Begriffen des Repräsentierten und des Nicht-Repräsentierbaren das gesamte Feld der Repräsentation abgedeckt sei: ›What isn’t represented is assumed to be unrepresentable.‹ (Straayer 1996, 6) Ein dritter Term, das Nicht-Repräsentierte, und damit die Frage, wie etwas zur Repräsentation kommt und welche sozialen Kräfte eben dies verhindern, geht aus dem Blick verloren.« (Engel 2002: 25; Herv. i.O.)
Engel weist mit Straayer damit in eine Richtung, die sich bereits bei meiner Diskussion von Vorschlägen zu einer Erweiterung queer-theoretischer Perspektiven aus dem Feld der Transgender Studies abgezeichnet hat: Bezogen auf Wirklichkeit ging es dort darum, die Möglichkeit sozialer Wirklichkeiten, die hegemonial nicht als solche gelten, adres-
19 In vielen der in ihrem späteren Buch Undoing Gender (2004) versammelten Essays zeigt sich jedoch ein anderes Verständnis Butlers bezüglich dieser Frage: Hier setzt sie sich explizit mit verschiedenen Aspekten der von ihr so bezeichneten »New Gender Politics« (ebd.: 4) auseinander, u.a. mit Intersex-Aktivismus und mit transsexuellen Kämpfen gegen pathologisierende Klassifikationen. In ihrer Einleitung bestimmt sie die Möglichkeit der Anfechtung hegemonialer Normen nicht mehr vorwiegend aus deren ›innerer‹ Instabilität heraus, sondern verweist explizit auf die Notwendigkeit und auch Möglichkeit der Entwicklung alternativer Normen: »Indeed, the capacity to develop a critical relation to these norms presupposes a distance to them, an ability to suspend or defer the need for them, even as there is a desire for norms that might let one live. The critical relation depends as well on a capacity, invariably collective, to articulate an alternative, minority version of sustaining norms or ideals that enable me to act.« (Ebd.: 3) 45
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sieren zu können und zugleich die Frage nach dem wie des Wirklichwerdens und nach dem, was dies erschwert oder verhindert, zu stellen. Dies setzt allerdings, so auch Engel, voraus, das Soziale bzw. Gesellschaft als Ensemble heterogener Kräfteverhältnisse zu denken und eine teils widersprüchliche Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Praxen, Wissensweisen und Modi der Subjektivierung einzuräumen. Die Wirkmächtigkeit des Hegemonialen gerät in einer solchen Konzeption nicht aus dem Blick; das Verhältnis von Hegemonialem und marginalisierten Praxen, Wissens- und Seinsweisen muss dann jedoch je konkret bestimmt werden, anstatt das Marginalisierte nur in Relation zum Hegemonialen und letztlich durch dieses bestimmt zu denken (und es als ›das Verworfene‹ zu homogenisieren).
Die Heterogenität des Sozialen und die Wirklichkeit von Geschlecht: »Geschlecht als Existenzweise« Eine Konzeption von Geschlecht, die genau dieser Gleichzeitigkeit heterogener Praxen, Wissens- und Subjektivierungsweisen Rechnung trägt, entwirft Andrea Maihofer (1995) mit ihrem Konzept von »Geschlecht als hegemoniale[m] Diskurs und gesellschaftlich-kulturelle[r] Existenzweise« (ebd.: 79). Maihofer folgt Butler in deren zentralen Bestimmungen der gegenwärtigen Verfasstheit von Geschlecht: Diese zeichnet sich auch Maihofer zufolge dadurch aus, dass Individuen eine konstante, kohärente und eindeutige (d.h. entweder männliche oder weibliche) Identität ausbilden müssen, die in einem Entsprechungsverhältnis zu einem biologisch bestimmten, vereindeutigten Geschlechtskörper steht, und dass dies sowie die Ausbildung ihres Begehrens durch die Norm der Heterosexualität organisiert wird. Auch Maihofer fasst dies als einen Disziplinierungs- und Normalisierungsprozess, durch den Individuen zu Subjekten werden. Maihofer betont jedoch, dass dies das Ergebnis eines heterogenen historischen Prozesses ist, und zwar in allen angesprochenen Aspekten: Als historisch geworden gelten damit die biologische Bestimmung zweigeschlechtlich vereindeutigter Geschlechtskörper; deren Bestimmung als Ursache und Grundlage einer darauf bezogenen, aber dennoch davon unterschiedenen Geschlechtsidentität; ›Identität‹ selbst als eine innere Essenz und als kohärent und konstant; sowie das für die Herausbildung einer solchen Identität entscheidende Selbstverhältnis, nämlich das des Subjekts als einer Form der Herrschaft seiner selbst über sich. Die historischen Wurzeln dessen sind vielfältig, bündeln sich aber Maihofer zufolge in der Herausbildung und Selbststilisierung bürgerlicher Männlichkeit (auch als Distinktionspraxen gegenüber adliger und gegenüber proletarischer Männlichkeit sowie 46
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gegenüber bürgerlicher Weiblichkeit) im Kontext der Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (vgl. ebd.: 21ff. sowie 109ff.) Durch diesen, durch Michel Foucaults Konzeption der Genealogie inspirierten Verweis auf die historische Genese bleiben die heterogenen Kräfteverhältnisse, deren (prinzipell kontingente) je spezifische Verkettung sowie die Kämpfe und Auseinandersetzungen im Blick, die diesen Prozess bestimmten. Das Resultat dieses Prozesses – die skizzierte gegenwärtige Verfasstheit von Geschlecht, die Maihofer im Anschluss an Foucault als »hegemonialen Diskurs«20 charakterisiert – ist weiterhin von dieser Heterogenität geprägt: »Als Resultat gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse bleibt die Hegemonie eines Diskurses […] stets fragil und ständig umkämpft.« (Ebd.: 82) D.h., er ist sowohl von ›internen‹ Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten durchzogen als auch der Koexistenz und/oder Konkurrenz mit anderen, gleichzeitig existierenden, marginalisierten Diskursen ausgesetzt. Als ein hegemonialer Diskurs erstreckt sich seine Wirkmächtigkeit auf die gesamte Gesellschaft, aber nicht überall und für alle in der gleichen Weise: »Die hegemoniale Bedeutung des herrschenden bürgerlichen Geschlechterdiskurses ist nicht für alle Gruppen, Klassen, Schichten und Individuen in der Gesellschaft die gleiche; nicht nur ist er in verschiedenen Teilen der Gesellschaft unterschiedlich dominant, er wird auch in der spezifischen Eigenlogik der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, aber auch der einzelnen Individuen je unterschiedlich transformiert und modifiziert.« (Ebd.: 82)
Durch diese an Foucault anschließende Konzeption, die ›das Hegemoniale‹ als in sich heterogen und als in einem heterogenen Feld wirkend begreift, lässt sich sowohl dessen Wirkungsweise als auch dessen Anfechtbarkeit und Instabilität anders denken als mit Butler: Die grundlegende Instabilität des Hegemonialen ist für Butler Effekt eines durch Verwerfungen hervorgebrachten ›konstitutiven Außen‹, das als eine ständige Bedrohung und Anfechtung wirkt, jedoch stets nur in Relation zum Hegemonialen und nicht in einer Eigenlogik gedacht werden kann. Stattdessen sind die Relationen unterschiedlicher Diskurse zueinander und die Wirkungsweise des Hegemonialen in diesen Relationen nun je historisch und kontextuell zu spezifizieren. Auch wenn Maihofer dies nicht ausdrücklich thematisiert, lässt diese Konzeption Raum dafür, der 20 Maihofer verwendet einen sehr weit gefassten Diskursbegriff; sie versteht darunter »Denk-, Gefühls- und Handlungsweisen, Körperpraxen, Wissens(chafts)formen, Institutionen, gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Kunst, Architektur, innere Struktur von Räumen etc.« (Maihofer 1995: 80). 47
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Möglichkeit der Repräsentation von ›alternativen‹ Geschlechtlichkeiten im Kontext ›alternativer‹ Diskurse bzw. Repräsentationsweisen Rechnung zu tragen. Zudem setzt sich Maihofer ausdrücklich mit der Frage nach der Wirklichkeit von Geschlecht auseinander. Sie kritisiert nicht nur an Butler, sondern auch an vielen sozialkonstruktivistischen Ansätzen, dass diese dazu tendierten, durch die Fokussierung auf die Prozesse der Konstruktion einer genaueren Bestimmung des ontologischen Status’ des Konstruierten auszuweichen. Mit ihrer begrifflichen Bestimmung von Geschlecht als »gesellschaftlich-kultureller Existenzweise« möchte Maihofer nun ausdrücklich der Dimension der Wirklichkeit von Geschlecht Rechnung tragen und zugleich präsent halten, dass diese Wirklichkeit eine historisch und gesellschaftlich hervorgebrachte ist. Mit dem Begriff der Existenzweise schließt Maihofer an Louis Althusser (1977) an, der »gegenüber der Vorstellung von Ideologie als falschem Bewusstsein auf die ›materielle Existenz‹ von Ideologie« verweise und es damit ermögliche, »Ideologie […] sowohl als Bewusstseins- als auch als materielles gesellschaftlich-kulturelles Phänomen zu begreifen« (Maihofer 1994: 180). Mit dem Konzept von »Geschlecht als Existenzweise« möchte Maihofer einen Begriff vorschlagen, der »[…] sowohl das Imaginäre dieser Existenzweise, also Geschlechtlichkeit, Subjektivität, Identität und Körperlichkeit als gesellschaftlich-kulturell produzierte historisch bestimmte Selbstverhältnisse reflektiert, als auch die Realität dieser Existenzweise als gelebte Denk-, Gefühls- und Körperpraxen« (ebd.: 185; Herv. i.O.).
In diesem Sinne wirklich oder ›real‹ und auch materiell sind für Maihofer sowohl der (je konkret ge- und erlebte) Geschlechtskörper21 als auch geschlechtliche Selbstverhältnisse.22 Auf diese Weise kommt
21 Um die Dimension der Materialität und partiellen subjektiven Unverfügbarkeit (d.h. ›Objektivität‹ bzw. ›Objektiviertheit‹) des Geschlechtskörpers adressieren zu können, bezieht Maihofer sich auf Gesa Lindemanns (1993) Überlegungen zur Verschränkung von Körper und Leib. Auf diese Überlegungen gehe ich in einem späteren Kapitel (III.1.2) kurz ein. 22 Allerdings fragt Maihofer nicht danach, welchen geschlechtlichen Verkörperungen, Wünschen und Selbstverhältnissen in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen möglicherweise nicht die Qualität des Wirklichen zukommt bzw. wo und wie diese Qualität eine prekäre und/oder kontextuell beschränkte bleibt; eine Frage, die, wie gezeigt, in Butlers und anderen queer-theoretischen Ansätzen implizit präsent ist. Dass Wirklichkeit nicht entweder ist oder nicht ist, sondern die Qualität des Wirklichen 48
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dem Geschlecht nun explizit die Qualität eines Seins zu, ohne dies essentialistisch zu fassen. Für eine Vermeidung einer essentialisierenden und/oder ein Sein fixierenden Bestimmung scheint mir die Zentralität des Begriffs der Praxis bei Maihofer wesentlich: Auch in dem oben genannten Zitat bestimmt sie die »Realität dieser Existenzweise« nicht lediglich als Effekt von Praxen, sondern als diese Praxen selbst (»als gelebte Denk-, Gefühls- und Körperpraxen«). In ihrer Konzeption wird Geschlecht damit weder als ›Tun statt Sein‹, noch umgekehrt als ›Sein statt Tun‹ gedacht, sondern als immer und wesentlich beides zugleich: Geschlecht ›ist‹ man in und durch Praxis. Geschlechtliches Sein wird also weder als zugrundeliegende Ursache geschlechtlicher Praxen gefasst, die dieses Sein ausdrücken würden, noch lediglich als imaginärer Effekt geschlechtlicher Praxen. Dieses Verhältnis von Tun und Sein als einer Gleichzeitigkeit ist auch dem Begriff der Selbstverhältnisse schon eingeschrieben, den Maihofer von Foucault übernimmt. Aus diesem und aus einem weiteren Grund ist dieser Begriff auch für meine eigene konzeptionelle Perspektive entscheidend: Er ermöglicht es nicht nur, (geschlechtliches) Sein als ein immer schon praktisches zu denken, sondern er eröffnet auch eine Perspektive auf das Terrain von Subjektivität, in der deren Form nicht bereits vorausgesetzt wird. Dies soll nun kurz erläutert werden. Die Ebene der Selbstverhältnisse rückt insbesondere in Michel Foucaults Spätwerk in den Fokus seines Interesses:23 In seinen früheren Arbeiten hatte Foucault sein Projekt einer Geschichte des (modernen abendländischen) Subjekts zunächst durch die (archäologische) Untersuchung von Wissensformen verfolgt, später ergänzt durch die (genealogische) Perspektive auf Machtpraktiken. Diese Konzeption des Subjekts als konstituiert in und durch je historisch spezifische Macht-WissensFormationen gibt Foucault nun nicht auf, erweitert sie aber um den Aspekt der Selbstkonstitution durch die Analyse der »Formen und [der] Modalitäten des Verhältnisses zu sich […], durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt« (1993: 12). Auch diese »Formen und Modalitäten des Verhältnisses zu sich« sind für Foucault strukturiert durch Wissensformen und angereizt durch Machtpraktiken (und damit durch und durch gesellschaftlich), stellen jedoch nichtsdestotrotz eine eigenständige Ebene der Analyse dar. Sie sind nicht nur selbst umkämpft ist, lässt sich m.E. mit Maihofers Konzeption nicht direkt theoretisch fassen. 23 Vgl. dazu und zum Folgenden u.a. Foucault 1993: 9ff.; Lemke 1997: 267ff.; Hark 1996: 39ff. 49
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Effekt historischer Veränderungen, sondern eine Form oder Ebene gesellschaftlicher Praxis, die ihrerseits Veränderungen hervorbringen oder anstoßen kann. Als ein wesentlich praktisches rückt das Selbstverhältnis durch den eng damit verbundenen Begriff der »Technologien des Selbst« bzw. der »Selbsttechniken« (teilweise auch »Selbstpraktiken«; z.B. 1993: 20) in den Blick. Als »Selbsttechniken« bezeichnet Foucault »die Prozeduren, wie sie zweifellos in jeder Zivilisation existieren, die den Individuen angeboten oder vorgeschrieben werden um ihre Identität zu fixieren, aufrechtzuerhalten oder zu transformieren im Hinblick auf bestimmte Ziele; und das aufgrund von Beziehungen der Beherrschung von sich oder der Erkenntnis von sich durch sich« (Foucault 1989: 134; Übersetzung: U.S.).
Selbsttechniken sind damit Weisen des Sich-Wissens und des SichBearbeitens: Praxen der Selbstbeobachtung und Selbstbefragung im Horizont der »Problematisierungen, in denen das Sein sich gibt als eines, das gedacht werden kann und muss« (Foucault 1993: 19); Formen der Bearbeitung von Denk-, Gefühls- und Verhaltensweisen; Praxen der Bearbeitung des eigenen Körpers, der Körperbeherrschung oder -veränderung, etc. Der Begriff der Selbstverhältnisse, verstanden als Formen und Modi der (praktisch-reflexiven) Bezugnahme auf sich selbst, lässt zunächst offen, welche Formen diese Bezugnahme je historisch und je individuell annimmt. Ob, inwiefern und inwieweit das Verhältnis, das Individuen zu sich selbst herstellen und unterhalten, eines der Identität ist (im Sinne der Herstellung von oder Bezugnahme auf Kohärenz, Kontinuität und ›Innerlichkeit‹), ist damit als eine empirisch offene Frage zu stellen. Weder wird Identität als einzig mögliche Form von Selbstbeziehungen vorausgesetzt, noch wird umgekehrt die Frage nach der möglichen Bedeutung von Identität umgangen oder obsolet.24 24 Im Horizont neuerer konzeptioneller Entwicklungen und Ausdifferenzierungen eines soziologischen Identitätsbegriffs werden allerdings mit diesem Begriff selbst durchaus auch unterschiedliche Formen des Selbstbezugs in den Blick genommen; vgl. dazu exemplarisch Katharina Liebsch 2001 sowie 2008. Liebsch zeichnet nach, wie die im 17. und 18. Jahrhundert sich verbreitende Vorstellung von Identität als Innerlichkeit, Integrität, Kontinuität und Kohärenz einer Person einerseits auch gegenwärtig weiterhin wirkmächtig ist, indem sie Selbstthematisierungen und die Herausbildung von Selbst- und Weltbezügen (auch normativ) organisiert. Angesichts sich wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse werde es jedoch (andererseits) zunehmend unmöglich, stabile und kontinuierliche Selbstentwürfe dauerhaft aufrechtzuerhalten. Nicht nur als Reflexion auf gesellschaftliche Veränderungen, sondern auch in einer emanzipatorischen 50
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Zudem erlaubt es der Begriff der Selbstverhältnisse, die »strukturelle Ebene individueller Existenz« (Maihofer 1995: 85) als solche zu berücksichtigen. Zwar bezieht sich Foucault in seinen eigenen Analysen kaum auf individuelle Selbstaussagen, sondern konzentriert sich auf programmatische Texte, in denen Regeln und Empfehlungen der Selbstbearbeitung und -beobachtung formuliert werden. Nichts an seiner Konzeption spricht jedoch dagegen, die interessierenden Modi und Formen ausgehend von Selbstaussagen zu analysieren und damit eine individuelle Ebene in den Blick zu nehmen. Diese bleibt zugleich als eine strukturelle – soziale und gesellschaftliche – sichtbar: als Reflexion auf die Tatsache, dass Individuen gegenwärtig ein Verhältnis zu sich selbst (und zwar als ein geschlechtliches Selbst) herstellen müssen; darauf, dass dies nur in Bezug auf je verfügbare Formen geschehen kann; und darauf, dass diese Formen Gegenstand von (individuellen, sozialen und gesellschaftlichen) Auseinandersetzungen und Kämpfen sein können. Im Folgenden schließe ich an Andrea Maihofers Konzept von »Geschlecht als Existenzweise« im Sinne einer konzeptionellen Perspektive an, werde allerdings eher den Begriff der Selbstverhältnisse als den der Existenzweise verwenden: Der Begriff der Existenzweise referiert auf eine Gesamtheit von (heterogenen und möglicherweise widersprüchlichen) Praxen und Selbstverhältnissen eines Individuums, die mir als solche (als Gesamtheit) durch die Interviews nicht zugänglich ist. Stattdessen suche ich je konkrete Artikulationen von Praxen und Selbstverhältnissen zu rekonstruieren und nehme auf diese Weise situierbare Ausschnitte von geschlechtlichen Existenzweisen in den Blick.
Perspektive schlägt Liebsch vor, »den Identitätsbegriff von seinen absichernden, definitorischen und festlegenden Aspekten zu befreien und ihn als vorläufigen, vielfältigen, dynamischen Entwurf des eigenen Tuns und Handelns« zu etablieren (2001: 22). Sie verweist darauf, dass Identität in neueren soziologischen Ansätzen nicht notwendigerweise als »Ausdruck einer dahinter stehenden Person mit einer entsprechenden ›Subjektivität‹« begriffen werde, sondern als »ein kommunikatives Prinzip, eine bestimmte Art, Individualität zu entwerfen, die wiederum selbst Wirkungen entfaltet und Bedeutungen hervorbringt« (2008: 79). – Ob unterschiedliche Formen des Selbstbezugs im Horizont eines derart erweiterten Identitätsbegriffs in den Blick genommen werden, oder ob das gleiche Anliegen mit dem Konzept der Selbstverhältnisse angegangen (und ›Identität‹ in einem engeren Sinn als eine spezifische Form derselben gefasst) wird, wie ich dies im Folgenden verfolge, ist vor diesem Hintergrund eine begriffsstrategische Entscheidung. 51
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1.4 Sozialkonstruktivistische und queer-theoretische Ansätze verbinden: Grundzüge einer Forschungsperspektive Im Folgenden werden die Anschlüsse, die sich aus der vorangegangenen Diskussion für mein eigenes Vorhaben ergeben, nochmals kurz in Erinnerung gerufen und einige Konsequenzen bezüglich der von mir zu verfolgenden Forschungsperspektive formuliert. Die im Horizont einer ethnomethodologischen, sozialkonstruktivistischen Geschlechterforschung entwickelten Ansätze ermöglichen es – so wurde eingangs dieses Kapitels skizziert –, geschlechtliche Wirklichkeit als hervorgebracht durch soziale, gesellschaftlich strukturierte Praxen zu konzipieren und empirisch zu rekonstruieren. Während der Fokus in dieser Forschungstradition allerdings vorwiegend auf den Mechanismen der beständigen Reproduktion von Zweigeschlechtlichkeit als ›der‹ einen Wirklichkeit liegt, fragen queer-theoretische Ansätze stärker nach Rändern und Brüchen dieser Wirklichkeit. Mit Blick auf geschlechtliche Phänomene, die aus hegemonialer Perspektive als ›unwirklich‹ gelten, wirft Judith Butler die Frage nach einer Veränderung des »ontologischen Feldes« auf, das die Möglichkeiten wirklicher Geschlechter reguliert und begrenzt. In einer dekonstruktivistischen Perspektive thematisiert sie das Potential von Drag-Praxen zur Destabilisierung und Subversion der hegemonialen geschlechtlichen Wirklichkeit, die auf einem ›Ausdrucksmodell‹ von Geschlecht beruht: d.h. auf der Vorstellung, dass eine ›innere‹ Identität und ein als biologisch gegeben verstandener Körper Ursache und Grund der zweigeschlechtlichen Wirklichkeit seien. In ihrer Denkbewegung, die auf ein permanentes Offenhalten zukünftig zu realisierender Möglichkeiten zielt, geraten allerdings die möglichen produktiven Effekte von Drag-Praxen bezüglich alternativer Verkörperungen, Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten aus dem Blick. Mit seinem Konzept der disidentification entwirft Muñoz eine Perspektive auf queere Performance-Praxen, die in zwei entscheidenden Punkten über Butler hinausweist: Erstens werden Performance-Praxen hier nicht vorwiegend hinsichtlich ihrer Relation zu hegemonialen Artikulationen betrachtet, sondern auf ihre je konkreten Bezüge sowohl zu hegemonialen als auch zu minoritären Ausformulierungen von Subjektpositionen hin analysierbar. Zweitens interessiert nicht lediglich ihr subversives, sondern auch und vor allem ihr produktives Potential: Mit Muñoz gilt es zu rekonstruieren, wie im Durcharbeiten verfügbarer Codes und Positionen – in einer Weise, die ›an, mit und gegen‹ sie arbeitet – alternative Positionalitäten hervorgebracht und repräsentierbar 52
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werden können. Das Terrain möglicher Identifizierungen und Körperlichkeiten rückt dadurch als ein umkämpftes und durch PerformancePraxen bearbeitbares in den Fokus der Analyse. Im Kontext der Transgender Studies wird die Frage nach der Möglichkeit alternativer geschlechtlicher Wirklichkeiten weniger ausgehend von künstlerischen Repräsentationen, sondern mit Blick auf geschlechtliche Verkörperungen und alltägliche Lebensweisen gestellt und bearbeitet. In kritischer Auseinandersetzung mit queer-theoretischen Ansätzen zielen die Überlegungen etwa von Namaste, Rubin, Prosser und Hale auf die Entwicklung konzeptioneller Zugänge, die der Wirklichkeit, der Spezifizität und dem existenziellen Gewicht unterschiedlicher transgeschlechtlicher Erfahrungen Rechnung zu tragen vermögen. Dabei gilt es allerdings (aus meiner Sicht und aus der von einigen der genannten Autor_innen), weder hinter sozialkonstruktivistische Konzeptionen von Wirklichkeit als Resultat gesellschaftlich strukturierter sozialer Praxen noch hinter queer-theoretische Einsichten in die mit Wirklichkeitskonstruktionen verbundenen Ausschlussmechanismen zurückzufallen. Um die Möglichkeit alternativer geschlechtlicher Wirklichkeiten in ihrer potentiellen Eigenlogik denken zu können und zugleich danach zu fragen, in welchem Verhältnis dies zu hegemonialen Strukturierungen steht, ist es – so wurde in kritischer Auseinandersetzung mit Butler sowie im Anschluss an Engel und Maihofer vorgeschlagen – sinnvoll, Hegemonie als stets umkämpft und als in einem durch heterogene Kräfteverhältnisse strukturierten Feld wirkend zu begreifen. Maihofers Konzept von »Geschlecht als Existenzweise« bietet einen derartigen Ansatz, der zudem Geschlecht als historisch geworden und prinzipiell veränderbar zu denken erlaubt und zugleich nachdrücklich auf die Qualität des Wirklichen des Geschlechts verweist: Als eine Existenzweise ist Geschlecht weder lediglich imaginärer Effekt geschlechtlicher Praxen noch ein fixiertes, abgeschlossenes Sein. Der Begriff der Selbstverhältnisse, den Maihofer in diesem Zusammenhang im Anschluss an Foucault verwendet, ermöglicht es, je konkrete Formen praktischer Selbstbezüge als individuelle zu rekonstruieren und gleichzeitig nach den gesellschaftlichen und kontextuellen Strukturierungen zu fragen, die in ihnen wirksam oder auch umgearbeitet werden. Die konzeptionelle Perspektive, die ich im Anschluss an die skizzierten Überlegungen in dieser Arbeit verfolgen möchte, lässt sich grob folgendermaßen umreißen: Es geht um eine Perspektive, die (trans-)ge-
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schlechtliche Erfahrungen,25 Selbstverhältnisse und Verkörperungen in ihrer Spezifizität zu rekonstruieren sucht und zugleich nach deren gesellschaftlichen und je kontextuellen Bedingungen fragt. Das Verhältnis zwischen hegemonialen Geschlechterverhältnissen, alternativen (z.B. subkulturellen) Artikulationen und Praxen von Geschlecht und individuellen geschlechtlichen Lebensweisen soll dabei als ein zunächst offenes gefasst werden: Die Zusammenhänge zwischen ihnen (d.h. die Verhältnisse der drei Ebenen zueinander) gilt es ausgehend von der empirischen Rekonstruktion auszuloten. Auf diese Weise sollen die im Horizont der Drag King-Szene entwickelten und gelebten geschlechtlichen Praxen, Selbstverhältnisse, Verkörperungen, Entwürfe, Wünsche und Geltungsansprüche in den Blick genommen und danach gefragt werden, inwiefern, in welchem Sinne und in welchen Kontexten sie ›wirklich‹ werden bzw. eine alternative geschlechtliche Wirklichkeit konstituieren. Dabei interessieren auch die möglichen Grenzen und Begrenzungen eines solchen Wirklichwerdens sowie Erfahrungsweisen, die auf einen anderen Modus als den des Wirklichen verweisen. Die Forschungsperspektive zielt damit darauf ab, Ansätze zur empirischen Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit, wie sie im Horizont der soziologischen Geschlechterforschung entwickelt wurden, mit einer queer-theoretischen Aufmerksamkeit für die Ränder und Überschüsse des ›Wirklichen‹ zu verbinden. Dies eröffnet unter anderem die Möglichkeit, Wünsche, Fantasien, Selbstverständnisse und Körperlichkeiten zu rekonstruieren, die aus einer hegemonialen Perspektive nicht als ›wirklich‹ gelten, und zudem genau die Spannung zwischen dem Schon-
25 Ich verwende den Begriff der Erfahrung im Anschluss an Michel Foucault (1996) und Joan W. Scott (1992): Erfahrungen gelten diesen Autor_innen als individuelles Erleben, das durch Diskurse und Praxen konstituiert, aber nicht determiniert wird. Bezüglich der Foucault’schen Konzeption von Erfahrung schreibt Thomas Lemke (1997): »Zwar werden Erfahrungen individuell gemacht, sie sind jedoch eingebunden in einen gesellschaftlichen Raum, der von bestimmten Wissensformen, Machtpraktiken und Selbsttechniken definiert wird. Individuelle Erfahrungen können daher auf kollektive Praktiken bezogen werden, die diese Erfahrungen ermöglichen, wie umgekehrt die Veränderung von ›subjektiven‹ Faktoren den Ausgangspunkt für gesellschaftliche Veränderungen abgeben kann.« (Ebd.: 167) Sowohl für Foucault als auch für Scott gehen Subjekte ihrer Erfahrung nicht voraus, sondern werden durch (historisch, gesellschaftlich und kontextuell spezifische) Erfahrungen als solche konstituiert: »It is not individuals who have experience, but subjects who are constituted through experience.« (Scott 1992: 26) In den Blick rücken derart die je spezifischen gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen und Praxen, die bestimmte Erfahrungen ermöglichen, sowie die Subjektivitäten, die durch diese Erfahrungen konstituiert werden. 54
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Gelebten und seiner (eventuellen) gesellschaftlichen Nicht-Existenz oder ›Unwirklichkeit‹ auszuloten. Zugleich gilt es, die sozialkonstruktivistische Frage nach der Konstruktion von Wirklichkeit weiter zu verfolgen und empirisch zu rekonstruieren, inwiefern und in welchem Sinne auch nicht-hegemoniale Geschlechtlichkeiten als wirklich erfahrbar werden – und auch, welche gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen ein ›Wirklichwerden‹ bestimmter Geschlechtlichkeiten möglicherweise erschweren, einschränken oder verhindern. Auch wenn bislang noch kaum Monographien vorliegen, die eine solche oder ähnliche Perspektive bezüglich alternativer, (trans-)geschlechtlicher Wirklichkeiten empirisch verfolgen, bieten zahlreiche kürzere Beiträge bedeutsame Anschlussmöglichkeiten für meine eigene Arbeit. Einige dieser Texte, die sich ausgehend von unterschiedlichen Arten von Selbstzeugnissen in dieser oder ähnlicher Weise mit transgeschlechtlichen Existenzweisen (in einem weiten, d.h. nicht auf Transsexualität beschränkten Sinne) befassen, haben mein eigenes Vorgehen maßgeblich inspiriert. Sie hier ausführlich vorzustellen, würde zu tief in Kontexte hinein führen, die nicht unmittelbar Gegenstand meiner Arbeit sind, und daher den hier gesteckten Rahmen sprengen. Lediglich kurz benannt seien daher hier Texte von Jacob C. Hale, von Sabine Hark, von Jannik Franzen und Nico J. Beger sowie von Corinna Genschel, die für mich besonders anregend waren: Ausgehend von eigenen Erfahrungen und denen eines Freundes exploriert Jacob C. Hale (1997) die Hervorbringung alternativer Geschlechtlichkeiten im Kontext einer (U.S.-amerikanischen) lesbischen sexuellen Subkultur, der ›Lederlesben-Szene‹. Er zeigt, wie insbesondere in sogenannten ›Daddy/Boy‹-Rollenspielen Körper, die hegemonial als weibliche vereindeutigt würden, auf eine Weise geschlechtlich besetzt, sinnhaft verstehbar und erfahrbar werden, die sich einer zweigeschlechtlichen Strukturierung entzieht. Durch die Teilbarkeit dieser Sinnhaftigkeit in Interaktionen und durch das sexuelle körperliche Erleben, so Hale, würden dadurch geschlechtliche Verkörperungen und Seinsweisen als wirklich erfahrbar, die andernorts nicht intelligibel seien. – Sabine Hark (1998a) liest Leslie Feinbergs Roman Stone Butch Blues auf die darin artikulierten geschlechtlichen Verortungen, Körperbilder und Entwürfe hin, die sich in einem Spektrum von Butch bis Transgender bewegen. Sie zeigt auf, wie sowohl deren Artikulierbarkeit als auch deren Realisierung (bzw. die Unmöglichkeit dessen) mit je historisch und kontextuell spezifischen geschlechtlichen Strukturierungen und ökonomischen und politischen Bedingungen (im US-amerikanischen Kontext der 1950er bis 1980er Jahre) zusammenhängen. – 55
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Jannik Franzen und Niko J. Beger (2002) nehmen eigene geschlechtliche Wünsche und Verortungen zum Ausgangspunkt und situieren diese in der Form eines ›Gesprächs‹ in ihrem komplexen Verhältnis zur hegemonialen zweigeschlechtlichen Ordnung, zu Diskursen, Institutionen und Verfahrensweisen der Transsexualität, zu subkulturellen Zusammenhängen und Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Subkulturen sowie zu Möglichkeiten und Begrenzungen in persönlichen sozialen Beziehungen. – Corinna Genschel (2001) schließlich beschäftigt sich mit den unveröffentlichten Tagebüchern des U.S.-amerikanischen schwulen Trans-Aktivisten Louis G. Sullivan. In ihrer sorgfältigen Rekonstruktion kann Genschel zeigen, wie sowohl Sullivans Selbstentwürfe als auch deren Realisierungsmöglichkeiten durch unterschiedliche Diskurse, soziale und politische Zusammenhänge und Institutionen strukturiert sind und dennoch als »eigensinnige Praxen« (ebd.: 831) erscheinen. Nicht nur in Bezug zu hegemonialen geschlechtlichen Strukturierungen, sondern auch in Bezug zu je kontextuell verfügbaren alternativen Artikulationen (z.B. im Horizont von schwulem und TransAktivismus) wird ›Subjektivität‹ von ihr auf diese Weise als ein »Verhältnis von ›entworfen werden‹ und ›sich entwerfen‹« (ebd.: 821) rekonstruiert. Für das weite Feld der empirischen Forschung zu queeren und transgeschlechtlichen Artikulationen, Praxen und sozialen Zusammenhängen, zu dem inzwischen unzählige Beiträge vorliegen, möchte ich es bei dieser kursorischen Benennung einiger für mich besonders anschlussfähiger Texte belassen. Der nun folgende Forschungsüberblick beschränkt sich auf meinen ›Gegenstand‹ im engeren Sinne: auf Forschungen zu Drag Kinging.
2. Drag Kinging im Blick der Forschung Bereits kurze Zeit nachdem Drag Kinging gegen Mitte der 1990er Jahre als Phänomen zunächst lesbischer U.S.-amerikanischer Clubkultur sichtbar wurde, war auch das Interesse der Forschung geweckt. Zu den frühesten Arbeiten in diesem Feld zählen die kulturwissenschaftlichen Beiträge von Judith Halberstam. Eine auf Beobachtungen und Befragungen in New Yorker Clubs basierende Exploration des Phänomens im Kontext ihrer breit angelegten Studie zu Female Masculinity (vgl. 1998: 231ff.; auch 1997) sowie ihr gemeinsam mit dem Fotographen Del LaGrace Volcano verfasstes Drag King Book (Volcano/Halberstam 1999), das mit Fotos, Interviews und analytischen Texten unterschiedliche Drag King-Szenen (vorwiegend in New York, London und San 56
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Francisco) porträtiert, stellen die bis heute einflussreichsten und in vieler Hinsicht anregendsten Beiträge zur Forschung dar.26 Die 2002 erschienene Drag King Anthology (Troka et al. [Hg.]) vereint kultur- und sozialwissenschaftliche, theoretische sowie auf persönlicher Erfahrung basierende Texte, die sowohl weitere empirische Ergebnisse zugänglich machen als auch unterschiedliche theoretische und konzeptionelle Perspektiven eröffnen. Drag Kings: Mit Bartkleber gegen das Patriarchat, 2007 von Thilmann et al. herausgegeben, vermittelt durch eine gelungene Zusammenstellung von Fotographien, literarischen Kurzgeschichten, Reflexionen persönlicher Erfahrungen, Interviews und akademischen Texten einen differenzierten und lebendigen Eindruck der Drag King-Szene in Deutschland sowie des (auch theoretischen) Nachdenkens über Drag. Von den darüber hinaus vorliegenden einzelnen Buchbeiträgen und Zeitschriftenartikeln (die im Folgenden ebenfalls teilweise heran gezogen werden) ist der Beitrag von Eve Shapiro (2007) hervorzuheben als der bislang einzige, der auf einer ausgedehnten sozialwissenschaftlichen empirischen Studie basiert: Der Artikel präsentiert die Ergebnisse ihrer Dissertation, die sich auf der Basis mehrjähriger teilnehmender Beobachtung und zahlreicher Interviews mit der Veränderung geschlechtlicher Identitäten im Kontext eines Drag KingKollektivs in Santa Barbara (Kalifornien) beschäftigt. – Eine veröffentlichte wissenschaftliche Monographie zum Thema liegt bislang nicht vor. Es lassen sich drei im Forschungsfeld hauptsächlich verfolgte Perspektiven bzw. Themenkomplexe unterscheiden: erstens Analysen und theoretische Überlegungen, die sich auf Bühnenperformances, bildliche und filmische Repräsentationen beziehen; zweitens Untersuchungen der sozialen Kontexte, in denen Drag Kinging stattfindet bzw. die durch diese Praxis konstituiert werden; und drittens rücken die mit dieser Praxis verbundenen geschlechtlichen Selbstverhältnisse und Verkörperungen und deren mögliche Veränderungen in den Blick. Wenngleich einige Texte mehrere dieser Themen zugleich bearbeiten bzw. Zusammenhänge zwischen ihnen beleuchten, skizziere ich den Forschungsstand im Folgenden entlang dieser Unterscheidung.
26 Vgl. außerdem Halberstam 2003 zur Bedeutung von Drag Kinging im Kontext queerer Subkulturen sowie Halberstam 2005: 125ff. zum Wechselverhältnis zwischen Drag King-Performances und massenmedialen Repräsentationen von ›Männlichkeit‹. In zahlreichen Interviews hat Judith Halberstam ihre Überlegungen zu Drag Kinging weiter verfolgt und präzisiert; vgl. z.B. Halberstam 1999 sowie 2005a. 57
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Drag King-Performances Die bereits skizzierten Debatten um Drag der frühen 1990er Jahre bezogen sich vorwiegend auf Drag Queen-Performances. Als Drag Kinging Mitte der 1990er Jahre akademisches Interesse erlangte, stellte sich notwendig die Frage nach der Übertragbarkeit der vorliegenden Forschungsliteratur auf dieses Phänomen. Die im Horizont der Stigmatisierung ›effeminierter‹ Schwuler in den 1950er und 1960er Jahren zur Blüte kommende schwule Camp-Ästhetik der Drag Queen (charakterisiert durch die Liebe zu Kitsch, Glamour und offensichtlicher ›Künstlichkeit‹ sowie durch Ironie und Übertreibung als wesentliche Stilmittel) kannte, so wird übereinstimmend festgestellt, in lesbischen (Sub-)Kulturen kein direktes Gegenstück: Die Stilistiken von ›Butch/Femme‹ in der lesbischen Barkultur der gleichen Epoche seien demgegenüber wesentlich unironisch, ernsthaft und in keiner Weise parodistisch gewesen (vgl. Newton 2000 [1996]: 64f.).27 Während Newton das Fehlen einer spezifisch lesbischen, auf Repräsentation und ›Sichtbarkeit‹ zielenden Drag Performance-Tradition vorwiegend auf die geringeren (ökonomischen und symbolischen) Ressourcen von Lesben gegenüber Schwulen zurückführt (vgl. ebd.: 85ff.), verweist Halberstam (1998: 236ff.) zusätzlich auf kulturelle Unterschiede zwischen Repräsentationen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die Drag King-Performances erschwerten und deren Entwicklung historisch verzögerten: Da Weiblichkeit hegemonial sehr viel eher als kunstvolle bzw. ›künstliche‹ Inszenierung erscheine als Männlichkeit, erschließe sie sich leichter einer parodistischen Performance mit den Mitteln des Camp.28 Um die theatralische und performative Dimension von Männlichkeit auszustellen, bedürfe es daher anderer ästhetischer Strategien, die sich eher durch eine Reduktion (etwa von Gestik und Mimik) auszeichneten als durch Übertreibung.29 27 Newton problematisiert damit die Parallelisierung von ›Butch/Femme‹ und Drag, die Butler in Gender Trouble vornimmt, und widerspricht der Einschätzung von Sue-Ellen Case (1993), die ›Butch/Femme‹ als camp charakterisiert. Vgl. dazu auch Halberstam 1998: 236ff.; Willox 2002: 264ff. 28 Jan Wickman (2003) argumentiert vor diesem Hintergrund, dass Drag Kinging nicht zufällig in einem historischen Moment auftauche, in dem auch ›Männlichkeit‹ massenmedial zunehmend als ›ästhetisches Objekt‹ und als (zu gestaltende und zu optimierende) Inszenierung präsentiert werde. 29 Um die Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen ästhetischen Strategien von Drag Queen- und Drag King-Performances auch begrifflich zu markieren, schlägt Halberstam den Begriff »kinging« vor zur Bezeichnung von »drag humor associated with masculinity« (ebd.: 238). In meiner eigenen, bereits angesprochenen Verwendungsweise bezieht sich ›King58
PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE
Strategien und Formen der Repräsentation von Männlichkeit stehen im Fokus fast aller Arbeiten, die sich auf Drag King-Performances konzentrieren. Im Zentrum steht dabei meist die Frage, inwiefern Männlichkeit als performativ ausgewiesen und dadurch entnaturalisiert und einer parodistischen Kritik zugänglich werde, und inwiefern umgekehrt Strategien der Hommage, der identifizierenden Aneignung und/oder der Verkörperung der dargestellten Männlichkeiten wirksam würden. Regelmäßig diskutiert wird dabei, inwiefern sowohl das eine als auch das andere eine feministische Anfechtung hegemonialer Männlichkeit und männlicher Macht bedeuten könne oder aber herrschende Repräsentationen und Machtverhältnisse reproduziere.30 Je nach den jeweils analysierten Performances und der Perspektive des/der Autor_in werden andere der genannten Aspekte akzentuiert. Überwiegend wird jedoch ein Spannungsverhältnis zwischen den genannten Aspekten bzw. deren Gleichzeitigkeit konstatiert sowie darauf verwiesen, dass generalisierende Aussagen aufgrund der Unterschiedlichkeit einzelner Performances sowie der Kontexte ihrer Rezeption kaum zu treffen seien.31 Einige Beiträge erweitern den Rahmen der Analyse über die Dimension von Geschlecht hinaus und untersuchen, auf welche Weise Repräsentationen von race bzw. von Ethnizität (und teilweise auch unterschiedlicher Klassenzugehörigkeiten) in Drag King-Performances aufgegriffen werden.32 Untersucht wird u.a., inwiefern weiße Mittelklasse-Männlichkeit, die in westlichen Gesellschaften die unmarkierte Norm darstellt, in den Performances als solche sichtbar gemacht und ihre Bedingtheit durch race und durch Klasse damit offen gelegt wird; inwiefern rassistische Stereotype (wie z.B. die Hypersexualisierung schwarzer Männlichkeit) und die Abwertung proletarischer Männlichkeit wiederholt oder aber kritisch aufgebrochen werden; inwieweit nicht nur Geschlecht, sondern auch race als Effekt performativer Praxen sichting‹ demgegenüber nicht ausschließlich auf ästhetische Strategien im Kontext von Bühnenperformances, sondern auf vielfältige, auch alltägliche Praxen geschlechtlicher Inszenierungen, sofern sie im Zusammenhang mit Bedeutungshorizonten der Drag King-Kultur stehen. 30 Vgl. Apfelthaler 1997; Halberstam 1997; 1998; Volcano/Halberstam 1999; Breger 2001; 2007; Strunk 2002; Neevel 2002; Ayoup/Podmore 2002; Rosenfeld 2002; Schacht 2002; Förschler/Schicke 2002; Stüttgen 2005; Witte/Rewald 2007; Rick 2007. 31 Zur darüber hinausgehenden Frage, inwiefern Drag King-Performances nicht nur hegemoniale Repräsentationen von Männlichkeit aufgreifen und ggf. umarbeiten, sondern auch umkehrt Männlichkeitsrepräsentationen im medialen Mainstream beeinflussen können, vgl. Halberstam 2005: 125ff.; Thilmann 2007; 2007a. 32 Vgl. u.a. Halberstam 1997; Volcano/Halberstam 1999: 140ff.; Crowley 2002; Rosenfeld 2002; Pauliny 2002; Huth 2009. 59
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bar gemacht und dadurch entnaturalisiert wird; und inwiefern Drag Kinging von unterschiedlich rassisierten Positionen aus auf verschiedene Weise angeeignet und mit unterschiedlichen Strategien verbunden wird. Anschließend an die bereits skizzierte Kritik an der Tendenz, Drag im Anschluss an Butler vorwiegend in Relation zu hegemonialen geschlechtlichen Repräsentationen zu betrachten und die mögliche Produktivität in Bezug auf alternative Positionalitäten zu vernachlässigen,33 geraten zudem auch spezifische Sinnhorizonte geschlechtlicher und sexueller Subkulturen als konstitutives Element von Kinging in den Fokus der Forschung. Wie viele Beiträge aufzeigen, lassen sich die meisten Drag King-Performances nur durch die Berücksichtigung kultureller Bezüge auf alternative geschlechtliche Artikulationen angemessen interpretieren. Insbesondere je kontextuell verfügbare Ausbuchstabierungen von butchness sowie von unterschiedlichen Transgender-Positionen werden als konstitutive Bedeutungshorizonte der Performances ausgewiesen.34 Zudem rücken Performance-Strategien wie double drag bzw. bio queening (d.h. die theatralische Inszenierung von ›Weiblichkeit‹ durch ›Frauen‹) und mixed drag (die gleichzeitige Verwendung sowohl männlich als auch weiblich codierter Stilmittel) zunehmend in den Blick.35 Die Frage nach der Destabilisierung bzw. Umarbeitung von Männlichkeit wird dadurch um eine Perspektive ergänzt, die das Potential von Drag King-Performances aufzeigt, geschlechtliche Positionalitäten hervorzubringen bzw. sichtbar zu machen, die sich in einem zweigeschlechtlich beschränkten Horizont nicht angemessen charakterisieren lassen. Die Analyse und Reflexion von (bühnenbezogenen) Drag KingPerformances und der in ihnen wirksam werdenden kulturellen Bezüge, ästhetischen Formen und theatralischen Mittel steht insgesamt bislang im Zentrum der Forschung zu Drag Kinging (die sich auch deshalb durch ein Übergewicht kulturwissenschaftlicher gegenüber sozialwissenschaftlichen Beiträgen auszeichnet).
33 Vgl. zu dieser Kritik an Butler im Kontext der Forschung zu Drag Kinging u.a. Koenig 2002: 152f.; Willox 2002: 268ff. 34 Vgl. v.a. Halberstam 1997; 1998; Volcano/Halberstam 1999; Maltz 1998; Noble 2002; Senett/Bay-Cheng 2002; Thilmann et al. (Hg.): 2007. 35 Vgl. u.a. Piontek 2000; Bradford 2002; Surkan 2002; Shapiro 2007; Göbel 2007. 60
PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE
Soziale Kontexte Insgesamt dokumentiert die Forschungsliteratur die Existenz und Unterschiedlichkeit zahlreicher lokaler Kontexte des Kinging und belegt die Verbreitung des Phänomens insbesondere in westlichen Großstädten.36 Die genannte Literatur zeigt außerdem, dass Drag Kinging vorwiegend in queer geprägten sozialen Zusammenhängen stattfindet: Clubs und Partys, Festivals und politische Veranstaltungen lesbischer, lesbischschwuler, queerer und Transgender-Kulturen bieten Rahmen und Anlass der meisten Performances. Einige Beiträge befassen sich explizit mit den Beziehungen zwischen Publikum und Performances. Der erotische Austausch, in dem ein lesbisches Begehren wirksam und teilweise zugleich dezentriert wird, die zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung von Geschlechtlichkeiten und Verkörperungen, die andernorts häufiger Missachtung ausgesetzt sind, und die Möglichkeit vielfältiger Lesarten und Bezugnahmen von unterschiedlichen geschlechtlichen Verortungen aus werden so als konstitutives Element von Drag Kinging beleuchtet.37 Über die Bedeutung des unmittelbaren Publikums hinaus werden Performer_innen und Performance-Gruppen in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld situiert und auch interne Spannungen der sozialen Kontexte bzw. ›Szenen‹ des Kinging herausgearbeitet. Halberstam (1997) zeigt auf, dass und wie die Strukturierung lesbischer Szenen entlang der Achse von race in New York zu zwar nicht vollständig separierten, aber doch unterscheidbaren Drag King-Kontexten führt. Vor dem Hintergrund der Problematisierung von ›Männlichkeit‹ in vielen lesbischfeministischen Kontexten werden ambivalente Haltungen zu Kinging und Spannungen innerhalb lesbischer Szenen thematisiert und deren Veränderungen aufgezeigt.38 Deutlich wird auch, dass Drag Kinging in verschiedenen lokalen Szenen auf unterschiedliche Weise in Transgender-Kontexten situiert ist und dass es hier sowohl Abgrenzungen und Vorbehalte gibt (von manchen Drag Kings gegenüber Transgender-Ver36 Volcano/Halberstam (1999) stellen ausführlich Clubs, Performer_innen, soziale Netzwerke und Events in New York, San Francisco und London vor; am Rande berichten sie von Erfahrungen mit Drag King-Performances in Berlin, Mailand und Paris. Die Beiträge in Troka et al. (Hg.) (2002) porträtieren Szenen bzw. Events in mehreren U.S.-amerikanischen Städten sowie in Kanada und Australien; Orte, Performer_innen und soziale Netzwerke der deutschen Szene sind repräsentiert in Thilmann et al. (Hg.) 2007. 37 Vgl. u.a. Volcano/Halberstam 1999; Halberstam 2003; bradford 2002; Ayoup/Podmore 2002; Rosenfeld 2002; Patterson 2002; Huth 2009. 38 Vgl. u.a. Halberstam 1998; bradford 2002; Ayoup/Podmore 2002; Rosenfeld 2002; Méritt 2007. 61
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ortungen und/oder Transsexualität und umgekehrt von manchen Transmännern gegenüber Praxen des Kinging) als auch konstitutive Verschränkungen der jeweiligen Praxen, sozialen Zusammenhänge und geschlechtlichen Verortungen.39 Beleuchtet werden außerdem sowohl Kooperationen als auch Konflikte zwischen lesbischen und schwulen Performer_innen (vgl. z.B. Schacht 2002) sowie unterschiedliche mit dem Drag Kinging verbundene politische Haltungen, etwa zu feministischen, zu trans*-aktivistischen40 und (anderen) linken Politikformen.41 Einige Beiträge konzentrieren sich auf einzelne PerformanceGruppen bzw. -Kollektive und zeigen deren interne Dynamiken sowie die Bedeutung des kollegialen, freundschaftlichen oder auch konflikthaften Austauschs sowohl auf der Bühne als auch im Alltag auf.42 Damit rückt die Ebene persönlicher sozialer Beziehungen und Netzwerke in den Blick und deren Bedeutung sowohl für kulturelle Produktionen und politisches Engagement als auch für persönliche Entwicklungen und alltägliche Lebensweisen. Die genannten Themen werden in den einzelnen Beiträgen auf unterschiedliche Weisen exploriert, d.h. unterschiedlich ausführlich, mehr oder weniger kursorisch oder systematisch, eher auf persönlichen Betrachtungen oder auf methodischer Forschung basierend. Die Arbeiten von Judith Halberstam bieten durch ihre Verbindung unterschiedlicher methodischer Zugänge und die sowohl sorgfältige als auch kreative Rekonstruktion und Analyse von Performances, Selbstaussagen, kulturellen Bezügen, historischen Entwicklungen und aktuellen sozialen Kontexten nach wie vor einen besonders vielschichtigen und aufschlussreichen Einblick in das Feld. Hervorzuheben ist außerdem die Arbeit von Eve Shapiro (2007): Bezüglich ihrer Fragestellung nach der Veränderung von geschlechtlicher Identität durch Kinging stellt sie den sozialen Kontext des von ihr untersuchten Drag King-Kollektivs explizit in den Fokus ihres Interesses. Sie rekonstruiert, wie durch diesen Kontext kollektive Möglichkeiten der Imagination geschlechtlicher Alternativen, 39 Vgl. u.a. Volcano/Halberstam 1999; Koenig 2002; Sennett/Bay-Cheng 2002; Franzen 2007. 40 In der Schreibweise ›trans*‹ oder ›Trans*‹, die sich seit Mitte der 1990er Jahren in transgeschlechtlichen Selbsthilfe- und Szenekontexten zu etablieren begann, steht der Asterisk als Platzhalter für verschiedene mögliche Wortendungen. Der Begriff schließt dadurch unterschiedliche (Selbst-)Bezeichnungen und Verortungen, etwa als Transsexuelle/r, Transvestit, Transgender, transidentisch etc. ein (vgl. Regh 2002: 192). 41 Vgl. u.a. Piontek 2000; Shapiro 2007; Witte/Rewald 2007; Franzen 2007. 42 Vgl. u.a. Ayoup/Podmore 2002; Schacht 2002; Surkan 2002; Crowley 2002; Shapiro 2007 sowie mehrere Beiträge in Thilmann (Hg.) 2007. 62
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des Experimentierens mit Geschlecht, des Informationsaustauschs und der gegenseitigen persönlichen Unterstützung generiert werden, und fragt nach deren Bedeutung für die persönliche Entwicklung der Beteiligten.
Geschlechtliche Identitäten und Selbstverhältnisse In der Forschungsliteratur werden regelmäßig unterschiedliche geschlechtliche Selbstverständnisse derjenigen aufgezeigt, die sich in der Praxis des Kinging engagieren. Während in einzelnen lokalen Szenen bestimmte geschlechtliche Verortungen überwiegen,43 wird insgesamt eine große Bandbreite konstatiert, die oft mit Begriffen wie Femme, Butch, androgyn, Transgender und FTM bzw. Transmann beschrieben wird.44 Vor diesem Hintergrund beleuchten viele Beiträge unterschiedliche Verhältnisse zwischen alltäglichen geschlechtlichen Verortungen und einer bühnenbezogenen Drag King-Praxis: etwa, ob diese Praxis von den Beteiligten eher als Ausdruck oder Repräsentation einer geschlechtlichen Identifizierung erlebt werde oder als eine deutlich davon unterschiedene, rein theatralische Inszenierung. Aufgezeigt werden auch durch Praxen des Kinging angestoßene Veränderungen alltäglicher geschlechtlicher Selbstverständnisse und Lebensweisen. Und schließlich wird in einigen Texten das Potential von Praxen des Kinging deutlich, die Frage nach dem Verhältnis zwischen (›wirklicher‹) alltäglicher Verortung und dargestellter Persona unbeantwortet zu lassen (auch für die Beteiligten selbst): Die Performance-Praxis wird teilweise als Freiheit erfahren, mit unterschiedlichen geschlechtlichen Möglichkeiten zu experimentieren, verschiedene mögliche Seinsweisen auszuloten, Imagination und Fantasie zu entfesseln in einer Weise, die gerade nicht durch alltägliche Anforderungen geschlechtlicher ›Wirklichkeit‹ und ›Identität‹ beschränkt ist.45 43 Für den New Yorker Kontext Mitte der 1990er Jahre stellt Halberstam etwa eine deutliche Abgrenzung der von ihr befragten Drag Kings gegenüber butchness und Transgender-Verortungen fest, während Kinging in London deutlich in Transgender-Zusammenhängen verortet sei; vgl. Volcano/Halberstam 1999. 44 Vgl. zu unterschiedlichen Verortungen u.a. Halberstam 1998; Volcano Halberstam 1999; bradford 2002; Ayoup/Podmore 2002; Shapiro 2007; Thilmann et al. (Hg.) 2007. (Auf Verortungen als heterosexuelle Frau oder als nicht-transsexueller Mann wird hingegen eher vereinzelt hingewiesen.) 45 Unterschiedliche Bedeutungen von Praxen des Kinging für auch alltägliche geschlechtliche Lebensweisen und Verortungen werden besonders deutlich in denjenigen Beiträgen, die in eher autobiographischer Weise eigene Erfahrungen beschreiben und reflektieren; z.B. bradford 2002; Neevel 2002; Sennett/Bay-Cheng 2002; sowie in den Porträts von Sabrina, 63
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Die bisherige Forschung verweist damit auf eine Bandbreite und ein Schillern möglicher Bedeutungen der Praxis des Kinging für geschlechtliche Selbstverhältnisse der darin Involvierten sowie auf komplexe Beziehungen zwischen dem, was als alltägliche Wirklichkeit erfahren wird, und den Erfahrungsweisen von Bühnenperformances. Systematisch sind diese Zusammenhänge bislang allerdings nicht untersucht worden: Eher implizit wird in den Beiträgen deutlich, dass mit Praxen des Kinging unterschiedliche Erfahrungsweisen verbunden sind und dass dabei die Frage, inwiefern etwas als wirklich erlebt wird, eine Rolle spielt. Dabei wird jedoch eher vorausgesetzt als untersucht, dass alltägliche geschlechtliche Lebensweisen als wirklich erfahren werden und Bühnenperformances demgegenüber tendenziell einen Raum der Imagination oder der Fantasie konstituieren. Die Frage, ob und wie Praxen des Kinging ihrerseits geschlechtliche Wirklichkeiten konstituieren bzw. ob und wie sich durch das Engagement in solchen Praxen verändert, was als wirklich erfahrbar wird, ist (auf der Ebene von Selbstverhältnissen und sozialen Zusammenhängen) noch nicht empirisch untersucht worden. Dass die bisherigen Ergebnisse zur Bedeutung von Praxen des Kinging für geschlechtliche Selbstverhältnisse häufig unbefriedigend bleiben, ist zum Teil einer verkürzten Konzeption von Identität geschuldet: Häufig weist die Thematisierung von Identität kaum darüber hinaus, abgefragte geschlechtliche Selbstbezeichnungen zu präsentieren, anstatt Selbstverhältnisse empirisch zu rekonstruieren. Selbst Shapiro (2007), deren Forschungsinteresse sich explizit auf die möglichen Veränderungen von geschlechtlicher Identität durch kollektive Zusammenhänge und Praxen des Kinging richtet, fasst »gender identity« als »an individual’s gender self-definition« (ebd.: 253). Diese Konzeption wird in der Präsentation ihrer Ergebnisse auch konsequent wirksam: Die von ihr konstatierten Veränderungen bestehen vorwiegend darin, dass die von ihr Interviewten sich seit ihrem Engagement im Kinging selbst anders – in anderen geschlechtlichen Termini – definieren. Damit möglicherweise verbundene Erfahrungsweisen, Praxen und Weisen des Selbsterlebens und des geschlechtlichen In-der-Welt-seins werden hingegen kaum sichtbar. Verstanden als (individuelle) Selbstdefinition, gerät außerdem die soziale Dimension von Identität bzw. Selbstverhältnissen aus dem Blick: Obwohl Shapiro gerade nach der Bedeutung einer kollektiven Praxis für Veränderungen von Identität fragt, scheinen die ›Identitäten‹,
Fronck de Sáster, Tommes, Johnny Kingsize und Viola in Thilmann et al. (Hg.) 2007. Zu einer überwiegend theoretischen Arbeit zum Erleben von Körperlichkeit und Verkörperung im Zusammenhang mit Praxen des Kinging vgl. Hanson 2007. 64
PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE
wenn ihre Transformation einmal abgeschlossen ist, allein ›im‹ Individuum lokalisiert zu sein und unabhängig von sozialen Bezügen. Einen ganz anderen Zugang verfolgt Jannik Franzen (2007), der Zusammenhänge zwischen Drag Kinging und geschlechtlicher Identität auf der Basis von Beobachtungen und Erfahrungen in der Berliner Szene beleuchtet. Franzen stellt (die Möglichkeit von) Identität in den Horizont gesellschaftlicher, insbesondere psychologischer und medizinischer Regulierungen von Geschlecht: Als ›ernsthaft‹ und damit als Grundlage einer Identität gälten im Kontext dieser Regulierungen letztlich nur diejenigen geschlechtlichen Transgressionen, in denen der Wunsch nach einer möglichst vollständigen Verkörperung des jeweils ›anderen‹ der zwei Geschlechter artikuliert wird. Andere Weisen der Geschlechtsveränderung seien in diesem Horizont »höchstens ›zum Spaß‹ denkbar« und hätten keinen »Platz im wirklichen Leben« (ebd.: 145). Franzen stellt damit die gängige Unterscheidung zwischen ›Spaß‹ und ›Ernst‹ bezüglich geschlechtlicher Möglichkeiten ins Zentrum seiner Überlegungen und thematisiert explizit, wie diese Unterscheidung dazu beiträgt, nur bestimmte Möglichkeiten als wirklich anzuerkennen und zu erfahren. Mit Bezug auf Performances, Gespräche, Internet-Foren und Diskussionen arbeitet Franzen heraus, wie herrschende Unterscheidungen zwischen ernsthaften und lediglich spielerischen geschlechtlichen Transgressionen einerseits auch in der Drag King-Szene bzw. in Auseinandersetzungen zwischen Drag Kings und Transmännern wirksam werden; wie aber andererseits Praxen des Kinging und die damit verbundenen sozialen Kontexte das Potential haben, diese Unterscheidung anzufechten und gerade dadurch alternative geschlechtliche Lebensmöglichkeiten (und Identitäten) hervorzubringen: Selbstverhältnisse, Verortungen und Lebensweisen, die im Horizont somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit und deren medizinisch-psychologisch klassifizierten ›Abweichungen‹ nicht aufgehen. Auch wenn Franzen die Ebene gelebter Selbstverhältnisse lediglich kursorisch in den Blick nimmt, stellen seine Überlegungen bedeutsame Anschlussmöglichkeiten bereit für eine Arbeit, die Zusammenhänge zwischen Praxen des Kinging, damit verbundenen sozialen Kontexten, geschlechtlichen Selbstverhältnissen und (möglichen) geschlechtlichen Wirklichkeiten empirisch zu rekonstruieren sucht.
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3. Forschungspraktische Zugänge 3.1 Achsen der Rekonstruktion: Soziale Kontexte, Praxen und Selbstverhältnisse Für die im ersten Abschnitt dieses Kapitels (I.1) entwickelte Forschungsperspektive erwies sich als entscheidend, wie darin ›Wirklichkeit‹ in den Blick genommen wird und wie das Verhältnis zwischen der hegemonialen Verfasstheit von Geschlecht und minoritären bzw. marginalisierten geschlechtlichen Praxen und Existenzweisen konzipiert wird. Die Perspektive zielt darauf zu rekonstruieren, wie (alternative) geschlechtliche Möglichkeiten wirklich werden, und lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf die möglichen Grenzen und Begrenzungen eines solchen Wirklichwerdens. Sie zielt auf die Rekonstruktion je ›lokaler‹ geschlechtlicher Praxen und Selbstverhältnisse in ihrer Spezifizität und möglichen Eigensinnigkeit und zugleich darauf, deren Verhältnis zu hegemonialen Strukturierungen nicht aus dem Blick zu verlieren: d.h. danach zu fragen, wie hegemoniale Strukturierungen hier wirksam werden, angefochten oder umgearbeitet werden. Zur forschungspraktischen Umsetzung einer solchen Perspektive unterscheide ich analytisch drei Dimensionen oder Achsen, die als heuristische Konzepte die Auswertung des empirischen Materials leiten: Rekonstruiert werden sollen die mit dem Drag Kinging verbundenen sozialen Kontexte, Praxen und Selbstverhältnisse sowie das, was durch deren Zusammenwirken hervorgebracht wird. Diese Achsen der Rekonstruktion – soziale Kontexte, Praxen und Selbstverhältnisse – und deren je spezifisches Zusammenwirken werden im Zuge dieser Arbeit durchgängig verfolgt. Warum eine Rekonstruktion entlang dieser Achsen geeignet scheint, der theoretisch entfalteten Perspektive Rechnung zu tragen, soll nun kurz expliziert werden. Die Achsen fungieren im Zuge der Auswertung nicht als klar definierte Konzepte, sondern als heuristische Werkzeuge, als breite Scheinwerferkegel, durch die teils recht heterogene Bündel von Aspekten in den Blick rücken. Als Praxen interessieren alle möglichen Arten des Tuns, von theatralischen Bühneninszenierungen über politische Aktivitäten bis hin zu routinisierten Alltagspraxen.46 Als soziale Kontexte 46 Praxen rücken in meiner Analyse teilweise, aber nicht durchgängig in einer dezidiert praxeologischen Perspektive (vgl. dazu exemplarisch Reckwitz 2003; Hörning 2004) in den Blick. In einer solchen Perspektive gelten soziale Praxen – als immer schon sinnhafte – zwar als bedingt durch gesellschaftliche Diskurse und Strukturen; betont wird jedoch ihre relative Eigenlogik, die es zu rekonstruieren gelte. Diese liege erstens in der kon66
PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE
werden unterschiedliche Formen (strukturierter) sozialer Zusammenhänge in den Blick genommen, von persönlichen Beziehungen über lokale ›Szenen‹ bis hin zu übergreifenden Bezugshorizonten (wie etwa ›der‹ Lesbenszene). Als Selbstverhältnisse werden alle möglichen Arten des Sich-auf-sich-Beziehens, des Sich-zu-sich-ins-Verhältnis-Setzens adressiert: die Weisen, über sich nachzudenken, sich wahrzunehmen, auf sich einzuwirken, sich zu verändern – was jeweils auch Bezugnahmen auf die eigene Körperlichkeit bzw. körperliche Bezugnahmen auf sich selbst einschließt. Eingeschränkt werden diese sehr weit gefassten Dimensionen allerdings dadurch, dass vorwiegend diejenigen durch sie ins Licht rückenden Aspekte betrachtet werden sollen, die einen engen Bezug zu ›Geschlecht‹ aufweisen. Die Rekonstruktion entlang dieser Achsen soll es ermöglichen, individuelle bzw. lokale Bedeutungsdimensionen von Geschlecht in ihrer Spezifizität zu erfassen und davon ausgehend deren Bezüge zu übergreifenden, kontextuellen und gesellschaftlichen Strukturierungen zu erhellen. Ausgehend von konkreten Praxen soll rekonstruiert werden, durch welche (kontextuellen, institutionellen und/oder gesellschaftlichen) Strukturierungen sie angereizt oder nahe gelegt werden, was ihren Möglichkeitsraum bestimmt und begrenzt, und auf welche Sinnhorizonte sie (als immer schon sinnhafte) konstitutiv bezogen sind. Es soll versucht werden, kontextübergreifende, historische und gesellschaftliche Bedingungen nachzuzeichnen, die in den spezifischen Strukturierungen konkreter sozialer Kontexte wirksam oder auch anfechtbar werden. Herausgearbeitet werden soll, wodurch welche Selbstverhältnisse – Weisen des Sich-auf-sich-Beziehens – strukturiert und ermöglicht werden, wie je verfügbare Formen und Bilder darin wirksam werden oder auch unterlaufen bzw. verschoben.
stitutiven Bedeutung von Körperlichkeit für soziale Praxen; zweitens in der Herausbildung praktischer Routinen, d.h. sich verstetigender PraxisMuster, bei einer gleichzeitigen grundsätzlichen Unberechenbarkeit und Offenheit von Praxis; und drittens in ihrer Strukturierung durch einen »praktischen Sinn« (Bourdieu 1993), d.h. durch ein implizites, nicht vollständig explizierbares praktisches Wissen (vgl. Reckwitz 2003: 284). Teilweise werde ich versuchen, einer solchen Eigenlogik auf die Spur zu kommen bzw. ausgehend von deren Rekonstruktion nach ihrer Bedeutung für die Hervorbringung von Wirklichkeit zu fragen. Da ich Praxen jedoch nicht durchgängig als Ausgangspunkt oder als hauptsächlichen Fokus der Rekonstruktion nehme, sondern sie im Zusammenhang mit sozialen Kontexten und Selbstverhältnissen analysiere, steht ihre Eigenlogik (im skizzierten Sinne) nicht immer im Vordergrund bzw. wird nicht durchgängig dezidiert berücksichtigt. 67
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Bedingung der Möglichkeit einer solchen, auf unterschiedliche (sowohl minoritäre als auch hegemoniale) Strukturierungen und ihre Verschränkungen bezogenen Rekonstruktion ist ein ausreichend differenziertes und vielschichtiges ›Material‹. Die Methode des narrativen Interviews, die im folgenden Abschnitt genauer erläutert wird, ermöglicht es, ein solches Material zu gewinnen, in dem auch Heterogenitäten, Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche sichtbar werden können: Die Erzählungen der Interviewten sind nicht allein durch ihre gegenwärtige Verortung in der Drag King-Szene strukturiert, sondern auch durch ihre je individuellen lebensgeschichtlichen Erfahrungen sowie durch ihr gegenwärtiges Eingebundensein in unterschiedliche soziale Kontexte. Gesellschaftliche bzw. soziale Heterogenität wird daher in den Interviews selbst abgebildet, so dass unterschiedliche geschlechtliche Strukturierungen weitgehend durch ein vergleichendes Vorgehen (sowohl zwischen Interviews als auch innerhalb der Einzelinterviews) rekonstruiert werden können. Zusätzlich werden die in den Interviews erkennbaren Bezüge teilweise durch die Heranziehung von Sekundärliteratur weiter beleuchtet bzw. kontextualisiert.
Wirklichkeiten, das ›Nicht-(ganz-)Wirkliche‹ und ›etwas‹ als heuristisches Instrument Praxen, soziale Kontexte und Selbstverhältnisse interessieren in dieser Arbeit durchgängig in ihrem Zusammenwirken, und ihre Unterscheidung ist – das wurde bereits gesagt – eine analytische: Soziale Kontexte werden durch Praxen konstituiert und generieren, ermöglichen bzw. strukturieren wiederum bestimmte Praxen; Praxen sind als sinnhafte immer auf Kontexte bezogen, in denen sie stattfinden; Selbstverhältnisse sind selbst praktisch bzw. Formen von Praxis, und sie sind strukturiert (wenn auch nicht determiniert) durch je kontextuelle soziale Bezüge – sowohl aktuelle als auch lebensgeschichtlich länger zurückliegende. Im Fokus der Rekonstruktion steht nun, welche geschlechtlichen Möglichkeiten durch dieses Zusammenwirken hervorgebracht werden: Möglichkeiten von Verkörperungen, Seinsweisen, Verortungen, Repräsentationen (z.B. sprachlichen und visuellen), Selbst- und Weltbezügen, sozialen Bezugnahmen. Die Frage, inwiefern diese Möglichkeiten ›wirklich‹ werden bzw. als (Bestandteil von) Wirklichkeit konstituiert und erfahrbar werden, wird im Zuge dieser Arbeit teils indirekt und implizit, teils explizit adressiert. Was ›Wirklichkeit‹ ausmacht, definiere ich nicht vorab, sondern gehe unterschiedlichen Gegebenheitsweisen und Erfahrungsqualitäten nach, die auf die Frage nach (möglicher) Wirklichkeit verweisen. In den Blick rücken derart Aspekte und Dimensionen, die 68
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gemeinhin mit Wirklichkeit assoziiert werden bzw. die Erfahrung von etwas als ›wirklich‹ zu bedingen oder zu begünstigen scheinen. Der Horizont dieser Dimensionen sei hier vorläufig angedeutet (aber nicht abschließend fixiert): Von Interesse wird z.B. sein, inwiefern sich bestimmte Praxen, Selbst- und Weltbezüge verstetigen, routinisieren und selbstverständlich werden, und inwiefern, unter welchen Bedingungen und in welchen Kontexten sie sinnhaft verstehbar und sozial teilbar sind. Gefragt wird nach Erfahrungsqualitäten wie Evidenz, Unmittelbarkeit und Unhintergehbarkeit. In den Blick rücken Erfahrungsweisen, die sich im Unterschied oder in dezidierter Abgrenzung zu einer Erfahrung von etwas als Fantasie, als Täuschung oder als ›nur gespielt‹ artikulieren (wobei allerdings auch die letztgenannten Erfahrungsweisen selbst von Interesse sein werden). Gleichzeitig geht es (umgekehrt) darum, wie vermeintliche Selbstverständlichkeiten fraglich werden (und welche), wie Erfahrungsweisen dessen, was gemeinhin als ›wirklich‹ gilt, sich möglicherweise verändern. Es geht weiter darum, wie sich bestimmte Erfahrungsqualitäten möglicherweise je nach Situation und Kontext unterscheiden bzw. in ein und derselben Situation für die einzelnen Beteiligten unterschiedlich sind. In diesem Zusammenhang interessiert auch, wodurch ein Wirklichwerden oder die Erfahrbarkeit von etwas als wirklich möglicherweise erschwert, verhindert, eingeschränkt oder auf bestimmte Kontexte oder Situationen begrenzt wird. Im Zuge der Rekonstruktion unterschiedlicher, auf Wirklichkeit verweisender Erfahrungsweisen sollen zudem auch mögliche Grenzbereiche des Wirklichen aufgespürt und ausgelotet werden: Es soll danach gefragt werden, was in welcher Weise als ›Nicht-(ganz-)Wirkliches‹ in Erscheinung tritt. Als eine Weise, solche Grenzbereiche des (möglichen) Wirklichen in den Blick zu nehmen, schlage ich hier ein kleines heuristisches Instrument vor, das ich ›etwas‹ nenne. Das ›etwas‹ – in einfachen Anführungszeichen – wird immer wieder in meinem Text auftauchen und steht für das, was sich einer begrifflichen Fixierung, einer Repräsentation im ›Wirklichen‹ bzw. als Wirkliches zunächst entzieht, aber dennoch als existent erscheint bzw. erfahren wird. Dieser begriffliche Vorschlag ist bereits ein Zwischenergebnis der Interviewauswertung, das hier vorweggenommen werden soll: Er resultiert aus der Analyse der in den Interviews so häufig auftauchenden Passagen, in denen um treffende Bezeichnungen gerungen wird, Erfahrungen durch unterschiedliche Beschreibungsweisen eingekreist werden oder auf einer Meta-Ebene die Schwierigkeit des sprachlichen Ausdrückens verhandelt wird; oder in denen in einer Weise von ›es‹ oder ›etwas‹ gesprochen wird, die keine klare Referenz dieser Verweise impliziert.
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Es geht bei meiner Verwendung des ›etwas‹ nicht um ein mystisches Außerhalb jeder Repräsentation, sondern um die Möglichkeit einer sprachlichen Referenz auf das, was sich in den Interviewtexten als an den Rändern sprachlicher Repräsentationsmöglichkeiten Angesiedeltes zeigt. Die (Un-)Möglichkeit sprachlicher Repräsentation fasse ich dabei nicht als eine absolute, für alle in jeder Situation gleichermaßen gültige, sondern als je situativ und kontextuell bedeutsam: Es geht gerade darum, den Bewegungen dieses ›etwas‹ nachzugehen – zu versuchen zu verstehen, wie es zur Existenz kommt (und zu welcher); ob es Formen der Repräsentation findet (und wenn ja, welche); ob es die Qualität des ›Wirklichen‹ annimmt (und wenn ja, für wen, auf welche Weise, mit welcher Stabilität). Das ›etwas‹ bezeichnet, so sollte deutlich geworden sein, keine vorsoziale Qualität ›in‹ den Individuen, die jenseits der Sprache läge: Das Auftauchen des ›etwas‹ geschieht innerhalb sozialer Kontexte, in und durch soziale Praxen und auch innerhalb des Bereichs der Sprache – es artikuliert sich in den Interviews auch dann, wenn es nicht begrifflich fixiert werden kann. Und schließlich ist das ›etwas‹ nicht für alle Interviewten und zu jedem Zeitpunkt das Gleiche; es ist kein definierter Begriff mit eindeutigem Denotat, sondern seine Bedeutung bzw. das, worauf es verweist, ergibt sich strikt aus dem jeweiligen Kontext, in dem ich es verwende.
3.2 Erhebung und Auswertung Die Frage nach der (je spezifischen) Konstitution von Wirklichkeit in und durch soziale Praxen kann als die grundlegende Frage rekonstruktiver Sozialforschung bezeichnet werden.47 Durch die ergänzende Frage nach dem, was als ›Nicht-(ganz-)Wirkliches‹ konstituiert wird, erfährt das Forschungsinteresse an Konstruktionsprozessen von Wirklichkeit in meiner Arbeit allerdings eine poststrukturalistisch inspirierte Wendung. Auch diese Dimension gilt mir jedoch als eine empirisch zu rekonstruierende. Meine Fragestellung zielt auf eine Rekonstruktion der mit dem Drag Kinging verbundenen Praxen, sozialen Kontexte und Selbstverhältnisse sowie dessen, was dadurch (hinsichtlich ›Geschlecht‹)
47 Vgl. z.B. Meuser 2003: »Basis einer rekonstruktiv verfahrenden Sozialforschung ist die Annahme der ›gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit‹ (Berger/Luckmann). […] Aufgabe der empirischen Forschung ist es, die Konstruktionen der Wirklichkeit zu rekonstruieren, welche die Akteure in und mit ihren Handlungen vollziehen. Darüber hinaus richtet sich das Forschungsinteresse auf die lebensweltlichen und – bei manchen Ansätzen – sozialstrukturellen Hintergründe, in denen die Wirklichkeitskonstruktionen verankert sind.« (Ebd.: 140) 70
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hervorgebracht wird; erst im Zuge dieser Rekonstruktion lässt sich auch die Frage nach der ontologischen Qualität des Hervorgebrachten bzw. ihrer Erfahrungsweise empirisch bearbeiten. Mein forschungspraktisches Vorgehen orientiert sich daher durchgängig an Prinzipien und methodischen Ansätzen rekonstruktiver Sozialforschung.48 Die Grundzüge dieses Vorgehens werden nun dargelegt.
Teilnehmende Beobachtungen und narrative Interviews Die empirische Grundlage dieser Arbeit besteht in Interviews mit Beteiligten der hiesigen Drag King-Szene, ergänzt durch teilnehmende Beobachtungen von Treffen und Veranstaltungen und durch die Analyse von Szeneproduktionen wie Zeitschriften, Flyern und Websites. Durch einen ersten Besuch der in Köln und in Berlin regelmäßig stattfindenden offenen Drag King-Treffen – der Tafelrunde bzw. des Kingz’ Club – führte ich mich als Forschende in Szenekontexte ein, stellte die Grundzüge meines Vorhabens vor und bekundete mein Interesse an Interviewpartner_innen. Die freundliche und offene Atmosphäre dieser Treffen und das Vertrauen, das mir dort entgegengebracht wurde, erleichterten meine weiteren Schritte ›ins Feld‹: Im Zeitraum von Oktober 2003 bis Juli 2006 habe ich an zwei Drag King-Workshops teilgenommen, mehrfach die in den beiden Städten im Kontext der Drag King-Szene organisierten Partys besucht (die Ausnahme-Party in Köln und die PenisNight in Berlin), war Teil des Publikums zahlreicher Drag KingPerformances (im Kontext von zehn verschiedenen Shows zu unterschiedlichen Anlässen) und besuchte mehrere Veranstaltungen im weiteren Horizont der Szene (z.B. das Transgender-Festival Wigstöckel, die jährlich stattfindende Transgender-Tagung, Workshops im Rahmen von Lesbenfrühlingstreffen, Kunstausstellungen, Filmvorführungen u.ä.). Seit Januar 2004 bin ich außerdem Teilnehmerin der Drag KingdomMailingliste und habe den dortigen Austausch bis zum Sommer 2006 systematisch (danach nur noch sporadisch) verfolgt. Meine Beobachtungen in Szene-Kontexten zielten darauf, mir zunächst einen Eindruck zu verschaffen und zu verstehen zu suchen, was
48 Vgl. zu einer methodologischen Begründung rekonstruktiver im Unterschied zu hypothesenprüfenden Verfahren Bohnsack 2003: 13ff. Ein Basisprinzip rekonstruktiver Sozialforschung besteht darin, dass methodische Kontrolle nicht durch Standardisierung, sondern im Gegenteil durch eine größtmögliche Offenheit der Erhebungsverfahren gewährleistet wird, d.h. durch eine Minimierung des Einflusses von Vorverständnis und Interpretationsrahmen der Forschenden auf die Strukturierung des zu erhebenden ›Materials‹. 71
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
in diesen Kontexten geschieht.49 Mein Versuch, das Geschehen zu verstehen, vollzog sich aus unterschiedlichen Distanzen und Nähen zu diesem Geschehen heraus, reichte von Situationen, in denen ich außenstehende Beobachterin blieb, bis zum Involviertsein in gemeinsame Praxis und dem Eindruck ›praktischen Verstehens‹. Die jeweils direkt im Anschluss verfassten Notizen, Memos und Protokolle halten sowohl distanzierte, auf Detailgenauigkeit zielende Beobachtungen als auch unterschiedliche Empfindungs- und Erfahrungsdimensionen der Situationen fest. Durch meine Besuche der offenen Treffen der Szene konnte ich erste Interviewpartner_innen gewinnen, andere kamen über deren Vermittlung (d.h. im ›Schneeballverfahren‹) und durch weitere Szene-Kontakte hinzu. Einige Performer_innen, die auf ihrer Website Kontaktmöglichkeiten angegeben hatten, habe ich per E-Mail um ein Interview gebeten und für die Teilnahme gewinnen können. Mein Kriterium für die Auswahl der Gesprächspartner_innen war, dass sie regelmäßig ›als Drag King unterwegs‹ waren, d.h. sich intensiv in Praxen des Kinging engagierten (als Performer_in oder auch jenseits einer bühnenbezogenen Praxis) und in soziale Zusammenhänge der Szene eingebunden waren. Die Interviews führte ich im Zeitraum von November 2003 bis Dezember 2004 – vier Interviews in Köln, zehn in Berlin sowie eines in einer weiteren deutschen Großstadt mit jeweils dort lebenden Gesprächspartner_innen.50 Zusätzlich zu diesen fünfzehn Interviews, die den Cor49 Im Anschluss an Clifford Geertz kennzeichnen Klaus Amman und Stefan Hirschauer (1997: 20) die simple Frage: »What the hell is going on here?« als Ausgangsfrage aller teilnehmenden Beobachtung. So einfach diese Frage klingt, so schwierig erschien es mir manchmal, die damit verbundene Haltung offener und möglichst voraussetzungsloser Neugier tatsächlich herzustellen – d.h. eigene Erwartungen und Vorannahmen einzuklammern und mir dadurch den Blick nicht verstellen zu lassen. 50 Die hiesige Drag King-Szene ist vergleichsweise klein und es gibt Schnittstellen und Verflechtungen mit den akademischen ›Szenen‹ der Frauenund Geschlechterforschung. Die Anonymität der Interviewten ist daher besonders schwierig zu gewährleisten. Ich verzichte deshalb auf eine Übersicht der Interviewten mit Angabe relevanter biographischer Merkmale und beschränke mich auf die folgende kursorische Beschreibung des Samples: Die fünfzehn Interviewten sind zwischen 1967 und 1983 geboren. Zum Zeitpunkt des Interviews waren sie zwischen 21 und 37 Jahren alt: Vier von ihnen waren 25 oder jünger, drei zwischen 26 und 30 Jahren und acht älter als 30 Jahre. Elf Interviewte sind in der BRD geboren und aufgewachsen, zwei in der damaligen DDR, eine_r in einem anderen europäischen und eine_r in einem außereuropäischen Land. Zum Zeitpunkt des Interviews befanden sich vier Interviewte im Studium und zwei in einer (schulischen resp. betrieblichen) Ausbildung. Vier weitere hatten ein 72
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pus der interviewübergreifenden Auswertung bilden, habe ich ein weiteres Interview mit einer Person geführt, die selbst kein ›Kinging‹ betreibt, die Entwicklung der hiesigen Szene aber von Anfang an aktiv begleitet hat. Durch dieses (im Folgenden als ›Int. E‹ gekennzeichnete) Interview erhielt ich wichtige zusätzliche Informationen über Entstehung und Hintergründe der Szene und Anregungen für weitere Forschungsfragen. Bei den Interviews handelte es sich um narrative Interviews – ein Verfahren, das den strukturierenden Eingriff der Interviewerin begrenzen und es den Interviewten ermöglichen soll, ihr eigenes Relevanzsystem und eigene Sinnhorizonte in ihrer Sprache zu entfalten.51 Von zentraler Bedeutung ist dabei die Eingangserzählung der Interviewten, die durch eine möglichst offene Frage angeregt wird und den hauptsächlichen Bezugspunkt des weiteren Interviewverlaufs bildet. Meine erzählgenerierende Einstiegsfrage bestand in der Bitte, mir die jeweils eigene Geschichte mit dem Drag Kinging zu erzählen, angefangen von den ersten damit zusammenhängenden Erfahrungen bis heute.52 In der zweiten, durch immanente Nachfragen strukturierten Interviewphase wurden die von den Gesprächspartner_innen in der Eingangserzählung angesprochenen Themen aufgegriffen und exploriert. Die offenen, erzählgenerierenden Nachfragen zielten auf detaillierende Schilderungen, auf eine Situierung des Angesprochenen in erlebten Situationen, in konkreten sozialen Zusammenhängen und Interaktionen sowie auf die Er-
Hochschulstudium abgeschlossen und arbeiteten in verschiedenen Berufen. Vier hatten (schulische oder betriebliche) Ausbildungen abgeschlossen, drei davon arbeiteten in ihren jeweiligen Ausbildungsberufen. Eine_r der Interviewten arbeitete als Ungelernte_r. 51 Vgl. zu der auf Fritz Schütze (u.a. 1976; 1983) zurückgehenden Methode des narrativen Interviews ausführlich Rosenthal 1995: 186ff. sowie Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 139ff.; zu einer Diskussion theoretischer und methodologischer Grundlagen und der Bedeutung des narrativen Interviews im Kontext rekonstruktiver Sozialforschung Bohnsack 2003: 91ff. 52 Die teilweise leicht abgewandelte Formulierung lautete: »Ich möchte dich bitten, mir deine eigene Geschichte mit dem Drag Kinging zu erzählen. Vielleicht fängst du an mit deinen ersten Erfahrungen mit dem Thema und erzählst bis heute.« Die Frage zielte damit nicht notwendig auf die Erzählung einer (der ganzen) Lebensgeschichte, sondern setzte die gegenwärtige Praxis des Kinging als thematischen Bezugspunkt und ließ offen, welche (auch biographisch früheren) Erfahrungen die Interviewten als mit dieser Praxis im Zusammenhang stehend thematisieren wollten. Die Frage, inwieweit bzw. in welcher Hinsicht Drag Kinging ein ›Lebensthema‹ darstellt oder nicht, konnte auf diese Weise selbst Gegenstand der Auswertung werden. 73
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zählung konkreter Handlungsabläufe.53 In der dritten Interviewphase wurden bislang nicht angesprochene Aspekte des Themas durch exmanente Nachfragen adressiert (Aspekte, die mir aufgrund ihrer Bedeutung in früheren Interviews, in der Forschungsliteratur oder aufgrund meiner ›Felderfahrungen‹ relevant schienen) sowie einige (wenige) vorab formulierte Fragen gestellt, die auf eine Evaluation der kollektiven Praxis des Kinging zielten (z.B. was der Meinung der Interviewten nach das ›Wichtigste‹ daran sei, welches deren bedeutsamste Effekte etc.). Zum Abschluss bat ich meine Gesprächspartner_innen, zu beschreiben, was ›Geschlecht‹ in einer für sie idealen Welt bedeuten würde und wie ihr eigenes Leben dann aussehen würde.54 Auch wenn die Methode des narrativen Interviews darauf zielt, das Relevanzsystem der Befragten möglichst ›ungetrübt‹ durch Einflüsse der Interviewerin sich entfalten zu lassen, werden die Interviewtexte in einer dialogischen, durch die physische Präsenz und Interaktion zweier Gesprächspartner_innen strukturierten sozialen Situation generiert: Uns an Küchen- oder Cafétischen gegenüber sitzend, erforschten wir uns gegenseitig, nahmen einander wahr und interpretierten uns. Das gegenseitige ›Sich-Sehen‹ und die Frage, wie man (insbesondere geschlechtlich) wahrnimmt – Themen, die in meiner Arbeit eine bedeutsame Rolle spielen werden – waren für mich in den Interviewsituationen eindrücklich präsent: Ich merkte, wie meine eigene Wahrnehmung sich im Laufe eines Interviews verändern konnte, wie ich mein Gegenüber ›anders‹ sah je nachdem, welche geschlechtlichen Verortungen und sozialen Bezüge
53 Fragen und Nachfragen im narrativen Interview zielen generell auf die Generierung von Erzählungen, in denen (im Unterschied zu den Textsorten Beschreibung und Argumentation) dem Idealfall nach das Selbsterleben konkreter Ereignisse chronologisch und detailliert dargelegt wird. Dieses Vorgehen erweist sich m.E. auch dann als sinnvoll, wenn man die zugrundeliegende These Fritz Schützes von der »Homologie von Erzählkonstitution und Erfahrungskonstitution« (Bude 1985: 329) nicht uneingeschränkt teilt. Denn unabhängig davon, inwieweit die Erzählung tatsächlich die Erfahrung einer Situation zum Zeitpunkt ihres Erlebens repräsentiert, werden auf diese Weise konkrete soziale Kontexte und Praxen geschildert und werden generalisierende Äußerungen von Meinungen, Haltungen, Selbst- und Weltdeutungen etc. in ihrem Zusammenhang mit Kontexten und Praxen (und d.h. in ihrer spezifischen Sozialität) interpretierbar. 54 Die Antworten auf diese Frage erwiesen sich für die Auswertung als aufschlussreich nicht nur im Hinblick auf die darin entworfenen Utopien, sondern mindestens ebenso sehr, weil zuvor geschilderte Wünsche, Zwänge, Hoffnungen und Ängste hier teils explizit noch einmal aufgegriffen und unter einer anderen Perspektive verhandelt (und teilweise deutlicher konturiert) wurden. 74
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im Gespräch gerade entfaltet wurden.55 Die sich bei mir einstellende Aufmerksamkeit für und Revidierbarkeit meiner Wahrnehmung des Gegenübers meine ich häufig auch umgekehrt bei meinen Gesprächspartner_innen gespürt zu haben. Ich fühlte mich oft sehr genau betrachtet, jedoch nicht in einer abschätzenden, sondern in einer offenen, neugierigen und wachen Haltung. Wie genau ich gesehen wurde, unterschied sich vermutlich von Situation zu Situation und entzieht sich meiner Kenntnis. Teilweise wurden jedoch Wahrnehmungen expliziert, die sowohl auf wahrgenommene Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen mir und den jeweiligen Gesprächspartner_innen verwiesen: wenn etwa mein ›Weißsein‹ in einer beiläufigen Bemerkung thematisiert wurde (»…nichts gegen euch Hellhäutige«; Int. 9); oder wenn mir eine besondere, als ›lesbisch‹ gekennzeichnete Lesefähigkeit bezüglich geschlechtlicher Erscheinungsweisen zugesprochen wurde (Int. 1); oder wenn eine Erzählung von erlebten alltäglichen Schwierigkeiten aufgrund einer Erscheinungsweise »als sehr männlich wirkende immer noch Frau sozusagen« abgeschlossen wurde mit dem Kommentar: »das hast du bestimmt auch« (Int. 6). Auf diese Weise wurde ich häufig als eine Person adressiert, der bestimmte, für die Praxis des Kinging als relevant empfundene Erfahrungen nicht vollständig fremd waren. Zugleich war ich für meine Gesprächspartner_innen jemand, die mit den Ereignissen, sozialen Zusammenhängen und Praxen der Szene nicht wirklich vertraut und deshalb auf Erklärungen angewiesen war, der aber (so mein Eindruck) ein Verstehen dessen prinzipiell zugetraut wurde.
Zur Auswertung Zusätzlich zu dem durch teilnehmende Beobachtungen und Interviews gewonnenen empirischen Material habe ich diverse Szeneproduktionen für die Auswertung herangezogen: die ersten acht Ausgaben des in Köln erscheinenden Szene-Magazins Die Krone & ich, die bis Oktober 2005 monatlich erschienenen Drag Kingdom-Newsletter, verschiedene Websites der deutschsprachigen Drag King-Kultur und dort archivierte Selbstdarstellungen, Positionspapiere etc. sowie zahlreiche Flyer zu
55 Es handelte sich insbesondere um die Erfahrung, wie (m)eine zweigeschlechtlich bestimmte Wahrnehmung situativ ausgesetzt oder verschoben wurde, und um den (subjektiven) Eindruck, dadurch etwas anderes als ›wirklich‹ anzuerkennen bzw. zu erleben. Das Thema der Konstitution geschlechtlicher Wirklichkeiten war also für mich nicht nur in den in den Interviews erzählten Situationen präsent, sondern auch in den Situationen des Erzählens erfahrbar. 75
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Veranstaltungen im Kontext der Szene. Zusammen mit den Notizen, Memos und Protokollen der teilnehmenden Beobachtungen habe ich dieses Material auf thematische Schwerpunkte hin codiert und hinsichtlich einer Rekonstruktion der Aktivitäten, kollektiven Praxen, sozialen Kontexte und Sinnhorizonte der Drag King-Szene ausgewertet. Diese Auswertung bildet die Basis der ausführlichen interpretierenden Beschreibung der ›Szene‹ in Kapitel II, zu der die Interviewauswertung lediglich ergänzend hinzugezogen wird. Umgekehrt hat die Auswertung der genannten Materialien ergänzenden bzw. Hintergrundcharakter für die Auswertung der Interviews, deren Darstellung vorwiegend in den Kapiteln III und IV erfolgt. Die aufgezeichneten Interviews, die zwischen anderthalb und etwas über drei Stunden dauerten, wurden zunächst vollständig und wörtlich transkribiert56 und anonymisiert.57 Die Auswertung erfolgte in mehreren, teilweise parallel verlaufenden Schritten: Im Rahmen einer kollegialen Interpretationsgruppe wurden Einzelinterviews gemeinsam interpretiert – teils mittels eines sequenzanalytischen Vorgehens bezüglich einzelner
56 Zur besseren Lesbarkeit habe ich die in diesem Buch angeführten Interviewpassagen teilweise geringfügig sprachlich geglättet, d.h. einige Wortoder Satzabbrüche sowie ›Ähs‹ gestrichen, wenn sie für die Interpretation nicht bedeutsam waren (was jeweils zu prüfen war). Starke sprachliche Betonungen sind durch Kursivsetzung gekennzeichnet, Sprechpausen in Sekundendauer in eckigen Klammern angegeben (z.B. [3]), gleichzeitiges Sprechen von Interviewter/m und Interviewerin durch Unterstreichungen der gleichzeitig gesprochenen Satzteile hervorgehoben und Satz- und Wortabbrüche durch Bindestriche an der Abbruchstelle markiert. Äußerungen der Interviewerin sind mit ›I‹ gekennzeichnet, diejenigen der Interviewten mit ›A‹. 57 Die zwar asymmetrische, aber dennoch dialogische Situation der Begegnung während der Interviewführung wird im Prozess der Auswertung (m.E. unweigerlich) sukzessive in ein objektiviertes Material transformiert: Im ›Dialog‹ der Forscherin mit dem ›Material‹ können die Interviewten selbst nicht mehr sprechen, ihr Gesprochenes ist fixiert. Die Forscherin gesteht sich die Interpretationshoheit zu und verspricht im Gegenzug, verantwortlich und methodisch sorgfältig vorzugehen. In dieser Situation (die sich wohl nicht vollständig vermeiden, sondern nur reflektieren und teilweise ›ertragen‹ lässt) dient die Anonymisierung der Interviewten meiner Meinung nach ebenso sehr dem Schutz der Forscherin wie der ›Beforschten‹, indem sie das Unbehagen, über andere zu sprechen, ohne eine Möglichkeit direkten Einspruchs einzuräumen, abmildert: Sie ermöglicht die (letztlich illusorische) Ausflucht, nicht über eine ›wirkliche Person‹, sondern lediglich über die Protagonist_in eines Textes zu sprechen, für die der ›fiktive‹ Name steht. (Vgl. außerdem zu der Problematik, dass durch die wissenschaftliche Anonymisierungspraxis die Urheberschaft der Erfahrungen und Reflexionen der Interviewten verschleiert wird, do Mar Castro Varela 2007: 108f., besonders FN 5.) 76
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Passagen (z.B. der Eingangserzählungen), teils im offenen Gespräch über den Gesamtverlauf eines Interviews oder über sich abzeichnende thematische Schwerpunkte. Die gemeinsame Arbeit diente vor allem dazu, unterschiedliche Lesarten zu generieren und zu testen, eigene Vorannahmen kritisch zu reflektieren, erste Hypothesen zu überprüfen und den Blick für Aspekte und Herangehensweisen zu öffnen, die mir zunächst entgangen waren. Parallel dazu erfolgte eine Auswertung aller Eingangserzählungen hinsichtlich ihrer Struktur und ihres thematischen Verlaufs. Hier interessierte vor allem, welche (auch biographischen) Themen als Bestandteil der ›eigenen Geschichte mit dem Drag Kinging‹ angesprochen und in welcher Form und Ausführlichkeit sie dargestellt wurden.58 In einem nächsten Schritt habe ich alle Interviews vollständig paraphrasiert – in Anlehnung an den Auswertungsschritt der »formulierenden Interpretation« im Kontext der ›Dokumentarischen Methode‹ nach Ralf Bohnsack (2003: 33f.): Die Abfolge der Themen und Unterthemen des gesamten Interviewtextes wurde rekonstruiert und jeder so identifizierte thematische Abschnitt zusammengefasst und mit einer Überschrift versehen.59 Die Paraphrasen stellten eine Schnittstelle dar zwischen der Rekonstruktion der Einzelinterviews und der interviewübergreifenden Auswertung: In ihnen wurde die Struktur der Einzelinterviews deutlich und sie ermöglichten es, zu jedem Zeitpunkt der Auswertung zu dieser Struktur zurückzukehren und die Interpretation einzelner Passagen im Kontext der übergreifenden Auswertung nochmals im Kontext des Einzelinterviews zu überprüfen. Für manche 58 Die Formen der Eingangserzählungen reichen von detaillierten, mit der Kindheit beginnenden chronologischen biographischen Erzählungen bis hin zu kurzen Abrissen der konkreten Ereignisse, die zum Kontakt mit der Drag King-Szene geführt haben. Die meisten Eingangserzählungen stellen eine Mischform zwischen diesen beiden Extremen dar. Besonders häufig ist eine Struktur, in der zunächst der Zugang zur Drag King-Szene erzählt wird und dann eine Überleitung zu früheren bzw. biographisch weiter gefassten Themen erfolgt (z.B. der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtlichkeit und/oder Irritationen bezüglich der zweigeschlechtlichen Strukturierung der Welt). Ein Beispiel für eine solche Überleitung: »Und was es aber für mich immer schon gibt, auch schon lange davor, ist halt eben die Frage: warum bin ich eigentlich Frau geworden und muss das so sein [lacht], und was heißt das eigentlich für mich.« (Int. 3) 59 Dieser Schritt der Verdichtung stellt bereits eine erste Interpretation dar, insofern eine Struktur identifiziert wird, Themen benannt werden und eine verkürzende und daher abstrahierende Zusammenfassung formuliert wird. Es werden in diesem Schritt jedoch noch keine eigenen Deutungen vorgenommen, und sprachliche Wendungen der Interviewten werden als Zitate sowohl in den Überschriften als auch in den Zusammenfassungen übernommen. 77
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Themen erwies es sich als sinnvoll, Bezüge innerhalb eines Interviews auch in die Darstellung der Auswertung aufzunehmen. Dies geschieht insbesondere in den insgesamt vier ›themenbezogenen Kurzporträts‹ in den Kapiteln III und IV, die eine Vertiefung der jeweils behandelten Themen im Kontext eines Einzelinterviews darstellen; in weniger ausführlicher Form jedoch auch an einigen anderen Stellen der genannten Kapitel. Zugleich dienten die Paraphrasen als Ausgangspunkt für die interviewübergreifende Auswertung in Anlehnung an Verfahren der Grounded Theory:60 Die thematischen Überschriften fungierten als erste, aus dem ›Material‹ generierte Codes, durch die thematisch ähnliche bzw. sinnvolle Vergleichshorizonte darstellende Passagen der Interviews identifiziert und zusammengestellt werden konnten. Für eine systematische Auswertung ausgewählt wurden auf diese Weise diejenigen Themen oder Themencluster, die sich aufgrund der Häufigkeit ihres Auftauchens und/oder der Art ihrer Darstellung61 in den Interviews als besonders relevant abzeichneten und die zugleich geeignet waren für eine Rekonstruktion der mich interessierenden Zusammenhänge zwischen Praxen, sozialen Kontexten und Selbstverhältnissen sowie der dadurch konstituierten geschlechtlichen Möglichkeiten bzw. ›Wirklichkeiten‹. Die daraus resultierenden thematischen Materialzusammenstellungen wurden weiter ausgewertet mittels eines beständig vergleichenden Vorgehens,62 durch das sowohl übergreifende Muster und Strukturen als auch Varianzen und (fall-, kontext- oder situations-)
60 Ich orientierte mich dabei vorwiegend an der Begründung dieses methodischen Ansatzes durch Anselm Strauss (vgl. Strauss/Corbin 1996). Zu Differenzen zwischen den beiden Begründern der Grounded Theory Barney Glaser und Anselm Strauss und deren methodologischen und forschungspraktischen Implikationen vgl. Strübing 2004: 57ff. sowie 63ff. 61 Als Hinweise auf eine besondere Relevanz für das Erleben der interviewten Person lassen sich etwa besonders engagierte, bildhafte, plastische und/oder detaillierte Schilderungen deuten; vgl. Bohnsack 2003: 138. (Bohnsack spricht in diesem Zusammenhang von »Fokussierungsmetaphern«; ebd.) 62 Vgl. zur »Methode des ständigen Vergleichens« in der Grounded Theory Strauss/Corbin 1996: 44ff. und 63ff.; Strübing 2004: 18ff. Ein beständig komparatives Vorgehen ist auch grundlegend für die von Ralf Bohnsack (vgl. 2003: 31ff.) entwickelte ›Dokumentarische Methode‹: Durch die vergleichende Kontrastierung unterschiedlicher ›Fälle‹ bzw. Textpassagen werden die ›Gegen-‹ oder ›Vergleichshorizonte‹, durch die der Sinn einer Äußerung erst explizierbar wird, aus dem empirischen Material selbst gewonnen, anstatt dem (theoretischen oder erfahrungsbasierten) Vorverständnis des/r Forschenden zu entspringen oder gedankenexperimentell erzeugt zu werden (vgl. auch Nohl 2006: 53ff.). 78
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spezifische Ausprägungen herausgearbeitet werden konnten.63 Ausgehend von der derart geleisteten Rekonstruktion habe ich in einem nächsten Schritt theoretische Ansätze heran gezogen, die das ›Material‹ bzw. die darin rekonstruierten Bedeutungsdimensionen mir jeweils nahe zu legen schienen und die helfen sollten, die Bedeutungen weiter aufzuschließen, zu schärfen und in einen weiteren Horizont zu stellen. Diese Konzepte wurden ihrerseits durch das Material hindurch gelesen und ggf. an ihm geschärft.64 In der Darstellung erwies es sich meist als sinnvoll, die herangezogenen theoretischen Konzepte zu einem relativ frühen Zeitpunkt einzuführen und die damit verbundenen Begrifflichkeiten teilweise zur weiteren Darstellung der Auswertung zu nutzen.
63 Der Logik nach war dieses Vorgehen ein codierendes – allerdings in einer etwas ›weicheren‹ Form als der in der Grounded Theory vorgeschlagenen, die auf begriffliche Fixierungen und eine oftmals schematische, hierarchisierende und Kausalbeziehungen ausdrückende Anordnung von Codes, Kategorien und deren Dimensionen zielt. Demgegenüber arbeitete ich durchgängig stärker formulierend: Ausführliche Randnotizen, Interpretationsentwürfe zu einzelnen Passagen und zu deren unterschiedlichen Zusammenstellungen, Skizzen über Zusammenhangsvermutungen, sukzessive veränderte Entwürfe zu möglichen Ordnungen von Themen und Dimensionen waren mein Weg, um Kernthemen und deren Dimensionen und unterschiedliche Ausprägungen herauszuarbeiten und zu schärfen. 64 Vgl. zum Heranziehen theoretischer Konzepte aus der Literatur im Forschungsprozess der Grounded Theory Strauss/Corbin 1996: 25ff. und 31ff.; Strübing 2004: 55ff.; Dausien 1996: 94ff. Anders als Grounded Theory-Mitbegründer Barney Glaser gehen Anselm Strauss und Juliet Corbin nicht von einer voraussetzungslosen Perspektive auf das Material aus (bzw. von einer rein induktiven Logik der ›Emergenz‹ theoretischer Konzepte allein aus dem Material), sondern fassen das Verhältnis von Materialanalyse und dem Lesen von theoretischer und anderer Fachliteratur als ein Wechselverhältnis, das den gesamten Forschungsprozess begleitet. Wichtig ist, dass es ein beständiges Wechselverhältnis bleibt; d.h. unter anderem, dass nicht ex ante über die zu verwendenden theoretischen Konzepte entschieden wird, und dass deren Tauglichkeit für die Analyse am Material überprüft wird und die Konzepte dann ggf. erweitert, spezifiziert oder modifiziert werden. 79
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II. Die Drag King-Szene: Kollektive Praxen, Bezüge und Verortungen Im Folgenden wird die durch Praxen des Kinging konstituierte Szene1 und damit der kollektive Horizont dieser Praxen beleuchtet. Es geht zunächst darum, einen Eindruck davon zu vermitteln, was hier überhaupt ›geschieht‹: Welche Aktivitäten werden entwickelt und voran getrieben, in welchen Räumen und sozialen Zusammenhängen finden sie statt, an wen richten sie sich und wer beteiligt sich daran?2 Über dieses 1
2
Ich verwende den Begriff der ›Szene‹ in einer wesentlich deskriptiven Weise im Anschluss an Hitzler et al. (2001). Szenen sind den Autoren zufolge insbesondere durch folgende Merkmale charakterisiert: Die Zugehörigkeit zu einer Szene beruht auf gemeinsamen Überzeugungen und Vorstellungen (und nicht lediglich auf askriptiven Merkmalen); Szenen sind thematisch fokussierte Netzwerke; sie verfügen über eine eigene Kultur (gemeinsame Stile, Verhaltensweisen und Wissensvorräte); sie benötigen physische Orte – d.h. typische ›Treffpunkte‹ – an denen Zugehörigkeit erfahrbar wird; Szenen sind nicht Ansammlungen von Einzelpersonen, sondern Netzwerke von Gruppen; die Zugehörigen sind in unterschiedlichem Maße in die Szene involviert, d.h. es gibt einen ›Kern‹ und ›Ränder‹, die Übergänge zwischen ihnen sind aber fließend; Szenen sind in ständigem Wandel, Kriterien der Zugehörigkeit sind variabel und ihre Grenzen sind nicht eindeutig zu ziehen (vgl. zu einer Zusammenfassung dieser Charakteristika Haunss 2004: 81ff.). Dass all diese Kriterien auf die hiesige Drag King-Szene zutreffen, wird im Laufe dieses Kapitels deutlich werden. Da ›die Szene‹ in ständiger Veränderung und Bewegung begriffen ist, ist das hier und im Folgenden verwendete Präsens meiner Ausführungen problematisch oder zumindest erklärungsbedürftig: Die damit aufgerufene Gegenwart bezieht sich auf einen Zeitraum, der ungefähr Ende 2003 beginnt und Mitte 2006 endet (d.h. auf den Zeitraum meiner Feldforschung; frühere Ereignisse habe ich aus den Interviews und anderen Quellen rekonstruiert; wenn ich auf spätere Ereignisse eingehe, kennzeichne ich dies 81
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wesentlich deskriptive Interesse hinaus sollen Bedeutungen von Praxen des Kinging in ihren Bezügen zu historischen und aktuellen Entwicklungen geschlechtlicher Lebensweisen und Sinnhorizonte in unterschiedlichen Kontexten verstehbar gemacht werden. Rekonstruiert werden die sozialen und kulturellen Bezüge, die Kinging als eine sinnhaft verstehbare Praxis erst ermöglichen und in die durch diese Praxis investiert oder auch interveniert wird. Zudem wird diskutiert, inwiefern die kollektiven Praxen der Szene als gegenöffentlichkeitskonstituierende Adressierungen analysiert werden können, die – über den Horizont einer Szene hinaus – performativ auf eine andere Welt und Wirklichkeit zielen.
1. Die Szene – ein einführender Überblick Anfänge und Entwicklungen: Aktivitäten, Räume, Netzwerke und Gruppen Wie lässt sich die Entstehung einer Szene beschreiben? Wie kam es dazu, dass sich um die Jahrtausendwende herum auch in Deutschland mehr und mehr Menschen für Drag Kinging zu interessieren begannen, sich zusammenfanden, mit unterschiedlichen geschlechtlichen Stilen und Performance-Praxen experimentierten, öffentliche Räume und Formen kollektiver Praxis erschlossen und so die Entwicklung einer Drag KingKultur, einer Drag King-Szene in Gang setzten? Historische Linien und jüngere Entwicklungen geschlechtlicher und sexueller subkultureller Kontexte, die den Möglichkeitshorizont dieses Auftauchens umreißen helfen, sollen zu einem späteren Zeitpunkt aufgezeigt werden (II.2). Zunächst folgt nun ein kurzer Abriss einiger konkreter Phänomene und Ereignisse, die als Bestandteile einer Entstehungsgeschichte im engeren Sinne gelten können. In den 1990er Jahren schon traten einzelne Künstler_innen, deren Performances als Drag Kinging bezeichnet werden konnten, auf hiesigen Bühnen auf: Johnny Berlin etwa, der sich insbesondere durch seine Performances als Elvis-Imitator einen Namen machte; oder die Perfor-
mit der Angabe von Datum bzw. Jahr). Auch für diesen Zeitraum lässt sich selbstverständlich nicht von einem statischen Zustand ausgehen. Die hier vorgenommene Rekonstruktion ›der Szene‹ ist notwendig eine Abstraktion – sowohl von den ständigen Veränderungen als auch von der konstitutiven Heterogenität, Komplexität und Unschärfe. Die Repräsentation, die ich damit leiste, ist wie jede Repräsentation nicht lediglich Abbild, sondern eine (spezifische und anfechtbare) Konstruktion. 82
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mance-Künstlerin Bridge Markland, die mit ihrem Bühnenprogramm Herrenabend 1996 eine Drag King-Show in mehrere deutsche Großstädte brachte.3 Auch Antonio Caputo, der 1998 mit dem legendären New Yorker Drag King-Club Casanova auf Tour quer durch Nordamerika ging, jobbte schon länger zuvor als go-go-tanzender Gigolo in verschiedenen lesbischen Clubs von Berlin und stand 1997 erstmals auf der Bühne des alljährlich dort stattfindenden Transgender-Festivals Wigstöckel.4 Die vorwiegend in New York arbeitende Drag King-Pionierin Dianne Torr bot 1995 einen Drag King-Workshop in Hannover an und organisierte zwei Jahre später gemeinsam mit Bridge Markland unter dem Motto go drag! ein kleines Festival in Berlin, das 2002 eine Fortsetzung in größerem Format fand.5 Neben diesen lokalen Events inspirierte die anwachsende internationale (zu diesem Zeitpunkt vorwiegend US-amerikanische und britische) Drag King-Kultur einige zu ersten Experimenten: Der Text- und Photoband The Drag King Book von Del LaGrace Volcano und Judith Halberstam war 1999 erschienen, und das Internet bot Zugang zu Websites von Performer_innen und Magazinen sowie zu (englischsprachigen) Mailinglisten. Festivals wie das seit 1999 jährlich in Nordamerika stattfindende International Drag King Extravaganza (IDKE) machten in interessierten Kreisen von sich reden. Für viele lag das Thema in der Luft; auf Partys oder im Freund_innenkreis experimentierten einige mit gemalten oder geklebten Bärten und diversen anderen stilistischen Accessoires; manche zeigten ihr Outfit bereits auch auf der Straße, ob nun auf Demos oder im Alltag, ertrugen irritierte oder amüsierte Blicke und stellten sich Diskussionen. Einen ersten Kristallisationskern fanden derartige verstreute Versuche in einer deutschsprachigen Mailingliste für Drag Kings und am Thema Interessierte, die – nach einem ebenfalls durch einen InternetKontakt gestifteten Austausch der beiden Initiator_innen – im Herbst
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Siehe http://www.bridge-markland.de, Stand: 24.02.2010. Durch ihre Mitwirkung in dem Film Venus Boyz der Schweizer Regisseurin Gabriel Baur (CH 2001), der 2002 in die Kinos kam und Drag King-Performer_innen und -szenen v.a. in New York und London porträtiert, wurde sie auch hierzulande einem breiteren Publikum bekannt. Siehe http://www.antoniocaputo.de, Stand: 01.09.2008. (Auf das seit 1996 jährlich in Berlin zelebrierte Transgender-Festival Wigstöckel gehe ich in Kapitel II.2 näher ein.) Vgl. zu go drag! Strunk (Hg.) 2002; zu den genannten und weiteren Performer_innen, die in den 1990er Jahren ›Drag Kinging‹ oder verwandte theatralisch-parodistische Geschlechterinszenierungen auf deutschsprachige Bühnen brachten, Volcano/Halberstam 1999: 21f.; Méritt 2007; Witte 2007. 83
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
2000 eröffnet wurde und bald regen Zulauf erhielt. Dass diejenigen, die sich zuerst dort einfanden, wie die beiden Initiator_innen meist in Berlin oder in Köln wohnten, ist sicherlich kein Zufall: Die in diesen Städten besonders großen und vielfältigen lesbischen Szenen, die insbesondere in Berlin seit Beginn der 1990er Jahre sichtbar werdenden TransgenderZusammenhänge sowie eine lebendige (insbesondere schwule) Performance-Kultur begünstigten das Aufgreifen von Drag Kinging als einer Form der Bearbeitung von und Auseinandersetzung mit geschlechtlichen und sexuellen Verortungen. So verabredeten sich auch in diesen beiden Städten (die heute noch als Zentren der hiesigen Drag King-Kultur gelten können) erstmals Beteiligte der Mailingliste zum Kennenlernen außerhalb des virtuellen Raums. Zum Zeitpunkt dieses Kennenlernens war keine_r der Beteiligten bereits Performer_in, und längst nicht alle hatten die Absicht, es zu werden. Dass ein zunächst eher vage formuliertes persönliches Interesse an mit der Drag King-Kultur verbundenen geschlechtlichen Praxen und Sinnhorizonten ausreichte, um den gemeinsamen Austausch zu suchen, mag mit zu einer Besonderheit der hiesigen, deutschsprachigen Szene im Vergleich zu vielen anderen lokalen Szenen beigetragen haben: Während die Bezeichnung ›Drag King‹ vielerorts denjenigen vorbehalten bleibt, die ihre Geschlechterperformances auf die Bühne bringen, wird der Begriff hier weiter gefasst. Sich selbst als Drag King zu begreifen bzw. ›als Drag King unterwegs‹ zu sein, wie eine häufig gebrauchte Formulierung lautet, kann auch auf bestimmte geschlechtliche Verortungen und Praxen jenseits theatralischer Ambitionen verweisen. Die Initiator_innen des Kingdom of Cologne, das aus diesen ersten durch die Mailingliste gestifteten Kontakten heraus entstand, formulieren das in ihrer Selbstdarstellung so: »Mit ›Drag King‹ meinen wir nicht nur die Lesbe, die sich am Wochenende für die Disko einen Anzug anzieht und ein schickes Bärtchen ins Gesicht zaubert. Wir meinen nicht nur die auf der Bühne zu bewundernde Performerin, die Rollenklischees verdeutlicht, persifliert oder für sich in Anspruch nimmt. Gemeint ist darüber hinaus ein Spektrum von Menschen – zumeist biologisch eindeutig weiblichen Geschlechts –, die mit der ihnen von der Gesellschaft zugewiesenen Geschlechterrolle nicht einverstanden sind, entweder weil sie dies nicht können oder weil sie dies nicht wollen. Die hierfür selbst gewählten oder von der Umgebung gegebenen Definitionen reichen von ›transgender‹ bis ›transsexuell‹. Gemeinsam ist ihnen der mitunter tägliche Kampf gegen die vermeintlich einfachste aller gesellschaftlichen Einordnungen: die nach dem
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DIE SZENE
Geschlecht. […] Das binäre Geschlechtersystem, wie es in unserer Gesellschaft gelebt und gefordert wird, lehnen wir als Zwangssystem ab.«6
Dementsprechend richteten die Kölner Kings der ersten Stunde ihre Ambitionen zunächst nicht auf die Bühne, sondern darauf, Austausch, Vernetzung und Diskussionen zu ermöglichen. Sie initiierten die Tafelrunde – ein monatlich stattfindendes »offenes Treffen von, für und mit Drag Kings & friends« (Flyer). Sie organisierten Diskussionsveranstaltungen und Filmvorführungen und riefen die Ausnahme-Party ins Leben, die 2001 zum ersten Mal stattfand, im Frühjahr 2006 bereits zum 15. Mal gefeiert wurde und Drag King-Kultur in den Mittelpunkt stellt, aber offen ist für Interessierte aller Geschlechter. Auch das seit Frühjahr 2003 halbjährlich erscheinende Magazin Die Krone & ich wird von dem Kölner Zusammenhang herausgegeben. Die als »Forum für Kings und deren FreundInnen« (Krone #1: 3) angekündigte Zeitschrift beleuchtet mit Berichten, Glossen, Kurzgeschichten, Interviews, Zeichnungen und Fotographien unterschiedliche Facetten der Drag King-Kultur und ihres Umfelds. Hiesige und internationale Performer_innen werden vorgestellt, Entwicklungen der Szene diskutiert oder ironisch kommentiert, Bücher und Filme besprochen, Tipps und Tricks zum Bärtekleben und anderen Körperpraxen des Kinging vermittelt. Berichtet wird über Transgender-Organisationen und -Veranstaltungen in unterschiedlichen Ländern, über feministische und queere Bands und Festivals, über den Drag King-Alltag in verschiedenen Städten, über Demonstrationen und Protestveranstaltungen, Partys und Festivals, Diskussionsveranstaltungen und Kunstausstellungen, die in einem weiten Sinne mit der Drag King-Szene in Verbindung stehen. Außerdem trug die ironisch als ›Merchandising‹ bezeichnete Herstellung von Drag Kingdom-T-Shirts, -Streichholzschachteln und -Aufklebern mit dazu bei, den Kölner Drag King-Zusammenhang bekannt zu machen – ebenso wie die eigene
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Zitiert nach http://www.kingdom-of-cologne.de/koc.html, Stand: 24.02. 2010. Inwiefern sich ein solches Verständnis von dem anderer Drag KingSzenen unterscheidet, wird beispielhaft deutlich in einem Interview, das Britt Mesdagh mit Mitgliedern der Drag King-Performance-Gruppe The Austin Gender Conspiracy aus Texas/USA und Leuten vom Kingdom of Cologne geführt hat. Die Kings aus Texas bringen ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass sich viele der Kölner als Drag Kings bezeichnen, ohne auf die Bühne zu gehen, aber in Drag (z.B. mit Bart) zur Arbeit oder zum Einkaufen gehen: »That was the first time I had ever heard of it. To be a drag king to me was to be in a drag king troupe and do drag king performances.« (Mesdagh 2006: 13) Ihre eigenen geschlechtlichen Alltagsinszenierungen bezeichnen die Texaner_innen dagegen nicht als ›Drag Kinging‹, sondern eher als »butch« oder »transgender« (ebd.). 85
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Homepage, die über alle Aktivitäten informiert und darüber hinaus Buchtipps und Links zum Weiterlesen anbietet. Erst 2005 ging aus dem Kingdom of Cologne, das mittlerweile zum Anziehungspunkt für Drag Kings und andere Interessierte aus dem ganzen deutschsprachigen Raum geworden war, auch eine Performance-Gruppe hervor: TKK – The Kinky Kingz.7 Anders verlief die Entwicklung in Berlin: In dieser Stadt mit ihrer langen und vielseitigen Tradition von Drag Performances lag die Überlegung, selbst auf die Bühne zu gehen, von Anfang an nahe. Der Beginn gestaltete sich allerdings zögerlich: Keine_r derjenigen, die sich über die Mailingliste zusammengefunden hatten, verfügte bereits über Erfahrungen in diesem Bereich oder gar über eine Ausbildung in Schauspiel oder Tanz, und einigen erschien die Idee, sich selbst vor Publikum zu präsentieren, zunächst eher absurd. Dennoch wagten vier Leute das Experiment, trafen sich zum Proben und Ausprobieren, nannten sich Kingz of Berlin und führten auf dem Lesbenfrühlingstreffen 2001 in Rostock ihren ersten Drag King-Act auf. Viele weitere sollten folgen: Mit einem sich ständig erweiternden und ausgefeilter werdenden Programm konnte die Gruppe im Jahr 2007 (nach einigen Neuzugängen und personellen Wechseln nun zu siebt) bereits auf nahezu hundert Auftritte nicht nur in vielen deutschen Städten, sondern auch in der Schweiz, in Österreich, Polen, Dänemark und Italien zurückblicken.8 Auch über ihre Performances hinaus waren die Kingz of Berlin maßgeblich an der Entstehung der Berliner Drag King-Kultur beteiligt. Aus ihrem Umfeld heraus entstand der Kingz’ Club, ähnlich wie die Kölner Tafelrunde ein monatliches offenes Treffen für alle Interessierten. Seit 2003 organisieren sie außerdem eine eigene Partyreihe: die PenisNight – ein Titel, mit dem dieses Organ entgegen seiner Funktion im gleichklingenden Mangel-Konzept des ›Penisneids‹ ironisch-offensiv zum Gegenstand feiernder Aneignung erklärt wird.9 Ihrem Anspruch
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Vgl. zum Kingdom of Cologne und dessen diversen Aktivitäten und Gruppen http://www.kingdom-of-cologne.de (Stand: 24.02.2010) sowie Thilmann et al. (Hg.) 2007: 30ff. Siehe http://www.kingzofberlin.de (Stand: 24.02.2010) sowie Thilmann et al. (Hg.): 43ff. Aus dem Horizont dieser Gruppe ging im Jahr 2004 außerdem eine weitere Performance-Gruppe hervor – die Kingz Connection. Zudem kann der Titel als Reminiszenz an eine frühere ironische Referenz auf den Freud’schen Terminus gelesen werden: Ladies Neid nannte sich ein 1985 gegründetes linksradikales Tuntenensemble, dessen politischen Kontext u.a. der schwule AIDS-Aktivismus bildete (vgl. dazu auch Rosa von Praunheims Film Tunten lügen nicht [D 2001]). Die Kingz of Berlin
DIE SZENE
folgend, nicht als Stars die Szene zu monopolisieren, sondern durch ihre Aktivitäten auch andere zum Kinging zu ermutigen, veranstalten die Kingz of Berlin außerdem mehrmals im Jahr eine Mitmachshow: Nach einem sonntäglichen Kaffee-und-Kuchen-Event (Café Latte) können die, die sich trauen, im zwar öffentlichen, aber dennoch kleinen und recht familiären Rahmen ihre Ideen erstmals auf die Bühne bringen. Noch niedrigschwelliger sind Drag King-Workshops, die sowohl von Mitgliedern der Kingz of Berlin als auch inzwischen von vielen anderen Performer_innen angeboten werden. Reine Neugier kann Grund genug sein, um sich hier ein oder zwei Tage lang in das Geheimnis von Mastix und Stoppelpaste, Stuffern und Techniken des Brustabbindens einweisen zu lassen10 und geschlechtlich unterschiedlich codierte Bewegungs- und Verhaltensweisen zu erproben. Vieles, aber längst nicht alles, was die Berliner Drag King-Szene ausmacht, nahm mit den Kingz of Berlin ihren Anfang. Zur gleichen Zeit, aber unabhängig von dem erwähnten Kristallisationskern formierten sich etwa in Friedrichshain die pussycoxx. Mit ausgefeilten Choreographien und Comedy-Elementen brachte die sich als ›female boygroup‹ bezeichnende Gruppe Themen rund um (trans-)geschlechtliche Alltagserfahrungen und alltägliche Vereindeutigungszumutungen auf die Bühne. Auch wenn sie ihre geschlechtlichen Bühneninszenierungen nicht als Drag, sondern in einer Kontinuität mit ihren alltäglichen Erscheinungsweisen begriffen und daher die Bezeichnung als Drag Kings ablehnten, bewegten sich die Performer_innen doch in den entstehenden Drag King-Kontexten, wurden dort wahrgenommen und gefeiert und prägten die Szene und sich entwickelnde Performance-Stile entscheidend mit. Aus der Gruppe, die sich 2005 auflöste, gingen weitere Kooperationen und Projekte hervor – u.a. Too Many MCs, die sich vor allem in HipHop bzw. Rap engagieren.11 Die Berliner Szene geprägt haben auch Performance-Künstler_innen wie Océan12 oder Werner stellen sich damit auch in eine spezifische, nämlich mit aktivistischen Protestformen verbundene Tradition v.a. schwuler Drag Performances. 10 Mastix und Stoppelpaste sind für den Theaterbedarf entwickelte Klebstoffe, die für das Ankleben von Barthaaren bzw. -stoppeln verwendet werden. Als Stuffer werden verschiedene Gegenstände bezeichnet, die, in der Unterhose verstaut, für einen ausgebeulten Schritt sorgen. Dafür eignen sich etwa Socken, gelgefüllte Kondome oder auch eigens für diesen Zweck hergestellte und in Sexshops erhältliche weiche Penis-und-HodenImitate. 11 Siehe http://www.pussycoxx.com, Stand: 24.02.2010; Thilmann et al. (Hg.): 48ff. 12 Siehe http://www.oceanleroy.biz, Stand: 24.02.2010. 87
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Hirsch,13 die oft mit Solo-Performances, aber auch in wechselnden Kooperationen auf der Bühne zu sehen sind. Seither sind weitere Gruppen und Einzelperformer_innen und auch wechselnde Kooperationen aus der Berliner Szene hervorgegangen – Kooperationen auch im Rahmen eines internationalen bzw. trans-lokalen Austauschs. Beispiele dafür sind das bereits kurz erwähnte, von Bridge Markland und Dianne Torr im Jahr 2002 organisierte mehrtägige Festival go drag!, an dem zahlreiche Drag Kings der hiesigen Szene sowie mehrere New Yorker PerformanceKünstler_innen beteiligt waren; außerdem das International Exchange Program der Kingz of Berlin 2005: Für jeweils einige Tage waren die Windy City Blenders aus Chicago, die Shamcocks aus Dublin und die Austin Gender Conspiracy aus Texas in Berlin und teilweise auch in Köln zu Gast, sowohl zu gemeinsamen Drag Shows als auch zu Diskussionsveranstaltungen und Workshops. Performer_innen der hiesigen Szene beteiligen sich umgekehrt rege an Festivals und Shows an verschiedenen Orten der Welt – etwa an den jährlich in Nordamerika stattfindenden explizit dem Drag Kinging gewidmeten Festivals, an eher links-autonom geprägten queeren Veranstaltungen (wie z.B. dem jährlich in einem anderen Land statt findenden queeruption-Festival), an queer-feministischen Ladyfesten14 vorwiegend im europäischen Raum oder im Rahmen internationaler Transgender-Veranstaltungen wie etwa dem 2005 in Wien abgehaltenen ersten European Transgender Council. Unstrittig sind Berlin und Köln die zentralen Knoten- und Anziehungspunkte der hiesigen Drag King-Szene, und viele, die andernorts ›als Drag Kings unterwegs‹ sind, reisen regelmäßig dorthin. Eine Drag KingReise wert sind jedoch auch Ereignisse in anderen Städten. Seit 2002 ist etwa in Bremen die ›queere all-girl boygroup‹ Sissy Boyz beheimatet, deren Performances mit einem weiten Spektrum an Stilmitteln und Geschlechtlichkeiten allerdings längst nicht mehr nur dort zu sehen sind: Die Gruppe tourt regelmäßig in zahlreichen deutschen und anderen europäischen Städten und bietet außerdem Drag Workshops an unter13 Siehe http:// www.make-up-productions.net/home/ PEOPLE / Werner%20 Hirsch, Stand: 24.02.2010. 14 Die Idee des Ladyfests ist in den USA aus der Riot-Grrrl-Bewegung heraus entwickelt worden und wird seit 2001 in Europa, seit 2003 auch in Deutschland aufgegriffen. Die aus nicht-institutionalisierten Strukturen heraus organisierten Festivals mit einem explizit linken und queer-feministischen Anspruch ziehen teilweise mehrere Tausend Besucher_innen an und gehören damit zu den größten feministischen Veranstaltungen der letzten Jahre im deutschsprachigen Raum. (Siehe http://www.ladyfest.org, Stand: 24.02.2010; für eine Diskussion von Ladyfesten als queer-feministische Praxis siehe Ommert 2008.) 88
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schiedlichen Orten an.15 Monatlich stattfindende offene Drag KingTreffen gibt oder gab es eine Zeitlang u.a. in München, Frankfurt a.M. und Bochum; in verschiedenen Städten werden Partys mit Drag KingPerformances organisiert; FrauenLesbenTransgender-Referate der UniASten und andere geschlechterpolitische Gruppen laden Referent_innen der Szene zu Drag King-Workshops ein; auf vielen CSD-Veranstaltungen und Ladyfesten gehören Drag Kings mittlerweile zum festen Programm. Lose vernetzt sind die meisten dieser Gruppen und Aktivitäten über Homepage und Mailingliste des Drag Kingdom:16 Termine und Ankündigungen sind auf der Homepage einsehbar und andere relevante Seiten verlinkt. Die Mailingliste bietet Interessierten aus dem ganzen deutschsprachigen Raum ein Forum, das zum Kennenlernen, zur Vernetzung, zur Entwicklung neuer Projekte und gemeinsamer Aktivitäten genutzt wird und zu Diskussionen und Austausch über ein weites Spektrum geschlechtlicher und sexueller Themen – sowohl hinsichtlich ihrer Bedeutung für je persönliche Lebensweisen, Verortungen und Wünsche als auch in Bezug auf deren kulturelle und gesellschaftliche Dimensionen.
Die in die Szene Involvierten – Versuch einer Beschreibung Sich in der Drag King-Szene zu bewegen, Teil der Szene zu sein, sie mit zu gestalten und zu leben bedeutet, so wurde deutlich, nicht notwendigerweise, sich in bühnenbezogenen Drag Performances zu engagieren. Wer ›sind‹ nun diejenigen, die sich hier zusammenfinden, die sich mal eher sporadisch, mal regelmäßig und intensiv am Szeneleben beteiligen, deren Netzwerke und Praxen die Szene ausmachen? Von woher und wie kommen sie zur Szene? Was lässt sich über geschlechtliche und sexuelle Verortungen, über soziale Hintergründe, über Ausbildungswege und Lebensalter der hier Involvierten sagen? Hintergrund des folgenden Versuchs einer diesbezüglichen Charakterisierung sind meine durch Beobachtungen und Gespräche in der Szene gewonnenen Eindrücke; als expliziten Bezugspunkt der Darstellung wähle ich jedoch die Kurzvorstellungen, zu denen alle aufgefordert werden, die sich in die Mailingliste des Drag Kingdom eintragen lassen.17 Auch wenn längst nicht alle
15 Siehe http://www.sissyboyz.de, Stand: 24.02.2010; Thilmann et al. (Hg.): 71ff. 16 Siehe http://www.dragkingdom.de, Stand: 24.02.2010. 17 Ich habe für diesen Abschnitt 129 solcher Kurzvorstellungen im Zeitraum vom 9.7.03 bis zum 20.5.06 ausgewertet. Forschungsethisch ist die Auswertung der Kommunikation auf Mailinglisten nicht unproblematisch: Es stellt sich die Frage, inwieweit eine solche Auswertung vertretbar ist, 89
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
in die Szene Involvierten hier beteiligt sind, lässt sich aus der Zusammenschau solcher Kurzvorstellungen doch ein Bild entwerfen bzw. lässt sich daran ein Bild festmachen, das meine auf anderen Wegen gewonnenen Eindrücke bestätigt. Und um mehr als ein solches Bild, das kein Abbild zu sein beansprucht, sondern lediglich einen Eindruck vermitteln soll, kann es hier nicht gehen.18 Wo leben die an der Szene Beteiligten, und wie kommen sie dazu, sich in der Szene zu bewegen? Dass die Szene sich nicht auf Berlin und auf Köln beschränkt, wird auch hier schnell deutlich: Die Beteiligten leben über die ganze Republik verteilt (einige auch in den größeren Städten Österreichs und der Schweiz, einzelne im nicht-deutschsprachigen Ausland). Berlin und Köln sind allerdings auch hier am stärksten vertreten, es folgen weitere Großstädte aller Bundesländer; allerdings werden Städte oder Regionen der ehemaligen DDR (außer Berlin) vergleichsweise selten angegeben. Nicht wenige – vielleicht überraschenderweise – leben auf dem Land, im »tiefsten Bayern« etwa. Gerade diejenigen, die weitab von den urbanen Zentren queerer Subkultur leben, nutzen die Mailingliste häufig, um Kontakte in ihrer eigenen Region zu suchen (oft mit dem Ziel, dort gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen). Obwohl das Internet also für viele weiterhin ein wichtiger Raum für Kontakte, Austausch und Informationen ist, stoßen die wenigsten erst über das Netz auf die Szene. Die meisten, die sich in die Liste eintragen lassen, haben sich vorher bereits dort bewegt – manche regelmäßig über längere Zeit, andere eher sporadisch oder bei einzelnen Events. Berichte über den Besuch einer Party, einer Show, eines Workshops, der Verweis auf einen der lokalen Drag King-Stammtische oder auf Freundschaften, Beziehungsnetze oder politische Gruppen, in denen Drag Kinging ein Thema ist, stehen häufig am Beginn der Kurzvorstellungen und werden als Gründe für das erwachte Interesse am Kinging benannt. Darüber hinaus wird auf eigene Praxen verwiesen: seit einiger Zeit ab und an »als King« oder »in Drag« unterwegs zu sein – ob im Freund_innenkreis, auf wenn die Beteiligten nicht ausdrücklich um ihre Zustimmung gebeten wurden – was ich aus Gründen des Aufwands nicht getan habe, wenn ich auch mein Forschungsinteresse an der Drag King-Kultur in meiner eigenen Kurzvorstellung auf der Liste offen gelegt habe. Ich begegne diesem Problem mit der Entscheidung, auf diesem Wege erhaltene Informationen generalisierend und abstrahierend darzustellen und nicht wörtlich zu zitieren (außer einzelne Begriffe und Wendungen, was ich im Folgenden durch doppelte Anführungszeichen kenntlich mache). 18 Biographische Hintergründe und Verortungen einiger der in die Szene Involvierten werden in den Kapiteln III und IV – ausgehend von der Auswertung der Interviews – ausführlicher und differenzierter dargestellt. 90
DIE SZENE
Partys oder auch regelmäßig im Alltag (auf der Straße, bei der Arbeit); bereits als Performer_in in Erscheinung getreten zu sein; sich in politischen Zusammenhängen zu engagieren (z.B. als »Transaktivist«, in feministischen Gruppen, in lesbisch-queeren Kreisen); sich künstlerisch (z.B. durch Fotographie oder Film) oder auch wissenschaftlich mit Geschlechterthematiken auseinander zu setzen. Während es einige bei der Erwähnung solcher Praxen belassen, geben die meisten weitere Hinweise auf ihre geschlechtlichen Verortungen. Einige verweisen auf Lebensweisen und Erfahrungen (z.B. lesbisch zu leben; öfters vom Frauenklo verwiesen zu werden; Testosteron zu nehmen; in Beziehung mit einem Transmann oder einem Drag King zu leben; sich in queeren, lesbischen und/oder Transgender-Zusammenhängen zu bewegen; sich von Freund_innen mit einem anderen als dem Geburtsnamen ansprechen zu lassen). Andere berichten eher von inneren Suchbewegungen bezüglich ihrer geschlechtlichen und sexuellen Identifizierungen – teils in Schilderungen eines deutlich krisenhaften Erlebens und manchmal verbunden mit dem Wunsch nach Unterstützung und Hilfe durch die Listenteilnehmer_innen, teils auch in Metaphoriken, die eher an Reisebeschreibungen erinnern. Und viele benutzen subkulturell geprägte Begriffe (die vorwiegend dem angloamerikanischen Sprachraum entstammen), um ihr geschlechtliches Selbstverständnis zu umschreiben: Neben »Drag King« z.B. »Transmann«, »transgender« oder »trans*«, »Lesbe«, »butch« oder »stonebutch«, »femme« oder auch »queer femme«, »genderboy«, »trannyboy« oder »transboy«, »queer« oder »genderqueer«. Häufig werden mehrere solcher Begriffe gleichzeitig benutzt, um damit gewissermaßen den Horizont der eigenen Geschlechtlichkeit zu umreißen; manchmal auch die Unzulänglichkeit bzw. das Problematisch-Festschreibende solcher Bezeichnungen thematisiert und zugleich auf ihre Nützlichkeit verwiesen.19 Manche unterscheiden auch zwischen verschiedenen ›personae‹, die je situativ zum Tragen kommen und denen teilweise auch unterschiedliches Gewicht beigemessen wird. Wie der Zugang zu anderen Veranstaltungen der Szene ist auch der Zugang zur Mailingliste nicht auf bestimmte, vorab definierte geschlechtliche Verortungen oder Identitäten beschränkt: Sie steht prinzipiell allen offen, die sich dafür interessieren. Dennoch lassen sich nicht 19 Vgl. zur Diskussion um die ambivalente Funktion solcher begrifflicher Neuschöpfungen u.a. Halberstam 1999. Als Alternativen zu medizinischsexualwissenschaftlich geprägten Bezeichnungen für minoritäre Sexualitäten und Geschlechtlichkeiten, so betont Halberstam, ermöglichen subkulturell hervorgebrachte Begriffe nicht-pathologisierende sprachliche Bezugnahmen und damit auch andere Weisen der Verortung (vgl. ebd.: 3). 91
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›alle Geschlechter‹ gleichermaßen durch Praxen und Sinnhorizonte des Kinging adressieren: Fast alle derjenigen, die sich der Mailingliste vorstellen, machen explizit oder implizit deutlich, dass sie aufgrund der Wirkmächtigkeit einer biologisch begründeten Zweigeschlechtlichkeit über lange Zeit hinweg als Mädchen oder Frauen angerufen wurden (oder auch werden) – das implizieren auch die meisten der oben angegebenen Selbstbezeichnungen – und dass dieses So-positioniert-(gewesen-)Sein einen Ausgangspunkt von Veränderungen markiert und Gegenstand der Auseinandersetzung ist. Ein sich selbst als solcher zu erkennen gebender »Bio-Mann«20 sowie eine Person, die durch kontextuelle Verweise als Transfrau gelesen werden kann, stellen demgegenüber eher seltene Ausnahmen auf der Liste dar. Zudem überwiegen geschlechtliche Verortungen bzw. Selbstbezeichnungen, die auf eine Aneignung männlich codierter Stilmittel oder Praxen verweisen; explizit weiblich konnotierte Verortungen (etwa als »femme«) sind hier zwar durchaus und nicht nur vereinzelt präsent, stellen aber eine Minderheit dar. Ein weiteres Charakteristikum ist die Verankerung in lesbischen Szenen und Traditionen. Das heißt nicht, dass sich alle Beteiligten lesbisch definieren; es heißt aber zum Beispiel, dass hier andere Selbstverständlichkeiten als in heteronormativ strukturierten Räumen wirksam sind: Ein starker Bezug zu lesbischen Szenen und Lebensweisen wird so lange vorausgesetzt, bis etwas anderes expliziert wird. So werden lesbische Verortungen oft eher implizit thematisiert (wenn etwa von der »Mainstream-Szene« die Rede ist und damit die Mainstream-LesbenSzene gemeint ist; oder durch die Nennung lesbischer Magazine, Websites oder sonstiger szenebezogener Produktionen). Die hier thema20 Bio-Mann oder auch Bio-Frau sind in dieser und anderen queeren und Transgender-Szenen gebräuchliche Begriffe für die Bezeichnung von Nicht-Trans*-Menschen (analog zu Bezeichnungen wie Hetera/o oder Hete für nicht-lesbische und nicht-schwule sexuelle Identitäten). Als Alternative zu diesem problematischen, weil verzerrenden Bezug auf ›die Biologie‹ (schließlich ist ein Transmann nicht mehr und nicht weniger ›biologisch‹ als andere Menschen) bieten sich die in einigen Trans*Zusammenhängen inzwischen gebräuchlichen Bezeichnungen Cis-Mann bzw. Cis-Frau an, die ich im Folgenden verwenden werde. In ähnlicher Weise verwendet Volkmar Sigusch (1995) den Begriff der »Zissexualität« (ebd.: 827): Er prägte diesen Terminus, »um die geschlechtseuphorische Mehrheit, bei der Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität fraglos und scheinbar natural zusammenfallen, in jenes falbe Licht zu setzen, in dem das Dispositiv des Geschlechtsbinarismus, in dem nosomorpher Blick und klinischer Jargon die geschlechtsdysphorische Minderheit, namentlich die sogenannten Transsexuellen, ganz sicher erkennen zu können glauben« (ebd.). 92
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tischen sexuellen Beziehungen werden hingegen auf unterschiedliche Weisen bezeichnet oder umschrieben – die Kategorien lesbisch, schwul oder heterosexuell finden dabei zwar Verwendung, reichen aber oft nicht aus für eine adäquate Bezeichnung. Während geschlechtliche und sexuelle Verortungen sowohl in den Kurzvorstellungen als auch im Austausch auf der Mailingliste häufig und ausführlich thematisiert werden, werden unterschiedliche Positioniertheiten entlang rassisierender und/oder ethnisierender Linien so gut wie gar nicht angesprochen. Es finden sich kaum Hinweise auf eigene Migrationserfahrungen oder -hintergründe, und auch das Bild, das sich aus Gesprächen und Beobachtungen ergibt, vermittelt den Eindruck einer deutlich mehrheitsdeutsch geprägten Szene, in der der Bevölkerungsanteil von Menschen nicht-deutscher Herkunft etwa in Berlin oder in Köln nicht annähernd repräsentiert ist. Auch dies ist in der Mailinglisten-Kommunikation so gut wie kein Thema: Diskussionen um Zusammenhänge zwischen geschlechtlichen und rassisierten Positioniertheiten, wie sie in einigen anderen, insbesondere US-amerikanischen Drag KingKontexten geführt werden,21 werden in der hiesigen Szene bislang kaum aufgegriffen. Wenig Auskunft geben die Kurzvorstellungen auch über soziale Herkunft, Ausbildung und Berufe der Beteiligten. Aus Interviews und Gesprächen lässt sich jedoch vermuten, dass die Mehrheit der Beteiligten als Angehörige der Mittelschicht bezeichnet werden kann – nicht unbedingt bezogen auf ihre soziale Herkunft, aber auf ihre Bildungsabschlüsse: Die Mehrheit, so scheint es, hat studiert oder befindet sich noch im Studium. Allerdings arbeiten auch viele derjenigen mit abgeschlossenem Hochschulstudium in ausbildungsfernen Berufen und teils prekären Arbeitsverhältnissen – geradlinige berufliche Karrieren scheinen mir hier eher die Ausnahme als die Regel zu sein. Und auch andere Bildungssozialisationen als Abitur und Studium – etwa betriebliche oder schulische Ausbildungen oder auch berufliche Tätigkeiten als Ungelernte_r – sind hier nicht bloß vereinzelte Ausnahmen.22 Aufgrund der Studienerfahrungen vieler Beteiligter gibt es zahlreiche Verbindungen zu universitären (insbesondere studentischen) Initiativen und Diskursen etwa der Frauen- und Geschlechterforschung und
21 Vgl. u.a. Shapiro 2007; Pauliny 2002. 22 Diese sehr vage Einschätzung wird durch die in Kapitel IV.3 geleistete Rekonstruktion von Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen Ausbildungs- und Berufswegen, geschlechtlichen Verortungen und dem Engagement in Praxen des Kinging plastischer werden. 93
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der Queer Studies.23 Allerdings ist die hiesige Szene nicht aus solchen Diskussionszusammenhängen hervorgegangen, und diejenigen, die sich in Studium oder Beruf explizit auch theoretisch mit Geschlecht auseinander setzen, stellen darin eine Minderheit dar. Anders als in vielen queer-politischen Gruppen insbesondere in den 1990er Jahren, die sich gerade in der Bundesrepublik oft aus der Rezeption theoretischer Debatten heraus formierten, stehen in den Drag King-Zusammenhängen Praxen im Mittelpunkt, die nicht per se eine theoretische Auseinandersetzung oder akademische Fähigkeiten voraussetzen. In Szene-Diskussionen und auch in den Interviews finden sich hierzu unterschiedliche Haltungen: Während einige sich explizit von als ›verkopft‹ gewerteten theoretischen Zugängen zu Geschlecht und Sexualität abgrenzen, begreifen andere ihre Praxis des Kinging in einem engen Zusammenhang mit einem auch theoretisch inspirierten Nachdenken über Geschlecht. Abschließend noch ein Wort zur ›Alterstruktur‹: Auch wenn manche der in die Szene Involvierten aufgrund ihrer geschlechtlichen Erscheinungsweisen deutlich jünger aussehen, als ihr Geburtsdatum es vermuten ließe,24 zeigen nähere Beobachtungen, Gespräche und auch die Interviews schnell, dass die Drag King-Szene eindeutig keine Jugendkultur ist. Die Anfang 20-Jährigen gehören hier zu den Jüngsten, eine Mehrheit scheint zwischen dreißig und vierzig Jahren alt zu sein, kaum jemand allerdings über fünfzig. Diejenigen, die in ihren Kurzvorstellungen dazu Angaben machen,25 sind zwischen 19 und 45 Jahren alt und mehr als die Hälfte davon hat die dreißig bereits überschritten.
23 Besonders deutlich ist die Verbindung zu Aktivitäten im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung an der Humboldt-Universität in Berlin: Die Kingz of Berlin traten mehrfach bei Veranstaltungen der dortigen lesbischwulen Hochschulgruppe Mutvilla sowie bei der von der Fachschaft Gender Studies organisierten Langen Nacht der Gender Studies auf und waren 2003 außerdem Teil des Rahmenprogramms bei der Eröffnung des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien. 24 Innerhalb hegemonialer Repräsentationsordnungen werden etwa Erscheinungsweisen, die durch eine hohe Stimme, eine geringe Körpergröße, eine eher schmächtige Gestalt in Kombination mit männlich konnotierten Gesten und Kleidungsweisen geprägt sind, oft als jugendliche Männlichkeit interpretiert. Mit Mitte 30 beim Kauf alkoholischer Getränke zum Vorzeigen des Ausweises aufgefordert zu werden, gehört für viele zum Standardrepertoire alltäglicher Erfahrungen. 25 42 von 129 Leuten, deren Kurzvorstellungen ich ausgewertet habe, haben ihr Alter angegeben. 94
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2. Kontextualisierungen Der einführende Überblick hat bereits ansatzweise deutlich gemacht, dass Praxen des Kinging auf spezifische soziale und Sinnhorizonte bezogen sind, die über die Drag King-Szene in einem engeren Sinne hinausweisen. Insbesondere die zahlreichen Verweise auf lesbische sowie auf Transgender-Zusammenhänge lassen in diesen einen konstitutiven Horizont für die Entstehung einer Drag King-Szene vermuten. Der Bedeutung vor allem dieser Bezüge soll nun weiter nach gegangen werden: In welcher Weise sind Praxen und soziale Zusammenhänge des Kinging in diesen Kontexten situiert? Welche wechselseitigen Bezugnahmen und Adressierungen, welche Kooperationsformen, welche Auseinandersetzungen lassen sich nachzeichnen? Zur Interpretation der darin wirksam werdenden geschlechtlichen und geschlechterpolitischen Haltungen und Praxen ist es erforderlich, auch historische Entwicklungen bezüglich der Auseinandersetzungen um Geschlecht in den genannten Kontexten zu berücksichtigen. In kurzen Skizzen werden deshalb sowohl in Bezug auf lesbische als auch auf Trans*-Szenen einige historische Linien dieser Entwicklungen nachgezeichnet, vor deren Hintergrund die jeweils darauf folgende Rekonstruktion gegenwärtiger Bezugnahmen verständlich werden soll. Anschließend wird beleuchtet, inwiefern Bezüge zu links-alternativen Szenen, die teilweise quer zu den zuvor betrachteten Kontexten liegen, Verortungen, Arbeits- und Organisationsformen der Drag King-Szene prägen.
2.1 Lesben-Szenen »Verortet ist das Drag King-Ding in der Lesbenszene, ganz klar, die meisten Leute haben lesbisch gelebt«, formuliert Uli im Interview (Int. 1). Tatsächlich thematisieren viele der Interviewten frühere und gegenwärtige Erfahrungen in lesbischen Räumen und Beziehungen in einem engen Zusammenhang mit ihrer Praxis des Kinging. Sich lesbisch zu verorten, wurde von vielen als eine Ausweitung auch geschlechtlicher Möglichkeiten erlebt: als Möglichkeit, sich in anderen Kleidungs- und Körperstilen zu engagieren, die eigene Körperlichkeit anders zu besetzen und zu erfahren und auch anders wahrgenommen zu werden – ›anders‹, als sie es zuvor in heteronormativ strukturierten Umgebungen und der mit ihnen verbundenen Anforderungen an eine Verkörperung heterosexueller Weiblichkeit erlebten. Dass Drag Kinging in der Lesbenszene ›verortet‹ ist, zeigt sich jedoch nicht nur in solchen auch biographischen Bezügen, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit immer wieder thematisch sein werden. Als eine lesbische Kultur und Praxis 95
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wird Kinging auch in vielen gegenwärtigen kulturellen Produktionen vorgestellt, die lesbisches Leben zu repräsentieren beanspruchen: Ob in der US-amerikanischen Fernsehserie The L-Word oder im in Berlin herausgegebenen Magazin L-Mag, ob in einer Anthologie zur deutschen Lesbenbewegungsgeschichte (Dennert et al. [Hg.] 2007), in einem Buch zu »lesbischen Inszenierungen« (Lehnert 2002) oder in Mein lesbisches Auge, dem von Laura Méritt und Regina Nössler herausgegebenen lesbischen ›Jahrbuch der Erotik‹ – zumindest ein Verweis auf Drag Kinging darf heute kaum noch fehlen, wenn von gegenwärtiger lesbischer Kultur im Allgemeinen die Rede ist. Während sich einige dieser Produktionen durchweg positiv darauf beziehen (vgl. insbesondere Méritt/Nössler [Hg.] 2004 und 2006), artikuliert sich in anderen ein ›lesbisches Unbehagen‹ am Kinging, das auch die Frage aufwirft, inwieweit es sich dabei um eine ›angemessene‹ lesbische Praxis handelt. So formuliert etwa Gertrud Lehnert (2002) in ihrem feuilletonistischen Buch Wir werden immer schöner. Lesbische Inszenierungen eine Kritik, die zwar nicht unbedingt in ihrer polemischen Zuspitzung, wohl aber ihrer Stoßrichtung nach häufiger anzutreffen ist. Auch hier wird der Drag King zwar selbstverständlich in das Spektrum gegenwärtiger lesbischer Inszenierungen und damit in das im Titel evozierte lesbische ›Wir‹ eingereiht, zugleich aber mit einer gehörigen Portion Skepsis belegt: »Wichtig ist – anders als bei einer Butch – die möglichst perfekte Imitation, das ›als Mann durchgehen‹. Kurz: Drag Kings geben sich als harte Kerle und sitzen damit einem quasi-archaischen, eher unterschichtenorientierten Männermythos auf, von dem wir gehofft hatten, er habe sich in den westlichen Kulturen seit dem Feminismus einigermaßen überlebt.« (Lehnert 2002: 45)
Während die Butch hier (wie auch sonst in dem erwähnten Buch) gewissermaßen als Trägerin einer würdigen Tradition der offen als solcher zu erkennenden Lesbe rehabilitiert wird, treibt es der Drag King offensichtlich zu weit: Pauschal wird ihm passing als Ziel seiner Inszenierung unterstellt und scheint das von ihm angestrebte Ideal die distanzlose Verkörperung einer (einzigen) Form von Männlichkeit zu sein, die als »hart«, »archaisch« und »unterschichtenorientiert« charakterisiert wird. Der hier aufgerufene Topos des ›Rückständigen‹ wird noch unterstrichen durch den Verweis auf die dadurch implizit als ›fortschrittlich‹ gekennzeichneten »westlichen Kulturen«, in denen der Feminismus als erfolgreich vorgestellt wird in seiner Bekämpfung ebenjener Manifestation von Männlichkeit.
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Solche und ähnliche Vorwürfe sind vielen derjenigen vertraut, die sich in Drag in lesbischen Zusammenhängen bewegen. In einer für Die Krone & ich verfassten Glosse nimmt Nic da Wig derartige Vorbehalte auf die Schippe: »In lesbischen Kreisen trifft der Drag King auf höchst unterschiedliche, ja, einander durchaus widersprechende Anwürfe: Er gebe sich zu männlich, wolle auch wohl ein Mann sein, das sehe frau ja bereits an diesen lächerlichen Bärten. Ergo gehöre der King nicht in Frauenräume, lesbisch empfinde er ja auch nicht, eher – igitt – heterosexuell. Andere stoßen sich ebenfalls an dem als überzogen empfundenen Styling. Das sei reines Party-Outfit, nicht alltagstauglich, zu wenig ernsthaft kerlig wie das Auftreten der Butch. Der Drag King – ein unzuverlässiger Windhund; auch hier lautet das Urteil: nicht der lesbischen Liebe würdig.« (Nic da Wig 2005: 41)
Einerseits, so Nic da Wigs ironische Zuspitzung, erscheine der Drag King als zu männlich, um in lesbischen Frauenräumen willkommen zu sein; er »wolle auch wohl ein Mann sein« und könne daher nicht lesbisch, sondern nur männlich-heterosexuell empfinden. Während die Drag King-Inszenierung also teilweise als authentischer Ausdruck einer männlichen Identifizierung interpretiert und missbilligt werde, scheine es ihm andererseits – im Lichte anderer Anwürfe – gerade an Authentizität zu mangeln: Hier wird die Inszenierung als »reines Party-Outfit« interpretiert, als ein unverbindliches Spiel, das dem »ernsthaft kerlig[en] […] Auftreten der Butch« als einer würdigen Figur lesbischen Lebens entgegengestellt wird und den Drag King als »unzuverlässige[n] Windhund« erscheinen lässt. Wie später zu zeigen sein wird, trifft Nic da Wigs Zuspitzung dieser beiden »einander durchaus widersprechenden Anwürfe« tatsächlich den Kern vieler Auseinandersetzungen um Drag Kinging in lesbischen Zusammenhängen, wie sie von vielen der von mir Interviewten erlebt werden. Die darin wirksam werdende Ambivalenz gegenüber (lesbischen) Aneignungen männlich codierter Stilmittel und Verkörperungen – ihre Verwerfung als Ausdruck einer männlichen Identifizierung und ihre Reklamation als eine genuin lesbische Seinsweise – verweist auf eine lange Geschichte der Auseinandersetzungen um Geschlecht in lesbischen Szenen und Kulturen. Bevor ich mich ausführlicher den Auseinandersetzungen und Verflechtungen, den Begegnungen und Reibungen rund um Drag Kinging in hiesigen lesbischen Zusammenhängen zuwende, möchte ich sehr kurz einige historische Linien benennen, die in diesen Auseinandersetzungen wirksam werden und sie erst verstehbar machen. 97
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2.1.1 Lesben, Geschlecht und Männlichkeit – eine Skizze historischer Linien Eine Auseinandersetzung mit ›Männlichkeit‹ ist lesbischen Zusammenhängen als historisches Erbe eingeschrieben, seit sexualwissenschaftliche und medizinische Forschungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen, religiösen und juristischen Diskursen das Terrain sexueller und geschlechtlicher ›Abweichungen‹ streitig zu machen. Handlungen und Lebensweisen, die bis dahin vorwiegend als Übertretung religiöser und weltlicher Gesetze in den Blick kamen, wurden nun als Symptome besonders gearteter Individuen klassifiziert.26 In den sexualwissenschaftlichen (und später auch psychoanalytischen) Arbeiten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde die ›konträrsexuelle‹, die ›invertierte‹ oder ›homosexuelle Frau‹ als eine nicht nur in ihrer Sexualität, sondern auch in Körperbau, Denken und Fühlen ›männliche‹ bestimmt.27 Ein Erkenntnisinteresse, das ›männliche‹ bzw. ›weibliche‹ Charakteristika in allen Aspekten der menschlichen Psyche und Physis, in allen Bereichen des Denkens, Fühlens und Handelns zu identifizieren und zu klassifizieren suchte, wurde so erst möglich durch die im 18. Jahrhundert einsetzende Ausformulierung und psycho-biologische Fundierung polarisierter, einander heterosexuell ergänzender Geschlechtscharaktere (vgl. Hausen 1976). (Weibliche) Homosexualität wurde damit historisch als einer der ›Orte‹ konstituiert, an die das, was in einer strikt binär klassifizierten, heteronormativ und somatisch fundierten Zweigeschlechtlichkeit nicht aufgehen konnte, gewissermaßen delegiert wurde: als eine der »Abweichungsformen«, in denen »die Pathologien und die Konflikte der zweigeschlechtlichen Ordnung quasi zwischengelagert sind«, wie Corinna Genschel (2001: 823) formuliert.
26 Foucault hat das auf eine viel zitierte Formel gebracht: »Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.« (Foucault 1977: 58) 27 ›Weibliche Homosexualität‹ wurde damit in Analogie zur bzw. als Ableitung von ›männlicher Homosexualität‹ bestimmt, die im Zentrum des sexualwissenschaftlichen Interesses stand. Anders als homosexuelle Männer waren homosexuelle Frauen an der Entwicklung dieser Diskurse nicht direkt beteiligt und blieben ihre Selbstkonzeptionen darin weitgehend ohne Einfluss: »Von einem ›weib-männlichen Dialog‹ zwischen selbsterkannten und -benannten weiblichen Homosexuellen und medizinischem Establishment kann nicht die Rede sein.« (Hark 1996: 75). Vgl. zur Konstruktion der homosexuellen Frau in sexualwissenschaftlichen Konzepten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auch Schwarz 1983; Hacker 1987; Göttert 1989: 26ff.; Hark 1996: 74ff.; Soine 2000: 195ff.; Hänsch 2003: 79ff.; Schader 2004: 66ff. 98
DIE SZENE
Dieses Erbe einer zu- und eingeschriebenen ›lesbischen Männlichkeit‹ sollte in den folgenden Jahrzehnten auf unterschiedliche Weisen angeeignet, affirmiert, umgearbeitet und zurückgewiesen werden. So waren etwa geschlechtliche Inszenierungen, Selbstverständnisse und Beziehungsformen in der lebendigen lesbischen Kneipen- und Clubkultur im Berlin der 1920er Jahre teils implizit, teils explizit auf sexualwissenschaftliche Konzepte bezogen. Nicht nur Kleidungsweisen und Haarschnitte, sondern auch Wesenszüge der sich selbst als ›viril‹ bezeichnenden Frauen wurden explizit als ›männliche‹ diskutiert; und wie in sexualwissenschaftlichen Konzeptionen galt auch in der Subkultur die ›virile Frau‹ unumstrittener als ihr ›femininer‹ Gegenpart als Trägerin einer biologischen Veranlagung, die sie zwar potentiell als ›krankhaft‹ stigmatisierte, ihre Lebensweise allerdings auch einer Rechtfertigung als unausweichliches Schicksal zugänglich machte.28 Auch in den Nachkriegsjahrzehnten strukturierten ›männlich‹ und ›weiblich‹ konnotierte Inszenierungen erotische Bezugnahmen und Freundschaften in vielen subkulturellen Zusammenhängen (was sich auch in der lange Zeit gebräuchlichen Bezeichnung ›kesser Vater‹ – kurz: KV – für ›männliche‹ Lesben widerspiegelte).29 Die Entwicklung eines neuen, politisch verstandenen lesbischen Selbstbewusstseins im Kontext der Neuen Frauenbewegung in den 1970er Jahren markierte einen deutlichen Einschnitt bezüglich geschlechtlicher lesbischer Selbstverständnisse, der sich auch in einer Veränderung bevorzugter Kleidungs- und Körperstile niederschlagen sollte, zunächst jedoch eine kritische Denkbewegung bedeutete. Sexualwissenschaftliche und psychoanalytische Konzepte der ›männlich‹ identifizierten Lesbe wurden nun in ihrem Zusammenhang mit patriarchalen, misogynen gesellschaftlichen Verhältnissen analysiert und einer umfassenden Kritik unterzogen. Die Stigmatisierung von Lesben als ›männ-
28 Vgl. z.B. Plötz 1997; Schader 2000 sowie 2004: 66ff. und 107ff.; zu geschlechtlichen Inszenierungen und Beziehungsformen in der lesbischen Subkultur Berlins der 1920er Jahre auch Roellig 1992 [1928]; Meyer (Hg.) 1994. 29 Zu den eher zaghaften Ansätzen einer (Neu-)Formierung lesbischer Subkulturen in der BRD der Nachkriegszeit (nachdem die seitdem nie wieder erreichte hohe Anzahl lesbischer Clubs im Berlin der 1920er Jahre vollständig der nationalsozialistischen Politik zum Opfer gefallen war) existiert bislang wenig Literatur; vgl. aber Kokula 1983: 16ff.; Plötz 1999. – Zu US-amerikanischen Butch/Femme-Strukturierungen in lesbischen Szenen während und nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Nestle 1987; Nestle (Hg.) 1992; Rubin 1992; Kennedy/Davis 1993; Thorpe 1997; Halberstam 1998: 111ff. sowie den inzwischen zum Klassiker avancierten Roman von Leslie Feinberg (1993). 99
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lich‹ wurde in den Kontext hegemonialer Normen von ›Weiblichkeit‹ gestellt, die Frauen eine eigenständige, aktive, nicht-reproduktive Sexualität absprachen und ihre Rolle als Unterstützung und Ergänzung des Mannes definierten. Erst vor dem Hintergrund solcher Normen konnte eine nicht auf Männer bezogene Sexualität und Lebensweise per se als ›unweiblich‹ begriffen werden. Die Kritik richtete sich außerdem gegen die pathologisierende und heterosexistische Bestimmung des lesbischen Begehrens als Effekt einer Störung der geschlechtlichen Identität (ob nun als somatisch oder als psychisch bedingt vorgestellt): eine Konzeption, in der dieses Begehren als ein der Heterosexualität nachgebildetes erschien, nämlich ebenfalls als Anziehung ›gegensätzlicher‹ – männlicher und weiblicher – Identifizierungen.30 Die aus solchen Kritiken resultierenden Anstrengungen, lesbische Selbstverständnisse jenseits patriarchaler und heterosexistischer Rahmungen zu bestimmen, weisen in unterschiedliche Richtungen. Neben Bestrebungen, ›das Lesbische‹ als eigenständige, weder männliche noch weibliche Geschlechtlichkeit zu bestimmen,31 wurden Versuche unternommen, eine nicht durch patriarchale Verhältnisse deformierte Weiblichkeit als Grundlage lesbischer Identität neu zu formulieren oder wieder zu entdecken.32 Vor dem Hintergrund einer derart postulierten bzw. reformulierten Weiblichkeit gerieten nun allerdings nicht nur hegemoniale Zuschreibungen, sondern auch die in lesbischen Zusammenhängen entwickelten und gelebten männlich codierten Inszenierungen, Identifizierungen, sexuellen Wünsche und Praktiken in die Kritik: Sie galten zunehmend als Resultat verinnerlichter ideologischer Zuschreibungen, die als solche zu erkennen und zu überwinden seien.33 Die sich formierenden politischen Lesbengruppen grenzten sich dezidiert ab vom ›Sub‹, der lesbischen Kneipen- und Barkultur, und der sie strukturierenden KV/Femme-Inszenierungen und Beziehungen: Solches ›Rollenverhalten‹ wurde als Kopie heterosexueller Normen denunziert und die damit verbundenen Identifizierungen als Resultat patriarchaler Vergesellschaftung gewertet. Während der bzw. dem ›KV‹ verinnerlichter Selbsthass unterstellt wurde, der zur Ablehnung ihrer Weiblichkeit führte, galt die ›Femme‹ umgekehrt als Verkörperung patriarchaler Normen von Weiblichkeit.34 Propagiert wurden statt dessen egalitäre Bezie-
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Vgl. dazu u.a. Hark 1996: 96ff.; Soine 2000: 205ff. Vgl. u.a. Wittig 1981. Vgl. u.a. Rich 1983. Vgl. dazu Hark 1996: 96ff. Vgl. zu dieser politisch motivierten Abgrenzung vom ›Rollenverhalten‹ im ›Sub‹ Kuhnen 1997: 11; Dennert et al. 2007: 43.
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hungen zwischen »Frauen-identifizierten Frauen«35 und ein oft als ›androgyn‹ charakterisierter Kleidungs- und Körperstil. Die auch auf dem Terrain geschlechtlicher Stile und Inszenierungen geführten Abgrenzungen verliefen nicht nur entlang politischer, sondern implizit auch entlang von Klassen-Linien. Waren bereits in den 1920er Jahren Inszenierungen von ›virilen‹ und ›femininen‹ Frauen vorwiegend in proletarischen lesbischen Zusammenhängen verbreitet (vgl. Schader 2000: 11), so galt dies auch für die KV/Femme-Kultur der 1960er- und 1970er Jahre sowie für deren Fortsetzung auch nach dem Beginn der feministischen Lesbenbewegung.36 Gegenüber diesen daher nicht nur als unpolitisch, sondern auch als proletarisch markierten Stilen sollte sich ein androgyner als scheinbar universeller lesbischer Stil nicht nur in explizit politischen, sondern in weiteren Kreisen lesbischer Szenen durchsetzen: ein Stil, der sich gleichermaßen durch die Absage an Schminken und figurbetonte Kleidung wie durch den Verzicht auf explizit männlich codierte Kleidung auszeichnete und im Klischeebild der Lesbe mit Kurzhaarschnitt, Karohemd und Doc Martens seine Zuspitzung erfuhr. Mit der Rezeption und Aneignung von zunächst im US-amerikanischen Kontext entwickelten queer-theoretischen und queer-politischen Überlegungen und Praxen setzte seit Beginn der 1990er Jahre in weiten Teilen lesbischer Szenen eine Neuorientierung ein. Die Problematisierung einer Politik, die eine (festgeschriebene und festschreibende) lesbische Identität als Grundlage setzte, äußerte sich erstens in einer Kritik an separatistischen Bestrebungen und in der Suche nach neuen Bündnissen, zunächst insbesondere in einer vermehrten Zusammenarbeit mit schwulen Projekten und Organisationen.37 Zweitens wurden im Zuge dessen normative Tendenzen und ausschließende Effekte bisheriger 35 Der Ausdruck »Frauen-identifizierte Frauen« geht auf einen auch in Deutschland viel rezipierten Text der US-amerikanischen Gruppe Radicalesbians von 1970 zurück, der »als das Gründungsmanifest des ›politischen Lesbianismus‹ angesehen werden kann« (Hark 1996: 97). Der in diesem Zusammenhang als Abgrenzungshorizont geprägte Begriff der ›Männeridentifiziertheit‹ referierte jedoch zunächst weniger auf eine ›männlich‹ geprägte Inszenierung oder Identifizierung, sondern adressierte die Komplizität mit dem System männlicher Dominanz. Auch ›feminine‹ heterosexuelle Frauen konnten in diesem Sinne als »male identified« gelten (vgl. Rubin 1992: 468). In späteren Verwendungsweisen bezog sich der Begriff jedoch durchaus auch abwertend auf (lesbische) ›maskuline‹ Ausdrucksweisen bzw. sexuelles Verhalten. 36 Vgl. Kuhnen 1997; noch deutlicher proletarisch geprägt war die U.S.-amerikanische Butch/Femme-Kultur der 1950er und 1960er Jahre: vgl. dazu Kennedy/Davis 1993; Feinberg 1993; Halberstam 1998: 111ff. 37 Vgl. zu dieser auch konflikthaften und umstrittenen Entwicklung Etgeton/ Hark (Hg) 1997. 101
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Konzeptionen lesbischer Identität problematisiert.38 Ein Aspekt davon bestand in einer grundlegenden Infragestellung dessen, wie Konzeptionen lesbischer Identität auf die zweigeschlechtliche Ordnung bezogen waren: Im Horizont einer Perspektive, die die somatisch fundierte Zweigeschlechtlichkeit als Effekt und zugleich als konstitutive Absicherung von Heteronormativität analysierte, stellte sich die Frage danach, wie lesbische Konzeptionen und Praxen selbst in diese konstitutive Verschränkung verwickelt waren und dadurch das Feld möglicher (lesbischer) Geschlechtlichkeiten regulierten und beschränkten. Im Zuge dessen erwachte auch ein neues Interesse an der Butch/ Femme-Kultur, die nun anders bedeutet und politisch bewertet wurde. Die vorschnelle Verurteilung als Hetero-Kopie bzw. als direkte Umsetzung sexualwissenschaftlicher Konzepte wich einem differenzierteren Blick, der die komplexen internen Bedeutungsrelationen dieser Kultur auszumachen vermochte und die damit verbundenen Inszenierungen und Codes als eine Form der Sichtbarmachung lesbischen Lebens rekonstruierte – eine Sichtbarmachung, die in einer homophoben Gesellschaft immer auch riskant war und als potentiell widerständig interpretiert werden konnte.39 Insbesondere die ›Butch‹ avancierte im Zuge dieser Neubewertung teils zur heroischen Figur der als solcher sichtbaren und die damit verbundenen Anfeindungen und Drohungen riskierenden Lesbe und – im Horizont von ›queer‹ – als Figur der Destabilisierung der zweigeschlechtlichen Ordnung. Butch/Femme wurde jedoch nicht nur theoretisch neu interpretiert, sondern auch praktisch neu angeeignet und ›wiederbelebt‹ – ein Revival, in dem die Kultur ihre Klassenbindung und -markierung zunehmend verlor. Diese zunächst in den USA sich vollziehende Entwicklung wurde und wird auch in deutschen lesbischen Zusammenhängen aufgegriffen, der Terminus Butch ersetzt dabei inzwischen auch hier weitgehend das früher gebräuchliche KV.40 Auch jenseits einer dezidierten Bezugnahme auf ›Butch/Femme‹ wurde das oben skizzierte Bild der androgynen Lesbe nun vermehrt als Abgrenzungsfolie aufgerufen und wurde die Abwertung oder gar Tabuisierung deutlich ›weiblich‹ oder ›männlich‹ akzentuierter lesbischer Inszenierungen im Zuge der Androgynitätsnorm explizit problematisiert. 38 Dies geschah allerdings nicht ausschließlich unter dem Zeichen von ›queer‹, sondern mindestens ebenso sehr im Zuge der nun verstärkt geäußerten Kritiken von lesbischen Migrantinnen, Jüdinnen und Schwarzen Deutschen an der unhinterfragten mehrheitsdeutschen Normativität und auch an rassistischen Tendenzen innerhalb lesbischer Zusammenhänge; vgl. Dennert et al. 2007: 259ff. 39 Vgl. insbesondere Kennedy/Davis 1993; auch Hark 1998. 40 Vgl. zu sowohl historischen als auch gegenwärtigen KV/Femme- bzw. Butch/Femme-Kontexten in Deutschland Kuhnen (Hg.) 1997. 102
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Der »enge Korridor«, den Nina Degele (2004: 196) für lesbische Inszenierungen konstatiert und der darin besteht, dass »Lesben […] nicht zu weiblich, aber auch nicht zu männlich sein« dürfen (ebd.), ist daher heute so eng nicht mehr: Auch abseits dezidierter Butch- und FemmeStile ist eine ästhetische und stilistische Ausdifferenzierung sowohl unterschiedlicher lesbischer Szenen als auch innerhalb dieser deutlich zu erkennen, was sich teils auch als eine verstärkte Wirkmächtigkeit modischer Trends und damit verbundener Normen im Zuge der Kommerzialisierung einiger Szenen zeigt. Aufgegriffen und stilisiert werden dabei unterschiedliche, sowohl hegemoniale als auch subkulturell geprägte geschlechtliche Codes. So lässt sich unter anderem auch eine Orientierung an schwulen Kleidungs- und Körperstilen feststellen;41 auch akzentuiert weibliche Inszenierungen sind heute in den meisten lesbischen Szenen kein Tabu und auch keine Seltenheit mehr. Lesbische Schönheitsnormen sind heute daher nicht mehr so eindeutig auszumachen bzw. stärker auf je unterschiedliche, ausdifferenzierte Szenen bezogen.42 Inwiefern sich hier unintendierte Effekte der im Horizont von ›queer‹ formulierten Kritik an lesbischen Normen mit einer Tendenz zu einer Ausdifferenzierung und Kommerzialisierung von Szenen und Stilen verschränken, ist umstritten. Die Zeitdiagnose einer ›postmodernen Beliebigkeit‹ gegenwärtiger lesbischer Stile dient jedenfalls einigen auch zur pauschalen Abgrenzung von queeren Artikulations- und Inszenierungsweisen. Auch die Assoziation einer Inszenierung mit ›Männlichkeit‹ hat als Abgrenzungsfolie jedoch keineswegs ausgedient, insbesondere dann nicht, wenn sie als proletarisch bzw. der ›Unterschicht‹ zugehörig wahrgenommen wird. So identifiziert etwa Nina Degele die »unattraktive Busfahrer-Lesbe« als den »am vehementesten artikulierten Gegenhorizont« in den von ihr angeleiteten Gruppendiskussionen von sechs Lesbengruppen – eine Figur, die, so Degele, deutlich als eine männliche konturiert werde (Degele 2004: 176). Lesbische Szenen, Kulturen und Bewegungen, so möchte ich zusammenfassend vorschlagen, waren immer auch Orte der Umarbeitung und
41 Gertrud Lehnert charakterisiert dies wie folgt: »Die kurzgeschorenen Haare, die schmalen knabenhaften Körper, die schulterbetonten MuscleShirts, die auf den Hüften sitzenden weiten Cargohosen, die schweren Schuhe, an denen man auch Schwule so leicht erkennt: dazu Unterwäsche von Calvin Klein oder Skinny und eine Körpersprache, die coole Lässigkeit signalisiert: fertig ist die schönste schwule Lesbe.« (Lehnert 2002: 43f.) 42 Vgl. u.a. Degele 2004, insbesondere 168ff. 103
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Neuverhandlung geschlechtlicher Inszenierungen und Verkörperungen. Man könnte sagen, dass lesbische Zusammenhänge gewissermaßen als ›Container‹ fungier(t)en für das, was im Zuge der (Re-)Formulierung binärer, biologisch begründeter Geschlechter als konstitutives Außen von Weiblichkeit und Frausein produziert und genau deswegen ›männlich‹ codiert wurde: Lesbische Szenen bilde(te)n einen zwar abgewerteten, aber doch intelligiblen Ort des Durcharbeitens und Verhandelns dieses Erbes. Hegemoniale geschlechtliche Normen wurden dabei aufgegriffen und teils affirmiert; zugleich stell(t)en lesbische Zusammenhänge Möglichkeitsbedingungen dar für die Hervorbringung und Lebbarkeit geschlechtlicher Verkörperungen, Inszenierungen und Selbstverständnisse, die jenseits der Akzeptabilität im heterosexuellen Mainstream lagen und liegen. Was hegemonial als ›männlich‹ gilt, wurde dabei teils explizit als ›Männliches‹ angeeignet, teils als solches diskreditiert, teils aber auch reformuliert in einer Weise, die es als etwas ›Lesbisches‹ reklamiert, das in binären geschlechtlichen Termini nicht aufgeht.
2.1.2 Drag Kinging im Kontext lesbischer Zusammenhänge Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Drag Kinging als eine Praxis der expliziten Inszenierung unterschiedlicher, vor allem aber (hegemonial) männlich codierter Geschlechtlichkeiten sich vorwiegend aus lesbischen Zusammenhängen heraus entwickeln konnte: Hier wurde das Phänomen sinnhaft verstehbar und lösten Drag Kings von Anfang an Interesse, Neugier, Bewunderung und erotische Anziehung aus. Verständlich wird zugleich, warum Kinging ebenso sehr auch auf Abwehr, Misstrauen oder Ablehnung stieß: Aus einer Perspektive, die die im Kinging zum Tragen kommenden männlich codierten Stilmittel gewissermaßen face value nimmt und als Ausdruck einer distanzlosen Identifizierung mit ›Männlichkeit‹ interpretiert, erscheint Kinging als eine rückständige, prä- oder gar anti-feministische Praxis. Aus einer Perspektive, die (wie Nic da Wig es in ihrer Glosse zuspitzte) die Drag KingInszenierung dagegen als »reines Party-Outfit« wahrnimmt, als ein unverbindliches Spiel mit geschlechtlichen Zeichen, als Effekt eines postmodernen anything goes, erscheint Kinging umgekehrt gewissermaßen als postfeministische Praxis: als Anzeiger einer mit der Ausdifferenzierung lesbischer Szenen und Stile einhergehenden Beliebigkeit, als Absage an Ernsthaftigkeit, Zurechenbarkeit und Verantwortung: der Drag King als »unzuverlässiger Windhund«.
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Diese beiden Lesweisen werden auch von vielen der Interviewten als gängige Reaktionen auf ihr Erscheinen in Drag in lesbischen Räumen thematisiert. So berichtet etwa Flin, wie er gerade zu Beginn seines Kinging in lesbischen Zusammenhängen häufig mit Fragen der folgenden Art konfrontiert wurde: »Willst du jetzt Mann werden, oder: Sag mal, was ist denn jetzt eigentlich. – Quasi wenn man einen Bart hat, muss man gleich Mann sein wollen. Und dann musst du halt ausholen und erklären, dann kapieren die das auch [beide lachen].« (Int. 6)
Tino erzählt umgekehrt von Reaktionen, die den Bart als bloßes Ornament betrachten: »[I]nzwischen hat sich das auch geändert, aber da war das so das erste, wo wirklich die [einige Besucherinnen lesbischer Partys, U.S.] gesagt haben irgendwie: Äh, der ist ja nur angemalt oder irgendwie so. – Also halt dieses gleich negieren und nicht für voll nehmen so, dass das irgendwie was -, also ’ne Aussage haben könnte, oder dass das einem irgendwas bedeuten könnte, oder dass das einfach ’n Ausdrucksmittel ist, also es ist halt irgendwie so gleich aberkannt worden so.« (Int. 8)
Wir erfahren aus diesen Zitaten nicht, wie genau die Interviewten selbst ihre Praxis interpretieren im Unterschied zu den Reaktionen, die sie erfahren: Flin erläutert an dieser Stelle nicht, was sie43 anderen erklärt und was genau es zu »kapieren« gibt; und Tino verrät zunächst nicht, welche »Aussage« sich für ihn mit seinem Bart verbindet und wofür er ein »Ausdrucksmittel« ist. Halten wir zunächst lediglich fest, dass in diesen Zitaten eine Interpretation des Drag King-Bartes als direkter Ausdruck von ›Mannsein‹ oder ›Männlichkeit‹ zurückgewiesen, er jedoch zugleich durchaus als ein ›Ausdrucksmittel‹ reklamiert wird. Deutlich wird außerdem, dass die beiden Interviewten zwar von ihnen unangemessen erscheinenden Interpretationen in lesbischen Zusammenhängen 43 Bei sprachlichen Referenzen auf die Interviewten in der dritten Person folge ich weitgehend der Präferenz der jeweiligen Person für männliche respektive weibliche Pronomina. Auf diejenigen Interviewten, die in ihrem Alltag teils mit männlichen, teils mit weiblichen Pronomina adressiert werden und beides als ähnlich angemessen oder unangemessen empfinden, beziehe ich mich mal mit ›er‹ und mal mit ›sie‹. Welche der beiden Möglichkeiten jeweils zur Anwendung kommt, ist dabei relativ willkürlich: Es ist nicht beabsichtigt, damit eine je situative eher ›männliche‹ oder eher ›weibliche‹ Verortung auszudrücken. Vielmehr soll durch die Irritation, die die wechselnde Verwendung hervorrufen mag, auf das Nichtganz-Treffende beider sprachlichen Bezeichnungen verwiesen werden. 105
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berichten, zugleich jedoch von einer prinzipiellen Vermittelbarkeit ihrer eigenen Lesweisen in solchen Kontexten ausgehen. Zudem gab es ebenfalls von Beginn an durchaus auch anerkennende Reaktionen auf das Erscheinen von Drag Kings in lesbischen Räumen. Welch unterschiedliche Effekte es haben kann, sich in Drag auf eine Party zu begeben, illustriert das folgende, längere Zitat von Filip: »Also ich war mal im [Veranstaltungsort] mit Bärtchen auf der CSD-Party […], und da hat mir auch eine echt Schläge angedroht, weil ich da mit Bärtchen aufgetaucht bin. […] also die hatte mich am Arm festgehalten und hatte einfach nur so: Ob das jetzt sein müsste hier, es wäre ’ne Frauenparty. Und ich so: Ja, hallo? Also da hatte ich auch noch kein Testo und nix, ja, also man hat’s eindeutig gesehen und gehört, wenn man wollte. Und dann habe ich aber einfach nur zugesehen, dass ich da wegkomme. Ich weiß nicht, ob sie mich wirklich geschlagen hätte, wahrscheinlich hätte sie es nicht getan, aber allein dass mir so was entgegengebracht wird, da habe ich schon gedacht: Holla. Ja, da war ich etwas erstaunt. Vor allen Dingen das war so ein Abend, das war gemein, ich hab’ den ganzen Abend nur so was abgekriegt oder dass irgendwer mit mir diskutieren wollte oder warum man denn auf ’ner Lesbenparty so auftauchen muss oder so was. Und Frank, der auch mit Bärtchen da war, wir waren zwischenzeitlich ja auch getrennt voneinander unterwegs, wir trafen uns immer, und er kam immer so [begeistert]: Ha, ich hab’ schon wieder neue Leute angeworben, die da hinten wollte mich heiraten, und hier hab’ ich noch ’ne Telefonnummer [beide lachen], und ich so: Hhm, [empört-amüsiert:] es ist gemein, ich krieg’ hier die ganze Prügel ab und er kriegt die Komplimente und die Telefonnummern hinterher geschmissen [lacht]. Da hab’ ich auch nur gefragt: Hör’ mal, auf welcher Etage warst du, da will ich auch hin [lacht].« (Int. 3)
Stärker als die vorangegangenen Zitate belegt diese Stelle die unmittelbar körperliche Dimension44 der Auseinandersetzungen um die Präsenz von Drag Kings in lesbischen Räumen: Während der Anblick von Filip bei seinem Gegenüber offene Aggression auslöst, verleiht eine ähnliche Inszenierung seinem Kumpel offensichtlich eine besondere Attraktivität und entfaltet eine erotische Ausstrahlung, der die Lesben reihenweise zu erliegen scheinen. Während in Filips Erzählung entgegengesetzte Reaktionen auf ein und derselben Party auftreten, unterscheiden viele der Interviewten zwischen unterschiedlich geprägten lesbischen Räumen und Zusammenhängen, die unterschiedliche Erfahrungen erwarten lassen: Gerade in
44 Warum der Drag King-Bart in dieser Weise körperlich-affektiv zu wirken vermag, wird in Kapitel III.1 ausgeführt. 106
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den vielfältigen und ausdifferenzierten Szenen Berlins und Kölns gibt es mittlerweile genug Gelegenheiten, in Drag auszugehen, ohne eine Konfrontation zu riskieren. In vielen Räumen ist Kinging eine Selbstverständlichkeit geworden oder gilt als besonders angesagt. Jenseits individueller Ausgeh-Entscheidungen zugunsten einer entspannten Party oder der Gelegenheit zur Provokation zielen viele der kollektiven Drag King-Aktivitäten allerdings darauf, unterschiedliche geschlechtliche und geschlechterpolitische Haltungen in lesbischen Zusammenhängen auch öffentlich zu diskutieren. Bereits kurz nach seiner Gründung organisierte das Kingdom of Cologne eine Veranstaltung zu »Maskulinität in der Lesbenszene«. Auf dem Podium saßen Repräsentant_innen unterschiedlicher geschlechtlicher Verortungen und Inszenierungen (von der ›Femme‹ bis zum ›Transmann‹), und im Publikum versammelten sich offensichtlich Vertreter_innen der verschiedensten lesbischen Fraktionen und Strömungen: »[E]igentlich hat sich an dem Abend schon abgezeichnet, was sich dann auch durchgezogen hat, es waren die unterschiedlichsten Leute da und auch die unterschiedlichsten Szenen vermischen sich plötzlich. Da kommen die UniFeminist_innen, da kommen die Theoretiker_innen und da kommen die SMLesben. Und da kommen die, ähm, überzeugtesten Frauen, die sagen, alles, was in Richtung männlich geht, hat mit Lesbischsein nichts mehr zu tun, und Lesben haben nur Blümchen-Sex. Und dann kommen die anderen, die sagen irgendwie, Lesben sind überhaupt keine Frauen, was willst du überhaupt. Die kamen plötzlich alle zusammen. Das ist phänomenal eigentlich, ja.« (Int. 2)
Auch wenn die Diskussion anscheinend sehr kontrovers verlief und teilweise auch aggressiv geführt wurde, werteten es die Veranstalter_innen als Erfolg, überhaupt einen Raum für Auseinandersetzung und damit zumindest die Möglichkeit gegenseitigen Verständnisses geschaffen zu haben. Zum Teil werden solche Auseinandersetzungen als Generationenkonflikt thematisiert, was sich z.B. in polemischen Kommentaren einiger Drag Kings bezüglich der Vertreterinnen einer bestimmten Variante des lesbischen Feminismus zeigt, die dann schon mal als »AltLesben von der Schildkrötenfraktion« (Int. 4) bezeichnet werden, die gerne mit ihrer »Verrätermasche« kommen (Int. 3). Zugleich werden jedoch insbesondere früheren Kämpfen um autonome FrauenLesbenRäume durchweg Anerkennung gezollt. In Frage steht nicht die Relevanz von Räumen, die anders strukturiert sind als die heteronormative und männlich dominierte ›Normalität‹; in Frage steht auch nicht die Bedeutung von Schutzräumen gegen ›Männergewalt‹. Erkennen lässt sich vielmehr ein Interesse an einer Neuverhandlung dessen, wie solche 107
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Räume gestaltet werden und mit welchen Ein- und Ausschlüssen sie verbunden sind. Besonders deutlich zeigt sich dies an Auseinandersetzungen rund um das Lesbenfrühlingstreffen, die im folgenden nachgezeichnet werden sollen.
Kollektive Aushandlungen: Das Lesbenfrühlingstreffen als Bezugspunkt Gerade weil Verhandlungen um die Strukturierung von Räumen und Politiken des Zugangs hier immer virulent waren, stellt das Lesbenfrühlingstreffen (LFT) eine Gelegenheit par excellence für eine solche Aushandlungspraxis dar. Auch wenn das Treffen heute insbesondere für viele jüngere Lesben ganz sicher keinen zentralen Bezugspunkt markiert, kommt ihm wegen seiner langen Tradition und wegen des Repräsentationsanspruchs in Bezug auf lesbische Lebensweisen und Lesbenpolitik auch eine wichtige symbolische Funktion zu. Seit 1972 jährlich an Pfingsten von wechselnden regionalen Teams organisiert, ist dies das größte Lesbentreffen im deutschsprachigen Raum.45 Von Beginn an war das Treffen auch ein Ort der Auseinandersetzungen darum, wer überhaupt zugelassen werden soll und welche Themen dort präsentiert werden dürfen. Strittig waren (und sind teilweise noch) die ›Zulassung‹ von Transfrauen (bei einigen Treffen sollen Operationsnachweise für den Zugang gefordert worden sein),46 von Transmännern, von bisexuellen Frauen (die teilweise nur unter der Bedingung zugelassen wurden, dass sie ihre Bisexualität nicht explizit, etwa in Workshops oder mit Infotischen, thematisierten). Harte Auseinandersetzungen gab es um verschiedene Formen von Sexualität und deren Repräsentation – Sextoys und SM galten vielen als verdächtig und die Möglichkeiten, entsprechende sexuelle Praxen zu thematisieren und zu diskutieren, wurden eingeschränkt. Die Abschlussplena widmeten sich oft in stundenlangen, 45 Vgl. zur Geschichte und Gegenwart des Lesbenfrühlingstreffens http:// www.lesbenfruehling.de, Stand: 24.02.2010; Dennert et al. (Hg.) 2007: 241ff. Es wurde 1972 von der Frauengruppe der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) initiiert; der Name Lesbenpfingsttreffen wurde 1992 durch die Bezeichnung Lesbenfrühlingstreffen abgelöst. Das Treffen zieht jedes Jahr mehrere Tausend Besucher_innen an. 46 Transfrauen erst nach abgeschlossener OP zum Treffen zuzulassen, wurde 1989 in einem bindenden Beschluss des Abschlussplenums festgehalten. Allerdings wurde dieser Beschluss in den folgenden Jahren nicht immer umgesetzt bzw. die Einladungspolitik explizit offener formuliert. Für das LFT in Marburg im Jahr 2007 wurde der Beschluss nochmals als verbindlich aufgegriffen, auf dem dortigen Abschlussplenum aber wiederum zur Diskussion gestellt; vgl. http://www.lesbenfruehling.de/files/abschlussple num_07.pdf, Stand: 24.02.2010. 108
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teils sehr emotional geführten Diskussionen der Frage, was eine ›richtige Lesbe‹ sei und welche geschlechtlichen und sexuellen Ausdrucksformen hinter die Grenze verwiesen werden sollten. Obwohl die Erwähnung des LFT wegen dieser höchst umstrittenen Politiken in vielen lesbischen Kreisen ein genervtes Augenrollen auslöst, ist es doch immerhin ein Ort, an dem Auseinandersetzungen und Vorbehalte, die auch sonst lesbische Szenen prägen, offen ausgetragen werden können: Der Anspruch des Treffens, Lesbenpolitik im deutschsprachigen Raum zu repräsentieren, prädestiniert es für Auseinandersetzungen um die Frage, was Lesbenpolitik heute sein soll. Auch gerade die expliziten Bemühungen, bestimmte Themen und Menschen ›draußen‹ zu halten, bieten Ansatzpunkte dafür, diese Ausschlüsse zu thematisieren und zu politisieren. In diesem Sinne wurde und wird das LFT auch von vielen in der Drag King-Szene Aktiven als Bezugspunkt betrachtet, der als politisch verstandene Interventionen ermöglicht. Die Gründe dafür, warum die gerade erst gegründeten Kingz of Berlin das LFT in Rostock im Jahr 2001 zum Ort ihres ersten öffentlichen Auftritts erwählten, beschreibt ein Mitglied der Gruppe so: »Na, wir haben dann gesagt, so, jetzt haben wir solange geübt, also jetzt gehen wir mal auf die Bühne [beide lachen]. Und da haben wir gedacht: wichtig, wichtig, das Lesben-Frühlingstreffen, [eindringlich-ironisch:] da müssen Drag Kings vorkommen, das geht nicht, dass die da ausgeschlossen sind [wieder normal:] und dass die sich um dieses ganze Trans-Thema und die andern kontroversen Sachen wie transsexuelle Frauen und Bisexualität und SM, dass die sich da drum rumdrücken, und wir wollen da auftreten.« (Int. 6)
Im Vorfeld des Auftritts war die Besorgnis unter den Kingz groß: Sie versicherten sich der Unterstützung mitfahrender Freund_innen und anderer dort präsenter Gruppen, um den befürchteten Anfeindungen gewachsen zu sein. Im großen Stil blieben diese jedoch aus – der Auftritt war ein voller Erfolg und löste bei denen, die ihn sich ansahen, Begeisterung aus. Erst beim Abschlussplenum kam es zu auch aggressiven Auseinandersetzungen: »[…] da wurden auch Stimmen laut, wir wollen hier keine Schwänze, wir wollen hier keine Bärte und -, und richtig Aufregung und Tumult. Und, ähm, ohne ein Wort mit uns mal zu sprechen oder zu gucken, ob wir aus ihrer Reihe eigentlich kommen und genau an derselben Front kämpfen und vielleicht sogar ähnliche Sachen erlebt haben wie sie, die dann zu, weiß ich nicht, Abneigung und so führt. Das war ziemlich heftig, aber der Auftritt ging erstaunlich 109
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gut vonstatten, also da ist gar nichts passiert, das fanden wir ganz gut [lacht].« (Int_E)
Nach diesem ersten Auftritt nahm die Präsenz von Drag Kings auf dem LFT stetig zu. Auf jedem der nachfolgenden Frühlingstreffen wurden Infotische organisiert, oft auch Workshops, Diskussionsveranstaltungen und Performances, die mal mehr, mal weniger umstritten waren. Zu einem kleinen Eklat kam es offensichtlich anlässlich einer Show der Kingz of Berlin auf dem LFT in München 2003: Die Performance einer schwulen Sex-Szene, die als sado-masochistisch interpretiert werden konnte und die rund um einen grotesk-riesenhaften aufblasbaren Gummi-Phallus in Regenbogenfarben herum organisiert war, rief die beiden strittigen Themen ›Schwänze‹ und ›SM‹ zugleich auf den Plan und führte zu vehementen Protesten seitens einiger Teilnehmerinnen. Nicht nur Drag Kings allein, sondern auch andere Gruppen thematisierten in den letzten Jahren zunehmend die Bedeutung geschlechtlicher und sexueller Unterschiede innerhalb lesbischer Zusammenhänge sowie die Fragwürdigkeit der Kriterien, die Ein- und Ausschlüsse des LFT regulieren. Dass diese Bemühungen nicht ohne Effekt blieben, lässt sich unter anderem an den Veränderungen der Positionsbestimmungen der wechselnden Organisations-Teams ablesen. Zumindest ist das ›biologische Geschlecht‹ seit einigen Jahren nicht mehr fragloses Kriterium des Zugangs; vielmehr scheint es erforderlich, die eigene Haltung dazu zu explizieren. Dies kann allerdings einigermaßen widersprüchlich ausfallen, wie das folgende Zitat aus dem ›Selbstverständnis‹ des Gießener ›Orga-Teams‹ von 2004 zeigt: »Es gibt das Bedürfnis, offen zu sein, den Anspruch, die Biologie nicht zum Maßstab zu machen. Der Maßstab der Selbstdefinition der Besucherinnen (als Lesbe) löst jedoch nicht alle Fragen und Probleme. Was wir eindeutig ablehnen, ist Machoauftreten, Übergriffigkeit, Respektlosigkeit und Dominanzverhalten – und das eigentlich auch unabhängig vom biologischen oder dargestellten Geschlecht. In Wirklichkeit ist es aber meist abhängig voneinander.«47
In der Verquickung von »biologischem« und »dargestelltem« Geschlecht verhüllt diese Formulierung kaum, dass es weiterhin um die Problematisierung von ›Männlichkeit‹ geht, die offensichtlich den Transfrauen per Biologie unterstellt und umgekehrt Transmännern und anderen männlich codierten Geschlechtlichkeiten ebenfalls angelastet
47 Zitiert nach http://www.lesbenfruehling.de/mittelhessen2004/html/selbst verstaendnis-juli2003.HTM#transgender, Stand: 24.02.2010; Herv. i.O. 110
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wird.48 Das Berliner Team von 2005 verweist ebenfalls auf unterschiedliche Haltungen innerhalb der Gruppe, ist im Ergebnis aber bereits offener: »Die Orgagruppe hat unterschiedliche Haltungen zu diesem [dem Transgender-] Thema. Konsens ist, dass wir eine Veranstaltung mit und für Lesben organisieren wollen. Es fällt uns jedoch schwer, die Definitionsmacht über die Vielfalt lesbischen Lebens auszuüben. Einige von uns verstehen das LFT als eine Veranstaltung für als Frauen geborene und sozialisierte Lesben. Die Grenzen zwischen biologischem und sozialem Geschlecht sind heutzutage jedoch nicht mehr eindeutig gezogen. Wir wollen die Biologie deshalb nicht zum Maßstab machen und möchten offen sein für Transidentinnen / Transgender / Intersexen, die sich als Lesben definieren/fühlen.«49
Selbst das hier formulierte Kriterium eines notwendigen Selbstverständnisses als Lesbe konnte auf dem Treffen selbst diskutiert und problematisiert werden: In einem Workshop zu »Transmännern und LFT« stellte Ex-MdB Christian Schenk50 als Referent seine eigenen, durch jahrelangen Aktivismus zunächst in der DDR, später auch im vereinigten Deutschland gewachsenen Bezüge zur Lesbenszene heraus und warf damit die Frage auf, welches auch politische Potential durch den Ausschluss von Transmännern, die sich aktuell nicht (mehr) lesbisch verstehen, dem LFT verloren geht.
48 In der Konsequenz entschieden sich die Veranstalterinnen, das Problem der Einlasspolitik auf die Zugangskontrolle zu einzelnen Veranstaltungen zu verlagern: »Wir erkennen unterschiedliche Identitäten (Lebensentwürfe, Selbstdefinitionen) an. Das ist nicht gleichbedeutend damit, das LesbenFrühlingsTreffen für alle Identitäten zu öffnen. Es gibt welche von uns, die ein LFT für als Frauen geborene und sozialisierte Frauen veranstalten wollen. Es gibt welche, die ein offeneres LFT wollen. Jedenfalls gibt es Fragen und Widersprüche bei den Themen Transgender / Transsexualität, denen wir uns bewusst zuwenden wollen. Auch die scheinbar selbstverständliche Entwicklung der LFTs in den letzten Jahren möchten wir gern kritisch reflektieren. Wir wollen den Unterschiedlichkeiten Rechnung tragen, indem wir ermöglichen, Workshops mit konkreten Einladungen zu kennzeichnen.« (Ebd.) 49 Zitiert nach http://www.lesbenfruehling.de/berlin2005/lft.htm, Stand: 24. 02.2010. 50 Christian Schenk war (damals als Christina Schenk) seit den frühen 1980er Jahre in Lesbengruppen der DDR aktiv, war 1989 Mitbegründer_in des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) und für diesen Mitglied des Zentralen Runden Tisches der DDR; von 1990 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages (zunächst für Bündnis 90/Die Grünen, später für die PDS); vgl. http://www.christian-schenk.net, Stand: 24.02.2010. 111
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Aufgrund dieser Entwicklungen wird das LFT inzwischen auch in der Drag King-Szene nicht mehr derart als Schreckgespenst betrachtet, auch wenn die Veranstaltung nach wie vor umstritten ist. In einem kurzen Artikel in der Krone fordert Ines-Paul (2005) dazu auf, sich von unrealistischen und vor allem von harmonistischen Erwartungen an das LFT zu verabschieden und das Treffen stattdessen als Ort der Auseinandersetzung und möglicher Entwicklungen schätzen zu lernen. In einem weiteren Beitrag berichtet er von eigenen positiven Erfahrungen anlässlich eines von ihm auf dem LFT angebotenen TransgenderWorkshops – von angenehmen Diskussionen, neuen Bekanntschaften und über das Treffen hinausreichender Vernetzung (vgl. Ines-Paul 2005a: 22f.). Die Haltung kritischer Solidarität, die Ines-Pauls Beiträge kennzeichnet, prägte auch eine Veranstaltung der Kingz of Berlin anlässlich des LFT 2005 in Berlin: Zum Fest präsentierten sie eine LFT-SpecialAusgabe der PenisNight, allerdings außerhalb des offiziellen Programms und Festivalgeländes, um ihrem Grundsatz einer offenen Einlasspolitik treu bleiben zu können: »Zum Auftakt des LFTs heißen die Kingz of Berlin alle Geschlechter willkommen. Ob Frühlingslesben, Transgendermenschen, Femmes, Butches, Tunten, ob Tittenträger, Lederschwuchteln, Schwanzträgerinnen oder Schubladenlose: Wer Lust auf ein atemberaubendes Showprogramm und eine heiße Party hat ist bei uns richtig. Auf der Bühne: Berlins finest Drag-PerformerInnen! Coco Lorès, Mimi Monstroe, Spicy Tigers on Speed, Kingz of Berlin u.v.m. Gegen alle Geschlechtergrenzen – Drag as King can!« (Flyer)
Bereits in der Ansprache zu Beginn der Show verwies Fronck de Sáster von den Kingz ironisch auf die Grenzpolitiken der ›offiziellen‹ Veranstaltung: »Geht ihr auch alle schön zum LFT? – Die, die dürfen…!« Das anschließende in der Tat »atemberaubende« und begeistert aufgenommene Showprogramm gipfelte in einer gemeinsam von der Performerin Coco Lorès und den Kingz of Berlin zelebrierten Performance: Coco Lorès, bekannt für ihre Darstellung einer ergrauten älteren Dame im »kassler-farbenen« Kostüm und mit Gouvernanten-Tonfall, erinnerte zunächst in einer deutlich als überzogen erkennbaren Weise an die alten Zeiten der feministischen Lesbenbewegung, als wir alle noch Frauen waren, lila Gewänder trugen und vom Duft der Räucherstäbchen umweht wurden. Begleitet von einem Chor der Kingz of Berlin, die – mit grotesken Perücken und in weiten Walle-Kleidern – tuntiger kaum hätten sein können, schmetterte sie schließlich zu enthusiastisch geklampften Gitarren-Akkorden »Wir sind keine Kellerasseln« – ein Lied 112
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der Flying Lesbians, einer deutschsprachigen Lesbenband der 1970er Jahre. Der Song ruft dazu auf, aus dem finsteren Keller ins Licht der Öffentlichkeit zu treten: »Wir sind keine Kellerasseln – wir sind Lesben, wir haben Mut!« lautet der Refrain, der damit eine kollektive, politische lesbische Identität beschwört. Im Kontext der Veranstaltung und dem geteilten Wissen um die Problematiken lesbischer Identitätspolitik, wie sie sich in manchen Auseinandersetzungen des LFT manifestiert, konnte die groteske Aufmachung der Kingz als deutlicher Hinweis darauf gelesen werden, dass eine ›richtige Lesbe‹ zu sein immer schon eine mit einem gewissen Aufwand betriebene Performance war. Gleichzeitig wurde der Song jedoch in einer Weise vorgetragen, die zum Mitsingen oder -gröhlen einlud, die durchaus wieder und immer noch eine Gemeinsamkeit im Publikum herzustellen vermochte; allerdings eben genau unter der Bedingung einer ironischen Brechung, die das Pathos des Liedes erträglich machte und außerdem auch denjenigen, die sich selbst nicht lesbisch definierten, eine Teilhabe am situativen ›Wir‹ ermöglichte. Die Kingz stellten sich damit nicht gegen eine lesbisch-feministische Tradition, sondern reklamierten diese als einen Horizont der eigenen Verortung – allerdings ohne sich davon determinieren zu lassen: Nicht nur in dieser Performance, sondern auch in den anderen hier skizzierten Bezugnahmen der in der Drag King-Szene Aktiven auf lesbischfeministische Traditionen, Artikulationen und Praxen werden diese als Anlass und Ausgangspunkt für streitbare (queer-feministische) Reformulierungen lesbischer Geschlechtlichkeiten und Geschlechterpolitiken sichtbar.
2.2 Trans*-Szenen ›Verortet‹ ist Drag Kinging nicht nur in lesbischen Szenen und Traditionen, sondern ebenso in den sozialen Zusammenhängen und Sinnhorizonten, die sich seit Anfang der 1990er Jahre unter dem Zeichen ›Transgender‹ formieren. Der Begriff Drag King fehlt mittlerweile in kaum einer der Aufzählungen geschlechtlicher (Selbst-)Bezeichnungen, durch die die Bedeutung von Transgender regelmäßig illustriert wird. Und auch wenn sich längst nicht alle der in die hiesige Drag King-Szene Involvierten persönlich als Transgender oder als trans*51 verorten, findet 51 Ich verwende die Bezeichnungen Transgender und Trans* weitgehend synonym im Sinne von Oberbegriffen für unterschiedliche transgeschlechtliche Existenzweisen und Bezüge. Mit dem Asterisk als Platzhalter ermöglicht die Bezeichnung Trans* allerdings auch eine Inklusion derjenigen, die eine Selbstbezeichnung als transsexuell bevorzugen und den Begriff Transgender als zu unspezifisch ablehnen. Trans* verweist damit deut113
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Kinging regelmäßig auch im Rahmen von als solchen ausgewiesenen Transgender-Veranstaltungen statt, beteiligen sich Drag Kings an zahlreichen Transgender-Aktivitäten und -Netzwerken, gehört die Transgender-Szene zu den vordringlichen Kontexten, in denen Drag Kinging sinnhaft verstehbar ist und oft begeistert aufgenommen wird. Auch Trans*-Zusammenhänge sind allerdings in sich heterogen und von unterschiedlichen Strömungen und geschlechtlichen wie politischen Verortungen geprägt; und auch in diesem Feld zeigt sich nicht nur Begeisterung, sondern auch Misstrauen gegenüber der Praxis des Kinging. Insbesondere manche Transmänner grenzen sich dezidiert von Drag Kings ab: Gegenüber einer eigenen, als ernsthaft und existentiell empfundenen Investition in ›Männlichkeit‹ wird Kinging teils als eine lediglich spielerische Praxis interpretiert, die ohne Konsequenzen bleibt. In seiner bereits zitierten Glosse pointiert Nic da Wig, dass der Drag King manchem Transmann als einer erscheine, »der es nicht ernst nimmt mit der Männlichkeit. Auf der Bühne, im bunten Partygewühl ja, aber doch nicht auf der Straße, am Arbeitsplatz, im Familienkreis – also, wenn es gilt« (Nic da Wig 2005: 41).52 Bevor ich die Verortung von Drag Kinging in Transgender-Zusammenhängen, wechselseitige Abgrenzungsbemühungen zwischen Drag Kings und Transmännern sowie Formen der Zusammenarbeit und der Durchdringung der damit verbundenen Szenen genauer betrachte, folgt auch hier eine – diesmal etwas ausführlichere – Skizze historischer Linien, deren Effekte hier wirksam werden: Weder die Formierung gegenwärtiger Transgender-Zusammenhänge, noch deren Bedeutung für Praxen und Sinnhorizonte des Kinging, noch die angerissenen Konflikte und Abgrenzungsbestrebungen lassen sich verstehen ohne die Berücksichtigung einiger Aspekte einer ›Geschichte der Transsexualität‹. In dem nun folgenden, notwendig selektiven und simplifizierenden Abriss konzentriere ich mich vorwiegend auf die Entwicklung medizinischer Diskurse und Praxen, die diese Geschichte stark geprägt haben, sowie auf die historisch sich verändernden Weisen, in denen diese sowohl angeeignet als auch angefochten wurden und werden.
licher als Transgender auch auf interne Spannungen, Auseinandersetzungen und Abgrenzungsbestrebungen im Feld transgeschlechtlicher sozialer Zusammenhänge. 52 Vgl. sowohl zur Verortung von Drag Kinging in hiesigen TransgenderZusammenhängen als auch zu wechselseitigen Abgrenzungen und Konfliktlinien zwischen Drag Kings und Transmännern Franzen 2002: 89ff. sowie ausführlich Franzen 2007. 114
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2.2.1 Die medizinische Konstruktion der Transsexualität und Weisen ihrer Aneignung und Anfechtung: Eine Skizze historischer Linien Der historische Nexus, der im späten 19. Jahrhundert Homosexualität als eine nicht nur sexuelle, sondern auch geschlechtliche ›Abweichung‹ konstituierte, kennzeichnet auch den Beginn einer Entwicklung, die einige Jahrzehnte später zur Ausformulierung des Phänomens der Transsexualität führen sollte. Die Konzepte und Klassifikationssysteme, die von frühen Sexualwissenschaftlern wie Richard von Krafft-Ebing, Carl Friedrich Westphal, Havelock Ellis und Magnus Hirschfeld entwickelt wurden, waren zunächst nicht strikt durch die sich später durchsetzende Unterscheidung zwischen Sexualität, geschlechtlicher Morphologie und geschlechtlichem Empfinden organisiert. Begriffe wie die ›conträre Sexualempfindung‹ und die ›Inversion‹ bezogen sich auf eine Reihe von Phänomenen, die erst später konzeptuell getrennt wurden: Tragen der Kleidung des ›anderen‹ Geschlechts, Sexualität mit und Begehren nach dem ›eigenen‹ Geschlecht, der Wunsch, auch körperlich das ›andere‹ Geschlecht zu sein, sowie das Aufweisen körperlicher Merkmale beider Geschlechter. Zwar wurden unterschiedliche Ausprägungen durchaus auch begrifflich unterschieden – etwa in der Prägung der Begriffe ›Homosexualität‹ und ›Transvestismus‹ durch Magnus Hirschfeld. Beide galten ihm jedoch als Formen innerhalb eines Kontinuums »sexueller Zwischenstufen« und nicht als vollständig distinkte Phänomene.53 53 Die »sexuellen Zwischenstufen« ergeben sich nach Hirschfeld aus einer Kombinatorik von geschlechtlichen Unterscheidungen in den folgenden vier Hinsichten: »I. die Geschlechtsorgane, II. die sonstigen körperlichen Eigenschaften, III. der Geschlechtstrieb, IV. die sonstigen seelischen Eigenschaften« (Hirschfeld 1926: 547; zitiert nach Lindemann 1993a: 95). ›Homosexualität‹ und ›Transvestismus‹ finden sich beide auf der seelischen Seite des Schemas, erstere unter III., letztere unter IV. – Eine Unterscheidung nach Stufen nimmt auch Krafft-Ebing (1984 [1912]: 266ff.) vor: Die »angeborene konträre Sexualempfindung« äußert sich auf der ersten Stufe, der »psychischen Hermaphrodisie«, durch sexuelle Neigung zu beiden Geschlechtern; auf der zweiten Stufe folgt »Homosexualität« als ausschließliche Neigung zum eigenen Geschlecht; auf der dritten Stufe ist »die psychische Persönlichkeit, speziell ihre gesamte Gefühlsweise und ihre Neigungen, von der abnormen geschlechtlichen Empfindungsweise beeinflusst«: Krafft-Ebing bezeichnet dies als »Effeminatio« bei Männern bzw. als »Viraginität« bei Frauen; auf der vierten Stufe finden sich Fälle, in denen »sogar in Skelettbildung, Gesichtstypus, Stimme usw., überhaupt in anthropologischer, nicht bloß in psychischer und psychosexualer Hinsicht das Individuum sich dem Geschlechte nähert, welchem dasselbe sich der Person des eigenen Geschlechtes gegenüber zugehörig fühlt«: »Androgynie« bei Männern, »Gynandrie« bei Frauen (vgl. dazu auch Hutter 115
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Diese Art der Konzeption, in der somatische, sexuelle und psychische Aspekte des Geschlechts untrennbar miteinander verquickt waren, organisierte auch die vorwiegend seit den 1920er Jahren vorangetriebenen Experimente mit endokrinologischen und chirurgischen ›Behandlungs‹-Methoden: Seit es möglich geworden war, die sogenannten Sexualhormone chemisch zu synthetisieren, sollten Hormontherapien insbesondere an ›Männern‹ dazu dienen, das Begehren nach dem ›eigenen Geschlecht‹ zu eliminieren, aber eben auch dazu, Wünsche nach weiblichen Kleidungsweisen oder nach einer weiblich codierten Körperlichkeit zu dämpfen (vgl. Hirschauer 1993: 98). Auch Genitaloperationen wurden zu unterschiedlichen Zwecken durchgeführt. Auf Forschungen des Wiener Arztes Eugen Steinach gingen etwa Versuche zurück, durch die chirurgische Ersetzung ›homosexueller‹ durch ›heterosexuelle‹ Hoden die entsprechenden ›Triebe‹ gleich mit auszuwechseln (vgl. Lindemann 1993a: 98). Auch Kastrationen wurden zur ›Behandlung‹ von homosexuellen Männern, aber auch von Sexualstraftätern durchgeführt – und ebenfalls im Zuge erster Operationen, die eine ›Geschlechtsumwandlung‹ zum Ziel hatten (vgl. Hirschauer 1993: 100). Noch der ›Fall‹, der später – nicht zuletzt durch sein gewaltiges mediales Echo – für Diagnostik und Behandlung der ›Transsexualität‹ paradigmatisch werden sollte, hatte nicht als solcher begonnen: Zwar reiste Christine Jorgensen Ende der 1940er Jahre mit dem erklärten Ziel von den USA nach Dänemark, durch chirurgische und hormonelle Behandlung zur Frau zu werden. Der Arzt Christian Hamburger und sein Kopenhagener Team, die die Behandlungen durchführten und damit ihren Wünschen entsprachen, begriffen ihr Tun jedoch zunächst eher als Behandlung, nämlich Dämpfung ihrer bzw. ›seiner‹ Homosexualität.54 Die Entwicklung hin zur Etablierung von Transsexualität als eigenständiger Diagnosekategorie wurde maßgeblich vorangetrieben durch Harry Benjamin, der Jorgensens Weiterbehandlung in den USA übernahm und mit ihren Kopenhagener Ärzten in engem Kontakt stand. Ein dringlicher Operationswunsch der ›Patient_innen‹ galt ihm als das entscheidende diagnostische Kriterium.55 Bis dieser Wunsch mit der Einrichtung von Klinik-Programmen beantwortet wurde, die solche Opera-
1993: 49f.). Vgl. exemplarisch zur Konzeptualisierung und Klassifikation geschlechtlich-sexueller ›Abweichungen‹ durch die frühe Sexualwissenschaft Hirschauer 1993: 66ff. sowie ausführlich Mehlmann 2006. 54 Vgl. Hirschauer 1993: 102; Genschel 1998: 312; insgesamt zum ›Fall‹ Jorgensen und seiner medialen Bedeutung ausführlich Meyerowitz 2002: 51ff. 55 Ausformuliert hat Benjamin diese diagnostische Kategorie in seinem 1966 veröffentlichten Buch The Transsexual Phenomenon. 116
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tionen als Behandlungsform vorsahen, bedurfte es jedoch noch weiterer Entwicklungen auch in der Art und Weise, wie Geschlecht im medizinischen Diskurs konzipiert wurde. Als besonders bedeutsam erweisen sich hier die konzeptionellen Verschiebungen, die auf Forschungen zu Intersexualität insbesondere unter der Leitung von John Money zurückgingen.56 In diesem Kontext wurde seit den 1940er Jahren eine zunächst als ›psychological sex‹ bezeichnete Konzeption des geschlechtlichen Empfindens entwickelt, in der die subjektive Überzeugung, dem einen oder dem anderen der zwei Geschlechter zuzugehören, als eine gegenüber dem Körpergeschlecht relativ unabhängige eigenständige Ebene behauptet wurde (vgl. Meyerowitz 2002: 99). John Money selbst ging davon aus, dass dieses Geschlechtsempfinden vollständig durch Erziehung (von ihm in einem behavioristischen Sinne verstanden) zu prägen sei – für ihn Rechtfertigung genug, um geschlechtsvereindeutigende Genitaloperationen an intersexuellen Säuglingen und Kindern durchzuführen und sie dann zur psychischen ›Annahme‹ desjenigen Geschlechts zu ›erziehen‹, dessen morphologische Herstellung medizinisch leichter zu bewerkstelligen gewesen war.57 Unter anderen Mediziner_innen war und blieb umstritten, ob das Geschlechtsempfinden auf frühkindliche Prägungen oder aber auf angeborene somatische Ursachen zurückzuführen sei. Das Konzept des ›psychological sex‹ als eines von der Morphologie weitgehend unabhängigen und im Erwachsenenalter stabilen und unveränderbaren Geschlechtsempfindens, das etwas später als ›gender identity‹58 reformuliert werden und Karriere machen sollte, setzte sich jedoch in weiten medizinischen Kreisen durch. In historisch neuer Weise wurde gender damit zu einer relativ autonomen Dimension sowohl gegenüber dem Körpergeschlecht (sex)59 als auch gegenüber der Ausrichtung des Begehrens und der gelebten Sexualität.
56 Vgl. dazu ausführlich Klöppel 2010. 57 Dass diese durch Money geprägte und sich in der Folge durchsetzende Praxis der ›Behandlung‹ von Intersexualität immenses Leid hervorgerufen hat und noch hervorruft, dringt erst seit einigen Jahren ins öffentliche Bewusstsein und ist Gegenstand sowohl wissenschaftlicher Forschung als auch politischer Organisierung geworden; vgl. Chase 1998; Kessler 1998; Klöppel 2002 und 2010; NGBK (Hg.) 2005; Lang 2006. 58 Als ›gender identity‹ bzw. ›core gender identity‹ wurde das Konzept reformuliert durch den Psychiater Robert Stoller (1968), ein Kollege John Moneys an der John Hopkins University in Baltimore und Mitbegründer des ersten, an der dortigen Universitätsklinik 1965 eingerichteten gender identity program zur Behandlung Transsexueller. 59 Wodurch genau das Körpergeschlecht bestimmt ist, war (und ist) ebenfalls seit dieser Zeit zunehmend umstritten, bzw. kommt es auch zu einer Binnendifferenzierung der Kategorie etwa in chromosomales, morpholo117
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Die dieser Konzeption zugrunde liegende und durch sie vorangetriebene Unterscheidung zwischen sex (Körpergeschlecht) und gender (als psychischem bzw. sozialem Geschlecht) sollte später im Kontext feministischer Theorie in anderer Weise aufgegriffen werden.60 Zunächst bewirkte sie jedoch eine Restrukturierung des diagnostischen Feldes, indem geschlechtlich-sexuelle ›Störungen‹ nun entlang der Unterscheidung der drei Ebenen – Körpergeschlecht, Geschlechtsempfinden und Sexualität – differentialdiagnostisch voneinander geschieden wurden: Intersexualität als eine somatisch-morphologische ›Störung‹, Transsexualität als ›Störung‹ des Geschlechtsempfindens, und Homosexualität – bis dahin konzeptionell so eng verbunden mit der Vorstellung abweichender Geschlechtlichkeit – als eine (rein) sexuelle, von Transsexualität deutlich zu unterscheidende ›Störung‹. Konzeption und Behandlung dieser ›Störungen‹ waren zugleich normativ darauf ausgerichtet, die drei konzeptionell unterschiedenen Ebenen im Sinne heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit wieder miteinander in Einklang zu bringen: also heterosexuelle Männer und Frauen zu schaffen, deren Gewissheit, eben solche zu sein, mit ihrer Morphologie übereinstimmte.61
gisches und Gonadengeschlecht, die innerhalb einer Person nicht notwendig übereinstimmen müssen. 60 Bekanntlich ermöglichte es die (feministische) Unterscheidung zwischen sex und gender, etwa geschlechtsspezifische Eigenschaften und Verhaltensweisen, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und ihre hierarchische Anordnung als Effekte einer spezifischen gesellschaftlichen Organisation anstatt als Ausdruck einer vorgängigen Natur und damit als herrschaftsförmig und zugleich als veränderbar auszuweisen. Vgl. zur Herkunft der feministischen sex/gender-Unterscheidung aus der Intersexualitätsforschung Dietze 2006 sowie ausführlich Klöppel 2010. 61 Wie sehr die frühe Forschung zu Transsexualität an einer Stabilisierung von Geschlechternormen interessiert und direkt daran beteiligt war, zeigt sich unter anderem daran, dass im Rahmen der gender identity programs der entsprechenden Forschungszusammenhänge, etwa unter Federführung des Psychiaters Robert Stoller, auch sogenannte Geschlechtsidentitätsstörungen von Kindern diagnostiziert und behandelt werden sollten. Eltern wurden dazu angehalten, ihren Kindern geschlechtstypisches Verhalten vorzuleben und sie zu ebensolchem zu erziehen, um eine spätere transsexuelle Entwicklung zu vermeiden. Sogenannte sissy boys und tomboys sollten genau beobachtet und ggf. möglichst früh psychiatrisch behandelt werden (vgl. Meyerowitz 2002: 125f.; Genschel 1998: 312f.). Nach Meyerowitz (2002) begründete Stoller die Notwendigkeit solcher Programme explizit mit dem Wandel gesellschaftlicher Normen: »In the mid1960s Stoller complained that ›our society‹ was ›moving all to rapidly toward massive blurring of gender differences‹.« (Ebd.: 126) Die Norm der Heterosexualität wurde unter anderem darin wirksam, dass Homosexualität im Wunschgeschlecht lange Zeit ein Ausschlussgrund für die 118
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Obwohl in der medizinischen Fachdiskussion weiterhin heftig umstritten, wurden ab Mitte der 1960er Jahre in den USA erste sogenannte ›Gender Identity Clinics‹ eingerichtet und eine Form der Diagnostik und Behandlung entwickelt, die sich weithin durchsetzen sollte und in ihren Grundzügen teilweise immer noch praktiziert wird. Während die hormonelle und chirurgische Veränderung des Körpers im Zentrum der Behandlung steht, ist das psychische geschlechtliche Empfinden Gegenstand der vor der Behandlung erforderten psychiatrischen Diagnose. Der Wunsch nach der Operation galt dabei lange Zeit als zentrales diagnostisches Kriterium.62 Die Äußerung dieses Wunsches und die damit verbundene Selbstdiagnose gelten im Kontext der Behandlungsprogramme allerdings weder als (freie) Willenserklärung noch als (objektive) Beschreibung eines Zustandes, sondern als Symptom (vgl. Hirschauer 1993: 121), das zu deuten einzig den psychologischen Expert_innen zukommt. Deshalb ist es mit der Äußerung allein nicht getan: In einem diagnostisch-therapeutischen Prozess werden Konstanz und innere Stimmigkeit des Gefühls der Zugehörigkeit zum Wunschgeschlecht überprüft, wird nach möglichen Ursachen für die Entstehung dieses Gefühls gesucht und teilweise auch die therapeutische Auflösung des Wunsches versucht.63 Auch wenn der ›transsexuelle Wunsch‹ nach bestimmten Operationen also nicht als einer unter vielen möglichen Geschlechterentwürfen, sondern als Symptom einer psychischen Störung begriffen wird,64 verleihen die Behandlungsprogramme ihm doch erstmals ein Aufnahme in die Behandlungsprogramme Transsexueller war (vgl. Genschel 2001). 62 Die Bindung der Diagnose ›Transsexualität‹ an den Operationswunsch hat sich inzwischen allerdings gelockert, entsprechend auch die Kopplung zwischen dieser Diagnose und der Indikation zu somatischen Maßnahmen; vgl. Becker 2009: 12. 63 Zu den Paradoxien, die dies für die therapeutische Beziehung mit sich bringt (etwa, dass viele ›Patient_innen‹ die Therapie nicht als Hilfe zur Klärung, sondern als Prüfung empfinden, auf die sie sich auch entsprechend vorbereiten, um die ›richtigen‹ Geschichten erzählen zu können; umgekehrt eine Haltung des Misstrauens auf Seiten der Therapeut_innen/Gutachter_innen bis hin zum bewussten Versuch des ›Fallenstellens‹) vgl. ausführlich Hirschauer 1993 und Lindemann 1993. Beide weisen außerdem auf die konstitutive (und nicht nur deskriptive) Funktion der in der diagnostischen Therapie generierten Narration hin, insbesondere im Hinblick auf die geforderte Konstanz des geschlechtlichen Empfindens. Lindemann bringt dies auf die griffige Formel: »Transsexuelle werden morgen schon gestern das Geschlecht gewesen sein, das sie heute noch nicht sind.« (Vgl. ebd.: 67) 64 1978 wurde die Diagnose ›Transsexualität‹ in die International Classification of Diseases (kurz ICD) der WHO, 1980 auch in das Diagnostic 119
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realitätsmächtiges Gewicht: Was vorher bis auf wenige, im kollektiven Bewusstsein kaum wirkmächtige Ausnahmen eine irreale Fantasie bleiben musste,65 konnte nun zum realisierbaren Lebensentwurf werden. Ebenfalls seit den 1960er Jahren wurden nach und nach in einigen USamerikanischen Bundesstaaten außerdem neue Gesetze verabschiedet, die eine auch rechtliche Anerkennung des Lebens im Wunschgeschlecht ermöglichten. Seit den 1970er Jahren wurden Behandlungsprogramme auch von einigen europäischen Ländern, so auch in Deutschland, übernommen. Als eines der ersten europäischen Länder verabschiedete der Deutsche Bundestag 1980 das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG), das eine Personenstandsänderung nach erfolgter Operation und durch richterlichen Beschluss ermöglicht. Die Entwicklung von ›Transsexualität‹ als medizinisch-psychiatrischer Kategorie und als Form geschlechtlicher Existenz kann weder allein als Resultat innermedizinischer Entwicklungen und Auseinandersetzungen noch als Effekt der Forderungen derjenigen begriffen werden, die sich im Laufe dieser Geschichte als ›Transsexuelle‹ konstituierten.66 Der medikalisierte Geschlechtswechsel als eine spezifisch moderne Form des Umgangs mit geschlechtlichen Normen und deren Abweichungen ist Ergebnis eines komplexen historischen Prozesses, in dem – vor dem Hintergrund der Hegemonie heteronormativer, somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit – unterschiedliche Interessen und Logiken wirksam wurden. Die Artikulation bestimmter geschlechtlicher and Statistical Manual for Mental Disorders (kurz DSM) aufgenommen, das von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben wird. In der 1994 erschienenen vierten Ausgabe (DSM-IV) erscheint die Diagnose als Unterkategorie verschiedener »Gender Identity Disorders« (vgl. Meyerowitz 2002: 255; 336, FN 2). 65 Da geschlechtsangleichende Operationen und Hormone in den USA vor Mitte der 1960er Jahre so gut wie nicht zugänglich waren, ließen sich einige Transsexuelle in privaten Kliniken im Ausland, insbesondere in Mexiko oder in Casablanca, ›behandeln‹; vgl. ›Members of the Gay and Lesbian Historical Society…‹ (im Folgenden zitiert als ›Members‹) 1998: 353. 66 Vgl. zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Perspektiven der Forschung zu Transsexualität Genschel 2001. Für eine Position, die Transsexualität als ›Erfindung‹ der Medizin und Transsexuelle als deren (verblendete) Opfer konzipiert, siehe Hausman (1995); für eine Kritik daran vgl. Genschel 2001: 824f.; Rubin 1998: 264ff. und 2003: 188 (FN 12); Halberstam 1998a: 302ff. Für eine Perspektive, die den Schwerpunkt auf die Konstitution von Transsexualität durch die narrative Selbstkonstitution Transsexueller legt, siehe Prosser 1998. Genschel (1998 und 2001) und ausführlicher Meyerowitz (2002) zielen auf eine Geschichtsschreibung, in der die konstitutive Verflechtung dieser und weiterer gesellschaftlicher Einflüsse sichtbar gemacht werden soll. 120
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Wünsche und Bedürfnisse und daraus resultierender Interessen an medizinischen Behandlungen wurde von Wissenschaft und Medizin einerseits aufgegriffen, andererseits auf eine spezifische Weise konturiert und an eine in den Behandlungsprogrammen institutionalisierte Form gebunden. Darauf reagierten wiederum Transsexuelle mit unterschiedlichen Weisen der Aneignung oder auch der Anfechtung. Einige Aspekte dessen sollen im Folgenden kurz beleuchtet werden.
Aneignungen und Anfechtungen medizinischer Diskurse Die Konstitution von Transsexualität als einem auf spezifische Weise mit dem medizinischen Apparat verschränkten geschlechtlichen Lebensentwurf veränderte auch die soziale Organisierung und die subkulturelle Landschaft geschlechtlich und sexuell Minorisierter. Während bis in die 1960er Jahre hinein in den USA eine Bar-Kultur existierte, in der verschiedene (auch trans-) geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen Platz hatten (vgl. Genschel 1998: 314), begannen Transsexuelle – zunächst fast ausschließlich ›MTF‹s, d.h. Transfrauen – nun erstmals, sich auch separat in Selbsthilfegruppen oder auch in explizit politisch orientierten Zusammenhängen zu organisieren.67 Die sich seit Ende der 1960er Jahre radikalisierende Schwulen- und Lesbenbewegung trug einerseits zu einem gegenkulturellen und bewegungspolitischen Klima bei, in dem auch Transsexuelle Forderungen nach geschlechtlicher Selbstbestimmung und nach sozialen und kulturellen Rechten artikulieren konnten. Andererseits bewirkte die zunehmende Konzentration auf gleichgeschlechtliche Sexualität als Basis schwuler und lesbischer Identität, dass transgeschlechtliche Lebensentwürfe in diesem Kontext weniger thematisierbar wurden. Die differentialdiagnostischen Abgrenzungen der Medizin fanden sich in anderer Form auch im subkulturellen und bewegungspolitischen Feld: Lesben und Schwule kämpften für die Möglichkeit, als ›normale‹ Männer und Frauen Menschen des gleichen Geschlechts zu begehren, und gegen eine Pathologisierung dieses Begehrens als Persönlichkeitsstörung. Transsexuelle grenzten sich von Homosexuellen ab und betonten, dass die Basis ihres Lebensentwurfes
67 1967 gründete sich in San Francisco COG (für Conversion Our Goal oder Change: Our Goal, verschiedenen Versionen zufolge) – ein Zusammenschluss vor allem von MTF-transsexuellen Prostituierten, die sich, neben gegenseitiger Unterstützung im Alltag, für ein gesetzliches Recht auf Geschlechtsumwandlung, gegen die Normalität polizeilicher Übergriffe sowie für Nichtdiskriminierung auf Arbeits- und Wohnungsmarkt und im Alltag einsetzten; 1972 ging daraus die National Transsexual Counseling Unit hervor (vgl. Meyerowitz 2002: 230; ›Members‹ 1998: 362f.). 121
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geschlechtliche und nicht sexuelle Wünsche waren.68 Transvestiten distanzierten sich vom Operationswunsch Transsexueller und wendeten sich zugleich gegen die medizinische Definition von Transvestitismus als sexuellem Fetischismus.69 FTMs oder Transmänner waren bis Ende der 1980er Jahre in den entstehenden Transsexuellen-Organisationen und deren öffentlichkeitswirksamen Aktionen wenig sichtbar.70 Es gab lange Zeit keinen eigenen Zusammenschluss von Transmännern, aber immer wieder einzelne Personen, die sich im Feld der Transsexualität engagierten. So gründete etwa Reed Erickson 1964 die Erickson Educational Foundation zur Förderung wissenschaftlicher (v.a. medizinischer) Forschung zu Transsexualität.71 Zu einer auch kollektiven Organisierung führte schließlich das Engagement von Louis Sullivan, der lange Zeit eher vereinzelt bzw. mit einzelnen Bündnispartner_innen gegen seinen Ausschluss aus medizinischen Behandlungsprogrammen aufgrund seiner schwulen Orientierung (schließlich mit Erfolg) gekämpft hatte (vgl. Genschel 2001). 1986
68 Vgl. dazu auch ›Members‹ 1998. Die Autor_innen betonen, dass die Einführung von medizinischen Behandlungsprogrammen Mitte der 1960er Jahre zu einer Verbesserung der Lebenssituation vieler Transfrauen beitrug, zugleich aber zu neuen, auch einschränkenden Grenzziehungen führte: »At the same time, it instituted a rather hegemonic notion of ›proper‹ transsexual identity and helped produce new categorical distinctions within previously more heterogeneous transgender populations such as existed in the Tenderloin [ein Bezirk in San Francisco; U.S.]. Once medical intervention became more generally available, it seems, differences in the self-concepts, body images, structures of desire, ethnicity, and other socio-economic attributes of individual transgendered people solidified all the more quickly – and on an enlarged social scale – into the increasingly reified categories of homosexual, transvestite, drag queen, and MTF transsexual.« (Ebd.: 354) 69 Als alternative, nicht medizinisch definierte Bezeichnung für Transvestiten prägte Virginia Prince in den 1970er Jahren den Begriff Transgender, der später in einer veränderten, weiter gefassten Bedeutung wieder aufgegriffen werden sollte (vgl. Stryker 2006: 4). 70 Auch im medizinischen Diskurs waren sie sehr lange viel weniger präsent als MTFs. Die medizinische Diskussion der 1950er und 1960er Jahre drehte sich fast ausschließlich um Fälle von Transfrauen; diese prägten auch die öffentliche Wahrnehmung, was wiederum mit ein Grund für die geringere Nachfrage von Transmännern an medizinischen Leistungen gewesen sein mag. 71 Die Erickson Educational Foundation und die damit verbundenen finanziellen Ressourcen gelten als wichtiger Faktor für die Einrichtung der ersten Gender Identity Clinics; vgl. ›Members‹ 1998: 353; Meyerowitz 2002: 209ff. 122
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gründete er in San Francisco die weltweit erste Organisation für Transmänner, die als FTM International immer noch existiert.72 Etwa seit Beginn der 1990er Jahre veränderten sich Art und Sichtbarkeit des sozialen und politischen Engagements Transsexueller. Einige der Themen und Haltungen, die in den folgenden Jahren virulent werden sollten, wurden bereits in dem 1991 erstmals erschienenen Essay The Empire Strikes Back: A Posttranssexual Manifesto von Sandy Stone benannt. Bereits im Titel spielt Stone auf das 1979 erschienene Buch The Transsexual Empire von Janice Raymond an, die darin (Mann-zu-Frau-) Transsexualität als patriarchale Aneignung und ›Vergewaltigung‹ von Frauenkörpern geißelt, Transfrauen als (männliche) Invasoren in Frauenräume brandmarkt und damit eine Position formuliert, die in weiten Teilen (lesbisch-)feministischer Organisierung geteilt wurde und zum Ausschluss von Transfrauen aus feministischen Zusammenhängen führte.73 Stone wendet sich zum einen gegen diesen Ausschluss und den ihn begründenden biologischen Fundamentalismus, zum anderen aber auch gegen die Investition vieler Autobiographien von Transfrauen in patriarchale Bestimmungen von Weiblichkeit sowie in die Reinheitsfantasien der Zweigeschlechtlichkeit, die auch medizinische Diskurse und Praxen anleiten. Sie zeigt, wie der klinische Umgang Transsexuelle einerseits als pathologische, geisteskranke Individuen fasst, denen die Fähigkeit vernünftigen Sprechens über sich selbst abgesprochen wird, und andererseits ihre Selbstbeschreibungen entlang medizinischer Diagnosekriterien organisiert. Dazu gehören die obligatorische Rede vom ›falschen Körper‹ (die, so zeigt Stone, z.B. auch dazu führt, genitale Sexualität im Ausgangsgeschlecht zu verleugnen) und die Artikulation des Wunsches nach einer möglichst perfekten und herrschenden Normen entsprechenden Verkörperung des Zielgeschlechts: »Under the binary phallocratic founding myth by which Western bodies and subjects are
72 Hauptsächliches Ziel der Organisation war und ist die (weltweite) Verbreitung von Informationen unter FTMs und deren Vernetzung, z.B. über den FTM Newsletter, der seit 1987 jährlich erscheint. Vgl. zu frühen Treffen dieser Gruppe und deren Aktivitäten Jamison Green 2004: 53ff. 73 Stone selbst stand in den 1970er Jahren im Mittelpunkt heftig geführter Auseinandersetzungen aufgrund ihrer Tätigkeit als (transsexuelle) Toningenieurin bei dem feministischen (Frauen-)Kollektiv Olivia Records. Vorwürfe, sie würde ›als Mann‹ in Frauenräume eindringen, führten schließlich zu ihrem Ausschluss aus dem Kollektiv. (Dass ähnliche Vorbehalte gegen Transfrauen auch in hiesigen lesbisch-feministischen Zusammenhängen wirksam waren und teils noch sind, wurde im letzten Abschnitt bezüglich der Auseinandersetzungen um Einlasspolitiken des Lesbenfrühlingstreffens thematisiert.) 123
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authorized, only one body per gendered subject is ›right‹. All other bodies are wrong.« (Stone 2006 [1991]: 231) Stone plädiert dafür, eine »posttranssexuelle« epistemologische Position einzunehmen, von der aus die Vielstimmigkeiten und Widersprüchlichkeiten körperlicher geschlechtlicher Erfahrungen zu Elementen eines zu formulierenden Gegendiskurses werden können. Dazu ist es nach Stone nötig, dass Transsexuelle ihre Anstrengungen weniger darauf richten, als (›normale‹) Männer oder Frauen durchzugehen, als darauf, die binäre geschlechtliche Ordnung anzufechten, die sie zur Verleugnung spezifischer Erfahrungen und Wünsche zwingt.
Problematisierungen der Verfasstheit von Transsexualität im Kontext einer Kritik der Zweigeschlechtlichkeit: Transgender-Artikulationen Der bereits durch Sandy Stones Manifesto artikulierte Horizont einer grundlegenden Kritik der gegenwärtigen Verfasstheit heteronormativer, somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit wurde zur Basis des sich in den 1990er Jahren formierenden Transgender-Aktivismus. Leslie Feinberg prägte diesen Begriff in ihrer/seiner 1992 erschienenen Schrift Transgender Liberation: A Movement Whose Time Has Come in einer Bedeutung, die heute die am weitesten verbreitete zu sein scheint: als Überbegriff für all diejenigen, deren geschlechtliche Lebensweisen und Verkörperungen den herrschenden Normen der Zweigeschlechtlichkeit nicht entsprechen.74 Feinberg zielte damit explizit auf die Mobilisierung für eine Bewegung, die sich ihre Bündnispartner_innen nicht länger durch medizinisch geprägte Kategorien diktieren lassen sollte, sondern über unterschiedliche geschlechtlich-sexuelle Verortungen hinweg deren gesellschaftliche Bedingungen anzufechten und zu verändern suchte.75 74 Susan Stryker charakterisiert die Bedeutung von Feinbergs Verwendung des Begriffs wie folgt: »Transgender, in this sense, was a ›pangender‹ umbrella term for an imagined community encompassing transsexuals, drag queens, butches, hermaphrodites, cross-dressers, masculine women, effeminate men, sissies, tomboys, and anybody else willing to be interpolated by the term, who felt compelled to answer the call to mobilization.« (Stryker 2006: 4) 75 In der Folge wurde der Begriff auf unterschiedliche Weisen angeeignet und verwendet (vgl. exemplarisch Stryker 1998; Genschel 1998). In einer engeren Definition fungiert er als Alternative zu dem diagnostischen Begriff der Transsexualität und damit als eine Selbstbezeichnung, in der die medizinische Definitionsmacht angefochten werden soll. In einer zweiten, etwas weiter gefassten Verwendungsweise bezeichnet er zusätzlich all diejenigen, die ihr Leben im anderen als dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht ohne medizinisch erreichte körperliche Veränderungen gestal124
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Auch als Person steht Feinberg in doppelter Weise für die Veränderungen des Aktivismus seit den 1990er Jahren: Wie er/sie artikulierten sich im Horizont der Transgender-Bewegung zunehmend auch andere bei ihrer Geburt als weiblich klassifizierte Transmenschen, die gegenüber früheren Jahrzehnten nun deutlich sichtbarer wurden.76 Und wie sie/er äußerten viele nun geschlechtliche Selbstverständnisse, die nicht auf ein Leben als ›Mann‹ oder als ›Frau‹ zielten, sondern auf alternative geschlechtliche Verortungsmöglichkeiten. Die Artikulation solcher Verortungen, der Versuch ihrer Repräsentation, der Kampf um soziale Anerkennung, gegen Diskriminierungen und gegen Gewalt waren und sind wesentliche Momente des Transgender-Aktivismus. Einer der hauptsächlichen Bezugspunkte des Aktivismus bleibt jedoch die medizinisch-rechtliche Verfasstheit der Transsexualität, die im Kontext von Transgender nun sowohl grundsätzlich (in ihrer konstitutiven Bedeutung für die Regulierung von Geschlecht überhaupt) als auch in ihren konkreten Bestimmungen kritisiert wird. Dazu gehört, die medizinische Definition von Transsexualität als Krankheit nicht länger zu akzeptieren77 und die Macht von Psycholog_innen und Ärzt_innen, über die Zulassung zur oder Verweigerung der medizinischen Behandlung zu entscheiden, anzufechten. Konkret wird etwa versucht, Einfluss zu nehmen auf die Behandlungsstandards, die (allerdings nicht bindend) die behandelnde Praxis anleiten. Die internationalen Standards of Care for Gender Identity Disorders werden seit 1979 von der Harry Benjamin International Gender Dysphoria Association78 herausgegeben. 1997 wurden erstmals Transgender-Personen in das Direktorium der Gesellschaft aufgenommen (vgl. Stryker 1998: 146), und in der 1998 formu-
ten. Die von Feinberg vorgeschlagene sehr weite Definition stellt demgegenüber eine dritte Verwendungsweise dar, der ich mich im Folgenden anschließe. 76 Vgl. dazu Califia 1997: 221ff.; Green 1998; Cromwell 1999: 237ff. 77 In einer weltweiten Kampagne zur Entpathologisierung transgeschlechtlicher Menschen riefen im Jahr 2009 mehr als 180 Gruppen in 40 Ländern dazu auf, die Diagnose ›Geschlechtsidentitätsstörung‹ aus den kommenden Versionen der Krankheitskataloge ICD und DSM zu streichen (vgl. zur Kampagne Stop Trans Pathologization 2012 http://www.tgeu.org/node /75; Stand: 18.02.2010). Die auch schon in den 1990er Jahren z.B. durch die Gruppen Transexual Menace und Transgender Nation erhobene Forderung nach Entpathologisierung (vgl. Genschel 1998: 318) ist allerdings auch innerhalb der Bewegung umstritten, da die Kostenübernahme medizinischer Leistungen durch die Krankenkassen, so sie überhaupt stattfindet, bislang an die Definition als Krankheit gebunden ist. Vgl. zu dieser Diskussion u.a. Califia 1997: 265; Butler 2004a. 78 Seit 2006 firmiert diese Gesellschaft unter dem Namen World Professional Association for Transgender Health. 125
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lierten fünften Version der Standards wurde erstmals die an der vorherigen Version von ›Betroffenen‹ formulierte Kritik zum Teil berücksichtigt und explizit auf die Transgender-Bewegung und sich daraus ergebende Veränderungen im gesellschaftlichen Umgang mit transgeschlechtlichen Lebensweisen verwiesen.79 Die deutschen Behandlungsstandards von 1997 wurden demgegenüber ohne Beteiligung von Transsexuellen- oder Transgender-Organisationen formuliert. Sie binden die Diagnose ›Transsexualität‹ weiterhin an den Operationswunsch und sehen eine verbindliche Psychotherapie vor, in der die Konstanz des (gegen-)geschlechtlichen Empfindens geprüft und zur Voraussetzung für eine Behandlung gemacht wird, als deren Ziel eine möglichst vollständige operative und hormonelle Angleichung an das Wunschgeschlecht nahe gelegt wird.80 Inzwischen sind die Standards jedoch auch in der medizinisch-psychologischen Fachdiskussion vielfach kritisiert worden. Insbesondere die Kopplung von Operationswunsch, Diagnose und Indikation zu somatischen Maßnahmen ist nicht länger Konsens; stattdessen wird teils eine je individuelle Prüfung angezeigter ›Behandlungen‹ vorgeschlagen, die unterschiedliche somatische Maßnahmen einschließen können, aber nicht müssen.81 Eine entsprechende Revision bzw. Neuformulierung der Standards wurde allerdings nie vorgenommen. Neben den medizinischen werden auch die rechtlichen Regulierungen von Geschlecht und Transsexualität zum nunmehr verstärkt umkämpften Terrain. In Deutschland steht gegenwärtig insbesondere das
79 In dieser Version wird Transsexualität nicht länger durch den Wunsch nach operativer Veränderung definiert; Operation und Psychotherapie gelten nicht mehr als zwingende Bestandteile der Behandlung; das Ziel der Behandlung ist nicht mehr notwendig die Übereinstimmung von Körpergeschlecht und Geschlechtsempfinden, sondern die Zufriedenheit der behandelten Person. Vgl. zu diesen Veränderungen sowie zu einem Vergleich mit den deutschen Behandlungsstandards Jäger 2001. 80 Die deutschen Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen sind nachzulesen in der Zeitschrift für Sexualforschung, Heft 2, 1997 (Becker et al. 1997). Zur Debatte darum vgl. Heft 4 der Zeitschrift des selben Jahrgangs; zu einer Kritik insbesondere die Beiträge von Gesa Lindemann, Stefan Hirschauer und Kurt Seikowski; zu einer Erwiderung auf diese Kritik vgl. Sophinette Becker 1998. 81 Vgl. Becker 2009: 12 und 16f. Becker, unter deren Federführung die Standards 1997 entwickelt wurden, bezeichnet diese inzwischen als »z.T. überholt« und empfiehlt Gutachter_innen und Therapeut_innen, zusätzlich die internationalen Standards of Care zur Kenntnis zu nehmen, die »zu vielen klinischen Aspekten ausführlicher und differenzierter als die deutschen ›Standards‹ Stellung nehmen« (ebd.: 14). 126
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sogenannte Transsexuellen-Gesetz (TSG)82 im Fokus der Kritik. Zum Einen wird die Notwendigkeit eines solchen ›Sondergesetzes‹ grundsätzlich problematisiert, denn ohne den verbindlichen Geschlechtseintrag laut Personenstandsgesetz bedürfte es auch keiner Regelungen der »Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen«, wie das TSG sie in seinem Titel verspricht. Zum Anderen werden grundlegender Gehalt und einzelne Regelungen des Gesetzes kritisiert, das zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung als fortschrittlich galt, inzwischen im Vergleich mit den Regelungen anderer Länder83 jedoch als konservativ zu bezeichnen ist. Die Vorstellung, dass erst eine bestimmte körperliche Morphologie zum Leben im einen oder im anderen Geschlecht berechtigt, wird hier gesetzlich festgeschrieben und damit allen davon abweichenden Geschlechterentwürfen die rechtliche Anerkennung verweigert. Insbesondere die Bestimmung, dass operativ eine andauernde Fortpflanzungsunfähigkeit erreicht worden sein muss, bevor eine Personenstandsänderung beantragt werden kann, wird als Zwangssterilisation kritisiert.84 Das ›Leiden am falschen Körper‹ und der daraus
82 »Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG)« vom 10. 9. 1980, in Kraft getreten am 1. Januar 1981; siehe http://bundesrecht.juris.de/tsg/index.html, Stand: 24.02.2010. Zu den im folgenden genannten Kritikpunkten vgl. exemplarisch die vom Transgender Netzwerk Berlin 2006 formulierten Vorschläge zu einer Reform des Gesetzes und deren Begründungen (http://www.tgnb.de/docs/tgnb_tsg_ nov.pdf; Stand: 24.02.2010) sowie die im Jahr 2009 von diesem Netzwerk zusammen mit TransInterQueer e.V. neu ausgearbeiteten Eckpunkte zu einer solchen Reform (http://www.transinterqueer.org/uploads/Eckpunkte _ TSG_April_09.pdf; Stand: 24.02.2010). 83 So bindet etwa das »Gender Recognition Act«, das 2004 in Großbritannien erlassen wurde, die rechtliche Anerkennung des (›transsexuellen‹) Zielgeschlechts nicht notwendig an die Voraussetzung körperverändernder medizinischer Maßnahmen; vgl. dazu sowie zu einer detaillierten Analyse des Gesetzes de Silva 2007. 84 Die Kritik richtet sich prinzipiell gegen den damit verbundenen Eingriff in die eigene Körperlichkeit betreffende Entscheidungen sowie gegen die mit der Sterilisation einhergehenden Regulierung von Reproduktivität (in diesem Fall soll gesetzlich sicher gestellt werden, dass es keine gebärenden Väter und keine zeugenden Mütter geben kann). Insbesondere die damit gesetzlich faktisch geforderte Hysterektomie für Transmänner wird von diesen eher selten gewünscht und oft als vollkommen überflüssiger und verletzender Eingriff empfunden. Auch von medizinisch-psychologischen Expert_innen wird die gesetzliche Festschreibung von Operationen als Voraussetzung für die Personenstandsänderung inzwischen grundsätzlich kritisiert: In einer Stellungnahme zur Revision des TSG bezeichnen Becker et. al. diese Voraussetzung als »aus wissenschaftlicher Sicht nicht mehr haltbar« (Becker et al. 2001: 261) und plädieren für »eine 127
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resultierende Operationswunsch, der lange Zeit das Verständnis von Transsexualität bestimmte, werden heute von vielen reformuliert als ein Leiden an gesellschaftlichen Normen, aufgrund derer nur eine bestimmte Körperlichkeit zum Leben im gewünschten und/oder gefühlten Geschlecht legitimiert. Welche körperlichen Veränderungen jeweils subjektiv als notwendig eingeschätzt werden, um ein zufriedeneres Leben zu ermöglichen, ist dabei sehr unterschiedlich. Einigen reicht etwa eine hormonelle Behandlung, während andere weiterhin das ›ganze Programm‹ anstreben, und dazwischen besteht eine breite Palette. Kritisiert wird auch, dass nach dem TSG Geschlechtseintrag oder Vornamen nur ändern lassen darf, wer sich zuvor einer pathologisierenden Diagnose unterzogen hat: Das Gesetz macht zwei unabhängige Gutachten professioneller Sachverständiger zur Voraussetzung sowohl für die Personenstands- als auch für die Vornamensänderung. Problematisiert wird allerdings nicht nur die damit verbundene Pathologisierung, sondern auch der in den Gutachterverfahren wirksam werdende Zwang, sich selbst gemäß den diagnostischen Kriterien zu präsentieren, um das gewünschte Gutachten zu erhalten.85 Die inzwischen auch auf der parlamentarischen Ebene verfolgten Bemühungen um eine grundlegende Reform des Gesetzes verliefen bislang weitgehend ergebnislos.86 Auch Transsexualität, so lässt sich zusammenfassen, wurde historisch als einer der Orte konstituiert, an denen die Widersprüche und Inkongruenzen der heteronormativen, somatisch fundierten Zweigeschlechtvollständige Abkoppelung der juristischen Anerkennung im gewünschten Geschlecht von operativen Eingriffen« (ebd.: 267). 85 Sowohl Lindemann (1993: 113ff.) als auch Hirschauer (1993: 121ff.) haben die subtilen und die weniger subtilen Machtwirkungen in solchen Gutachterverfahren präzise herausgearbeitet. 86 Seit Bestehen des Gesetzes wurden lediglich einige durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts angemahnte Änderungen vorgenommen, zuletzt im Juli 2009 die Streichung des Erfordernisses der Ehelosigkeit als Voraussetzung für die Personenstandsänderung (vgl. http://www.buzer.de/gesetz/ 8886/index.htm; Stand: 15.02.2010). Bei einem öffentlichen Fachgespräch bezüglich einer möglichen Reform des TSG, zu dem der Innenausschuss des Bundestages im Februar 2007 geladen hatte, waren hingegen sehr viel grundsätzlichere Änderungen diskutiert worden. Die Stellungnahmen der zu dieser Anhörung bestellten Sachverständigen finden sich unter http://www.bundestag.de/ausschuesse/a04/anhoerungen/Anhoerung04/Stel lungnahmen/index.html, Stand: 15.02.2010. Eine Stellungnahme mehrerer nicht als Sachverständige zugelassener politischer bzw. Selbsthilfe-Zusammenschlüsse von Trans*-Menschen findet sich unter http://www. bundestag.de/ausschuesse/a04/anhoerungen/Anhoerung04/Stellungnahme n_weitere/Stellungnahme04.pdf, Stand: 15.02.2010. 128
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lichkeit verhandelt oder, in Genschels Worten, »zwischengelagert« wurden. Basierend auf einer konzeptuellen Trennung zwischen Geschlechtsempfinden und Geschlechtskörper, verleiht das medizinische Projekt der Transsexualität seit den 1960er Jahren dem Wunsch, im anderen als dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zu leben, ein realitätsmächtiges Gewicht. Behandlungsprogramme und später auch rechtliche Regelungen machen es möglich, ›wirklich‹ im Wunschgeschlecht zu leben – eine Wirklichkeit, die auf der Ebene der (geschlechtlich bedeuteten) Morphologie und der rechtlichen Geschlechtsfeststellung abgesichert ist. Transsexualität wird damit zu einem möglichen geschlechtlichen Lebensentwurf – allerdings um den Preis der Pathologisierung: Während dem transsexuellen Wunsch zwar zur Wirklichkeit verholfen wird, bleibt er innerhalb des medizinisch-rechtlichen Diskurses gleichzeitig ein Symptom für eine ›Persönlichkeitsstörung‹. Zudem wird die Realisierbarkeit des Entwurfs an enge Kriterien gebunden. Die Diagnose der Transsexualität beruht auf der Feststellung eines ›Leidens am falschen Körper‹ sowie auf der Prüfung der Konstanz und Stimmigkeit des (›gegengeschlechtlichen‹) Geschlechtsempfindens; die Behandlung zielt teils immer noch auf eine möglichst weitgehende ›Vereindeutigung‹ zu einem der zwei möglichen Geschlechter, auch wenn dies auch im medizinisch-psychologischen Feld inzwischen hinterfragt und vielfach auch anders praktiziert wird. Pathologisierung, Vereindeutigungszumutungen und damit verbundene Ausschlüsse aus Behandlungsprogrammen und von rechtlicher Anerkennung werden seit den 1990er Jahren im Zuge der sich formierenden Transgender-Bewegung verstärkt kritisiert und im Horizont einer grundsätzlichen Problematisierung der zweigeschlechtlichen Ordnung thematisiert. Mit der Anfechtung medizinischer Definitionsmacht verbinden sich auch Anspruch und Möglichkeit, sich Zugehörigkeiten und Affinitäten nicht länger durch medizinisch geprägte Kategorien diktieren zu lassen. Unter dem Zeichen ›Transgender‹ werden nun auch transgeschlechtliche Entwürfe auf neue Weise artikulierbar, die nicht durch die Inanspruchnahme medizinischer Maßnahmen geprägt sind und/oder die nicht auf ein Leben ›als Mann‹ oder ›als Frau‹ zielen.
2.2.2 Drag Kinging im Kontext von Trans*- Zusammenhängen Die ersten Behandlungsprogramme, die später in ihren Grundzügen auch in Deutschland übernommen wurden, wurden in den USA etabliert, und hier formierten sich auch die ersten Transsexuellen-Organisationen sowie später die ersten Netzwerke und Aktivitäten einer Transgender129
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Bewegung. Zum Zeitpunkt der Entstehung der hiesigen Drag King-Kultur um die Jahrtausendwende hatten sich auch in Deutschland neue Zusammenschlüsse zu formieren begonnen und suchten ältere Transsexuellen-Organisationen nach neuen Konzepten.87 Insbesondere in Berlin entwickelte sich im Zeichen von Transgender eine Vernetzung, die auch auf Öffentlichkeitsarbeit und gesellschaftliche und politische Veränderungen zielte. 1996 wurde im Sonntagsclub88 erstmals die seitdem jährlich stattfindende Transgender-Tagung organisiert, eine Veranstaltung, die die Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch und Angebote zur Klärung persönlicher Fragen mit der Formulierung gemeinsamer politischer Ziele und der Auseinandersetzung um Strategien zu ihrer Umsetzung verbindet. Ebenfalls jährlich wird seit 1996 auch das bereits erwähnte Transgender-Festival Wigstöckel gefeiert, das sich mit seinem Namen in die Tradition des seit Mitte der 1980er Jahre in New York von Drag Queens und Transen veranstaltete Wigstock Festivals89 stellt und die Kunst der vielfältigen Berliner Drag- und Trans*-Performance-Szenen bündelt. Ein mehrstündiges Showprogramm mündet in einer bis zum Morgen dauernden Party; Infotische verschiedener Gruppen laden zum Gespräch ein, und an den Wänden werden Bilder und Geschichten von historischen Trans*-Persönlichkeiten als ›Walk of Fame‹ präsentiert. Um die Jahrtausendwende herum ging aus dem Festival ein Transgender-Forum mit dem Ziel der Vernetzung verschiedener Gruppen hervor, was wiederum 2001 den Anstoß zur Gründung des Transgender Netzwerk Berlin (TGNB) bildete. Mehr als 20 Gruppen aus dem Transgender- und Intersex-Spektrum gehören mittlerweile diesem Netzwerk an, das durch verschiedene Arbeitskreise öffentlichen Einfluss geltend
87 Vgl. zu Auseinandersetzungen und Veränderungen innerhalb der bundesdeutschen Transsexuellen-Selbstorganisierung seit Mitte der 1990er Jahre und der Entwicklung hin zu einem unter dem Stichwort ›Transgender‹ firmierenden neuen (wenn auch weiterhin umstrittenen) Selbstverständnis Regh 2002. 88 Der Sonntagsclub e.V. geht zurück auf die Selbstorganisierung zunächst schwuler Männer, später unter Einbeziehung von Lesben, Transsexuellen und Transvestiten, seit Mitte der 1970er Jahre in der damaligen DDR. Seit der ›Wende‹-Zeit ist er ein eingetragener Verein. Seitdem initiiert und ermöglicht der Verein am Prenzlauer Berg zahlreiche Projekte wie öffentliche Veranstaltungen rund um Sexualität und Geschlecht, psychosoziale und rechtliche Beratung, Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. In seinen Räumen treffen sich regelmäßig auch verschiedene Trans*-Gruppen. (Siehe http://www.sonntags-club.de, Stand: 24.02.2010.) 89 Der Name Wigstock ist wiederum eine ironische Bezugnahme auf Woodstock (wig = Perücke). Vgl. zum Wigstöckel-Festival http://www.wig stoeckel.com (Stand: 24.02.2010) sowie Schlönzke 2007. 130
DIE SZENE
zu machen versucht.90 Das TGNB und einige der in ihm vernetzten Gruppen beteiligten sich auch an der Ersten Europäischen TransGender Ratsversammlung, zu der sich im November 2005 Mitglieder von 64 Gruppen aus 23 Ländern in Wien trafen mit dem Ziel, europaweit »für die Anerkennung unserer selbst bestimmten Geschlechtlichkeit ohne Diskriminierung und Diskreditierung«91 zu kämpfen (d.h. insbesondere für eine Erleichterung der Personenstandsänderung, u.a. unter Verzicht auf Operationsvorschriften, und für einen rechtlichen Schutz vor Diskriminierungen aufgrund des Geschlechtsausdrucks).92 Aus dem Umfeld des TGNB heraus wurde im September 2006 der Verein TransInterQueer (TrIQ) gegründet, der Beratungs-, Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu Trans- und Intergeschlechtlichkeit und zu queeren Lebensweisen leistet.93 Die Aktivitäten der auf diese Weise vernetzten Gruppen und Zusammenhänge zielen also sowohl darauf, Einstellungen und Entscheidungen im medizinischen, psychosozialen, rechtlichen und parlamentarischen Bereich zu beeinflussen, als auch auf eine subkulturell verankerte Selbstorganisierung, durch die alternative geschlechtliche Selbstentwürfe, Bezugnahmen und Artikulationsmöglichkeiten generiert und unterstützt werden. Die im Entstehen begriffene Transgender-Szene bildet einen der Horizonte, in denen Drag Kinging als eine sinnhaft verstehbare Praxis entwickelt und verbreitet wurde; und umgekehrt wurde die Entwicklung der Transgender-Szene durch Praxen und soziale Zusammenhänge des Kinging mit geprägt. Von Anfang an haben sich hiesige Drag-KingZusammenhänge nicht nur in Sinnhorizonten, sondern auch in Netzwerken der Transgender-Gruppen verortet. So gehörte das Drag King90 Siehe http://www.tgnb.de, Stand: 24.02.2010. Die Arbeitskreise ›Beratung und Fortbildung‹, ›Recht‹ und ›Öffentlichkeitsarbeit‹ suchen Kontakte zu Entscheidungsträger_innen und Multiplikator_innen im psychosozialen, gesundheits- und rechtspolitischen Bereich und verfassen z.B. Stellungnahmen und Presseerklärungen. Der 2004 gegründete wissenschaftliche Beirat des Netzwerks zielt auf die Unterstützung und Verbreitung einer den Anliegen von Transgender- und Intersex-Bewegungen verpflichteten Forschung und gibt seit 2007 die Online-Zeitschrift Liminalis heraus (siehe http://www.liminalis.de, Stand: 24.02.2010). 91 Zitiert aus der Presseerklärung der Veranstalter_innen; vgl. http://tgeu.net/ PubAr/Documents/Co01/Press/A_transx_PressRelease.pdf, Stand: 24.02. 2010. 92 Vgl. zu Anfängen und Entwicklung von Transgender-Interessenvertretung und Lobbypolitik auf europäischer Ebene Beger 2004. – Die zweite europäische Transgender-Ratsversammlung fand im Mai 2008 in Berlin statt; siehe http://www.tgeu.org/council2008, Stand: 24.02.2010. 93 Siehe http://www.transinterqueer.org, Stand: 24.02.2010. 131
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
dom mit zu den Gründungsinitiativen des TGNB, dem auch die Performance-Gruppe Kingz of Berlin angehört. Seit mehreren Jahren sind Drag Kings regelmäßig bei der Transgender-Tagung präsent, sowohl als Besucher_innen als auch als Referent_innen und Performer_innen im begleitenden Show-Programm; und sie beteiligen sich an Konzeption und Organisation sowie auf der Bühne am Wigstöckel-Festival. Dass ›Transgender‹ eine Zusammenarbeit über unterschiedliche geschlechtliche Verortungen und Verkörperungen hinweg ermöglicht, bedeutet jedoch nicht, dass dies immer konfliktfrei verläuft und dass historisch konstituierte wechselseitige Abgrenzungen ihre Wirkmächtigkeit vollständig verloren hätten. Davon zeugen auch die bereits angesprochenen Konflikte und gegenseitigen Vorbehalte von Drag Kings und Transmännern, die nun etwas genauer betrachtet werden sollen.
Drag Kings und Transmänner: Wechselseitige Abgrenzungen Viele derjenigen, die bei den Anfängen des Kinging in Deutschland dabei waren, hatten vorher oder zeitgleich Erfahrungen mit diversen Transmann-Zusammenhängen gemacht, hatten Stammtische besucht, über medizinische Schritte nachgedacht oder diese bereits vollzogen. Eine explizite Abgrenzung von den im medizinisch-rechtlichen Dispositiv verankerten Konzeptionen von Transsexualität konstituierte eine (spätere) Verortung in Drag King-Zusammenhängen und ein damit verbundenes geschlechtliches Selbstverständnis mit. Aus dieser Verortung heraus kritisieren einige der Interviewten Vorstellungen und Normen, mit denen sie in Transmann-Zusammenhängen konfrontiert wurden. So gewann etwa Filip durch Informationen solcher Gruppen den Eindruck, »man muss irgendwie von Anfang an immer Junge gewesen sein und sich so gefühlt haben«, um als Transmann zu gelten, und zog daraus für sich zunächst den Schluss: »also wenn das das heißt, dann bin ich das nicht«. Andere formulieren schärfer, dass Transmann-Zusammenhänge nicht nur ihren eigenen spezifischen Bedürfnissen nicht entsprachen, sondern dass sie dort einen starken normativen Druck empfanden. So erzählt Till von seinen Eindrücken bei einem Transmann-Stammtisch: »Das hat mir halt einfach nicht gefallen, dass -, du sollst Hormone nehmen, so schnell wie möglich ’ne Operation haben und dich so schnell wie möglich anpassen, diese komischen Passing-Kurse da, wie beweg’ ich mich am besten als Mann oder so, ähm, das wollte ich alles nicht machen, das war einfach nicht mein Ding.« (Int. 7)
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DIE SZENE
Ähnlich erlebte Tino die Atmosphäre bei einem Transmann-Treffen: »[D]as ist auch schon länger her, aber damals war halt noch sehr dieses von A nach B, so, und das fand ich halt -, also das hat mir nicht so gefallen, weil ich halt von Anfang an fand, dass es sehr viel dazwischen gibt und dass man das auch nicht irgendwie -, also man muss nicht von A nach B, um glücklich zu werden, sondern jeder muss halt seins finden. Also das war das eine, was mir nicht so gefallen hat, und das zweite war dieses -, irgendwie: Wenn du erst mal Hormone nimmst, wird alles gut, also wird dein Leben endlich mal die richtige Richtung kriegen. Und das fand ich auch eigentlich ’n bisschen leichtsinnig, das halt Leuten zu vermitteln, die in so ’ner Entscheidungsphase [waren].« (Int. 8)
In all diesen Zitaten geht es nicht um eine generelle Ablehnung des Einsatzes von körperverändernden medizinischen Technologien (die im übrigen zum Zeitpunkt der Interviews von allen Dreien auf unterschiedliche Weisen genutzt wurden). Im Zentrum der Kritik stehen vielmehr Vorstellungen von Binarität und Eindeutigkeit in Bezug auf Geschlecht: Die normative Konzeption der Geschlechtsveränderung als Weg »von A nach B« und die angestrebte Konformität mit herrschenden Geschlechtervorstellungen; das sich »anpassen« sowohl durch körperverändernde medizinische Praxen als auch durch das Erlernen geschlechtstypischer Verhaltensweisen (»diese komischen Passing-Kurse da, wie beweg’ ich mich am besten als Mann oder so«) sowie die (narrativ hervorzubringende) Eindeutigkeit und Konstanz der geschlechtlichen Identität (die Forderung, »von Anfang an immer Junge gewesen zu sein und sich so gefühlt haben« zu sollen). Demgegenüber formulieren die Interviewten einen Anspruch auf Individualität (sein eigenes »Ding« zu machen; »jeder muss halt seins finden«), was allerdings auch beinhaltet, die Verantwortung für den eigenen Weg selbst zu tragen und sich von den Versprechungen der Medizin frei zu machen (von dem Glauben: »Wenn du erst mal Hormone nimmst, wird alles gut«). Von einigen wird die Drag King-Szene gerade in Abgrenzung zu Kontexten der Transsexuellen-Selbsthilfe als Ort der freien Entfaltung jeder und jedes Einzelnen dargestellt. Die Selbstwahrnehmung der Szene, offen zu sein für unterschiedlichste geschlechtliche Lebensentwürfe und für die Wahl der Mittel zu ihrer Umsetzung, wurde jedoch umgekehrt zumindest zu Beginn von einigen Transmännern offensichtlich nicht geteilt. So wie sich einige Drag Kings an manchen Transmann-Gruppen störten, fanden sich viele Transmänner mit ihren Selbstverständnissen und Interessen in der entstehenden Drag King-Szene nicht wieder und formulierten Unbehagen und Kritik. Tino beschreibt
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GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
seine Wahrnehmung aus der Anfangszeit der Drag-King-Szene wie folgt: »[A]m Anfang haben zum Beispiel auch nicht nur -, also wer negativ reagierte, waren also nicht nur die Lesben-Szene, sondern auch die TransmannSzene, weil die gesagt haben: Ihr macht euch lustig über uns, also wir haben hier ’nen harten Kampf, zu leben, also jeden Tag zu kämpfen, um durchzukommen als -, und ihr macht euch einfach ’nen Bart dran und macht euch auf der Bühne drüber lustig. Also die waren auch sehr kontra, weil sie sich halt in ihrem eigenen täglichen nicht einfachen Dasein irgendwie auf die Schippe genommen fühlten von ein paar Leuten, die sich sozusagen einen Spaß draus machen.« (Int. 8)
Tinos Eindruck nach ging es einigen Transmännern vor allem darum, die Ernsthaftigkeit ihres eigenen Geschlechterentwurfs zu betonen und auf die täglichen Kämpfe und Schwierigkeiten zu verweisen, die dessen konsequente Umsetzung nach sich zieht. Aus dieser Perspektive gerät Kinging in den Verdacht, eine bloß spielerische und auf die Bühne beschränkte Praxis zu sein, die nicht dazu zwingt, sich alltäglichen Auseinandersetzungen zu stellen. Der ironische und parodistische Bezug auf männlich codierte Ausdruckweisen, wie er für viele Drag King-Performances charakteristisch ist, wird zudem offensichtlich von einigen Transmännern als Verballhornung ihrer eigenen (ernsthaften) Investition in solche Ausdrucksweisen begriffen.94 Zudem läuft die besondere Form der Sichtbarkeit, die durch Praxen des Kinging angestrebt wird, den Interessen einiger Transmänner zuwider. Auch wenn viele Kings in vielen Situationen als Männer durchgehen (wollen), ist die Investition in eine auch auf Öffentlichkeit zielende Szene zunächst einmal eine Form des Anti-Passing: Geschlechtliche Inkongruenzen werden hier sichtbar gemacht, inszeniert und expliziter Bestandteil möglicher Verortungen. Dies macht die dadurch eröffneten Räume nicht nur ungeeignet für diejenigen, denen vor allem daran gelegen ist, möglichst eindeutig und zweifelsfrei als Männer durchzugehen; indem Praxen des Kinging insgesamt auf eine Transformation von Wahrnehmungsweisen zielen, in denen nur zwei Geschlechter sichtbar werden, verändern sie tatsächlich das Terrain, auf dem Strategien des passing gelingen oder scheitern können. Dominique formuliert entsprechende Vorbehalte von Transmännern:
94 Vgl. zur Bedeutung der Unterscheidung zwischen ›ernsthaften‹ und ›spielerischen‹ bzw. ›spaßigen‹ Geschlechterpraxen als Linie von Abgrenzungen zwischen Transmännern und Drag Kings ausführlich Franzen 2007. 134
DIE SZENE
»[S]ie hatten ’n Problem damit teilweise, manche haben’s vielleicht auch immer noch, denke ich, dass sie Drag King als Spaß wahrnehmen, als PartyGag oder irgendwie nur so Spaß am Verkleiden. Und für sie ist es halt sehr hart im Alltag, damit umzugehen, und gerade wenn sie noch keine Hormone nehmen und versuchen, als Mann durchzugehen, zu denselben Mitteln greifen, aber es ist kein Spaß und sie wollen nicht auffallen und sie wollen nicht als Drag King betitelt werden, was ja auch logisch ist.« (Int. E)
Einige Transmänner, so Dominique, greifen »zu denselben Mitteln« wie Drag Kings – zu denken ist etwa an das Kleben von Bärten, an Techniken des Brustabbindens, an männlich codierte Kleidungsweisen – aber sie »wollen nicht auffallen und sie wollen nicht als Drag King betitelt werden«, sondern eben als Männer wahrgenommen werden. Wenn in bestimmten Szenen, Räumen oder gar Stadtvierteln etwa das Tragen eines Bartes nicht mehr automatisch dazu führt, dass der/die Träger_in als Mann wahrgenommen wird, sondern eben auch als Drag King gelesen werden kann, wird passing tatsächlich schwieriger.
Formen der Zusammenarbeit und Durchdringung unterschiedlicher Szenen Solche gegenseitigen Abgrenzungsbemühungen und Auseinandersetzungen stehen neben einer ebenfalls von Beginn an von den Initiator_innen der ersten Drag King-Zusammenkünfte und einigen Transmann-Zusammenhängen angestrebten Zusammenarbeit. Wie bereits erwähnt, zeichnete sich in einigen Transsexuellen-Organisationen bereits ein verändertes Verständnis von Transsexualität bzw. Transgender ab. Die hier von einigen Interviewten gezeichneten Bilder rigider normativer Vorstellungen bezüglich Identität und entsprechender geschlechtlicher Ausdrucksweisen und Anpassungsleistungen von Transsexuellen wurden in den entsprechenden Zusammenhängen selbst längst kritisiert und hinterfragt. Ein Beispiel dafür ist der Verein TransMann e.V., der 1999 aus dem Kölner Transmen-Stammtisch hervorgegangen war. Gründungsmitglied Alex Regh beschreibt die Gründung des Vereins im Kontext der Entwicklung von Transsexuellen-Selbsthilfegruppen hin zu einer Situierung in der sich formierenden Transgender-Bewegung: Trotz seiner Wurzeln in der Transsexuellen-Selbsthilfe positionierte sich der Verein in Abgrenzung zu dem medizinisch-psychologischen Establishment und den damit verbundenen Konzeptionen von Transsexualität, die die Selbsthilfe lange Zeit geprägt hatten. Dies zeigte sich u.a. in einem sehr weiten Verständnis des Begriffs Transmann und im damit verbundenen Anspruch des Vereins, »eben nicht nur für Frau-zu-Mann-Trans135
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
sexuelle oder Transidenten da zu sein, sondern für Transmänner, also für alle Menschen, die sich mit dem zugewiesenen Geschlecht ›weiblich‹ falsch oder unzureichend umschrieben fühlten« (Regh 2002: 195; Herv. i. O.).95 Mit einem solchen Selbstverständnis bot sich der Verein als Bündnispartner für das im Entstehen begriffene Kingdom of Cologne geradezu an. TransMann e.V. war an der bereits erwähnten Veranstaltung zu ›Maskulinität in der Lesbenszene‹ aktiv beteiligt; die beiden Gruppen organisierten gemeinsame Auftritte und Infotische bei CSD-Paraden, und vor allem versuchten sie gemeinsam, eine Szene aufzubauen, in der rigide Abgrenzungen zwischen Lesben, Transmännern und denen, die sich in beiden Gruppen nicht wiederfanden, überwunden werden sollten. In einem Newsletter des TransMann e.V. aus dem Jahr 2002 wirbt Luca Nils alias ›Luke the Duke‹ bei den Mitgliedern des Vereins für die Ausnahme-Party des Kingdom of Cologne und dafür, wechselseitig die entsprechenden Stammtische zu besuchen. Zur Kölner Tafelrunde schreibt er: »Hier haben alle Drag Kings, Gender Bender, Transgenders, FreundInnen und Interessierten die Möglichkeit, sich auszutauschen. Die meisten BesucherInnen haben einen lesbisch-queeren Hintergrund, willkommen sind aber Leute aller Couleur. Gerade wenn Ihr auf der Suche nach Tipps für den perfekten Kunst-Bart seid, oder als Transmann mit lesbischem Hintergrund Lesben sucht, die bei Eurem Anblick nicht gleich in Ohnmacht fallen, oder wenn Ihr einfach mal Lust habt, über den Rand Eurer eigenen Schublade zu schauen, dann lohnt sich ein Besuch des DragKingdom-Stammtisches auf jeden Fall!«96
Der Stammtisch wird als ein durch lesbische Traditionen geprägter, aber nicht darauf beschränkter und als explizit nicht-transphober Ort präsentiert. Der Drag King-Zusammenhang wird so als eine Gelegenheit vorgestellt, wechselseitige Vorbehalte zwischen Lesben und Transmännern, die hier implizit adressiert werden (indem betont wird, dass man den lesbisch-queeren Hintergrund nicht teilen muss, um dort willkommen zu sein, und dass die dortigen Lesben beim Anblick von Transmännern nicht in Ohnmacht fallen), zu überwinden.97
95 Zu Selbstverständnis und Zielen des inzwischen bundesweit aktiven Vereins vgl. auch http://www.transmann.de, Stand: 24.02.2010. 96 Newsletter des TransMann e.V. 1-2/2002: 15; zitiert nach http://www. transmann.de/downloads/newsletter_200102_02.pdf, Stand: 24.02.2010. 97 Wechselseitige Abgrenzungsbemühungen, aber auch ›Konkurrenzen‹ um ›Männlichkeit‹ zwischen Lesben und Transmännern, die den zuvor skizzierten Konfliktlinien zwischen Drag Kings und Transmännern ähneln, 136
DIE SZENE
Derart explizite Werbe-Bemühungen sind inzwischen in weiten Kreisen Kölns und Berlins nicht mehr nötig. Übereinstimmend berichten die Interviewten von einer gegenseitigen Öffnung verschiedener Szenen füreinander und von einer Zunahme an personellen Überschneidungen und geteilten Räumen. So sagt Tino über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Transmann- und Drag King-Zusammenhängen: »Und inzwischen haben sich die Szenen ja durchaus auch verbunden, so, durch Leute, die irgendwo dazwischen sind und sich überall zu Hause fühlen, also inzwischen ist das Verhältnis, glaub’ ich, sehr, sehr entspannt, weil es einfach auch sehr viele Leute gibt, die sowohl in der Szene beheimatet sind als auch in der, beziehungsweise es wächst irgendwie immer mehr zusammen. Und das ist eigentlich ’ne sehr schöne Entwicklung, finde ich.« (Int. 8)
Die Durchlässigkeit verschiedener Szenen und damit verbundener geschlechtlicher Lebensentwürfe zeigt sich auch in Austausch und Diskussionen innerhalb der Drag King-Szene. So werden auf der Drag Kingdom-Mailingliste regelmäßig Themen erörtert, die auch Gegenstand des Austauschs auf expliziten Transmann-Mailinglisten sind. Die Wirkungen verschiedener Hormonpräparate und OP-Techniken werden diskutiert, Erfahrungen mit Gutachter_innen und Ärzt_innen ausgetauscht und Empfehlungen gegeben, Tipps und Tricks für Begutachtungs- und Gerichtsverfahren und für den Umgang mit den Krankenkassen geteilt, Ängste vor dem Trans*-Coming Out bei der Arbeit, in der Familie und bei Freund_innen geäußert und mögliche Strategien dafür erörtert; berichtet wird über Veranstaltungen zu Transsexualität und Transgender, über politische Gruppen und Organisationen und deren Aktivitäten, über Gerichtsentscheidungen zu Fällen von Diskriminierung aufgrund von Transsexualität, über gesetzliche Neuregelungen oder deren Scheitern. Dies findet jedoch in einem Raum statt, in dem medizinische körperverändernde Praxen als Möglichkeiten unter vielen anderen gelten und in dem zudem offen bleibt, welche Selbstentwürfe damit einhergehen. Was das heißen kann, soll hier kurz anhand eines Beispiels skizziert werden. Auf der Liste meldet sich eine Person zu Wort, die hier Jen genannt werden soll. Jen, relativ neu auf der Liste, schildert seine/ihre gegenwärtige Verzweiflung und Verwirrung darüber, nicht zu wissen, ob er/sie als Mann oder Frau leben will, äußert den Wunsch, »dazwischen« zu leben, fragt sich, ob das gehen kann, und bittet die anderen Listenteilnehmer_innen um Hilfe. Der Grundtenor der Antworten, die Jen behaben Jacob C. Hale und Judith Halberstam als »Butch/FTM Border Wars« diskutiert; vgl. Hale 1998; Halberstam 1998a. 137
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kommt, ist der, dass es keine Notwendigkeit der Entscheidung zwischen zwei Geschlechtern gibt, dass Alternativen dazu möglich, aber oft schwierig zu leben sind, und dass nur Jen selbst herausfinden kann, mit welcher Lebensweise er/sie sich am wohlsten fühlt. Der Verweis auf die individuell zu treffende Entscheidung bedeutet jedoch nicht, dass Jen einfach sich selbst überlassen würde. Hilfe wird angeboten in Form von sensiblen Nachfragen und Ermutigungen, aber auch durch Schilderungen eigener Entwicklungen und damit verbundener Zweifel und Ängste sowie sich abzeichnender Möglichkeiten. Dabei werden auch verschiedene Formen eines »Dazwischen« sichtbar: etwa ein zeitweiliges passing als Mann mit Hilfe von Kleidung, Auftreten und Drag King-Bart, ohne sich dabei tatsächlich ›als Mann‹ positionieren zu wollen; oder eine Entscheidung für Testosteron und Brust-OP nach Jahren des Zögerns, die Erleichterung darüber und die Verortung in queeren Zusammenhängen, in denen trotz der veränderten Körperlichkeit eine geschlechtliche Uneindeutigkeit sichtbar bleibt. Jen, den das Thema offensichtlich schon länger umtreibt, fragt im Folgenden nach Empfehlungen für eine_n Psychotherapeuten/in sowie nach Möglichkeiten des Zugangs zu Testosteron und nach den damit verbundenen (insbesondere psychischen) Wirkungen. Sie bekommt die gewünschten Informationen; damit verbunden ist eine zum Teil auch kontroverse Diskussion zwischen verschiedenen Listen-Teilnehmer_innen: Während Jens Wunsch nach einer Psychotherapie von allen selbstverständlich respektiert wird, werden unterschiedliche eigene Haltungen dazu geäußert; einige lehnen psychotherapeutische Auseinandersetzungen für sich selbst ab und suchen nach Wegen, dem im medizinischen Verfahren festgeschriebenen Therapiezwang strategisch zu begegnen; andere wenden sich ebenfalls gegen den Zwang, empfehlen aber dennoch eine therapeutische Begleitung. Die Frage nach der Wirkung von Testosteron wird mit verschiedenen Erfahrungsberichten beantwortet. Diese werden wiederum von anderen kommentiert und zum Teil auch vorsichtig relativiert; so wird zum Beispiel vorgeschlagen, Veränderungen von Sexualität und Begehren nicht allein auf Hormone zurückzuführen und auf die Bedeutung von sozialen Kontexten, eigenen Verortungen, kulturellen Bildern etc. verweisen. Unabhängig von der Frage nach den Wirkungen raten einige dazu, sich mit der Entscheidung viel Zeit zu lassen und Testosteron als eine unter vielen möglichen Lösungen zu betrachten. Als sich die Diskussion im Zuge der Erörterung möglicher Wirkungen von Hormonen auch um Krafttraining dreht, wendet sich eine Diskutantin gegen die in der Debatte mitschwingende Assoziation von (trainierten, großen) Muskeln mit Männlichkeit und reklamiert ihren eigenen, ebenfalls durch Krafttraining geprägten Umgang mit ihrer Körperlichkeit als eine Form 138
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von Weiblichkeit. Ihr wird spontan zugestimmt und zuvor Gesagtes als Aussage über ein rein persönliches Empfinden relativiert; dabei wird zum Teil auch eingeräumt, dass trotz eigener Kritik an normativen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit eigene Körperwünsche und -bilder auch von solchen Vorstellungen mitgeprägt sind. An dieser Skizze zeigt sich etwas, was generell den Austausch auf der Mailingliste prägt: Persönliche und individuell artikulierte Wünsche, Bedürfnisse, Zweifel und Ängste werden sehr ernst genommen und im Austausch darüber geht es primär darum, in einer Praxis gegenseitiger Sorge Hilfestellungen für ein subjektiv als ›besser‹ oder zufriedener empfundenes Leben zu geben. Zugleich werden gesellschaftliche und soziale Bedingtheiten solcher Wünsche und Bedürfnisse, werden auch Zwänge und Abhängigkeiten nicht dethematisiert, sondern kritisch und oft auch kontrovers diskutiert – ausgehend von und immer wieder rückgebunden an konkrete Erfahrungen. Verbindungen und Verflechtungen zwischen Drag King- und Transmann-Szenen prägen nicht nur den ›internen‹ Austausch, wie die eben beschriebene Kommunikation auf der DragKingdom-Mailingliste, sondern auch nach ›außen‹ gerichtete Aktivitäten – etwa durch die gemeinsame Arbeit in den oben skizzierten Transgender-Netzwerken, in denen sich auch viele Transmann-Zusammenhänge situieren. So bieten etwa Drag King-Performer_innen regelmäßig Drag-Workshops auf der Transgender-Tagung an – mal vor allem an Transmänner gerichtet mit dem Schwerpunkt, Techniken des passing zu vermitteln, mal offener ausgeschrieben als Gelegenheit, unterschiedliche geschlechtliche Inszenierungsmöglichkeiten auszuloten. Und auf der Bühne des WigstöckelFestivals werden Übergänge zwischen deutlich als solchen zu erkennenden Drag King-Inszenierungen und der Artikulation (anderer) FTMTransgeschlechtlichkeiten fließend (auch wenn diese nicht unbedingt als ›klassische‹ Transmännlichkeiten lesbar sind). Gemeinsam sorgen unterschiedliche Performer_innen jedenfalls dafür, dass der Name des Festivals nicht länger Programm ist – dass nicht nur Perücken und Stöckelschuhe, sondern ebenso sehr Baseball-Caps, tätowierte Oberarme und Bärte aller Art und Form das Bild auf der Bühne prägen. Eine spezifische geschlechtliche Verkörperung und Verortung artikuliert J-Fresh von der Gruppe Too Many MCs, durch Kleidung und Gestik deutlich als Rapper zu erkennen, in seinem Song »Hör zu« bei seinem WigstöckelAuftritt im Jahr 2005: »Zieh mich in der Umkleide aus/und allen fallen fast die Augen raus/Du starrst gerade auf meine Titten, Alte/Willst du sie anfassen, gucken ob sie echt sind/ 139
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Ich erzähl dir was ich echt beschissen find/Ich bin nicht im falschen Körper zur Welt gekommen/die Gesellschaft hat mir meine Identität genommen/Sie geformt und mir erzählt, wo ich hingehöre/Doch darin fühle ich nichts, nur Leere.«
J-Fresh thematisiert in diesen Zeilen eine Form von Gewalt, der bestimmte geschlechtliche Verkörperungen alltäglich ausgesetzt sind, und stellt diese in den Kontext gesellschaftlicher Identitäts-Zumutungen. Auch er artikuliert damit einmal mehr den paradigmatischen Shift von der klassischen Formel des Leidens am ›falschen Körper‹ hin zu einer Kritik der gesellschaftlichen Verfasstheit somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit; ein Paradigmenwechsel, der gegenwärtige Transgender-Zusammenhänge bei all ihrer Heterogenität und ihren internen Auseinandersetzungen nachhaltig prägt.
2.3 Links-alternative Bezüge In den beiden vorangegangenen Abschnitten wurde gezeigt, dass und wie sowohl lesbische als auch Trans*-Zusammenhänge gewissermaßen Bedingungen der Möglichkeit von Praxen des Kinging darstellen. Als eine lesbische und als eine Trans*-Praxis ist Kinging in gegenwärtige Auseinandersetzungen und Neuorientierungen in den genannten Kontexten involviert, prägt diese Kontexte mit und trägt auch zu ihrer zunehmenden Verflechtung und Überschneidung, zur Entwicklung trans*queerer Räume und Szenen bei. Die genannten Kontexte sind in sich heterogen und teils in unterschiedliche Sub-Szenen ausdifferenziert, und das nicht nur – wie gezeigt wurde – hinsichtlich unterschiedlicher Haltungen zu und Verkörperungen von Geschlecht, sondern auch hinsichtlich sonstiger kultureller und politischer Bezüge. Heterogen in dieser Hinsicht ist auch die Drag King-Szene selbst: In Szene-Diskussionen (z.B. auf der Mailingliste) und auch in den Interviews artikulieren sich höchst unterschiedliche politische Haltungen und auch unterschiedliche Haltungen dazu, was überhaupt als ›politisch‹ begriffen wird. Während einige Kinging explizit in den Horizont politischer – und d.h. in der Regel linker, emanzipatorischer – Traditionen und gegenwärtiger Kämpfe stellen, können andere an ihrer Praxis nichts Politisches sehen oder bezeichnen sich selbst als ›unpolitische Menschen‹. Dieser Heterogenität zum Trotz sind die kollektiven Aktivitäten, Organisationsformen und Kooperationen der Drag King-Szene weithin durch links-alternative Bezüge geprägt. Dies zeigt sich z.B. in gemeinsamen Projekten und personellen Verflechtungen zwischen Drag King- und links-alternativen Szenen – so gibt es 140
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etwa sowohl in Berlin als auch in Köln enge Verbindungen zu Bauwagenplätzen, zu besetzten Häusern und anderen Wohnprojekten, und finden Drag King-Veranstaltungen und Shows häufig in dezidiert als links ausgewiesenen Räumen statt. Es zeigt sich auch in der Verwendung von Symbolen und ästhetischen Bezügen. So werden etwa mit dem Logo des Kingdom of Cologne, in dem das ›of‹ vor dem Hintergrund eines fünfzackigen Sterns prangt, und dem ›Anarcho-A‹ (ein A im runden Kreis), das sich im Drag Kingdom-Schriftzug auf T-Shirts und Flyern findet, der ›Autonomen‹-Szene entstammende Symbole explizit aufgegriffen. Und es zeigt sich schließlich in den Organisationsformen und Arbeitsweisen, in denen Praxen des Kinging entwickelt und verbreitet werden. So ist es für alle Netzwerke und Gruppen der Szene charakteristisch, ausschließlich auf (zumindest formal) nicht-hierarchische Formen der Selbstorganisierung zu setzen. Charakteristisch ist auch das Bestreben, alle Veranstaltungen der Szene nicht-kommerziell und den Zugang niedrigschwellig zu halten (was z.B. über bewusst niedrige Eintritts- und Getränkepreise, mit denen lediglich die Kosten der Partys o.ä. gedeckt werden sollen, zu erreichen versucht wird). Charakteristisch ist schließlich die Art und Weise kultureller Produktion: Die aus dem Punk stammende Haltung des ›Do it yourself!‹ (DIY), die auf eine Demokratisierung kultureller Ausdrucksformen und tendenziell auf eine Aufhebung der Trennung von (kultureller) Produktion und Konsumption zielt (vgl. Calmbach 2007: 100ff.), zeigt sich in den fließenden Übergängen zwischen professionellen Performances, spontan auf die Bühne gebrachten Experimenten, ersten Erprobungen in Workshops und veralltäglichten Darstellungspraxen. Sie zeigt sich auch in den vielfältigen Formen von Beteiligung an der Gestaltung der Szene: performen, texten und rappen, Musik auflegen, kleinere Filme produzieren, photographisch arbeiten, Flyer entwerfen, Websites gestalten, Beiträge für die Krone schreiben oder zeichnen, die Zeitschrift redaktionell betreuen und vertreiben, Vorträge halten, Workshops und Stammtische organisieren, mit Infotischen Präsenz zeigen, Licht- und Tontechnik verantworten, an der Theke arbeiten, Pressearbeit machen und vieles mehr. Solche kaum formalisierten und wechselnden Beteiligungen verhindern einerseits festgeschriebene Hierarchien und halten die Schwelle für den Zugang neuer Interessierter niedrig. Dass fast alle diese Arbeiten unentgeltlich geleistet werden und auch die bekanntesten Performer_innen der Szene von ihren Gagen allein nicht leben können, löst aber andererseits auch Diskussionen über das noch erträgliche Maß an Selbstausbeutung aus und stellt die Beteiligten vor das Problem der Vereinbarkeit ihres Engagements mit der Notwendigkeit, die eigene Exis141
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tenz über Lohnarbeit zu sichern. Einige der von mir Interviewten berichten, dass ihre Arbeit in der und für die Szene (sei es als Performer_in oder Organisator_in verschiedener Aktivitäten) über längere Zeiträume hinweg das zeitliche Ausmaß einer Halbtagsstelle annimmt. Vor diesem Hintergrund problematisieren die Sissy Boyz in einem Interview für das von Thilmann et al. (2007) herausgegebene Drag King-Buch eine in vielen links-alternativen und auch feministischen Zusammenhängen verbreitete Haltung, unbezahlte Arbeit selbstverständlich zu erwarten: »Die meisten von uns sind in mehr als prekären Arbeitsverhältnissen, wie das als Frau und Künstlerin leider Tradition hat«, sagt Steve (ebd.: 72), und deshalb könnten sie sich (zuviel) unbezahlte Arbeit schlicht nicht leisten. Mike fügt hinzu, dass in der Erwartung, aus Solidarität (etwa bei einem Ladyfest) auf eine Gage zu verzichten, auch die gängige Praxis perpetuiert werde, Frauen für ihre Kunst nicht oder zu wenig zu bezahlen, und damit genau zu der von Steve benannten Prekarisierung beizutragen. Beide beschreiben dies als ein Dilemma, durch das sie sich gezwungen sehen, auch »kommerziellere« Veranstaltungen wahrzunehmen und andere, die sie politisch bevorzugen würden, abzulehnen (vgl. ebd.). Aus einer Praxis heraus, die weitgehend auf die Schaffung selbstorganisierter, nicht-kommerzieller Räume zielt, wird auch die Kommerzialisierung und Entpolitisierung vieler schwul-lesbischer Szenen und Veranstaltungen kritisiert. Insbesondere die jährlich stattfindenden Großereignisse zum Christopher Street Day (CSD), mit denen an die ›Stonewall Riots‹ von 1969 als der Initialzündung der neueren lesbischschwulen Emanzipationsbewegungen erinnert wird, werden in der Drag King-Szene wiederholt zum Anlass kritischer Interventionen genommen. Anlässlich der Planungen zu den Kölner CSD-Veranstaltungen im Jahr 2005 veröffentlichte etwa das ›Orga-Team‹ des Kingdom of Cologne ein Positionspapier, in dem die Kölner Kings ihre Absage an die Veranstalter_innen des ColognePride begründen, sich am offiziellen Programm des Ereignisses zu beteiligen.98 In ihrem Statement erinnern sie an die ›Stonewall Riots‹ als ein Ereignis radikalen Widerstands gegen Staatsgewalt und gesellschaftliche Normen und setzen dem ihre Wahrnehmung heutiger Pride-Veranstaltungen entgegen, auf denen man »statt autonom agierender Gruppen […] nun Global-Player-Firmen, eta98 Siehe http:// www.kingdom-of-cologne.de / kingdomofcologne_paper_csd 2005.pdf, Stand: 24.02.2010. Es handelt sich um ein vom ›Orga-Team‹ des Kingdom of Cologne verfasstes Positionspapier, das nicht den Anspruch erhebt, die Haltung ›der‹ Drag King-Szene zu repräsentieren. Entsprechende lobende und die Argumentation unterstützende Einträge im Gästebuch der Kölner Website zeigen jedoch zumindest, dass die Verfasser_innen mit ihrer Position nicht allein sind. 142
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blierte Parteien und kommerzielle Veranstalter durch die Straßen ziehen« sieht (ebd.). Ihre Kritik an der Entpolitisierung und Kommerzialisierung des Ereignisses, die sie durch entsprechende werbewirksame Zitate der Veranstalter_innen und durch eine Diskussion der Einflussnahme durch Sponsor_innen untermauern, verbinden sie mit ihrer Einschätzung, dass durch die Veranstaltung trotz aller schrillen Inszenierungen herrschende geschlechtliche und sexuelle Normen letztlich nicht angegriffen würden. Sie bezweifeln, dass der Beifall der Massen eine tatsächliche Akzeptanz ausdrückt, sondern vermuten eher eine Wahrnehmung als exotisches Spektakel, als bunte Vielfalt, die konsumierbar sei, ohne gängige Normalitätsvorstellungen in Frage stellen zu müssen. Dafür möchten sie selbst nicht zur Verfügung stehen: »Mit einer Erwähnung des ›Kingdom of Cologne‹ im Programm des KLUST [des Kölner Lesben- und Schwulentags e.V., offizieller Veranstalter des ColognePride; U.S.] hätten wir in den Augen des KLUST und einer von KLUST definierten ›Öffentlichkeit‹ gar noch zu ihrem Begriff von ›Vielfalt‹ beigetragen. Vielfalt heißt für uns aber nicht das Flehen um gnädige Toleranz, schon gar nicht unter so Vorzeichen wie ›Wir sind doch genau so normal wie alle anderen auch‹. Vielfalt heißt für uns ganz im Gegenteil: sich frei zu machen von der Fixierung auf Mehrheiten und auf Bündnisse – um jeden Preis – zu verzichten.« (Ebd.)
Damit wenden sich die Kölner Kings gegen eine Vereinnahmung für eine toleranzpluralistische Konzeption von Vielfalt, in der der Mehrheitsgesellschaft weiterhin die Macht zukommt, akzeptable von nichtakzeptablen Formen der Differenz zu unterscheiden und in der der Nachweis einer trotz aller Differenzen geteilten Normalität zur Bedingung dieser Akzeptanz wird. Stattdessen kündigen sie an, mit eigenen Veranstaltungen am CSD Präsenz zu zeigen und abseits des offiziellen Programms zu versuchen sichtbar zu machen, »dass ein Leben ohne zwanghafte Anpassung an die heteronormativen, patriarchal, dualgeschlechtlich und machtstrukturell dominierten Vorstellungen von Menschen als ›Mann‹ und ›Frau‹ möglich ist« (ebd.). Sie fügen hinzu, dass derartige Vorstellungen allerdings auch »vor der linken/ autonomen Szene und der queer Community nicht Halt machen« (ebd.). Linksautonome und queere Szenen werden damit zwar einerseits nicht freigesprochen von der Reproduktion geschlechtlicher und sexueller Normen, andererseits aber implizit als Horizont der eigenen Verortung aufgerufen. Aus einem solchen Spektrum heraus werden denn auch in vielen Städten alternative CSD-Veranstaltungen organisiert, an denen sich die in der Drag King-Szene Aktiven regelmäßig beteiligen. Zu dem 143
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
seit einigen Jahren in Berlin-Kreuzberg veranstalteten Transgenialen CSD schreibt Toni Transit in der Krone: »Als der CSD zur Parade der Eitelkeiten und Zielgruppen-Werbung wurde, wollten einige Leute da nicht mehr mitmachen und haben ihre eigene Alternative dazu erfunden. […] Fernsehteams, Burger-King-Wagen und WerbePröbchen-VerteilerInnen wird man hier vergeblich suchen. Dafür mehr Punks, Trümmertunten – und Drag Kings! Im jährlichen Wahnsinnsumzug gehen die nämlich ein bisschen unter, in Kreuzberg ist alles kleiner außer die Anzahl Kings (ich glaube, ALLE Berliner Kings gehen da hin).« (Toni Transit 2004: 25)
Die Skepsis, inwiefern das, was Kinging ihrem eigenen Verständnis nach ausmacht, im Kontext medial vermittelbarer Großereignisse wie den ›offiziellen‹ CSD-Feierlichkeiten zur Wirkung kommen kann, prägt auch die Haltung vieler der in die Szene Involvierten bezüglich des medialen Interesses an ihrer Praxis. Nicht nur lesbische Blätter von lespress bis L-Mag, nicht nur die schwul-lesbische Siegessäule und ähnliche Magazine, nicht nur autonom-feministische Zeitschriften wie z.B. fiber aus Österreich, sondern auch nicht explizit geschlechter- und sexualpolitisch positionierte Medien – vom Berliner Stadtmagazin Zitty über die taz bis zur ZEIT und zum SPIEGEL, von DeutschlandRadio Berlin bis n24, von Intro bis Spex, vom Männermodemagazin Maxim Fashion bis zu den Frauenzeitschriften Brigitte, Allegra und Vogue – haben in den letzten Jahren über hiesige Drag King-Zusammenhänge, Performer_innen und Aktivitäten berichtet.99 So unterschiedlich wie die genannten Medien fallen auch die Artikel aus, und grundsätzlich begrüßen viele der in der Drag King-Szene Aktiven die damit verbundene Chance, Praxen und Sinnhorizonte des Kinging über links-alternative, queere und Trans*-Kontexte hinaus bekannt zu machen. Die dennoch geäußerte Skepsis bezieht sich auf Formen der Berichterstattung, in denen die mit den genannten Kontexten verbundenen Bezüge, durch die Kinging erst in einer spezifischen Weise verstehbar wird, verloren gehen. Vor dem Hintergrund einer unhinterfragten Normalität heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit geraten viele Mediendarstellungen zu einer exotisierenden und (hetero-)sexualisierten Repräsentation von Kinging oder aber zu individualisierenden und viktimisierenden, auf die Tragik eines ›Lebens zwischen den Geschlechtern‹ abzielenden Reprä-
99 Dies ist eine unvollständige Aufzählung; ich habe die Presseberichterstattung zu hiesigen Drag King-Aktivitäten nicht systematisch recherchiert und ausgewertet. 144
DIE SZENE
sentationen.100 Aufgrund solcher Erfahrungen stellen sich viele die Frage, wie es gelingen kann, »dass die Auseinandersetzung damit auch für Otto Normalverbraucher in einer Form möglich wird, ohne dass es irgend ’ne Freak-Show wird« (Int. 8). Dies und die damit verbundene Frage, welchen ›Sinn‹ eine Darstellung vor dem Hintergrund unterschiedlich geprägter Wahrnehmungsund Rezeptionsweisen annehmen kann, wird im folgenden Kapitel im Kontext von Drag King-Performance-Praxen ausführlicher Thema sein. Aufgegriffen wird dabei auch die Bedeutung der hier aufgezeigten Verortungen in und Bezüge zu lesbischen, queeren und queer-feministischen, Transgender- und links-alternativen Sinnhorizonten und sozialen Zusammenhängen.
3. Performance-Praxen: Inszenierungen, Lesweisen, Adressierungen Die hiesige Drag King-Szene, so wurde gezeigt, hat sich nicht ausschließlich um bühnenbezogene Performances herum formiert und die vielfältigen kollektiven Aktivitäten, die im Kontext der Szene entfaltet werden, beschränken sich nicht darauf. Dennoch sind Aufführungen von Drag Performances selbstverständlich ein wesentlicher und konstitutiver Bestandteil der Kultur, ohne den die Drag King-Szene wohl keine wäre. Bühnenbezogene Performance-Praxen und ihre über die Bühne hinausweisenden Wirkungen sind Gegenstand dieses Kapitels. Beispielhaft werden im Folgenden einige Performances beschrieben, an denen sich ›typische‹, auch in einer Vielzahl weiterer Performances wirksame Inszenierungsweisen aufzeigen lassen, und auf die darin entworfenen geschlechtlichen Möglichkeiten hin analysiert. Herausgearbeitet wird zudem, welche (auch kontextuell spezifischen) Bezüge darin entfaltet und wirksam werden, auf welche unterschiedlichen Weisen sie vom Publikum aufgenommen werden können, und inwiefern sie zu Praxen anregen, die eine über die Bühne hinausgehende Veralltäglichung erfahren.
100 Vgl. zu diesen und weiteren im Kontext der Szene problematisierten Tendenzen der medialen Aufmerksamkeit für hiesige Drag King-Aktivitäten ausführlich Thilmann 2007; zu medialen Darstellungen von Drag Kinging im US-amerikanischen Kontext vgl. Volcano/Halberstam 1999:2 sowie Halberstam 2005: 156ff. 145
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
3.1 Bühnen-Performances »I wanna be your man«? Männlichkeiten re-inszeniert Frühjahr 2005, PenisNight Special zum LFT im Bastard, einem Club am Prenzlauer Berg in Berlin: Im Rahmen der Show der Kingz of Berlin bestreitet Gruppenmitglied Toni Transit eine Nummer im Duo mit der Performerin Mimi Monstroe. Ein Mix aus verschiedenen Popsongs bildet die Soundkulisse für die Performance, die als Inszenierung einer heterosexuellen Begegnung beginnt. Galant nähert sich Toni im weißen Oberhemd und mit smarter Krawatte seiner Angebeteten: Mimi, die mit blonder Zöpfchenperücke, in einem knappen orangefarbenen T-Shirt, kurzem grellblauen Röckchen und mit Flip-Flops an den Füßen das Girlie gibt, augenaufschlagend und lasziv an ihrem Lolli lutschend. »I wanna be your man!« tönt vom Band, und Toni bringt ebendies in seinem Flirt zum Ausdruck, indem er schließlich, die Hände dramatisch zum Herzen führend, vor Mimi niederkniet. Als diese sich jedoch gänzlich ungerührt gibt und in cooler, abweisender Haltung verharrt, verliert Toni, gekränkt in seiner männlichen Ehre, die Fassung und mutiert vom selbstbewussten Gentleman zu einer eher jämmerlichen kindischen Gestalt: Er schnauft und wütet, ballt die Fäuste, stampft trotzig mit dem Fuß auf, zerrt an seiner Krawatte und am Gürtel und entledigt sich schließlich Hemd und Hose. Unter einem spitzenbesetzten Unterkleid in schwarz und lila wird ein voluminöser Körper mit beeindruckender Oberweite zur Geltung gebracht. Mimi sieht dieser Transformation nicht tatenlos zu, sondern reißt sich ihrerseits die blonde Perücke vom Kopf und steht nach einem Strip in Boxershorts, schlichtem weißen Unterhemd und mit strubbeligem Kurzhaarschnitt da. Vom Girlie zum Grrrl mutiert, zeigt sie sich an dem/der verwandelten Toni nun durchaus interessiert: Genüsslich grinsend spielt sie mit ihrem Lolli in Tonis Mund, der ihn bereitwillig empfängt, und geht ihm/ihr schließlich an die Wäsche. Beide ergehen sich dann in einer wilden Knutscherei, die in einem langen, vollen Kuss gipfelt. Die geschilderte Szene ruft zunächst Klischees heterosexueller Arrangements auf, auf deren allgegenwärtige kulturelle Wirkmächtigkeit durch die Collage bekannter Popsongs hingewiesen wird und die in der Inszenierung überzeichnet und persifliert werden. Mimi/das ›Girlie‹, sexualisiert durch Kleidung und laszives Lollilutschen, besetzt die Position der Umworbenen (inklusive der Macht, die Werbung zurückzuweisen), 146
DIE SZENE
während die Galanterie Tonis/des ›Mannes‹ als aktiv Werbendem nur notdürftig Besitz- und Machtansprüche verdeckt, die in der Inszenierung eines kindischen Tobsuchtsanfalls als lächerlich (und ziemlich unattraktiv) vorgeführt werden. Eine erotische Begegnung findet erst statt, als beide Figuren sich verwandelt haben. Der Transformation Tonis von einer deutlich männlich in eine deutlich weiblich codierte Figur wird Mimis Veränderung an die Seite gestellt, die ebenfalls als eine geschlechtliche Transformation zu lesen ist – allerdings nicht als eine schlicht spiegelbildliche: Auch in Boxershorts, mit kurzen Haaren und in einer sexuell aktiven Position wird ihr Körper als weiblich codierter inszeniert (z.B. durch die unter dem Unterhemd deutlich sichtbaren vollen Brüste). Sexuelle Positionen werden auf diese Weise aus ihrer engen Verbindung mit ›Männlichkeit‹ oder ›Weiblichkeit‹ gelöst und in einer explizit lesbisch codierten erotischen Begegnung neu in Szene gesetzt; zugleich ist dies eine Erotisierung ›weiblicher‹ Körper, die gängige Schönheitsnormen nicht erfüllen (beide Körper werden in ihrer Fülle gezeigt und Unebenheiten, Falten etc. nicht kaschiert). Während dieses Staging von lesbischer Erotik als Destabilisierung und Abgrenzungsfolie der zuvor inszenierten Heterosexualität eher ungewöhnlich für hiesige Performances ist, gehört die in der Szene enthaltene Parodie heterosexueller Männlichkeit zum Repertoire fast aller Drag King-Performer_innen und -Gruppen. Ob Matrosen oder Rockstars, prollige Ballermann-Verschnitte oder Anzug tragende Yuppies, ob cooler Rapper, smarter Skater, ob Gentleman, Womanizer, Macho oder Nerd – mit solchen und vielen weiteren Figuren werden Männlichkeiten überzeugend und zugleich überzeichnet in Szene gesetzt; werden (Proto-)Typen persifliert und die ihre Darstellung tragenden Konventionen vorgeführt; wird das theatralische und oft komische Potential (hegemonialer) Männlichkeit offen gelegt. Viele solcher parodistischen und als Kritik zu lesenden Inszenierungen von ›Männlichkeit‹ lassen jedoch zugleich Momente einer (identifizierenden) Aneignung und/oder einer lustvollen Verkörperung des Dargestellten erkennen. Eher selten konstituieren Parodie und Ironie hier eine Position der Kritik von ›außen‹, sondern lassen sich oft auch als selbstironische Wendungen lesen, in denen die Lust an der Investition in gesellschaftlich und auch sexuell machtvolle Verkörperungen ausgeschöpft wird und karikiert zugleich. »Und dann heben wir stolz unser Kölschglas, gefüllt mit frischgepresstem Mineralwasser, vor unsere flachen Kölner Brustmuskeln und prosten uns zu. Ja. So machen wir das hier seit Neuestem immer. Hier im schönen Köln«, schreiben die Redakteur_innen der Krone im Editorial ihrer 4. Ausgabe (November 2004). In dieser textlichen Performance mineralwassertrinkender schmächtiger 147
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Jungs, die weder durch Muskelmasse noch durch Bierkonsum die stolzen Lokalpatrioten verkörpern können, die sie vorgeben zu sein, wird nicht wirklich ein positiver Gegenentwurf aufgemacht zu den evozierten Stereotypen hegemonialer Männlichkeit (Muskeln, Bier und patriotischer Stolz). Ironisiert wird beides – die Stereotype und der (angebliche) Versuch der Redaktion, diese zu verkörpern. Und obwohl mehr als deutlich wird, dass es hier nicht um eine ernst gemeinte Selbstbeschreibung geht, greift die Ironisierung doch augenzwinkernd in der Szene verbreitete Körperwünsche und -anstrengungen auf. Parodistische Kritik und zugleich lustvolles Ausschöpfen der darin angelegten Wirkungsmöglichkeiten kennzeichnen auch viele Drag KingVersionen bekannter Boygroup-Inszenierungen. Insbesondere in den frühen Performances der hiesigen Szene wurde dieses Genre besonders gern aufgegriffen. So nahmen die pussycoxx das zu dieser Zeit grassierende »gemeine Boygroupfieber« zum Anlass, um sich Anfang 2001 als »erste berliner female boygroup«101 und damit überhaupt erstmals als Gruppe zu formieren. Auch die Kingz of Berlin engagierten sich zu Beginn ihrer Laufbahn zunächst in Adaptionen von Songs und Bühnenshows verschiedener Boygroups. Die Re-Inszenierung dieses extrem heterosexuellen, auf klaren geschlechtlichen Rollenzuweisungen basierenden (pre-)Teenage-Phänomens ist ganz sicher als Persiflage und Kritik zu lesen und lädt zugleich zu einer lustvollen Bezugnahme ein: Sooo süß sind sie und sexy, die Kingz, wenn sie ihren jungshaften Charme entfalten, und weite Teile des Mittzwanziger- bis Mittvierziger-Publikums aller Geschlechter engagieren sich in einer Performance typischer Mädchenfankulturen, inklusive hysterischem Kreischen, Schlüpfer- oder Kuscheltierwerfen und anschließender Fanpost im Online-Gästebuch der KOB. Die Bremer »all-girl-boygroup« Sissy Boyz zitiert das BoygroupGenre nicht nur auf der Bühne (wo sich die Boyz auch mal mitten in der Performance Röcke anziehen), sondern auch in ihrer Internet-Präsentation:102 »Yo, herzlich willkommen bei den Sissy Boyz, check it out! This is the website of your favourite boyband. Nur für euch: coole pics, lyrics und hotte stories«, begrüßen sie im HipHop-Jargon ihre Besucher_innen. Unter der Überschrift »your dreamboy« posieren die Boyz mit Muscle-Shirts und Baseballcaps zu Gerüchte ›preisgebenden‹ Bildunterschriften. »Schrecklicher Homo-Verdacht! Steve und Mike ›mehr als nur Freunde‹?« skandalisiert der Text ein Foto, auf dem sich zwei der Bandmitglieder lasziv an die Wäsche gehen, und greift damit das
101 Zitiert nach http://www.pussycoxx.com, Stand: 24.02.2010. 102 Siehe http://www.sissyboyz.de, Stand: 24.02.2010. Die folgenden Zitate stammen von dort. 148
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Spiel um immer wiederkehrende Gerüchte über schwule Boygroup-Mitglieder und deren Dementi auf. Der als »Verdacht« und ›Skandal‹ inszenierte schwule Subtext des Boygroup-Phänomens wird auch von den Kingz of Berlin aufgegriffen und (anders) expliziert. Zu einer Coverversion des Backstreet BoysSongs »I Want It That Way«, deren Text sich der Frage »Which Backstreet Boy Is Gay?« widmet,103 bezichtigen sich die Kingz mit tuntigen ›Fallhand‹-Gesten gegenseitig des Schwulseins, um sich am Ende paarweise knutschend gemeinsam zu outen: Parodie des ›schwulen Skandals‹ in der heteronormativen Kulturindustrie, Parodie auch der medienwirksamen Inszenierung schwuler Klischees – und zugleich lustvolles Ausloten einer schwul codierten, im Kontext der Show aber auch als ›butch‹ zu lesenden Erotik.104 Aus dem Archiv schwuler Codes und kultureller Stile wird auch in vielen weiteren Performances geschöpft, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird.
»Suck my sock!« Genitale Transformationen PenisNight, Sommer 2005, eine weitere Show der Kingz of Berlin im Bastard: Tiger Tom, in Army-Shorts und -Kappe als Soldat kenntlich, sitzt entspannt auf einem Bauteil in der Mitte der Bühne, als Fronck de Sáster im Matrosenanzug auf ihn zu kommt. Der zwischen ihnen beginnende Flirt führt bald zu einem exzessiven Geknutsche, das unterbrochen wird durch den Auftritt von Kris Ko mit blonder Langhaarperücke und im knappen Kleid, das breite Schultern und behaarte Beine 103 Der Text der Coverversion findet sich unter http://www.i-songtexte.com/ 57431/titel/index.html, Stand: 24.02.2010. 104 Drag King-Adaptionen von Boygroups und auch das Spiel mit deren homoerotischem Potential sind auch in anderen lokalen Drag KingSzenen weit verbreitet. Die New Yorker Backdoor Boys etwa machen diese Referenz bereits im Namen deutlich und liefern eine Performance des genannten Backstreet-Boys-Songs, die der der Kingz of Berlin verwandt ist. Vgl. zu einer ausführlichen Interpretation dessen Halberstam 2005: 178f. Halberstam liest die Performance als Inszenierung einer alternativen, queeren, weder heterosexuellen noch schwulen Männlichkeit und zudem als eine Investition in Teenage-Identitäten, die diese aus ihrer dominanten Konzeption als Vorstadien (heterosexuellen) Erwachsenseins herauslöst: »The [drag king] boy bands […] allow us to think of boyhood, girlhood, and even tomboyhood not as stages to pass through but as preidentities to carry forward, inhabit, and sustain.« (Ebd.: 179) 149
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mit stämmigen Waden zu sehen gibt. Zwischen den Dreien entspannt sich ein erotisches Spiel, in dem schließlich Tiger allein und mit bedauernder Miene zurückbleibt, während Fronck und Kris sich hinter dem Bauteil den Blicken entziehen und ihre Tätigkeit dem Publikum durch die in rascher Folge in die Luft fliegenden Kleidungsstücke sichtbar machen, denen schließlich auch die Perücke folgt. Nun selbst im Matrosen-Habit tritt Kris wieder in den Vordergrund und beginnt ein Techtel mit Tiger: Es wird definitiv heiß, als die beiden einander an die Wäsche gehen und ihre Berührungen sich unter wilden Küssen mehr und mehr auf ihre prall gefüllten Hosenställe konzentrieren. Schließlich löst Kris seinen Gürtel, greift sich in die Hose und bringt mit einem entschuldigenden Lächeln einen roten Apfel zum Vorschein. Tiger grinst – und folgt seinem Beispiel. Die inszenierte erotische Spannung zwischen den beiden wird dabei für keinen Moment unterbrochen und setzt sich nun fort in weiteren Umarmungen und Küssen, unter denen die Äpfel genüsslich verspeist werden. Die Szene greift zunächst schwule Klischees oder Prototypen auf (Matrosenromantik und Military-Fetisch) und inszeniert sie in einer an konventionelle Erotik-Filme erinnernden Weise, indem die dünne Rahmenhandlung lediglich dazu dient, explizit erotische Szenen in den Vordergrund zu rücken. Durch die teils überzogene, von Slapstick-Elementen (etwa die wild in die Luft fliegenden Klamotten von Fronck und Kris) durchzogene Inszenierung werden diese Klischees und Konventionen persifliert, zugleich aber das darin angelegte erotische Potential ausgeschöpft und eine spürbare sexuelle Intensität kreiert. Deren schwule Codierung wird allerdings in mehrfacher Hinsicht verunklart: Die von Kris Ko dargestellte Figur kann bei ihrem ersten Auftritt sowohl als (Cis-)Frau als auch als Tunte oder Queen gelesen werden, wodurch die von ihr ausgehende erotische Intervention in den Flirt zwischen Fronck und Tiger in ihrer sexuellen Ausrichtung unbestimmt bleibt. Die überdeutliche Konzentration auf und erotische Besetzung der ausgebeulten Hosen parodiert den Topos schwanzfixierter schwuler Sexualität, der dann gebrochen wird durch den enthüllenden Griff zu den Äpfeln und die Fortsetzung der erotischen Spannung, für die damit der Inhalt von Hosen als irrelevant ausgewiesen wird. Der Griff zu den Äpfeln105 und die damit geleistete Inszenierung der Abwesenheit von Penissen konstituiert die auf der Bühne zu sehenden 105 Dieser Griff kann auch als Zitat einer durch den Film Venus Boyz auch hierzulande bekannt gewordenen Drag King-Performance des/der Künstler_in Dred gelesen werden, die ebenfalls in einem Apfel-zu-Tage-fördernden Griff in den Slip gipfelt. 150
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Körper nicht als weibliche. Anders als in der oben geschilderten Inszenierung der Transformation von Toni Transit, dessen/deren Körper im zweiten Teil als weiblich codierter inszeniert wird, stellt der ›ApfelGriff‹ zwar einen Bruch mit zuvor geweckten Erwartungen (der Enthüllung von Genitalien), aber keinen Bruch in der geschlechtlich-sexuellen Besetzung der inszenierten Figuren her. Vor dem Hintergrund von Narrationen der Transmännlichkeit, in denen das outing oft als mit dem sexuellen bzw. genitalen Akt verknüpfte Notwendigkeit dargestellt und dem passing in anderen Lebenssituationen gegenüber gestellt wird, liegt eher eine Lesart der Szene als ironische Anspielung auf ebensolche Coming-Out-Narrationen nahe (und damit eine Interpretation der dargestellten Figuren als Verkörperungen von Transmännlichkeit). Inwieweit bzw. in welcher Weise hier Trans*-Verkörperungen inszeniert werden, wird allerdings innerhalb der Performance nicht vereindeutigt. So fehlen etwa sichtbare Hinweise auf die Nutzung operativer und/oder hormoneller körperverändernder Technologien, wodurch auch die Lesart einer Trans*-Verkörperung ohne medizinische Mittel ermöglicht wird.106 Gleichzeitig spricht jedoch nichts dagegen, die Szene als Inszenierung einer lesbischen Sexualität zu interpretieren – als einer, in der (wie es in vielen gegenwärtigen lesbischen Szenen üblich ist) schwule Stile und Codes angeeignet werden. Durch diese Mehrfachcodierung bzw. durch den Verzicht auf Vereindeutigung einer geschlechtlich-sexuellen Position lässt sich die Performance von unterschiedlichen Verortungen und Begehrensstrukturen (etwa von schwulen, lesbischen und verschiedenen Trans*-Verortungen) aus erotisch besetzen. Die affektive Bezugnahme, zu der so unterschiedliche Menschen im Publikum aufgefordert werden, bewirkt möglicherweise auch eine Transgression oder Irritation ›gewohnter‹ Begehrensmuster (etwa als Lesbe einen männlich codierten Körper erotisch zu besetzen, oder als Schwuler einen Körper ohne Penis zu begehren) und damit verbundener Identitätspositionen. Dass der Phallus wie in dieser Performance zunächst (durch die erotische Besetzung prall gefüllter Hosenställe) aufgerufen, sodann aber destabilisiert oder aber verschoben wird,107 gilt auch für viele weitere 106 Allerdings dürfte regelmäßigen Besucher_innen der Kingz of BerlinShows die tiefe Stimme Tiger Toms, die Testosteron-Gebrauch ahnen lässt, bekannt sein. Dass Gleiches für Kris Ko nicht gilt, beide aber im Kontext der geschilderten Performance ähnliche geschlechtliche Positionen einnehmen, deutet aber wiederum darauf hin, dass hier ›der Transkörper‹ als einer inszeniert wird, dessen Konstitution in und durch soziale Praxen medizinische Technologien einschließen kann, aber nicht muss. 107 Ob der Phallus hier destabilisiert oder verschoben wird, bleibt m.E. eine offene Frage: Ist die inszenierte Erotik eine nicht-phallische oder aber 151
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Umgangsweisen der Kings mit dem »privilegierten Signifikanten«108 (und mit dem Penis als seinem gebräuchlichsten Referenten). »Die ewig wiederkehrende Frage: ›Ham’se nu einen oder keinen?‹ erledigt sich hiermit: Sie alle sind pussycoxx!«, begründen die pussycoxx auf ihrer Homepage ihre Namenswahl (und fügen hinzu: »Die beiden xx sind übrigens fette Props an eine Masse feiner Menschen, die mit solch einem Chromosomensatz rumlaufen.«).109 Und wenn die Kingz of Berlin ihre Partyreihe als PenisNight betiteln, scheinen sie das neidische Schielen auf den Penis der ›anderen‹ hinter sich zu lassen und stattdessen zur feiernden Aneignung des bewussten Organs aufzufordern. Dass es nicht um ein distanzloses Feiern geht, zeigt jedoch ein Flyer zur Party: Dildos und Stuffer werden hier als Grillwürstchen über heißen Flammen präsentiert, und zu dem im harten Griff der Grillzange zappelnden Silikon wird Ketchup und Senf gereicht.110 Die ironisch-aggressive Behandlung des Männlichkeitssymbols, das hier zum Zerschneiden und Verspeisen angeboten wird, lässt sich als Referenz auf frühere feministische ›Schwanz ab!‹-Rhetoriken und deren teils ebenfalls ironische bildliche Umsetzungen lesen.111 Anders als bei diesen früheren Thematisierungen phallisch begründeter Macht sind es hier jedoch nicht (oder nicht nur) die Schwänze der ›anderen‹, sondern die ›eigenen‹, die auf diese Weise ins Bild gesetzt werden. Die Destabilisierung des Männlichkeitssymbols ist hier keine Attacke von ›außen‹, sondern eher eine souveräne Geste der Selbstironie, die vor ›eigenen‹ Investitionen in eine phallische Sexualität nicht Halt macht, ohne sie jedoch gänzlich zu diskreditieren. Wo er in Performances zum Einsatz kommt, wird der Dildo so gut wie nie als naturalisiertes Abbild des Penis präsentiert, sondern – oft grotesk oder lächerlich – in seiner besonderen Stofflichkeit sichtbar, z.B. als regenbogenfarbenes aufblasbares Gummiglied in riesenhafter Di-
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eine, in der der Phallus vom Penis abgelöst und in Berührungen, Blicken und Gesten anders hergestellt bzw. aufrechterhalten wird? Vgl. Butler 1995: 90f.: In Jaques Lacans psychoanalytischer Theorie fungiere der Phallus als »privilegierter Signifikant«, so Butler, insofern er als ›Ursache‹ von Signifikationsprozessen und nicht als deren Effekt eingesetzt werde. Butler diskutiert in diesem Zusammenhang Möglichkeiten, den Phallus dieser privilegierten Stellung zu entheben und ihn ›zirkulieren‹ zu lassen. Siehe http://www.pussycoxx.com/faq.htm, Stand: 24.02.2010. Reproduktionen der für den Flyer verwendeten Fotos von Pia Thilmann finden sich in Thilmann et al. (Hg.) 2007: 166 und 169. So zeigt etwa ein 1968 verfasstes Flugblatt des Frankfurter Weiberrats die besten Stücke bekannter SDS-Größen als Jagdtrophäen an die Wand gehängt und fordert, »die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen« zu befreien; vgl. Frankfurter Frauen (Hg.) 1975: 16f.; Dackweiler 1995: 165f.
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mension. Mit der Präsentation einer eigenen Unterwäsche-Kollektion treiben die Kingz of Berlin die Umcodierung genitaler Sexualität noch ein Stück weiter: »Suck my sock!« fordert die Inschrift auf einer der präsentierten Boxer Shorts. Die Sexualisierung eines der gebräuchlichsten Stuffer verweist auf die Möglichkeit der Einnahme einer phallischen Position von jeder denkbaren Körperlichkeit aus und ironisiert zugleich die zitierte patriarchale Geste.112 Während hier das Thema Penis/ Phallus/Dildo weiter umkreist wird, ruft die Beschriftung »Wet ’n Hard« auf einem zweiten Modell die Funktionsweise einer dichotomen symbolischen Ordnung auf, in der Männer hart und Frauen nass zu werden haben (in der das Harte phallisch und männlich ist und das Nasse empfangend und weiblich) und reklamiert demgegenüber in der gleichzeitigen Besetzung beider Positionen eine (genitale) Sexualität, die sich dieser Ordnung nicht fügen will.113 In den bislang aufgezeigten Beispielen erfolgt die Dar- und Herstellung von Körpern und Sexualitäten, die nicht der Dichotomie von ›Phallus haben‹ oder ›Phallus sein‹ folgen, durch ein explizites Aufgreifen und Recodieren genitaler Symboliken. In anderen Performances wird dieses Terrain verlassen und stattdessen die in einigen sexuellen (z.B. Fetisch- und BDSM114-)Szenen gelebte Möglichkeit einer Sexualität und Erotik aufgegriffen, in der genitale Besetzungen teils eine untergeordnete Rolle spielen. Das Publikum hält spürbar den Atem an, als Kris Ko und Fronck de Sáster von den Kingz of Berlin während einer Mitmachshow in Tarhinanzügen von entgegengesetzten Seiten die dunkle Bühne betreten, sich gegenseitig im Lichtkegel ihrer Taschenlampen orten, in Deckung gehen, die Messer zücken, einander
112 Auch hier bleibt m.E. die Frage offen, inwieweit die derart evozierte sexuelle Position überhaupt noch als eine phallische zu bezeichnen ist, da sie nicht an eine naturalisierte Machtposition gebunden ist und nicht auf einer fixierenden Platzanweisung weiblicher Körper beruht. Darüber hinaus scheint mir fraglich, ob der Phallus überhaupt Ironie verträgt oder ob er per se auf Ernsthaftigkeit basiert; d.h. ob sich eine ironische phallische Position überhaupt ›aufrecht‹ erhalten lässt. 113 Vor dem Hintergrund eines in der Krone veröffentlichten Gedichtes von Nino Pampino (2006) lässt sich dies als eine direkte Referenz auf ein Trans*-Genital lesen: »…your dick-clit, which is gorgeous: hard and wet!« (ebd.: 28) zelebriert Nino Pampino hier die »dick-clit«, eine Bezeichnung für eine durch Testosteron-Gebrauch vergrößerte Klitoris. Zugleich bleibt die Aussage »wet ’n hard« offen für eine Aneignung von nahezu jeder denkbaren Verkörperung aus. 114 Das Akronym BDSM steht für eine Reihe von Praktiken, die gemeinhin mit SM assoziiert werden, hier aber differenzierter bezeichnet werden: B für Bondage (Fesselung), D für Disziplin, DS für Dominanz/Submission und SM für Sadomasochismus. 153
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
langsam umkreisen, um eine plötzliche Attacke folgen zu lassen, in der mal der eine, mal der andere – scheinbar bereits besiegt – sich zu neuem Angriff aufrafft, bis die Messer fallen und die aufgebaute Intensität sich fortsetzt in Berührungen und Umarmungen, in denen Gewalt und Begehren, Kampf und Sex, Leiden und Genießen ununterscheidbar werden. Die Szene lässt sich als Referenz auf sexuelle Rollenspiele im Kontext (insbesondere) queerer, schwuler und/oder lesbischer Fetisch- oder BDSM-›Playpartys‹ lesen, in denen die Einnahme verschiedener geschlechtlicher Positionen (die sowohl vom zugeschriebenen ›biologischen‹ Geschlecht als auch von geschlechtlichen Verortungen in anderen Kontexten abweichen bzw. in vielfältigen Relationen dazu stehen können) teils selbstverständlicher Bestandteil der erotischen Inszenierungen ist.115 Durch diese Verunklarung der Beziehungen zwischen der erotischen Investition in eine bestimmte Geschlechtlichkeit einerseits und von in anderen Kontexten eingenommenen geschlechtlichen Positionen andererseits wird auch die hier geschilderte Szene schillernd. Ohne Berücksichtigung der Referenz auf die genannten sexuellen Praxen und ohne Berücksichtigung des Kontextes der Drag King-Szene könnte die Performance als eine bruchlose Inszenierung schwuler Männlichkeit gelesen werden; erst die kontextuellen Verweise werfen die Frage auf, von welchen Verkörperungen und Verortungen aus diese Performance geleistet wird (und welche Verschiebungen der Bedeutung von ›schwuler Männlichkeit‹ damit einhergehen). Referenzen auf schwule, aber auch lesbische Fetisch- und BDSMSzenen werden in vielen Performances sichtbar, teils auch als eher beiläufiges Accessoire. Über der Brust gekreuzte Leder-Harnesse, breite Nietenarmbänder, Military-Outfit, Ketten aus groben Metallgliedern oder Tatoos, die die Oberarmmuskulatur zur Geltung bringen, behalten ihre assoziative Verbindung zu den sexuellen Subkulturen, denen sie entstammen, auch wenn sich ihre Verwendung in weiteren Kreisen durchgesetzt hat. Dass solche Stilmittel nicht nur auf, sondern auch vor der Bühne in der Drag King-Szene relativ gängig sind, verweist darauf, dass die verwendeten Codes als geteilte und somit lesbare vorausgesetzt werden können; d.h. dass es ein gemeinsames Wissen um die genannten sexuellen Praxen und Szenen gibt, das die Performances auch in dieser Hinsicht lesbar macht.
115 Vgl. exemplarisch zu geschlechtlich-sexuellen Positionen und Rollenspielen in (US-amerikanischen) Lederlesbenszenen Hale 1997; zu (anderen) queeren BDSM-Szenen Bauer 2005 und 2007. 154
DIE SZENE
Bio Queening, Genderfuck und Mixed Drag November 2003, Ausnahme-Party #8 im Kunstwerk, einem Atelierhaus in einem ehemaligen Fabrikgebäude in Köln-Deutz: Im knappen Kleid betritt Performer_in Océan die Bühne und ergeht sich in einer überzeugenden Darstellung verführerischer Weiblichkeit, bis er/sie die tänzerischen Bewegungen in einen Strip übergehen lässt. Den Rücken dem Publikum zugewandt, werden unter dem Kleid, unter der Reizwäsche breite Schultern, ein muskulöser Rücken, schmale Hüften und ein knackiger Hintern in aufrechter, stolzer Pose präsentiert. Der nackte Körper wird in einer Weise inszeniert, die mit den durch die zuvor geleistete Performance (hetero-)sexualisierter Weiblichkeit geweckten Erwartungen zu brechen scheint: Kein ›weiblicher‹ Körper wird hier durch den Strip enthüllt. Auch als Océan sich zum Publikum umwendet und den nach geschlechtlichen Zeichen suchenden Blicken Brüste und einen penislosen Busch zu sehen gibt, sorgen die raumgreifenden Bewegungen, sorgen Gestik und Blick weiterhin dafür, die Inszenierung von Weiblichkeit mittels dieses Körpers als Drag lesbar zu machen. Als im Vergleich dazu geradezu bruchlos und organisch wird die nun folgende Ankleide-Szene performt: Zu HipHop-Musik steigt Océan in seine Boxershorts, klebt mit knappen Bewegungen die kleinen Brüste mit schwarzem Gaffa-Tape derart zur Seite, dass der Eindruck eines flachen, aber muskulösen Oberkörpers entsteht, zieht sich schwungvoll die Cargo-Hosen auf die Hüfte, streift einen Kapuzen-Pulli über und beginnt mit entsprechenden Arm- und Handbewegungen zu rappen, wobei ihm die kinnlangen Haare immer wieder ins Gesicht fallen. Diese Performance spielt nicht lediglich mit einer geteilten Vorannahme des Publikums bezüglich der körperlich-morphologischen Konstitution des/der Performenden, sondern stellt ein solches ›Wissen‹ des Publikums aktiv her. Der nackte Körper wird ausgiebig ›gezeigt‹ – in einer Weise, die die gemeinhin als eindeutig weiblich geltenden Körperformen zu sehen gibt und zugleich die Frage aufwirft, was das Wissen um deren Vorhandensein nun bedeutet. Denn die Inszenierung des nackten Körpers in männlich codierten Posen und Gesten bewirkt, dass es kaum möglich ist, ihn als einen eindeutig ›weiblichen‹ wahrzunehmen. Alle Teile der Performance einschließlich des Aktes, den nackten Körper zu
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GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
zeigen, werden damit als eine Inszenierung erkennbar, die kulturelle (und nicht ›natürliche‹) geschlechtliche Bedeutungen aufgreift.116 Inszenierungen von ›Weiblichkeit‹ durch biologisch als weiblich bestimmte Performer_innen, die den Performance-Charakter einer solchen geschlechtlichen Position deutlich hervortreten lassen, werden in der Szene als Bio Queening oder als Double Drag bezeichnet.117 In kurzen 50er-Jahre-Polyester-Kleidern und mit Perücken in leuchtendem Türkis, Rosa oder Hellblau schließen etwa The Kinky Kingz aus Köln in einer ihrer Performances an von Drag Queens und Tunten zelebrierte CampÄsthetiken an. Auch für mehrere der Kingz of Berlin gehört Queening zum festen Repertoire – gerne auch in trashigen Inszenierungen, in denen Perücke und Kleid nicht zueinander und auch nicht so recht zu betont breiten Schultern, eckigen Bewegungen oder stark behaarten Schienbeinen passen wollen. Die Referenz auf eine Tradition schwuler Investitionen in weiblich konnotierte Stile und Verkörperungen hebt den Inszenierungscharakter der dargestellten Geschlechtlichkeiten hervor und macht deutlich, dass die Performances nicht als (naturalisierter) Ausdruck einer vorgängigen, eigentlichen, eigenen Weiblichkeit zu lesen sind. Wie andere Drag Queen-Performances auch erscheinen sie jedoch gleichzeitig nicht als bloße Parodie von Weiblichkeit: Der wertschätzende Tribut an eine gerade in Berlin sehr lebendige Tradition, die sich auch in regelmäßigen Kooperationen und gemeinsamen Auftritten vieler Drag Kings mit Tunten und Queens zeigt, impliziert auch ein lustvolles Ausloten der darin angelegten geschlechtlichen Möglichkeiten. Die Reformulierung queeniger Inszenierungen im Kontext der Drag King-Szene transportiert allerdings darüber hinaus noch weitere Bedeutungsstränge. Gerade durch den Gegensatz zu den ausgestellten weiblich konnotierten Attributen werden in der Performance Körper sichtbar und 116 Vgl. zu einer ähnlich gelagerten Performance von Bridge Markland sowie allgemeiner zu Drag King-Performances, in denen die Technik des Strip zur Enthüllung dessen genutzt wird, dass es da ›nichts‹ bzw. keine geschlechtliche ›Wahrheit‹ zu enthüllen gibt, Halberstam 1998: 261. – Das Versprechen des nackten Körpers, die unter der Performance verborgene geschlechtliche Wahrheit preiszugeben, wird im Kontext hiesiger Drag King-Performances auch mit anderen Mitteln vorgeführt und zum Scheitern gebracht. Die Sissy Boyz tragen bei ihren Auftritten gerne weiße T-Shirts, auf denen ›männliche‹ Oberkörper mit beeindruckenden Bauchmuskeln abgebildet sind, und in einer Szene der Kingz of Berlin stellt Moritz G. (sprich: G-Punkt) unter dem offenen Hemd und über der auf der Hüfte sitzenden Jeans stolz ›seinen‹ nackten Oberkörper zur Schau: eine gigantische Imitation aus Hartplastik inklusive Sixpack und gepiercten Brustwarzen, geziert von einem kreuzweise über der Brust getragenen Harness. 117 Vgl. dazu ausführlich Göbel 2007. 156
DIE SZENE
konturiert, die weder weiblich noch männlich zu sein scheinen: der Trans*-Körper, der lesbische, der Butch-Körper; Körper, die durch vorangegangene Drag King-Performances für das Publikum bereits verschiedene Schichten geschlechtlicher Bedeutungen auf sich gezogen haben. Körper, die auch Geschichten einer zugeschriebenen, oktroyierten Weiblichkeit erzählen, in denen der Zwang zum Kleidertragen an Festtagen geradezu sprichwörtlich ist (Bestandteil fast jeder Erzählung einer Tomboy-Kindheit und -Jugend) – und Queening als eine Möglichkeit, damit verbundene Gefühle von Unbehagen und Scham aufzurufen und sie durch Ironie, Gelächter und das Hervorrufen bewundernder Reaktionen zu transformieren. Geschichte und Gegenwart von FemmeInszenierungen in lesbischen Szenen bieten eine weitere Folie, vor der die hier geleisteten Investitionen in ›Weiblichkeiten‹ aus einer Rahmung in dominanten heteronormativen Wahrnehmungsweisen gelöst werden und anders be-deutet werden können. Nicht überhistorische, allgemeingültige Konzepte von ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ werden also in diesen Performances aufgerufen, sondern historisch tradierte Geschichten durchgespielt und verwoben, die in sich bereits Anfechtungen oder Komplikationen der Binarität darstellen; Geschichten und Referenzen, die verstehbar sind, insofern das Publikum über geteilte kulturelle Bezüge (vor allem auf geschlechtlich und sexuell minorisierte Szenen) verfügt. Eine gänzlich anders gelagerte, aber konventionelle (sexistische und heteronormative) Sichtweisen auf weibliche Körperlichkeiten ebenfalls verschiebende Inszenierung liefern die Busenfreunde mit einem von Mimi Monstroe choreographierten Tittenballett. Hinter einem in Brusthöhe gespannten weißen Bettlaken stehen fünf Gestalten, die Gesichter unter wallenden Weihnachtsmann-Rauschebärten und riesigen bunten Brillen vollkommen unkenntlich, und präsentieren mit behandschuhten Händen gewaltige Hängebusen, die sie zum Song Rama Lama Ding Dong118 synchron kreisen und schwingen lassen. Ein Text im Lesbischen Auge Nr. 5 verrät, dass die ansonsten alle auch als Drag Kings auftretenden Performer_innen für diesen Act nach Körbchengröße gecastet wurden – Doppel-D als Voraussetzung zum Mitmachen (vgl. Thilmann 2006: 220). Die Präsentation nackter Brüste mit enormen Ausmaßen, sattsam bekannt aus unzähligen Darstellungen des pornographischen Mainstreams, wirkt hier so vollkommen anders, dass fraglich scheint, 118 Der Text des Songs von Rocky Sharpe & The Replays, von dem zahlreiche Cover-Versionen existieren, beginnt folgendermaßen: » I got a girl named Rama Lama, Rama Lama Ding Dong. She’s everything to me – Rama Lama, Rama Lama Ding Dong. I’ll never set her free, for she’s mine, all mine.« 157
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
inwiefern ein pornographisch interessierter sexistischer Blick sein ›Objekt‹ hier wiedererkennen würde: Liebevoll und freundlich werden die Brüste gehalten und gewedelt und erscheinen doch alles andere als niedlich (sondern eher grotesk oder beinahe monströs); in Kombination mit den Rauschebärten und schrillen Brillen eine vollkommen schräge und exzessive Performance einer Körperlichkeit, die gemeinhin als Zeichen des Weiblichen schlechthin gilt, hier aber sowohl deren Hyper-(Hetero-) Sexualisierung als auch die Attribuierung von Scham hinter sich lässt. »I’m not your Everyday Girl«: Der Song der Preluders119 bildet den Playback-Hintergrund zu einer Performance der Kingz of Berlin im Rahmen ihrer Show im Begleitprogramm zur Fachtagung zu Trans- und Intergeschlechtlichkeit im November 2004 in Berlin. ›Not your everyday girl‹, sicher, aber was dann? Die sieben Kingz entwerfen hier Figuren, die Netzstrumpfhosen mit Stuffern, Bärtchen mit Lippenstift, StrapOns mit Strapsen kombinieren und die Brüste ebenso wie behaarte Beine, hervorquellende Bäuche und tätowierte Muskeln zur Schau stellen. Mixed Drag – die Gleichzeitigkeit geschlechtlich unterschiedlich codierter Elemente – wird hier zum Genderfuck, einem wilden Durcheinander von Codes, das das Bemühen um ein geschlechtlich vereindeutigendes, zuordnendes Lesen ad absurdum führt. Mixed Drag als Strategie der Veruneindeutigung geschlechtlicher Verortungen und/oder als Entwurf alternativer Vergeschlechtlichungen kommt in vielen weiteren Performances zum Einsatz, oft auch in Kombination mit bereits dargestellten Techniken. Drag Queen Kris Ko trägt in einer Szene über dem kurzen taillierten Kleid akkurat geschnittene, seitlich ins Gesicht gezogene Koteletten und blickt finster-undurchdringlich auf seine eigenen tuntigen Handbewegungen. Toni Transit kombiniert in einer anderen Performance Koteletten und Kinnbärtchen mit langen falschen Wimpern und bringt unter dem Military-Tarnanzug einen Spitzen-BH und Netzstrumpfhosen zum Vorschein. In immer neuen Variationen werden unterschiedlich codierte, auf verschiedene sexuelle und geschlechtliche Verortungen verweisende Elemente zu überraschenden Bildern zusammengesetzt.
119 Hier ein Auszug aus den Lyrics: »Don’t need to justify/Who I am, what I am/I just wanna be me/Don’t wanna live a lie/Who I am, what I am/How can I make you see/I’m just myself/like no one else/I’ve got to walk my own way.//I’m not your everyday girl/Let me show you my world/I am ready/And nothing can stop me now/I’m not your everyday girl/Be a part of my world/Are you ready/Come on let me show you how.« 158
DIE SZENE
Rap, HipHop, Text-Botschaften Die Re-Inszenierung von Verkörperungen und geschlechtlich und sexuell unterschiedlich codierten Stilmitteln stand im Vordergrund der bisherigen interpretierenden Beschreibungen. Zusätzlich dazu werden in einigen Performances sprachliche Äußerungsformen genutzt, um teilweise explizite ›Botschaften‹ zu transportieren. So werden bei einer Mitmach-Show von Gestalten in schwarzen Kapuzenpullis und CargoHosen Transparente entrollt, denen man ihre Demo-Vergangenheit ansieht. Gegen sexistische Gewalt gegen Frauen, gegen die Normen rigider Zweigeschlechtlichkeit, gegen Homo- und Transphobie richten sich die Slogans, zu denen der Ärzte-Song Deine Schuld im Playback dargeboten wird: »Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, es ist nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.« Eine besonders beliebte Form, um Texte rund um Geschlechterpolitiken und geschlechtliche Alltagsrealitäten zu transportieren, ist der Rap. Im Kontext einer Show der Kingz of Berlin rappt Jeremy ManCandy im weißen Arztkittel gegen die medizinische Praxis der gewaltsamen chirurgischen Normierung intersexueller Kinder. Formuliert wird die Position eines Arztes, der sich dem Konsens seiner Zunft und der Teilnahme an den ›Behandlungen‹ verweigert und dazu auffordert, seinem Beispiel zu folgen. In einem Redebeitrag im Anschluss an diese Performance wird über eine Protestaktion anlässlich eines Kongresses der Kinder- und Jugendgynäkologie in Berlin berichtet. Ebenfalls als rappender King thematisiert Performer_in Ari anlässlich des WigstöckelFestivals (2004) sexualisierte Gewalt gegen eine behinderte Frau. The Kinky Kingz rappen über nicht nur angenehme Erfahrungen als Transjungs in Kölner Quartieren; die Thematisierung alltäglicher Konfrontationen aufgrund eines nonkonformen Geschlechtsausdrucks durch Rapper J-Fresh wurde bereits dargestellt (vgl. Kapitel II.2). Durch den Inhalt der Texte stellen diese Performances sich explizit in den Kontext von über die Performance-Bühne hinausweisenden aktivistischen Protestformen. Das Aufgreifen von Rap als einem Element des HipHop eröffnet allerdings darüber hinaus weitere Bedeutungsstränge der Interpretation. Die Verbindung eines sich durch extrem sexistische und homophobe Haltungen auszeichnenden Genres mit explizit antisexistischen und antihomophoben Texten kann als eine queere/ queerende Aneignung gelesen werden, die inzwischen auf viele (insbesondere US-amerikanische) Vorbilder zurückgreifen kann.120 In der An-
120 Vgl. zu auch als ›Homo Hop‹ bezeichneten queeren Investitionen in Hip Hop seit Ende der 1990er Jahre Beyer 2005; zu der in diesem Kontext zu 159
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
eignung dieses Genres im Kontext der hiesigen Drag King-Szene werden allerdings die Implikationen von HipHop als einer ›schwarzen‹, Politiken von ›race‹ explizierenden Kultur dethematisiert – und ebenso deren jüngere, dies aufgreifende Reformulierungen in durch die Erfahrung von Ethnisierung geprägten Zusammenhängen auch in Deutschland.121 Alle Rap Performances im Kontext der hiesigen Drag KingSzene, die ich gesehen habe, explizieren und durchqueren die darin angelegten Stereotype von (heterosexueller) Männlichkeit, ohne aber die spezifische Verquickung dieser Männlichkeit mit ethnisierten Positionen und Zuschreibungen explizit der Reflexion anzubieten. Was bei der Aneignung von den so deutlich durch ihre Bedeutung im Kontext von Rassisierungen, Ethnisierungen und dagegen rebellierenden Praxen geprägten HipHop-Elementen besonders augenfällig wird, gilt insgesamt für die hier beschriebenen und interpretierten Performances: Während die Vergeschlechtlichung und Sexualisierung der in Szene gesetzten Figuren und Codes Gegenstand der Überzeichnung, Umarbeitung und Verschiebung ist, bleibt deren Verortung in einer Matrix ethnisch und/oder rassistisch bestimmter Positionierungen unmarkiert. Dadurch wird eine Verortung im Sinne einer mehrheitsdeutschen, als solcher nicht markierten Zugehörigkeit als unhinterfragte Hintergrundfolie der Performances nahegelegt. In anderen, insbesondere in US-amerikanischen Drag King-Kontexten bereits entwickelte Performance-Praxen, in denen unterschiedliche Positioniertheiten aufgrund der Verquickung von rassisierenden und vergeschlechtlichenden Strukturen sichtbar, thematisierbar und teilweise auch durchquert werden,122 werden damit hierzulande bislang so gut wie nicht aufgegriffen. In einem Interview mit der feministischen Zeitschrift fiber aus Wien problematisiert Toni Transit von den Kingz of Berlin diese Leerstelle wie folgt: »[B]ei der Darstellung von z.B. AfroamerikanerInnen ist es eben nicht damit getan, sich das Gesicht schwarz zu malen – man muss sich überlegen, was man da tut. Und wie man da welche Klischees reproduziert, welche Rassismen man aufbrechen kann, indem man sie übertreibt oder Erwartungen irritiert. verortenden schwarzen schwulen HipHop-Band Deep Dickollektive und ihren queeren und antirassistischen Einsätzen im Feld des HipHop auch Halberstam 2005: 163ff. 121 Zu HipHop-Praxen von Jugendlichen türkischer Herkunft in Berlin vgl. Kaya 2001; Weller 2003. 122 Zur Thematisierung von race in Drag King-Performances und der Bedeutung unterschiedlich rassisierter Positionen von Performer_innen in den USA vgl. Halberstam 1997; Volcano/Halberstam 1999: 140ff.; Rosenfeld 2002; Pauliny 2002; Shapiro 2007. 160
DIE SZENE
Aber das ist schwierig, weil es da keine Diskussion darüber gibt, bis jetzt jedenfalls. Es wird wenig gemacht und nie besprochen, was mit Musik von nichteuropäischen KünstlerInnen z.B. ist – ich bin mir etwas unsicher: ob ich sie einfach nehme – und quasi als Weiße/r stehle –, oder ob ich das Outfit ändere und was das dann soll… Da denk ich gerade darüber nach….« (Zit. nach Weißenböck/Mesquita 2002)
Auch wenn Toni Transit hier (selbstkritisch) in erster Person spricht, macht er/sie implizit deutlich, von welcher Position aus eine solche Diskussion in der hiesigen Szene (wenn überhaupt) geführt würde: von einer weißen, mehrheitsdeutschen Verortung aus, die innerhalb der hiesigen Drag King-Szene gegenwärtig eindeutig dominiert.
Performing disidentification? Ein Fazit In vielen der hier geschilderten Performances, in denen eine Vielfalt unterschiedlicher geschlechtlich-sexueller Figuren zur Aufführung gebracht wird, scheint eine spezifische Haltung zu den inszenierten Verkörperungen auf; eine Haltung, die sich durch die Gleichzeitigkeit von persiflierender Ironie und ernsthafter Investition, von kritischer Parodie und selbstbewusster Aneignung auszeichnet. ›Männlichkeiten‹, aber auch ›Weiblichkeiten‹ werden – teils durchaus ›glaubwürdig‹ – inszeniert, ohne dass die in Szene gesetzten Figuren in den Positionen des Mannseins oder des Frauseins aufgehen würden. Die Differenz zu den aufgerufenen Positionen wird jedoch nicht als direkte Distanzierung inszeniert: keine Geste der direkten Zurückweisung, kein ›Schaut her, ich bin es nicht!‹ (und schon gar keine Distanzierung auf der Grundlage geschlechtlicher Binarität nach dem Motto: ›Ich inszeniere Männlichkeit, bin aber eigentlich eine Frau‹ bzw. ›habe einen weiblichen Körper‹; ›Ich inszeniere Weiblichkeit, bin aber eigentlich ein Mann‹ bzw. ›habe einen männlichen Körper‹). Eher wird in der sichtbar gemachten Gleichzeitigkeit von Parodie und Aneignung ein Raum des ›Dazwischen‹ aufgemacht und ausgelotet – und zwar weniger ›zwischen den Geschlechtern‹ als zwischen der Annahme einer verfügbaren, intelligiblen Position und ihrer Verweigerung: ›Ich bin es und bin es nicht‹; ›ich bin es, aber nicht so‹; ›vielleicht bin ich es, vielleicht aber auch nicht‹. Mit José Esteban Muñoz lässt sich diese Haltung als disidentification fassen (vgl. Kapitel I.1).123 Als disidentification bezeichnet Muñoz ein Durcharbeiten verfügbarer Subjektpositionen, das diese we123 Flüchtig bezieht sich auch Judith Halberstam bei ihrer Interpretation von Drag King Performances auf Muñoz’ Konzept; vgl. Halberstam 1998: 248. 161
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
der vollständig annimmt noch sie zurückweist. Disidentification zielt damit auf die Dekonstruktion und Destabilisierung der in hegemonialen Ordnungen fixierten ›Plätze‹, auf deren Denaturalisierung und auf das Offenlegen ihres ideologischen Gehalts, bleibt dabei aber nicht stehen: In ein und derselben Bewegung werden zugleich alternative Möglichkeiten der Verortung, die aus einer hegemonialen Perspektive ›undenkbar‹ erscheinen, hervorgebracht und als solche sichtbar gemacht.124 Die Positionen und Verkörperungen, die in den dargestellten Drag Performances auf eine solche disidentifikatorische Weise inszeniert werden, beschränken sich nicht auf heterosexuelle Männlichkeit oder Weiblichkeit. Auch schwule und lesbische Figuren (einschließlich der schwul codierten ›Weiblichkeit‹ der Drag Queen sowie der lesbisch codierten ›Männlichkeit‹ der Butch) werden in ihrem Potential zur Geltung gebracht und als bewohnbare Positionen eingeführt, zugleich aber durch leichte Verschiebungen in ihrer vermeintlichen Kohärenz gestört und als offen für verschiedene Lesarten präsentiert: Ist die dargestellte schwule Erotik ›eigentlich‹ eine transmännliche, und verändert das dann die Bedeutung von ›schwul‹? Oder lässt sich die Erotik als eine lesbische lesen? Was genau meint dann ›lesbisch‹? Welchen Unterschied macht es, ob eine Drag Queen als ›Bio-Queen‹ erkennbar wird oder nicht? – Die Verweigerung von Fixierungen und die Verunsicherung gewohnter Wahrnehmungsweisen bedeuten jedoch nicht die Verunmöglichung jeglicher sinnhaften Bezugnahme. In der Dezentrierung, im Aufbrechen (wieder-)erkennbarer Figuren werden zugleich Verkörperungen und Verortungen, die in verfügbaren und bezeichenbaren geschlechtlichen und sexuellen Positionen nicht aufgehen, als durchaus lebbare und als potentiell ›wirkliche‹ Möglichkeiten in Szene gesetzt; als Möglichkeiten, die sinnhaft verstehbar sind, wenn auch nicht lediglich in einem kognitiven Sinne: als sinnhaft rezipiert werden die dargestellten Inszenie-
124 Die Verwerfungen, die die in den von Muñoz analysierten Performances aufscheinenden Verortungen aus einer hegemonialen Perspektive ›undenkbar‹ machen, situiert er im Zusammenwirken der »cultural logics of heteronormativity, white supremacy, and misogyny« (1999: 5). Die Stärke der von ihm ausgemachten ›disidentifikatorischen‹ Stategien liegt genau darin, dass sie die Effekte von oft getrennt analysierten Herrschaftsverhältnissen in ihrer konstitutiven Verschränkung zu adressieren vermögen. Dies gilt für die Performances der hiesigen Drag King-Szene nicht in gleicher Weise, da in ihnen, wie gezeigt, eine mehrheitsdeutsche Verortung als nicht-thematisierter Background der verhandelten geschlechtlichen und sexuellen Positionierungen fungiert. Lediglich in Bezug auf Letztere kann daher hier von disidentification gesprochen werden. 162
DIE SZENE
rungen auch in körperlich-affektiven, z.B. erotischen und/oder identifizierenden Bezugnahmen des Publikums. Inwieweit derartige sinnhafte Bezugnahmen, die die inszenierten geschlechtlichen Möglichkeiten als potentiell wirkliche konstituieren,125 tatsächlich realisiert werden, ist allerdings auch abhängig von Wahrnehmungsweisen und ›Lesefähigkeiten‹ des Publikums sowie von dem Kontext, in dem die Performances stattfinden. Die Bedeutung unterschiedlicher Zusammensetzungen des Publikums und unterschiedlicher Aufführungskontexte für das, was in und durch die Performances ›passiert‹, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.
3.2 Das Publikum »[A]lso in jeder Nummer kann man sicherlich mehrere Ebenen finden, was ich auch ganz gut finde, weil das Publikum ja teilweise sehr gemischt ist, und dann ist es halt ganz gut, wenn so jeder -. Also ganz witzig ist auch bei den Auftritten, dass man, wenn man halt die Nummer schon länger gemacht hat und vor verschiedenem Publikum gemacht hat, man genau zum Beispiel einschätzen kann, ob jetzt mehr Heteros, mehr Lesben oder mehr Schwule im Publikum sind, das ist irgendwie ganz lustig, weil die an unterschiedlichsten Stellen reagieren [lacht].« (Int. 8)
Dass mögliche Lesarten und Bezugnahmen auf die Performances sich je nach geschlechtlich-sexueller Verortung der Zuschauenden unterscheiden können, ist, so macht Tino in diesem Zitat deutlich, auch für die Performenden wahrnehmbar. Performance-Erfahrungen in verschieden codierten Räumen vor unterschiedlich zusammengesetztem Publikum schärfen die Wahrnehmung für die Bedeutung der Reaktionen der Zuschauenden, die auf diese Weise ebenso von den Performenden auf ihre geschlechtlich-sexuelle Verortung hin ›gelesen‹ werden wie umgekehrt: Als »Heteros«, »Lesben« und »Schwule« werden die Zuschauenden für Tino erkennbar durch ihre unterschiedlichen Reaktionen auf die Performance, die offensichtlich auf unterschiedliche Lesarten verweisen. Während Tino hier diese verschiedenen Lesarten allesamt als adäquat zu betrachten scheint, da die Performances »mehrere Ebenen« haben, die unterschiedliche Bezugnahmen ermöglichen, macht er an anderer Stelle deutlich, dass es auch Lesarten gibt, die aus seiner Sicht ein tatsächliches Miss-Verstehen der Performances bedeuten. Auch hierfür 125 Die Frage, inwieweit die durch die Performances hervorgebrachten geschlechtlichen Möglichkeiten nicht nur potentiell, sondern tatsächlich als ›Wirklichkeit‹ erfahrbar werden (und in welcher Weise), wird in Kapitel III.3 ausführlich Thema sein. 163
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
spielt Tino zufolge die Positioniertheit der Zuschauenden in geschlechtlichen und sexuellen Ordnungen eine Rolle: »Es gibt so ’n schwules Museum, das heißt auch so, und da sind wir aufgetreten in der ›Langen Nacht der Museen‹, und die ›Lange Nacht der Museen‹ verbindet halt alle Berliner Museen, wo die Leute mit so ’nem Shuttle-Bus von Museum zu Museum fahren. Und da war ganz klar, dass da also überwiegend Hetero-Publikum war, die halt auf der Tour auch das ›Schwule Museum‹ -. […] Und da hat man schon genau gemerkt, dass das halt Hetero-Publikum war, so, weil sozusagen die Lacher an anderen Stellen kamen. Und da haben wir die Show dreimal hintereinander gemacht, und beim ersten Mal haben wir irgendwie gemerkt, die haben’s gar nicht geschnallt, so, ne. […] I: Die haben’s gar nicht geschnallt. Was haben die denn gedacht, was sie sehen? A: Na ja, einfach irgendwie Typen I: [unterbricht] ’n paar Jungs? A: ’n paar Jungs, die da irgendwie ’ne Show machen, also den Eindruck hatten wir. Ich mein’, wir haben jetzt nicht jeden einzelnen gefragt, aber man hatte schon den Eindruck, wenn halt einfach die Lacher an ’ner andern Stelle kommen. Wenn man so Tanzeinlagen macht, wenn da geklatscht wird, also da wird klar, man wird einfach nur für die Performanceleistung beurteilt und nicht für das, was dahintersteht. Ähm, oder halt extrem gelacht wird bei diesen Schwulenparodien, weil die denken halt so: Ah, ’n paar Jungs machen sich über Schwule lustig, so, also es funktioniert dann einfach über andere Sachen. Und das kriegt man ja mit, wenn man die Nummer schon öfters gemacht hat, wenn man sie jetzt das erste Mal macht, dann vielleicht noch nicht, aber wenn man die Nummer öfter gemacht hat, dann weiß man irgendwie: okay, wenn hier gelacht wird, dann hat man eindeutig Hetero-Publikum.« (Int. 8)126
Tino berichtet hier von der eher ungewöhnlichen Situation einer Performance vor einem Publikum, das kaum oder gar nicht darauf vorbereitet 126 Ähnliche Erfahrungen berichtet ›el roc‹ von den pussycoxx in einem Interview in Thilmann et al. (Hg.) 2007: »Am liebsten tanzen wir vor einem gut gelaunten, gespannten Publikum – dass die meisten selber was mit (trans)gender zu tun haben, verbindet. Die besten Partys haben wir in alternativen, linken und queeren Räumen gehabt. Veranstaltungen mit hohem Standard-Hetero- oder Tages- bzw. Laufpublikum haben es meist nicht so gebracht, da ging es dann eher um die tänzerische Qualität der Darbietung.« (Ebd.: 48) – Anders als Tino, der zwischen ›Lesben‹, ›Schwulen‹ und ›Heteros‹ unterscheidet, vermeidet ›el roc‹ eine identitäre Kennzeichnung unterschiedlicher Zusammensetzungen des Publikums. Unterschiedliche Lesefähigkeiten und Bezugnahmen macht er/sie an durch bestimmte Traditionen geprägten ›Räumen‹ fest sowie daran, ob die Zuschauenden in einem weiten Sinne etwas mit ›(trans)gender zu tun‹ haben. 164
DIE SZENE
ist, eine Drag King-Show zu sehen zu bekommen und das sich durch keinerlei Affinität zu den Szenen auszeichnet, aus denen sich das Publikum bei den meisten anderen Drag King-Shows zusammensetzt. Die Kennzeichnung dieses Publikums als »Hetero-Publikum« ergibt sich für Tino nicht aus einer zur Schau gestellten sexuellen Verortung der Zuschauenden, sondern erfolgt aufgrund deren offensichtlicher Unkenntnis von bestimmten Codes, die die Performances erst lesbar machen. In diesem Fall vermutet Tino, dass das Publikum die Performance einpasst in eine zweigeschlechtlich geprägte Wahrnehmung, in der die männlich codierten Figuren als »einfach irgendwie Typen« gelesen werden. Wenn Tinos Vermutung zutrifft, handelt es sich hier um ein ›erfolgreiches‹ passing (die Performenden gehen als Männer durch), während dies in lesbisch, schwul, queer und/oder durch ›Trans*‹-Zusammenhänge geprägten Räumen offensichtlich nicht geschieht. Mit Amy Robinson (1994) könnte man das Publikum in solchen Räumen als »ingroup clairvoyants« charakterisieren. Als solche bezeichnet Robinson Angehörige marginalisierter Gruppen (in ihren Beispielen U.S.-amerikanische Schwarze sowie Lesben und Schwule), die in der Lage sind, Angehörige ihrer ›Gruppe‹ auch dann zu ›erkennen‹, wenn sie für die Angehörigen der jeweiligen Mehrheitskultur (d.h. weiß resp. heterosexuell) als eine_r der ›Ihren‹ durchgehen, d.h. passen. Robinson schlägt nun vor, dieses ›Erkennen‹ (des passenden Subjekts als solchem), das oft als eine intuitive, aufgrund einer gemeinsamen Identität unmittelbar zugängliche Wahrnehmung beschrieben wird, stattdessen als »skill of reading«, als eine Lesefähigkeit zu interpretieren, die sich aus der Kenntnis sowohl der dominanten als auch diverser marginalisierter Codes ergibt. Was die »in-group clairvoyants« aufgrund dessen sehen können, sind nicht essentialistisch fassbare ›wirkliche‹ Identitäten, sondern vielmehr die Strategien der Darstellung, die das passing bedingen und die den Mehrheitsangehörigen verborgen bleiben: »[W]hat may be available to the in-group is the visibility of the apparatus of passing – literally the machinery that enables the performance. What the ingroup sees is not a stable prepassing identity but rather the apparatus of passing that manufactures presumption (of heterosexuality, of whiteness) as the means to a successful performance.« (Ebd.: 721f.)
Während Robinson sich auf als solche intendierte Akte des passing bezieht, lebt die Drag Performance im Gegensatz dazu gerade von dem Offenlegen des »apparatus of passing«. Intention und Adressierung des Publikums sind hier unterschiedlich: Die Darstellungen, von denen Ro165
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
binson spricht, richten sich an die Angehörigen der jeweils dominanten Gruppe mit dem Ziel, als eine/r der Ihren gelesen zu werden; nur wenn dies gelingt, handelt es sich um »a successful performance«. Demgegenüber sind die Drag King-Performances, so macht Tino hier deutlich, aus seiner Sicht gerade dann »successful«, wenn die Strategien der Darstellung von (in diesem Falle) ›Männlichkeit‹ als solche erkennbar werden und dadurch das, was sichtbar wird, etwas anderes bedeutet als »einfach irgendwie Typen«. Da der ›Erfolg‹ der Performances in diesem Sinne mit einem »Hetero-Publikum« offensichtlich schwieriger zu bewerkstelligen ist, weil bestimmte »skills of reading« hier nicht vorausgesetzt werden können, zieht Tino für diesen Fall besondere Strategien in Erwägung: »Also zum Beispiel ist mir wichtig, dass vor Hetero-Publikum ich auf jeden Fall Nummern machen möchte, wo’s ’n Bruch gibt in der Nummer zwischen männlich und weiblich, also wo die das auch eindeutig dann schnallen, wenn man also weiß, dass halt also 95 Prozent mit Drag King -, nichts damit anfangen können mit dem Namen, selbst wenn wir irgendwie angekündigt werden. Also ich gucke auch zum Beispiel auf die Ansagen […]. Wir haben halt mal so ’ne Ansage gehabt, die ich eigentlich ganz gut fand, aber zum Beispiel nur vor Hetero-Publikum machen würde, dass früher in meinem Pass stand: w für weiblich, oder f für female, so. Es ist halt nicht so mit ’nem Vorschlaghammer: Also ihr seht jetzt Frauen, die als Männer angezogen sind, so, das ist ’n bisschen zu heftig, aber so mit diesem Hintertürchen rein, dass die Leute sagen: aha, dass sie dann die Nummer ja auch anders beurteilen. […] [D]ie gucken nur irgendwie auf das Performance-Level, was sie aus Film, Fernsehen und sonstigem kennen, und klatschen danach, aber eigentlich geht’s da ja sozusagen um mehr. Und damit sie dieses Mehr überhaupt wahrnehmen können, muss man halt vorher ’ne Ansage machen, so, die nicht mit dem Vorschlaghammer sein soll, was das Ganze dann nämlich schnell in so ’ne Art Freak-Show auch abgleiten lassen könnte, ähm, muss man halt so ’n bisschen dann andeuten: Ihr seht ’n bisschen was anderes, als ihr vielleicht erwartet, so.« (Int. 8)
Das fehlende Kontextwissen des Publikums versucht Tino zu substituieren durch unübersehbare Brüche in den Performances, die eine Vereindeutigung konterkarieren, und/oder durch erläuternde Ansagen, deren möglichen Gehalt er sorgfältig abwägt. Eine Aussage wie »also ihr seht jetzt Frauen, die als Männer angezogen sind«, verwirft er als zu »heftig«, als zu sehr »mit dem Vorschlaghammer«. Die Strategie, die er stattdessen wählt, ist jedoch nicht nur weniger direkt, sondern auch in ihrer Aussage eine andere: Der Hinweis auf einen früheren, von dem, was das Publikum als offensichtlich wahrnimmt, abweichenden Ge166
DIE SZENE
schlechtseintrag im Reisepass verschiebt die Frage nach dem ›tatsächlichen‹ Geschlecht des/der Performenden hin zu der Frage nach der Bedeutung und Wirkmächtigkeit von sozialen Praxen der Geschlechtszuweisung. Nicht das Vorgeben bestimmter Lesarten der Performance scheint Sinn und Zweck der von Tino erwogenen Strategien zu sein, sondern das Aufwerfen solcher Fragen und damit die Erschütterung von Erwartungen und vorstrukturierten Wahrnehmungsweisen: »Ihr seht ’n bisschen was anderes, als ihr vielleicht erwartet« – so fasst Tino zusammen, was er durch eine Ansage vermitteln möchte. Eine abschließende, begrifflich fixierende Erklärung der in der Performance sichtbar werdenden geschlechtlichen Verortungen – die »Vorschlaghammer«-Methode – würde ihm zufolge die Gefahr beinhalten, das Ganze zu einer »Freak-Show« zu machen, in der sich das Publikum in einer Geste des ›Othering‹ von der Performance distanzieren und seine eigenen Wahrnehmungsweisen unhinterfragt lassen könnte. Diese Einschätzung Tinos macht zugleich deutlich, dass es bei einem von ihm als adäquat eingeschätzten Verständnis der Performance um noch mehr geht als nur darum, den »apparatus of passing« zu durchschauen. Ob sich das Publikum auf die in der Performance angelegte mögliche geschlechtliche Wirklichkeit einlässt oder sie als »FreakShow« rezipiert und sich davon distanziert, bleibt auch dann noch eine offene Frage. Dies legt auch Till nahe, der das Gelingen oder Scheitern einer Performance anders als Tino nicht explizit an geschlechtlichsexuelle Verortungen des Publikums bindet: »Ich denke mal, das wichtigste ist, dass unsere Message irgendwie rüberkommt. Weil ich denke, da hilft die beste Show nichts, wenn nichts rüberkommt, wenn wir unser Publikum einfach nicht erreichen können, ich glaub’, das ist dann sehr-, sehr frustrierend auch. Das passiert auch manchmal. I: Ja? A: Na ja, sicher, also das passiert schon manchmal, dass man denkt, hä-, oder dass man das Gefühl hat, das Publikum denkt, hä, was ist das denn, und es kommt einfach gar nichts an. Ja, klar passiert das.« (Int. 7)
Auch Till macht implizit deutlich, dass der von ihm gewünschte Kontakt, die spürbare Interaktion eine Verstehensleistung des Publikums erfordert, damit die »Message rüberkommt«. Anders als Tino, der in dem zuvor zitierten Beispiel das offensichtliche Unverständnis des Publikums auf ein explizierbares Miss-Verständnis aufgrund einer mangelnden Kenntnis bestimmter Codes zurückführt, spricht Till hier von einem nicht näher begründeten, aber deutlich spürbaren Ausbleiben einer sinn167
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haften Bezugnahme (»also das spürt man einfach, ne, ob was ankommt oder nicht«, sagt er ein wenig später im Interview). Das ›Verstehen‹ der Performances, so möchte ich zusammenfassend vorschlagen, erfordert offensichtlich eine besondere Lesefähigkeit, die mit der Kenntnis bestimmter subkulturell geprägter geschlechtlicher und sexueller Codes zusammenhängt. Dass sich die gelingende Verstehensleistung weniger in einem kognitiven Begreifen als in einer spürbaren affektiven Bezugnahme äußert, die allein durch die Vermittlung von ›Fakten‹ in einer erläuternden Ansage nicht zu bewerkstelligen ist, wirft allerdings die Frage nach der Art des Wissens auf, das hier wirksam wird. Weniger ein kognitiv verfügbares, sondern eher ein durch Erfahrungen in bestimmten kulturellen (etwa queeren und/oder Trans*-) Zusammenhängen erworbenes habituelles, inkorporiertes Wissen scheint eine Bezugnahme auf die Performances zu ermöglichen, in der diese leiblich-affektiv als unmittelbar sinnhafte erfahrbar werden. Wenn meiner Interpretation nach Drag King-Performances also alternative geschlechtliche Möglichkeiten als potentiell ›wirkliche‹ hervorbringen, so geschieht dies – so lässt sich nun präzisieren – nicht als Effekt eines einmaligen, isolierten Aktes. In der (auch leiblich-affektiven) Interaktion zwischen Performance und Publikum, in der ein geteilter ›Sinn‹ der Performances sich konstituiert, werden ›Lesefähigkeiten‹ der Zuschauenden wirksam, die ihrerseits bereits durch vorangegangene Erfahrungen konstituiert sind.
3.3 Zu Performance-Praxen anregen Die meisten Drag King-Performances der hiesigen Szene finden in Räumen und Kontexten statt, die durch die in Kapitel II.2 dargestellten kulturellen und sozialen Bezüge geprägt sind: durch lesbische, lesbischschwule, queere, feministische, links-alternative und Transgender-Bewegungen und soziale Zusammenhänge. Neben den regelmäßigen Drag King-Partys (also der PenisNight in Berlin und der Ausnahme-Party in Köln) sind Anlässe des Auftretens z.B. diverse lesbische, queere und/ oder Trans*-Partys im Kreuzberger SO 36 (auch das Transgender-Festival Wigstöckel findet hier statt); Veranstaltungen im Berliner Schwulenzentrum SchwuZ; das schwul-lesbische Berliner Motzstraßenfest; verschiedene Alternativ-Veranstaltungen zu CSDs; Ladyfeste und andere feministisch geprägte Ereignisse; der Berliner FrauenLesbenTransgender-Wagenplatz schwarzer kanal; queere Fetisch- oder sonstige SexPartys. In den meisten Fällen wird auf eine gezielte Einlasspolitik verzichtet: Prinzipiell sind die meisten dieser Veranstaltungen offen für alle, die sich dadurch angesprochen fühlen. Dennoch ist die Zusammen168
DIE SZENE
setzung des Publikums bzw. der Partybesucher_innen deutlich geprägt durch den jeweiligen Szene-Bezug. Die demgegenüber selteneren Drag King-Performances in Räumen, die sich nicht explizit durch einen solchen Szene-Bezug auszeichnen, finden oft in einem Kontext statt, der als ›Kunst‹ ausgewiesen ist. Kein Zufall also, dass Tino als Beispiel für eine Performance vor überwiegend heterosexuellem Publikum einen Auftritt im Rahmen der Langen Nacht der Museen nennt – eine Veranstaltung, die er als wenig befriedigend beschreibt. Andere Beispiele zeugen jedoch davon, dass Veranstaltungen und Rezeptionen von Drag Kinging im Horizont von ›Kunst‹ auch eine Möglichkeit darstellen, die mit der Bindung an subkulturell geprägte Szenen einhergehenden Begrenzungen zu überwinden. So wurde das bislang größte, zeitlich ausgedehnteste und – gemessen an der Presseberichterstattung – öffentlichkeitswirksamste Drag King-Ereignis im deutschsprachigen Raum als Kunst-Veranstaltung konzipiert und durchgeführt: das bereits erwähnte, von Bridge Markland und Dianne Torr organisierte und mit Mitteln des Hauptstadtkulturfonds geförderte Festival go drag!, das im Sommer 2002 über mehrere Wochen hinweg im Berliner Kulturzentrum Tacheles Performances, eine Ausstellung, Workshops und Diskussionsveranstaltungen rund ums Drag Kinging für eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich machte. Zahlreiche sowohl internationale als auch lokale Drag King-Performer_innen waren an diesem Festival beteiligt. Einer von ihnen, Flin, beschreibt das Festival rückblickend zunächst als wichtiges Ereignis: »Das war auch ein richtiger Meilenstein, dieses Go Drag-Festival, für mich. […] Das war halt zum ersten Mal auch mit internationalem Anspruch und Bridge hat es geschafft, dafür die Gelder vom Hauptstadtkulturfonds locker zu machen, das heißt, das war zum ersten Mal richtig ausfinanziert. Und hat das ins Tacheles gesetzt, das ist eigentlich ein Kunst- und Kulturprojekt, das nicht schwul-lesbisch ist, sondern -, also hat’s so richtig in die Mitte der Gesellschaft reingesetzt und hat auch natürlich ’ne ganz andere Presse bekommen dadurch, dass es so offiziell gefördert wurde, ist raus aus dieser Nische ’n bisschen, zumindest für diese Zeit, für diesen Sommer.« (Int. 6)
Durch die Betonung der gesicherten Finanzierung, der medialen Aufmerksamkeit und der Platzierung des Festivals in einem Kontext, den er euphorisch als »Mitte der Gesellschaft« bezeichnet, macht Flin hier implizit seine Einschätzung deutlich, dass die sonst in der Szene üblichen Veranstaltungen meist finanziell prekär, medial wenig beachtet und in einer (»schwul-lesbisch« markierten) »Nische« vonstatten gehen.
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Gerade vor diesem Hintergrund spricht er mit deutlicher Begeisterung von dem Festival und bewertet dessen Wirkung eindeutig positiv. Zugleich grenzt er sich jedoch von dem Selbstverständnis der Organisator_innen und einiger anderer anlässlich des Festivals auftretender Performer_innen relativ deutlich ab und konturiert demgegenüber seine eigene Verortung. Während sich viele der am Festival Beteiligten primär als »Künstlerin« begreifen und als »Einzelkämpferin« arbeiten würden, sei ihm die kollektive Arbeit in einer Performance-Gruppe wichtig, die »eher so aus diesem Movement raus« entstanden sei. Mit der Verortung in einer hier nicht näher charakterisierten, aber offensichtlich mit einem (geschlechter-)politischen Anspruch verknüpften Bewegung verbinden sich für ihn Ziele, die über die Arbeit auf der Bühne hinausweisen: »[Wir] wollen was anderes, wir wollen ja nicht nur auf der Bühne stehen wie [einer der beteiligten international bekannten Performer_innen; U.S.], der ist zufrieden, wenn er Auftritte hat. Klar will er damit auch was bewirken, aber wir wollen ja in mehreren Schichten wirken, nicht nur die Bühne. Und das ist dann auch noch mal ’n anderer Anspruch, den man hat.« (Int. 6)
Dieser »andere Anspruch«, den Flin hier in Abgrenzung zu einem (primären) Selbstverständnis als »Künstlerin« formuliert,127 bedeutet für ihn unter anderem, Kinging als eine potentiell für alle verfügbare Praxis zu begreifen und durch das eigene Beispiel auch andere dazu zu ermutigen. Im Sinne des bereits erwähnten ›Do it yourself!‹-Prinzips zielen er und viele andere auf eine tendenzielle Aufhebung der klaren Trennung zwischen Performenden und Publikum, zwischen ›Produzent_innen‹ und ›Konsument_innen‹ des Kinging und betonen, dass diese Praxis weder besondere, nur wenigen vorbehaltene Talente noch langjährige Ausbildungen erfordert. Zwar schätzt Flin im Interview dennoch die in seiner Performance-Gruppe verfügbaren Fachkenntnisse aufgrund der Theatererfahrungen eines Mitglieds als unabdingbar ein: »so ’n bisschen Wissen
127 Auch wenn die Grundzüge des von Flin formulierten Verständnisses der eigenen Praxis des Kinging meiner Einschätzung nach von vielen geteilt werden, ist der damit implizit aufgemachte Gegensatz zwischen einer Verortung als professioneller/m Performance-Künstler_in einerseits oder als kollektiv arbeitende/r, einer politischen Bewegung verpflichteter/m Aktivist_in andererseits in dieser Schärfe für viele der an der hiesigen Drag King-Kultur Beteiligten nicht zu halten. Viele bewegen sich sowohl in primär Szene-bezogenen als auch in künstlerischen Räumen und/oder begreifen ihre (auch professionelle) künstlerische Tätigkeit gleichzeitig als politische Praxis (vgl. zu einigen Beispielen Konrad 2007). Ganz offensichtlich ist Drag Kinging als Performance-Praxis gegenwärtig sowohl als Kunst als auch als subkulturelle (Party-)Show rezipierbar. 170
DIE SZENE
brauchst du: was brauchst du für Licht, was wirkt, was wirkt nicht«. Das dadurch erreichte Maß an Professionalität beschreibt er jedoch beinahe als hinderlich für das eigentliche Anliegen der Gruppe: »Und das [die Theatererfahrungen eines Mitglieds; U.S.] hat uns, glaub’ ich, auch noch mal ziemlich weit nach vorne gebracht. Und deswegen ist auch leider der Anfangsimpetus ’n bisschen verloren gegangen, weil wir haben das eigentlich gemacht, um zu zeigen: guckt mal her, selbst wir können das, wir haben’s auch nicht gelernt, wir haben’s einfach gemacht, weil wir Bock drauf hatten und Spaß dran hatten und weil’s unheimlich viel Kreativität freisetzt und weil’s einfach tierisch Spaß macht und alle können das, ja. Ich bin auch nicht irgendwie als Drag King -, auch nicht irgendwie auf der Bühne groß geworden. Aber dadurch, dass es irgendwie gar nichts gab, was vergleichbar war, haben die am Anfang alle gedacht, so: oh Gott, oh Gott, die sind ja so toll, und da hat sich auch keiner getraut, das hatte dann den gegenteiligen Effekt. Das hat sich jetzt erst im letzten Jahr ziemlich gewandelt zum Glück, aber nicht in den ersten beiden Jahren, wo wir das gemacht haben, da ist der Schuss total nach hinten losgegangen.« (Int. 6)128
Dass die Kingz of Berlin seiner Einschätzung nach zunächst die unangefochtenen Stars der entstehenden Szene waren, ist aus Flins Sicht eher problematisch als erfreulich. Die Gruppe suchte daher nach Mitteln und Wegen, auch Andere zum Kinging zu bewegen: »Und da haben wir angefangen, diese Mitmach-Show zu machen, wo wir die Leute auch direkt ansprechen und auch sagen: komm, lass uns mal was machen, du bist so toll, und: komm, wir helfen auch, wenn du irgendwie Hilfe brauchst. Und so ein niedrigschwelliges Angebot auch in der AHA,129 wo jetzt
128 In einem Interview in Thilmann et al. (Hg.) 2007 formuliert el roc für die pussycoxx einen ähnlichen Anspruch, durch die eigene PerformanceTätigkeit andere zu ermutigen. El roc stellt dies in den Kontext der Erfahrung eines oft mühsamen Alltags aufgrund der eigenen geschlechtlich uneindeutigen Erscheinungsweise, demgegenüber die geschlechtliche Performance auf der Bühne eine Form der Ermächtigung sein kann: »Weil das [aggressive Rückmeldungen im Alltag; U.S.] nervt und frustriert und einen ganz schön klein machen kann, ist es super, diese drei Stufen zur Bühne hochzusteigen und die Bewunderung und den Respekt derer zu kriegen, die diese Scheißsituationen im Alltag genauso gut kennen. Ein wichtiger Teil für uns war es, den Leuten im Publikum zu sagen: ›Was ich kann, kannst du auch. Du musst nur diese drei Stufen hier hoch!‹« (Ebd.: 48) 129 AHA: Allgemeine Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft – ein 1974 gegründetes, nicht-kommerzielles, zunächst rein schwules, seit den frühen 1990er Jahren schwul-lesbisches Kulturprojekt, deren Räumlichkeiten in Berlin-Kreuzberg bis zu deren Kündigung Ende 2008 von unterschied171
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nicht gleich große Bühne wie im SO 36 ist. Und das läuft auch super und das macht auch riesigen Spaß, ja, das macht echt Spaß, weil das setzt wirklich bei allen möglichen Leuten unheimlich viel Kreativität frei, und das macht so ’n Spaß, denen zuzuschauen. Und man erkennt sich selber auch ’n bisschen drin wieder, weil man genau weiß, wie’s am Anfang war, wie aufgeregt man war und nicht wusste, kommt das jetzt an, finden die Leute das total bescheuert, kann ich das überhaupt, wirkt das nicht lächerlich. Und dann diese Euphorie hinterher, wenn man merkt: ja, es hat geklappt, erst mal die Euphorie: huch, es ist vorbei, Gott sei Dank, aber dann auch so diese positiven Reaktionen zu kriegen und auch zu hören: ja, schön, dass es das jetzt endlich gibt, und: ach ja, das hätt’s schon länger geben sollen und solche Sachen, das bei andern dann auch zu sehen, macht echt Spaß.« (Int. 6)
Die Mitmachshow der Kingz of Berlin startet in unregelmäßigen Abständen Sonntagnachmittags als Café Latte mit selbstgebackenem Kuchen, bevor gegen Abend die Show losgeht. Die Aufregung und die Euphorie, die Flin im Interview beschreibt, vermitteln sich auch dem Publikum, das seinerseits überwiegend anerkennend und solidarisch auch auf Experimente und erste Versuche reagiert.130 Sehr unterschiedliche Formen der Darstellung prägen die einzelnen Acts auf der Bühne: Selbstverfasste Kurzgeschichten oder Gedichte werden vorgetragen, Lieder gesungen, Tanzeinlagen geboten, kleine Szenen gespielt. Tunten, Transen und Drag Queens performen gemeinsam mit Drag Kings, bekanntere Performer_innen treten teils gemeinsam mit Leuten auf, die zum ersten Mal auf der Bühne stehen. Der Spaß am Ausprobieren, am Vorläufigen und am Experiment beherrscht die Stimmung.
lichen Gruppen genutzt wurden; siehe http://www.aha-berlin.de, Stand: 15.02. 2010. 130 So habe ich z.B. eine Show erlebt, bei der eine Person aus dem Publikum mehrfach den spontanen Wunsch äußerte, auf die Bühne zu gehen, und dabei einen äußerst verwirrten Eindruck machte. Eine leichte Unruhe machte sich im Publikum breit: Würde sie auf die Bühne gehen und sich möglicherweise blamieren? Oder würden die Veranstalter_innen ihr ihren Wunsch verweigern, und würde dies zum Eklat führen? – Nach einem Vier-Augen-Gespräch mit ihr kündigte eine/r der Veranstalter_innen sie schließlich auf der Bühne als nächsten Act an, woraufhin sie, immer noch deutlich verwirrt, aber offensichtlich froh und glücklich, mit stockender Stimme zwei recht konventionelle Witze aus einer Illustrierten vorlas. Der Beifall, den sie erhielt, hatte meinem Empfinden nach nichts Zynisches oder Herablassendes. Zwar fiel ihre Vorführung deutlich aus dem Rahmen dessen, was sonst innerhalb der Szene als gelungene Performance gilt (und markierte damit zugleich diesen Rahmen). Dennoch drückte der Beifall des Publikums meiner Einschätzung nach Solidarität und Anerkennung aus. 172
DIE SZENE
Flin bezeichnet die Mitmachshow als »niedrigschwelliges Angebot«. Dennoch sind diejenigen, die sich hier auf die Bühne trauen, in der Regel bereits mit der Drag King-Szene und den in ihr zirkulierenden Performance-Praxen vertraut. Anders ist dies bei den meisten Drag King-Workshops, die von vielen Performer_innen angeboten werden. Teils im Kontext anderer Veranstaltungen (z.B. im Rahmen von Ladyfesten) oder in Kooperation mit anderen Gruppen (z.B. FrauenLesbenReferaten von Uni-ASten oder anderen hochschulpolitischen Gruppen) organisiert, treffen hier Leute mit viel oder auch keiner Vorerfahrung mit Drag, mit unterschiedlichen Interessen und unterschiedlichen Graden der Affinität zum Kinging und der damit verbundenen Szene aufeinander. Ein Schwerpunkt der meisten Drag King-Workshops liegt auf der Vermittlung von Techniken, Tipps und Tricks, die die eigene Erscheinung als eine glaubwürdig ›männliche‹ ausweisen und ggf. auch ein passing als Mann ermöglichen sollen. Eingebettet wird dies jedoch meist in eine angeleitete Reflexion darüber, wie die herrschende zweigeschlechtliche Codierung von Stilmitteln, Gesten und Bewegungsweisen sowohl räumliche Bezugnahmen als auch eigene Erfahrungsweisen (hierarchisch) strukturiert, und dies wird für die Teilnehmenden auch im körperlichen Nachvollzug erfahrbar gemacht. In praktischen Übungen werden zunächst gewohnte Bewegungs- und Verhaltensmuster deutlich und bewusst gemacht und sodann Alternativen ausprobiert: Wie fühlt es sich an, sich in einer ›männlich‹, wie, sich in einer ›weiblich‹ konnotierten Art und Weise zu bewegen?131 Dass sich mit Mitteln des Drag jedoch noch mehr bewerkstelligen lässt als eine Reflexion und Aneignung ›weiblicher‹ und ›männlicher‹ Inszenierungsweisen, verspricht die Ankündigung eines »Genderfuck Workshops«, den die Sissy Boyz und die pussycoxx im Rahmen des Ladyfests Dresden im Sommer 2005 gemeinsam veranstalteten. Unter der Überschrift »Drag ist, wenn es Verkleidung ist?« formulieren sie: »Unser Verständnis von Drag geht über das Kleben eines Bartes an die Dame oder das Auflegen von Lippenstift an den Herren hinaus. Obwohl beides viel Laune macht und bedenkenlos hemmungslos betrieben werden sollte, so geht doch noch mehr. Double drag ist eine Herausforderung, ›be your own boydyke vs. femme as you can‹ ein Highlight der Saison oder entdecke mal den Frührentner in dir. Oder gar deine Mutter?
131 Auf die Art und Weise, wie in Drag King-Workshops geschlechtlich codierte Körperpraxen vermittelt, ausgelotet und reflektiert werden, gehe ich in Kapitel III.2 näher ein. 173
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
In diesem Workshop werden wir euch einige ›basics‹ von Drag vermitteln, so wie das Brustabbinden, Bärte malen und kleben, Schminken und Frisuren, Packing, Körperhaltung, Stimme und Attitude. Äh, und der Genderfuck? Darunter verstehen wir, dass es ein ›Original‹ von Geschlecht nicht gibt. Doch gibt es durchaus patriarchale Verhältnisse, in denen Geschlecht sich in die Körper einschreibt. Also doch? Oder nicht? Lasst uns diskutieren: Was geht im 21. Jahrhundert bei Queens, Männlichkeit, Transgender, Femme, Weiblichkeit, Feminismus, Butch, Drag Kings? Queer as fuck.«132
Der Ankündigungstext kennzeichnet die zweigeschlechtliche, »patriarchale« Ordnung als kontingent (es gibt kein geschlechtliches »Original«) und wirkmächtig zugleich (Geschlecht bleibt den Individuen nicht äußerlich, sondern schreibt sich als gesellschaftliches Verhältnis in die Körper ein). Was angesichts dessen durch Drag und verwandte Praxen ermöglicht werden kann oder nicht, was »geht«, wird als eine offene Frage formuliert, die im Workshop diskutiert, aber offensichtlich auch praktisch ausgelotet werden soll. Die Performances im Kontext der hiesigen Drag King-Szene, so lässt sich zusammenfassen, adressieren potentiell alle, die sich dafür interessieren – sie finden in der Regel in öffentlich zugänglichen Räumen statt. Zugleich sind die meisten dieser Räume durch Bezüge zu (lesbisch-)queeren, Transgender- und links-alternativen Szenen geprägt, und dies konturiert auch die Lesefähigkeit und Rezeptionshaltung des Publikums. Viele der Performenden engagieren sich in Strategien, um die Performances auch für diejenigen zugänglich zu machen, die über derartige Szene-Bezüge nicht verfügen – etwa, indem die Performances unterschiedliche ›Ebenen‹ aufweisen sollen, indem durch erläuternde Ansagen fehlendes Kontextwissen substituiert wird, oder auch durch eine Rahmung des Ereignisses als Kunst und einer damit verbundenen Ausweitung möglicher Rezeptionshaltungen. Dennoch herrscht die Einschätzung vor, dass die Performances in Szene-bezogenen Räumen am besten ›funktionieren‹, und zwar in dem Sinne, dass die Vorführung weniger distanziert-intellektuell rezipiert wird, sondern das Publikum sich selbst in das Geschehen involviert. Dies geschieht zum Einen in der auch körperlich-affektiven Interaktion zwischen Performance und Publikum. Involviert wird das Publikum zum Anderen dann, wenn die Performances als Anregung zu eigener Praxis aufgegriffen werden. Dadurch und durch die Erprobung unterschiedlicher geschlechtlicher Stile in Drag Workshops erfahren Drag Praxen eine über die Bühne hinausweisende Veralltäglichung. 132 Zitiert nach http://www.ladyfestdresden.tk, Stand: 01.09.2008. 174
DIE SZENE
4. Drag Kinging im Horizont von (Gegen-) Öffentlichkeit – ein Zwischenfazit Im vorliegenden Kapitel wurden die kollektiven Aktivitäten, Praxen, Bezüge und Verortungen beleuchtet, die im Horizont der hiesigen Drag King-Szene hervorgebracht werden und diese als eine Szene konstituieren. In Ansätzen wurde dabei bereits deutlich, dass viele dieser Praxen und Bezüge einen öffentlichen bzw. auf Öffentlichkeit zielenden Charakter haben. Die Einrichtung einer für alle Interessierten zugänglichen Mailingliste, die Planung und Durchführung von Diskussionsveranstaltungen, die Beteiligung an der Auseinandersetzung etwa um eine Reform des sog. Transsexuellengesetzes im Kontext von TransgenderNetzwerken, die Aufführung von Performances in unterschiedlich geprägten Räumen – dies und vieles mehr sind Formen öffentlicher und Öffentlichkeit hervorbringender Artikulation und Adressierung. Zugleich wurde deutlich, dass viele Formen der Adressierung in einer Weise auf durch bestimmte Szenen geprägte Räume und Zusammenhänge bezogen sind, die die Ver-Öffentlichung zu spezifizieren und mitunter auch zu beschränken scheint. Dieser Aspekt soll nun vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten Ergebnisse diskutiert werden: Auf welche Weisen und in welchem Sinne wird durch die kollektiven Praxen der Szene Öffentlichkeit (mit) hergestellt? Inwiefern lässt diese sich als Gegenöffentlichkeit charakterisieren? Welche Bedeutung kommt den herausgearbeiteten konstitutiven Szene-Bezügen dabei zu? Durch diese Diskussion soll der hier interessierende soziale Kontext über die wesentlich deskriptive Charakterisierung als Szene hinaus in einer analytischen Perspektive genauer bestimmt werden. Aufgegriffen wird in diesem Zusammenhang auch die Frage, inwiefern Adressierungen und Praxen der Drag King-Szene auf eine alternative (geschlechtliche) Wirklichkeit zielen – eine Frage, die allerdings erst in den folgenden Kapiteln konkretisiert und genauer bearbeitet werden wird.
Zur Konzeption öffentlicher und gegenöffentlicher Formen der Adressierung Die Konzeptionen von Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit, auf die ich mich im Folgenden beziehe, sind hervorgegangen aus einer kritischen Auseinandersetzung mit einer Idealvorstellung, die die Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit wenn nicht faktisch, so doch normativ bestimmte. Dieser Vorstellung nach galt ›die‹ Öffentlichkeit als Sphäre, in der – anders als in der durch Partikularinteressen strukturierten Sphäre des Marktes und der Produktion – allgemeine Ange175
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
legenheiten im rationalen, herrschaftsfreien Diskurs unter Absehung von Herkunft, sozialem Status und Verkörperung und damit verbundener Erfahrungen, Bedürfnisse und Interessen verhandelt werden (sollen). Während Jürgen Habermas (1990 [1962]) bestrebt war, den normativen, potentiell inkludierenden Gehalt bürgerlicher Öffentlichkeit zu rekonstruieren und kritisch sowohl gegen historische Ausschlüsse als auch gegen die von ihm diagnostizierten Tendenzen eines entdemokratisierenden »Strukturwandels« in Anschlag zu bringen, formulierten andere Autor_innen eine grundsätzlichere Problematisierung. Der vielfach erbrachte Nachweis, dass die Ausschlüsse (insbesondere von Frauen und von nichtbürgerlichen Männern) und Selbstbeschränkungen (gegenüber Marktwirtschaft, Staat und Privathaushalt), die mit der Herausbildung bürgerlicher Öffentlichkeit einhergingen, historisch nicht kontingent, sondern konstitutiv für diese waren, stellte das angenommene Potential der Ausweitung und Inklusivität von Öffentlichkeit grundlegend in Frage. Insbesondere aus feministischer Perspektive konnte gezeigt werden, dass die konstitutive Opposition zum Privaten in mehrfacher Hinsicht das demokratische Potential beschränkte, weil dadurch nicht nur zunächst ›die Frauen‹ selbst, sondern weiterhin auch Fragen sozialer Verortung und des alltäglichen Lebens wie etwa Dimensionen von Körperlichkeit und Sexualität als ›private‹ aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen wurden. Problematisiert wurde zudem die nur scheinbare Universalität der zugrundeliegenden Konzeption der (rational-diskursiven) Verhandlungsformen, die sich als implizit bürgerlich-männliche analysieren ließen. Als herrschaftsförmig erwies sich daher aus dieser Perspektive nicht nur die real existierende bürgerliche Öffentlichkeit, sondern auch das Ideal rational-diskursiver Verhandlung unter Absehung von als privat markierten Belangen in einer einzigen Öffentlichkeit, die die sogenannte Allgemeinheit zu repräsentieren beanspruchte.133 In zahlreichen Weiterentwicklungen und Reformulierungen von Öffentlichkeitstheorien ist diesen grundlegenden Kritiken inzwischen Rechnung getragen worden. So entwirft etwa Nancy Fraser (2001) in kritischer Auseinandersetzung mit Habermas ein (ebenfalls als normativ zu verstehendes) Modell, in dem das Ideal der Absehung von kulturellen und sozialen Verortungen aufgegeben werden soll zugunsten einer grundlegenden Anerkennung der Kulturgebundenheit und Beschränktheit jeder Form der Kommunikation; in dem der Bereich der zu verhandelnden Fragen und Themen nicht im Vorhinein begrenzt werden soll;
133 Vgl. u.a. Dackweiler/Holland-Cunz 1991; Lang 1994; Benhabib 1995; Fraser 2001; Wischermann 2003: 41ff. 176
DIE SZENE
und in dem eine Vielzahl gleichzeitig existierender Öffentlichkeiten (die Fraser teilweise als subalterne Gegenöffentlichkeiten charakterisiert) die Zugangsbeschränkungen, Ausschlüsse und Hegemoniebildungen, die mit der Beschränkung auf eine Öffentlichkeit unweigerlich einhergehen, überwinden helfen sollen. In seinem Essay Publics and Counterpublics greift Michael Warner (2002) Grundzüge dieser Überlegungen auf. Er kritisiert allerdings, dass Fraser trotz ihrer Betonung der sozialen und kulturellen Spezifizität öffentlicher Formen der Kommunikation implizit an einem Ideal rational-diskursiver Verhandlungsformen festhalte (vgl. ebd.: 118). In seiner eigenen, weniger normativ als analytisch angelegten Konzeption gilt sein Augenmerk demgegenüber ganz besonders der Bedeutung unterschiedlicher Artikulationsformen und Stile öffentlicher sowie gegenöffentlicher Adressierungen. Aus diesem Grund erscheint mir sein Ansatz besonders produktiv für eine Diskussion der möglichen öffentlichkeitskonstituierenden Dimension von Drag King-Praxen und der in ihnen wirksam werdenden kulturellen Bezüge. Zunächst sollen deshalb die Grundzüge dieses Ansatzes skizziert werden. Wie Fraser geht auch Warner (empirisch) von einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Öffentlichkeiten aus, die teils in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Als konstitutiv für ihre Charakterisierung als Öffentlichkeiten (im Unterschied zu anderen sozialen Formen wie etwa Gemeinschaft, Volk, Gruppe etc.) erachtet Warner, dass sie erst durch eine spezifische Form der Adressierung hervorgebracht werden. Diese ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass sie sich an ›Fremde‹ richtet und nicht an eine empirisch bestimmbare, begrenzte Gruppe. Wen die Äußerung tatsächlich erreichen wird, wer sich derart adressieren lässt und dadurch Teil dieser Öffentlichkeit wird, d.h. wie Öffentlichkeit sich realisiert, ist nicht im Vorhinein festgelegt. Trotz dieser konstitutiven Unbestimmtheit ist in die Form der Adressierung notwendig eine Beschränkung und Spezifizierung eingelassen: »A public […] appears to be open to indefinite strangers but in fact selects participants by criteria of shared social space (though not necessarily territorial space), habitus, topical concerns, intergeneric references, and circulating intelligible forms (including idiolects or speech genres). These criteria inevitably have positive content.« (Warner 2002: 106)
Indem Warner den spezifischen und nie neutralen Gehalt der auf Öffentlichkeit zielenden Äußerung betont, schließt er an eine bereits skizzierte Kritik an: Vor dem Hintergrund der tatsächlichen sozialen und kulturellen Bedingtheit der eine Öffentlichkeit charakterisierenden Kommuni177
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kationsformen (und den damit verbundenen Schließungen) hat die Behauptung der Transparenz und Universalität von Öffentlichkeit ideologischen Charakter. Es ist jedoch weniger die Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit, sondern eher eine Spannung und Gleichzeitigkeit, die Warner als charakteristisch für die öffentlichkeitskonstituierende Adressierung fasst: Konstitutiv bleibt, dass ›Fremde‹ adressiert werden, auch wenn diese durch die Art der Adressierung zugleich als bestimmte, nicht-beliebige Fremde konstituiert (und auch ausgewählt) werden. Warner bestimmt damit die (teils auch herrrschaftssichernde) Wirkmächtigkeit von Öffentlichkeit weniger (in ideologiekritischer Weise) als eine ideologische, sondern vielmehr als eine performative. Über die zumindest implizite Konstituierung und Spezifizierung der Adressat_innen hinaus zielt die öffentliche Adressierung auf die Realisierung einer bestimmten ›Welt‹. »A public is poetic world making«, konstatiert Warner, und führt aus: »There is no speech or performance addressed to a public that does not try to specify in advance, in countless highly condensed ways, the lifeworld of its circulation: not just through its discursive claims – of the kind that can be said to be oriented to understanding – but through the pragmatic of its speech genres, idioms, stylistic markers, address, temporality, mise-en-scène, citational field, interlocutory protocols, lexicon, and so on. Its circulatory fate is the realization of that world. Public discourse says not only ›Let a public exist‹ but ›Let it have this character, speak this way, see the world in this way‹.« (Ebd.: 114)
Die Spezifizität und kulturelle und soziale Bedingtheit der Äußerungsformen wirkt demnach nicht nur ausschließend, sondern auch performativ, als eine Form der Anrufung im Sinne Althussers: Durch die Adressierung sollen die ›Angerufenen‹ zu solchen werden, die so adressierbar sind; Räume und Bezugnahmen zu solchen, die eine solche Adressierung möglich und sinnvoll machen; die Welt zu einer spezifisch strukturierten und begriffenen Wirklichkeit. Die Bedeutung von Öffentlichkeit(en) im Kampf darum, wie eine gemeinsame, geteilte Welt und Wirklichkeit aussehen soll, wird damit nicht nur in der (rational-diskursiven, auf Argumentation und Überzeugung basierenden) Aushandlung dessen, sondern ebenso sehr in der Wirkmächtigkeit der performativen Dimension von (sowohl sprachlichen als auch körperlichen) ÄußerungsAkten verortet. Durch die Vorstellung von Öffentlichkeit als rationalkritischem Diskurs werde diese performative Dimension jedoch regelmäßig übersehen:
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DIE SZENE
»[T]he perception of public discourse as conversation obscures the importance of the poetic functions of both language and corporeal expressivity in giving a particular shape to publics. The public is thought to exist empirically and to require persuasion rather than poesis. Public circulation is understood as rational discussion writ large.« (Ebd.: 115)
Wirksam wird diese Vorstellung Warner zufolge nicht lediglich in theoretischen Konzeptionen, sondern in der tatsächlichen Organisation des Verhältnisses unterschiedlicher Öffentlichkeiten zueinander. Je eher eine Öffentlichkeit auf Formen zu basieren scheint, die den Kriterien rational-diskursiver Aushandlung nahe kommen, desto eher kann sie sich als universell behaupten und den Anspruch erheben, nicht eine, sondern die Öffentlichkeit zu sein oder zu repräsentieren; »to stand in for the public, to frame their address as the universal discussion of the people« (ebd.: 117). Je mehr umgekehrt Dimensionen von Körperlichkeit und kulturell spezifischen Stilen in der öffentlichen Kommunikation nicht nur verdeckt, sondern offensichtlich wirksam sind, desto eher wird sie als partikular und damit womöglich gar nicht als Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Letzteres gilt nun besonders für diejenigen Öffentlichkeiten, die Warner als »Gegenöffentlichkeiten« bezeichnet. Gegenöffentlichkeiten zeichnen sich für Warner dadurch aus, dass sie auch ihrem Selbstverständnis nach nicht ›die‹ Öffentlichkeit zu repräsentieren beanspruchen. Während dies auch für andere Teil- oder Suböffentlichkeiten gilt,134 stehen Gegenöffentlichkeiten zudem explizit oder implizit in Opposition zu den sich als ›allgemein‹ verstehenden Öffentlichkeiten, die ihnen gegenüber dominant sind – und zwar nicht nur auf der Ebene diskursiv artikulierter politischer Ziele, sondern auch auf der Ebene von Stilen und Formen der Adressierung: »A counterpublic maintains at some level, conscious or not, an awareness of its subordinate status. The cultural horizon against which it marks itself off is not just a general or wider public but a dominant one. And the conflict extends not just to ideas or policy questions but to the speech genres and modes of address that constitute the public« (ebd.: 119). 134 Warner nennt als Beispiel Öffentlichkeiten, die um ein bestimmtes Hobby herum organisiert sind. Die Zeitschrift Field & Stream, die sich an Jäger und Fischer richtet, behauptet auch nicht, die generelle Öffentlichkeit zu sein oder zu repräsentieren; aber die Suböffentlichkeit, die durch die Adressierung der Zeitschrift konstituiert wird, steht nicht im Konflikt mit ›der‹ (hegemonialen) Öffentlichkeit: Nichts hindert die Jäger und Fischer daran, sich gleichzeitig selbstverständlich als Bestandteil der allgemeinen Öffentlichkeit zu verstehen (vgl. ebd.: 117). 179
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Die Performativität öffentlicher Adressierung, die in dominanten bzw. hegemonialen,135 sich als universell gebenden Öffentlichkeiten tendenziell verschleiert werde, werde in Gegenöffentlichkeiten explizit mit der Hoffnung auf Transformation des Bestehenden verbunden: »Dominant publics are by definition those that can take their discourse pragmatics and their lifeworlds for granted, misrecognizing the indefinite scope of their expansive address as universality or normalcy. Counterpublics are spaces of circulation in which it is hoped that the poesis of scene making will be transformative, not replicative merely.« (Ebd.: 122)
Wie jede Öffentlichkeit zeichnen sich auch Gegenöffentlichkeiten für Warner durch die spezifische Form der Adressierung, die sich immer auch an Fremde richtet, aus. Anders als durch dominante Öffentlichkeiten würden diese Fremden aber nicht nur implizit, sondern explizit als spezifische, in bestimmten sozialen Bezügen situierte adressiert: »Like all publics, a counterpublic comes into being through an address to indefinite strangers. (This is one significant difference between a counterpublic and a community or group.) But counterpublic discourse also addresses those strangers as being not just anybody. They are socially marked by their participation in this kind of discourse; ordinary people are presumed not to want to be mistaken for the kind of person who would participate in this kind of talk or be present in this kind of scene.« (Ebd.: 120)
In Gegenöffentlichkeiten, so lässt sich zusammenfassen, wird nach Warner die Dimension der sozialen, kulturellen, stilistischen und auch körperlichen Spezifizität, die in jede Form öffentlicher Adressierung konstitutiv eingelassen ist, explizit (und nicht lediglich implizit) wirksam und deutlicher als solche erkennbar: Die Formen selbst sind als spezifische markiert und nicht als ›universell‹ wahrnehmbar. Sich durch sie adressieren zu lassen, markiert die Adressat_innen als in spezifischen 135 Die von Warner vorgenommene Charakterisierung dominanter Öffentlichkeiten als derjenigen, die ihre Formen der Adressierung als allgemeine oder universelle behaupten können, scheint mir im Begriff des Hegemonialen besser aufgehoben: Hegemonial und nicht lediglich dominant sind die Öffentlichkeiten und die in ihnen zirkulierenden Formen insofern, als die implizite Behauptung der Selbstverständlichkeit und Universalität auf Herrschaft durch Organisierung von Konsens zielt (und nicht durch repressiven Ausschluss); ein Konsens, in den potentiell auch diejenigen eingebunden werden, die durch die Form der Adressierung marginalisiert werden. Wenn ich mich nicht direkt auf Warner beziehe, verwende ich deshalb im Folgenden das Adjektiv hegemonial zur Kennzeichnung dieser Formen und Öffentlichkeiten. 180
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sozialen Bezügen verortete (und belässt sie nicht als ›unmarkierte‹ Repräsentant_innen des Allgemein-Menschlichen); und die Welt, auf deren performative Hervorbringung die Adressierungen sich richten, ist nicht ›die eine‹, als selbstverständlich unterstellte, sondern eine zum Bestehenden alternative Welt.
Drag King-Praxen als gegenöffentlichkeitskonstituierende Adressierungen? Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchte ich nun diskutieren, inwiefern die in diesem Kapitel thematisierten kollektiven Aktivitäten und Praxen des Kinging als gegenöffentlichkeitskonstituierende Formen der Adressierung begriffen werden können. Zu fragen ist dabei allerdings auch, inwiefern Warners Konzeption möglicherweise zu kurz greift, um das gegenwärtige Verhältnis unterschiedlicher Öffentlichkeiten zueinander und die Rolle der mit der Drag King-Szene verbundenen kollektiven Praxen in dem dadurch konstituierten Feld angemessen bestimmen zu können. Offensichtlich scheint zunächst, dass zahlreiche der hier aufgezeigten kollektiven Praxen in der Tat als öffentlichkeitskonstituierende Adressierungen bezeichnet werden können. Dies gilt zwar nicht für alle Praxen und Sozialformen, die konstitutiv für die Szene sind – etwa für den Austausch in Freundschaftsnetzwerken oder das Proben in festen Performance-Gruppen –, aber doch für die meisten: Bühnenperformances, Websites, Diskussionsveranstaltungen, Positionspapiere, Partys, Ausstellungen, Mailingliste und Zeitschrift, auch die regelmäßigen ›offenen Treffen‹ (Tafelrunde und Kingz’ Club) adressieren ›Fremde‹ als potentielle Teilnehmer_innen an einem gemeinsamen, dadurch (mit-) konstituierten öffentlichen Raum, der über den jeweils konkreten physischen oder auch virtuellen Raum hinausreicht. Offensichtlich ist auch, dass ›Fremde‹ als zwar nicht eindeutig bestimmte, aber dennoch nicht beliebige Fremde adressiert werden – auch dann, wenn, wie es für die meisten der genannten Beispiele gilt, potentiell ›alle‹ angesprochen werden. Und insofern die Bezüge, die die Formen der Adressierung als spezifische und nicht ›neutrale‹ konstituieren, deutlich zu erkennen gegeben werden, lässt sich mit Warner von gegenöffentlichkeitskonstituierenden Adressierungen sprechen: Durch den expliziten (links-alternativen, queeren/queer-feministischen und/oder trans*-) Szene-Bezug der meisten Räume, in denen Veranstaltungen stattfinden; durch die Verwendung von Symbolen (wie dem Anarcho-A), Bildern (wie etwa den gegrillten Dildos auf einem Flyer) und Ästhetiken (z.B. Punk- oder Camp-Stilen); durch Schreibweisen, Begriffe, sprachliche Wendungen 181
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und Formen der Ironie werden die Adressierten angerufen als solche, die sich in den dadurch aufgerufenen Bezügen verorten oder sich zumindest dazu ins Verhältnis setzen können. Wenn etwa, wie bereits zitiert, die Kingz of Berlin zu ihrer Show anlässlich eines Lesbenfrühlingstreffens »alle Geschlechter willkommen« heißen und als Beispiele für mögliche Geschlechter »Frühlingslesben, Transgendermenschen, Femmes, Butches, Tunten, Tittenträger, Lederschwuchteln, Schwanzträgerinnen oder Schubladenlose« anführen, transportiert die Adressierung mehr und anderes als eine Einladung an alle unter Absehung von Geschlecht. Nicht nur werden spezifische, im Horizont bestimmter Szenen sinnhaft verstehbare Geschlechtlichkeiten aufgerufen, sondern damit wird zugleich ein Verständnis von Geschlecht artikuliert, das eine Anfechtung somatisch fundierter, heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit impliziert; ein Verständnis von Geschlecht, das durch die ›ungewöhnliche‹ Aufzählung deutlich als ein spezifisches und nicht selbstverständliches markiert wird.136 Die Spezifizierung der Adressat_innen, die in dieser Einladung enthalten ist, bezieht sich auf die Fähigkeit und Bereitschaft, ein solches Verständnis von Geschlecht entweder zu teilen oder zumindest als sinnhaft zu begreifen; nicht aber auf eine identitäre Auswahl von und Beschränkung auf lediglich bestimmte Geschlechtlichkeiten und Verkörperungen. Die Adressierung zielt damit zugleich auf die Realisierung einer Welt, in der Geschlecht nicht länger als heteronormative, somatisch fundierte Zweigeschlechtlichkeit und der damit verbundenen Konstitution (pathologisierter) ›Abweichungen‹ verfasst ist; sie zielt auf eine andere Wirklichkeit – und nicht lediglich auf die Anerkennung abgewerteter, marginalisierter Identitäten. Deutlich wurde auch, dass Dimensionen von Körperlichkeit in den gegenöffentlichkeitskonstituierenden Adressierungen der Szene eine wesentliche Rolle spielen, und zwar auf unterschiedliche Weisen. Einerseits werden Bedingungen und Bedeutungen von Körperlichkeit als öffentlich zu diskutierende Themen verhandelt: etwa in einer Diskussionsveranstaltung zu ›Maskulinität in der Lesbenszene‹, in Diskussio136 Im Unterschied dazu wird etwa in der Begrüßungsformel ›Sehr geehrte Damen und Herren‹ die Spezifizität des damit einhergehenden Verständnisses von Geschlecht nicht explizit ausgewiesen, sondern lediglich implizit wirksam: Ausschließliche Zweigeschlechtlichkeit und ein bürgerlicher Geschlechterdiskurs (in dem der Herr der Dame als der Unterlegenen galant den Vortritt lässt), die konstitutiv für diese Adressierung sind, werden nicht als kulturell spezifisch kenntlich, sondern als allgemeingültig und selbstverständlich vorausgesetzt. Die Adressierung verweist nicht (wie die der Kingz of Berlin) selbstreflexiv auf ihre Performativität, sondern scheint sich auf eine unstrittige Tatsächlichkeit der Welt zu beziehen. 182
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nen um und Protesten gegen bestimmte medizinische und rechtliche Regulierungen möglicher Körperlichkeiten (z.B. Behandlungsstandards und Transsexuellengesetz), oder auch im Austausch auf der Mailingliste (z.B. wenn dort, wie skizziert, die Wirkmächtigkeit hegemonialer geschlechtlicher Körpernormen auch für eigene Wünsche diskutiert wird). Andererseits und gleichzeitig kommt explizit körperlichen und körpergebundenen Äußerungsformen hier eine besondere Bedeutung zu. In der Inszenierung unterschiedlicher Geschlechtlichkeiten in Drag Performances ist Körperlichkeit nicht lediglich ein Medium für Botschaften, deren Gehalt sich auch sprachlich-diskursiv explizieren ließe; die Adressierung ist vielmehr eine wesentlich körperliche, insofern auch die Zuschauenden in ihrer Körperlichkeit angesprochen werden und ein sinnhaftes Verstehen der Performances ein auch körperlich-affektives Involviertsein des Publikums impliziert. Darüber hinaus zielen sowohl Performances als auch Workshops auf eine praktische Vermittlung von Körperpraxen, auf Gelegenheiten zum Ausloten unterschiedlicher Körperlichkeiten, auf die Ermöglichung anderer, eventuell ungewohnter Körpererfahrungen. Die (gegenöffentlichkeitskonstituierenden) Adressierungen ›wirken‹ damit nicht nur auf ein kognitives, diskursiv explizierbares (alternatives) Verständnis von Geschlecht, sondern auch auf alternative geschlechtliche (Körper-)Praxen.137 Charakteristisch für die aufgezeigten kollektiven Praxen der Szene ist jedoch nicht nur, dass hier unterschiedliche Modi der Adressierung zum Tragen kommen (etwa diskursiv-argumentative einerseits, körperliche, affektive, ästhetische andererseits), sondern gerade die vielfachen Verbindungen und fließenden Übergänge zwischen ihnen. So sind etwa die körperliche Inszenierung eines rappenden Drag Kings und die im Rap artikulierte diskursive Kritik an Vereindeutigungszumutungen füreinander konstitutive Bestandteile ein und derselben Performance; die 137 Implizit stehen die Praxen der Drag King-Szene damit in der Tradition feministischer Gegenöffentlichkeiten der 1970er Jahre, für die die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Formen von Körperpolitiken ebenfalls zentral waren. Die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen, Regulierungen und gewaltförmigen Verfasstheit von (weiblicher) Verkörperung und Sexualität, der Kampf um rechtliche Veränderungen (etwa bezüglich der Abtreibungsregelung oder der strafrechtlichen Verfolgung von Vergewaltigung in der Ehe), Austausch und Reflexion über (Körper-)Erfahrungen in Selbsterfahrungsgruppen, aber auch explizit körperliche Praxen etwa in Selbstuntersuchungsgruppen, Selbstverteidigungsworkshops u.a. waren konstitutive Elemente einer politischen Praxis, die entgegen einer Verweisung von geschlechtlicher Körperlichkeit ins ›Private‹ deren gesellschaftliche und herrschaftsförmige Verfasstheit öffentlich thematisierte und anfocht (vgl. exemplarisch Dackweiler 1995: 185ff. und 218ff.). 183
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Ästhetiken, kulturellen Bezüge und Modi (etwa Camp, Ironie, disidentification), die in vielen Performances wirksam werden, strukturieren auch viele der sprachlichen Texte (in der Krone, auf Websites…), die häufig zugleich einen diskursiv-argumentativen Einsatz in geschlechterpolitische Debatten artikulieren. Die Praxisformen widersetzen sich damit einer Interpretation, der daran gelegen wäre, politische von kulturellen Praxen trennscharf zu unterscheiden – eine Unterscheidung, die in der Diskussion um (linke) Gegenöffentlichkeiten seit jeher sowohl vorgenommen als auch angefochten wird: Als in einem engeren Sinne politische werden in dieser Diskussion oft jene Strategien bezeichnet, die einem Projekt rational-diskursiver Aufklärung verpflichtet sind, während Aktions- und Artikulationsformen, die mit ästhetischen und stilistischen Mitteln in symbolisch-semiotische Ordnungssysteme zu intervenieren suchen, als kulturelle Praxen gekennzeichnet werden.138 Eine solche Entgegensetzung wird nun m.E. durch die hier aufgezeigten Praxen selbst unterlaufen. Die ästhetisch-praktische Intervention in hegemoniale Bezeichnungs- und Wahrnehmungsordnungen steht nicht auf einem anderen Blatt als die durchaus auch aufklärerische Kritik an den ideologischen, herrschaftsförmigen und gewaltsamen Effekten heteronormativer, somatisch fundierter und hierarchisierender Zweigeschlechtlichkeit, sondern beides geschieht oft in ein und derselben Äußerungsform. Wenn ich in dieser Arbeit bestimmte Praxen und Bezüge des Kinging als politisch oder als kulturell bezeichne, meine ich dies deshalb nicht im Sinne einer strikten Abgrenzung beider Charakterisierungen voneinander. Auch das bereits mehrfach verwendete Adjektiv subkulturell soll keinen Gegensatz zum Politischen markieren. Ich bezeichne damit Sinnhorizonte und soziale Zusammenhänge, deren konstitutive Bezüge und Praxisformen sich von einer als hegemonial zu bezeichnenden Kultur in einer Weise unterscheiden, die sie als marginalisierte konstituiert, und die dadurch in einem hierarchischen Verhältnis eine unter138 Vgl. zur Bedeutung solcher unterschiedlicher Strategien und den Diskussionen darum im Kontext der bundesrepublikanischen Außerparlamentarischen Opposition (APO) seit den frühen 1960er Jahren Oy 2001, insbesondere 111ff.; für einen Ansatz, der unter der Bezeichnung »Kommunikationsguerilla« die oft als kulturell gekennzeichneten Aktionsformen explizit als politische fasst und zugleich dafür plädiert, sie nicht in einem Gegensatz zu, sondern in produktiver Verbindung mit ›klassischen‹ politischen Aktionsformen zu betrachten und zu betreiben, vgl. autonome a.f.r.i.k.a gruppe et al. 1998. Zu einer Diskussion von DragPraxen als Formen, in denen sich politische und kulturelle Aspekte derart verschränken, dass ihre trennscharfe Unterscheidung nicht aufrechtzuerhalten ist, vgl. Hark 1998. 184
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geordnete Position einnehmen. Als subkulturell in diesem Sinne bezeichne ich etwa die hier verhandelten lesbischen, queeren, queer-feministischen, Trans*- und links-alternativen Praxen, insofern sie nicht lediglich alternative und minoritäre, sondern marginalisierte und (hegemonial) abgewertete Weisen darstellen, Geschlecht und Sexualität zu leben und zu artikulieren.139 Eben diese als subkulturell gekennzeichneten Bezüge und Szenen wurden mehrfach als konstitutiv für die kollektiven Praxen im Horizont der Drag King-Szene ausgewiesen. Vorläufig möchte ich deshalb vorschlagen, die hier aufgezeigten Praxen als solche zu charakterisieren, die auf eine durch subkulturelle Bezüge geprägte Gegenöffentlichkeit zielen und eine solche mit herstellen; keine ›Drag King-Gegenöffentlichkeit‹, sondern eine, die durch die hier verhandelten, unterschiedlichen sozialen Zusammenhänge und Sinnhorizonte als eine in sich heterogene, auch widersprüchliche und konflikthafte konstituiert wird: Die skizzierten Konfliktlinien innerhalb lesbischer und innerhalb von Trans*-Zusammenhängen, die Spannungen zwischen diesen beiden, unterschiedliche Haltungen zu links-alternativ geprägten Organisations- und Arbeitsformen usw. verweisen darauf, dass das Terrain, in dem Kinging sich be139 Vgl. zur wechselvollen Geschichte des Subkultur-Begriffs in den Sozialwissenschaften Hebdige 1979: 73ff.; Hellmann et al. 1995; Haunss 2004: 83ff.; Halberstam 2005: 159. Während der Begriff in einer frühen Phase, insbesondere in Arbeiten im Kontext der Chicago School, semantisch in engem Zusammenhang mit Devianz und Delinquenz in bestimmten (oft jugendkulturellen) Milieus stand, entwickelte sich in Abgrenzung dazu in den 1970er Jahren eine Forschungstradition, in der Subkulturen nun umgekehrt als Agentinnen progressiven gesellschaftlichen Wandels oder gar als revolutionäre Hoffnungsträgerinnen ausgemacht wurden (vgl. exemplarisch Schwendter 1971). Von beiden Tendenzen unterscheiden sich die ebenfalls in den 1970er Jahren entstandenen Arbeiten im Kontext des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS). Subkulturelle Artikulationsformen wie etwa Punk wurden hier als eine Revolte begriffen, die sich nicht auf die ›tatsächlichen‹ gesellschaftlichen (v.a. Klassen-)Widersprüche richtet, sondern in der der Konflikt gewissermaßen stellvertretend als Rebellion gegen bürgerliche und ›erwachsene‹ (auch proletarische) kulturelle Normalität ausgetragen wird (vgl. exemplarisch Hebdige 1979). Meine eigene, oben skizzierte Verwendung des Begriffs ist demgegenüber weniger ambitioniert: Subkulturen gelten mir nicht per se als progressiv oder gar als revolutionär, und mit dem Begriff selbst bezeichne ich noch keine spezifische Weise, in der das Verhältnis zu hegemonialen Kulturen artikuliert würde (etwa ob als Konflikt, als politischer Kampf oder lediglich als ein Abgrenzungsverhältnis); Subkulturen sind für mich zunächst lediglich soziale und Sinnhorizonte, die marginalisierte Alternativen zu hegemonialen kulturellen Artikulationsformen darstellen. (Vgl. zu einer ähnlichen Verwendungsweise des Begriffs Halberstam 2003 und 2005.) 185
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wegt und das durch Kinging bewegt wird, kein homogenes und harmonisches ist. Im gegenöffentlichen Horizont, der Drag Kinging als eine sinnhaft verstehbare Praxis konstituiert und der durch diese Praxis mit hervorgebracht wird, wird um unterschiedliche Verständnisse von Geschlecht und Sexualität und um unterschiedliche politische Strategien gestritten, werden unterschiedliche Praxen und Lebensweisen miteinander konfrontiert, wird um Konsens und auch um Hegemonie gerungen. Als ›eine‹ Gegenöffentlichkeit stellt sich dieses Terrain insofern und in dem Maße dar, als bestimmte Weisen der Adressierung hier wirksam werden. Das heißt auch, dass etwa nicht alle lesbischen, queeren oder Trans*-Zusammenhänge per se Teil dieser Gegenöffentlichkeit sind; sie werden es erst und nur diejenigen werden es in dem Maße, wie sie in eine Zirkulation wechselseitiger Adressierungen eingebunden sind und sich einbinden lassen und derart einen geteilten, wenn auch konflikthaften Raum realisieren.140 Über die tatsächliche Reichweite und Beschaffenheit dieser (nie abgeschlossenen und empirisch nicht vollständig bestimmbaren) Gegenöffentlichkeit lässt sich hier allerdings kaum etwas sagen, da ich lediglich ausgehend von kollektiven Praxen der Drag King-Szene einige Bezüge und wechselseitige Adressierungen rekonstruiert habe. Dies geschah ohne Anspruch auf Vollständigkeit und mit dem Fokus auf ›die‹ Drag King-Szene, der dadurch in der Darstellung eine zentrale Stellung zukommt, die sie im tatsächlichen gegenöffentlichen Feld so nicht hat. Dass die Analyse weitgehend an den Selbstdeutungen der in der Drag King-Szene Aktiven bezüglich ihrer eigenen Praxis ansetzt, wirft noch ein weiteres Problem auf. Zwar konnte gezeigt werden, dass als subkulturell verstandene Bezüge und auch Abgrenzungen gegenüber hegemonialen sozialen und Sinnzusammenhängen (die etwa als ›hetero‹ charakterisiert wurden) die Verortungen vieler dieser Aktiven und die Sinnhaftigkeit ihrer Praxen für sie selbst maßgeblich prägen. Lässt sich aber von derartigen Trennlinien, von einer klaren Unterscheidbarkeit zwischen hegemonialer und ›Sub‹-Kultur, zwischen hegemonialen und 140 D.h. Gegenöffentlichkeit realisiert sich nur in actu, und wie sie sich jeweils realisiert, lässt sich nicht im Vorhinein voraussagen. Erst im Nachhinein lässt sich etwa konstatieren, dass die Kingz of Berlin und andere Aktive der Szene sich durch das Lesbenfrühlingstreffen adressieren ließen: Trotz oder auch wegen ihres Widerspruchs zu den dort maßgeblich verfolgten Politiken war dies für sie nicht lediglich ein Horizont der Abgrenzung, sondern eine Adressierung, die sie offensichtlich ›etwas anging‹. Umgekehrt wurden die Artikulationen der Drag Kings in diesem Kontext ebenfalls als Adressierungen aufgenommen, wenn auch teilweise als Provokation zu weiterem Widerspruch. 186
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›Gegen‹-Öffentlichkeiten auch jenseits solcher Selbstverortungen noch sprechen? Die zunehmende Ausdifferenzierung unterschiedlicher TeilÖffentlichkeiten und kultureller Stile, die Integration und Kooptation vormals gegenöffentlicher Themen und Artikulationsweisen in massenmedialen Repräsentationen, die Kommerzialisierung und Kommodifizierung öffentlicher Formen von Kommunikation und Sozialität haben das Terrain gegenüber den 1970er Jahren, in denen Konzepte und Praxen von Gegenöffentlichkeit maßgeblich entwickelt wurden, entscheidend verändert. Dies gilt auch und gerade für das Feld geschlechtlicher und sexueller Stile und Lebensweisen. Auch wenn heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit nach wie vor als Norm fungiert, der gegenüber davon Abweichendes als different markiert wird, sind viele der derart hervorgebrachten Differenzen inzwischen weder von medialer Repräsentation, noch von politischer und rechtlicher Anerkennung, noch von der Adressierung und Inwertsetzung in der Sphäre des Marktes vollständig ausgeschlossen.141 Antke Engel (2002) schlägt daher vor, die Wirkungsweise gegenwärtig hegemonialer Geschlechter- und Sexualitätsregime als eine Gleichzeitigkeit von »rigider Normativität« und »flexibler Normalisierung« zu fassen, um sowohl die weiterhin bestehenden Ausschlüsse von Teilhabe und Repräsentation als auch die toleranzpluralistischen und kommodifizierenden Formen von Einschlüssen und Inwertsetzung adressieren zu können (ebd.: 72ff.). Wenn also auch als different markierte geschlechtliche und sexuelle Stile in unterschiedlichen, auch ›hegemonialen‹ Sphären der Repräsentation zirkulieren – inwiefern lassen sich dann die hier verhandelten Adressierungen noch als gegenöffentlich im Sinne Warners charakterisieren? Sind die darin wirksam werdenden kulturellen Bezüge wirklich derart oppositionell zu hegemonialen, als ›normal‹ geltenden Formen, dass »ordinary people«, wie Warner bemerkt, nicht verwechselt werden wollten mit denen, die sich in solchen Bezügen verorten (s.o.)? In der Tat scheint vor dem Hintergrund der dargestellten Ergebnisse eine Reihe von Differenzierungen angebracht. Zunächst sei daran erinnert, dass die Adressierungen, die mit Praxen des Kinging einhergehen, 141 Beispiele für gegenwärtige Einschlüsse in den genannten Hinsichten, die zugleich eine Markierung der Differenz perpetuieren, sind etwa die zunehmende Präsenz von ›Transsexuellen‹ in TV-Talk-Shows und Features (mediale Repräsentation), die als Homo-Ehe bekannte Möglichkeit der Eingetragenen Lebenspartnerschaft für lesbische und schwule Paare (rechtliche Anerkennung) und die zunehmende Adressierung insbesondere junger, gut verdienender Schwuler durch auf diese Zielgruppe zugeschnittene Werbung in der Sphäre des kapitalistischen Marktes. Vgl. zu einer Diskussion dieser Entwicklungen exemplarisch die Beiträge in quaestio (Hg.) 2000. 187
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nicht in jeder Hinsicht gegenöffentlich sind in dem Sinne, dass die darin wirksam werdenden spezifischen kulturellen und sozialen Bezüge als solche kenntlich werden. Als unmarkiert erscheinen die Adressierungen etwa hinsichtlich sozialer Herkunft und gegenwärtigen Positionen in einem durch unterschiedliche Bildungs- und Erwerbschancen strukturierten sozialen Raum. Unmarkiert bleibt auch eine mehrheitsdeutsche Verortung, die implizit als geteilte vorausgesetzt wird. Gerade in deren Nicht-Thematisierung wird diese als eine selbstverständliche Normalität gesetzt und als solche in den Adressierungen (sowohl ausschließend als auch performativ) wirksam. In diesen Hinsichten richten sich die Adressierungen damit selbst an »ordinary people« und stellen mit her, was hegemonial als »ordinary« gilt. Zudem wurde ansatzweise deutlich, dass auch die demgegenüber deutlich als spezifisch ausgewiesenen geschlechtlichen und sexuellen kulturellen Bezüge die Reichweite der Adressierung nicht ausschließlich auf den hier vorläufig als gegenöffentlich gekennzeichneten Horizont beschränken. So haben verschiedene Medien – auch solche des sogenannten Mainstreams – wiederholt über Aktivitäten der Drag KingSzene berichtet. Drag King-Performances sind gefragt bei Kulturereignissen wie etwa der Langen Nacht der Museen, und auch explizit mit Drag befasste Veranstaltungen werden, wenn sie im Kontext von Kunst stattfinden, auch von einem geschlechtlich-sexuell nicht notwendig spezifizierten, ›allgemeinen‹ kunstinteressierten Publikum rezipiert. Über das Interesse in der Frauen- und Geschlechterforschung findet Kinging auch Eingang in die Akademie – nicht nur thematisch, sondern auch durch die Aufführung von Performances im Begleitprogramm akademischer Veranstaltungen. »Ordinary people« scheinen die Adressierungen durch Praxen des Kinging durchaus nicht nur schockiert abzuwehren, sondern sich auch bereitwillig einladen zu lassen – vielleicht auch, um sich weniger »ordinary« zu fühlen. Denn wer will heute schon ›normal‹ sein? Ausgehend von der lediglich kursorischen Rekonstruktion derartiger Rezeptionen lassen sich über deren Art und Reichweite nur vorläufige und spekulative Überlegungen anstellen. Bemerken lässt sich, dass diejenigen Bereiche von Akademie und Kunst, die hier thematisiert wurden, selbst eher an den ›Rändern‹ der jeweiligen Felder angesiedelt sind (was wiederum ein Hinweis auf deren interne Heterogenität ist und darauf, dass die Rede von ›der‹ einen hegemonialen Öffentlichkeit fiktionalen Charakter hat). Verweisen lässt sich auf die sehr unterschiedliche mediale Berichterstattung zu Praxen des Kinging, in der teils, aber durchaus nicht immer eine individualisierende, exotisierende oder pathologisierende Perspektive wirksam wird. Zu fragen bliebe, inwiefern, wie 188
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und wo Adressierungen des Kinging in einer Weise aufgenommen werden, die Irritationen und Fragen bezüglich der Selbstverständlichkeit heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit aufwirft, und wo und wie umgekehrt ebendiese Selbstverständlichkeit die unangefochtene Hintergrundfolie einer integrierenden oder besondernden Rezeption bleibt. Beides scheint jedenfalls gegenwärtig zu geschehen, und zwar auch quer zu den Linien, die ein subkulturelles geschlechtlich-sexuelles Feld umreißen. Dennoch hat die (wenn auch kursorische) Rekonstruktion von Praxen des Kinging in unterschiedlichen Kontexten gezeigt, dass sich Art und Weise der Rezeption je nach Kontext ›typischerweise‹ unterscheiden, wenn sie auch nicht vollständig vorhersagbar sind. Die mit Kinging verbundenen Adressierungen sind weit davon entfernt, beliebig und unterschiedslos in unterschiedlich geprägten Kontexten zu zirkulieren; es sind eben doch die hier mehrfach als subkulturell bezeichneten Bezüge, deren zu erwartende Kenntnis ein sinnhaftes Verstehen der Artikulationen wahrscheinlich werden lässt, das diese nicht an die Selbstverständlichkeit heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit zurückbindet. Die Linien, die subkulturelle von hegemonialen Stilen und Bezügen, die gegenöffentliche von hegemonialen öffentlichen Sphären zwar vielleicht nicht mehr trennscharf scheiden, sind deshalb nicht obsolet geworden, sondern behalten bislang eine strukturierende Wirkmächtigkeit – sowohl für Selbstdeutungen, Verortungen und Interpretationen der jeweils ›eigenen‹ kulturellen Praxen als auch für Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen. Ich möchte daher an der Interpretation der kollektiven Praxen des Kinging als gegenöffentlichkeitskonstituierenden Adressierungen festhalten – mit der Einschränkung, die kulturellen Grenzen der Gegenöffentlichkeit als weniger eindeutig, trennscharf und fixierbar zu fassen, als Warners Ausführungen dies nahelegen. Als gegenöffentlich gelten mir die Adressierungen in dem Sinne, dass sie implizit auf eine Veränderung von Selbstverständlichkeiten, Wissens- und Wahrnehmungsweisen zielen und damit auf eine andere Welt und Wirklichkeit: eine andere Wirklichkeit als die der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit, die sich nach wie vor nicht lediglich als eine, sondern als die Wirklichkeit behaupten kann und dadurch hegemonial ist. Die hier nur angedeutete Frage, die sich im Anschluss daran weiter verfolgen ließe – inwiefern diese Adressierungen in anderen, auch hegemonialen öffentlichen Arenen aufgegriffen werden, welche Wirkungen sie dort zeitigen, ob und wo sich Selbstverständlichkeiten tatsächlich verändern und gesamtgesellschaftlicher Wandel angestoßen wird – steht nicht im Fokus dieser Arbeit. Die Frage nach einer möglichen anderen geschlechtlichen Wirklichkeit wird in den folgenden Kapiteln stattdessen sozusagen in umgekehrter Richtung verfolgt: Rekonstruiert werden 189
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soll, inwiefern sich eine alternative geschlechtliche Wirklichkeit, die auch als eine solche erfahrbar wird, ›innerhalb‹ der Drag King-Szene und des für sie konstitutiven gegenöffentlichen Horizonts bereits abzeichnet. Fokussiert wird damit ein anderer Aspekt von Gegenöffentlichkeiten, den ich bislang nicht ausgeführt habe: der Aspekt, dass in Gegenöffentlichkeiten Formen und Praxen ausgebildet werden, die etwas emphatisch als Ansätze einer alternativen oder Selbst-Vergesellschaftung bezeichnet werden können; d.h. Praxen, Beziehungen und Bezüge, durch die andere Wirklichkeiten lebbar und erfahrbar werden und in denen sich (alternative) Selbstverhältnisse oder ›Identitäten‹ formieren und transformieren können.142
142 Auf den Aspekt, dass Gegenöffentlichkeiten bestimmte ›Identitäten‹ weniger voraussetzen als vielmehr konstitutiv oder zumindest formierend für diese sind, weisen sowohl Michael Warner (2002: 121) als auch Nancy Fraser (2001) ausdrücklich hin. Für Fraser zählen nicht nur gegenöffentliche, sondern öffentliche Sphären überhaupt »zu den wichtigsten und zugleich unterschätztesten Orten, an denen soziale Identitäten konstruiert, dekonstruiert und rekonstruiert werden« (ebd.: 133, FN 28), und sie plädiert dafür, dies stärker in Theorie und Forschung zu Prozessen der Ausbildung von Identität zu berücksichtigen (vgl. ebd.). 190
III. Drag Kinging, geschlechtliche Selbstund Weltverhältnisse Die Frage nach unterschiedlichen Selbst- und Weltverhältnissen, die mit kollektiven, im Horizont der Szene entwickelten Praxen einhergehen, steht im Zentrum dieses Kapitels: Welche Bezugnahmen auf sich, welche Weisen der Erfahrung eines (geschlechtlichen, verkörperten) Selbst, welche Formen des Sich-Sehens, des Über-sich-Nachdenkens, der Veränderung seiner selbst sind mit solchen Praxen verbunden? Welche Wahrnehmungsweisen und welche praktischen Bezugnahmen auf die geschlechtlich strukturierte soziale Welt gehen damit einher? Welche geschlechtlichen Möglichkeiten und Strukturierungen werden durch solche Praxen hervorgebracht – und inwiefern werden diese als (alternative) Wirklichkeit erfahrbar? Gegliedert ist das Kapitel nach unterschiedlichen Praxen bzw. unterschiedlichen Aspekten von Praxis, die eine Rekonstruktion bezüglich der genannten Fragen nahelegen. Kapitel III.1 beschäftigt sich mit der Praxis, sich zu ›bebärten‹, d.h. mit dem Kleben oder Malen von Drag King-Bärten, und fragt nach unterschiedlichen Bedeutungen und Wahrnehmungsweisen derart veränderter Gesichter und damit verbundener Bezüge zu einem Bild seiner selbst. In Kapitel III.2 werden Bedeutungen der teils absichtsvollen Bearbeitung von Körperhaltungen, Bewegungsweisen und Gestik im Horizont des Kinging rekonstruiert: In welchen Bezügen stehen derartige, zumindest teilweise bewusste Körperpraxen zu routinisierten und habitualisierten körperlichen Stilen? Wie verändert sich durch solche Praxen das Verhältnis zu sich, die Erfahrung des geschlechtlichen In-der-Welt-Seins und die Wahrnehmung der (zwei-)geschlechtlich strukturierten Welt? Kapitel III.3 befasst sich mit Erfahrungsweisen von Praxen, die mit dem Entwerfen und Ausloten un191
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terschiedlicher Charaktere oder Figuren verbunden sind. Die in den Interviews diesbezüglich aufgerufenen Bedeutungshorizonte von ›Spiel‹ oder ›Rolle‹ einerseits, (alltäglichem) ›Leben‹ oder ›Sein‹ andererseits werden rekonstruiert und auf ihre Bezüge zu unterschiedlichen geschlechtlichen Wirklichkeiten hin beleuchtet.
1. Bärte und Spiegel: Geschlechtliche Wahrnehmungsweisen und Selbstverhältnisse »Even his fake moustaches are real.« Rhythm King and Her Friends
Es gibt, so wird in der Szene immer wieder gerne betont, keine Praxis und kein stilistisches Mittel, die ›verpflichtend‹ wären, um als Drag King in Erscheinung treten zu können: »Ein Drag King muss keinen Bart haben, er muss sich nicht abbinden, er muss sich auch nichts in die Hose stopfen, das ist trotzdem immer noch ein Drag King.« (Int. 8) Dennoch ist gerade der geklebte oder gemalte und als solcher erkennbare Bart wohl das offensichtlichste Zeichen, das der/m mit den Codes der Szene annähernd vertrauten Betrachter_in signalisiert, dass hier jemand ›als Drag King unterwegs‹ ist. Nicht von ungefähr fungiert daher im Untertitel des ersten deutschsprachigen Drag King-Buchs (Thilmann et al. [Hg.] 2007) – »Mit Bartkleber gegen das Patriarchat« – das Bartkleben als pars pro toto für Praxis und Phänomen des Kinging. Auf eine solch enge Verbindung verweist auch die spontane Reaktion eines/r der Interviewten auf meine Einstiegsfrage: »Ah, du willst sicher wissen, wann ich meinen ersten Bart hatte!« (Int. 6) Auch in fast allen anderen Interviews ist das Bartkleben ausführlich Thema: als eine Praxis, mit der nahezu alle der in die Szene Involvierten zumindest zeitweilig experimentieren, die keineswegs auf die Bühne beschränkt ist, sondern im Gegenteil vielleicht wie keine andere für Kinging als eine alltägliche Existenzweise steht bzw. deren sichtbarstes Anzeichen ist. ›Alltäglich‹ heißt hier für einige, ihren Drag King-Bart auch außerhalb von Szene-Kontexten zu tragen, damit zur Arbeit zu gehen, zum Einkaufen, damit U-Bahn zu fahren und durch die Stadt zu streifen. Andere zeigen ihren Bart eher bei szenebezogenen Anlässen, die für viele jedoch fester Bestandteil des Alltags sind. Insbesondere Partys – Drag King-Partys, aber auch solche des sonstigen trans*-lesbisch-schwul-queeren ›Umfeldes‹ – sind für viele die Bart-Gelegenheit schlechthin: »[Da] wird der Tisch ausgezogen und 192
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
dann geht hier die große Bartklebe-Session los« (Int. 3) – so sieht das vor einer solchen Party üblicherweise bei Filip zu Hause aus und ähnlich bei vielen anderen. Oft gemeinsam mit anderen, mit Partner_in oder Freund_innen, wird das Bartkleben zelebriert als Bestandteil der Partyvorbereitung – sich schick machen für’s abendliche Ausgehen. »Wir waren beide ziemlich aufgeregt, hatten einen irren Spaß da dran, uns aufzubrezeln, haben sehr viel Mühe da drauf verwendet, unsere allerersten [lacht] Bärte überhaupt halbwegs nach Bart aussehen zu lassen [lacht], und sind an unserer Garderobe verzweifelt und der Tatsache, dass wir zu wenig Geld hatten, um uns direkt ein super Glitter-GlamourOutfit irgendwie zuzulegen oder jedenfalls neue Sachen, was immer einem dann gerade gefallen hätte«, erzählt Carlo von den Vorbereitungen zu seinem ersten Erscheinen in Drag auf einer Lesbenparty (Int. 4). Geteilt werden die Aufregung und der »irre Spaß« am »Aufbrezeln«, die Lust am Experimentieren mit dem eigenen Outfit, die in vielen Schilderungen aufscheinen. Geteilt werden auch Fertigkeiten, Wissen und Erfahrung: Ob vorzugsweise gemalt (z.B. mit Kajal) oder geklebt, ob Wollkrepp oder lieber Eigenhaar verwendet wird, welche Vor- und Nachteile wasserlösliches Mastix hat gegenüber der alkohollöslichen Variante; wie man einen Dreitagebart fabriziert, was Koteletten akkurat aussehen lässt, welche Bartformen zu welchen Gesichtern passen, welche Kombinationen von Haar- und Bartfarbe welche Wirkungen erzielen – das und vieles mehr wird in Workshops erprobt, bei den ›offenen Treffen‹ der Szene ausgetauscht, auf der Mailingliste immer wieder von Neuem erfragt und erläutert und eben auch direkt unter Freund_innen und Bekannten weiter gegeben. Die namentliche Erwähnung des- bzw. derjenigen, der/die einem/r den ersten Bart fabriziert hat, ist keine Seltenheit (und auch nicht die selbstironische Erinnerung an die mehr oder weniger missglückten ersten selbstständigen Versuche). Der Phantasie bei der Gestaltung des Bartes sind prinzipiell keine Grenzen gesetzt: Mit genügend Geduld und Geschick lassen sich auch rauschende Vollbärte verwirklichen. Dennoch beherrschen gerade jenseits der Bühne eher schlichtere Varianten das Bild. Sehr verbreitet ist eine Kombination aus Koteletten sowie schmalem Oberlippen- und Kinn- oder auch Ziegenbärtchen; einige belassen es auch bei den Koteletten, vielleicht höchstens ergänzt durch einen angedeuteten Bartschatten oder Drei-Tage-Bart; manchen genügt auch ein kleiner behaarter Fleck am Kinn, eine durch Wimperntusche akzentuierte Oberlippenbe-
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haarung oder eine durch dünne Linien angedeutete Bebärtung rund um Mund und Kinn.1 Die Gestaltung des Bartklebens als kollektives Event erhöht nicht nur den Spaß und die Qualität des Ergebnisses, sondern hilft manchen auch, eine anfängliche Scheu zu überwinden: eine »Hemmschwelle« (Int. 14), die zum Einen aus der Furcht vor abwertenden oder gar aggressiven Reaktionen resultiert, gegen die das Auftreten zu zweit oder in der Gruppe einen gewissen Schutz bietet; eine Hemmschwelle, die zum Anderen aber auch in dem eigenen Gefühl liegen kann, womöglich etwas ›Seltsames‹ zu tun und sich ›so‹ auch noch zu zeigen: »Das mit diesem Bärtchen kleben und so, das fand ich alles schon sehr suspekt [lacht], also das war schon etwas seltsam.« (Int. 3) In Bezug auf beide Arten von Hemmschwellen bezeichnet Tino daher das monatliche ›offene Treffen‹ – d.h. Kingz’ Club bzw. Tafelrunde – als »geschützten Raum« für ein erstes Experimentieren mit dem Bart und auch als unterstützenden Kontext für einen gemeinsamen Partybesuch danach: »Es ist natürlich ’ne schwul-lesbische Party, auch noch mal zusätzlich geschützter Raum und dann halt in unserer Gruppe noch mal geschützt und so, da trauen sich dann halt auch viele so das erste Mal, dann mit Bart rauszugehen.« (Int. 8) Wenn die Kings kollektiv und frisch bebärtet bei der »schwul-lesbische[n] Party« auftauchen, ist erwartbar, dass ihr Bart als Drag-KingBart erkannt und gelesen wird (d.h. unter anderem, dass er als ein gemalter oder geklebter erkennbar wird). Mit Bart »rauszugehen« kann in anderen Kontexten – etwa auf der Straße oder bei anderen flüchtigen Begegnungen im öffentlichen Raum – auch bewirken, als Mann durchzugehen. Auf Aspekte eines solchen passing werde ich später eingehen (insbesondere in Kapitel IV.2). In diesem Kapitel geht es zunächst um Bedeutungen der Praxis des Bartklebens und um Wahrnehmungen des Drag King-Bartes im Kontext der sozialen und Sinnhorizonte, die mit der Szene und ihrem (subkulturell geprägten) ›Umfeld‹ verbunden sind. Sich einen Bart malen oder kleben, sich mit einem als derartig hergestellt erkennbaren Bart zeigen: Deutlich wurde bereits, dass dies eine Praxis ist, die durchaus Überwindung kosten kann, die man sich »trauen« muss – und dass darin zugleich Vergnügen, Lust am Experimentieren, Aufregung und Faszination lebendig sind. Zusammen Spaß haben, sich stylen für’s gemeinsame Ausgehen, sich in einer Kunstfertigkeit üben, ästhetische Effekte erproben – das zu tun, verweist zunächst nicht notwendig auf eine explizite Auseinandersetzung mit
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Für zahlreiche photographische Abbildungen von in der Szene verbreiteten Stilen der Gesichtsbehaarung vgl. Thilmann et al. (Hg.) 2007.
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dem eigenen geschlechtlichen In-der-Welt-sein, mit Fragen nach der eigenen geschlechtlichen Verortung oder ›Identität‹. Auch wenn derartige Auseinandersetzungen und Fragen oft nicht im Zentrum der mit dem Bart verbundenen Praxen zu stehen scheinen, werden sie doch häufig durch diese Praxen aufgeworfen und in den Interviews auf eine spezifische Weise thematisiert: Der Anblick des eigenen bebärteten Gesichts im Spiegel und die dadurch ausgelösten Gefühle, Fragen und Reflexionen sind ein auffallend häufig wiederkehrender Topos (nicht nur) in den Interviews.2 In diesen ›Spiegelszenen‹ werden die thematischen Felder ›Praxen des Kinging‹ und ›geschlechtliche Verortungen und Selbstverhältnisse‹, deren Zusammenhänge einen Fokus dieser Arbeit bilden, in einer besonders verdichteten Form erzählerisch inszeniert, und zwar in enger Verbindung mit Bedeutungen des ›(Sich-) Sehens‹ und von ›Sichtbarkeit‹. Diesen Zusammenhängen soll im Folgenden ausführlich nachgegangen werden.
1.1 Zwischen Schönheit und Selbsterkenntnis? Sich mit Bart im Spiegel sehen Was bedeutet die Bebärtung des Gesichts für das Verhältnis zum eigenen Aussehen, für die Wahrnehmung dessen, was einer_m als ein verändertes Gesicht im Spiegel erscheint? In den Interviews findet sich eine große Bandbreite unterschiedlicher Thematisierungsweisen. So fügt sich der Bart für einige scheinbar nahtlos ein in ein Repertoire von Attributen und Accessoires, mit denen das eigene Aussehen im Kontext alltäglicher Schönheitspraxen bearbeitet wird. »Das ist für mich eigentlich nur so ’n: ich mach’ mich hübsch oder so, also ich verhalte mich auch nicht anders, glaub’ ich, oder nicht bewusst anders, also [1] ich mach’ mir dann halt Koteletten und ’nen Bart, wie ich mir, keine Ahnung, vielleicht die Haare schneide oder mir ’n anderes T-Shirt anziehe oder so« (Int. 14)
– so beschreibt Bela ihr Verhältnis zu Bart und Koteletten: nicht als Mittel einer radikalen Veränderung ihres Aussehens oder gar ihrer Person, sondern als eine Möglichkeit, sich »hübsch« zu machen, vergleichbar mit einem neuen Haarschnitt oder dem Wechsel von Kleidungsstücken. Ähnlich undramatisch und vorwiegend als eine ästhetische Frage schildert auch Luka die Erfahrung mit ihrem ersten Bart:
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Vgl. für weitere ›Spiegelszenen‹ im Zusammenhang mit Drag King-Bärten Thilmann et al. (Hg.) 2007: 95; 97f.; Koenig 2002: 155. 195
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»Ich fand das cool, ich fand das nur cool, auch wenn das irgendwie mit dem Mastix dann irgendwann mal weiß geworden ist, weil ich halt eben jemand bin, ich schwitze sehr viel, und dann wird der halt eben weiß, und das sah Scheiße aus bei mir [lacht], weil das sah dann irgendwie aus, als hätt’ ich dann ’nen grauen Bart. Und gegen Abend sah’s dann nur noch Scheiße aus, da hab’ ich ihn dann abgerubbelt wieder, weil’s einfach nur noch bäh [lacht]-, ich hab’ mein Spiegelbild nicht ertragen können. Aber zu Anfang fand ich den echt cool.« (Int. 9)
Sich mit dem Bart selbst zu gefallen oder nicht – das eigene Spiegelbild »cool« zu finden oder nicht länger »ertragen« zu können – hängt für Luka von der Beschaffenheit des Bartes ab, der zu ihrem (belustigt und ironisch geäußerten) Bedauern im Laufe des Tages in einen desolaten Zustand gerät. Auch Luka sieht sich mit oder ohne Bart nicht radikal ›anders‹ oder gar als ›jemand anderen‹. Im Unterschied dazu ist das Bartkleben für Klaus/Karla Bestandteil der Gestaltung einer auch namentlich von seiner/ihrer nicht-bebärteten Erscheinung unterschiedenen Drag King-Persona; auch für ihn/sie steht jedoch die ästhetische Dimension dessen im Vordergrund: »Ich bin ja auch sehr eitel, ne, also Klaus [Drag King-Name] ist noch viel eitler als Karla [Geburtsname], viel, viel eitler, braucht wesentlich länger vorm Spiegel und [lacht] -, und deswegen [war das] irgendwie toll, einfach mal das zu präsentieren und so, wenn man sich toll fühlt. [2] Ich glaub’, ich fand das [den Blick in den Spiegel mit Bart] nicht so überwältigend, also es war ziemlich -, ich will jetzt auch nicht sagen, dass es so normal war, aber ich kann mich echt nicht dran erinnern.« (Int. 15)
Ironisch-liebevoll bezieht Karla/Klaus sich auf ein Drag King-»Ich«, dessen Eitelkeit auf eine sorgfältige Gestaltung des Bartes drängt. Klaus/ Karla hat Vergnügen an der Inszenierung eines veränderten ›Ich‹ und ihm/ihr gefällt, was er/sie im Spiegel sieht, ohne diesen Anblick jedoch als »überwältigend« zu erfahren. Von diesen undramatischen Schilderungen einer auf eine ästhetische (Selbst-)Inszenierung zielenden und mit Spaß und Vergnügen verbundenen Praxis scheinen sich die Erfahrungen derjenigen deutlich zu unterscheiden, die den ersten Blick auf das eigene bebärtete Spiegelbild in der Tat als ein ›überwältigendes‹ Erlebnis beschreiben, in dem die Frage nach ›Schönheit‹ in den Hintergrund tritt gegenüber der nach dem eigenen ›Sein‹. Besonders eindrücklich erzählt Tam von den für ihn damit verbundenen Gefühlen:
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»Also ich weiß noch, dass ich schon mit 15 vorm Spiegel stand und da reingeguckt habe stundenlang und das Gefühl hatte, ich seh’ mein Gesicht nicht, [jedes Wort einzeln betont:] ich sehe es nicht. Und das war halt an dem Geburtstag, ich weiß nicht, wie wir drauf kamen, auf jeden Fall haben wir mir dann irgendwann einen Bart ins Gesicht gemalt. Und als ich dann in den Spiegel geguckt habe, da bin ich ja also eher umgefallen als vor Freude in die Luft gehüpft, ich war einfach erst mal wirklich -, äh, na ja, schockiert jetzt nicht, aber also ich hatte das Gefühl, ich kipp’ gleich um, weil ich das erste Mal das Gefühl hatte, ich seh’ mein Gesicht.« (Int. 2)
Tam schildert den Blick auf sein bebärtetes Gesicht im Spiegel als ein völlig überraschendes Erlebnis unmittelbarer Evidenz. Zum ersten Mal den Eindruck zu haben, das eigene Gesicht tatsächlich (als das eigene) zu ›sehen‹, löst starke Gefühle aus, für die er noch im Interview nach Worten ringt und die er offenbar am besten als ein geradezu körperliches Überwältigtsein fassen kann (»ich hatte das Gefühl, ich kipp’ gleich um«). Mit Bart das eigene Gesicht bzw. ›sich selbst‹ zu sehen, steht auch im Zentrum von Flins erstem ›Bart-Erlebnis‹: »Es war super, das war richtig in den Spiegel gucken und denken: Ja, genau, das ist es, so, das bin ich.« (Int. 6)
Auch Flins Schilderung verweist auf den Evidenz-Charakter des Erlebnisses: »Ja, genau, das ist es« – der Gebrauch einer Formulierung, mit der das ›Treffende‹ eines Ausdrucks angezeigt wird, vielleicht auch das schlussendliche Finden eines treffenden Ausdrucks nach langer Suche, hebt die Erkenntnis ›das bin ich‹ als eine überraschende und offensichtlich auch beglückende (»es war super«) hervor (gegenüber der banalen Tatsache des alltäglichen Sich-im-Spiegel-Sehens). Filip schließlich wählt den Ausdruck des »Aha-Effekts«, um einen offenbar ähnlichen Evidenz-Eindruck anzuzeigen: »Und dann bin ich auf eine [Drag King]-Party gegangen mit Frank und da hat der mir dann -, irgendwie hat er mich überredet, mir Koteletten machen zu lassen. Und das war dann halt dieser Aha-Effekt im Spiegel, wo ich dann dachte, so: Hmm, vielleicht gibt’s doch noch was dazwischen.« (Int. 3)
Anders als in den beiden vorangegangenen Zitaten erkennt Filip beim Blick in den Spiegel weniger ›sich selbst‹ als eine alternative Möglichkeit zu sein. Als »Aha-Effekt« verweist der Anblick auf einen zuvor offensichtlich nicht verfügbaren und nun in den Bereich des Möglichen
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rückenden Selbstentwurf eines Lebens »dazwischen« (d.h. zwischen Frau und Mann, wie aus dem Kontext der zitierten Passage hervorgeht). Wie lässt sich erklären, dass ein paar zusätzliche Haare, einige Striche Kajal im Gesicht einen derart tiefgreifenden Effekt haben können? Was genau passiert bei diesem ersten Anblick des so veränderten eigenen Gesichts? Ich möchte zunächst zwei Aspekte dieser Frage unterscheiden und sie nacheinander bearbeiten. Dazu ziehe ich jeweils theoretische Ansätze heran, die mir geeignet scheinen, die aus den Interviews rekonstruierten Bedeutungen weiter aufzuschließen. In einem ersten Schritt beziehe ich mich auf zeichen-, gestalt- und körpertheoretische Überlegungen Gesa Lindemanns, um die Art der Wahrnehmung des Bildes im Spiegel genauer fassen zu können. Diesem Aspekt gehe ich anschließend durch die Analyse weiterer Interviewpassagen genauer nach. In einem zweiten Schritt wende ich mich sodann der Beziehung zwischen dem sehenden Subjekt und seinem Spiegelbild zu: Was bedeutet es, dass in den Interviews mit den ›Spiegelszenen‹ ein Topos ausgeführt wird, der seit Jacques Lacans psychoanalytischen Ausführungen zum »Spiegelstadium« geradezu paradigmatisch für das Nachdenken über (die körperliche und visuelle Dimension der) ›Identifikation‹ geworden ist? Und was bedeutet dies vor dem Hintergrund, dass dieser Topos zudem in vielen ›klassischen‹ Transsexuellen-Autobiographien als ein zentrales Narrativ fungiert?
1.2 Geschlechtswahrnehmung, »gestalthafte Schwellenwerte« und objektiviertes Geschlecht Die Frage, »›wie‹ wir sehen, wenn wir immer und zu jeder Zeit zwei Geschlechter wahrnehmen«, die Gesa Lindemann in ihrer Studie »Das paradoxe Geschlecht« bearbeitet (1993: 12), greift sie in einem späteren Aufsatz (1995) unter einer zeichen- und gestalttheoretischen Perspektive wieder auf. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist das Problem der Erklärung der Tatsache, dass begegnende Personen in alltäglichen Interaktionen in aller Regel spontan als ›Mann‹ oder als ›Frau‹ wahrgenommen werden.3 Lindemann erinnert zunächst an den bereits von Kessler/ McKenna (1978) herausgearbeiteten Umstand, dass diese spontane Ein3
Vor dem Hintergrund, dass das Alltagswissen das Geschlecht einer Person an deren Genitalien festmacht, diese jedoch in alltäglichen Interaktionen meist nicht sichtbar sind, stellt sich dieses Problem der konstruktivistischen Geschlechterforschung bereits seit ihren Anfängen; vgl. zu früheren Erklärungsansätzen, auf die Lindemann sich kritisch bezieht, Kessler/ McKenna 1978: 155ff; Hirschauer 1993: 25ff.
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ordnung nicht als Ergebnis einer sequentiellen Wahrnehmung diskreter, für sich genommen geschlechtlich bedeutsamer Merkmale zu erklären ist, sondern dass umgekehrt einzelne Merkmale aufgrund der initialen geschlechtlichen Einordnung einer Person als untrennbare Bestandteile der (geschlechtlich) wahrgenommenen Gestalt fungieren: »Man sieht nicht einfach ein Gesicht, sondern eines, das z.B. für einen Mann weiche oder für eine Frau herbe Züge hat. Damit ist die Gesichtseinordnung von der Geschlechtseinordnung abhängig.« (Lindemann 1995: 133f.) Damit, so Lindemann, ist allerdings zunächst nur eine mögliche Hypothese verworfen, wie die initiale Einordnung erfolgt, das Faktum selbst jedoch weiterhin ungeklärt: »Aber wie funktioniert die Umkehrung? Wie gelangt man von der wahrgenommenen Gestalt des Gesichts zum Geschlecht?« (Ebd.: 134) Um das Problem zu lösen, schlägt Lindemann vor, die verschiedenen Erklärungsansätzen zugrunde liegende »Dichotomie von ›Gestalt als ganzer‹ und ›diskreten Merkmalen‹« aufzugeben. Zu diesem Zweck verweist sie auf ein gestaltpsychologisches Experiment, in dem gezeigt wurde, dass die Veränderung eines einzelnen Details eine grundlegende Veränderung der wahrgenommenen Gestalt bewirken konnte, ohne dass die Versuchspersonen in der Lage waren, die Ursache der Veränderung (das veränderte Detail) zu identifizieren (vgl. ebd.: 136). Dieses Ergebnis führt Lindemann zu der These, dass »die visuelle Wahrnehmung […] die einzelnen Elemente simultan zusammen[schließt], ohne sie zuvor als diskrete Elemente unterschieden zu haben. Es wird ad hoc die Gestalt als Ganzes erfasst« (ebd.: 137). D.h. die einzelnen Elemente sind sehr wohl bedeutsam für die Wahrnehmung der Gesamtgestalt, aber sie werden nicht als solche erfasst. Diese Denkfigur ermöglicht es, dem Eindruck der Unmittelbarkeit visueller Wahrnehmung Rechnung zu tragen (Lindemann spricht von einem »Wahrnehmungsprozess ohne Zeit«; ebd.: 137) und den Vorgang dennoch als einen der Interpretation von Bedeutung (und damit als einen zeichenhaft vermittelten) zu begreifen – d.h. davon auszugehen, »dass die Wahrnehmung in sich semiotischen Charakter hat« (ebd.: 132). Vor diesem Hintergrund schlägt Lindemann vor, in Bezug auf die geschlechtliche Einordnung von Personen von »gestalthaften Schwellenwerten« auszugehen. Darunter versteht sie »die nicht als solche identifizierte Veränderung, die gegeben sein muss, damit die Gestalt als Ganze erfasst und modifiziert wird. In diesem Sinne kann eine minimale Veränderung […] einen durchgreifenden Gestaltwandel bewirken« (ebd.: 138). Welche körperlich-morphologischen Details nun als solche geschlechtlichen »gestalthaften Schwellenwerte« fungieren – d.h. welche Details es sind, deren (nicht notwendig bemerkte) Veränderung bewirken kann, dass eine zuvor als ›Frau‹ wahrgenommene Person nun 199
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spontan als ›Mann‹ gesehen wird oder umgekehrt –, ist nach Lindemann sowohl inter- als auch intrakulturell variabel. Je nach Gesellschaft und sozialem Kontext gelten unterschiedliche Prototypen für weibliche und männliche Körper, und bezogen auf diese Prototypen werden bestimmte Details erst zu »Schwellenwerten«. Die Schwellenwerte lassen sich daher nur je kontextuell und situativ bestimmen: »Entscheidend ist, dass es situativ für die Begegnung von Blick und Gestalt, die geschlechtliche Einordnung regulierende Schwellenwerte gibt, die mit Bezug auf einen situativ relevanten Prototypen organisiert sind.« (Ebd.: 139) Diese Argumentation entwickelt Lindemann im Kontext ihrer Überlegungen, wie sich der Zeichencharakter des Geschlechtskörpers von dem Charakter sprachlicher Zeichen unterscheidet. Im Unterschied zu letzteren handelt es sich bei dem Geschlechtskörper um ein bildhaftes Zeichen und zudem um eines, das, wie sie an anderer Stelle betont, von seiner Materialität, seiner Konstitution als Ding kaum zu trennen ist. »Der Körper ist ein Ding und zugleich ein Zeichen; da die Zeichenhaftigkeit unmittelbar mit seiner Konstitution als Ding zusammenfällt, erhält die Zeichenhaftigkeit die gleiche Objektivität, die dem Körper als Ding zukommt. […] Mit anderen Worten, die Art, wie der Körper ein Zeichen ist, wird wesentlich dadurch bestimmt, dass er ein Ding ist, d.h., indem der Körper zum Zeichen wird, unterliegt die Zeichenhaftigkeit ihrerseits einer Objektivierung. Diesen Sachverhalt bezeichne ich mit dem Terminus objektiviertes Geschlecht bzw. Geschlechtskörper.« (Lindemann 1993: 37)
In der gesellschaftlichen und sozialen Konstituierung des »Geschlechtskörpers«, so Lindemann, werden geschlechtliche Bedeutungen – die Zeichenhaftigkeit – derart eng mit der Dinghaftigkeit des Körpers verschmolzen, dass beides kaum voneinander zu trennen ist. Der Körper ist nicht lediglich ›Träger‹ geschlechtlicher Bedeutungen, sondern als ›Geschlechtskörper‹ ist er Geschlecht; er ist in seiner Materialität als Geschlecht konstituiert. Die Zeichenhaftigkeit des Körpers wird daher nicht mehr in ihrer Konventionalität erkennbar, sondern erfährt eine Objektivierung. Das derart »objektivierte Geschlecht« strukturiert nun Lindemann zufolge nicht nur die Wahrnehmung des Körpers von ›außen‹, sondern auch die subjektive leibliche Erfahrung, da diese konstitutiv mit dem (objektivierten) Geschlechtskörper verschränkt sei.4 Das heißt, dass In4
Im Anschluss an Helmuth Plessner charakterisiert Lindemann die Ebene des Leibes als eine, die durch die nicht-relativierbare Gebundenheit an das Hier und Jetzt bestimmt ist. Die leibliche Erfahrung ist daher eine der Unmittelbarkeit, von der eine Distanznahme kaum möglich ist, zugleich aber
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dividuen sich subjektiv-leiblich gemäß dem Geschlechtskörper erfahren, den sie ›haben‹. Dass es »[i]n unserer Gesellschaft […] Individuen massiv zugemutet [wird], ihr objektiviertes Geschlecht subjektiv zu sein« (ebd.: 38) – bzw. präziser, dass diese Zumutung so schwer zurückzuweisen ist – lässt sich Lindemann zufolge genau durch diese Verschränkung erklären, durch die die geschlechtliche Ordnung auf der Ebene des Leibes abgesichert wird: »Das sozial verfasste objektivierte Geschlecht bewirkt in der Verschränkung mit dem Leib wie von selbst, dass eine Person sich als das Geschlecht realisiert, das der Körper bedeutet.« (Ebd.: 39) Die Absicherung der geschlechtlichen Ordnung auf der Ebene des Leibes ist für Lindemann zudem konstitutiv dafür, dass ihr die Qualität des ›Wirklichen‹ zukommt. Da sich die leibliche Erfahrung durch ihre Nicht-Relativierbarkeit auszeichne, werde das so Erfahrene in besonderer Weise als ›wirklich‹ erlebt – als etwas, von dem man sich nur schwer distanzieren kann.5 Lindemann liefert damit eine Erklärung für die Persistenz der (zwei-)geschlechtlichen Ordnung auch über deren Aktualisierung in Interaktionen hinaus, die gleichwohl ohne naturalisierende Annahmen auskommt. »Die schlichte Erfahrung, das Körpergeschlecht wirklich zu sein, funktioniert wie eine Autorität; das Reale wirkt auch dann als soziale Kontrolle, wenn niemand da ist, der die einzelnen kontrolliert« (ebd.: 63). Nicht notwendig die Aktualität, sehr wohl aber die Potentialität leiblicher Interaktionen – und hier vor allem des Sehens und Gesehen-Werdens – ist es, die die Einzelnen in ihrer leiblichen Erfahrung dieser sozialen Kontrolle unterwirft:
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– aufgrund der Verschränkung mit dem objektivierten, durch soziale Bedeutungen konstituierten Körper – eine durch und durch sozial strukturierte: »Der Begriff der Verschränkung besagt, dass ein leibliches Selbst nicht-relativierbar hier-jetzt auf die Umwelt bezogen ist und zugleich aus dieser Relation herausgesetzt ist und so erfährt, dass es einen Körper hat, der sich an einer relativierbaren Raum-Zeit-Stelle befindet. Wenn es den Körper im Sinne des Wissens- und Zeichenverständnisses auffasst, die es je historisch von diesem gibt, erlebt es sich umgekehrt leiblich gemäß dem Körper, den es hat.« (Ebd.: 30f.) Vgl. zu Lindemanns Leibbegriff und zu einer Diskussion und Weiterentwicklung der ›Verschränkungsthese‹ ausführlich Jäger 2004; insbesondere 127-167 sowie 202-207. Die von Jäger geleistete präzise Darstellung und Diskussion des Ansatzes von Gesa Lindemann hat meine eigene hier skizzierte Bezugnahme darauf maßgeblich inspiriert. Vgl. zu einer ausführlichen Erörterung des Problems, wie soziale Konstruktionen die Qualität des ›Wirklichen‹ erlangen und welche Bedeutung der Ebene des Leibes dabei zukommt, Lindemann 1994. 201
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»Dadurch, dass jemand einen Geschlechtskörper bzw. ein objektiviertes Geschlecht hat, ist er immer schon in ein soziales Ausdrucksverhältnis eingelassen. Einen Geschlechtskörper zu haben, heißt, sein eigenes Geschlecht schon dargestellt zu haben, noch bevor man in einer Situation eine Geste gemacht, einen Blick geworfen oder ein Wort gesprochen hat. Dabei ist es fast unerheblich, ob jemand tatsächlich etwas gesehen hat. Es reicht, potentiell sichtbar zu sein.« (Ebd.: 37f.)
Die visuelle Wahrnehmung geschlechtlicher Gestalten, so lässt sich zusammenfassen, ist nach Lindemann ein in sich semiotischer Vorgang und daher durch gesellschaftlich konventionalisierte Bedeutungen strukturiert. Die Zeichenhaftigkeit des Vorgangs bleibt jedoch aus mehreren Gründen verborgen. Erstens lässt sich der Akt der Wahrnehmung nicht in einen sequentiellen Prozess des ›Lesens‹ einzelner Zeichen auflösen, sondern die Gesamtgestalt wird ad hoc als eine geschlechtlich bedeutsame erfasst. Lindemann spricht in diesem Zusammenhang von »gestalthaften Schwellenwerten«, d.h. kleinen, als solchen unbemerkten Details, deren Vorhandensein oder Fehlen eine Veränderung der spontanen Geschlechtseinordnung bewirken kann. Zweitens ist die Bedeutung visueller (körperlicher Geschlechts-) Zeichen in einer Weise an ihren materiellen Bedeutungsträger gebunden, die eine Unterscheidung zwischen beiden erschwert: Dinghaftigkeit und Zeichenhaftigkeit des (Geschlechts-)Körpers fallen unmittelbar zusammen (zumindest in einer Kultur, in der das Geschlecht letztinstanzlich am Körper festgemacht wird). Und drittens ist der Vorgang Bestandteil einer Interaktion, in die die Beteiligten leiblich involviert sind. Das bedeutet für die wahrnehmende Person, dass das Wahrgenommene für sie auch auf der leiblichen Ebene, die sich durch ihren nicht-relativierbaren Hier-Jetzt-Charakter auszeichnet, als wirklich erfahren wird.6 Für die wahrgenommene Person bedeutet es die Aktualisierung der Tatsache, sichtbar und damit dem Zwang ausgesetzt zu sein, sich (wirklich) als das Geschlecht zu erfahren, das der eigene Körper (als objektiviertes Geschlecht) bedeutet. Alle drei Aspekte laufen darauf hinaus, die Qualität der Unmittelbarkeit zu erklären, die der visuellen geschlechtlichen Wahrnehmung eigen ist: Das (so) Gesehene scheint unmittelbar evident; und auch wenn diese Erfahrung von Evidenz und Unmittelbarkeit einer nachträglichen Reflexion zugänglich ist, besitzt sie eine relative Autonomie gegenüber der Ebene ihrer Reflexion.7 6 7
Zur Bedeutung der Leiblichkeit der wahrnehmenden Person für die geschlechtliche Wahrnehmung vgl. Lindemann 1993: 41ff. Es geht hier ausdrücklich nicht um die Behauptung einer unmittelbaren Erfahrung, sondern darum, dass etwas als unmittelbar erfahren wird. Die
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1.3 »Das verändert das Gesicht ungeheuer«: Der Bart als »gestalthafter Schwellenwert« Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wende ich mich nun wieder der Frage zu, was beim Blick in den Spiegel auf das eigene, frisch bebärtete Gesicht genau passiert (bzw. passieren kann). Ich schlage vor, den Bart als »gestalthaften Schwellenwert« im Sinne Lindemanns zu interpretieren, d.h. als ein Detail, dessen Hinzukommen eine Veränderung der wahrgenommenen Gestalt bewirken kann. Zwar kann hier selbstverständlich nicht davon ausgegangen werden, dass die Veränderung dieses Details wie in Lindemanns Beispiel nicht bemerkt würde. Der Blick in den Spiegel ist ja gerade dadurch motiviert, die selbst vorgenommene Veränderung zu betrachten. Die Überraschung, die der Anblick auslösen kann, ließe sich jedoch kaum erklären, wenn der Bart selbst, als einzelnes Merkmal, den Fokus der Wahrnehmung bildete (denn ›einen Bart‹ zu sehen, wird von den Interviewten in den geschilderten Szenen ja durchaus erwartet). Eine derartige Überwältigung durch den Anblick des Spiegelbildes, wie sie einige der Interviewten beschreiben, scheint mir nur dann plausibel, wenn der Bart in der Wahrnehmung nicht lediglich als ein neues Element zu einem ansonsten vertrauten Bild hinzutritt, sondern die wahrgenommene Gestalt des ganzen Gesichts eine grundsätzlich andere geworden ist; eine, die spontan erfasst wird und unmittelbar starke Gefühle auslöst. Schwierig wird es allerdings bei der genaueren Bestimmung, in welcher Weise der Gestaltwechsel ein geschlechtlicher ist. Lindemann formuliert ihre Überlegungen ausdrücklich vor dem Hintergrund einer strikt zweigeschlechtlich strukturierten Wahrnehmung; ihre Argumentation zielt darauf zu erklären, »›wie‹ wir sehen, wenn wir immer und zu jeder Zeit zwei Geschlechter wahrnehmen« (1993: 12). Wie bereits gezeigt und im Folgenden noch weiter zu zeigen sein wird, werden in der Drag King-Szene (und ihrem ›Umfeld‹) jedoch gerade Wahrnehmungsweisen entwickelt und wirksam, durch die auch andere als zweigeschlechtlich bestimmte Verkörperungen und Seinsweisen ›sichtbar‹ werden können. So wurde bei der Thematisierung unterschiedlicher Rezeptionsweisen von Drag King-Performances deutlich, dass eine solche nicht strikt zweigeschlechtlich organisierte ›Lesefähigkeit‹ von vielen als Voraussetzung eines ›angemessenen‹ sinnhaften Verstehens der Performances betrachtet wird. Was bedeutet das nun für das hier thematisierte Sehen?
Qualität der Unmittelbarkeit wird ja gerade vor dem Hintergrund des Nachweises der Zeichen-Vermitteltheit der Wahrnehmung erklärungsbedürftig – und von Lindemann wie dargelegt erklärt. 203
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Wie – als welches Geschlecht – sehen sich die oben zitierten Interviewten mit Bart im Spiegel? Die angeführten Zitate lassen dies zunächst weitgehend offen. Sie verweisen auf ›etwas‹, das zunächst nicht näher geschlechtlich spezifiziert wird: »das ist es«; »ich seh’ mein Gesicht« – derart, und nicht in geschlechtlichen Termini, wird der Eindruck der Evidenz beschrieben. Dennoch spricht einiges dafür, dass es sich hier um einen geschlechtlichen Gestaltwechsel handelt, der bedingt ist durch eine durch die zweigeschlechtliche Ordnung strukturierte Wahrnehmung (was allerdings die Frage, ›als welches Geschlecht‹ die Interviewten sich sehen, noch nicht beantwortet). Dies legt etwa Tino nahe, der selbst Drag King-Workshops anbietet und dabei die Erfahrung gemacht hat, dass es »regelmäßig eigentlich jedes Mal mindestens eine Person gibt, sag’ ich jetzt mal, oder mehrere, die, wenn sie den Bart dran haben, so das erste Mal sich selber sehen« (Int. 8). Tino erklärt sich dieses Phänomen dadurch, dass der Bart als ein eindeutig männlich codiertes Zeichen fungiert. Die meisten Leute, bei denen dieser »Aha-Effekt« eintritt, sagt er, tragen vorher schon gewohnheitsmäßig »das, was man halt als männliche Kleidung versteht«. Die Kleidung ist also ebenfalls männlich konnotiert bzw. wird als männlich wahrgenommen, fungiert aber vor dem Hintergrund geltender geschlechtlicher Normen dennoch nicht als »gestalthafter Schwellenwert«: »[F]rüher wäre es vielleicht -, ich sag’ mal so, wenn man im letzten Jahrhundert diesen Workshop gegeben hätte, da wär’s die Hose gewesen, die vielleicht diesen Aha-Effekt ausgelöst hätte. Inzwischen ist es natürlich so, dass jede Frau Hosen haben kann. Mit dem Bart, sag’ ich jetzt auch immer, sage ich auch im Workshop, also wenn alle Frauen, die natürlichen Bartwuchs hätten, den auch wachsen lassen würden, dann wär’ der Bart auch kein männliches Phänomen mehr, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es jetzt ist, den rasieren sie sich schon seit Jahrhunderten, von daher ist der Bart halt immer noch eindeutig ein männlich besetztes äußeres Zeichen. Und deshalb ist, glaub’ ich, jetzt halt einfach der Bart dieses eindeutig Männliche sozusagen und dann ist das einfach ’n verändertes Gesicht dann dadurch, also es kann das Gesicht sehr verändern.« (Ebd.)
Anders als viele stilistische Elemente, die in Lesbenszenen und darüber hinaus auch für Frauen verfügbar sind (etwa männlich konnotierte Kleidung und Haarschnitte), gilt der Bart gegenwärtig und hierzulande als nahezu ausschließlich Männern vorbehaltene Art der Gesichtsgestaltung und ist damit nicht nur männlich konnotiert, sondern verweist zei-
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chenhaft auf das männliche Geschlecht.8 Erst dadurch, durch das »eindeutig Männliche« des Bartes, geschieht Tino zufolge der Gestaltwechsel, die radikale Veränderung des ganzen Gesichts. Dieser Gestaltwechsel ›funktioniert‹ (für die Interviewten und im Kontext der Szene) offensichtlich trotz der Einsicht in die Konventionalität des Zeichencharakters des Bartes: Dass die ›Tatsache‹, dass Frauen keinen Bart haben, in ihrer nahezu ubiquitären Geltung ein Resultat kultureller Konventionen und Praxen ist, die den Bart als männliches Attribut erst herstellen, ist für Tino und auch für andere Interviewte eine selbstverständliche Einsicht. Zudem sind die Bärte, die hier den Gestaltwechsel bewirken, nicht naturwüchsig,9 sondern Resultat eines intentionalen Aktes seiner ›künstlichen‹ Herstellung, und diese ›Künstlichkeit‹ bleibt im Ergebnis sichtbar (zumindest für diejenigen, die darum ›wissen‹ – ein Wissen, dass in den Szeneräumen, in denen der Drag KingBart vorwiegend zirkuliert, als geteiltes vorausgesetzt werden kann). ›Sichtbar‹ werden hier also zwei Dinge zugleich. Der sichtbaren ›Künstlichkeit‹ des Bartes zum Trotz wirkt der Bart nicht einfach ›nur‹ angeklebt in dem Sinne, dass er dadurch seine Zeichenhaftigkeit (die Kraft, zu signifizieren) verlieren würde; in der Wahrnehmung des Gesichts als einer geschlechtlich veränderten Gestalt wird die historisch-kulturell sedimentierte Bedeutung des Bartes als Geschlechtszeichen ›tatsächlich‹ und auch leiblich-affektiv wirksam.10 Dennoch ist die gleichzeitig sicht8
Hier ist allerdings eine Differenzierung angebracht. Viele der Interviewten berichten, dass ihnen die Erfahrung, in nicht näher spezifizierten öffentlichen Räumen öfters als Mann durchzugehen, seit langer Zeit vertraut ist; und viele sehen dies in einem Zusammenhang mit Weisen der Geschlechtsdarstellung, die sie als lesbisch codiert beschreiben. Solche Weisen der Geschlechtsdarstellung (etwa bestimmte Haarschnitte oder auch Bewegungsweisen) können also situativ sehr wohl als »gestalthafte Schwellenwerte« fungieren. Dies gilt jedoch nicht innerhalb lesbischer und ›verwandter‹ Zusammenhänge: Hier werden dieselben Codes nicht als Zeichen für Mannsein gelesen, bzw. gelten sie auch nicht notwendig als ›männlich‹. Dass Bärte hingegen auch in lesbischen Zusammenhängen bislang kaum üblich waren, dürfte, so lässt sich vermuten, ein Grund dafür sein, dass der Bart auch für die Interviewten selbst und ihr Umfeld einen Gestaltwechsel zu bewirken vermag. Dies ist ein Beispiel für die kulturelle Varianz und Kontextabhängigkeit gestalthafter Schwellenwerte, von der Lindemann spricht. 9 Als »naturwüchsig« bezeichnet Karl Marx historische Effekte nicht-planvoller gesellschaftlicher Praxen, die daher als natürlich erscheinen (vgl. z.B. Marx 1988). (Auch) in diesem Sinne lässt sich sagen, dass der Drag King-Bart von den in die Szene Involvierten als ›nicht naturwüchsig‹ wahrgenommen wird. 10 Die Zurschaustellung des Bartes ist damit performativ im Sinne Butlers: eine zitierende Verwendung von (hier bildhaften) Zeichen, die aufgrund 205
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bare ›Künstlichkeit‹ konstitutiver Bestandteil des so wahrgenommenen Bildes: nicht ›ein Bart ist ein Bart ist ein Bart‹, sondern: dieser Bart ist ein Drag King-Bart. Man könnte sagen, der Gestaltwechsel ›funktioniert‹, aber die Interviewten ›glauben‹ nicht vorbehaltlos an den Bart.11 Welche Möglichkeiten ergeben sich aus dieser Gleichzeitigkeit von signifikatorischer bzw. performativer Wirkung und erkennbarer Künstlichkeit des Drag King-Bartes für eine alternative geschlechtliche Besetzung des bebärteten Bildes seiner selbst? Wie investieren die in die Drag King-Szene Involvierten in den dadurch eröffneten Zwischenraum? Die nun folgende Interpretation dessen, wie im Interview mit Uli die Zusammenhänge zwischen Bart-Praxis, »Selbstbild« und verschiedenen Weisen des Wahrgenommen-Werdens verhandelt werden, gibt darauf eine mögliche Antwort und leitet zugleich über zum nächsten thematischen Schwerpunkt: der Frage nach der Beziehung zwischen dem sich sehenden Subjekt und dem gesehenen Bild. Auch für Uli bewirkt der Drag King-Bart eine starke Veränderung des Gesichts, die als Gestaltwechsel interpretiert werden kann. Anders als in den bisherigen Zitaten charakterisiert Uli das so sichtbar werdende Gesicht zudem explizit als eines, das »männlich« wirkt: »Das verändert das Gesicht ungeheuer, das ist bei allen Leuten so, und ich denke, bei mir -, ich habe einfach festgestellt, dass ich mir so viel besser gefalle, oder dass ich damit eine Seite zum Vorschein bringe, die sonst irgendwie verborgen ist. Und ich wirke damit auch -, weil ich mich immer sehr darum bemüht habe, das authentisch zu machen, also jetzt nicht was ganz Schrilles mir ins Gesicht zu kleben so in grün und rot oder ich weiß nicht wie, sondern das so natürlich aussehend wie möglich zu gestalten – dadurch sehe ich dann wirklich wie ein Typ aus, vielleicht wie ein recht junger Mann, aber doch eben wirklich relativ männlich. Und das gefällt mir, also das ist eine Sache, die ich jetzt nicht nur auf Partys gut finde, sondern ganz allgemein.« (Int. 1)
Uli gefällt es, dass er mit dem durch den Bart veränderten Gesicht »wirklich wie ein Typ« aussieht, und er achtet darauf, den Bart so zu gestalten, dass dieser Effekt tatsächlich erzielt wird (nämlich, in dem er ihn deren sedimentierter Bedeutungen deren Bezeichnetes als Effekt hervorbringt (vgl. Butler 1995: 35ff.). 11 Im Sinne Butlers wäre diese Bewegung eine des Offenlegens der ansonsten verborgenen Performativität der Darstellung (eine Bewegung, die im Zentrum ihrer Analyse von Drag steht; vgl. Kapitel I.1.1). Mir geht es im Folgenden jedoch darum zu zeigen, was über diesen dekonstruktiven Effekt hinaus durch den Drag King-Bart sichtbar gemacht bzw. hervorgebracht wird – d.h. um dessen produktive Effekte. 206
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»authentisch« und »natürlich« wirken lässt). Allerdings spricht Uli bei genauerem Hinsehen hier nicht explizit darüber, wie (als was) sie sich selber sieht; sondern sie sieht, wie sie »wirkt«, wie sie für andere sichtbar wird. Dass beides für sie nicht das gleiche ist, wird an anderer Stelle im Interview deutlich: »Also wenn ich von irgendwem -, das passiert mir häufig, ähm, kurzsichtige alte Damen vor allen Dingen [lacht] halten mich manchmal für einen Mann, jungen Mann, und da fühle ich mich ganz wohl bei. Also nicht nur, dass ich deutlich jünger geschätzt werde als ich bin, sondern einfach auch als Mann eingeschätzt werde oder Junge, das finde ich ziemlich okay. Da habe ich mich oft bei erwischt, dass ich das nicht richtig stelle, was dann andere in meiner Gegenwart manchmal etwas befremdlich finden, weil die würden dann laut sagen: Hier, nicht junger Mann, sondern junge Frau. – Ich mache das nicht und ich finde das ganz okay so. […] Es ist ganz okay für mich, aber ich empfinde da jetzt auch nicht Stolz, es entspricht einfach mehr meinem Selbstbild. I: Also als Mann wahrgenommen zu werden, entspricht schon eher deinem Selbstbild als-? A: [unterbricht] Nee, als weder noch, dass das so ein bisschen unsicher ist, dass ich mal als Frau und mal als Mann [1] erkannt werde. Also das finde ich eigentlich wichtig für mich, dass ich nicht so das typische Weib bin und natürlich auch, so sehe ich auch nicht aus, der typische Mann.« (Ebd.)
Bereits vor dieser Passage spricht Uli im Interview ausführlich darüber, dass er sich weder als Mann noch als Frau begreift und auch nicht als eine Mischung von beidem: nicht dazwischen, sondern eher jenseits – ein Selbstverständnis, das, so sagt er, anderen gegenüber nur schwer zu vermitteln sei. Dass auch ich als Interviewerin zu diesem Zeitpunkt noch nicht begriffen habe, zeigt sich in der hier dargestellten Interaktion. Dass sie Gefallen daran findet, für einen Mann gehalten zu werden, interpretiere ich zunächst als einen Widerspruch zu ihren früheren Ausführungen: Also doch, denke ich, und versuche mit meiner Nachfrage, sie auf eine Investition in eine männliche Position festzulegen. Ihre Präzisierung macht jedoch folgendes deutlich: Vor dem Hintergrund einer strikt zweigeschlechtlich organisierten alltäglichen Wahrnehmung ist die einzige Möglichkeit, nicht durchgängig als Frau wahrgenommen zu werden, die, (ab und an) als Mann wahrgenommen zu werden. Ihrem »Selbstbild« entspricht daher nicht die Vereindeutigung als Mann, sondern die erst durch das situative Als-Mann-wahrgenommen-Werden sich ergebende Möglichkeit, nicht (nur) als Frau gesehen zu werden. Er wird von anderen mal als Frau, mal als Mann »erkannt« (er wählt dieses Wort mit Bedacht, wie das Zögern – eine einsekündige Pause – vor dem Wort erkennen lässt); beides ist für ihn gleichermaßen ein Erkanntwerden – 207
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und zugleich ein Verkanntwerden: Das ›Weder-noch‹, als dass sie sich empfindet, ist als solches in alltäglichen Zufallsbegegnungen nicht sichtbar zu machen. Uli unterscheidet daher zwischen ihrem »Selbstbild« und dem Bild, das andere von ihm wahrnehmen; nicht in einer einzelnen Situation, sondern erst über unterschiedliche Situationen hinweg kann diese (je unterschiedlich vereindeutigende) Wahrnehmung der anderen sein »Selbstbild« dennoch unterstützen. Vor diesem Hintergrund interpretiere ich Ulis Freude daran, mit dem Bart »wirklich wie ein Typ« auszusehen, als Freude über die Möglichkeit, der Zumutung, als Frau sichtbar zu sein (und der damit einhergehenden Zumutung, sich selbst als das Geschlecht zu realisieren, dass der so sichtbare Körper bedeutet), zu entkommen – ohne dabei auf die Kurzsichtigkeit älterer Damen angewiesen zu sein. Zugleich bietet der Bart die Möglichkeit, »wirklich wie ein Typ« auszusehen, ohne selbst in diesem Bild aufzugehen. Das Wissen um die doppelte Hergestelltheit des Bartes (die gesellschaftliche Konstituiertheit als Geschlechtszeichen und die ›Künstlichkeit‹ der Verbindung von Mastix, Wollkrepp, Feinmotorik und ästhetischem Gespür) schafft eine Distanz zur herkömmlichen Bedeutung des Bildes, einen Abstand oder Zwischenraum, in dem das »Weder-noch« sich ansiedeln kann; für Uli eine Möglichkeit, ›etwas‹ »zum Vorschein [zu] bringen«, was ansonsten »verborgen« ist. Der Drag King-Bart, so möchte ich deshalb vorläufig vorschlagen, bewirkt einen Gestaltwechsel, der durch die binäre geschlechtlich strukturierte Wahrnehmung bedingt ist: Weil der Bart als eindeutig männliches Zeichen codiert ist und weil Geschlechtszeichen als Oppositionen konstituiert sind, ist die gesehene Gestalt eine nicht-weibliche/Nicht-Frau. Dieser performative Effekt ist in dieser Intensität offensichtlich nur durch das Gewicht sedimentierter, durch soziale Praxen ständig wiederholter Bedeutungen zu haben, die den Bart als ein männliches Zeichen vereindeutigen; männlich konnotierte, in ihrer Bedeutung aber nicht derart vereindeutigte Attribute wie bestimmte Kleidung und Haarschnitte haben nicht den gleichen Effekt. Die Ko-Präsenz des den Gestaltwechsel bewirkenden Zeichens ›Bart‹ und des (in den Szene-Räumen geteilten) Wissens um seine Künstlichkeit (und deren ›Sichtbarkeit‹) bewirkt jedoch, dass die als ›Nicht-Frau‹ gesehene Gestalt hier nicht zugleich als ›Mann‹ bedeutet wird: Als solcher wahrgenommen, eröffnet der Drag King-Bart einen Zwischenraum und eine Möglichkeit des Sehens, die den von Lindemann angenommenen Rahmen, dass »wir immer und zu jeder Zeit zwei Geschlechter wahrnehmen«, verlässt (und die dennoch zugleich auf zweigeschlechtliche Codierungen bezogen ist). Die Wirkung des Drag King-Bartes beschränkt sich auch nicht darauf, die 208
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Konventionalität dieses Rahmens sichtbar zu machen und geschlechtliche Positionen als Effekt performativer Praxen auszuweisen. Darüber hinaus ermöglicht er die Sichtbarkeit von ›etwas‹, das in diesen Positionen nicht aufgeht, sowie die Besetzung dieses ›etwas‹ als Bestandteil eines alternativen geschlechtlichen Selbstverhältnisses. Mit Muñoz lässt sich diese Bewegung als eine der disidentification begreifen: als eine Investition in verfügbare Codes, die dennoch nicht in die dadurch üblicherweise konstituierten Positionen mündet, sondern etwas anderes zu repräsentieren vermag (vgl. Kapitel I.1.1). Damit ist bereits das Thema angesprochen, das im Folgenden ausführlicher behandelt werden soll: die Frage nach der Art der Beziehung zwischen dem sich sehenden Subjekt und dem gesehenen Spiegelbild – als Frage nach geschlechtlichen Selbstverhältnissen und deren Verhältnis zu ›Identität‹. Im Anschluss an eine Situierung dieser Frage im Kontext theoretischer Überlegungen zur ›Identifikation‹ einerseits, im Kontext kulturwissenschaftlicher Analysen von Narrationen der Transsexualität andererseits werden unterschiedliche geschlechtliche Selbstverhältnisse im Zusammenhang mit der ›Bart-Praxis‹ empirisch ausgelotet.
1.4 ›Ich‹ und sein Spiegelbild: Sich-Sehen als Identifikation Die Szene, in der ein Subjekt sich selbst im Spiegel erkennt oder zu erkennen sucht, fungiert wie kaum ein anderer Topos in unzähligen Variationen als Paradigma, Narrativ oder Metapher für die Sehnsucht nach identitärer Selbstvergewisserung sowie für deren ständige Prekarität. In diesem Topos wird dieses Thema als ein wesentlich visuelles eingeführt, als eines, das sich auf dem Terrain des Sehens und der Sichtbarkeit abspielt, und zwar der Sichtbarkeit eines Körpers bzw. einer körperlichen Gestalt. In psychoanalytischer Perspektive bestimmt Jacques Lacan in seiner Abhandlung zum »Spiegelstadium« (1996 [1949]) den Moment, in dem das kleine Kind erstmals sein eigenes Bild im Spiegel als solches erkennt und dies »durch die illuminative Mimik des AhaErlebnisses« (ebd.: 63; Herv. i.O.) anzeigt, als eine Identifikation, in der das Ich als ein (immer schon) körperliches allererst entsteht. Wie jede Identifikation ist dieses Annehmen des körperlichen Ich als einer klar umgrenzten Ganzheit jedoch zugleich eine Idealisierung, in die das Kind narzisstisch investiert; das Erkennen ist daher gleichermaßen ein Verkennen. Auf diese fundamentale Gleichzeitigkeit weist auch Kaja Silverman hin:
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»[I]n his account of the mirror stage, Lacan paradoxically insists on both the ›otherness‹ and the ›sameness‹ of the image within which the child first finds its ›self‹. On the one hand, the mirror stage represents a méconnaissance, because the subject identifies with what he or she is not. On the other hand, what he or she sees when looking into the mirror is literally his or her own image.« (Silverman 1996: 10)
Gerda Pagel (2002) charakterisiert die sich im Spiegelstadium entfaltende identifikatorische, imaginäre Beziehung zum eigenen Bild dementsprechend als »Illusion des Eins-sein-Wollens mit sich selbst als einem anderen« und fügt hinzu, dass diese »Anstrengung […] sowohl notwendig als auch vergeblich bleibt« (ebd.: 31). Damit wird die Struktur der Identifikation als eine des notwendigen Scheiterns bestimmt und zugleich als eine, die dennoch zwingend aufrechterhalten wird und werden muss.12 Auch wenn das Scheitern damit also ins Herz aller Identifikation eingeschrieben ist, sind die Bedingungen, diese Struktur (der narzisstischen Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild) aufrechtzuerhalten, nicht für alle gleich. Denn, so argumentiert Silverman in ihrer Relektüre von Lacan, diese Identifikation ist eine immer schon durch gesellschaftlich-kulturelle Normen vermittelte.13 Silverman unterscheidet für die Beschreibung dessen zwischen dem screen (dem gesellschaftlichen Bildarchiv), dem gaze (dem durch soziale Codes der Verstehbarkeit strukturierten Blickregime) und dem look, dem konkreten, individuellen Blick (vgl. Silverman 1996: 18ff. und 125ff.).14 Der screen lässt sich als ein heterogenes, kulturell variables und historisch veränderliches Ensemble der jeweils verfügbaren bzw. produzierten potentiell sinnhaft verstehbaren ›Bilder‹ begreifen. Wie diese Bilder wahrnehmbar werden, wird durch den gaze organisiert: Als ein ›Blickregime‹ ist dieser zwar ebenfalls gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen, (vor-) strukturiert aber in einer gegebenen historischen Situation relativ ver-
12 Bzw. könnte man präziser wie folgt formulieren: Erst der Umstand, dass der Prozess der Identifikation – das beständige Sich-Spiegeln im Anderen – notwendig aufrechterhalten werden muss, damit das Ich sich nicht verliert, verweist auf ein Scheitern. Das Scheitern bezieht sich auf die Illusion oder den Wunsch, aus sich selbst heraus, für sich alleine ›ganz‹ zu sein; d.h. den Spiegel fortwerfen zu können, aus der Struktur der Identifikation aussteigen zu können. 13 Vgl. zu einer Relektüre von Lacan, die die konstitutive Bedeutung gesellschaftlicher Normen für Prozesse der Identifikation herausarbeitet, auch Butler 1995: 85ff. 14 Vgl. für eine ausführliche Erläuterung dieser Begriffe, an der ich mich im Folgenden orientiere, Engel 2002: 149ff.; außerdem Schaffer 2008: 112ff. 210
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bindlich die Art des Sehens.15 Der individuelle Blick (look) tritt in das durch das Zusammenwirken von screen und gaze vorstrukturierte Feld ein und wird seinerseits dadurch strukturiert. Als ein je konkreter und einzigartiger ist der look dennoch nicht vollständig determiniert, sondern vermag unter Umständen auch ›anders‹ und ›Anderes‹ zu sehen.16 Silverman reformuliert nun den Prozess der Identifikation im Horizont dieser Begrifflichkeiten. Die Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild gilt ihr zugleich als eine mit dem screen, und sie muss, um ›wirksam‹ zu werden, durch den gaze bestätigt werden: »In order to emerge within the field of vision, the subject must not only align him- or herself identificatorily with the screen, but must also be apprehended in this guise by the gaze. To state the case in terms closer to those of ›The Mirror Stage‹, the subject can only successfully misrecognize him- or herself within that image or cluster of images through which he or she is culturally apprehended. If it is to be even momentarily ›captating‹, identification must be a three-way rather than a two-way transaction, requiring a symbolic ›ratification‹.« (Silverman 1996: 18)17
Durch die Einbeziehung der Bedeutung der gesellschaftlich strukturierten Dimensionen des Bildarchivs und des Blickregimes im visuellen Prozess der Identifikation mit dem Spiegelbild macht Silverman die Frage einer Bearbeitung zugänglich, »how gender, race, sexual preference, and other culturally constructed and enforced distinctions come into play at the level of the bodily ego« (9f.). Sie macht nicht nur deutlich, dass und wie diese gesellschaftlich-kulturellen Unterscheidungen im Prozess der Identifikation angeeignet werden und damit konstitutiv für das (je 15 In einer Fußnote legt Silverman die Möglichkeit nahe, dass sich auch innerhalb einer gegebenen historischen Situation kontextuell unterschiedliche Varianten oder Wirkungsweisen des gaze herausbilden können: »[W]ithin the context of a particular subculture, the gaze might be capable of producing a different ›photograph‹ than that which comes into play at the larger cultural level, and so of sometimes sustaining an identification which would be at other times impossible.« (Ebd.: 234, FN 61.) In einer weiteren Fußnote spricht sie explizit von einem »subcultural gaze« (ebd.: FN 63). Ich komme auf diese Möglichkeit später zurück. 16 Den Blick, der eine solche Verschiebung erreicht, bezeichnet Silverman als »produktiven Blick« (»productive look«; ebd.: 180ff.). Auch darauf komme ich später zurück. 17 Silverman schlägt vor, die wahrscheinliche Anwesenheit der Mutter in der Spiegelszene zu interpretieren als »facilitating the imaginary alignment of the child with the reflexion«: »[T]he mother’s look stands in for what no look can actually approximate: the gaze. It superimposes the structuring reflection upon the child, and so makes possible the child’s identification with what it can never ›be‹.« (Ebd.) 211
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konkrete) Körper-Ich sind.18 Darüber hinaus argumentiert sie, dass die je historisch-gesellschaftlich spezifische Verfasstheit von screen und gaze die Aufrechterhaltung der identifikatorischen Struktur selbst – das »erfolgreiche Verkennen« (to »successfully misrecognize him- or herself«) – für einige mehr und für andere weniger wahrscheinlich macht. Denn dadurch würden die Chancen des Zugangs zu einem idealisierenden Bild seiner ›selbst‹, das eine narzisstische Investition ermöglicht, ungleich verteilt. Mit Bezug auf Franz Fanons Schwarze Haut, Weiße Masken zeigt Silverman, wie unter der Herrschaft eines weißen, kolonialen Blickregimes (gaze) und innerhalb eines Bildarchivs (screen), das Schwarzsein nur in abwertenden Stereotypen repräsentiert, die Identifikation mit einem (›schwarzen‹) Bild seiner selbst als eine aufgezwungene erlebt werden kann. Das Subjekt kann infolgedessen bemüht sein, den ›Spiegel‹ in größtmöglicher Distanz zu halten, anstatt narzisstisch darein zu investieren (vgl. ebd.: 27ff.). Aufgrund seiner symbolischen Repräsentation als ›Mangel‹ sieht Silverman auch die Identifikation des ›weiblichen Subjekts‹ als strukturell erschwert und notwendig komplexer gegenüber der des (weißen, heterosexuellen) männlichen (vgl. ebd.: 31ff.). Silverman deutet an, dass eine durch (in screen und gaze eingelassene) gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse derart erschwerte Identifikation eine gewisse Distanz zu dem ›Bild seiner selbst‹ konstituiert, die zum Ausgangspunkt eines Selbstverhältnisses werden kann (aber keineswegs werden muss), in dem die Illusion der Identität, der »selfsameness«, teilweise gebrochen wird zugunsten einer größeren identifikatorischen Flexibilität (vgl. ebd.: 35). Eine Distanz zum eigenen Spiegelbild – die Unfähigkeit, sich unter dem herrschenden gaze mit dem bestehenden screen zu verbünden – ist auch Gegenstand zahlreicher kultureller Repräsentationen transgeschlechtlicher Existenzweisen. Besonders augenfällig zeigt sich dies an dem geradezu klassischen Topos von ›Spiegelszenen‹ in (auto-)biographischen Narrationen von Transsexuellen; ein Topos, der zudem einen bevorzugten Gegenstand kulturwissenschaftlicher Interpretationen bezüglich der darin in Szene gesetzten Weisen der ›Identifikation‹ darstellt.19 Ei-
18 Vgl. zu einer ausführlichen Diskussion dessen, wie dies für (heterosexuelle) Zweigeschlechtlichkeit gilt, Butler 1995: 85ff. sowie Salamon 2004. 19 Vgl. zu zahlreichen Verweisen auf solche Szenen und zu deren Interpretation Runte 1996: 523ff. sowie Prosser 1998: 99ff. Die genannten Autor_innen widmen den ›Spiegelszenen‹ jeweils ein eigenes Kapitel: »Die ›Bild-Phalle‹: Körper/Bilder und ›Spiegelszenen‹ – Imago vor dem Ge212
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nige solcher Interpretationen legen allerdings nahe, dass in diesen ›Spiegelszenen‹ trotz der zunächst artikulierten Distanz zum Spiegelbild der (hegemoniale) Modus der ›Identifikation‹ darin keineswegs gebrochen werde. So unterscheidet etwa Anette Runte (1996) zwischen »negativen« Spiegelszenen »vor der (vestimentären oder chirurgischen) Transformation« (ebd.: 526) und »positiven« danach. In Ersteren entfaltet sich ihr zufolge die ganze klassische Semantik des ›Leidens am falschen Körper‹ – Scham, Hass, Fremdheit und Tragik bestimmen den Blick in den Spiegel. In den Letztgenannten sieht Runte dagegen eine geradezu zwanghafte narzisstische Besessenheit am Werk; ein »wörtlich« Nehmen des Bildes, das das ›richtige‹ Geschlecht reflektiert. Für Runte artikuliert sich darin ein »Selbstverhältnis«, das eine »psychotische Struktur« aufweise (ebd.: 538), bzw. ein »Wahnsystem«, als welchen sie den »transsexuelle[n] (Irr)Glaube[n]« an anderer Stelle bezeichnet (ebd.: 535): ein ›Wahn‹, der Runte zufolge gerade in dem Bestehen auf der ›Identität‹ mit dem Spiegelbild liegt, d.h. in der mangelnden Einsicht in den imaginären, verkennenden Charakter der Identifikation. Unklar bleibt allerdings, wie genau Runte diesen ›Wahn‹ unterscheidet von dem, der (Lacan zufolge, auf den Runte sich explizit bezieht) notwendiger Bestandteil jeder Identifikation ist und zudem den gängigen Modus des alltäglichen In-den-Spiegel-Blickens darstellt: ›Natürlich‹ sehe ich darin (›wirklich‹) mich selbst. Sinnhaft wird Runtes Charakterisierung nur vor dem Hintergrund, dass sie offensichtlich unterstellt, dass eine Transfrau sich im Spiegel nicht in der gleichen Weise ›wirklich‹ als Frau sehen kann wie eine Cis-Frau – was die wohl schwer zu beantwortende Frage aufwirft, was es heißt, sich ›wirklich‹ als Frau zu sehen: Auf welche außerhalb des gesehenen Bildes liegende Wirklichkeit rekurriert eine solche Beurteilung? Wer kann und darf sich aus welchen Gründen als Frau sehen, ohne deshalb einem Wahn verfallen zu sein? Einen anders gelagerten Blick auf Autobiographien von Transsexuellen wirft hingegen Sandy Stone (2006 [1991]). Zwar problematisiert auch sie eine gesteigerte Identifikation nicht nur mit dem eigenen Spiegelbild, sondern mit hegemonialen Geschlechternormen, die sie in den von ihr betrachteten Autobiographien von Transfrauen insbesondere seit den frühen 1960er bis zu den 1980er Jahren erkennt. Rigide Zweigeschlechtlichkeit (ohne jeglichen ›Zwischenraum‹), strikte Heteronormativität und eine Orientierung an einem zutiefst patriarchal geprägten Weiblichkeitsideal organisieren ihr zufolge die meisten dieser Erzäh-
fühl« heißt das entsprechende Kapitel bei Runte, und Prosser titelt »Mirror Images: Transsexuality and Autobiography«. 213
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lungen. Anders als Runte fragt Stone jedoch nach den gesellschaftlichen Bedingungen von deren Produktion, Verbreitung und Rezeption. Sie verweist darauf, dass Transsexuelle, die in einem entscheidenden Punkt gegen geschlechtliche Normalitätsanforderungen verstoßen, sich eben deshalb einem besonderen Begründungszwang bezüglich ihrer Konformität mit hegemonialen Normen ausgesetzt sehen. Vor allem aber stellt sie die Erzählungen in den Horizont einer medizinischen Wissensproduktion und Behandlungspraxis, in denen eine bestimmte Weise der Identifikation mit geschlechtlichen Normen als expliziter Bestandteil diagnostischer Kriterien formuliert wird und damit entscheidend für den Zugang zur Behandlung wird: Sich im ›falschen Körper‹ zu fühlen galt (und gilt häufig immer noch) gewissermaßen als unerlässliche Bedingung des Zugangs und impliziert den Hass auf und das Leiden an demselben sowie den zwanghaften Wunsch nach dem (einen, einzigen und im Sinne kultureller Stereotype möglichst perfekten) ›richtigen‹ Körper.20 Transsexuelle werden vom medizinischen Establishment geradezu dazu aufgefordert, eine möglichst wörtliche, distanzlose Identifikation mit dem (idealisierten) Bild des ›richtigen‹ Körpers einzugehen – um dann allerdings dem medizinischen Blick nicht als die ›echten‹ Frauen oder Männer zu gelten, als die sie sich zu wähnen haben, sondern als ›echte‹ Transsexuelle gemäß diagnostischer Kriterien.21 Ohne die Rede vom ›falschen Körper‹ deswegen als eine durchgängig rein strategische abzutun, zeigt Stone an zahlreichen Beispielen auf, dass Körpererfahrungen und Selbstverhältnisse Transsexueller weitaus widersprüchlicher
20 Zu einer Kritik an der Normativität der Trope des ›falschen Körpers‹ und an deren (auch gegenwärtigen und hiesigen) Institutionalisierungen vgl. Franzen/Beger 2002; Beger 2007; Hoenes 2007. Die spezifische Verschränkung der medizinischen Konstituierung von ›Transsexualität‹ mit geschlechtlichen Normalitätsvorstellungen wurde in Kapitel II.2.2.1 bereits ausgeführt. 21 Stone beschreibt in einer Anekdote einen Mechanismus der Perpetuierung dieser Tropen sowohl in der medizinischen Diagnostik als auch in Erzählungen Transsexueller. Harry Benjamins 1966 erschienenes Buch zu Transsexualität diente in der Anfangszeit als maßgebliches Handbuch der Diagnostik, und tatsächlich schienen die in den Kliniken erscheinenden Transsexuellen den dort formulierten Kriterien zu entsprechen: »It took a surprisingly long time – several years – for the researchers to realize that the reason the candidates’ behavioral profile matched Benjamin’s so well was that the candidates, too, had read Benjamin’s book, which was passed from hand to hand within the transsexual community, and they were only too happy to provide the behavior that led to acceptance for surgery.« (Ebd.: 228) 214
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und komplexer sind als die veröffentlichten medizinischen Fallgeschichten und (Auto-)Biographien erkennen lassen.22 Runte scheint dagegen die in den von ihr analysierten Autobiographien inszenierten Subjektivitäten als direktes Abbild transsexueller Erfahrung bzw. alltäglicherer Inszenierungen zu nehmen. In der Eingangspassage ihres ›Spiegel‹-Kapitels spricht sie zumindest nicht ausdrücklich von literarischen Figuren, sondern von »Transsexuellen« schlechthin, wenn sie schreibt: »Tendenziell entziehen sich Transsexuelle entschlossen jener Simulation des anderen Geschlechts, die einen Abstand offen hält und kulturgeschichtlich bekanntermaßen von ritueller Travestie über kabarettistische Unterhaltung bis zur Körpermontage der modernen Performance-Kunst reicht. ›Exit the Queen‹: Weder die ironische Distanz (zu) einer Maskerade, hinter deren Imitat sich Anderes auftäte, noch die Ambiguität fetischistischen Oszillierens oder gar jenes postmoderne Kaleidoskop durcheinandergewirbelter Codes, das Baudrillard als ›Transsubstantiation des Geschlechts‹ in den Zeichen feierte, interessiert die geschlechtlich Invertierten. Stattdessen stehen sie im Bann einer seriösen, gleichsam todernsten Inkarnation – einer An(Ver)wandlung, die ›unter die Haut‹ geht.« (Runte 1996: 523; Herv. i. O.)
Wie in den zuvor zitierten Wendungen werden ›die Transsexuellen‹ auch hier durch die Distanzlosigkeit ihrer »todernsten« geschlechtlichen Identifikation charakterisiert, was sie für Runte in einen klaren Gegensatz zu rituellen, spielerischen und ironischen Formen geschlechtlicher Inszenierungen setzt. Eine solche Entgegensetzung, die verschiedene Formen geschlechtlicher Transgression nach Art und Grad der Identifikation mit (bzw. ironischen Distanz zu) einem der zwei kulturell verfügbaren Geschlechter unterscheidet, erinnert an ein Thema, das in Kapitel I.1 im Zusammenhang mit Debatten um Drag entfaltet wurde: Die Theoretisierung von Drag als einer Strategie der (ironisch-distanzierenden) Destabili22 Eine Komplexität, die zur Zeit von Stones »Manifesto« vorwiegend in innerhalb transsexueller Communities zirkulierenden Geschichten thematisiert wurde, inzwischen jedoch ebenfalls in (auto-)biographischen literarischen Produktionen bearbeitet wird, die als bewusste Intervention in die bis dahin vorherrschenden narrativen Konventionen des Genres begriffen werden können; vgl. z.B. Feinberg 1993; Bornstein 1994. Insbesondere der Roman von Feinberg ist außerdem ein Beispiel für einen anders gearteten Einsatz (zahlreicher) Spiegelszenen, insofern hier dadurch die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen des Sich-selbst-sehenKönnens explizit aufgeworfen wird. Vgl. zu einer Interpretation des Romans und einiger der darin enthaltenen ›Spiegelszenen‹ im Kontext einer »Politik der KörperBilder« Hark 1998. 215
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sierung hegemonialer Normen geriet, so wurde dargelegt, teils zu einem normativen Maßstab, an dem gemessen anders geartete geschlechtliche Inszenierungen und Verkörperungen als ›affirmativ‹ erschienen. Dies wurde insbesondere im Kontext der Transgender Studies nachdrücklich kritisiert. Aus einer solchen Kritik resultierten allerdings auch Versuche, den normativen Maßstab gewissermaßen umzudrehen und die ›ernsthafte‹ transsexuelle Investition in eine (zwei-)geschlechtlich bedeutsame Verkörperung anderen, als ›lediglich spielerisch‹ gewerteten Weisen geschlechtlicher Transgression entgegenzusetzen. In der Erzählung und Interpretation von ›Spiegelszenen‹ scheint, so zeigt sich nun, dieses Thema einer (teils normativ aufgeladenen und polarisierenden) Unterscheidung zwischen verschiedenen Weisen geschlechtlicher Transgression in besonderer Weise wirksam zu werden. Im kulturell tradierten und wiederholt theoretisch reflektierten Topos des ›Sich-im-SpiegelSehens‹ verdichten sich offensichtlich Fragen nach (geschlechtlichen) Selbstverhältnissen in ihrem Verhältnis zu hegemonialen Strukturierungen von ›Identifikation‹ und ›Identität‹. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Überlegungen soll nun weiter verfolgt werden, wie dieser Topos in den Interviews entfaltet und reflektiert wird. Dabei soll – allerdings jenseits einer normativen Aufladung – auch danach gefragt werden, welche Bedeutung der Unterscheidung zwischen unterschiedlichen, eher ›wörtlichen‹ oder eher ›ironisch-distanzierenden‹ Modi der Identifikation dabei zukommen mag und wo eine solche Unterscheidung selbst an ihre Grenzen gerät.
1.5 »… in den Spiegel gucken und sich einfach mal freuen«: Bezüge zu sich Was passiert, wenn sich jemand erstmals selbst mit Bart im Spiegel betrachtet, ist auch in der Szene selbst teils Anlass zu einer Reflexion über Unterscheidungen zwischen verschiedenen Selbstverhältnissen und geschlechtlichen Verortungen. Tino z.B. interpretiert seine Beobachtungen bei zahlreichen von ihm geleiteten Drag King-Workshops dahingehend. Ob der von ihm beschriebene »Aha-Effekt« (sich mit Bart im Spiegel erstmals ›selbst‹ zu sehen) eintritt oder ausbleibt, ist ihm zufolge ein Anzeiger dafür, »ob das eher auf dieses Ausprobieren -, oder wie die meisten sagen: Ja, ich hab’ da ’n Alter Ego in mir, den will ich mal rauslassen oder ein Gesicht geben oder ’nen Namen geben oder -, ob halt der Schwerpunkt da ist oder ob das halt eher doch schon Richtung trans* oder passing geht« (Int. 8). Die Unterscheidung, die Tino trifft, fällt nicht direkt mit der oben skizzierten zwischen zwei Modi der Identifikation zusammen, erinnert jedoch deutlich daran. Denjenigen, die mit 216
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dem Bart etwas »ausprobieren« möchten und/oder damit etwas repräsentiert sehen, was nicht ›ich‹, sondern ein ›anderes Ich‹, ein »Alter Ego« ist (und die damit in einer Distanz zu der Repräsentation stehen), stellt er die anderen gegenüber, die ›sich selbst‹ sehen und damit in »Richtung trans* oder passing« gehen (im letzteren Fall also auch von anderen als Mann gesehen werden möchten). Mit seinen vorsichtigen Formulierungen verweist Tino allerdings eher auf eine Bandbreite als auf eine kategoriale, trennscharfe Unterscheidung zwischen zwei Gruppen; eine Bandbreite verschiedener möglicher Bedeutungen der Drag King-Praxis des Bärteklebens, die zudem alle gleichermaßen legitim oder sinnvoll erscheinen.23 Erinnern wir uns an die eingangs dieses Kapitels entfalteten Unterschiede in den Bezugnahmen auf das eigene bebärtete Gesicht: Für einige Interviewte wurde diese Bezugnahme vorwiegend durch eine ästhetische Dimension strukturiert. So wurde das Bartkleben als eine unter vielen möglichen Weisen thematisiert, sich »hübsch« zu machen; als eine Gelegenheit, den eigenen Anblick »cool« zu finden; oder als eine Möglichkeit, sich als ein anderes ›ich‹ (ein ›Alter Ego‹) zu inszenieren, dessen Eitelkeit durch einen wohlgestalteten Bart befriedigt wird, sich »toll« zu fühlen damit und es zu genießen, sich so zur Schau zu stellen. Sich hübsch machen, sich toll fühlen, den Bart cool finden und sich damit gefallen: eine, wenn man so will, durchaus narzisstische Investition in den bebärteten Anblick seiner selbst; aber eine, die mit einer Unaufgeregtheit (und teils auch Selbstironie) erzählt wird, die sich deutlich abhebt von der Dramatik, mit der andere Interviewte den Blick in den Spiegel als überwältigenden Moment der Selbsterkenntnis schildern: »ich hatte das Gefühl, ich kipp’ gleich um, weil ich zum ersten Mal das 23 Auf eine solche Bandbreite unterschiedlicher Bedeutungen sowie auf eine Offenheit und einen Respekt für unterschiedliche geschlechtliche Selbstverhältnisse verweist auch Karla/Klaus: »Also das ist ja das Tolle, dass man echt -, also da fühl’ ich mich dann immer so [1] wohl, hier in dieser Szene, wo soviel geht. Wo du einfach dann sagen kannst: Also ich will zwar mir ’nen Bart ankleben, aber ich will kein Mann sein so, eben das, was meine Mutter wahrscheinlich von mir verlangen würde, [lacht] wenn sie’s ernst nehmen will, also es muss einfach nicht. Und selbst wenn’s so wäre, wär’s auch nicht schlimm.« (Int. 15) – Implizit macht Klaus hier seine Einschätzung deutlich, dass eine ›transsexuelle‹ Identifikation – hier: ›ein Mann sein zu wollen‹ – üblicherweise als »schlimm« gelten würde, gleichzeitig aber auch »ernst [zu] nehmen« wäre, während eine anders geartete Investition in die ›Bartpraxis‹ als lediglich spielerisch abgetan würde (seine Mutter, so vermutet er, könnte das nicht »ernst nehmen«). Dass derartige Bewertungen Karlas Erfahrung nach im Kontext der Szene keine Gültigkeit haben, macht sie für sie zu einem Raum »wo so viel geht«. 217
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Gefühl hatte: ich seh’ mein Gesicht«; »ja, genau, das ist es, das bin ich«; »dieser Aha-Effekt im Spiegel, wo ich dann dachte, so: Hmm, vielleicht gibt’s doch noch was dazwischen«. Dass sich, wie bereits angedeutet, eine klare Entgegensetzung zwischen einem ironisch-distanzierten Modus einerseits und einem Modus unmittelbarer (trans-)geschlechtlicher Identifikation andererseits für die Charakterisierung der mit dem Kinging verbundenen Selbstverhältnisse dennoch als unzulänglich erweist, zeigt eine genauere Betrachtung der geschilderten ›Aha-Erlebnisse‹ im Kontext der jeweiligen Interviews. Als hilfreich erweist sich hier, dass die gewählte Methode des narrativen Interviews es ermöglicht, unterschiedliche Schilderungen einer erlebten Situation zueinander ins Verhältnis zu setzen. Und so zeigt sich, dass die vielfach in den Eingangserzählungen geschilderten ›Aha-Erlebnisse‹ – so unmittelbar eindrücklich sie auch zu sein scheinen – von denjenigen, die sie erleben, im Laufe der Zeit offenbar unterschiedlich interpretiert werden und ihre Bedeutung daher verändern können. Auf meine nachfragende Bitte um eine detaillierende Schilderung verweisen einige der Interviewten darauf, dass zunächst auch für sie Aspekte von Schönheit und ästhetischer Faszination im Vordergrund standen: »Hach, das sieht ja gut aus, hm, so will ich eigentlich [1] gesehen werden, also so gefall’ ich mir selber.« (Int. 6) – »[I]ch dachte auch am Anfang erst, so vom Kopf her dachte ich, das ist so ’n Ausdrucksmittel, ich seh’ toll damit aus und es sollen ja auch andere sehen, dass ich toll damit aussehe, irgendwie so in die Richtung.« (Int. 8) Erst später, im Kontext weiterer Erlebnisse und Entwicklungen, die die Frage nach der eigenen geschlechtlichen Verortung und dem eigenen Sein aufwerfen, bekommt der kurze Moment des Aha-Erlebnisses eine besondere Bedeutung für eben diese Frage: eine Bedeutung, die die durch den Anblick des bebärteten Spiegelbildes ausgelösten Gefühle rückblickend zum biographischen Wendepunkt machen hinsichtlich der Entwicklung eines anderen geschlechtlichen Selbstverständnisses – und zwar eines, das in der Tat oft als »trans*« umschrieben wird, was allerdings wiederum Unterschiedliches bedeuten kann. Kurz soll dies nun für drei der Interviewten umrissen werden (ausführlicher geschieht dies für ein viertes Interview im dieses Kapitel abschließenden ›themenbezogenen Kurzporträt‹). Nachdem Tino von dem »Aha-Effekt« berichtet hat, den er bei vielen seiner Workshop-Teilnehmer_innen beobachtet, erzählt er von seiner eigenen Erfahrung, sich erstmals mit Bart im Spiegel zu sehen – seiner Meinung nach ein ähnlicher Effekt:
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»Das ist halt auch so, wo man denkt: Das ist genau das Bild, was ich eigentlich immer im Spiegel sehe so, also ich halt, so irgendwie sozusagen in der zweiten, dritten Ebene im Hinterkopf, und jetzt seh’ ich’s mal sozusagen gleich direkt mir gegenüber.« (Int. 8)
Mit dem Blick in den Spiegel kommen für Tino zwei Bilder zur Deckung, die offensichtlich zuvor voneinander abgewichen waren: eines, das er »sozusagen in der zweiten, dritten Ebene im Hinterkopf« schon länger von sich hat und das er bislang gewissermaßen in sein Spiegelbild hineinprojiziert hat, und eines, das er – als die ›tatsächliche‹ Reflexion des Spiegels – »direkt mir gegenüber« sieht. Dass die Projektion aus seinem Hinterkopf nur für ihn, nicht aber für andere sichtbar wurde (dass weder der gaze noch ein anderer als sein eigener konkreter look diese Projektion stützen konnte), konnte Tino über längere Zeit hinweg meist »wegschieben« oder »ausblenden« (ebd.), wenn auch nie vollständig. Bis er den Aha-Effekt, den das Zur-Deckung-Bringen beider Bilder bei ihm auslöst, dahingehend interpretiert, dass er sich (im »Hinterkopf«) »als Mann« sieht (»mittlerweile kann ich das sagen, ja; also es war mir sehr lange nicht bewusst«, antwortet er auf meine diesbezügliche Nachfrage; ebd.) und auch von anderen so gesehen werden möchte, vergeht allerdings noch einige Zeit: »Das war mir am Anfang halt auch nicht so bewusst, ich dachte auch am Anfang erst -, so vom Kopf her dachte ich, das ist so ’n Ausdrucksmittel, ich seh’ toll damit aus und es sollen ja auch andere sehen, dass ich toll damit aussehe, irgendwie so in die Richtung. Und dann halt mit der Zeit ist natürlich schon dann klar geworden, dass es halt mehr ist sozusagen.« (Ebd.)
Eine derartige Klarheit, dass es um »mehr« geht, gewinnt Tino unter anderem dadurch, dass er mehr und mehr auch außerhalb der Szene mit Bart unterwegs ist, dabei auch öfters als Mann durchgeht und in der Veralltäglichung dieser Erfahrung spürt, wie sehr er sie schätzt. Später wird dies für ihn zu einem von vielen Schritten, die ihn in Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der Transsexualität zu einer Verortung als Transmann führen (einschließlich einer Entscheidung für eine Veränderung seines Körpers durch Mastektomie und Testosteron). Nachdem Flin in der Eingangserzählung von dem eindrucksvollen Effekt des ersten Anblicks seines bebärteten Spiegelbildes berichtet hat (»Ja, genau, das ist es, so, das bin ich«), erzählt er im Fortgang des Interviews von seiner Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, »trans*« zu sein. Später frage ich diesbezüglich wie folgt nach: 219
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»Aber wann kam das so als eigene Frage, dieses: Bin ich trans*? A: Ähm, na ja, nach meinem ersten Bart, weil ich mich da halt so wiedererkannt hab’ im Spiegel. I: Ah, okay, hhm. A: Aber auch ganz langsam, also jetzt nicht [schlägt auf den Tisch:] So, jetzt bin ich trans*. Sondern so: Hach, das sieht ja gut aus, hm, so will ich eigentlich [1] gesehen werden, also so gefall’ ich mir selber. Und [2] dann denkt man halt am Anfang, wie gesagt, wie ich gesagt hab’, also: Ja, aber ich bin nicht transsexuell, ich kleb’ mir jetzt ab und zu mal ’nen Bart und gut ist. Und dann denkt man drüber nach: Hm, aus diesem ab und zu ’nen Bart kleben ist ja ’n bisschen mehr geworden, und das Thema lässt dich offensichtlich nicht in Ruhe.« (Int. 6)
Erst nach und nach, so erzählt Flin an anderer Stelle, entwickelt er eine geschlechtliche Verortung als »trans*«; einen »OP-Wunsch« hat er allerdings nicht, und »Hormone« sind zwar »ein Thema«, aber für ihn »nicht das Wichtigste« (ebd.) – nicht wichtig genug jedenfalls, um dafür die Mühen des medizinischen Prozedere auf sich nehmen und sich »in so einen medizinischen Kanon ein[…]ordnen« zu müssen: »Für mich war eher wichtig, dass ich Leute finde, die mich so sehen und anerkennen, wie ich bin« (ebd.) – und das heißt für Flin ausdrücklich nicht, als Mann wahrgenommen werden zu wollen, sondern in seinem Trans*Sein sichtbar zu sein. Es ist diese Sichtbarkeit, für die der damalige Blick in den Spiegel rückblickend für ihn steht: ein Blick, der ein ›Ich‹ als solches erkennt, nicht aber ›als Mann‹; ein Blick, der als individueller (als look) ›etwas‹ wahrnehmen kann, was dem gaze entgeht. Für eine Identifikation mit dem Gesehenen ist es für Flin wichtig, dass auch andere dies sehen können. Da der gaze das Bild seiner selbst nicht bestätigen kann, müssen (und können) konkrete andere mit ihren Blicken diese Funktion übernehmen. Insofern diese anderen offensichtlich ›anders‹ sehen können, als der gaze es vorgibt, lässt sich ihre Wahrnehmung mit Silverman (1996: 180ff.) als »produktiver Blick« bezeichnen. Und insofern es nicht nur zufällige einzelne andere sind, die so zu sehen vermögen, sondern (so macht Flin im Verlauf des Interviews deutlich) ein solcher »produktiver Blick« im Horizont der Szene und ihres Umfeldes erwartbar wird, lässt sich (vorsichtig) davon sprechen, dass der gaze selbst hier anders oder gar ein anderer zu sein scheint: dass sich hier eine andere strukturierende Wahrnehmungsweise herausbildet und etabliert. Auch Filip greift seine Schilderung des »Aha-Effekts« in der Eingangserzählung (»… wo ich dann dachte, so: Hmm, vielleicht gibt’s doch noch was dazwischen«) später wieder auf. Nur ein paar kleine Kotelet220
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ten hatte sein Kumpel ihm ins Gesicht geklebt, »nicht besonders viel«, sagt er: »Aber es hat halt eben gereicht, um irgendwie in den Spiegel zu gucken und ganz plötzlich sich zu erinnern: Moment, da war ’ne Kiste, die hast du irgendwann mal unter dein Bett geschoben, also unter dein imaginäres Bett geschoben [lacht], und die ist aber auch noch da und da musst du jetzt mal reingucken, so.« (Int. 3)
Mit der Metapher der Kiste unter seinem Bett greift er eine Formulierung wieder auf, die er zuvor im Kontext seiner Erzählung über das als massiven körperlichen Einbruch erlebte Einsetzen der Pubertät gebraucht hatte. Die körperlichen Veränderungen – das Wachsen der Brüste und das Einsetzen der Periode – zwangen ihn in ein geschlechtlich bedeutsames leibliches Spüren, das er zugleich als unmittelbar und als Zumutung empfand (er beschreibt dies u.a. als »Enttäuschung, dass ich einfach jetzt nicht mehr mitbestimmen kann, wie ich mich zu fühlen habe«; ebd.). Diese Erfahrung, sich (auch im leiblichen Spüren) als das Geschlecht realisieren zu müssen, das der Körper bedeutet, setzte seinen Kindheitswünschen, ein Junge zu sein (und der Möglichkeit, dies in seinen Spielen auch zu leben) ein jähes Ende: »Also für mich war dann irgendwie klar, so, ist nicht mit Junge sein, wird auch nicht mehr, und ab dann flog halt alles, was so mit Jungenspielzeug zu tun hatte, unters Bett« (ebd.). Der Blick auf das eigene Gesicht mit Koteletten im Spiegel vermag es offenbar, die zusammen mit dem Spielzeug unter das (»imaginäre«) Bett verbannten Wünsche und Möglichkeiten wieder hervorzuholen. Als ein ebenfalls leiblich und als unmittelbar gespürter »Aha-Effekt« bricht er die leibliche Erfahrung, das Geschlecht sein zu müssen, das der Körper (als objektiviertes Geschlecht) bedeutet, weit genug auf, um eine andere Möglichkeit aufscheinen zu lassen: »Vielleicht gibt’s ja doch noch was dazwischen.« ›Dazwischen‹ bedeutet für Filip zunächst, seine Wünsche in einer Weise realisieren zu können, die nicht ›Mannsein‹ impliziert; denn trotz der geschilderten Kindheitswünsche findet er sich in der von vielen Transmännern artikulierten Gewissheit, sich ›immer schon‹ als Mann bzw. Junge gefühlt zu haben, nicht wieder und zögert daher zunächst, sich als Transmann zu verorten. Die Frage, was genau der »Aha-Effekt« für seine geschlechtliche Verortung bedeutet – welche Konsequenzen die Sichtung des Kisten-Inhalts haben wird – stellt sich jedoch auch für Filip nicht sofort:
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»Also ich glaub’, das war [1] in den Spiegel gucken und sich einfach mal freuen – irgendwie. Also was anderes kann ich dazu eigentlich gar nicht sagen. Das war gar nicht so: [begeistert] Ja, das isses, oder das hat mir immer gefehlt [wieder normal] oder so, sondern einfach nur in den Spiegel gucken und sich einfach mal freuen, so. Viel mehr -, also viel anders kann man das, glaube ich, gar nicht ausdrücken. Und die Frage, warum mich das so gefreut hat, die kam dann eigentlich erst später [lacht]. Aber es war irgendwie -, ja, es war einfach nur Freuen [2] vielleicht einfach auch darüber, dass es noch da ist oder dass -, irgendwie so was halt. Ich weiß es auch gar nicht bis heute. [2] Aber das war ziemlich toll eigentlich. Und dann hab’ ich mir gedacht: Ja Mensch, dann kannst du auch noch mal in deine Kiste reingucken.« (Ebd.)
»Sich einfach mal [zu] freuen« ist zunächst das dominante Gefühl beim Blick in den Spiegel – möglicherweise, so Filip, auch darüber, dass »es« – etwas verloren Geglaubtes – »noch da ist«, im Spiegelbild eine unerwartete Präsenz erlangt. ›Etwas‹, das nicht gleichbedeutend mit einem Wunsch danach ist, ein Mann zu sein, und das sprachlich offenbar schwer zu fassen ist, wird hier für Filip sowohl sichtbar als auch spürbar. Erst »im Nachhinein gesehen« war dieses Erlebnis für Filip »der Stein schlechthin, der da ins Rollen kam« (ebd.), der (auch quälende) Fragen aufwarf und eine Entwicklung in Gang setzte hin zu einer Verortung als Transmann (und auch einer Entscheidung für eine Veränderung des Körpers durch Mastektomie und Testosteron); eine Verortung, die es für ihn wünschenswert macht, von anderen als Mann gesehen zu werden, ohne sich jedoch deshalb notwendig selbst als ein solcher fühlen zu müssen (vgl. dazu ausführlicher das ›themenbezogene Kurzporträt‹ in Kapitel IV.4).
1.6 Als King unterwegs sein: Unterschiedliche Wahrnehmungsweisen des Bartes »Und der Vorteil beim Drag King-Sein ist halt einfach, dass man sagt: Ja, egal welcher Ausprägung, man nennt es Drag King. So, und das ist irgendwie das, was ich halt auch in den Workshops versuche zu vermitteln irgendwie: Fangt bloß nicht an, nur weil ihr denkt, es ist einfacher, jetzt zu sagen: Ja, wie nennt man denn den, der nur auf die Bühne geht und da ’nen männlichen Namen hat, und sobald von der Bühne runter, dann ist es halt wieder, weiß ich nicht, Brigitte, und die, die halt nur auf Partys gehen, aber auch nur auf lesbische Partys mit Bart und auf gar keinen Fall auf ’ne andere Party, und dann erst da den Bart machen, oder es gibt auch welche, die bewusst damit U-Bahn fahren, weil sie irgendwas vermitteln wollen. Also es gibt ja -, jeder hat so seine eigene Motivation auch gegenüber der Gesellschaft, wie er das irgendwie ausdrücken will oder eben verstecken will. Und natürlich ist es einfacher -, auch wenn
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man so Interviews oder so macht oder halt Diskussionen, es erleichtert natürlich den Umgang, wenn man so gewisse Sachen, gewisse Begriffe hätte, aber es schränkt auf der andern Seite halt auch ein.« (Int. 8)
Worauf verweist der (gemalte oder geklebte und als solcher erkennbare) Bart? Wofür ist er ein Zeichen? Er ist ein Zeichen dafür, dass der/die Träger_in (gerade) ›als Drag King unterwegs‹ ist; und was das wiederum bedeutet, ist allenfalls unscharf umrissen, wie Tino im obigen Zitat ausführt. Um die Vielfalt möglicher Bedeutungen zu umreißen, verweist Tino auf verschiedene Praxen: eine klare Trennung zwischen (männlich codierter) Bühnen-Persona und (weiblich codiertem) Alltags-Ich; die Beschränkung der Praxis des Bartklebens auf lesbische (Party-)Kontexte; das Hineintragen des Bartes (in seiner erkennbaren Künstlichkeit) in den öffentlichen Raum, um dort/damit »irgendwas [zu] vermitteln«. Und was genau vermittelt werden soll – was ›das‹ ist, was die Leute unterschiedlich »ausdrücken« oder »verstecken« wollen – ist ganz offensichtlich ebenfalls verschieden. Tino begrüßt die Unschärfe der Bedeutung des Begriffs ausdrücklich und warnt vor der Einschränkung, die eine Vereindeutigung des Begriffs oder die Einführung trennscharfer Subkategorien mit sich bringen könnten.24 Diese Unklarheit und Offenheit der Bedeutung nicht nur des Begriffs »Drag King«, sondern auch des Drag King-Bartes ermöglicht, wie gezeigt, Aneignungen dieser Praxis und dieses Zeichens für sehr verschiedene Zwecke und mit unterschiedlichen Konsequenzen für das je eigene Selbstverhältnis. Zugleich sind die Bedeutungen jedoch nicht so beliebig, dass der Bart kein Zeichen für ›etwas‹ mehr wäre: Die Gleichzeitigkeit der gesellschaftlich-kulturellen Codierung des Bartes als eindeutig männliches Zeichen einerseits, der Herausstellung seiner ›Künstlichkeit‹ als Drag King-Bart andererseits machen, dass der Bart wirksam in geschlechtliche Signifikationsprozesse interveniert und performativ ein anderes (Sich-) Sehen ermöglicht. Dass der Drag King-Bart als Zeichen ›funktioniert‹ und zugleich in seiner Bedeutung unterbestimmt bleibt, ist bedeutsam nicht nur für die verschiedenen Weisen seiner Aneignung, sondern auch für die Art und Weise, wie er für andere wahrnehmbar wird. In den Kontexten, in denen er am häufigsten auftaucht – innerhalb der Drag King-Szene selbst sowie in (sonstigen) lesbischen, queeren und Transgender-Zusammen-
24 Eine Warnung, die stark an Judith Butlers Problematisierung des »Identitätszeichen ›Lesbe‹« erinnert und an ihr Programm, eine »dauerhafte Unklarheit darüber schaffen [zu wollen], was es genau bezeichnet« (Butler 1996: 18). 223
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hängen – wird er in aller Regel nicht einfach als Bart, sondern als Drag King-Bart gesehen. Dass dies durchaus unterschiedliche und auch wenig begeisterte Reaktionen auslösen kann, wurde in Kapitel II.2 bereits gezeigt. Die dort skizzierten Vorbehalte gegenüber Drag Kings sowohl in einigen lesbischen als auch in manchen Transmann-Kontexten machten sich häufig am Bart fest und können als ein Unbehagen gerade an dessen signifikatorischer Uneindeutigkeit interpretiert werden – ein Unbehagen, das teils den Versuch auslöste, die Bedeutung nach einer Seite hin zu vereindeutigen. Die einen verwiesen darauf, dass der Bart »nur angeklebt« sei, und werteten ihn damit als ein bloß spielerisches Attribut, das nach Belieben an- und abgelegt werden kann und nicht auf eine ernsthafte Investition in eine bestimmte geschlechtliche Verortung verweist. Insbesondere manchen Transmännern diente eine solche Interpretation als Abgrenzungsfolie eines eigenen Anspruchs auf eine ernsthafte Verkörperung des Mannseins. Andere lasen umgekehrt den Bart als Zeichen des Wunsches, ein Mann sein zu wollen (und damit gerade als eine ernsthafte Investition in diese geschlechtliche Position); besonders in den Augen mancher Lesben verwies dies die Drag Kings hinter die Grenze dessen, was noch als ein lesbisches Selbstverständnis gelten kann. Und tatsächlich, so wird jetzt deutlich, lassen sich diese Anwürfe insofern nicht einfach entkräften, als der Bart jeweils auch genau für das Befürchtete stehen kann. Die Antwort des Bartes auf die Anwürfe ist sozusagen ein entschiedenes Jein – also die Verweigerung der Antwort darauf, auf welcher Seite der jeweils gezogenen Grenze ›der‹ Drag King zu verorten ist; eine Verweigerung, die die Bemühungen um eine Aufrechterhaltung solch klarer Grenzen stört. Um die Dinge noch ein wenig zu verkomplizieren, soll die Auseinandersetzung um den Drag King-Bart in lesbischen Räumen nun noch um einen Aspekt ergänzt werden. Einigen Interviewten zufolge scheint sich der Streit nämlich zum Teil nicht nur darum zu drehen, inwiefern der Bart Mannsein (bzw. den Wunsch danach) signifiziert, sondern auch darum, inwiefern er eine (akzentuierte oder gesteigerte) Männlichkeit zum Ausdruck bringt. Konventionell kann der Bart für beides stehen. In der oben geführten Argumentation, den Bart als »gestalthaften Schwellenwert« zu begreifen, ging es zunächst darum, ihn als Zeichen für Mannsein einzuführen. Wenn es in einem bekannten Volkslied aber heißt: »Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein«, verweist dies auf eine zusätzliche kulturell tradierte Bedeutung, die die Bebärteten nicht nur als Männer, sondern als besonders männliche Männer qualifiziert. Insbesondere in Bühnenperformances wird der Bart in der Drag King-Szene teils auch dazu genutzt, 224
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die Ausdrucksmöglichkeiten einer solchen (gesteigerten) Männlichkeit auszuloten. In der alltäglicheren Verwendung des Drag King-Bartes, die das Thema dieses Kapitels ist, scheint mir jedoch eine Bezugnahme vorzuherrschen, in der vor allem die Funktion als »gestalthafter Schwellenwert« genutzt wird (um einen Gestaltwechsel zu erzeugen, der das Gesehene aus dem Bedeutungshorizont von Frausein löst). In Art und Form meist eher unauffällig (s.o.), lässt er seine Träger_innen zwar teils als Mann, aber nicht unbedingt besonders männlich oder maskulin wirken.25 Einige Interviewte führen genau dies als ein Argument ins Feld, um die Problematisierung ihrer Anwesenheit in lesbischen Räumen ihrerseits zu problematisieren. Franka/Micha etwa äußert den Eindruck, dass es »Frauen [gibt], die also, wenn sie in der Frauendisco sind, maskuliner aussehen oder maskuliner wirken, als mein Micha [sein/ihr Drag King-Name] jetzt, also trotz Bart und obwohl die dann keinen haben« (Int. 5). Und Tam erzählt: »Wenn ich da als Drag King hingehe, und dann werde ich gefragt [mit verstellter Stimme]: Äh, warum wollt ihr denn so männlich sein? [wieder normal:] und dann sage ich: Du, ich fühle mich überhaupt nicht so männlich irgendwie, also irgendwie gar nicht so. […] Und dann kommt noch das Ding irgendwie: Wir wollen nämlich das nicht hier in der Lesbenszene haben! Und dann gucke ich mich da um in der klassischen Lesbendisco und da stehen ja irgendwie fünfmal größere Macker am Pfosten und glotzen mit verschränkten Armen da irgendwie machomäßig auf die Opfermenge der Frauen oder so. Also da gibt es ja Verhaltensweisen unter Lesben, die zehnmal männlicher sind als jetzt irgendwie mein kleines Bärtchen oder so.« (Int. 2) 25 Aufgrund der gesellschaftlichen Konstituiertheit und Umkämpftheit der Bedeutungen sowohl von Mannsein als auch von Männlichkeit ist eine klare Unterscheidung zwischen beiden nur schwer zu treffen. Hilfreich für das Verständnis des Punktes, um den es mir hier geht, scheint mir aber Gesa Lindemanns Unterscheidung zwischen geschlechtlichen Wesenszuschreibungen, Tätigkeiten und Verhaltensweisen einerseits und der Bedeutung dessen, ›als wer‹ man etwas tut oder auf eine bestimmte Weise ›ist‹, andererseits. Wenn man etwa den transsexuellen Wunsch, Mann zu sein, lediglich als Wunsch interpretiert, ›männliche‹ Dinge tun oder ›männlich‹ sein zu können, hat man ihr zufolge »das Wesentliche übersehen und steht fassungslos vor transsexuellen Männern […], die etwa als feminine Schwule passiven Analverkehr vorziehen. Diese Art von Sexualität hätten sie auch ohne den Aufwand der Geschlechtsveränderung haben können, aber es geht gerade nicht darum, bloß etwas zu tun, sondern darum, etwas als jemand zu tun« (Lindemann 1993: 11). Bei den von mir Interviewten geht es zwar meist nicht darum, etwas ›als Mann‹ zu tun, aber eben darum, etwas als eine auf eine spezifische Weise geschlechtliche Person zu tun; und was das bedeutet, geht nicht auf in geschlechtlich codierten Eigenschaften und Verhaltensweisen. 225
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Die Frage bleibt allerdings, inwieweit dieses Argument tatsächlich den Kern der Auseinandersetzung berührt: inwieweit es bei der (›lesbischen‹) Problematisierung des Drag King-Bartes um eine Kritik an (unterstellten) männlichen Eigenschaften oder Verhaltensweisen geht oder eben um eine Problematisierung dessen, dass die Bartträger_innen nicht mehr eindeutig als Frauen wahrnehmbar sind – unabhängig davon, wie dominant oder schüchtern, wie hart oder soft, wie raumnehmend oder zurückhaltend sie wirken. Implizit deutlich wird in den Zitaten allerdings, dass viele der Interviewten selbst ihre geschlechtlichen Inszenierungen und Wünsche im Horizont einer (von vielen geteilten) feministisch inspirierten Problematisierung von Männlichkeit beleuchten und teils auch rechtfertigen. Auch in lesbischen Räumen beschränken sich die Reaktionen auf Uneindeutigkeit und Schillern des Drag King-Bartes jedoch keineswegs auf Vorbehalte und Vereindeutigungsbemühungen (auch das wurde in Kapitel II.2 schon angedeutet). Faszination, Vergnügen und die Lust an Experiment und Spiel erfahren nicht nur diejenigen, die sich Bärte kleben und damit zeigen, sondern oft auch die, mit denen sie derart in Kontakt treten. Carlo erzählt von seinem ersten bebärteten Besuch einer Lesbenparty: »Nett fand ich dann auch Reaktionen von anderen Lesben, die das vielleicht eher intuitiv verstanden haben, also die jetzt nicht den ganzen Gender-Vorbau irgendwie durchgekaut hatten für sich selber, sondern die das als Rollenspiel begriffen haben und dachten: Ah ja, ich find’ dich lecker, ich find’ dich sexy, so, ne [lacht]: Ach so, du bist schon mit jemand anders, na gut [beide lachen]. [2] Ja, also es war sehr gemischt und es gab durchaus auch -, also bei den positiven Reaktionen, würde ich sagen, waren schon so Blicke, so: Ach, das ist aber auch mal ein nettes Spiel, also was so in die Richtung irgendwie vielleicht eher geht. I: Und das war für dich in dem Moment auch ’ne angemessene Reaktion? A: Ja, das fand ich total okay, klar, ja. Ja, also ich mein’, ich renn’ ja jetzt auch nicht hin und sag’ jedem Bäckereiverkäufer: Ach, übrigens, ich bin Transgender [beide lachen], ja, interessiert ja null, ne [lacht]. Ähm [3], und für mich war es so interessant irgendwie, also die eigene Verunsicherung auch ein bisschen zu erleben und gleichzeitig zu erleben, dass das ’ne gewisse Macht hat, also so wie Masken auch ’ne Macht haben können. Und dass es mir eigentlich überhaupt nicht so wichtig war, da jetzt sofort mit jedem Menschen, der mich drauf anspricht, irgendwie meine Identität und sonst was zu disutieren, sondern dass es erst mal Spaß gemacht hat, das war einfach ’ne interessante Erfahrung, so. Dieses spielerische Element da dran, das find’ ich, glaube ich, das Attraktive am Kinging.« (Int. 4)
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Auch für Carlo steht der Drag King-Bart im Zusammenhang mit seiner eigenen Verortung als »Transgender«. In den Begegnungen, die sich auf der Party entfalten, geht es ihm jedoch weniger darum, als ›er selbst‹ wahrgenommen zu werden, sondern um das erotische Spiel, das gerade durch die Verunklarung der Bedeutung des Bartes mobilisiert wird. Als »Rollenspiel« bzw. als »nettes Spiel« wird Kinging hier nicht abgetan, sondern ermöglicht, als solches begriffen, anderen einen Einstieg in das Spiel, ermöglicht erotischen Austausch und gemeinsames Vergnügen. »Interessant«, aber auch lustvoll aufgeladen ist dabei Carlos eigenes Erleben zwischen Verunsicherung und Macht, zwischen ›zeigen‹ und ›verstecken‹ (hinter einer »Maske«). Nicht das Beharren darauf, von anderen im eigenen Sein bestätigt zu werden, sondern möglicherweise gerade der Verzicht darauf ermöglicht hier spielerische und erotische Begegnungen.
1.7 Bärte, Wahrnehmungsweisen und Selbstverhältnisse: Ein Fazit Die Praxis des Bartklebens im Kontext der Drag King-Szene und deren Effekte für geschlechtliche Wahrnehmungen und Selbstverhältnisse standen im Fokus dieses Kapitels. Es wurde gezeigt, dass und wie in Verbindung mit dieser Praxis ›etwas‹ ander/e/s sichtbar werden kann, und dass damit unterschiedliche Möglichkeiten einhergehen, sich anders zu sich – zu einem geschlechtlichen ›Ich‹ – ins Verhältnis zu setzen. Bezüglich der Wahrnehmung des durch den Bart veränderten Gesichts wurde zunächst vorgeschlagen, den Bart im Sinne Gesa Lindemanns als »gestalthaften Schwellenwert« zu begreifen. Als Re-Inszenierung eines Gestaltungsmittels, das durch die sedimentierte Geschichte gesellschaftlich konstituierter, visueller Codes der Zweigeschlechtlichkeit Mannsein bezeichnet, vermag der Drag King-Bart offensichtlich einen geschlechtlichen Gestaltwechsel zu bewirken: Das veränderte Bild wird unmittelbar und spontan als eines erfasst, das aus dem Bedeutungshorizont von Frausein herausgelöst zu sein scheint. Dass der Drag King-Bart allerdings nicht als ›naturwüchsig‹ erscheint, sondern sowohl die Konventionalität seiner Zeichenhaftigkeit als auch die ›Künstlichkeit‹ seiner planvollen Herstellung in oder an ihm sichtbar werden, verhindert zugleich eine vereindeutigende Wahrnehmung des so veränderten Bildes als Mann. Im dadurch konstituierten, geschlechtlich nicht eindeutig bestimmbaren Zwischenraum scheint ›etwas‹ ander/e/s sichtbar werden zu können – und zwar in einer Weise, die teils als unmittelbar evident erfahren wird. Mit Kaja Silverman lässt sich dieses Sichtbarwerden als eine Verschiebung des durch das Zusammenwirken von gaze, look und screen 227
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konstituierten Feldes beschreiben. Als Drag King-Bart – d.h. in seiner Differenz zu einem ›gewöhnlichen‹ Bart – erscheint im screen ein neues Element, ein Bild für dort üblicherweise nicht repräsentierte Geschlechtlichkeiten. Allerdings wird dieses Bild nicht zwingend auf diese Weise wahrnehmbar. Der Drag King-Bart kann auch als ein ›nur angeklebter‹ gesehen und der/die Bartträger_in damit als Frau vereindeutigt werden; er kann auch als eindeutiges Zeichen für den Wunsch danach, ein Mann zu sein, interpretiert werden, oder – worauf in diesem Kapitel nicht näher eingegangen wurde – tatsächlich eine fraglose Wahrnehmung des/ der Bartträger_in als Mann bewirken, d.h. ein passing. Um ›etwas‹ ander/e/s sichtbar zu machen, bedarf es offensichtlich eines besonderen looks, eines »produktiven Blicks« (Silverman). Dass ein solcher im Kontext der Drag King-Szene vielfach die Wahrnehmung der durch den Drag King-Bart veränderten Gestalt bestimmt, wurde in zahlreichen Interviewpassagen deutlich. Insofern ein solcher Blick nicht nur vereinzelt geworfen wird, sondern in diesem Kontext in einem gewissen Maße erwartbar scheint, lässt sich vorsichtig von einem veränderten gaze sprechen, d.h. von der Routinisierung einer das Feld des Sichtbaren anders strukturierenden Wahrnehmungsweise. Bereits in der Diskussion des Ansatzes von Lindemann wurde zudem angedeutet, dass die Art und Weise des Sichtbarwerdens entscheidend für geschlechtliche Selbstverhältnisse ist. Lindemann spricht von dem Zwang, sich als das Geschlecht zu erfahren und zu realisieren, das der unter dem herrschenden Blick als »objektiviertes Geschlecht« konstituierte Körper bedeutet. Im Horizont von Silvermans Relektüre des Lacan’schen ›Spiegelstadiums‹ konnte dieser Zwang im Zusammenhang mit Prozessen der Identifikation differenzierter betrachtet bzw. reformuliert werden als eine Beziehung zu sich (oder zum eigenen Spiegelbild), in der Zwänge untrennbar mit affektiven Investitionen verbunden sind. Nahegelegt wurde eine solche Interpretation durch die in den Interviews auffallend häufige Thematisierung der ›Bartpraxis‹ in Verbindung mit ›Spiegelszenen‹. Als ein kulturell tradierter und verfügbarer Topos der Thematisierung von (geschlechtlicher) Identifikation scheinen solche ›Spiegelszenen‹ besonders geeignet, um komplexe Prozesse und Erfahrungen rund um dieses Thema narrativ zu verdichten und sinnhaft verstehbar zu machen. Somit könnte man nicht nur das ›Bartkleben‹ selbst, sondern auch das Erzählen damit verbundener ›Spiegelszenen‹ als Bestandteil einer Praxis interpretieren, durch die ›etwas‹ in einer sinnhaft verstehbaren Weise hervorgebracht und/oder mitteilbar wird. Dass die Interviewten hier ein tradiertes Narrativ aufgreifen und ihre Praxis damit auf dem Terrain der Identifikation situieren, lässt jedoch zunächst noch 228
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offen, auf welche Weise das geschieht. In den rekonstruierten unterschiedlichen Bezugnahmen auf das eigene bebärtete Spiegelbild ließen sich teils Elemente klassischer Erzählungen von Transsexualität, teils Nähen zu einem ironisch-distanzierenden, oft mit Drag in Verbindung gebrachten Modus erkennen. Zugleich wurde deutlich, dass die rekonstruierten Bezugnahmen in beiden Modi nicht aufgehen und dass eine klare Entgegensetzung ›identifikatorischer‹ und ›ironisch-distanzierender‹ Bezugnahmen sich als wenig hilfreich zu ihrer Interpretation erwies. Eher wurde eine Bandbreite unterschiedlicher Bedeutungen mit fließenden Übergängen sichtbar. So kann die Praxis des Bartklebens vorwiegend im Horizont von Vergnügen und Spaß am Experimentieren erfahren werden, ohne notwendig Fragen bezüglich des eigenen geschlechtlichen In-der-Welt-Seins oder gar der eigenen ›Identität‹ aufzuwerfen; sie kann als eine eher alltägliche Weise des Sich-schönMachens interpretiert werden; sie kann dazu beitragen, eine neue Seite an sich zu entdecken; ein ›Alter Ego‹ zu kreieren oder zum Vorschein zu bringen; frühere Wünsche zu erinnern und neu zu bedeuten bzw. die Möglichkeit ihrer Realisierung anders einzuschätzen; oder auch sich selbst in einer als angemessen oder adäquat empfundenen Weise zu sehen und dies zum Ausgangspunkt zu nehmen für die Entwicklung anderer geschlechtlicher Selbstentwürfe, Verkörperungen und Verortungen. Diese Bandbreite verweist nicht lediglich auf individuelle Unterschiede, sondern auf eine Bedeutungsoffenheit der kollektiven Praxis, die konstitutiv für diese ist. Gerade weil die Praxis kein festes Ziel hat, kein Telos der ›Selbstfindung‹ etwa, kann sie auf unterschiedliche Weisen angeeignet und bedeutet werden – und dies auch von ein und derselben Person: Die Berücksichtigung unterschiedlicher Erzählungen an verschiedenen Stellen eines Interviews ließ teils ein Oszillieren zwischen verschiedenen Modi des Selbstbezugs erkennen und verwies zudem auf die Prozesshaftigkeit geschlechtlicher Verortungen im Kontext wechselnder sozialer Bezüge und verfügbarer (Be-)Deutungsmöglichkeiten. Die ›Bartpraxis‹ wirkt also auf unterschiedliche Weisen auf dem Terrain (geschlechtlicher) Identifikation – und zwar derart, dass deren gesellschaftliche Bedingungen zumindest situativ und kontextuell umgearbeitet werden. Die sich artikulierenden Bezüge zu sich werden teils durch andere als die hegemonial verfügbaren geschlechtlichen Bilder organisiert; darüber hinaus zeigt sich in ihnen teils eine andere Struktur als die der Identität, der ›self-sameness‹ – ohne dass jedoch umgekehrt die Frage nach einem eigenen geschlechtlichen Sein vollständig suspendiert würde. Mit José Esteban Muñoz lässt sich dieses Umarbeiten von Identifikation als disidentification charakterisieren: als ein Durcharbei229
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ten verfügbarer Bilder und Modi, in dem diese weder vollständig angenommen noch zurückgewiesen werden (vgl. Kapitel I.1.1). So nutzt Uli die Möglichkeit, mit Bart »wie ein Typ« auszusehen, dazu, ihrem »Selbstbild« nicht als Mann, sondern eines geschlechtlichen Wedernoch näher zu kommen; für Flin steht der Bart im Zusammenhang mit einer möglichen Sichtbarmachung seiner Verortung als »trans*« – eine Sichtbarkeit, die der zweigeschlechtlich strukturierte gaze nicht stützen kann, wohl aber sein eigener look sowie eine sich im Horizont der Szene routinisierende alternative Wahrnehmungsweise; ausgehend von dem von ihm benannten »Aha-Effekt« entwickelt Filip eine geschlechtliche Verortung, in der er von anderen als Mann gesehen werden möchte, ohne sich jedoch selbst als ein solcher fühlen zu müssen. Sie alle investieren in ein bestimmtes Bild ihrer selbst, ohne jedoch vollständig darin aufzugehen. Im Zusammenhang mit der kollektiven Praxis des Bärteklebens wird im Kontext der Drag King-Szene ›etwas‹, das unterschiedliches bedeuten kann, sichtbar (für eine/n selbst und für andere); eine Sichtbarkeit, die als unmittelbar evident und leiblich-affektiv erfahrbar werden kann. ›Etwas‹ wird wirksam in Bezugnahmen auf andere und auf sich selbst; es wird teils als ein ›Ich‹ erfahren, als (konstitutiv für) ein geschlechtliches Sein. Auf diese Weise ist ›etwas‹ ›in der Welt‹ und wirksam, es erlangt eine Präsenz, die über eine individuelle Wahrnehmung und Verfügbarkeit hinausgeht. ›Etwas‹, das sich einer zweigeschlechtlichen Wahrnehmung und Repräsentation entzieht, erhält damit teils Qualitäten, die auf eine Gegebenheitsweise als ›wirklich‹ verweisen. Zugleich bleibt ›etwas‹ in manchen Situationen und Bezugnahmen schillernd und unscharf, mobilisiert spielerisches Vergnügen und entzieht sich jeder Festlegung – wohl auch der, inwieweit ›es‹ ›wirklich‹ ist oder – als ›Maske‹, als Fantasie, als Spiel – auf andere Erfahrungsdimensionen bezogen ist. »Ich will kein Mann sein wollen«: Tam Schon lange bevor Tam beginnt, mit Praxen des Kinging zu experimentieren, bewegt er sich in lesbisch-feministisch geprägten ›autonomen‹ Zusammenhängen. Diese erlebt er als Möglichkeitsräume für die Entwicklung geschlechtlicher Ausdrucksweisen und Verkörperungen, die die Grenzen dessen, was üblicherweise als Frausein gilt, überschreiten (»also für mich waren Lesben nie jetzt einfach nur Frauen«; Int. 2). Auch seine eigene Erscheinungsweise wird in dieser Zeit in flüchtigen Begegnungen mit unterschiedlichen geschlechtlichen Bedeutungen versehen: »Ich wurde ja täglich fünfmal für ’nen Mann, fünfmal für ’ne 230
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Frau, zehnmal für ’ne Lesbe gehalten und war am selben Tag einmal 30 und einmal 15, so ungefähr.« Tam beschreibt dies jedoch eher als belustigend denn als anstrengend und fühlt sich vor allem in seinen szenebezogenen Zusammenhängen sehr wohl: »Also dann kam so die Zeit, wo ich eigentlich als Lesbe super, super, super alles so hatte, wie ich will. Also ich hatte meine Leute, ich hatte meine Kultur, meine Szene, ich konnte eigentlich rumlaufen, wie ich will.«
Dennoch begleitet ihn ein zunächst eher diffuses »Gefühl, nicht sichtbar zu sein trotzdem« – ein Gefühl, dass ihm schon seit seiner Jugend vertraut ist. Vor diesem Hintergrund schildert er das Erlebnis, sich erstmals mit einem Bart, den Freund_innen ihm eher aus Spaß ins Gesicht gemalt hatten, im Spiegel zu sehen, als eine überwältigende Erfahrung: als Eindruck der Evidenz, nun erstmals sein Gesicht zu ›sehen‹. Im Anschluss an diese bereits zitierte Passage fährt er fort: »Und das war natürlich völlig absurd, was soll denn jetzt -, irgendwie Bart und so, ist ja eindeutig männlich [lacht], irgendwie was soll das jetzt mit mir als Lesbe so -, warum springt mich das so an, so ne. Und ich hab’ auch nie jetzt gedacht, so: Ich bin ’n Mann oder muss ’n Mann sein oder so, gar nicht, irgendwie, also ich fand mich -, ich fand das toll, dass ich als Lesbe so männlich sein kann, ohne Mann sein zu müssen. Also auch da hatte ich eigentlich das Gefühl, ich kann ja eigentlich relativ glücklich sein, aber dieser Bart hat das einfach für mich total sichtbar gemacht, dass ich da mehr will.«
Das überwältigende Gefühl der Evidenz des Sich-Sehens wird zugleich konterkariert von Überlegungen, die dieses Gefühl »absurd« erscheinen lassen: Was bedeutet es für Tam, sich nur mit einem eindeutig männlich codierten Attribut selbst zu sehen? Dies scheint ihr zunächst im Widerspruch zu stehen zum eigenen Selbstverständnis als Lesbe und einer damit verbundenen geschlechtlichen Existenzweise, die sich für Tam gerade dadurch auszeichnet, dass sie zwar ›männliche‹ Ausdrucksweisen erlaubt, ohne jedoch ›Mannsein‹ oder den Wunsch danach zu signalisieren. Die mit dem Bart verbundene Erfahrung einer angemesseneren Sichtbarkeit scheint ihm demgegenüber genau einen solchen Wunsch nahezulegen. In Verbindung mit einem schon früher empfundenen Unbehagen an seinen Brüsten stellt sich ihm die Frage nach seiner geschlechtlichen Verortung auf eine neue Weise, »[…] weil dann natürlich mit diesem Bart und dann auch wieder mit diesem Gefühl, ich will den Busen ja nicht, ja ’ne ganz andere Auseinandersetzung anfing, nämlich: bin ich jetzt Transmann oder nicht, also, und [ich] dachte: 231
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Was soll das denn jetzt! Also ich hab’ dann das nächste Jahr eigentlich nur mit dem Satz im Kopf verbracht: Ich will kein Mann sein wollen, so [lacht], das wollte ich einfach nicht.«
Der im Kontext somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit bestehende Zwang, sich als das Geschlecht zu realisieren, das der Körper bedeutet, begegnet Tam nun in einer verschobenen Form. Die Evidenz des SichSehens mit einem männlich codierten Attribut und der Wunsch nach einer Veränderung seines Körpers, die diesen in einer männlich codierten Weise formen würde, scheinen unmittelbar auf den Wunsch zu verweisen, Mann zu sein. Diese enge Verknüpfung von Körperwünschen und der Realisierung einer zweigeschlechtlich bestimmten Identität scheint die Entscheidung zwischen zwei Alternativen zu erzwingen: entweder die Wünsche aufzugeben oder sich der Bedeutung zu unterwerfen, die sie unausweichlich zu implizieren scheinen. Für Tam ist keines von beiden möglich. Der in ihrem Kopf ständig widerhallende Satz »ich will kein Mann sein wollen« verweist auf den unlösbaren Konflikt, den auf diese Weise formulierten Wunsch weder aufgeben noch zulassen zu können. Er verweist außerdem auf eine Problematisierung von Männlichkeit, die Tam selbst in einen Zusammenhang mit seinem lesbischfeministischen Hintergrund stellt. Diesen Konflikt bearbeitet Tam in Form einer sich über ein Jahr lang hinziehenden inneren Auseinandersetzung, in einer Befragung und Ergründung seiner Wünsche und seines geschlechtlichen Seins. Zeitgleich entwickelt sie jedoch eine alternative Form, sich zu ihren Wünschen ins Verhältnis zu setzen. Auf Partys, auf der Straße und auch bei der Arbeit beginnt sie, mit Praxen des Kinging zu experimentieren: »Solange [der oben skizzierte Konflikt nicht lösbar war; U.S.] konnte ich da natürlich auch nichts machen, also da war Drag King irgendwie perfekt, also das war wunderschön. […] Ich hab’ mir die Haare schwarz gefärbt, ich habe mir einen schwarzen Bart gemalt, das war eigentlich so gesehen schon ’ne Kunstfigur. Dann habe ich manchmal mir ’nen Bart ins Gesicht geklebt, wie ich von Natur gehabt hätte von der Farbe her, dann auch oft gar nichts, also alles mögliche. Und das war für mich einfach ’ne Spielerei mit diesem Männlichsein, die mir gefallen hat, die mir Spaß gemacht hat, die halt jetzt auch nicht diese Auseinan-, diesen Schritt erzwungen hat: Ich muss mich jetzt als Mann darstellen. Das war für mich einfach ’ne Spielerei mit männlichen Symbolen; wie ich mir die Haare schneide oder die Frisur ändere oder Klamotten trage, so trage ich mal ’nen Bart und mal nicht.«
Tams »Spielerei mit männlichen Symbolen« steht ganz offensichtlich in engem Zusammenhang mit seinen Wünschen, sich selbst (anders) sehen 232
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und sichtbar werden zu können. Im Rahmen der kulturellen Möglichkeiten und Bedeutungen des Kinging verschiebt sich der Umgang mit diesen Wünschen allerdings in ein vollständig anderes Bedeutungsfeld. Nicht mehr die Frage danach, wer er wirklich ist oder was seine Körperwünsche für sein geschlechtliches Sein bedeuten, organisiert hier sein Verhältnis zu sich selbst, sondern eine »Spielerei«, die »Spaß« macht; ein kreativer Umgang mit sich selbst, der mehr mit ›Schönheit‹ (vergleichbar mit der Wahl der Frisur und der Kleidung) als mit ›Identität‹ zu tun hat und der – zumindest temporär – den Zwang aussetzt, der in der Verkettung von Körperwünschen und ihren Bedeutungen im Kontext hegemonialer Geschlechternormen impliziert war: »Ich muss mich jetzt als Mann darstellen.« Ausgesetzt wird nicht nur der Zwang zur Vereindeutigung zu einem der beiden Geschlechter, sondern auch der Zwang, geschlechtlich konnotierte stilistische Attribute als direkten Ausdruck eines wesenhaften geschlechtlichen Seins begreifen zu müssen. Drag Kinging ist für ihn eine Inszenierung, in der er zu seiner eigenen »Kunstfigur« wird, und in der dennoch existenzielle Wünsche nach einer anderen Sichtbarkeit lebendig sind. Dennoch bleiben ihre Körperwünsche für sie virulent und führen schließlich zur Entscheidung für eine Veränderung ihres Körpers durch Testosteron und Mastektomie. Im Zuge dessen wird die Frage, ob er ›eigentlich‹ ein Mann sein wolle, für ihn wieder bedeutsam, aber ihm wird zunehmend klar, dass es ihm darum nicht geht: »Meine einzige Sorge war halt die, dass ich mir nicht erlaube, Mann zu sein, und das aber eigentlich mein Traumanliegen wäre. Und deswegen habe ich dann durchaus auch gesagt: Okay, meine Güte, wenn du halt einer bist oder dich so fühlst, dann mach’s, und hab’ die Tür aufgestoßen für mich innerlich. Ich muss aber jetzt immer mehr sagen, dass es mir darum nicht geht. Also ich fühl’ mich mit dem Testo super wohl, ich fühl’ mich mit meiner Stimme wohl, ich fühl’ mich mit meinem Bart, der jetzt halt nicht mehr angeklebt ist, aber von meinem Gefühl her trotzdem genauso künstlich erzeugt ist, fühle ich mich ganz wohl. Ich hab’ die Brust jetzt weg, damit fühle ich mich auch total wohl. Und ich fühl’ mich vor allem, und das ist das Verblüffende, genauso wie vor fünf Jahren. Also […] ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass ich mich verändere, ähm, oder dass ich da ’nen Schritt gehe von ’nem Frau- zu ’nem Mannsein, also ich hab’-, war nie Frau, ich werde auch nie Mann sein, ich hab’ mich nie so sehr als Junge gefühlt wie ich mich -, also ich hatte da genauso wenig Bezug dazu wie zu dem Gefühl, Mädchen zu sein. Ich fühle mich eigentlich am ehesten immer noch als Lesbe, das ist immer noch so der Begriff, der für mich da am ehesten zutrifft. Und deswegen habe ich im Moment - wer weiß, was ich in zehn Jahren sage [lacht], aber im Moment für mich immer noch das Gefühl, also eher ein Drag King zu sein als ein Transmann. 233
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Also ich denke, ich häng’ dazwischen, aber so dieses Bewusstsein dafür, dass die männliche Äußerung oder die männliche Darstellung eben nur ’ne Darstellung ist und kein Ich oder sonst irgendwas, das teile ich mehr mit Drag Kings als mit Transmännern.«
Tam interpretiert die Bearbeitung seines Körpers durch im Kontext der ›Behandlung‹ von Transsexualität verfügbare medizinische Technologien im Horizont dessen, was Kinging für ihn bedeutet: Er unterstreicht die ›Künstlichkeit‹ seines nun hormonell erzeugten Bartes und nimmt in Anspruch, die »männliche Äußerung« bzw. die »männliche Darstellung«, die mit seiner Körperlichkeit nun verbunden ist, nicht als unmittelbaren Ausdruck eines »Ich« zu begreifen. Die geschlechtliche Verortung, die er durch diese Bewegung der disidentification gewinnt, sucht er allerdings wiederum als eine ›Identität‹ zu verankern. Für sein Gefühl, weder Frau noch Mann zu sein, beansprucht er eine biographische Kontinuität (nie Mädchen und auch nie Junge gewesen zu sein) und behauptet eine Konstanz seines geschlechtlichen Seins (»ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass ich mich verändere«). Auf diese Weise entwickelt sie eine Gegenerzählung gegen hegemoniale Narrationen, in denen die Möglichkeit geschlechtlicher Identität durch die an entsprechende Verkörperungen gebundene rigide Zweigeschlechtlichkeit totalisiert wird; eine Gegenerzählung, in der ›Identität‹ allerdings umgekehrt nur aufrechterhalten werden kann um den Preis, die Bedeutung von Verkörperung für das eigene geschlechtliche Sein fast vollständig zurückzuweisen: Die Behauptung eines unveränderlichen geschlechtlichen ›Ich‹, dem die körperlichen Veränderungen gewissermaßen äußerlich bleiben, lässt die Dringlichkeit der artikulierten Körperwünsche unerklärt und verschließt die Frage, in welcher Weise diese Körperwünsche möglicherweise ihrerseits durch Investitionen in verfügbare geschlechtliche Positionen mobilisiert werden; Körperwünsche, über die das ›Ich‹ nicht frei verfügt, sondern in die es konstitutiv verstrickt ist. Die Zurückweisung der hegemonialen Verschmelzung einer »männlichen Darstellung« bzw. Verkörperung mit der Position des ›Mannseins‹ – eine Zurückweisung, die für Tams Selbstverhältnis konstitutiv ist und die unterstützt wird sowohl durch seine Verortung als Lesbe als auch durch seine Erfahrungen des Kinging – droht in alltäglichen Begegnungen außerhalb subkulturell geprägter Szenen allerdings wiederholt zu scheitern. Sehr eindrücklich erlebt Tam dies, als sie ein neues Arbeitsprojekt beginnt und sich zunächst entscheidet, ihre Geschlechtlichkeit nicht weiter zu kommentieren. Im Kontext kumpelhafter Sprüche ›unter Männern‹ bringen seine Kollegen ihn augenzwinkernd mit der Schwangerschaft einer Frau aus seinem Bekanntenkreis in Ver234
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bindung. Tam nimmt dies zum Anlass eines Versuchs, ihre geschlechtliche Verortung zu artikulieren: »Und das war dann noch mal so ein Aufhänger, wo ich dachte: Ej, ihr erfahrt, also ich komme hier nicht vor oder so wenig, wenn ihr mich nur als Mann seht, ähm, ich möchte das jetzt einfach auch vermitteln. Und habe dann eben zum Beispiel auch so irgendwie: Ja, wie hätte ich die denn zeugen sollen als Frau und so, ne, und hab’ dann versucht, also irgendwie ansatzweise mal so ’nen Einstieg in das Thema zu finden, so von wegen: Ich bin doch kein Mann. Und da haben die sich nur verarscht gefühlt, die haben zuerst gedacht, ich mache ’n Witz, und als ich dann gesagt habe: Nein, ich bin kein Mann, haben die sich wirklich ernsthaft angegriffen gefühlt, und da war kein Durchkommen.«
Tams Bericht zeigt deutlich, wie sehr die Möglichkeit des Sichtbarmachens bestimmter geschlechtlicher Verortungen abhängig ist von Kontexten und den sie strukturierenden geschlechtlichen Ordnungen. Die bloße Information über sein geschlechtliches Selbstverständnis und die damit verbundene Geschichte reicht bei weitem nicht aus, um die in Wahrnehmungsweisen, Interaktionsordnungen und Selbstverhältnissen verankerte zweigeschlechtliche Ordnung auch nur situativ zu erschüttern. Die Information wird von den Kollegen abgewehrt, indem sie sie zunächst als »Witz« begreifen, sich dann »angegriffen« fühlen und offensichtlich defensiv reagieren: Tam resümiert, dass da »kein Durchkommen« war. Gerade vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen bleibt ihm Kinging als eine Praxis des Anti-Passing wichtig: als eine Möglichkeit, die »männliche Darstellung« als solche kenntlich zu machen und ein Zusammenfallen dessen mit einem geschlechtlichen ›Sein‹ zu verhindern – und dadurch nicht nur in seinem Selbstverhältnis, sondern auch in Begegnungen und Bezugnahmen mit anderen ›etwas‹ wirksam werden zu lassen, was sich einer zweigeschlechtlich bestimmten Vereindeutigung entzieht.
2. Bearbeitungsweisen von Körperstilen Im vorangegangenen Kapitel wurden unterschiedliche Bedeutungen von Verkörperungen im Horizont geschlechtlicher Wahrnehmungsweisen und Selbstverhältnisse beleuchtet. ›Verkörperungen‹ rückten dabei vorwiegend als sichtbar werdendes (Spiegel-)Bild in den Fokus; als ein durch Praxen wie das Bartkleben sowie durch unterschiedliche Arten
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seiner Wahrnehmung veränderbares Körperbild. Im Folgenden soll es nun um einen anderen Aspekt körperlicher geschlechtlicher Selbst- und Weltverhältnisse gehen, nämlich um Körperhaltungen, Bewegungsweisen und Gesten und deren teils absichtsvolle Bearbeitung im Kontext des Kinging. Dass diese Dimension von Körperlichkeit hier eine bedeutsame Rolle spielt, wurde bereits im Kapitel zu Performance-Praxen (Kapitel II.3) deutlich: Die überzeugende Inszenierung einer BoyGroup-Formation, eines Rappers, einer Drag Queen, eines schwulen Matrosen, aber auch die absichtsvolle Brechung solcher Figuren durch gezielte Abweichungen vom Erwartbaren setzen das bewusste und sorgfältige Einüben eines Repertoires von geschlechtlich unterschiedlich konnotierten Gesten, Haltungen und Bewegungsweisen voraus. Unterschiedliche Weisen des Sitzens, Stehens und Gehens, der Einsatz der Stimme, Hand- und Armbewegungen, Blicke, Mimik, Kopfhaltungen etc. werden jedoch nicht nur im Hinblick auf Bühnenperformances, sondern auch in Workshops und (wie zu sehen sein wird) in zahlreichen alltäglichen Situationen ausgelotet und auf ihre geschlechtlichen Bedeutungen und Effekte hin reflektiert und erprobt. Insbesondere solche alltäglicheren Praxen sollen im Folgenden beleuchtet werden. Rekonstruiert werden unterschiedliche Bedeutungen dieser Praxen für geschlechtliche Selbstverhältnisse, für das geschlechtliche In-der-WeltSein und für die Wahrnehmung und Erfahrung von geschlechtlicher Wirklichkeit. Bei der Interpretation greife ich auf Überlegungen von Pierre Bourdieu und Judith Butler zu vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Dimensionen von Körperhaltungen, Bewegungsweisen und Gesten zurück, die nun zunächst kurz skizziert werden sollen.
2.1 Habitus, Performativität und der Begriff des Körperstils Mit seinem Konzept des Habitus formuliert Bourdieu einen Ansatz, der es zu denken erlaubt, wie gesellschaftliche Strukturen individuell angeeignet und verkörpert werden und umgekehrt durch praktisches körperliches Tun (re-)produziert werden. Als ein Ensemble von »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata« (Bourdieu 1993: 101) bildet sich der je individuelle Habitus in Homologie zu gesellschaftlichen Strukturierungen und der dadurch konstituierten Klassen-, Gruppen- und Geschlechtszugehörigkeit heraus. Der Habitus wird damit als eine Disposition bestimmt, die strukturiert ist durch die Bedingungen, die sie hervorbringen, und die ihrerseits strukturierend wirkt: Als ein »praktischer Sinn« (ebd.: 107) wirkt der Habitus als eine Wahrnehmungsweise der Welt, die seinen Erzeugungsbedingungen entspricht, und ge236
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neriert Praktiken, die die entsprechende Wirklichkeit stets aufs Neue herstellen.26 Wesentlich für diese Funktionsweise des Habitus als Absicherung gesellschaftlicher Ordnungen ist Bourdieu zufolge die Dimension seiner Körperlichkeit: Im Habitus werden gesellschaftliche Strukturen inkorporiert oder verleiblicht (vgl. ebd.: 122ff.). Dies gilt auch für die Struktur der hierarchisierenden Zweigeschlechtlichkeit. Im geschlechtlichen Habitus werden die »naturalisierte[n] soziale[n] Unterschiede« zwischen den Geschlechtern wirksam und verkörpert – unter anderem »in Form von zwei entgegengesetzten und komplementären Klassen von Körperhaltungen, Gangarten, Weisen des Auftretens, Gesten usf.« (Bourdieu 1997: 162). Dieses Ensemble von Haltungen, Gesten und Bewegungsweisen bezeichnet Bourdieu auch als »körperliche Hexis« (ebd.), die ein untrennbarer Bestandteil des Habitus ist. Auch der geschlechtliche Habitus ist sowohl strukturiert als auch strukturierend – er ist vergeschlechtlicht und vergeschlechtlichend: Mit der Herausbildung und Habitualisierung vergeschlechtlichter Haltungen, Bewegungsweisen etc. geht Bourdieu zufolge zugleich eine Habitualisierung von Wahrnehmungs- und Denkschemata einher, durch die die Welt als eine spezifische geschlechtliche Wirklichkeit erfasst und reproduziert wird. »Der Habitus erzeugt gesellschaftlich vergeschlechtlichte Konstruktionen der Welt und des Körpers […]. Durch eine permanente Formierungs-, eine Bildungsarbeit, konstruiert die soziale Welt den Körper als vergeschlechtlichte Wirklichkeit und in eins als Speicher von vergeschlechtlichenden Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, die wiederum auf den Körper in seiner biologischen Realität angewendet werden.« (Ebd.: 167; Herv. i.O.)
Gesellschaftliche Ordnungen wie die der hierarchisierenden Zweigeschlechtlichkeit werden also derart inkorporiert, dass die durch sie bewirkten spezifischen Verkörperungen unmittelbar mit einer Weise des Wahrnehmens, Fühlens und Denkens gekoppelt sind. Das Entsprechungsverhältnis zwischen sozialer Welt und dem durch sie hervorgebrachten Habitus lässt die Wahrnehmung der Welt zu einer »doxischen 26 Die gesellschaftlichen Strukturen werden Bourdieu zufolge in doppelter Weise abgesichert, nämlich einerseits im Habitus und andererseits in Institutionen bzw. ›sozialen Feldern‹: »Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure.« (Bourdieu/Wacquant 1996, zitiert nach Krais/Gebauer 2002: 34) Der Habitus wird durch derart institutionalisierte Strukturen hervorgebracht, und umgekehrt »bewirkt der Habitus als praktischer Sinn das Aufleben des in den Institutionen objektivierten Sinns« (Bourdieu 1993: 107). 237
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Erfahrung« werden; d.h. zu einer, in der die »soziale Welt und ihre willkürlichen Einteilungen, angefangen bei der gesellschaftlich konstruierten Einteilung der Geschlechter, als natürlich gegeben, evident und unabwendbar« aufgefasst werden (1997: 159). Im Horizont dieser »doxischen Erfahrung« werden Gesten, Haltungen und Bewegungsweisen als unmittelbarer Ausdruck einer zugrunde liegenden geschlechtlichen Natur, als »natürliche Ausdrucksformen natürlicher Tendenzen« wahrgenommen (ebd.: 186). Die beständige praktische Ausführung dieser Gesten und Haltungen macht die hierarchisierende Zweigeschlechtlichkeit als eine selbstverständliche und natürliche Ordnung sinnfällig sowohl aus der Perspektive von deren Betrachter_innen als auch – so betont Bourdieu – aus der Perspektive der Ausführenden. Als wesentlich leibliche entziehen sich die geschlechtlichen Akte weitgehend einer distanzierenden Reflexion: »Der Leib glaubt, was er spielt […]. Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.« (Bourdieu 1993: 135) Auf diese Weise wird Geschlecht als ein (individuell verkörpertes) Sein konstituiert und erfahren. Dass man ›ist‹, was der Leib gelernt hat, ergibt sich für Bourdieu daraus, dass das ›Lernen‹ des Leibes – d.h. der auch lebensgeschichtliche Prozess der Inkorporierung gesellschaftlicher Verhältnisse – wesentlich praktisch und vorreflexiv geschieht. Die körperlichen Haltungsund Bewegungsweisen werden ihm zufolge in einem Prozess »praktischer Mimesis« (ebd.: 135) erworben; sie werden »von Praxis auf Praxis übertragen […], ohne den Weg über Diskurs und Bewusstsein zu nehmen« (ebd.: 136). Dadurch wird eine reflexive Distanznahme erschwert, durch die das Inkorporierte als Gewordenes und als prinzipiell veränderbar begriffen werden könnte. Wenngleich vorreflexiv und wesentlich praktisch, ist das Lernen des Leibes für Bourdieu nicht lediglich spontane mimetische Aneignung der umgebenden sozialen Welt, sondern wird angereizt durch auf den Körper zielende Erziehungspraktiken. Die »Grunderziehung«, so Bourdieu, sei deshalb »grundlegend politisch«: »[S]ie zielt auf die Einprägung von Haltungsweisen ab – des Körpers als ganzen oder dieses oder jenes seiner Teile, der rechten, männlichen oder der linken, weiblichen Hand, der Art zu gehen, den Kopf zu halten oder den Blick zu richten, ins Gesicht, in die Augen oder im Gegenteil auf die eigenen Füße usf. – die eine Ethik, eine Politik und eine Kosmologie enthalten. Und das wesentlich deshalb, weil sie fast alle geschlechtlich unterschieden sind und durch diese Unterschiede die grundlegenden Gegensätze der Weltsicht praktisch zum Ausdruck bringen. Die körperliche Hexis, unterstützt und verstärkt durch die
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ihrerseits geschlechtlich differenzierte Kleidung, ist eine ständige unauslöschliche Gedächtnisstütze, in der sich auf sichtbare und fühlbare Weise all die möglichen Gedanken und Handlungen, all die praktischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eingeschrieben finden, die einen Habitus definieren.« (1997: 187)
Dass die auf den Körper gerichtete Erziehung über die unmittelbar körperliche Dimension hinausweist, bleibt Bourdieu zufolge allerdings weitgehend implizit: Durch »so unscheinbare Ermahnungen wie ›Halt dich gerade!‹« werde »eine komplette Kosmologie« in einer Weise vermittelt und »verleiblicht«, dass dadurch »den Grundprinzipien des kulturell Willkürlichen Geltung [verschafft wird], die damit Bewusstsein und Erklärung entzogen sind« (1993: 128). Mit seinen Überlegungen zu einem vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Habitus liefert Bourdieu also einen Ansatz zur Erklärung, wie die hierarchisierende Zweigeschlechtlichkeit als eine selbstverständliche und naturalisierte soziale Wirklichkeit hervorgebracht und (auch leiblich) als solche erfahrbar wird; einen Ansatz, in dem körperlichen Haltungen, Gesten und Bewegungsweisen eine wesentliche Rolle zukommt. Seine Konzeption zielt vorwiegend darauf, die Stabilität und beständige Reproduktion dieser Wirklichkeit (auch ›in‹ den Individuen) zu erklären. Die Veränderbarkeit und Heterogenität sowohl von gesellschaftlichen Strukturen als auch von individuellen geschlechtlichen Verkörperungen, Haltungen und Bewegungsweisen bleiben dabei allerdings weitgehend ausgeblendet. Diese Dimensionen lassen sich mit Bourdieus Konzeption nur unzureichend adressieren. Um sowohl die Dimension der Stabilität als auch die Möglichkeit von Varianz und Veränderung in den Blick nehmen zu können, möchte ich zusätzlich entsprechende Aspekte von Judith Butlers Konzept der Performativität von Geschlecht aufgreifen, wie sie es in ihren Überlegungen zu Drag im Zusammenhang mit körperlichen Akten der Geschlechtsdarstellung entwickelt (vgl. Kapitel I.1.1). Auch für Butler sind die körperlichen Akte der Geschlechtsdarstellung – Butler spricht von »Körpergesten, Bewegungen und Stile[n] unterschiedlicher Art« (Butler 1991: 207) oder auch von »körperlichen Stilen« (ebd.: 205) – durch die gesellschaftliche Ordnung hierarchisierender Zweigeschlechtlichkeit strukturiert und weit davon entfernt, der bewussten Gestaltung durch die Subjekte vollständig zugänglich zu sein. Die »körperlichen Stile«, wiewohl individuell und teils auch intentional zur Geltung gebracht, lassen sich »niemals vollständig als Selbst-Stilisierungen begreifen, da sie eine Geschichte haben, die ihre Möglichkeiten bedingt und beschränkt« 239
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(Butler 1991: 205). In den körperlichen Stilen werden gesellschaftliche, historisch sedimentierte Normen beständig zitiert und ihrerseits durch dieses Zitieren reproduziert. Performativ ist dieses Zitieren, insofern es als Effekt hervorbringt, was dessen Ursache zu sein scheint: Die Körperstile erscheinen als Ausdruck einer vorgängigen, ›im‹ Individuum verankerten geschlechtlichen Natur und bringen doch die Vorstellung einer solchen Natur erst hervor. Butlers Ausführungen erinnern zunächst also deutlich an Bourdieus Konzeption. Ein entscheidender Unterschied liegt nun darin, dass Butler sehr viel stärker die Notwendigkeit des beständig wiederholenden Zitierens, der beständigen Wieder-Aufführung körperlicher Akte zur Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung betont, und dass sie darin eine grundsätzliche Instabilität dieser Ordnung sieht: Sie ist nicht ein für alle Mal abgesichert, auch nicht ›in‹ den Individuen, sondern angewiesen auf wiederholtes Zitieren, welches (und das ist der entscheidende Punkt) auch fehlschlagen kann. Die notwendigen Abweichungen und ›Fehler‹ bei der zitierenden Reproduktion der geschlechtlichen Ordnung konstituieren Butler zufolge sowohl geschlechtliche Varianzen und Inkongruenzen als auch (individuelle und kollektive) Veränderungen. Anders als für Bourdieu ›ist‹ man nach Butler also nicht notwendig dauerhaft, ›was der Leib gelernt hat‹, weil das (auch körperliche) Sein selbst ihr als instabil gilt in dem Sinne, dass es keinen Moment ohne eine zitierende Wieder-Aufführung auskommt; eine Wieder-Aufführung, die auch eine veränderte sein kann, wenn auch nicht unbeschränkt durch den Horizont gesellschaftlicher Normen. Butlers Konzeption eröffnet also die Möglichkeit, geschlechtliche Körperhaltungen, Bewegungsweisen und Gesten als konstituiert durch und konstitutiv für gesellschaftliche Normen hierarchisierender Zweigeschlechtlichkeit zu begreifen und zugleich den Blick offen zu halten für mögliche Inkongruenzen, Varianzen und Veränderungen. Allerdings – das wurde in Kapitel I.1.1 bereits angesprochen – bleibt in ihrem Ansatz der Performativität die Ebene der leiblichen Erfahrung und die Frage danach, ob und wenn ja, wie sich gesellschaftliche Strukturen und lebensgeschichtliche Erfahrungen auch ›im‹ Individuum und seiner Körperlichkeit verfestigen, ausgeblendet. Diese Ebene lässt sich hingegen mit Bourdieu adressieren.27 27 Anders als Bourdieu entwickelt Butler im Kontext ihrer Überlegungen zu Performativität keine Theorie der Verkörperung. Die Autor_innen der Arbeitsgruppe ›Gender‹ formulieren den Unterschied zwischen beiden Konzeptionen wie folgt: »Während Bourdieu davon ausgeht, dass Strukturen im Habitus verkörpert werden, ist es die Auffassung Butlers, dass diese niemals vollständig verkörpert werden können, da sie phantasmatischen 240
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Im Folgenden greife ich daher auf Überlegungen beider Autor_innen zurück, um die Frage, wie bzw. inwiefern beide angesprochenen Dimensionen sich für die empirische Rekonstruktion als relevant erweisen, als eine zunächst offene adressieren zu können. Die in den Blick rückenden Körperhaltungen, Bewegungsweisen und Gesten fasse ich dabei als »Körperstile« und folge damit einem begrifflichen Vorschlag Anja Tervoorens (2007; 2007a): Mit diesem von Butler entlehnten Begriff zielt Tervooren explizit darauf, sowohl die von Bourdieu angesprochene Dauerhaftigkeit und Vorreflexivität von Bewegungsweisen, Haltungen und Gestik als auch deren prinzipielle (individuelle und gesellschaftliche) Wandelbarkeit (wie Butler dies konzipiert) in den Blick zu nehmen.28 In meiner eigenen Verwendungsweise des Begriffs soll außerdem die doppelte Verknüpfung zwischen individuellem körperlichen Tun und gesellschaftlicher Verfasstheit von Geschlechterverhältnissen, wie sie sowohl Butler als auch Bourdieu herausarbeiten, mitgedacht sein. Es gilt, empirisch zu rekonstruieren, inwiefern Körperstile durch gesellschaftliche Verhältnisse und Normen strukturiert sind, und in welcher Weise sie ihrerseits Geschlecht als ein gesellschaftliches und soziales und als ein Selbstverhältnis hervorbringen. Die Rekonstruktion setzt allerdings nicht an von mir beobachteten Körperstilen an, sondern an deren Thematisierungen und Bearbeitungsweisen im Kontext des Kinging, wie sie mir durch die Interviews zugänglich sind.
2.2 »Was ihr daraus macht, müsst ihr wissen«: Intentionale Bearbeitungen Wie bereits angedeutet, ist die auch intentionale Bearbeitung von Körperstilen expliziter Bestandteil der Praxis des Kinging. Auf Reflexion und Veränderung zielende kollektive Praxen der Bearbeitung von GeCharakter haben und sich dem Ideal einer Verkörperung sperren.« (Arbeitsgruppe ›Gender‹ 2004: 259) In ihren Ausführungen zur Herausbildung von Geschlecht durch Prozesse der Identifizierung und Verwerfung (vgl. Kapitel I.1.3) legt Butler jedoch durchaus nahe, dass Geschlecht auch ›im‹ Individuum und seiner Körperlichkeit eine Festigkeit und Festgelegtheit erlangt. Diese beiden theoretischen Ansätze werden von ihr allerdings nicht systematisch zusammengeführt. 28 »Körperstile«, so Tervooren, »verfestigen sich in der Materie des Körpers […]. Im Körper wird die Lebensgeschichte des Einübens von Geschlecht und Begehren in dessen Stilen gespeichert, so dass die Verkörperung auf lange Sicht nicht umkehrbar ist, aber dennoch bis zu einem gewissen Grade veränderlich bleibt.« (Tervooren 2007a: 52) Eine sehr knappe theoretische Begründung der Verbindung der Ansätze von Butler und Bourdieu findet sich in Tervooren 2007: 91f. 241
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
schlecht auf dem Terrain von Körperstilen haben bereits eine lange, insbesondere feministisch geprägte Geschichte. Nicht nur hat die Frauen- und Geschlechterforschung seit den 1970er Jahren Körperhaltungen und Bewegungsweisen auf die ihnen inhärenten geschlechtlichen Herrschaftsverhältnisse hin sowohl empirisch untersucht als auch theoretisch reflektiert;29 auch zahlreiche feministische Praxen setzen hier an. So werden etwa in feministischen Trainings der Selbstverteidigung und Selbstbehauptung neben der Vermittlung von Kampftechniken auch habitualisierte Haltungen und Dispositionen bewusst gemacht und (z.B. in Rollenspielen) alternative Strategien ausgelotet und geübt. Was hier als eine kollektive Form der praktischen Kritik an gesellschaftlichen Herrschafts- und Gewaltverhältnissen entwickelt wurde, fin-det inzwischen auch Eingang in Karriere-Ratgeber für Frauen, die lediglich auf deren individuelle Durchsetzungsfähigkeit zielen in einer Welt, in der dies nach wie vor an die Beherrschung männlich codierter Verhaltensrepertoires gebunden ist. Um erfolgreich zu sein, so der Tenor solcher Ratgeber-Literatur, müssen Frauen jedoch Sorge tragen, männlich codierte Repertoires derart in ihren Körperstil zu integrieren, dass dieser weiterhin eindeutig als weiblich zu erkennen ist bzw. ihr Frausein in einer kulturell legitimen Weise dar- und herstellt.30 Im Gegensatz 29 Vgl. z.B. mit dem Fokus auf »Körpersprache« Henley 1988 [1977]; Wex 1980; Mühlen Achs 1993, 1998, 2003; im Kontext von »Interaktionsritualen« Goffman 1977; im Kontext von doing gender Kessler/McKenna 1978; West/Zimmerman 1987; im Kontext von Praktiken geschlechtlicher Verkörperung Herrmann 2007a. Die Studien lassen erkennen, dass sich – allen Veränderungen und Ausdifferenzierungen zum Trotz – die wesentlichen Grundzüge der in westlichen Gesellschaften als ›männlich‹ respektive ›weiblich‹ geltenden Körperstile in den letzten Jahrzehnten gehalten haben: Aufrechte, gerade, stabile Körperhaltungen, ein breiter Stand und breites, eher lässiges Sitzen, die Arme vom Körper abstehend oder in die Hüften gestemmt, kraftvolle, dynamische und raumgreifende Bewegungen und eine reduzierte Mimik gelten als männlich und werden als Ausdruck von Selbstsicherheit, Autonomie, einem selbstverständlichen Anspruch auf Macht und/oder Aggressivität wahrgenommen. Schmale, abgeknickte oder ›schiefe‹ Körperhaltungen (etwa das Schieflegen des Kopfes), aufrechtes und schmales Sitzen mit geschlossenen Knien, eng angelegte Arme, weiche, elegante, wenig Raum beanspruchende Bewegungen und eine expressive Mimik gelten als weiblich und werden als Anzeiger von Bescheidenheit, Zurückhaltung, Bezogenheit auf andere, Nachgiebigkeit und/oder Unsicherheit wahrgenommen. Zahlreiche Abbildungen in den genannten Texten belegen die anhaltende Relevanz dieser Stereotype zumindest in massenmedialen Inszenierungen. 30 »[D]ie eigene Weiblichkeit und Identität bewahren und trotzdem [sic] entschieden und selbstsicher auftreten« zu können, formuliert etwa Claudia Topf (2005: 33) als Ziel ihres Ratgebers Körpersprache für freche Frauen. Sicher und selbstbewusst auftreten im Beruf. Topf legt damit nahe, dass 242
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
dazu geht es in ebenfalls auf individueller Ebene ansetzenden klassischen Bewegungstrainings für Transsexuelle tendenziell darum, mit dem Geburtsgeschlecht übereinstimmende habitualisierte Verhaltensweisen möglichst vollständig durch solche zu ersetzen, die ein passing im Wunschgeschlecht ermöglichen (vgl. Hirschauer 1993: 48). Die Bearbeitung von Körperstilen in Drag King-Workshops schließt z.T. explizit an ältere feministische Traditionen an. Der praktische Nachvollzug und die Reflexion dessen, was als männlich bzw. weiblich gilt, schließt regelmäßig eine kritische Explikation der damit verbundenen Herrschaftsverhältnisse ein.31 Bezogen darauf ist Kinging sowohl eine Möglichkeit der parodierenden Kritik ›männlichen‹ Verhaltens als auch eine Weise der ermächtigenden Aneignung von Verhaltensrepertoires, die einer_m traditionell vorenthalten sind. Das Festhalten an einer weiterhin ›Frausein‹ bedeutenden Körperlichkeit, das den meisten älteren feministischen Praxen inhärent war, wird im Kinging jedoch aufgegeben: Drag King-Workshops vermitteln auch Techniken des passings als Mann, sei es in Ergänzung oder als Alternative zu anderen (etwa medizinischen) körperverändernden Technologien, sowie Strategien, die auf eine Verunklarung geschlechtlicher Zuordnungen oder der Zweigeschlechtlichkeit selbst zielen. Über die Bedeutung der Vermittlung von »Körpersprache« in den von ihm angebotenen Workshops sagt Tino: »Bei mir im Workshop mach’ ich ja immer Körpersprache und dann sag’ ich immer: So, das wird als männlich wahrgenommen, das wird als weiblich wahrgenommen. Ich geb’s den Teilnehmern mehr oder weniger vor und sage:
zwischen beiden Anforderungen nach wie vor eine Spannung besteht, aber auch, dass die Vergeschlechtlichung von Körperstilen und Verhaltensweisen verändernde Aneignungen von der jeweils ›anderen‹ geschlechtlichen Position aus nicht ausschließt. 31 Dokumentiert ist dies etwa für die Workshops von Dianne Torr, die ›männliche‹ Körpersprache als eine Weise des Raumnehmens, als Verkörperung von Besitz- und Machtansprüchen und der Überzeugung, im Recht zu sein, vermittelt, und die diese Vermittlung u.a. als Ermächtigung von ›Frauen‹ begreift; vgl. Apfelthaler 1997; Torr 1998; Volcano/ Halberstam 1999: 75ff. Auch in den Workshops im Kontext der hiesigen Szene, an denen ich teilgenommen habe, wurde die Präsentation der zu erlernenden männlich codierten Gesten, Haltungen und Bewegungsweisen regelmäßig von einer problematisierenden Erläuterung der damit einhergehenden Performance von Macht, Selbstgewissheit und/oder Dominanz begleitet – auch dort, wo es weniger um ein Empowerment von ›Frauen‹ ging, sondern, etwa im Falle eines ›Drag King-Workshops mit dem Schwerpunkt passing‹ im Kontext einer Transgender-Tagung, vorranging um die Ermöglichung eines Lebens als Mann. 243
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Aber was ihr daraus macht, müsst ihr wissen, ne. Also ich find’s genauso gut, also ich find’s gut, wenn ihr sagt, ich will dieses passing, ich will durchgehen, dann sag’ ich: Dann halt dich daran fest, versuch’, das irgendwie deinem Typ natürlich anzupassen, sollst jetzt nicht wie irgend so ’n Stereotyp durch die Gegend laufen, aber ich find’s genauso gut, wenn die Leute sagen: Aha, wenn das so und so wahrgenommen wird, dann mach’ ich eben mit diesem Äußeren, also jetzt mit dem männlichen oder weiblichen, je nachdem also vorm Workshop, nach ’m Workshop, im Workshop, genau das Gegenteil, um eben den Leuten irgendwie so ’n bisschen -. Ich sag’ dann natürlich: Klar, also euch muss klar sein, wenn ihr jetzt irgendwie männlich ausseht und aber euch weiblich verhaltet, jetzt was als weiblich wahrgenommen wird sozusagen, dann kriegt ihr natürlich ’ne Form von Aufmerksamkeit, die euch klar sein muss, die kann positiv und negativ sein, aber auf jeden Fall wird’s ’ne Aufmerksamkeit geben. Aber ich finde das halt genauso gut, ob die Leute sozusagen das bedienen oder nicht bedienen, ist beides gleich gut, also das müssen sie halt für sich wissen.« (Int. 8)
Tino vermittelt zunächst binär unterschiedene Körperstile, die als typisch männlich respektive weiblich wahrgenommen werden und die von den Teilnehmenden im praktischen Nachvollzug erlernt werden können. Tino schildert dies gewissermaßen als Hilfe zur Aneignung eines breiteren Repertoires und zur Bewusstwerdung über dessen gesellschaftliche Bedeutungen, und damit als eine Form der Ermächtigung dazu, eigene Entscheidungen treffen zu können: nicht länger gebunden zu sein an einen bereits habitualisierten, unwillkürlichen Stil und damit dessen Signifikationen im Kontext herrschender Wahrnehmungsordnungen ausgesetzt, sondern den eigenen Habitus bearbeitbar zu machen. Tino macht im Interview jedoch zugleich deutlich, dass diese Ermächtigung nur eine relative sein kann. Bis zu einem gewissen Grad beeinflussbar ist zwar der eigene geschlechtliche Körperstil, aber die Lesbarkeit dessen bleibt – im Horizont einer alltäglichen zweigeschlechtlich strukturierten Wahrnehmungsweise, auf die Tino sich hier implizit bezieht – gebunden an etablierte geschlechtliche Bedeutungen, die sich nicht individuell bestimmen lassen. Vor dem Hintergrund einer binären Geschlechterordnung wirken dieselben Gesten und Verhaltensweisen zudem unterschiedlich je nachdem, ob die betreffende Person aufgrund anderer wahrnehmbarer Merkmale als Mann oder als Frau eingeordnet wird.32 Jemand, der oder die – z.B. aufgrund von Kleidung, 32 Vgl. zu diesem Aspekt auch Hirschauer (1993): »Bei Geschlechtsdarstellungen sind [die] kulturellen Ressourcen zum Teil auf historisch sedimentierte, aber auch in stetem Wandel befindliche ›männliche‹ und ›weibliche‹ Repertoires verteilt. Sie bestehen aus sexuierten Darstellungselementen, die ein Betrachter z. T. als ›Geschlechtsmerkmal‹ oder -indiz, 244
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Körpersilhouette (etwa mit flacher Brust – ob nun abgebunden, nach einer Mastektomie oder ohne den Einsatz spezifischer Techniken) und sichtbarem Bart (ob angeklebt oder Effekt von – absichtlich zugeführten oder im Körper produzierten – Hormonen) – als Mann wahrgenommen wird, sich jedoch in einer als weiblich geltenden Weise bewegt und hält, wird, so Tino, eine besondere »Aufmerksamkeit« erfahren. Dies kann man zwar angenehm oder unangenehm finden, aber kaum ändern.33 Zudem macht Tino implizit deutlich, dass erfolgreiches passing mehr erfordert als die perfekte Beherrschung des entsprechenden geschlechtstypischen Körperstils. Um nicht »wie irgend so’n Stereotyp durch die Gegend [zu] laufen«, rät Tino denjenigen, die es auf ein passing als Mann abgesehen haben, das neu Erlernte »irgendwie deinem Typ natürlich anzupassen«.34 Tino unterscheidet zwischen einem geschlechtlich bestimmten »Stereotyp« und einem (eigenen, individuellen) »Typ«, der ihm offenbar als nicht beliebig veränderbar gilt und in den das neu Angeeignete integriert werden muss, um die gewünschte Wirkung (ein unauffälliges passing) zu erzielen. Die überzeugende Präsentation eines geschlechtlichen körperlichen Stils besteht offensichtlich nicht in der perfekten Nachahmung eines »Stereotyps«, sondern in der Verkörperung eines als individuell (und damit als ›authentisch‹) wahrnehmbaren »Typs« (dessen Lesbarkeit gleichwohl an geschlechtliche Normen gebunden ist). Eine solche Verkörperung von ›Individualität‹ ist, so scheint es, am ehesten dann zu erreichen, wenn Elemente eines bereits habitualisierten Körperstils, die den je eigenen »Typ« konstituieren und die sich einer vollständigen, bewussten Transformation mög-
aber auch als ›typisch‹ männliche/weibliche Eigenschaft oder als ›gehöriges Verhalten‹ erkennen kann. Diese Zurechnungsalternativen entstehen dadurch, dass das Geschlecht, dem das Verhalten ›angemessen‹ sein soll, erst durch das Verhalten hergestellt wird, aber auch umgekehrt: dass mit einer anderen Geschlechtsattribution ein Verhalten seine Bedeutung verändert, etwa indem eine Geste bei einem ›Mann‹ ›ganz anders aussieht‹.« (Ebd.: 39f.; Herv. i.O.) 33 Die Inkohärenz, auf die Tino hier verweist, ist nicht eine zwischen (biologisch bestimmtem) Körpergeschlecht und kulturell geprägter Geschlechtsdarstellung (also zwischen sex und gender), sondern es geht um Inkohärenzen auf einer Immanenzebene kulturell konstituierter und individuell partiell bearbeitbarer Körperlichkeit. 34 Es ist unklar, inwieweit »natürlich« hier ›selbstverständlich‹ bedeutet (im Sinne des englischen ›of course‹) oder aber tatsächlich eine ›Natürlichkeit‹ aufruft (in dem Sinne, dass die Anpassung des Körperstils an den eigenen ›Typ‹ so bewerkstelligt werden soll, dass sie ›natürlich‹ wirkt). Für meine Interpretation reicht es jedoch aus, dass Tino hier eine Entgegensetzung zwischen der Erscheinung als »Stereotyp« und der Anpassung an den je eigenen »Typ« vornimmt. 245
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
licherweise entziehen, mit neu angeeigneten motorischen Schemata verschmolzen werden. Es lässt sich daher vermuten, dass es beim Kinging nicht um eine vollständige Neukonstitution des körperlichen Stils aus dem Nichts heraus geht, sondern um die Möglichkeit einer Veränderung, die an bereits Konstituiertem ansetzt und es umarbeitet oder transformiert: nicht (nur) um eine rein willkürliche, vollkommen bewusste, planvolle Gestaltung, sondern eher um ein experimentierendes Ausloten und Durcharbeiten. Diesem Verhältnis von Neugestaltung und Ausloten von vergangenen und/oder bestehenden Habitualisierungen soll im Folgenden weiter nachgegangen werden.
2.3 »… dass ich da schon sehr geübt hatte«: Erinnerungen an kindliches körperliches Tun Die Habitualisierung von Körperstilen, so Bourdieu, entzieht sich üblicherweise der reflektierenden Erinnerung: Im Habitus als seinem Ergebnis verschwindet der Prozess des mimetischen Einübens, der ihm vorangegangen ist. Als eine Praxis der bewussten Bearbeitung von Körperstilen betreibt Kinging demgegenüber so etwas wie eine EntHabitualisierung, eine Entselbstverständlichung des Gewordenseins, durch die teils auch Erinnerungen an vergangene Prozesse des Werdens aufgerufen werden. Klaus erzählt von seinen ersten Kinging-Erfahrungen im Rahmen eines Workshops: »Und dann haben wir noch getanzt und Rollenspiele gemacht, irgendwie nachmachen gegenseitig oder Gesten machen, Mimik und so. Und da war es schon so, dass ich gemerkt hab’, das ist eigentlich -, macht voll Spaß, ist total lustig, und [1] irgendwie kann ich das, so [lacht]. Und dann haben mich ein paar auch angeguckt: Boah, krass, was macht das aus und so. Und ich hab’ mich selber angeguckt und dachte: na ja, das ist eigentlich jetzt nicht so der Riesenunterschied, es sieht aber gut aus, hab’ ich halt gedacht. Und bei diesen Gesten, da ist mir halt ziemlich schnell auch was eingefallen, was man machen kann. Und dann haben die auch gesagt: ja, es kommt ganz gut rüber so. Und dann ist mir halt später, als ich drüber nachgedacht hab’, eingefallen, dass ich früher auch so ’ne Phase hatte, eben so mit -, ich weiß nicht, wann das anfing, vielleicht mit fünf, sechs Jahren und dann bis zur dritten, vierten Klasse oder so, dass ich da auch auf jeden Fall Junge sein wollte unbedingt. […] Und das kam mir dann auch wieder hoch, dass ich da schon sehr geübt hatte also in der Zeit, viele Jungs halt als Freunde hatte und Fußball spielen und so und so rumgetrieben halt [lacht]. Und da hab’ ich auch so versucht -, ich weiß nicht, ob mir das schon so bewusst war, aber anders zu laufen, größere Schritte zu machen als Kind schon. Und meinen Unterkiefer hab’ ich vorgeschoben, da haben 246
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meine Eltern Jahre lang, vor allem meine Mutter, gekämpft, dass ich den wieder hinternehme [I lacht]. Ich hab’ den Unterkiefer, einfach die untere Zahnreihe vor die vorderen geschoben [macht es beim Sprechen nach]. Also das war -, das war mir nicht bewusst, was das bedeutet hat, aber das war vielleicht was, um energischer zu sein oder es kam -, damals hab’ ich das -, glaub’ ich, ja, ich hab’ schon gewusst, dass es halt jungenhafter ist, aber warum ich das jetzt mache und wieso ich das will, das war mir nicht klar.« (Int. 15)
Klaus’ Engagement in mit dem Kinging verbundenen Körperstilen löst (auch körperliche) Erinnerungen aus an frühere Erfahrungen: Dass ihm spontan passende Gesten einfallen, die auch »gut rüber« kommen (die also offenbar nicht frisch antrainiert, sondern selbstverständlich wirken), bringt er selbst in Verbindung damit, als Kind bereits »geübt« zu haben. Dieses Üben – eine auf sich selbst gerichtete Arbeit an körperlichen Bewegungsweisen und Haltungen – steht für ihn im Zusammenhang mit seinem zeitweiligen Wunsch, ein Junge zu sein. Sein gleichzeitiges Konstituiertsein als Mädchen verleiht diesem Wunsch und den (für ihn) damit verbundenen Körperpraxen offenbar etwas Bewusstes und Absichtsvolles. Er erlernt nicht einfach jungenhafte Bewegungen, sondern bemüht sich, »anders« zu laufen und »größere« Schritte zu machen, d.h. um eine aktive Veränderung seiner bisherigen Gangart. Dennoch erinnert er seine damalige Praxis als eine nur halbwegs bewusste, halb auch intuitive Weise der körperlichen Bearbeitung und Aneignung von Geschlecht: »ich weiß nicht, ob mir das schon so bewusst war«; »warum ich das jetzt mache und wieso ich das will, das war mir nicht klar«. Die Einübung und partielle Habitualisierung eines geschlechtlichen Stils erfolgt auch hier als ein nicht vollständig reflexives, sondern als ein mimetisch-praktisches körperliches Tun. Obwohl Klaus sein Engagement in einem »jungenhaften« körperlichen Stil im Alter von etwa zehn oder elf Jahren aufgibt zugunsten des (ebenso halb selbstverständlichen, halb aktiv-bewussten) ›Übens‹ von Mädchenhaftigkeit, bleiben Spuren früherer Bewegungsweisen körperlich gespeichert und werden durch das Kinging wieder aufgerufen:35 »Das sehe ich auf jeden Fall jetzt in ’nem engen Zusammenhang, also dass ich auf jeden Fall das schon mal ausgelebt habe, was dann jetzt halt wieder hochkam.« (Ebd.) Gegenüber dieser Affinität zu Bewegungs35 Das »korporale« oder »Körpergedächtnis« (vgl. Hirschauer 1994: 683; Apfelthaler 1997) kann also als Speicher geschlechtlich unterschiedlich codierter Darstellungsrepertoires fungieren und ist daher nicht nur ein »Trägheitsmoment« (Hirschauer: ebd.), das die Individuen an das ihnen zugewiesene Geschlecht bindet, sondern kann auch Ressourcen zu dessen Transgression enthalten – je nach biographischem Verlauf in unterschiedlichem Ausmaß. 247
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weisen des Kinging erscheint Klaus die bewusste Inszenierung akzentuierter Weiblichkeit, die er später als ›Double Drag‹ ebenfalls erprobt, durchaus faszinierend, aber eher fremd: »Da hab’ ich schon gemerkt, das ist nicht so ganz -, ähm, dass ich das nicht so kann, also ich hab’ irgendwie gemerkt, dass ich da viel weniger geübt hab’, und dass es aber auch genauso weit weg ist von mir oder vielleicht sogar weiter weg ist als King zu sein.« (Ebd.) Dass Geschlecht (oder präziser: die zweigeschlechtliche Strukturierung der sozialen Welt) im kindlichen körperlichen Tun und im praktischen Einüben von Körperstilen angeeignet wird und werden muss, aber dass dies keineswegs notwendig in einer kohärenten, in eine geschlechtlich eindeutige Verkörperung mündenden Weise erfolgt, wird auch in vielen weiteren Interviews deutlich. Ausgehend von der gegenwärtigen Praxis des Kinging werden regelmäßig gerade auch solche körperlichen Praxen erinnert, die eine (Selbst-)Konstituierung als Mädchen eher unterliefen: draußen herumtoben, Cowboy und Indianer spielen, raufen und sich prügeln, auf Bäume klettern, Fußball spielen – Tätigkeiten, deren jungenhafte Codierung auch heute noch wirksam und allgemein bekannt ist, die jedoch nicht (mehr) exklusiv Jungen vorbehalten waren und sind. Das Engagement in diesen Praxen wird daher nicht notwendig als dramatische Grenzüberschreitung erfahren und geschildert. »Für mich war es einfach so, ich hab’ gerne Fußball gespielt und gerne Fischer-Technik gespielt«, sagt Tam (Int. 2), und Tino berichtet, zwar das erste, aber nicht lange das einzige Fußball spielende Mädchen in seiner Klasse gewesen zu sein: »und damit war das halt auch wieder irgendwie nichts besonderes in dem Sinne« (Int. 8). Luka misst ihrer Bereitschaft, sich mit anderen Kindern zu prügeln, keine explizit geschlechtliche Bedeutung bei, sondern schildert dies vielmehr als die ihr eigene (offensichtlich effektive) Art und Weise, rassistischen Übergriffen durch Mitschüler_innen zu begegnen, denen sie als eine der wenigen Schwarzen an ihrem Wohnort regelmäßig ausgesetzt war: »Nach ’nem halben Jahr hab’ ich denen einmal quer durchs Feld das Maul poliert gehabt, und danach war für die das Thema erledigt« (Int. 9). Im Kontext sich wandelnder Geschlechternormen und Erziehungsstile können mit bestimmten Bewegungsweisen verbundene Praxen legitime Betätigung für Kinder ›beider‹ Geschlechter werden. Dass im Zuge solcher Veränderungen die Praxen selbst »desexuiert« würden, wie Hirschauer (1995: 84) annimmt, trifft auf die hier angeführten Beispiele jedoch nur ansatzweise zu. Trotz der dafür in Anspruch genommenen Selbstverständlichkeit gilt etwa Tam seine Vorliebe für Fußball und Fischer-Technik weiterhin als geschlechtlich codiert, so dass er im Rück248
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blick schlussfolgert: »Also ich hatte eigentlich ’ne klassische Kindheit, wie sie, glaube ich, eher ein Junge verbringen würde«. Ganz ähnlich formuliert Sean: »Also ich bin so eine, die eigentlich immer Fußball gespielt hat und all so was. […] eigentlich so typisch, wie so’n Mädchen ist, das als Junge aufwächst, glaub’ ich. Immer geprügelt auf’m Schulhof […]«, und sie führt derartige Betätigungen mit als Grund dafür an, von anderen Kindern regelmäßig für einen Jungen gehalten worden zu sein. Gelegentliche Interventionsversuche der Eltern – etwa deren Weigerung, ihrem Wunsch nach einem Kommunionsanzug anstelle eines Kleides zu entsprechen – hinderten sie nicht daran, sich in der von ihr bevorzugten bzw. ihr selbstverständlichen Bewegungsweise zu engagieren: »Ich hab’ dann mit dem Kleid Fußball gespielt und bin auf’s Dach geklettert, also ich hab’ mich dann einfach so damit bewegt.«36 Während Sean, Tino und Tam ihr Engagement in jungenhaft codierten Tätigkeiten als eine nicht näher zu begründende Selbstverständlichkeit schildern, die ihre Kindheit eher im Rückblick und/oder als unintendierten Effekt als eine ›jungenhafte‹ markiert, machte für andere gerade die geschlechtliche Aufladung bestimmter Praxen deren besonderen Reiz aus. Die Lust am Spiel und an körperlicher Bewegung vermischte sich für einige untrennbar mit der damit verbundenen Gelegenheit, aktiv in einen jungenhaften Selbstentwurf zu investieren. Ihnen ging es nicht nur darum, etwas Bestimmtes zu tun, sondern teils auch darum, in dem und 36 Sean bezeichnet diese Erfahrungen als »typisch« für »so’n Mädchen […], das als Junge aufwächst«. In der Tat können die hier und in den anderen zitierten Interviewpassagen aufgerufenen Topoi als »typisch« gelten für ›Tomboy-Narrationen‹ (der Begriff ›Tomboy‹, der teils mit ›Wildfang‹ übersetzt wird, aber kein derart weit verbreitetes deutsches Äquivalent hat, bezeichnet ›jungenhafte‹ Mädchen; vgl. Halberstam 1998: 5ff.). Erwähnungen von Fußballspielen, Raufen, Konflikten um das Tragen von Kleidern etc. verweisen über die konkrete Tätigkeit hinaus auf solche Erzählungen, die z.B. in Transmann-, aber auch in vielen lesbischen Zusammenhängen zirkulieren. Formulierungen wie »immer Fußball gespielt und all so was« können daher als indexikalische Ausdrücke interpretiert werden, die zu ihrem Verständnis die Kenntnis von Tomboy-Narrationen voraussetzen (eine Kenntnis, die von den Interviewten offensichtlich in der Tat als eine geteilte vorausgesetzt wird). Dass derartige Narrationen hier aufgerufen werden, scheint mir allerdings nicht unbedingt ein Beleg für die besondere Häufigkeit von ›Tomboy-Kindheiten‹ unter den im Kinging Engagierten zu sein. Wahrscheinlicher scheint mir, dass die darin artikulierten Erfahrungen insgesamt relativ weit verbreitet sind, aber in Abhängigkeit von der jeweiligen ›erwachsenen‹ geschlechtlichen Verortung und Praxis zum konstitutiven Bestandteil einer biographischen Erzählung werden oder auch nicht. Umgekehrt finden sich auch längst nicht in allen der von mir geführten Interviews solche Tomboy-Narrative. 249
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durch dieses Tun eine bestimmte geschlechtliche Position zu reklamieren und zu verkörpern. »Meine Mutter hat mich nie zu irgendwas gedrängt, was ich nicht wollte. Und, ähm [1], trotzdem war ich halt irgendwie, ja, ihre kleine Tochter, und ich wollte aber nie die kleine Tochter sein, ich wollte halt immer eher so der, von mir aus, kleine Junge sein [lacht], aber die kleine Tochter nicht. Und wenn’s halt darum ging, Kohlen zu schippen, dann war ich halt der erste, der mit der Schaufel stramm stand, obwohl es Arbeit in der Freizeit war, nur damit ich halt Sachen machen kann, die Mädchen normalerweise nicht tun, so. Oder als wir dann gebaut haben, irgendwie Wände raushauen oder so was. Da wusste ich halt irgendwie, dass meine Eltern das jetzt zwar nicht ungewöhnlich finden, weil sie mich ja kennen, aber ich bin für sie halt das Mädchen, aber für mein Empfinden tue ich halt gerade was, was’n Mädchen vielleicht nicht so gerne tut, also normalerweise.« (Int. 3)
Bestimmte Tätigkeiten sind für Filip derart eng mit geschlechtlichen Positionen verzahnt, dass er hofft, durch sein Engagement in männlich codierter schwerer körperlicher Arbeit performativ der Positionierung als »kleine Tochter« zu entkommen. In den Augen seiner Eltern gelingt ihm das (wohl kaum überraschend) nicht: Für sie bleibt er weiterhin »das Mädchen«. Für sich selbst jedoch erlebt er die Tätigkeit als eine deutlich geschlechtliche Aktivität, die ihn vom Mädchensein absetzt, weil ein Mädchen so etwas »normalerweise« »vielleicht nicht so gerne tut«. Filip relativiert diese Aussage im Fortgang jedoch sogleich, indem er selbst die Frage stellt: »Was ist normal?«, und präzisiert dann: »Wenn ich mir jetzt meine Schwester angucke, die war halt immer sehr Mädchen, immer ete petete, ihr größter Wunsch war ein Dirndl und so was halt, ne. Und mit der verglichen war das dann halt was, was Mädchen normalerweise nicht so gerne tun [lacht]. Und das war dann eher so mein Ding, wo ich dann gesagt hab’, so: Nee, bei mir ist das aber anders. [lacht] Und das, glaube ich, kam irgendwie immer wieder. Also was Spezielles war eben Kohlen schippen früher, als wir noch den Kohlenofen hatten, fand ich super [beide lachen verhalten], oder mit meinem Vater dann in dem neuen, in dem gekauften Haus irgendwie die Wände raushauen. Das waren so Sachen, wo dann meine Mutter schon mal ein bisschen: Na! [lacht], und ich dann so: Doch [beide lachen], ich kann das, ich bin da stark genug für, ich kann das.« (Ebd.)
Mit dieser Konkretisierung macht Filip deutlich, dass sein körperlicher Einsatz nicht nur den Versuch einer Re-Positionierung im Verhältnis zu abstrakten, allgemeinen Normen einer geschlechtlichen Ordnung, sondern auch im konkreten geschlechtlichen Familiengefüge darstellt. Er 250
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grenzt sich damit deutlich von seiner Schwester ab, die er auf eine Verkörperung typischen Mädchenseins vereindeutigt; er engagiert sich in Tätigkeiten, für die offensichtlich der Vater zuständig ist und die er gemeinsam mit diesem ausführt, und nimmt damit die klassische Position eines Sohnes ein; und er entzieht sich der mütterlichen Sorge, indem er ihrem vorsichtigen Einwand mit einem stolzen »Doch, ich kann das, ich bin da stark genug für« trotzt. Bei aller Selbstironie, die Filip seinem früheren Ich zollt (unter anderem angezeigt durch sein kommentierendes Lachen), bleibt diese Passage strukturiert nicht nur durch seinen Wunsch, eine jungenhafte Position zu besetzen, sondern auch durch die unterschiedlichen Wertungen, die an geschlechtliche Positionen geknüpft sind und die Filip weitgehend mit vollzieht: Das Mädchensein der Schwester wird abwertend als »ete petete« charakterisiert, während seine Selbstdarstellung als jungenhaft ihn zugleich als aktiv, stark, handlungs- und durchsetzungsfähig erscheinen lässt. Die relativ ungebrochene Wirkmächtigkeit nicht nur der geschlechtlichen Codierung unterschiedlicher Tätigkeiten, sondern auch der wertenden Verbindung von ›männlichen‹ bzw. ›jungenhaften‹ Körperstilen mit Stärke, Aktivität, Handlungsfähigkeit und Selbstbewusstsein und der entsprechenden Assoziationen von Schwäche, Passivität und Hilflosigkeit, die mit Weiblichkeit bzw. Mädchenhaftigkeit einhergehen, zeigt sich in der Schilderung vieler Kindheitserfahrungen, wenn auch teilweise in einer kritischen Wendung gegenüber hegemonialen Repräsentationen, die diese Wirkmächtigkeit perpetuieren. »So Weibchen – das war so gar nicht das, was mir gefiel, irgendwie schwach und hilflos, und in den Abenteuerfilmen immer diejenige, die kreischt, und dann fangen die Probleme an und dann müssen die Männer immer tun«, erinnert Carlo einen der Anlässe für seine »von Kindheit an« bestehende »Identifizierung mit der männlichen Rolle«: »was ich überhaupt als attraktiv irgendwie erfahren hab’«, war demgegenüber der »männliche Held, der aktiv war, handlungsfähig, mutig, bla, bla, bla«. (Int. 4) Die bisherigen Schilderungen legen nahe, dass jungenhaft codiertes Verhalten der Interviewten nicht immer und grundsätzlich durch Eltern und andere Erwachsene unterbunden oder problematisiert wurde und teils als eine relative Selbstverständlichkeit erfahrbar war. Andere Erzählungen referieren demgegenüber sehr wohl auf Regulierungsversuche, die sich auf die kindlichen körperlichen Stile richteten. So wird Luka als Kind von ihren Pflegeeltern zum Ballett geschickt, »weil sie gesagt haben, ich beweg’ mich wie so ’n Bauer« (Int. 9). Mit der Verordnung des Einübens explizit bürgerlich-mädchenhaft (sowie europäisch und ›weiß‹) codierter Bewegungen und Haltungen versuchen die Pflegeeltern eine jungenhafte, von ihnen zudem als ›bäuerlich‹ (d.h. 251
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nicht-bürgerlich; evtl. auch ›unzivilisiert‹) abgewertete Bewegungsweise auszutreiben, die Luka als eine ihr wesenhaft zukommende reklamiert (»die Bewegung hab’ ich nun mal, seit ich geboren bin«; ebd.) und die sie, den Korrekturversuchen zum Trotz, dafür verantwortlich macht, dass sie nach wie vor des öfteren als Mann durchgeht. »Lauf doch mal anständig, lauf nicht wie ’n Kerl« bekommt auch Felix von seiner Mutter zu hören. Dass er als Jugendlicher »wie ’n Typ irgendwie rumgelaufen« ist, sieht er als Effekt seines Trainings im Eisschnelllauf, einem Sport, der ihm zufolge den Körper nachhaltig formt (»du hast da echt riesige Oberschenkel gekriegt und ’n kräftigen Hintern«) und darüber auch die Bewegungsweise prägt. Und Tam spielt zwar, wie bereits erwähnt, als Kind selbstverständlich Fußball (er hängt regelmäßig auf dem dörflichen »Bolzplatz« rum), aber sein Wunsch, in den Verein zu gehen, wird ihm verwehrt, »weil meine Mutter dann sagte, dass ich dann später, wenn ich mal Röcke trage, dann hätte ich so dicke Unterschenkel und Waden und das sähe nicht so schön aus [lacht]« (Int. 2). Die hier zitierten elterlichen Ermahnungen, Verbote und Regulierungsversuche richten sich weniger auf einzelne Tätigkeiten denn auf bereits habitualisierte bzw. im Prozess der Verstetigung begriffene Bewegungsweisen und Haltungen sowie auf die (antizipierte) nachhaltige Formung des Körpers in ›unerwünschter‹, d.h. geschlechtsuntypischer oder gegengeschlechtlicher Weise. Dass sie auf eine ›adäquate‹ Verkörperung im Sinne rigider Zweigeschlechtlichkeit zielen bzw. dass eine solche Verkörperung notwendig anzustreben sei, wird darin kaum expliziert, sondern eher stillschweigend vorausgesetzt. Gerade dadurch fügen sie sich ein in ein Geflecht von auf den Körper gerichteten alltäglichen Bemerkungen und Handlungsweisen, die Zweigeschlechtlichkeit als Selbstverständlichkeit ständig reproduzieren und deren Verkörperung anreizen. Erinnert sei hier an Bourdieus Formulierung, dass »über so unscheinbare Ermahnungen wie ›Halt dich gerade!‹« »eine komplette Kosmologie, Ethik, Metaphysik und Politik« vermittelt und »verleiblicht« werde derart, dass dadurch »den Grundprinzipien des kulturell Willkürlichen Geltung [verschafft wird], die damit Bewusstsein und Erklärung entzogen sind« (1993: 128). Allerdings, so zeigt sich hier, sind diese Ermahnungen offensichtlich nicht immer erfolgreich: Die mit ihnen verbundenen Anrufungen ›scheitern‹ teils darin, einen geschlechtstypischen, mädchenhaften Körperstil zu konstituieren, und offensichtlich auch darin, die Selbstverständlichkeit der zweigeschlechtlichen Strukturierung der Welt ein für alle Mal im Habitus zu verankern.
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2.4 Die praktische Entselbstverständlichung der Zweigeschlechtlichkeit Jungenhaft oder männlich codierte Körperstile werden, so lässt sich nun feststellen, im Kinging nicht notwendig neu und als ›gegengeschlechtliche‹ angeeignet. Durch diese Praxis werden vielmehr auch früher ›eingeübte‹, im Körpergedächtnis gespeicherte jungenhaft codierte Stile aktiviert. Dadurch wird nicht nur das damals erworbene ›praktische Wissen‹ (vorreflexiv) wirksam, sondern über das gegenwärtige körperliche Engagement werden frühere Körperpraxen auch kognitiv erinnert, und sie werden erzählt und reflektiert auf die ihnen inhärenten geschlechtlichen Bedeutungen hin. Aus einer gegenwärtigen Praxis und Verortung heraus, die das »kulturell Willkürliche« hinterfragbar machen, werden Erfahrungen bedeutsam gemacht, die in anderen Narrationen vielleicht eher ›vergessen‹ oder ausgelassen werden würden. Die Interviews verweisen auf ein zeitweiliges oder dauerhaftes Engagement in einer Bandbreite geschlechtlich unterschiedlicher Repertoires. Mal herrscht in verschiedenen Lebensphasen, mal in unterschiedlichen Kontexten eher das eine oder das andere Repertoire vor, oder es werden dauerhafte körperliche Stile ausgebildet, die weder eindeutig ›männlich‹ noch eindeutig ›weiblich‹ erscheinen. Insbesondere lesbische Zusammenhänge werden wiederholt als Kontexte benannt, in denen auch andere als traditionell weibliche Körperstile selbstverständlich entwickelt und gelebt werden können. »[Da] gab’s schon ’nen Freiraum dafür, und das war sehr angenehm. Den Freiraum hätt’ ich ja in ’ner heterosexuellen Beziehung niemals gehabt: Also ’ne burschikose Frau, die darf also maximal sportlich sein, ne, ansonsten bist du ganz schnell das Flintenweib« (Int. 4), konstatiert etwa Carlo und verweist damit implizit zugleich auf einen Wandel in den Normen hegemonialer Weiblichkeit und auf die Grenzen dessen: Als heterosexuell attraktiv gelten mittlerweile auch »burschikose« Frauen, wenn sie »sportlich«, nicht aber ›männlich‹ wirken, d.h. wenn sie einen körperlichen Stil leben, der dennoch eindeutig als weiblich identifizierbar bleibt.37 Die Entwicklung, Wertschätzung und erotische Besetzung von Körperlichkeiten, die diese
37 Vgl. zur Herausbildung eines Ideals ›sportiver‹ weiblicher Körperlichkeit Rose 1997; Maihofer 2002: »›Weiblichkeit‹ verbindet sich zunehmend mit der Vorstellung von körperlicher Straffheit, Muskulösität, Ausdauer, ja sogar von Kraft, Stärke, Selbstbeherrschung und Disziplin« (ebd.: 23); zur ›Notwendigkeit‹ eines sorgfältigen Managements von ›Muskulösität‹ und ›Weiblichkeit‹ am Beispiel des professionellen Bodybuilding vgl. Wirtz 2008. 253
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Grenze überschreiten, hat in lesbischen Zusammenhängen dagegen eine lange Tradition (vgl. Kapitel II.2.1.1). Diejenigen, die sich in Praxen des Kinging engagieren, tun dies also auf der Basis unterschiedlicher lebensgeschichtlicher Erfahrungen und Verkörperungsprozesse und mit verschiedenen alltäglichen Körperstilen. Für einige bedeutet das bewusste Einüben ›männlicher‹ Körperstile daher kaum eine Transformation dessen, was sie seit Jahren oder ›immer schon‹ als die ihnen eigene Körperlichkeit leben. Bei dem Besuch eines Drag King-Workshops, wo es auch darum geht, »wie sich ’n Kerl [bewegt]«, macht etwa Luka die Erfahrung, dass sie mit der ihr üblichen Bewegungsweise den ›Anforderungen‹ durchaus entspricht: »Und ich hab’ mich einfach normal bewegt und die haben echt gedacht: gut, zwar ’n bisschen lockerer Kerl, aber trotzdem, [2] definitiv Kerl.« (Int. 9) Wie vielen anderen ist ihr die Erfahrung, in Alltagssituationen häufig als Mann durchzugehen, seit langem vertraut. Was sich durch die Praxis des Kinging verändert, ist also nicht für alle und nicht notwendigerweise der eigene habitualisierte Körperstil. Eine Veränderung, so möchte ich im Folgenden zeigen, besteht eher in dem reflexiven Bruch, im Grad der Explizitheit, mit dem im Kinging Geschlecht auf dem Terrain von Körperstilen bearbeitet wird: eine Aneignung von Geschlecht, die zugleich eine reflexive Distanznahme ist – die die gesellschaftliche Konstituiertheit und Funktionsweise geschlechtlicher und Geschlecht produzierender körperlicher Stile gewissermaßen durchschaut, sich aber dennoch darauf einlässt. Was genau das bedeuten kann, soll im Folgenden klarer werden. Beobachtung, Reflexion und praktisches Ausloten verschiedener körperlicher Stile und deren geschlechtlicher Bedeutungen und Wirkungen beschränken sich nicht auf Drag King-Workshops und auf das Entwickeln und Einüben von Bühnen-Performances. Wer im Modus des Kinging durch die Welt geht, dem oder der kann der gesamte Alltag dafür zum Schauplatz werden. Dies kann zunächst einen anderen Blick, eine andere Haltung bezüglich der alltäglich wahrzunehmenden geschlechtlichen Darstellungen bedeuten. So hat Franka/Micha es sich zur Gewohnheit gemacht, in der U-Bahn und auf der Straße Männer verstärkt zu beobachten, »einfach weil’s notwendig ist, die erst mal anzugucken […]. Also du musst gucken, wie die sitzen, du musst gucken, wie viel sie in der Hose haben, du musst gucken, was für’n Bart haben die oder was für’n Bart gefällt mir, den die haben, und krieg’ ich den auch hin. Und, ja, wie geben die sich, wie stehen
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die da und -. Ja, dadurch bin ich auch einfach wieder auf die Idee gekommen, Männer anzugucken und hab’ sie wieder mehr wahrgenommen.« (Int. 5)
Nachdem sie, so Franka/Micha, nach ihrem lesbischen Coming Out Männern zunächst höchstens flüchtige Aufmerksamkeit zukommen ließ, kehren diese nun zurück in den Fokus ihrer Wahrnehmung: weder als Zielscheibe des Begehrens noch als bewunderte Vorbilder, sondern eher als interessante Studienobjekte, an denen sich trefflich die Aufmerksamkeit für die zahlreichen Details schulen lässt, die zusammengenommen eine glaubwürdige Darstellung von ›Männlichkeit‹ ausmachen. ›Männlichkeit‹ rückt derart nicht als selbstverständlicher Ausdruck von Mannsein in den Blick, sondern als eine Darstellungsleistung, die mit genügend Aufmerksamkeit und Übung auch von einer/m selbst erlernt werden kann und deren Effekte sich daher auch aus der Perspektive eigenen Tuns beobachten lassen. Katrin etwa übt sich in einer ›männlichen‹ Weise des Gehens, die sie zunächst in einem Drag King-Workshop erlernt hat: »Und so wie der [Veranstalter des Workshops] das erklärt hat -, also heute würde ich das einfacher erklären und würde sagen: Präsentiert euern Schwanz und dann stimmt das schon mit ’m Laufen, also so -, da läufst du auch anders, wenn du das ’n bisschen vorstreckst, so den Genitalbereich, sag’ ich mal.« (Int. 13) Als sie das Gelernte auf den Straßen ihres Wohnviertels erprobt, ist dies bei weitem nicht das erste Mal in ihrem Leben, dass sie in flüchtigen Begegnungen als Mann wahrgenommen wird; diesmal beobachtet sie jedoch bewusst sowohl ihr eigenes Tun als auch dessen Effekte: »Ich habe mehr Platz, ich kann geradeaus laufen, also ich muss nicht immer -, den Schlenker mach’ ich dann von mir aus, weißt du, das muss ich aber gar nicht. Es ist aber so, dass -, ich muss auch überzeugt sein innerlich, also weil, wenn ich jetzt bloß als Mann gehe und mit den Attributen und gucke aber unsicher, dann läufst du doch mit jemandem zusammen, sondern du musst halt wirklich diesen Blick haben so [ironisch]: diesen bedeutungsvollen Blick in die Weite, weil dann laufen die nicht mit dir zusammen, weil sie Angst haben, du siehst sie nicht, dann weichen die dir aus, die Leute.« (Ebd.)
Katrin stellt fest, dass sie, mit einer ›männlichen‹ Gangart und als Mann wahrgenommen werdend, »mehr Platz« hat und Entgegenkommenden nicht ausweichen muss. Allerdings merkt sie, dass genau dies ihr habitualisierte Selbstverständlichkeit ist (»den Schlenker mach’ ich dann von mir aus«). Dennoch spürt sie, dass sie ›als Mann‹ mehr Raum zugestanden bekommt, betont aber, dass dies nicht allein ein Effekt der von ihr gelernten Gangart und anderer »Attribute« (wie Kleidung und ausgebeulter Schritt) ist: Erst eine »innerliche« Überzeugung (einen selbst255
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verständlichen Anspruch auf Raum und Macht zu haben?) macht ihr zufolge die Darstellung glaubwürdig und wirksam. In der Beschreibung dessen, wie sich diese innere Überzeugung äußert, verweist Katrin jedoch wiederum auf eine Darstellungsleistung: Entscheidend sei die Weise des Guckens – ob der Blick »unsicher« wirkt oder »bedeutungsvoll« in die »Weite« gerichtet wird. Katrin erlebt in ihrem Experiment sozusagen ›am eigenen Leib‹ die Verschränkung zwischen männlich codierten Bewegungsweisen, einer als »innerlich« empfundenen Überzeugung oder eines Macht-Anspruchs und dessen körperlichem Ausdruck sowie den körperlichen (nämlich ausweichenden, Platz einräumenden) Reaktionen begegnender Menschen. Eine reflexive Distanz zu den alltäglichen geschlechtlichen Darstellungsleistungen bei gleichzeitigem Eingelassensein in dieselben wird auch für Klaus im Zuge seines Kinging zur Gewohnheit: »Was grad auch ’ne Entwicklung ist, dass ich natürlich in der U-Bahn auch manchmal versuche zu passen, auch ohne Bart, und dass ich auch so übe, also ich merke, dass ich im Alltag übe, irgendwelche Sachen -, mich anders zu verhalten, also Gesten zu machen oder mich anders zu bewegen oder so. Grade heute -, das ist echt so: ertappt [lacht], bin ich hinter so ’nem Pärchen hinterher gelaufen, ’n Hetero-Pärchen, und hab’ mir die beiden angeguckt und dachte so: Hm, okay, das ist der Typ, das ist die Frau – woher weiß ich das jetzt? Okay, Base-Cap, Bomberjacke, weiß nicht, Klamotten halt angeguckt, dann wie bewegen die sich so. Dann kenn’ ich halt die Theorie: Männer laufen aus ’m Schultergürtel heraus, Frauen aus der Hüfte heraus. Geguckt, hm, könnte sein. Versucht, so zu laufen wie er, versucht, so zu laufen wie sie. Und das mit ihr hab’ ich gleich gelassen [lacht] dann wieder, weil ich’s einfach total -, das war so tippeln, total unangenehm, also mit Handtäschchen, und das geht gar nicht, wenn man nicht das Zubehör hat, auch die hohen Schuhe und so. Und aus der Hüfte laufen gelingt mir auch nicht so richtig. Ja, und dann frag’ ich mich immer so: Okay, wie werde ich jetzt wahrgenommen, also Mütze, und Jacke bis hierher, so, was sieht man da von mir und wie werde ich wahrgenommen, das würd’ ich manchmal einfach gern wissen wollen.« (Int. 15)
Zum Zwecke seines ›Übens‹ anderer Bewegungsweisen und Gesten beobachtet Klaus nicht nur andere Passant_innen, sondern gewissermaßen auch sich selbst als Beobachter_in: Wie kommt es, dass er andere spontan als (zwei-)geschlechtlich bestimmte Personen wahrnimmt? (»Hm, okay, das ist der Typ, das ist die Frau – woher weiß ich das jetzt?«) Die Prozesse des doing gender, die in der Darstellung der anderen und in seiner eigenen Wahrnehmungsweise dessen weiterhin ablaufen, verschwinden unter seinem Kings-Blick nicht in einem naturalisierten Ergebnis, sondern werden als solche sichtbar und reflektiert. Diese Ent256
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selbstverständlichung der zweigeschlechtlichen Wahrnehmung erfolgt sozusagen in beide Richtungen. Erklärungsbedürftig wird ihm einerseits seine Gewissheit über das Geschlecht der anderen und fraglich andererseits, wie er/sie selbst von anderen wahrgenommen wird. Was Klaus wissen kann, ist lediglich, dass er/sie (auf der Straße, d.h. in einem Kontext, wo eine zweigeschlechtlich strukturierte Wahrnehmungsweise erwartbar ist) aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin entweder als Mann oder als Frau gesehen wird, nicht aber, (wann) als was von beidem.38 Klaus verändert in diesem alltäglichen Tun auch seinen eigenen körperlichen Stil, behält bzw. entwickelt aber eine reflexive Distanz sowohl dazu als auch zu den geschlechtlichen Darstellungen anderer. Praktische Routinen von Bewegungs- und Wahrnehmungsweisen werden dadurch reflexiv aufgebrochen. Diese veränderte Haltung zum täglichen doing gender wird aber ihrerseits zu einer inkorporierten Gewohnheit: Klaus beschließt nicht jedes Mal bewusst, zu ›üben‹ und zu beobachten, sondern er »merkt«, dass er »übt« und »ertappt« sich dabei, ein »HeteroPärchen« zu beobachten. Die reflexive Distanz ist gewissermaßen keine rein kognitive, sondern ist eingelassen in das praktisch-körperliche Tun, in Bewegungsweisen, Wahrnehmungen und Begegnungen (für die die Entselbstverständlichung des Geschlechts aller Beteiligten konstitutiv wird). Etwas paradox könnte man also formulieren, dass hier die Entselbstverständlichung der Zweigeschlechtlichkeit als eine Selbstverständlichkeit routinisiert und habitualisiert wird: als ein veränderter ›praktischer Sinn‹, ein veränderter Habitus, mit dem andere Bezugnahmen auf sich selbst und auf die umgebende Welt einhergehen. Die Herausbildung eines ›praktischen Sinns‹ oder Habitus, in dem die (heteronormative) Zweigeschlechtlichkeit entselbstverständlicht und als Effekt von Darstellungs- und Wahrnehmungsleistungen begreifbar wird, beschränkt sich jedoch nicht auf eine reflexive Distanz zu dieser Wirklichkeit. Sie ist zugleich Bedingung der Möglichkeit, alternative geschlechtliche Verkörperungen zu entwickeln und als ›wirkliche‹ zu leben; Verkörperungen, die auf gesellschaftlich verfügbare Körperstile und deren geschlechtliche Bedeutungen zurückgreifen und die dennoch nicht als eindeutig männliche oder weibliche Verkörperungen oder als bloße Ableitungen oder Varianzen dessen erfahren werden. In der Herausbildung solcher Verkörperungen bzw. in deren Wirklichwerden verschränken sich intentionale Strategien und ungeplante 38 Diesen Schwebezustand – nie mit Sicherheit zu wissen, wer man (geschlechtlich) für unbekannte andere ist – teilt Klaus mit vielen anderen in die Szene Involvierten. Ich komme darauf später zurück (vgl. Kapitel IV.2). 257
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fekte. So kann auch ein zunächst bewusst und planvoll angeeigneter körperlicher Stil sich im Zuge seiner Routinisierung gewissermaßen verselbstständigen und sich als eine leibliche Realität unwillkürlich äußern. Klaus etwa beschreibt eine Entwicklung seines Kinging, an deren fang für ihn das Absichtsvoll-Willkürliche im Vordergrund stand: »[A]nfangs dachte ich irgendwie: Ich verkleide mich, jetzt ist Show, Show-Time.« (Int. 15) Inzwischen, so Klaus, hat er jedoch zunehmend den Eindruck, »es kommt auch aus mir raus: Also ich laufe halt so, ich hab’ das geübt, oder mir fällt einfach aus dem Nichts heraus ’ne Geste ein, die extrem männlich wirkt« (Ebd.). Obgleich Klaus die Veränderungen eindeutig als Effekt eines ›Übens‹ begreift, fühlen sie sich nun als Ausdruck von etwas ›Innerem‹ an (»es kommt auch aus mir raus«) bzw. als unwillkürliche körperliche Äußerungen (»aus dem Nichts heraus«). ›Etwas‹ (das »männlich wirkt«, von Klaus aber nicht als Gefühl des Mannseins interpretiert wird) drängt sich ihm unmittelbar auf und entzieht sich damit ein Stück weit seiner Kontrolle, so dass er sein Tun nicht länger als ›Verkleidung‹ oder »Show« erlebt. Ähnlich beobachtet Franka/ Micha, dass sich ihre unwillkürlichen Körperhaltungen durch das Kinging verändert haben, etwa, dass sie sich eine »breitere« Sitzhaltung angewöhnt hat. Dieses für sich genommen unbedeutende Detail führt sie als Teil der Erklärung dafür an, warum ihre Drag King-Persona »Micha« in ihrem Erleben eine Wandlung von einer »Rolle« hin zu einem »Teil von mir« erfährt (Int. 5): Indem sich der körperliche Stil »Michas« habitualisiert, erlangt »Micha« offenbar eine leibliche Wirklichkeit, von der »Franka« sich nicht vollständig distanzieren kann.39 In Butlers Worten 39 In ihren Reflexionen über Beschreibungen von Drag King-Workshops betont auch Paula-Irene Villa, dass durch das Engagement in den dort eingeübten körperlichen Praxen die Möglichkeit, »›plötzlich‹ ein Mann sein« zu können, tatsächlich leiblich spürbar und damit auch wirklich werde – eine Erfahrung, die zum Ausgangspunkt werden könne, »die soziale Konstruiertheit der Geschlechterdifferenz« zu hinterfragen (Villa 2001: 175). Es bleibt jedoch unklar, wie sie dieses Ergebnis ins Verhältnis setzt zu einer zentralen These ihres Aufsatzes. Villa plädiert dafür, »Natur« zwar als durch und durch gesellschaftlich hervorgebracht zu fassen, den Begriff jedoch als analytische Kategorie beizubehalten, um damit das leibliche Spüren von etwas als ›unmittelbar‹ und ›eigentlich‹ erfassen zu können: »So wird das eigene Geschlecht als authentisches, eigentliches gespürt. Ohne dieses Spüren gibt es keine Authentizität und keine Verankerung im Geschlecht. Das, was tief und unmittelbar gespürt wird, ist die Natur des Geschlechts.« (Ebd.: 174; Herv. U.S.) Die von ihr selbst angedeutete Möglichkeit (als beobachtbarer Effekt gelebter sozialer Praxen), etwas als ›unmittelbar‹ und ›eigentlich‹ zu erfahren, ohne es deshalb als ›Natur‹ begreifen zu müssen, bleibt so aus ihrer eigenen Konzeption von ›Geschlecht‹ letztlich ausgeschlossen. Zudem scheint mir Villa die Wirkmächtigkeit einer einmaligen Teilnahme an einem Drag King-Workshop 258
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könnte man sagen, dass die (bereits sedimentierte geschlechtliche Stile zitierende) Darstellung performativ ist in dem Sinne, dass sie ›etwas‹ als etwas ›Inneres‹ bzw. als Bestandteil eines ›Ich‹ hervorbringt (nicht aber voraussetzt). Und über Butler hinausgehend ließe sich präzisieren, dass dieser Effekt offenbar die Erfahrung von etwas als ›wirklich‹ impliziert – und zwar trotz der Einsicht in den vorangegangenen Prozess des ›Übens‹. Die genannten Beispiele zeigen zudem, dass es nicht der einmalige Akt der Darstellung ist, der diesen Eindruck von etwas Innerem und von Wirklichkeit (im Gegensatz zur Erfahrung der Handlung als ›Verkleidung‹, »Show« oder »Rolle«) erzeugt:40 Erst durch Routinisierung und Habitualisierung entsteht dieser Eindruck. Und die Möglichkeit der Routinisierung einer solchen Praxis hängt offenbar damit zusammen, dass es sich dabei nicht lediglich um einen spontanen, individuellen Einfall handelt, sondern um eine kollektive, in einem geteilten Sinnhorizont (d.h. im Kontext des Kinging) als sinnhaft entwickelte Praxis. Während Franka/Micha und Klaus sich zunächst eher neugierig-interessiert auf das Kinging einlassen und selbst überrascht sind von den als ›wirklich‹ empfundenen Veränderungen ihres geschlechtlichen Seins, bedeutet Kinging für andere von Anfang an stärker eine auch affektive, mit lang gehegten Körperwünschen und Identifizierungen verbundene Investition in eine spezifische geschlechtliche Verkörperung. So formuliert etwa Niko: »Drag Kinging ist für mich eine Möglichkeit, zu gucken, wie weit ich mit meiner Männlichkeit gehen will, vor allem körperlich. Also ich will nicht wirklich -, ich mach’ mich gern über Männer lustig, ich will nicht wirklich ein Mann sein. […] Also ich hab’ Spaß am Drag Kinging wegen der Gelegenheit, Männer lächerlich zu machen, aber die körperliche Seite -, also, ich schau mir gerne Männerkörper an, ich mag die Männlichkeit meines eigenen Körpers sehr, und so ist es für mich auch eine Möglichkeit, mich damit gut zu fühlen und mich da rein zu geben, ohne mich dafür zu schämen, und mit Leuten zusammen zu sein, die das schätzen.« (Int. 11)
Niko erlebt Kinging als eine Gelegenheit, in die »Männlichkeit« seines Körpers zu investieren und sich zugleich vom ›Mannsein‹ zu distanzu überschätzen. Meine eigene Analyse legt, wie gezeigt, nahe, dass erst eine Routinisierung bestimmter geschlechtlicher Praxen den von Villa behaupteten Effekt der leiblichen Erfahrung eines anderen geschlechtlichen ›Seins‹ (im Unterschied z.B. zu einer ›Rolle‹) zu konstituieren vermag. 40 Die Bedeutung der unterschiedlichen Erfahrungsweisen von ›etwas‹ als »Rolle«/»Show« oder als ›Wirklichkeit‹ wird im nächsten Kapitel (III.3) ausführlich Thema sein. 259
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zieren: Die Lust an dieser Praxis besteht gleichermaßen darin, »Männer lächerlich zu machen« und vorzuführen, und im Genuss der eigenen als männlich verstandenen Körperlichkeit. Nicht zufällig geschieht beides in der gleichen Bewegung. Die reflexive, auch parodistische Distanz zu einer hegemonialen, naturalisierten, an die Position (fraglosen) Mannseins gebundenen Männlichkeit, die im Kinging angelegt ist, ermöglicht erst die Investition in eine Verkörperung als einer ›männlichen‹, ohne dies mit einem Ausdruck von Mannsein oder dem Wunsch danach zusammenfallen zu lassen. Für Niko zumindest verbindet sich mit dem Kinging derart die Möglichkeit, ›etwas‹ zu leben und (im Horizont der Szene) sichtbar zu machen, das, wenngleich als ›männlich‹ bezeichnet und auf der Investition in männlich codierte Körperstile basierend, nicht rückgebunden wird an eine Verkörperung von Mannsein oder Frausein. Diese Möglichkeit, das macht Niko deutlich, liegt nicht allein in einer Darstellungsleistung begründet, sondern auch in dem Kontext, in dem sie stattfindet. »[M]it Leuten zusammen zu sein, die das schätzen« – die die Spezifizität der inszenierten Verkörperung erfassen und (auch erotisch) wertschätzen können, die also zu einem »produktiven Blick« fähig sind und/oder einen alternativen gaze teilen – ist konstitutiver Bestandteil der Praxis selbst.41
41 Eine solche Gleichzeitigkeit der Investition in gesellschaftlich verfügbare und als ›männlich‹ konstituierte Weisen der Verkörperung und der Distanzierung von der dadurch üblicherweise konstituierten Position (des Mannseins) wurde im vorangegangenen Kapitel (III.1) bereits näher ausgelotet und mit Muñoz als disidentification charakterisiert. Insbesondere das ›Kurzporträt‹ von Tam zeigt, dass eine derartige Distanzierung von der Position des Mannseins auch von einigen derjenigen artikuliert wird, die, anders als Niko, für ihre Investition in eine männlich codierte Verkörperung auch auf medizinische Technologien zurückgreifen. Die praktische Erfahrung des Kinging konstituiert auch für Tam eine Haltung oder einen Habitus, der geprägt ist von der Einsicht in die Kontingenz der durch bestimmte Darstellungsleistungen und Körperformen konstituierten geschlechtlichen Positionen (ein »Bewusstsein dafür, dass die männliche Äußerung oder die männliche Darstellung eben nur ’ne Darstellung ist und kein Ich oder sonst irgendwas«; s.o.); ein Habitus, in dem ein »Ich« sich zwar nicht rein instrumentell zu beziehen vermag auf verfügbare geschlechtliche Bedeutungen, sondern durch seine Wünsche darein verstrickt ist, jedoch dennoch nicht aufgeht in einer zweigeschlechtlich bestimmbaren Position. 260
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2.5 »Subtile Männlichkeitswettbewerbe«: Alternative Normen Die durch das Kinging betriebene praktische Entselbstverständlichung der zweigeschlechtlichen Strukturierung der Welt konstituiert, so wurde gezeigt, keine Position, die radikal ›außerhalb‹ dieser Strukturierung liegen würde. Durch Praxen des Kinging wird auch in geschlechtliche Verkörperungen investiert, und es kommen darin Körperwünsche und Identifizierungen zum Tragen, die durch (zwei-)geschlechtliche gesellschaftliche Codierungen mitbestimmt sind. Dies gilt insbesondere für männlich codierte Körperstile. Inwieweit diese tatsächlich als Männliche angeeignet werden oder aber im Prozess der Aneignung eine Umdeutung stattfindet, in der die Bezeichnung von etwas (von bestimmten Körperformen, Bewegungsweisen, Gesten etc.) als männlich zurückgewiesen wird, variiert bzw. bleibt oftmals schillernd. Außer Frage steht jedoch, dass in diesen Prozessen der Aneignung bzw. Investition häufig auch ein Begehren nach ›Männlichkeit‹ wirksam wird – dass Körperformen und -stile teilweise auch angeeignet und affektiv besetzt werden, gerade weil sie innerhalb der gegenwärtigen symbolisch-sozialen geschlechtlichen Ordnung als männlich konstituiert sind. Dennoch bzw. zugleich bleibt Kinging, wenn es im Horizont der Szene betrieben wird, eine Praxis des Anti-Passing, wie bereits im vorangegangenen Kapitel (III.1) gezeigt wurde: Als solches (als Kinging) praktiziert und wahrgenommen, konstituiert die Praxis kein Durchgehen als (naturalisierter) Mann, weil die spezifischen Praktiken der geschlechtlichen Inszenierung für diejenigen, die darum ›wissen‹, als solche erkennbar bleiben. In der gleichen Geste, in der ›Männlichkeit‹ hergestellt und in Anspruch genommen wird, wird sie daher denaturalisiert und von der Position (hegemonialen) Mannseins gelöst. Der dadurch sich eröffnende Raum zum Ausloten von ›männlichen‹ Stilen, Praxen und Verkörperungen, ohne dadurch notwendig ›Mannsein‹ darzustellen, wird wesentlich getragen von einer innerhalb der Szene geteilten Wertschätzung für derlei Verkörperungen. Gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung von Abwertung und Scham, die die Auseinandersetzung vieler mit eigenen Körperwünschen in anderen Kontexten prägte, ist dies für manche ein einschneidendes Erlebnis: ›so sein‹ zu können und darin anerkannt, begehrt, gar bewundert und gefeiert zu werden. Dass hier andere als die ›üblichen‹ Kriterien gelten dafür, welche Verkörperungen als schön, als attraktiv, als erstrebenswert und bewunderungswürdig gelten, verweist neben der kritischen Funktion dessen auch auf eine normative Dimension. Der sich hier herausbildende alter261
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native gaze, der ander/e/s wahrzunehmen ermöglicht, bringt als ein ›Blickregime‹ möglicherweise alternative Normen zur Wirkung. In einer grundsätzlichen Weise hat Judith Butler das Verhältnis zwischen der Anfechtung hegemonialer Normen und der Entwicklung alternativer Normen wie folgt formuliert: »Indeed, the capacity to develop a critical relation to these norms presupposes a distance to them, an ability to suspend or defer the need for them, even as there is a desire for norms that might let one live. The critical relation depends as well on a capacity, invariably collective, to articulate an alternative, minority version of sustaining norms or ideals that enable me to act.« (Butler 2004: 3)
Praxen des Kinging stellen unbestreitbar eine solche ›kritische Distanz‹ zu hegemonialen Normen geschlechtlicher Verkörperung her. Zurückgewiesen und ausgesetzt wird die normative Anforderung, Begehren, Geschlechtsausdruck, geschlechtliche Identifizierung und als biologisch bestimmtes Körpergeschlecht miteinander in Einklang zu bringen, und auch, auf jeder dieser Ebenen eine Eindeutigkeit her- oder darzustellen. Die Investition in Körperlichkeiten, die weder als eindeutig männlich noch als eindeutig weiblich charakterisiert werden können, ist jedoch ihrerseits angewiesen zumindest auf die Möglichkeit anerkennender Wertschätzung. Dass (und welche) Kings-Verkörperungen gefeiert, bewundert, geliebt und begehrt werden, beruht unweigerlich auf der (kollektiven) Entwicklung und Artikulation alternativer Maßstäbe dessen, was als schön, als sexuell attraktiv, als erstrebenswert gilt, und so gibt es auch in der Drag King-Szene bewunderte Stars und Mauerblümchen. Allerdings sind solche alternativen Normen zumindest zum Zeitpunkt meiner Forschung, zu dem ›die‹ Szene noch in einer Phase der Entwicklung und ständigen Veränderung begriffen ist, nicht statisch und vollständig routinisiert, sondern sowohl expliziten als auch impliziten Aushandlungen und Anfechtungen ausgesetzt. Einige solcher Aushandlungen sollen nun näher betrachtet werden. Für Till wie für viele andere führt der Weg in die Drag King-Szene über ein Unbehagen an als normativ empfundenen Tendenzen in anderen Kontexten. Till erzählt von seinen sporadischen Besuchen bei einem Transmann-Stammtisch: »[D]a mussten dann alle ihre Brüste abgebunden -, so, also das ist überhaupt nicht mein Ding, ich mag so was nicht, das will ich nicht, ne. Entweder man akzeptiert mich so, wie ich halt jetzt bin, oder man lässt es einfach. Und das
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hat mir halt einfach nicht gefallen, dass -, du sollst Hormone nehmen, so schnell wie möglich ’ne Operation haben und dich so schnell wie möglich anpassen, diese komischen Passing-Kurse da, wie beweg’ ich mich am besten als Mann oder so, das wollte ich alles nicht machen, das war einfach nicht mein Ding.« (Int. 7)
»Nicht [s]ein Ding« sind weniger die hier benannten Körperpraxen und -techniken als solche als vielmehr sein Eindruck, dass sie in der von ihm besuchten Gruppe als Voraussetzung für Zugehörigkeit vorgeschrieben werden. Erste Kontakte mit der zu diesem Zeitpunkt gerade im Entstehen begriffenen Drag King-Szene wecken in ihm die Hoffnung, dass es dort anders zugeht: »Vielleicht sind die eher so drauf, dass die mich einfach lassen, dass ich nichts machen muss, so. Und so war’s dann auch. [...] Dadurch, dass ich mir halt die Freiheit dann genommen hab’ oder mir die Freiheit auch in der King-Szene so gegeben wurde, hab’ ich natürlich schon überlegt: Wie will ich denn mein Leben jetzt eigentlich gestalten. Und hab’ dann schon auch angefangen, Hormone zu nehmen. Und das war okay.« (Ebd.)
Die »Freiheit«, sein Leben nach eigenem Ermessen »gestalten« und Entscheidungen für bestimmte körperliche Veränderungen treffen zu können, liegt für Till offensichtlich nicht nur in der Abwesenheit normativer Vorgaben. Positiv formulierend präzisiert er, dass diese Freiheit ihm in der Szene »gegeben« wurde. Dies scheint auf eine aktive AntiNormativität zu verweisen, die über eine gleichgültige Haltung gegenüber den ›privaten‹ Entscheidungen Einzelner hinausgeht. Till erlebt den derart geprägten Kontext als eine Form der Unterstützung, die es ihm erst ermöglicht, sich zu sich und seinen Körperwünschen auf eine Weise ins Verhältnis zu setzen, die für ihn stimmige Entscheidungen generiert (»und das war okay«).42 Gerade aus dieser Erfahrung heraus grenzt Till sich dezidiert von bestimmten Tendenzen bzw. Zirkeln innerhalb der Drag King-Szene ab, die seiner Einschätzung nach Techniken zu vermitteln suchen, die einen ›richtigen‹ King ausmachen: »Das ist mir dann schon wieder zu konform, ja: Was zieht ein King an, wie bewegt sich ein King und was hat ein King in der Hose und so, so ’ne Sachen, 42 Allerdings bleibt diese Freiheit selbstverständlich eine relative. Die Entscheidungen, die Till treffen kann, bewegen sich im Rahmen verfügbarer Optionen und der damit verbundenen Regulierungen. So berichtet Till im Interview etwa ausführlich von den Anstrengungen und Belastungen, die das Begutachtungsverfahren im Vorfeld der Mastektomie, die er demnächst durchführen lassen möchte, für ihn bedeutete. 263
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
ich mein’, das ist doch jedem seine Sache, was er machen möchte. Ich möchte keine Anleitung geben für was zu tun ist.« (Ebd.)
Dass die in der Szene geteilte Wertschätzung von ›Kings-Männlichkeit‹ normative und damit auch einschränkende Züge annehmen kann, äußert auch Moritz G. (sprich: G-Punkt), Performer_in bei den Kingz of Berlin, einem Text von Malte Göbel zufolge: »Es gibt unter Drag Kings auch subtile Männlichkeitswettbewerbe, hinter der Bühne und wenn man übereinander redet. Die sind mir inzwischen gänzlich egal. ›Du tanzt immer noch wie ein Mädchen, Moritz!‹ – da kann mir heute keiner mehr was. Das hat mir mal wehgetan, weil ich das nicht wollte, aber jetzt ist es mir egal. Es war mein Versuch, männlich zu wirken, der damals gescheitert ist – das fand ich zu der Zeit nicht unbedingt lustig, aber heute fände ich es sehr komisch.« (Moritz G. in Göbel 2007: 138)
Moritz G. spricht von szene-internen »Männlichkeitswettbewerben«, in denen auch gesellschaftlich gängige Abwertungen etwa von ›mädchenhaftem‹ Verhalten mobilisiert und eingesetzt werden. Vor dem Hintergrund eigener Wünsche, ›so‹ nicht sein oder rüberkommen zu wollen, empfindet Moritz G. das zunächst als verletzend. Inzwischen ist es ihm jedoch »gänzlich egal« – bzw. mehr als das: Sein Scheitern in dem »Versuch, männlich zu wirken«, damals eine Quelle der Beschämung, fände er heute »sehr komisch«. Moritz G. setzt die Möglichkeit, auch über die eigene affektive Verstrickung in geschlechtliche Normen und über das damit verbundene Scheitern lachen zu können, den von ihm beobachteten normativen Tendenzen der Szene entgegen. Damit zeigt er jedoch zugleich ein der Szene bzw. den mit ihr verbundenen Praxen inhärentes Potential auf. Die selbstironische Wendung auf die eigene Investition in ›Männlichkeit‹ blitzt sowohl in den Interviews als auch in Performances und Szene-Publikationen immer wieder auf (wie in Kapitel II.3 gezeigt wurde). Ein solcher ironischer Umgang mit eigenen Wünschen schafft eine Distanz zu den Körpernormen, die ebendiese regulieren, ohne sie vollständig außer Kraft zu setzen oder sie zu verleugnen. Ihre Stärke gewinnt diese (selbst-)ironische Distanzierung gerade vor dem Hintergrund der besonderen Verletzlichkeit der hier inszenierten und affektiv besetzten Körperlichkeiten, die nicht sanktioniert sind von den Normen, die Geschlecht gegenwärtig hegemonial regulieren und hervorbringen; ein Umstand, der in allen Interviews biographische Phasen und Erlebnisse von fundamentaler Verunsicherung, von körperlichem Unbehagen, oft auch von Schamgefühlen und Ängsten erkennen lässt. Angesichts dessen ist eine Praxis, die nicht lediglich auf 264
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
eine gemäß alternativen Standards als attraktiv geltende Verkörperung zielt, sondern das Scheitern an Idealen und die eigene Verletzlichkeit selbst zur Aufführung bringt, auch riskant: Ob sie ein geteiltes, befreiendes Lachen hervorruft oder aber den/die Performer_in der Peinlichkeit und Lächerlichkeit preisgibt, ist nicht im Vorhinein sicher. Gerade in diesem Risiko liegt jedoch die Chance, mehr und anderes zu ermöglichen als eine wiederum normativ wirkende alternative Selbst-Gewissheit. Kinging, so ein Ergebnis dieser Ausführungen, ist weder per se eine solche ständige Anfechtung von Normativität noch eine Praxis, die notwendig Gegen-Normen etabliert und festschreibt. Beobachten lassen sich sowohl Routinisierungen und Selbstverständlichungen bestimmter Körperstile und -praxen als auch – immer wieder – performative Akte an den Grenzen garantierter Legitimität, die diese Grenzen in Frage zu stellen oder zu verschieben vermögen. Von einer solchen riskanten, potentiell grenzverschiebenden Praxis berichtet etwa Felix aus der Anfangszeit hiesiger Drag King-Performances. Er schildert seine anfänglichen Bedenken, mit sichtbaren, nicht-abgebundenen Brüsten als »Kerl« auf die Bühne zu gehen, und beschreibt, was es bedeuten und bewirken kann, dies dennoch zu tun: »Am Anfang fand ich das wichtig, dass es abgebunden ist, dass es einfach klar ist, wir wollen Kerle darstellen und Kerle haben einfach keinen Brustansatz, und mittlerweile sag’ ich mir, es kommt drauf an. […] [Wenn man nicht abbindet,] dann sehen auch alle anderen Leute, dass es halt nicht nur wichtig ist, was du nach außen zeigst, sondern dass es wichtig ist, wie du dich selber fühlst. Und wenn du dich mit deinem Körper so gut fühlst, dann können dir die andern gestohlen bleiben […]. Wenn du dich selber wohlfühlst und einfach auch siehst, es gibt andere Leute, die im Zweifel noch mehr haben oder genauso viel, dann kannst du damit auch ganz anders umgehen und bist einfach positiv bestärkt, dass jemand auf der Bühne ist und [das] zeigt.« (Int. 10)
Felix hat zum Zeitpunkt des Interviews bei seiner Arbeitsstelle durchgesetzt, als ›Herr Marth‹ geführt und adressiert zu werden, hat die gesetzliche Vornamensänderung beantragt und befindet sich in einem für ihn sehr anstrengenden inneren Konflikt, ob er sich für medizinische Maßnahmen der Körperveränderung entscheiden soll oder dagegen. Für solche Maßnahmen spricht für ihn weniger ein Unbehagen an seiner eigenen Körperlichkeit als die Tatsache, dass die hegemoniale Wahrnehmung seines Körpers seinen Anspruch auf ein Anerkanntwerden als Mann konterkariert, was ihm einen extrem anstrengenden Alltag beschert. Was die nicht-abgebundenen, sichtbaren Brüste dagegen im Kontext einer Drag King-Performance signalisieren können, beschreibt Felix
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GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
mit einer geradezu paradox anmutenden Formulierung: Die Leute können »sehen, dass es nicht nur wichtig ist, was du nach außen zeigst, sondern dass es wichtig ist, wie du dich selber fühlst«. Wie kann man etwas zeigen, um zu zeigen, dass es nicht wichtig ist, was man zeigt? Was Felix mit seiner Performance zu zeigen hofft, sind nicht allein ›Brüste‹ in ihrer hegemonialen Bedeutung, sondern zugleich, »wie du dich selber fühlst«, was, wenn es gelingt, die hegemoniale Bedeutung konterkariert oder aussetzt. In seinem ›Fühlen‹ sind die Brüste nicht weiblich besetzt; bzw. die Körperzonen, von denen die Rede ist, sind bei genauerem Hinsehen nicht einmal als ›Brüste‹ besetzt: Felix bezieht sich sprachlich darauf hier mit »es« bzw. spricht davon, dass andere Leute »noch mehr« haben. Die Ermächtigung, die diese Inszenierung von Körperlichkeit für Felix ganz offensichtlich bedeutet, scheint jedoch vor allem in der selbstbewussten Geste selbst zu liegen, mit der er sich der Möglichkeit einer hegemonialen und für ihn verletzenden Lesart aussetzt und zugleich eine eigene Stärke und Unabhängigkeit gegenüber dieser Lesart signalisiert: »[W]enn du dich mit deinem Körper so gut fühlst« – und dies in der Performance offensichtlich auch vermitteln kannst – »dann können dir die andern gestohlen bleiben«. Mit einer selbstbewussten Geste fordert Felix für seine spezifische geschlechtliche Verkörperung einen eigenen Sinn, eine eigene Integrität und Wirklichkeit ein und ist sich zugleich des damit verbundenen Risikos verkennender und verletzender Lesweisen des Publikums bewusst. Ein Risiko, das lohnend scheint, weil darin eine Ermutigung anderer liegen kann, so wie er selbst auch durch das Beispiel anderer, »die im Zweifel noch mehr haben« und ›damit‹ ebenfalls auf die Bühne gehen, »positiv bestärkt« wird. Was im kollektiven Kontext des Kinging offensichtlich gelingt,43 bleibt im Alltag außerhalb der Szene jedoch schwierig – inwieweit ihm »die anderen« auch hier und auf Dauer mit ihrer für ihn verletzenden Wahrnehmungsweise »gestohlen bleiben« können, ist für Felix noch nicht ausgemacht. Ähnlich geht es Till: Er bindet sich bei seinen Shows »grundsätzlich nicht ab« (Int. 7) und hat damit normalerweise im Kontext der Kings-Show auch keine Probleme. Dennoch geht auch er dabei ein Risiko ein. Manchmal, sagt er, »hat man halt auch so Tage, da möchte man sich nicht so zur Schau stellen, da ist es einem irgendwie zuviel, auf der Bühne zu stehen und [2] so als Wesen gesehen zu werden«. Exotisierende und stigmatisierende Blicke, die Till aufgrund seiner Körperlichkeit auf ein (seltsames?) »Wesen« reduzieren und die sich
43 Sich mit nicht-abgebundenen Brüsten in männlich konnotierten Performances zu engagieren, ist im Kontext der Drag-King-Szene mittlerweile sowohl auf als auch jenseits der ›Bühne‹ eine weit verbreitete Praxis. 266
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
auch im Szene-Kontext nicht vollständig vermeiden lassen, sind ihm in seinem Alltag inzwischen unerträglich geworden: Da er durch die Testosteron-induzierten Veränderungen seines Körpers mittlerweile so gut wie immer als Mann durchgeht, sind solche Blicke ihm beinahe sicher, wenn er seine Brüste nicht abbindet. Deshalb hat er sich, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, zum Zeitpunkt des Interviews für eine demnächst durchzuführende Brust-OP entschieden. »Es hat nichts damit zu tun, dass ich meinen Busen hasse, aber man muss immer gucken, wie kann man leben, das ist das Problem. Weil die Gesellschaft verlangt nun mal von uns gewisse Normen ab, und irgendwo füg’ ich mich da auch ein.« (Ebd.) Damit sind auch Grenzen der Lebbarkeit von einigen der Verkörperungen benannt, die in und durch Praxen des Kinging entworfen, ausgelotet, vorangetrieben, ermutigt, erkämpft oder unterstützt werden; oder, um es mit Tino weniger pathetisch zu formulieren: Verkörperungen, die sich nicht als eindeutig weiblich oder eindeutig männlich wahrnehmen lassen, werden außerhalb von Szene-Kontexten eine »Form von Aufmerksamkeit« (s.o.) hervorrufen, mit der umzugehen seinen Preis hat.44
2.6 Körperstile, geschlechtliche Selbst- und Weltverhältnisse: Ein Fazit Kinging, so wurde in diesem Kapitel deutlich, impliziert eine auch absichtsvolle Bearbeitung geschlechtlicher Körperstile. Im Entwickeln von Bühnenperformances, in Drag King-Workshops, aber auch im alltäglichen Tun werden unterschiedliche Bewegungsweisen, Körperhaltungen und Gesten beobachtet, reflektiert, ausgelotet, erprobt – und zum Teil auch habitualisiert. Dies lediglich als eine Aneignung bzw. Inkorporierung von ›Männlichkeit‹ und als ein ›Ablegen‹ weiblich codierter Stile zu begreifen, greift aus mehreren Gründen zu kurz. Die in und durch diese Praxis aufgerufenen und in den Interviews artikulierten Erinnerungen verweisen darauf, dass lebensgeschichtliche Prozesse des Einübens geschlechtlicher Körperstile nicht unbedingt widerspruchsfrei und kohärent verlaufen. Auch wenn diese Prozesse nach wie vor angereizt und strukturiert werden durch die Anforderung, eine im Sinne der Zweigeschlechtlichkeit eindeutige Verkörperung auszubilden und darzustellen, wird diese Anforderung insbesondere im kindlichen körperlichen Tun ständig unterlaufen. Dies zeigt sich nicht nur in den Verweisen auf ›typische‹ ›Tomboy-Kindheiten‹, sondern auch in der Selbstverständ-
44 Dies wird in Kapitel IV (insbesondere in IV.2) noch ausführlich Thema sein. 267
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
lichkeit, mit der viele der Interviewten sich eher sporadisch in ›jungenhaften‹ Tätigkeiten engagieren. Viele Schilderungen des Engagements in derart ›jungenhaft‹ codierten Tätigkeiten ließen erkennen, dass damit nach wie vor Assoziationen von Aktivität, Handlungsfähigkeit und Stärke verbunden sind, mit ›mädchenhaftem‹ Verhalten dagegen eher deren jeweiliges Gegenteil. Dies zeigte sich auch in Erzählungen derjenigen, die sich explizit in einem jungenhaften Selbstentwurf engagierten. Der Nexus zwischen der gesellschaftlichen Konstituierung von Tätigkeiten und Eigenschaften als männliche respektive weibliche und der damit einhergehenden hierarchisierenden Platzanweisungen einerseits, den identifikatorischen Investitionen in diese Tätigkeiten und Positionen andererseits kann als ein kausaler allerdings nur unzureichend gefasst werden. Zwar ist die Investition in einen jungenhaften Selbstentwurf gegenwärtig de facto unlöslich verknüpft mit dem Anspruch auf einen Platz in der Welt, der durch die oben angeführten Attribute und damit verbundene Macht charakterisiert ist. Diese Verknüpfung jedoch als ursächlich für den Selbstentwurf zu betrachten, ließe unerklärt, warum sich dennoch so viele ›Mädchen‹ und nicht wenige ›Jungen‹ in einem Selbstentwurf als Mädchen engagieren, und würde die (affektive) Investition in eine geschlechtliche Position als Resultat eines rein instrumentellen Interesses verkennen. Plausibel scheint mir jedoch die Annahme, dass die unterschiedliche gesellschaftliche Wertigkeit die Lebbarkeit gerade kindlicher geschlechtlicher Entwürfe entscheidend mitbestimmt: ›Jungenhaftes‹ Verhalten von ›Mädchen‹ wird sowohl von Gleichaltrigen als auch von Eltern und sonstigen Erziehenden in der Regel sehr viel eher toleriert oder gar gefördert, als ›mädchenhaftes‹ Verhalten von ›Jungen‹. Im Kontext sich wandelnder Geschlechternormen, in dem zunehmend auch ›Mädchen‹ dazu ermutigt werden, traditionell mit ›jungenhaften‹ Körperstilen assoziierte Eigenschaften und Fähigkeiten wie Mut, Durchsetzungsfähigkeit und Selbstbewusstsein auszubilden, bedeutet dies nicht notwendig einen Konflikt mit bestehenden Erwartungshaltungen.45 Dass sich die zweige45 Vgl. dazu auch Halberstam 1998: 6; Tervooren 2006: 68f.; beide Autor_innen weisen allerdings darauf hin, dass die relativ größere Toleranz gegenüber ›gegengeschlechtlichem‹ Verhalten von Mädchen mit dem Eintritt der Pubertät regelmäßig endet. Aus einer klinischen Perspektive, in der ›gegengeschlechtliches Verhalten‹ prinzipiell problematisiert und tendenziell pathologisiert wird, formuliert Peggy T. Cohen-Kettenis (1994) bezüglich eines ›Behandlungsprogramms‹ für sogenannte ›Geschlechtsidentitätsstörungen‹ im niederländischen Utrecht: »Die meisten Kinder, die wir in der klinischen Praxis sehen, sind Jungen. Dass uns so wenige Mädchen mit Störungen des Geschlechtsempfindens überwiesen werden, geht wahrscheinlich auf die in den meisten westlichen Gesellschaften 268
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
schlechtliche Strukturierung der Welt nicht bruchlos in geschlechtlich eindeutige und dichotome Habitus übersetzt, lässt sich daher möglicherweise nicht nur auf ein Fehlschlagen normierender Anrufungen (im Sinne Butlers) zurückführen, sondern auch auf widersprüchliche Transformationsprozesse der Geschlechterverhältnisse, aus denen heterogene und teils widersprüchliche Anforderungen und auch neue Freiräume resultieren. Von einer ›Desexuierung‹ körperlicher Stile und Tätigkeiten lässt sich ausgehend von der Interviewanalyse allerdings nicht sprechen: Die geschlechtliche Codierung unterschiedlicher körperlicher Tätigkeiten bleibt virulent, und auch einschränkende Ermahnungen treten weiterhin auf den Plan – insbesondere dann, wenn Körperstile sich in einer Weise verstetigen, die eine Verkörperung als Mädchen zu konterkarieren scheinen. Aufgrund unterschiedlicher lebensgeschichtlicher leiblicher ›Lernerfahrungen‹ sind die im Körpergedächtnis gespeicherten, inkorporierten motorischen Schemata nicht nur Hindernis, sondern teils auch Ressource für das Engagement in einer Körperlichkeit, die die Normen dessen, was gemäß dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht als adäquat gilt, überschreitet. Ein solches Engagement bilden viele der Interviewten nicht erst im Kontext der Drag King-Szene heraus. Mit der Erfahrung des Kinging verbindet sich aber vielfach eine spezifische Haltung zu Darstellungspraxen und der durch sie konstituierten Wirklichkeiten: Routinisierte Bewegungs-, aber auch Wahrnehmungsweisen werden reflexiv aufgebrochen, so dass die Prozesse der alltäglichen Herstellung von Zweigeschlechtlichkeit partiell sichtbar werden. Die Reflexion dieser Prozesse ist keine rein kognitive, sondern eine praktische; sie ist eingelassen in alltägliche Weisen der Wahrnehmung und Beobachtung und des Auslotens eigener Darstellungspraxen und deren Effekte. Insofern sich diese Form der praktischen Reflexion ihrerseits routinisiert und eine dauerhaft veränderte praktische Bezugnahme auf und Sicht der sozialen Welt konstituiert, lässt sich von einem veränderten »praktischen Sinn« und einem veränderten Habitus sprechen.
vorhandene Akzeptanz für tomboy-Verhalten zurück. Erst nach der Pubertät, wenn ihre männlichen Vorlieben nicht zu verschwinden scheinen, […] suchen sie psychiatrische Ambulanzen oder spezialisierte Gender-Kliniken auf.« (Ebd.: 232) Aus einer Perspektive, die nicht ›gegengeschlechtliche‹ Verhaltensweisen und Identifizierungen, sondern deren Pathologisierung problematisiert, lässt sich formulieren, dass ›Tomboys‹ offensichtlich bessere Chancen haben als ›Sissies‹ (d.h. ›mädchenhafte‹ Jungen), sich (zunächst) jenseits eines pathologisierenden Rahmens zu entwerfen. (Vgl. zu Geschichte und Gegenwart der Pathologisierung und klinischen Behandlung von ›Tomboy‹- und ›Sissy-Verhalten‹ kritisch Franzen 2007a.) 269
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Diese Veränderung des Habitus betrifft damit nicht lediglich seine vergeschlechtlichte, sondern auch seine vergeschlechtlichende Dimension. Dass die Ausbildung eines geschlechtlichen Habitus nicht allein darin besteht, ›Männlichkeit‹ oder ›Weiblichkeit‹ im Denken, Fühlen und Handeln zu verkörpern, sondern zugleich die gesellschaftliche Verfasstheit der Zweigeschlechtlichkeit als selbstverständliche und unhinterfragbare Tatsache gewissermaßen zu verleiblichen, wird in Anschlüssen an Bourdieu oft vernachlässigt: Es gibt hier eine Tendenz, geschlechtliche Habitus lediglich als geschlechtsspezifische zu fassen, d.h. die Frage nach der Habitualisierung von Geschlecht auf die Frage nach der Herausbildung eines ›männlichen‹ respektive ›weiblichen‹ Habitus zu beschränken. Der Aspekt der Aneignung und Reproduktion der gesellschaftlichen Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit selbst (als einer naturalisierten) wird häufig als selbstverständlich vorausgesetzt oder gar nicht adressiert.46 Um deutlich zu machen, dass Kinging nicht nur die Bearbeitung habitualisierter, geschlechtsspezifischer körperlicher Stile ermöglicht (was die Praxis allerdings auch tut), sondern auch eine Veränderung des geschlechtlichen Habitus im Sinne einer Transformation des »praktischen Sinns« bezüglich der Bedeutung von Geschlecht selbst bewirken kann, möchte ich von einem veränderten ›Habitus des Geschlechtseins‹ sprechen: Verändern kann sich durch diese Praxis die Art und Weise, wie ›Geschlechtsein‹ selbst gelebt, gedacht, verstanden und wahrgenommen wird und was dies praktisch bedeutet. Dieser veränderte ›Habitus des Geschlechtseins‹ betreibt eine Entselbstverständlichung der gesellschaftlich als Naturtatsache konstituierten Zweigeschlechtlichkeit, bricht dadurch die »doxische Erfahrung« auf und bewirkt eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Prozesse, die die zweigeschlechtliche Wirklichkeit
46 Diese Tendenz zeigt sich zum Teil auch darin, dass die vergeschlechtlichende Dimension des Habitus zwar zunächst im Anschluss an Bourdieu aufgerufen, dann aber vernachlässigt wird. Exemplarisch sei hier auf die Ausführungen von Beate Krais und Gunter Gebauer (2002) zu »Habitus und Geschlecht« verwiesen (ebd.: 48ff.). Die Autor_innen formulieren zunächst: »Eine vergeschlechtlichte Sicht der Welt lagert sich in unseren Habitus ein. So ist der Habitus zutiefst und unentrinnbar geprägt durch eine soziale Praxis der Klassifikation, die männlich und weiblich als polaren Gegensatz konstruiert; auf der anderen Seite zwingt der Habitus unserem Handeln die ständige Anwendung jener Klassifikation auf.« (Ebd.: 49) Diese Dimension wird in der Folge jedoch nicht mehr aufgegriffen und der geschlechtliche Habitus stattdessen explizit und durchgängig als »geschlechtsspezifischer« (ebd.: 49ff.), d.h. weiblicher respektive männlicher Habitus gefasst. 270
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
ständig hervorbringen oder aber fraglich werden lassen.47 Er konstituiert jedoch keine Position ›außerhalb‹ von Geschlecht, sondern ist vielmehr Bedingung der Möglichkeit der Herausbildung von Wahrnehmungsweisen, Praxen und Selbstverhältnissen, die nicht zweigeschlechtlich determiniert sind und daher eine andere geschlechtliche Wirklichkeit zumindest situativ und kontextuell zu konstituieren vermögen. Dass damit die Möglichkeit einhergeht, ein anderes Geschlechtsein als ›wirklich‹ zu erfahren (etwa im Gegensatz zu einer Erfahrung als ›Rolle‹ oder ›Verkleidung‹), wurde hier bereits angerissen und soll im folgenden Kapitel genauer analysiert werden.
3. Zwischen »Rolle« und »Leben«? Performance-Praxen und geschlechtliche Wirklichkeiten 3.1 Was Kinging ›ist‹: Eine Frage der Rahmung? »Am Anfang war es schon so, dass ich mir überlegt hab’ […], wie der Micha sein wird und wie ich den [2] mach’. Und hab’ mir auch überlegt, zum Beispiel, was der Micha, wenn ich wirklich nur der Micha bin, was der Micha zum Beispiel arbeitet, weil der muss ja irgendwas arbeiten oder so, oder was der macht, oder wo der herkommt, oder wie alt er ist. […] Also es ist so, dass ich am Anfang schon mehr gedacht hab’, es würde irgendwie so ’ne Rolle sein, aber inzwischen merke ich einfach, dass, ähm [3], dass der Micha eher schon irgendwie ein Teil von mir ist.« (Int. 5) »Und dann hat sich die Sache ja auch entwickelt, […] also dass -, auch verstärkt, dass es nicht nur irgendwie ’ne Rolle ist, sondern dass es einfach, ja, ein Leben eigentlich ist.« (Int. 10)
Franka/Micha und Felix sprechen hier über eine Entwicklung, eine Veränderung dessen, wie sie ihr Kinging erleben. Franka (oder Micha?) erzählt, wie sie »den Micha« zunächst als eine Figur entwirft, eine Persona mit eigener Biographie und mit bestimmten Eigenschaften; als eine
47 Damit soll selbstverständlich nicht nahegelegt werden, dass die Konstituierung eines alternativen ›Habitus des Geschlechtseins‹ ein ausschließliches Privileg von Praxen des Kinging wäre. Die knappe Erwähnung feministischer Praxen der Bearbeitung geschlechtlicher Körperstile in Kapitel III.2.2 ist nur einer von vielen möglichen Verweisen auf vergangene und gegenwärtige Praxen, die die »doxische Erfahrung« der hierarchisierenden Zweigeschlechtlichkeit aufbrechen und alternative Selbst- und Weltbezüge hervorbringen und verstetigen können. 271
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
»Rolle«, die ein davon unterschiedenes »Ich« aktiv und planvoll gestaltet (»…wie ich den mach’«). Später merkt sie, dass »der Micha« sozusagen seine Seinsweise verändert und von einer »Rolle« zu einem »Teil von mir« wird. Auch Felix benutzt den Begriff der »Rolle«, um davon das Ergebnis einer Entwicklung abzugrenzen, in der ›etwas‹ – »es« – zum »Leben« wird. Während Felix sich bald nach seinem ersten Kontakt zur Drag KingSzene an einer Performance-Gruppe beteiligt und seitdem regelmäßig als Drag King auf der Bühne steht, ist »Micha«, obwohl als »Rolle« entworfen, keine Bühnenfigur im engeren Sinne: Präsent ist er auf Partys, bei Drag King-Stammtischen, ab und an auch im öffentlichen Stadtraum oder im Freund_innenkreis. Ungeachtet dieses Unterschieds in der jeweiligen Praxis des Kinging unterscheiden beide in ähnlicher Weise zwischen verschiedenen Seinsebenen, auf denen Kinging sich für sie abspielen kann – eben als »Rolle« und/oder als »Teil von mir« bzw. als »Leben«. Mit Erving Goffman (1980) lassen sich die unterschiedlichen Seinsweisen, die hier geltend gemacht werden, als verschiedene Rahmungen beschreiben. Goffman entwickelt den Begriff des Rahmens zur Analyse dessen, was die Erfahrungsweise einer Situation organisiert: »Ich gehe davon aus, dass wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente […] nenne ich ›Rahmen‹. Das ist meine Definition von ›Rahmen‹. Mein Ausdruck ›RahmenAnalyse‹ ist eine Kurzformel für die entsprechende Analyse der Organisation von Erfahrung.« (Ebd.: 19)
Rahmen sind nach Goffman »Interpretationsschemata« (ebd.: 31); sie sind durch soziale Organisationsprinzipien und Konventionen gestützte Definitionen von Situationen, die deren Verstehen erst ermöglichen (im Sinne der Beantwortung der Frage: »Was geht hier eigentlich vor?«; vgl. ebd.: 16). Goffman unterscheidet zwischen zwei großen Klassen von Rahmen, den primären und den durch Modulation transformierten Rahmen. Die Alltagserfahrung wird weitgehend (wenn auch nicht ausschließlich) durch »primäre Rahmen« organisiert. Primäre Rahmen sind solche, ohne die ein Ereignis gar nicht als ein sinnhaftes interpretiert werden kann, d.h. ohne die eine Antwort auf die Frage, ›was vor sich geht‹, unmöglich wäre (vgl. ebd.: 31ff.). In einem primären Rahmen werden Handlungen als »wirklich«, als »tatsächlich« und »eigentlich« interpretiert (ebd.: 59). Die Erfahrung des Alltagshandelns in primären 272
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
Rahmen ist außerdem durch »Unmittelbarkeit« gekennzeichnet (ebd.: 612). Dies gilt insbesondere für körperliche Darstellungspraktiken, die, derart gerahmt, als »unmittelbares Symptom, als Ausdruck oder als Teil des Wesens des Handelnden« empfunden werden (ebd.). Davon unterschieden sind Rahmen, die durch eine »Modulation« primärer Rahmen zustande kommen. Dies heißt, dass »eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird« (ebd.: 55). Im modulierten Rahmen des ›Spiels‹ wird etwa eine beobachtete Kampfhandlung so gesehen, dass nicht ›im Ernst‹ oder ›wirklich‹, sondern nur ›zum Spiel‹ gekämpft wird; im ›Theaterrahmen‹ wird der Kampf als inszenierter Bestandteil einer Aufführung wahrgenommen. Der Rahmen, der den Kampf als einen ›wirklichen‹, als einen ›gespielten‹ oder als einen dramaturgisch inszenierten markiert, strukturiert das, was in den Augen der Beteiligten vor sich geht, und organisiert damit ihre Erfahrung der Situation. Ein wesentlicher Unterschied zwischen primären und modulierten Rahmen besteht in der Art und Weise, wie sie jeweils auf ›Wirklichkeit‹ bezogen sind bzw. auf welcher Ebene sie etwas als ›wirklich‹ erfahrbar machen: »Von Handlungen, die ganz in einem primären Rahmen liegen, sagt man, sie seien wirklich, geschähen tatsächlich oder eigentlich. Werden solche Handlungen etwa auf der Bühne moduliert, so kommt etwas zustande, was nicht wirklich oder eigentlich geschieht. Trotzdem würde man sagen, diese Handlungen würden wirklich oder tatsächlich gespielt. Die uneigentliche Handlung ist eigentlich diese, jedenfalls im Alltagssinne.« (Ebd.: 59; Herv. i.O.)
Es scheint also, als würden Praxen des Kinging von den Beteiligten auf unterschiedliche Weise gerahmt. Die Interpretation als Bestandteil eines ›Ich‹, als ein ›Leben‹ verweist auf einen primären Rahmen, in dem das Dargestellte als ›wirklich‹ erfahren wird; die »Rolle« mit ihren Assoziationen des Rollenspiels oder der theatralischen Darstellung auf die modulierten Rahmen des Spiels oder des Theaters, in denen ›wirklich‹ gespielt, das Gespielte aber nicht oder nicht fraglos als ›wirklich‹ gilt. Explizite Verweise auf solche (bzw. auf diese) unterschiedlichen Rahmungen des Kinging finden sich in vielen weiteren Interviews. Filip unterscheidet zwischen »Show machen« bzw. »irgendwas Künstlerisches« machen auf der einen, und etwas »ausleben, was halt schon da ist«, auf der anderen Seite; Till setzt dem Spielen einer »Rolle« die Möglichkeit entgegen, so zu sein, »wie ich bin einfach«; die gleiche Ent273
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gegensetzung zwischen »Rolle« und ›Sein‹ benutzt Klaus bei der Charakterisierung eines/r Freundes/in, und für sich beschreibt er ähnlich wie Franka/Micha eine Spannung zwischen »Rolle« und »ein[em] Teil von mir«. Niko unterscheidet zwischen »Performance« und einem Ausdruck seiner »Persönlichkeit«, Felix (an anderer Stelle) zwischen »Spiel« und »Identität«. Tam bezeichnet seine Erscheinungsweise als Drag King als eine »Kunstfigur«, Carlo eine bestimmte von ihm dargestellte Persona als »Persiflagerolle«, und Franka/Micha betrachtet Kinging als eine »Möglichkeit […], auch als Erwachsener noch spielen zu dürfen«. Manche (wenige) der hier Zitierten verorten ihre eigene Praxis des Kinging ausschließlich auf einer der beiden genannten Seinsebenen; alle verweisen jedoch darauf, dass in der Szene beide Erfahrungsweisen präsent sind. Das Oszillieren von Praxen des Kinging zwischen den beiden hier umrissenen Seinsebenen wurde in der Literatur bislang vorwiegend entlang der Unterscheidung zwischen ›Bühne‹ und ›Alltag‹ bzw. zwischen onstage und offstage diskutiert (vgl. Kapitel I.2). ›Männlichkeit‹ zum Gegenstand einer Bühnenperformance zu machen, in der die Theatralität der Darstellung deutlich herausgestellt wird, ist für Judith Halberstam ein Definiens des Drag Kings, der sich genau dadurch unterscheidet vom alltäglichen cross-dressing der »drag butch«, »a masculine woman who wears male attire as part of her quotidian gender expression« (Halberstam 1998: 232). Zwar beleuchtet Halberstam durchaus auch das Verhältnis von onstage und offstage persona der von ihr befragten Drag Kings und konstatiert für letztere eine Vielfalt unterschiedlicher geschlechtlicher Verortungen (ebd.: 263ff. sowie Volcano/Halberstam 1999: 107ff. und 120ff.). Sie setzt dabei jedoch weitgehend voraus, dass sich onstage zu offstage verhält wie ›Performance‹ zu ›Identität‹ – eine m.E. folgenreiche Engführung, die den Blick auf die vielfältigen möglichen Beziehungen zwischen Praxen des Kinging und geschlechtlichen Selbstverhältnissen eher verstellt als öffnet. Trotz dieser Engführung scheinen in den genannten Texten jedoch immer wieder Momente auf, in denen die Entgegensetzung von on- und offstage und ihrer Korrelate in Frage gestellt wird, etwa wenn Halberstam bemerkt: »[The] blending of onstage drag and offstage masculinity suggests that the line between male drag and female masculinity in a drag king club is permeable and permanently blurred.« (Halberstam 1998: 244)
Halberstam geht diesem von ihr konstatierten Verschwimmen der Grenzen jedoch nicht systematisch nach und versäumt es vor allem, danach 274
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
zu fragen, inwieweit genau dies möglicherweise konstitutiv ist für Praxen des Kinging und für die Erfahrung derjenigen, die sich in diesen Praxen engagieren. In einem späteren Interview auf ihre Unterscheidung zwischen Drag King und drag butch angesprochen, bekräftigt sie die Grenzziehung zwischen (Bühnen-)Performance und (alltäglicher) Identität einmal mehr: »The drag king is a person who may or may not be butch, who has gone to the club specifically to perform the spectacle of somebody who seems, at least nominally, to be female behave in ways that we expect men to behave. It’s a theatrical performance. The drag butch is a person who was born into a female body that has basically a masculine gender role, and who cultivates this gender role as part of her innermost identity. It’s not something she’s going to put on and take off at the end of the evening. […] It’s like, female masculinity versus the theatre of drag. One is theatrical; one is about embodiment, a sort of cultural identity.« (Halberstam 2005a: 16)
Diese klare Entgegensetzung zwischen theatralischer, zeitlich und räumlich begrenzter Bühnenperformance einerseits und kontinuierlicher, verkörperter (kultureller) Identität andererseits greift Steffen Kitty Herrmann (2007) für seine Überlegungen zu Kinging auf. Ihm gilt als Faktum, dass Drag-Praxen auf der Bühne darauf zielten, die »Künstlichkeit von Geschlecht zu zelebrieren«, während es im Alltag darauf ankomme, »geschlechtliche Echtheit zu mimen« – letzteres aufgrund der gesellschaftlich stark eingeschränkten Möglichkeiten alltäglicher transgressiver geschlechtlicher Darstellungen (ebd.: 115). Auf der Basis dieser Setzung entwickelt Herrmann interessante Überlegungen zu den »Regeln« (ebd.: 131), die die Inszenierungen auf der Bühne respektive im Alltag bestimmen. Mit der strikten Entgegensetzung zwischen beiden abstrahiert Herrmann allerdings nicht nur von dem Sinn, den die Beteiligten selbst ihrer Praxis geben mögen, sondern verzichtet auch auf eine Kontextualisierung: Seine ›Bühne‹ – als der Ort, an dem »das heterosexuelle Regime geschlechtliche Uneindeutigkeiten […] akzeptiert« (ebd.: 115) – unterscheidet sich den dort geltenden »Regeln« nach in nichts von der eines klassischen Theaters, und sein ›Alltag‹ scheint vollständig von den ehernen Gesetzen heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit beherrscht. Der spezifische subkulturelle Horizont, in dem Kinging – sowohl als Bühnen- wie auch als Alltagspraxis – stattfindet und die Frage danach, wie dieser beide Dimensionen strukturiert, gerät ihm dadurch aus dem Blick.
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GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Dass Drag King-Performances und -Shows von den Beteiligten weniger als ein klassisches Kunst- oder Theaterereignis denn als ein subkulturelles, teils mit politischem Aktivismus verbundenes Szene-Event bedeutet werden, wurde in Kapitel II.3 bereits gezeigt. Der Unterschied zu einem klassischen Theater-Rahmen, wie Goffman ihn konzipiert, soll hier nochmals kurz verdeutlicht werden. Goffman schreibt bezüglich des Theater-Rahmens: »Eine offensichtliche Eigenschaft von Bühnendarstellungen ist, dass der Schlussbeifall den Schein hinweg fegt. Die Bühnenfiguren lösen sich auf, ebenso die Teilnahme der Zuschauer an dem ablaufenden Drama, und Menschen in der Funktion des Schauspielers oder Darstellers grüßen Menschen in der Funktion des Theaterbesuchers. Und auf beiden Seiten herrscht Einverständnis darüber, was vor sich gegangen ist […]. Kurz, der Schein wird aufgelöst.« (Ebd.: 151f.)
Genau dies geschieht bei Drag King-Performances in der Regel nicht oder nicht so: Sicher, die Performance ist irgendwann zu Ende, es wird Beifall geklatscht, die Performern_innen verbeugen sich und gehen Backstage, während der/die DJ sein/ihr partytaugliches Set beginnt. Dass dennoch nicht der »Schein hinweg [ge]fegt« wird, sondern die Bezugnahme des Publikums auf das Gesehene eine andere sein kann, verdeutlicht z.B. Till, wenn er darüber spricht, was er glaubt, mit seinen Performances »bewegen« zu können: »Ich denke, ich war auch mal unten gestanden und hab’ ’nen King auf der Bühne gesehen. Und ich dachte: Wow, Wahnsinn, wie kann der denn sich -, wie kann der denn so rumlaufen, der muss ja voll Selbstbewusstsein haben und so. Und [2] das würde ich mich auch gerne trauen und so. Und wenn wir so ’ne Show machen, kommen immer viele nach der Show und sagen: Kann ich nicht auch mal ’nen Bart haben, oder, ähm, muss ich jetzt Hormone nehmen, oder kann ich das -, muss ich das nicht machen oder so. Und dann kann man den Leuten einfach sagen: Du musst gar nichts, mach’ nur, du kannst machen, was du willst, ne, nimm’ dir einfach, was du möchtest, so. Und das find’ ich gut, ne [2], ich denke das ist sehr gut so. Und ich denke, deswegen mach’ ich das auch, ne, [2] weil’s keine Vorschriften gibt, was zu tun ist, was man machen muss.« (Int. 7)
Die Performance wird Till zufolge von denjenigen, die ihn nach der Show ansprechen, als eine Verdeutlichung geschlechtlicher Möglichkeiten – möglicher Praxen und Lebensweisen – aufgefasst und als Anregung und Ermutigung, sich selbst in solchen Möglichkeiten zu engagieren. Der Performende gilt ihnen dann nicht lediglich als einer, der 276
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diese Möglichkeiten auf der Bühne überzeugend dargestellt hat, sondern als jemand, der sie verkörpert und ›lebt‹ und daher auch jenseits der Bühne darüber Auskunft geben kann. In ähnlicher Weise hat Till selbst sich Jahre früher als Zuschauer einer Kings-Performance erlebt: »wie kann der denn so rumlaufen, der muss ja voll Selbstbewusstsein haben, […] das würde ich mich auch gerne trauen« – der Mut, den Till bewundert und den er selbst gern (gehabt) hätte, bezieht sich offensichtlich auf die Transgression geschlechtlicher Normen; »so rumzulaufen« bedeutet für Till augenscheinlich eine ›wirkliche‹, nicht eine ›bloß gespielte‹ Normüberschreitung (und genau deshalb eine, die Mut erfordert). Drag King-Performances auf der Bühne werden also nicht notwendigerweise rein im Rahmen des ›Theaters‹ erfahren; und umgekehrt muss ›als King unterwegs zu sein‹ auf einer Party, auf der Straße oder in sonstigen eher als alltäglich markierten Räumen nicht bedeuten, sich als ›einfach man selbst‹ zu erfahren (so wie Franka/Micha »den Micha« zunächst als »Rolle« entwirft und erlebt, obwohl er nie auf einer Bühne gestanden hat). Dass es »keine Vorschriften gibt, was zu tun ist«, bezieht Till im obigen Zitat auf die diversen Praxen und Lebensweisen, die im Kontext der Szene möglich sind (also z.B. auf Entscheidungen für oder gegen Hormone, auf die Praxis des Bartklebens u.v.m.). »Keine Vorschriften«, zumindest keine eindeutigen, gibt es jedoch auch darüber, ob Kinging im Rahmen von Spiel und/oder Theater erfahren wird oder im primären Rahmen des Alltagshandelns. Durch die kollektive Praxis werden offenbar beide Rahmungen als mögliche und gültige generiert. Wie diese Rahmungen und ihre Unterscheidung die Praxis und Erfahrung des Kinging organisieren, wodurch sie zustande kommen und wovon ihre jeweilige Gültigkeit abhängig ist, soll in den folgenden Abschnitten herausgearbeitet werden. Zu fragen ist dabei allerdings auch nach möglichen Unschärfen, Durchlässigkeiten und Übergängen zwischen unterschiedlichen Rahmen und danach, welche spezifischen Erfahrungsweisen möglicherweise gerade dadurch konstituiert werden. Diese Frage, so wird sich zeigen, veranlasst dazu, gewissermaßen mit Goffman über Goffman hinauszugehen.
3.2 »Spielen dürfen« »Also ich glaub’ schon [2], dass es einfach so -, Drag King-Sein einem die Möglichkeit gibt, auch als Erwachsener noch spielen zu dürfen. Ja, also was man so [2] normalerweise ja nicht darf, sag’ ich jetzt mal. Also es hat schon auch viel mit weiter spielen zu dürfen zu tun.« (Int. 5)
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GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Franka/Micha erinnert sich im Interview lebhaft an die Zeit ihrer Kinderspiele, in denen sie mal ein freches Mädchen, mal ein wilder Junge, mal Vater oder Mutter und mal sonst jemand war; Spiele, deren komplex ausgesponnene Handlung sich über Wochen oder gar Monate hinziehen konnte und sie vollkommen in ihren Bann schlugen. Im Spiel jemand (anderes) sein können, Verschiedenes sein können, im Spiel aufgehen, ohne dass einen (außer psychologisierenden Erwachsenen) jemand danach fragt, was das Gespielte aussagen mag über ein ›wirkliches Ich‹ – eine Erfahrung vieler Kindheiten (und auch eine, über die in vielen Interviews erzählt wird). Im Kinging entdeckt Franka/Micha diese Freiheit, spielen zu dürfen, für sich wieder und erlebt dies als eine Möglichkeit, »einfach Sachen auszuprobieren, auszuprobieren, auszuprobieren und alles mitzunehmen, was ich im Leben kriegen kann« (ebd.). »Wenn man sich den Spielraum nimmt und sich da auch die Freiheit nimmt zu experimentieren, dann find’ ich das echt schön«, sagt Felix über Möglichkeiten des Kinging (Int. 10), und Tino erlebt die Vielfalt der unterschiedlichen »Figuren«, die er auf der Bühne darstellt, als Freiheit, »mehr oder weniger irgendwie alles ausprobieren« zu können (Int. 8). »Jetzt probieren wir erst mal rum«, lautet Klaus zufolge die Ansage bei einem Drag King-Workshop, seiner ersten Kinging-Erfahrung, und wenig später findet er sich dort im neuen Outfit wieder: »Und ich war halt so der ’n bisschen, ähm - [lacht], schmierig ist übertrieben, aber schon so ’n schickerer irgendwie Typ halt mit diesem Hemd, Blazer drüber, ich hatt’ auch noch ’n Schlips von meinem Opa um […]. Und dann haben wir noch getanzt und Rollenspiele gemacht, irgendwie nachmachen gegenseitig oder Gesten machen, Mimik und so. Und da war es schon so, dass ich gemerkt hab’, das ist eigentlich -, macht voll Spaß, ist total lustig, und [1] irgendwie kann ich das, so [lacht].«
Spielen, experimentieren, ausprobieren: Kinging eröffnet einen »Spielraum«, ein Experimentierfeld, das das Einnehmen und Ausloten verschiedener »Rollen« oder »Figuren« erlaubt – eine Praxis, die Spaß macht und »total lustig« sein kann. Die Frage, die sich durch diese Praxis stellt, ist zunächst weniger die nach der eigenen Beziehung zu der oder den ›Rollen‹, sondern die, ob einer/m eine überzeugende oder ansprechende Darstellung gelingt: »irgendwie kann ich das«, stellt Klaus bei seinem ersten Drag King-Workshop fest und entdeckt damit eine ihm bis dahin unbekannte Fähigkeit, ein Können – nicht aber eine verborgende Seite seiner ›Identität‹. Als eine experimentelle, spielerische Praxis zwingt Kinging also nicht dazu, das eigene (geschlechtliche) ›Sein‹ auf eine zugrunde liegen278
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de innere ›Wahrheit‹ hin zu erforschen und (vor sich selbst oder anderen) Rechenschaft darüber abzulegen, wer man ›wirklich‹ ist. Der Rahmen des Spiels erlaubt es, genau diese Frage (zumindest zeitweilig) auszusetzen; eine Frage, die im Kontext der gegenwärtigen Verfasstheit heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit gerade anlässlich geschlechtlicher Transgressionen regelmäßig massiv auf den Plan gerufen wird – sei es in Form einer Selbstbefragung oder einer Befragung durch andere, ob offen ausgesprochen oder durch abschätzende Blicke erkennbar. Diese Frage (zeitweilig) auszusetzen, bedeutet zum einen, sich nicht auf eine bestimmte geschlechtliche Position festlegen oder festlegen lassen zu müssen. Es bedeutet zum anderen bzw. spezifischer einen gewissen Schutz vor den pathologisierenden und/oder phobischen Aufladungen solcher Fragen und des damit einhergehenden klassifikatorischen Interesses, worauf noch zurückzukommen sein wird. Im Folgenden geht es zunächst um verschiedene Weisen, wie ›etwas‹ in und durch Kinging dennoch in einem primären Rahmen als ›wirklich‹ erfahrbar wird.
3.3 Ein »schleichender Prozess«: Wie ›etwas‹ als wirklich erfahrbar wird Tino entwickelt für seine Bühnen-Performances sehr verschiedenartige Figuren und schätzt es, dadurch »alles ausprobieren« zu können. Welche Figuren er entwirft, wird nicht im Vorhinein begrenzt durch die Frage danach, in welchem Verhältnis er zu ihnen steht. Nicht als eine normative, aber als eine ihn interessierende Frage taucht sie jedoch, sozusagen als Nebenprodukt der Praxis, durchaus auf: »Man kann sich ja dann sozusagen auch so in sich selber ’n bisschen so reinfinden, wo einem irgendwie -, wo man halt sagt: Okay, da merke ich, das ist irgendwie gespielt, das bin ich nicht, und hier, das ist dann nicht mehr so ganz gespielt, das ist schon ein Teil von mir – also man kommt einfach viel eher mit diesen Sachen in Berührung.« (Int. 8)
Tino probiert nicht nur aus, welche Figuren er gut darstellen kann und wie sie wirken, sondern auch, welche sich eher »gespielt« anfühlen und welche ihm als »Teil von mir« erscheinen. Dieses experimentelle Ausloten bezeichnet Tino als eine Möglichkeit, sich »in sich selber rein[zu] finden«; herauszufinden, wie oder wer man ist, sein könnte, sein kann. Dass Tino im Zuge dessen ›etwas‹ als nicht nur »gespielt«, sondern als »Teil von mir« (an-)erkennt, ist jedoch nicht allein Effekt eines inneren Dialogs oder einer Auseinandersetzung mit sich selbst und ›seinen‹ 279
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Figuren, sondern auch des sozialen Umfeldes, das eine solche Rahmung dadurch ermöglicht, dass ›etwas‹ als tatsächlich lebbar erfahrbar wird. So beschreibt Tino sein Kinging als eine »ständige Konfrontation, dass man halt auch so leben kann, also nicht muss, aber dass man halt kann« (ebd.); und dies hängt für ihn damit zusammen, dass man »[…] auch mit Leuten dann zu tun hat, die, vielleicht auf andre Art und Weise, aber halt erst mal einem aufzeigen: Ja, man kann auch irgendwie dazwischen leben und man muss sich nicht entscheiden. Also einfach, dass einem der Druck genommen wird, ich müsste mich jetzt entscheiden, wo man halt selber vielleicht noch gar nicht an dem Punkt ist, sich entscheiden zu müssen oder sich zu können oder irgendwie grade die Entscheidung scheut, weil man halt eben nicht weiß, ob man so leben will, ähm, eröffnet das einem natürlich einfach ’nen gewissen Raum für sich, wenn man weiß, also man kann sich da ausleben, und es ist jetzt nicht nur einmal im Jahr, dieses Event, sondern man kann halt immer so rausgehen, und man trifft andere Leute, die das toll finden, und andere Leute, die das halt auch machen.« (Ebd.)
Die Szene, so erlebt es Tino, vergegenwärtigt einem eine Vielfalt lebbarer geschlechtlicher Möglichkeiten, die auch beinhalten, »dazwischen« leben zu können und sich nicht »entscheiden« zu müssen. Letzteres hat in diesem Zitat allerdings offensichtlich zwei verschiedene Bedeutungen: einmal die, sich nicht für eine geschlechtliche Verortung als Mann oder als Frau entscheiden zu müssen, weil alternative geschlechtliche Verortungen denkbar und lebbar sind (eben »dazwischen«); zum Zweiten aber nimmt Tino für die Szene in Anspruch, dass in ihr der »Druck« ausgesetzt würde, sich überhaupt für eine geschlechtliche Verortung – ob nun zweigeschlechtlich oder anders bestimmt – zu entscheiden. Dadurch scheint ein spezifischer Raum zu entstehen, in dem man sich »ausleben« kann, in dem man Anerkennung und Bestätigung durch andere bekommt (»Leute, die das toll finden«), in dem sich durch »Leute, die das halt auch machen«, bestimmte Lebensweisen veralltäglichen, bis man – vielleicht – irgendwann an dem »Punkt ist, sich entscheiden zu müssen oder zu können«. Es ist nicht die Sprache der Identität, die Tino hier verwendet: Es geht um Entscheidungen, um die Frage, »ob man so leben will« und kann, und unter welchen Bedingungen. Erst in einem Kontext, in dem die Frage nach der Lebbarkeit anders gestellt und anders beantwortbar wird, wird für ihn erfahrbar, dass einiges von dem, was er auf der Bühne darstellt, ein »Teil von mir« ist bzw. als solcher (an-)erkannt werden kann; ein Kontext zudem, der einem nicht nur in einer Ausnahmesituation eine Alternative vor Augen führt, sondern der selbst als ein
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alternativer Alltag erlebbar ist: »es ist jetzt nicht nur einmal im Jahr, dieses Event, sondern man kann halt immer so rausgehen«. Eine primäre Rahmung, angezeigt durch das Begriffsfeld von ›Leben‹ und ›Sein‹, wird also, so lässt sich vorläufig festhalten, generiert bzw. nahegelegt durch soziale Bezugnahmen und Anerkennung (»Leute, die das toll finden«), durch die Vorbildfunktion von Leuten, die einer_m die Lebbarkeit alternativer geschlechtlicher Existenzweisen vor Augen führen (die »aufzeigen: ja, man kann auch irgendwie dazwischen leben«), durch Räume und soziale Kontexte, in denen beides zu einer Selbstverständlichkeit wird und durch eine Verstetigung dieser Praxen und sozialen Kontexte, die sie als alternativen Alltag qualifizieren. Dass sich die Frage danach, wer ›ich‹ bin oder sein kann, im Kontext des Kinging oft zugleich auf dessen gesellschaftliche und soziale Bedingungen richtet bzw. untrennbar damit verquickt ist, legt auch Felix im folgenden Zitat nahe: »Und durch diese King-Sache, glaube ich schon, dass man dann erst erfährt, ob man vielleicht mehr will, also ob man wirklich nun also Frau ist oder ob man einfach sagt: Okay, ich bin nicht genug Frau, ich will einfach mehr Mann sein oder irgendwie so in die Richtung. [2] Aber ich glaub’ nicht, dass früher die Leute zum Beispiel das wirklich hatten, da war’s ja, denk’ ich mal: Ich bin Frau, ich komm’ damit nicht zurecht, ich muss Mann sein, ich will Mann sein. Ich glaube, dass es nicht so ’n schleichender Prozess war und man nicht soviel Möglichkeiten hatte, das auch zu leben.« (Int. 10)
Bestimmte Wünsche, so Felix, werden erst durch die Praxis des Kinging als solche wahrnehmbar (man »erfährt« dadurch, »ob man vielleicht mehr will«) – und dies ist gebunden an die »Möglichkeiten […], das auch zu leben«. Der Gegenhorizont (»früher«), den er demgegenüber entwirft, ist der einer rigiden Zweigeschlechtlichkeit, in der mit dem Frausein nicht »zurecht« zu kommen automatisch impliziert, ein Mann sein zu müssen und dies infolgedessen auch zu wollen (ein Gegenhorizont, der auf die klassische Formulierung der Transsexualität verweist).48 Felix hebt in seinen Überlegungen weniger darauf ab, dass bestimmte, bereits artikulierte Wünsche an die Grenzen einer strikt zweigeschlechtlich strukturierten Wirklichkeit stoßen; vielmehr legt er nahe, dass die Erfahrung und Artikulation bestimmter Wünsche und 48 Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, inwiefern Felix’ Einschätzung bezüglich der Vergangenheit zutrifft oder nicht, sondern lediglich um die Bedeutung des von ihm evozierten Gegenhorizonts für die Erfahrung seiner eigenen Praxis. 281
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Selbstentwürfe selbst nicht unabhängig ist von den Möglichkeiten ihrer Realisierung: Mit anderen Lebbarkeiten geht die Möglichkeit anderer Wünsche und Selbstentwürfe einher, und Kinging erscheint auch hier als eine Praxis des Auslotens solcher Möglichkeiten, als ein »schleichender Prozess« mit offenem Ausgang. Entscheidend ist auch für Felix, dass die alternativen Möglichkeiten nicht abstrakt bleiben, sondern in der Szene und ihren Beziehungen gelebt werden. Die Szene wird ihm dadurch zu (s)einer »eigenen Welt«: »[Du] kannst dich einfach in deiner eigenen Welt stabilisieren, und wenn’s nur am Wochenende ist. Weißt du, für manche reicht das ja wirklich aus, zu sagen: Okay, unter der Woche bin ich Frau Hastdunichtgesehen und am Wochenende, wenn ich unterwegs bin, bin ich King -, King Kalle [lacht]. Also für manche reicht das aus und die sagen: das ist ein schönes Leben, ich kann mal in eine andere Rolle reinschlüpfen, und für manche ist das halt wirklich die Identität, das King-Sein.« (Ebd.)
Felix begreift die Szene als (s)eine »eigene Welt«, in der man/er sich »stabilisieren« kann, in der bestimmte geschlechtliche Seinsweisen ›stabil‹ werden, also eine gewisse Festigkeit erhalten. Zugleich legt er jedoch nahe, dass dies lediglich eine Vorbedingung ist für eine Rahmung von »King-Sein« als »Identität«: Diejenigen, die nur am »Wochenende«, also nur im Kontext der Szene, »King Kalle« sind, sieht er lediglich zeitweise »in eine andere Rolle reinschlüpfen«; für andere »reicht das [nicht] aus«. Für ihn selbst bedeutet das, dass er über das Kinging, über seine Stabilisierung als ›Felix‹ in der Szene hinaus eine solche Stabilisierung auch in anderen Bereichen seines Lebens angestrebt und erreicht hat. Eine Vornamensänderung (die sogenannte ›Kleine Lösung‹ des TSG) hat er beantragt; in der Firma, in der er seit vielen Jahren arbeitet, wird er inzwischen unter diesem Namen geführt, mit ›Herr‹ angesprochen und als Mann adressiert. Auch unter der Woche ist er also nicht länger »Frau Hastdunichtgesehen«, auch wenn er, weil er bislang auf medizinische Veränderungen seines Körpers verzichtet, selten fraglos als Mann ›durchgeht‹ und daher immer wieder selbst aktiv und offensiv für die Stabilisierung seiner selbst als Felix eintreten muss. Eine primäre Rahmung von ›etwas‹ und damit dessen Konstitution als ›wirklich‹ wird also zusätzlich unterstützt durch die Anerkennung über Szene-Kontexte hinaus bzw. durch die Einforderung einer solchen Anerkennung – in persönlichen Beziehungen, in formalisierten Kontexten wie etwa solchen der Erwerbsarbeit und/oder auf einer rechtlichen Ebene (und ist damit gebunden an die je spezifischen Bedingungen der Anerkennbarkeit). 282
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
Zugleich jedoch machen die Ausführungen deutlich, dass, um ›wirklich‹ zu werden, ›etwas‹ überhaupt erst ausgelotet, entdeckt oder entworfen werden muss, und dass dafür das ›Spielen‹, in dem die Frage nach Wirklichkeit teilweise ausgesetzt wird, Bedingung der Möglichkeit ist. Zwar wird nicht nur von Felix, sondern auch von anderen Interviewten das Kinging derjenigen, die es ›nur‹ zeitweilig und im Kontext der Szene betreiben, teils eher als ›Spiel‹ oder ›Rolle‹ bezeichnet und der ›Identität‹ derjenigen entgegengesetzt, die in allen Lebensbereichen einen Transgender-Alltag leben. Eine solche Entgegensetzung nehmen allerdings vor allem diejenigen vor, auf die letzteres zutrifft. Die Unterscheidung ist auch innerhalb der Szene fraglich und umstritten; sie eignet sich bestenfalls, um grob ein Feld von Unterschieden zu umreißen, nicht aber als eine klare Trennlinie. Oft wird sie in den Interviews auch nur in Anschlag gebracht, um gleich wieder relativiert zu werden. Auch Felix bleibt bei dieser Entgegensetzung nicht stehen: »Manchmal ist [Kinging] einfach so ’n Spiel und manchmal ist es einfach wirklich Identität, also mittlerweile ist es halt auch ’ne Mixform teilweise, bei mir ist es durch diese Mixform halt jetzt auch weitergegangen irgendwie ins trans*.« (Int. 10)
Eine »Mixform« zwischen »Spiel« und »Identität«: eine Form, in der immer wieder offen gehalten wird, das Dargestellte eher in dem einen oder eher in dem anderen Rahmen zu erfahren; die ein Shiften zwischen verschiedenen Erfahrungsweisen ermöglicht oder auch einen Schwebezustand, in dem durch die Verunklarung der Rahmen selbst ›etwas‹, möglicherweise auch Unerwartetes, entstehen kann. Beides – die Bedeutung unterschiedlicher Rahmen für die Interpretation seines Tuns sowie deren Durchlässigkeit – zeigt sich auch in Klaus’ Reflexionen des Kinging: »Also für mich isses schon viel Rolle, aber auch -, also es kommt auch drauf an, wie man damit umgeht, aber in bestimmten Kreisen ist es auch schon Teil von mir, würde ich sagen. Ich muss da noch mehr ausholen jetzt. Also [2] da gibt’s noch mehrere Leute in meinem engeren Umfeld, die halt auch Kinging machen. Zum Beispiel Meike, Meike-Pete, eigentlich nur noch Pete, ich sage ganz selten Meike […]. Und dann hab’ ich auch vor -, das ist schon anderthalb Jahre her, in der Zeit, wo das mit dem Bart so losging, auch meine jetzige Freundin kennen gelernt, und die ist auch mit Bart auf Partys unterwegs, hat auch Workshops schon gemacht. […] Und jetzt Tim und Pete und so alle Leute, die noch in dem Kreis sind, nennen uns auf jeden Fall auch Jan und Klaus, ohne dass wir jetzt ’nen Bart dran haben müssen oder irgend-, also wir sind einfach -, das sind so adaptierte Namen jetzt.« (Int. 15) 283
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Kinging ist für Klaus sowohl »Rolle« als auch »schon Teil von mir«. Um Letzteres zu erläutern, erzählt er, wie Kinging in seinem Freund_innenkreis und seiner Liebesbeziehung geteilte, sich veralltäglichende Praxis geworden ist. Insbesondere die damit verbundenen Namen haben die (weiblichen) Geburtsnamen inzwischen weitgehend abgelöst, sie werden selbstverständlich verwendet auch dann, wenn die jeweilige Situation nicht durch andere Zeichen (wie z.B. den Bart) als Kinging gekennzeichnet ist. Durch das Eingebundensein in einen sozialen Kontext, in dem andere sich auf ›Klaus‹ in einem primären Rahmen beziehen und nicht eine Person ›hinter der Rolle‹ adressieren, wird ›Klaus‹ etwas anderes als die willkürliche Darstellung einer Rolle: »Man könnte vielleicht sagen, dass der präsenter ist, wie er auch gefordert wird oder gesehen wird, schon existiert von anderen, wenn andere irgendwie -. Also ich könnte den Klaus zum Beispiel nicht ganz ausschalten, wenn Pete und Jan und Tim hier rumhängen, also die würden den ja immer sehen auch.« (Ebd.)
Ob bzw. wie sehr Karla/Klaus Klaus ›ist‹ oder nicht, entzieht sich zunehmend seiner/ihrer Kontrolle: Durch die Bezugnahme der anderen wird er »gefordert«, »gesehen«, »existiert von anderen« (und durch andere), so dass er/sie den Klaus in deren Gegenwart auch dann »nicht ganz ausschalten« könnte, wenn sie/er das wollte. Klaus ist daher in verschiedenen Kontexten unterschiedlich präsent. »Wo ich wenig Klaus bin, das ist, wenn ich in meinem alten Umfeld bin, also wenn ich grade mit Leuten zusammen bin, die von Klaus nichts wissen« (ebd.). Dennoch wirkt die Existenz, die sein gegenwärtiges Umfeld ›Klaus‹ verleiht, auch über die unmittelbare Anwesenheit ›wissender‹ oder ›sehender‹ Anderer hinaus: »Angenommen ich würde mit meinen Eltern irgendwie rumsitzen und mich unterhalten, da würde der vielleicht nicht so oft rauskommen, aber wenn er rauskommt, dann würden die ihn bloß nicht erkennen. I: Aber du würdest ihn spüren? A: Ich würde wissen, so, jetzt würde Jan sagen: Ach, komm, hier, Klaus.« (Ebd.)
Nicht nur die tatsächliche, sondern allein die mögliche Präsenz anderer, die sich auf ›Klaus‹ in einem primären Rahmen beziehen, machen ihn für Klaus/Karla als einen »Teil von mir« erfahrbar. Es gibt jedoch noch ein weiteres, bereits kurz angesprochenes Phänomen (vgl. Kapitel III.2.4), das für sie/ihn bedeutsam ist dafür, Klaus nicht lediglich als ›Rolle‹ zu erleben: 284
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
»Wenn wir jetzt so reden, dann fällt mir irgendwie auf, das ist so irgendwie, so: Der Klaus in mir, oder so, dass das irgendwie so abgegrenzt ist ’n bisschen, also ich weiß selber nicht genau, wo da -, ob da ’ne Grenze ist oder wie die da ist oder so. Aber ich würde nicht sagen, dass es irgendwie was komplett anderes ist. Also das ist schon -, anfangs dachte ich irgendwie: Ich verkleide mich, jetzt ist Show, Show-Time. Aber dadurch, dass ich halt gemerkt hab’, es kommt auch aus mir raus, also ich laufe halt so, ich hab’ das geübt -, oder mir fällt einfach aus dem Nichts heraus ’ne Geste ein, die extrem männlich wirkt.« (Ebd.)
Während des Interviews fällt Klaus/Karla die sich zwischen uns etablierende Redeweise, die einen »Klaus in mir« evoziert, als offensichtlich nicht ganz angemessen auf. In ihrem Ringen um eine adäquatere Beschreibung der Gegebenheitsweise von Klaus verweist sie darauf, dass ›er‹ sich anscheinend nicht klar abgrenzen lässt bzw. dass ihr selbst nicht klar ist, ob, wo und wie da eine »Grenze« ist. Es liegt nahe, die Unmöglichkeit dieser Grenzziehung als einen Hinweis darauf zu interpretieren, dass die spezifische Gegebenheitsweise von Klaus genau von der Diffusität der Rahmungen des Kinging als ›Spiel‹ respektive als ›Sein‹ abhängt, dass Klaus genau in diesem Changieren erfahren wird. Zumindest kommt Klaus/Karla direkt von der Unmöglichkeit einer klaren Grenzziehung (zwischen Klaus und ›ich‹? zwischen Klaus und ›Karla‹?) darauf zu sprechen, dass sich offensichtlich auch die »ShowTime« nicht klar abgrenzen lässt bzw. keinen klaren Rahmen für ›Klaus‹ bietet, und zwar deshalb, weil sie gemerkt hat, »es kommt auch aus mir raus«: Bestimmte »männlich« wirkende Bewegungsweisen und Gesten, die Karla/Klaus zuvor »geübt« hat, drängen sich ihr nun spontan, »aus dem Nichts heraus« geradezu auf. Eine Existenz, die sich seiner/ihrer vollständigen Kontrolle entzieht, erhält Klaus also nicht nur durch sein Eingebundensein in Interaktionen und Beziehungen, sondern auch durch die Habitualisierung seines körperlichen Stils (vgl. Kapitel III.2). Die dadurch konstituierte leibliche Erfahrung als einer spontanen und unmittelbaren verankert Klaus (situativ) in einem primären Rahmen, in dem er ›wirklich‹ ist. Dass Klaus/Karla zunehmend mit einem männlichen Vornamen angesprochen wird, dass sich mit männlichen Pronomina auf sie/ihn bezogen wird und er Gesten und Bewegungsweisen an den Tag legt, die »extrem männlich« wirken, bedeutet für sie/ihn ausdrücklich nicht, sich als Mann zu erfahren oder als solcher adressiert werden zu wollen – zumindest nicht von seinem engeren Umfeld: »Ich will natürlich ab und zu als Mann wahrgenommen werden, also das scheint so zu sein, also in der Öffentlichkeit mit Leuten, die ich nicht kenne 285
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oder so, aber die -, alle, die mich kennen, für die will ich immer -, also Klaus als King sein oder die Lesbe, die sich als King verkleidet. Da würd’ ich nicht, also grade auch in ’ner Beziehung oder so, also, da würd’ ich nie Mann sein wollen.« (Ebd.)
Klaus gefällt es, in der »Öffentlichkeit« von Unbekannten als Mann wahrgenommen zu werden, und er ist teils aktiv um ein solches passing bemüht. Für diejenigen, die ihn kennen (und die offensichtlich eine gewisse Kenntnis von Praxen des Kinging besitzen), möchte er dagegen »Klaus als King sein oder die Lesbe, die sich als King verkleidet«. Mit dieser Formulierung ruft Klaus wiederum beide möglichen Rahmungen des Kinging auf: »Klaus als King sein« oder »sich als King verkleiden«. Die Bezeichnung ›verkleiden‹ und der dadurch aufgespannte Rahmen des Spiels und/oder des Theaters hilft offenbar, die Distanzierung vom Mannsein zu verdeutlichen. An anderer Stelle formuliert er, »für mich selber oder für meine Freund_innen […] als King ’ne andere Männlichkeit« (als die hegemoniale, biologisch fundierte) darstellen zu können, »weil’s nicht echt ist«. Er relativiert dies zwar sogleich mit dem Zusatz: »Vielleicht wird’s hier und da auch echt« und weist auf Transmänner in der Drag King-Szene hin. Für ihn selbst geht es aber um eine Männlichkeit, »die man wieder ablegen kann«. Die als »natürlich« geltende Männlichkeit, die »mit dem biologischen Geschlecht identisch ist« und »an verschiedene Rollenmuster geknüpft ist, die auch fein säuberlich eingehalten werden« ist für ihn einzig interessant zu dem Zweck, das zu »imitieren oder auch für mich an[zu]nehmen, ums dann wieder abzulegen oder ums zu karikieren« (ebd.). Die Seinsweise von ›Klaus‹ bleibt komplex und widersetzt sich (seinen und meinen) Versuchen, ihn ausschließlich in einen primären Rahmen oder in den transformierten des Spiels oder Theaters zu zwängen (oder auch nur dem Versuch, eine klare Grenze zwischen beiden zu ziehen). Im Changieren und im Hin- und Her-Shiften zwischen beiden Rahmungen erhält ›Klaus‹ seine Distanz zu dem, worauf die Codierung seines Namens und die Wirkung seiner Bewegungsweisen und Gesten verweisen: ein Mann zu sein; zugleich ist er Akteur_in in sozialen Beziehungen, Adressat_in sozialer Bezugnahmen und verkörperte Person mit einem habitualisierten, spontan zur Geltung gebrachten körperlichen Stil – und derart als ›wirklich‹ erfahrbar, von ihm selbst und von anderen.
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3.4 Freiheit von den Zwängen des Wirklichen? Kinging, so wurde im letzten Abschnitt deutlich, ermöglicht teils die Erfahrung von ›etwas‹ in einem primären Rahmen. Im Kontext der Szene und durch die mit ihr verbundenen Praxen werden geschlechtliche Existenzweisen lebbar, denen eine Anerkennung als ›wirklich‹ im Horizont der heteronormativen, somatisch fundierten Zweigeschlechtlichkeit regelmäßig verweigert wird: etwa die Möglichkeit, ›dazwischen‹, weder als Mann noch als Frau zu leben; die Möglichkeit, als Mann zu leben mit einem hegemonial als ›weiblich‹ konstituierten Körper; die Möglichkeit, zwischen geschlechtlich unterschiedlich codierten Seinsweisen hin und her zu shiften. Die Konstitution und Erfahrung solcher Möglichkeiten als ›wirkliche‹ im Kontext des Kinging ist daher eine Form der Ermächtigung gegenüber einer gesellschaftlichen Ordnung, in der derartige Geschlechtlichkeiten lediglich als spielerische oder rituelle Inszenierungen oder als Effekt psychischer Störungen gelten. Als eine Praxis, die sowohl eine Erfahrung als ›Spiel‹/›Performance‹ als auch als ›Wirklichkeit‹ ermöglicht sowie eine Diffusität bzw. ein Shiften zwischen beiden, bearbeitet Kinging jedoch nicht nur die Zwänge, die einem Wirklichkeit verweigern, sondern auch solche, die einen an Wirklichkeit binden: In einem spielerischen oder theatralischen Modus kann ›etwas‹ in einer anderen Weise ausgelotet, experimentell erprobt, entdeckt oder entworfen werden als in einem Setting, das die Frage nach dem ›wirklichen Sein‹ von vorneherein als die entscheidende einsetzt und deren Beantwortung und Umsetzung als Telos formuliert. Das partielle Aussetzen der Frage nach der Realisierbarkeit ermöglicht es, an den Rändern des Lebbaren zu arbeiten, mehr zu imaginieren, als ›wirklich‹ möglich scheint, und auch, sich normativen Zwängen und drohenden Sanktionen zeitweise zu entziehen. Die Bewegung zwischen den Rahmen ist daher keine Einbahnstraße vom ›Spiel‹ zur ›Wirklichkeit‹. Offenbar – so wird im Folgenden deutlich werden – geht es in dieser Praxis auch darum, den Erfahrungsraum des ›Spielens‹ immer wieder von neuem zu öffnen. Zu Charakteren, die im Kontext des Kinging entworfen und im Laufe der Zeit mehr und mehr als ein wirkliches Sein erfahren werden, können neue hinzutreten, die wieder deutlicher als Rolle konfiguriert werden. So berichtet Carlo/Paula von einer stetigen Veralltäglichung und Stabilisierung dessen, was sein/ihr zunächst spontan und recht willkürlich gewählter Kings-Name Carlo bezeichnet. Carlo kann sich jedoch wiederum situativ verwandeln und dabei auch wieder in einer anderen Rahmung erscheinen: 287
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»Also es ist dann eher so, ähm [1], dass ich für bestimmte Outfits oder so -, ich hatte irgendwann mal so ’nen schleimigen Spießer-Outfit mit angeklatschten Haaren und Monteurs-Montur und so, und dann hab’ ich halt gesagt: isch bin der Kalle [lacht] […]. Und dann passte das halt zu dieser, ähm, ja, Persiflagerolle für den Abend so, aber das ist dann trotzdem -, also Carlo ist heute der Kalle, so, und nicht Paula ist heute -.« (Int. 4)
Carlo – nicht Paula – wird, wenn er Lust darauf hat, für einen Abend zu »Kalle«, einer deutlich als solcher gekennzeichneten »Persiflagerolle«, die – im Gegensatz zu Carlo – zeitlich und situativ begrenzt ist und sich dadurch möglicherweise auch mehr ›erlauben‹ kann (nämlich einen »schleimigen Spießer« zu repräsentieren, ohne sich dafür die sozialen Sanktionen einzuhandeln, denen er in einem primären Rahmen innerhalb des sozialen Umfelds Carlos/Paulas sicherlich ausgesetzt wäre). Die Lust daran, auch problematische oder im ›eigenen‹ normativen Horizont explizit abzulehnende Figuren auszuloten, äußert auch Franka/Micha: Zwar ist auch ›Micha‹ mit der Zeit zunehmend ›wirklich‹ geworden (wie eingangs dieses Kapitels bereits zitiert). Dennoch unterscheidet Franka/ Micha im Interview teilweise (allerdings nicht durchgängig) deutlich zwischen ›ich‹ und ›Micha‹ und gesteht letzterem gerade deshalb größere Freiheiten zu – die allerdings durch seine zunehmende Nähe zu ›ich‹ auch wieder eingeschränkt werden: »Ich denk’, ich kann als Mann einfach gewisse Sachen machen, die ich mir als ich selber, als Franka mich nicht trauen oder nicht machen würde, weil ich dann - [2]. Zum Beispiel Arschlochsein oder so [lacht], wobei das mittlerweile beim Micha auch nicht mehr geht, weil der ist mir zu sympathisch, er ist mir zu sympathisch geworden, das geht beim Micha -, so richtig arschlochmäßig kann ich den auch nicht machen, weil dazu ist er mir wieder zu nah. Da müsste ich vielleicht noch ’nen neuen Mann kreieren, der so richtig - [2].« (Int. 5)
Sich in einen primären Rahmen gewissermaßen hineinschleichend, gerät ›Micha‹ in die Fänge normativer Urteile ›Frankas‹, von denen sie/er sich nicht vollständig distanzieren kann. Die ›Lösung‹ dessen sieht Franka/ Micha darin, »vielleicht noch ’nen neuen Mann [zu] kreieren«, der, so scheint es, wieder eindeutiger in einem modulierten Rahmen erscheinen und dadurch den Zwängen des ›Wirklichen‹ entzogen würde. Bei der Auseinandersetzung mit den Zwängen des ›Wirklichen‹ steht allerdings noch mehr auf dem Spiel als die Freiheit, »schleimige Spießer« und »Arschlöcher« darstellen zu können. Denn, so wurde oben bereits angerissen, wenn eine geschlechtliche Darstellung in einem primären Rahmen als ›wirklich‹ erfasst wird, stellt sich die Frage danach, welche Version von Wirklichkeit diese Erfahrung organisiert: diejenige, 288
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die im Kontext der Szene und/oder mit ihr verbundenen queeren und Transgender-Kontexten alternative geschlechtliche Existenzweisen als solche wahrnehmbar macht, oder aber die einer rigiden heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit, innerhalb derer solche Existenzweisen lediglich als ›Abweichungen‹ von der Norm begriffen werden können. Gegenüber dem verletzenden Potential des Letzteren wird eine Rahmung von Praxen des Kinging als Spiel, Theater, Kunst oder ähnliches teils auch strategisch in Anschlag gebracht. So etwa von Franka/Micha, die im Rahmen ihres Studiums einen Kurzfilm entwickelt, in dem sie selbst als Protagonist_in in mehreren, sexuell und geschlechtlich verschieden codierten Rollen auftaucht (eine Arbeit, die für sie selbst in engem Zusammenhang mit ihrem Kinging steht). Im Kontext ihrer Reflexion über Reaktionen ihres Studienumfeldes verweist sie auf einen »Schutzraum«, der dadurch gegeben ist, dass es sich um einen Film handelt: »[Es ist] in diesem Schutzraum Film, wenn man Sachen nur im Film macht, ist es noch mal -, oder im Film kann man andere Sachen machen, die man so [4]. Ja, das ist noch mal so ’ne Ausnahmesituation, es ist noch mal irgendwie, da ist mehr erlaubt, im Film ist mehr erlaubt als jetzt im wahren Leben, sag’ ich mal, also - [2], da kann man noch mal sagen: Es ging eigentlich nur um den Film, also es hat nicht wirklich was mit mir zu tun, sondern es ging nur um den Film.« (Int. 5)
Die Rahmung als »Film« im Gegensatz zum »wahren Leben« erlaubt es einem, »andere Sachen [zu] machen« – und zwar, Franka zufolge, genau deswegen, weil man nicht als ›wirkliche‹ Person (des »wahren Lebens«) dafür einstehen muss. Zwar wirft der Film möglicherweise die Frage auf, was er über Franka ›selbst‹ aussagen mag, aber diese Frage kann beantwortet werden, indem jede identifikatorische Verbindung abgestritten wird: »es ging eigentlich nur um den Film, also es hat nicht wirklich was mit mir zu tun« (eine Antwort, die Franka weder sich selbst noch mir im Interview gibt, die sie sich aber sozusagen als strategischen Ausweg für bestimmte Situationen parat hält). Auch wenn sie von ihrem Kinging erzählt, ist Franka manchen Leuten gegenüber bemüht, klarzustellen, »dass Drag King nicht unbedingt gleich irgendwie in Richtung trans* geht«, weil sie den Eindruck hat, »dass so was die Leute abschreckt, weil in dem Moment, wo Drag King kein Spiel mehr ist, sondern was mit der eigenen Identität zu tun hat, […] die sich zurückziehen und in ihrem sicheren Identitätsrahmen bleiben wollen« (ebd.). Die Wahrnehmung transgeschlechtlicher Darstellungen in einem primären Rahmen kann Phobien und Ängste auf den Plan rufen, die durch 289
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die Rahmung als Spiel oder Theater/Kunst abgewehrt bzw. eingefriedet werden können. So erzählt auch Till, dass seine Schwestern sich durchaus anerkennend zu seinen Performance-Aktivitäten auf der Bühne äußern, seiner alltäglichen transgeschlechtlichen Lebensweise aber misstrauisch bis ablehnend gegenüber stehen (Int. 7). Allerdings gelingt es oftmals nur bedingt, eine Rahmung von Kinging als ›(nur) Spiel‹ anderen gegenüber durchzusetzen und dadurch phobische Reaktionen abzuwehren. Seiner Oma, so Klaus, kann er problemlos von seinem Kinging erzählen, indem er es als ›verkleiden‹ bezeichnet; »vielleicht zeig’ ich ihr auch mal Fotos und sage: Hier haben wir uns als Handwerker verkleidet, und das würde sie dann lustig finden« (Int. 15). Von seiner Mutter befürchtet er jedoch eine andere Reaktion: »Wenn ich meiner Mutter sagen würde -, also das ist jetzt natürlich nur, was ich denke, wenn ich ihr den Begriff Drag King erklären würde, was das ist oder so, dann -, ich bin überzeugt davon, dass sie denken würde, dass ich ’n Mann sein will und dass ich schon immer ’n Mann sein wollte. […] Und ich will das einfach nicht, ich möchte nicht das Bild von -, also in ihrem Kopf sein von der Tochter, die eigentlich ’n Mann sein will und deswegen ja auf Frauen steht. Und es würde sich alles vermischen, was nur teilweise auf ’ner anderen Ebene miteinander zu tun hat, das kann ich echt zurzeit nicht haben, also deswegen bleibt das grade tabu.« (Ebd.)
Die von Klaus erwartete Reaktion seiner Mutter steht für eine pathologisierende Rückbindung der Praxis des Kinging an eine Identifizierung, die im Kontext heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit und der durch sie konstituierten ›Abweichungen‹ bestimmt wird: Die Darstellung männlich codierter Charaktere wird als eine männliche Identifizierung gewertet und diese wiederum als Ursache einer ›abweichenden‹ Sexualität. Im Gegensatz zur Oma, die Kinging innerhalb des von Klaus nahegelegten Rahmens als Verkleidung begreifen und Vergnügen daran finden kann, imaginiert Klaus eine Deutung seiner Mutter in einem primären Rahmen: Die Darstellung gälte ihr, so befürchtet Klaus, als Ausdruck oder Symptom einer zugrunde liegenden Wirklichkeit (psychischer Fehlentwicklung). In seiner Imagination der möglichen Reaktion der Mutter ist es Klaus selbst, der eine solche Interpretation aufruft. Als mögliche steht sie für ihn im Raum, ohne notwendig in einer konkreten Begegnung aktualisiert werden zu müssen, und verweist mit ihrem verletzenden Potential (»das kann ich echt zur Zeit nicht haben«) auf das Risiko, das der Versuch, die eigene Wirklichkeit gegenüber der hegemonialen Version durchzusetzen, beinhaltet. 290
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Der Erfahrungsraum von Kinging als Spiel oder Performance ist jedoch nicht nur in seiner ›Funktion‹ als Schutzraum bedeutsam. Etwas darzustellen, eine Bühnenfigur zu entwickeln und überzeugend zu präsentieren, als Schauspieler_in eine Rolle verkörpern zu können, ohne als Person mit ihr identifiziert zu werden, ist eine Kunst und ein Vergnügen eigener Art und nicht lediglich funktional für etwas anderes. Aufgrund der Durchlässigkeit der Rahmen ist eine solche Vereindeutigung der Performance als ›Theater‹ jedoch gar nicht so leicht herzustellen. Felix beschreibt, dass er seine Bühnen-Performances am besten dann eindeutig als »Rolle« begreifen kann, wenn er weiblich codierte Figuren darstellt: »Also ich bin da Marina, im Röckchen und lange Haare, also Zöpfe, und es ist ganz komisch irgendwie, wir sind ja [sonst] nur so als die Kerle irgendwie auf die Bühne, und das war für mich keine Verkleidung, das war einfach -, ich war auf der Bühne, so. Und kaum war ich in diesem Marina-Kostüm, da war’s ’ne Rolle, weißt du, so. Also ich mein’, eigentlich, sagen wir mal, als w geboren, lebend als m, und auf der Bühne aber wiederum als w, wo dann aber alle denken: Ja, ist es nun ’n Kerl oder ist es kein Kerl. Und alle haben früher immer gedacht, dass ich ’n richtiger Kerl bin, der sich grad in so ’ne Tunte, kleine Tunte, also Mädchen-Tunte in dem Fall verwandelt hat. Also die Rolle, da hab’ ich mich auf der Bühne auf jeden Fall als -, ja, am liebsten einfach gefühlt oder fühl’ mich am besten, wenn ich da wirklich einfach auch ’ne Rolle spiele. […] Und das mit dem Marina-Kostüm, das war halt immer so: Das ist ’ne Rolle, also da bin ich auch ganz anders raus, also das sieht man auch, das haben mir auch ganz viele gesagt, also ich bin immer sehr ernst auf der Bühne, wobei manche finden’s toll, dass ich keine Miene verziehe, manche finden’s doof, dass ich halt so starr im Gesicht bin, was sich mittlerweile glücklicherweise geändert hat. Aber kaum war ich Marina, ist es echt so: Ich bin präsent [lacht], weißt du, so, weil es einfach in so ’ne Rolle schlüpfen ist, und du kannst da dein Ding machen und ist gut.« (Int. 10)
Durch die eindeutig weibliche Codierung unterscheidet sich ›Marina‹ für Felix deutlicher von seinem ›Ich‹ als die männlich codierten Figuren, die er auf der Bühne darstellt, und er kann ›Marina‹ daher ohne Ambivalenz im Rahmen des Theaters begreifen. Dies ermöglicht es ihm offenbar, sein schauspielerisches Potential besser ausschöpfen zu können und eine Bühnenpräsenz zu entfalten, die ihm ansonsten manchmal schwer fällt. Eine solch klare Trennung der Rahmen ist für Felix allerdings erst möglich als Folge der weiter oben skizzierten Stabilisierung von ›Felix‹ als ›ich‹:
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»Also jetzt weiß ich einfach, ich bin [2] ’n Kerl,49 sag’ ich mal so, und kann einfach auf der Bühne noch was anderes darstellen und zeigen. Also ich kann da irgendwie den verrückten Kerl spielen, ich kann den aus den 20er Jahren spielen oder ich kann da irgendwie, was weiß ich, Putzfrau spielen oder ich kann halt auch nach ’ner Musik etwas tanzen als 20er Jahre-Typ, also mit Frack, oder kann irgendwie nach Cindy Lauper einfach da das Mädchen sein irgendwie.« (Ebd.)
In der Anfangszeit war seine Performance-Tätigkeit dagegen ständig verquickt mit dem Ausloten möglicher und wünschbarer Seinsweisen: »Also ich hätte [damals] zum Beispiel nie irgendwie was machen können, was nicht wirklich in mir gesteckt hätte, was ich heute wiederum kann. Wenn ich sage: Okay, ich mach’ da halt irgendwie die Putzfrau, da hätt’ ich am Anfang gesagt: Nee, mach’ ich nicht, ich stell’ mich doch da nicht als Putzfrau irgendwie auf die Bühne oder so. Also es war nicht unter meinem Niveau, aber das war so: Will ich nicht. Also ich will nicht, dass irgendjemand sieht, dass ich da vielleicht ’ne feminine Seite vielleicht auch noch in mir habe, weil die wird ja immer trotzdem bestehen bleiben in ’ner gewissen Art und Weise. Und mittlerweile kann ich sagen: Ja, ich kann das halt auch spielen, ich kann’s auch darstellen, weil es berührt mich nicht mehr. Also vielleicht war das einfach so -, früher war es einfach nur nicht nach rechts und nach links gucken, sondern einfach nur deinen Stiefel durchziehen irgendwie und versuchen, da heil irgendwie rauszukommen. Und wenn du halt in diese Frauenrolle musst, also in dem Fall arbeitsmäßig oder wenn du irgendwo Behörden -, weiß ich nicht, hingehst, da musst du dann halt wieder dich outen sozusagen, dass du ja doch nicht der Kerl bist, sondern Frau Hastdunichtgesehen, und das ist mittlerweile anders, man steht drüber. Also irgendwann ist, denk’ ich, das einfach klar, was du leben willst, dass du damit auch glücklich bist, und dann brauchst du das andere nicht mehr, also du musst dich nicht so extrem separieren, irgendwie zu sagen: Ich bin keine Frau, oder: Ich bin eine.« (Ebd.)
Felix sagt zunächst, dass er früher auf der Bühne nichts hätte darstellen können, »was nicht wirklich in mir gesteckt hätte«. Im Fortgang seiner Schilderung macht er jedoch deutlich, dass gerade die Möglichkeit, mit dem Dargestellten identifiziert zu werden, die Bandbreite möglicher Rollen für ihn begrenzte: Eine weiblich codierte Figur darzustellen, konnte zur Folge haben, »dass irgendjemand sieht, dass ich da vielleicht
49 Felix verwendet die (Selbst-)Bezeichung als ›Kerl‹ im Interview dezidiert in begrifflicher Unterscheidung zu ›Mann‹: »Kerl ist einfach so liebevoll gemeint […]. [I]ch würd’ mich halt auch nicht definitiv als Mann bezeichnen, weil das ist einfach nicht so.« (Ebd.) 292
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’ne feminine Seite vielleicht auch noch in mir habe«; eine Seite, von der er inzwischen sagt, dass sie »immer trotzdem bestehen bleiben« wird, von der er sich damals jedoch deutlich distanzieren musste, um »da heil irgendwie rauszukommen«, d.h. um Felix als ›Felix‹ stabilisieren zu können entgegen der ständigen, alltäglichen Zumutung, sich als »Frau Hastdunichtgesehen« »outen« zu müssen. Einmal mehr wird hier deutlich, dass die Frage, ob ›etwas‹ als Spiel/Theater oder in einer primären Weise gerahmt wird, nicht der willkürlichen Entscheidung einzelner unterliegt, sondern in sozialen, gesellschaftlich strukturierten Situationen und Kontexten entschieden wird. Das Ergebnis seiner Stabilisierung als ›Felix‹ bedeutet für ihn weniger, nun eindeutig keine Frau (mehr) zu sein, sondern den Wegfall der Notwendigkeit, sich so »extrem separieren« und vom Frausein abgrenzen zu müssen. Die Klarheit darüber, »was du leben willst« und die Möglichkeit, das zu tun, gibt ihm eine Gelassenheit, durch die auch ein partielles Identifiziert-Werden als ›weiblich‹ nicht länger verletzend ist; die Möglichkeit, weder sagen zu müssen »ich bin keine Frau« noch »ich bin eine«. Das Spielen weiblich codierter Figuren im Modus der Performance ist für Felix daher auch eine Form der disidentification in Bezug auf Weiblichkeit: ein Aufrufen und Durcharbeiten weiblich konnotierter Darstellungspraxen in einer Weise, durch die Felix eindeutig nicht als ein ›weibliches Ich‹ konstituiert wird, die jedoch auch keine vollständige Distanzierung oder Zurückweisung bedeutet; eine Möglichkeit, (s)eine »feminine Seite« in einer Weise präsent zu machen, die seine Stabilisierung als ›Felix‹ und das, was das für ihn bedeutet, nicht konterkariert.
3.5 Kinging, Rahmen und Wirklichkeiten: Ein Fazit Entgegen einer Perspektive, in der Drag jegliche Vorstellung eines geschlechtlichen Seins, dass es auszudrücken gälte, als eine durch Darstellungspraxen performativ erzeugte Illusion entlarvt (vgl. Kapitel I.1.1), ist die Unterscheidung zwischen ›Spiel‹/›Performance‹ und ›Sein‹/›Leben‹ für die Erfahrung der Praxis des Kinging sehr wohl bedeutsam. In der Reflexion ihrer Praxis rufen die Interviewten unterschiedliche Rahmungen auf, die ihre Erfahrung dessen, ›was vor sich geht‹, organisieren – ob es dabei um die Darstellung einer »Rolle«, ums »Show« machen, ums »Spielen« geht oder darum, etwas zu »leben«, zu »sein«, als »Teil von mir« und damit als ›wirklich‹ zu erleben. Die Analyse hat gezeigt, dass diese unterschiedlichen Rahmungen in vielfältiger Weise bezogen sind auf hegemoniale Modi der Stabilisierung heteronormativer, somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit. 293
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Dass eine strikt zweigeschlechtlich strukturierte soziale Welt hegemonial als Wirklichkeit schlechthin erscheinen kann, geht einher mit der Konstitution bestimmter geschlechtlicher Entwürfe und Existenzweisen als unmögliche oder unwirkliche. Vieles dessen, was in und durch Praxen des Kinging als ›wirklich‹ erfahrbar wird, gilt in einem zweigeschlechtlich strukturierten Horizont als ›nur gespielt‹ oder ›nur inszeniert‹, als eine Nachahmung, eine Verkleidung, eine Täuschung, oder aber als Symptom einer anderen zugrunde liegenden Wirklichkeit, nämlich einer psychischen Störung. (Als ›wirklich‹ gilt dann die Störung, nicht aber das in Anspruch genommene Geschlechtsein der Gestörten.) Die Wahrnehmung bestimmter geschlechtlicher Praxen in solchen modulierten Rahmen hat unterschiedliche Effekte: Als Spiel, Inszenierung oder Verkleidung begriffen, können sie als vergnügliche Unterhaltung erfahren werden. Eine Interpretation als Praxen, die über das ›wahre Geschlecht‹ zu täuschen versuchen, kann hingegen Aggressionen bis hin zu offener Gewalt nach sich ziehen.50 Als Symptom einer Störung verstanden, stellen die Praxen die psychische Gesundheit, teils auch das Personsein der sie Ausführenden in Frage. All dies verweist auf unterschiedliche (mehr oder weniger gewaltsame) Formen der Aberkennung geschlechtlicher Geltungsansprüche. Dass die im Horizont des Kinging entwickelten geschlechtlichen Existenzweisen, denen eine gesellschaftliche, rechtliche und soziale Anerkennung als ›wirkliche‹ vielfach verweigert wird, dennoch lebbar sind; dass ›etwas‹, das teilweise zunächst im Rahmen von Spiel oder Theater in Erscheinung tritt, in einem primären Rahmen als ›wirklich‹ erfahrbar wird, ist – so konnte die Analyse zeigen – vorwiegend ein Effekt der sozialen Bezugnahmen, Beziehungen und Praxen, die die Szene konstituieren. In wechselseitigen wertschätzenden Adressierungen erfährt ›etwas‹ soziale Anerkennung, und das Beispiel von anderen, die alternative geschlechtliche Existenzweisen als lebbare aufzeigen, fungiert als ›Vorbild‹ für eigene mögliche Entwürfe. Räume und soziale Kontexte, in denen solche Bezugnahmen als selbstverständliche routinisiert werden und alternative geschlechtliche Existenzweisen als selbstverständliche gelebt werden, lassen bestimmte Wünsche und Entwürfe als realisierbar erscheinen. Die Verstetigung solcher Kontexte macht sie als einen ›All50 Vgl. zu einer Analyse transphober Gewalt unter diesem Gesichtspunkt Bettcher (2007). Insbesondere unter Bezug auf die Morde an den Trans*Personen Gwen Araujo und Brandon Teena in den USA zeigt Talia Mae Bettcher, wie diese Gewalt von den Tätern als eine ›Bestrafung‹ für die Täuschung über das ›wahre Geschlecht‹, das sich in der Morphologie des Körpers und insbesondere in den Genitalien zu manifestieren scheint, exekutiert und gerechtfertigt wird. 294
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tag‹ erfahrbar, und im gelebten und kollektiv geteilten Alltag werden bestimmte Körperstile routinisiert und habitualisiert derart, dass sie sich einer willkürlichen, planvollen, kontrollierten Inszenierung ein Stück weit entziehen und sich als eine unwillkürliche leibliche Realität aufdrängen können. ›Etwas‹ wird konstitutiver Bestandteil verbindlicher sozialer Beziehungen und in diesen wechselseitig und über die Zeit hinweg stabilisiert. Dieses Wirklichwerden von ›etwas‹ stellt sich für die Interviewten nicht oder nicht allein als Resultat eines intentionalen Handelns dar. Obgleich Praxen des Kinging offensichtlich mit Intentionen verbunden sind (auch hinsichtlich der Bearbeitung von Geschlecht), zeitigen sie Effekte, die die bewussten Absichten der in sie Involvierten überschreiten: Erst in und durch die kollektive Praxis werden bestimmte Wünsche und Entwürfe generiert, als mögliche, als realisierbare und teils als wirkliche erfahrbar – ein »schleichender Prozess« (Felix). Wie jede Wirklichkeit ist auch diese Effekt kollektiver Praxen, eines aktiven Tuns von Akteur_innen, das sich dennoch zum Teil ›hinter ihrem Rücken‹ vollzieht. Im Unterschied zu einer Wirklichkeit, die als ›die‹ Wirklichkeit schlechthin erfahren wird, bleiben die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen des Wirklichwerdens bzw. der Erfahrung als ›wirklich‹ im Kontext des Kinging jedoch in der Erfahrung selbst präsent und werden in den Interviews artikuliert und reflektiert. Die Wirklichkeit von Geschlecht wird hier nicht oder nicht vorrangig – wie hegemonial üblich – in einer als wesenhaft bestimmten Identität und/oder einer biologisch bestimmten Körperlichkeit begründet und damit als vorsozial behauptet, sondern in ihrer sozialen und gesellschaftlichen Bedingtheit sichtbar. Lebbarkeit und deren Bedingungen – und nicht allein ›Identität‹ – ist daher das zentrale Thema bei der Frage nach der ›Wirklichkeit‹, so wie sie hier verhandelt wird. Konstitutiv für Praxen des Kinging ist jedoch nicht nur die mögliche Erfahrung von ›etwas‹ als wirklich, sondern ebenso sehr der durch die Rahmung als ›Spiel‹/›Performance‹ umrissene Erfahrungsraum. Das partielle Aussetzen der Zwänge, die einen an Wirklichkeit binden, ermöglicht das Imaginieren, Ausloten, Entwickeln und Erproben wünschbarer geschlechtlicher Existenzweisen (bzw. auch deren Wünschbarkeit selbst), ohne dies von vorneherein durch die Bedingungen ihrer Realisierbarkeit zu begrenzen. Bedeutsam erscheint eine solche Arbeit an den Rändern dessen, was überhaupt zu wünschen und zu imaginieren möglich ist, insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Feld des Lebbaren nicht nur durch Drohungen, Sanktionen und die Verweigerung von An295
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erkennung für bereits existierende und artikulierbare geschlechtliche Existenzweisen begrenzt wird. Was überhaupt in den Bereich des Vorstellbaren gelangen kann (und wie), ist selbst mit strukturiert durch die jeweilige Verfasstheit von Geschlecht.51 Bestimmte Wünsche und Existenzweisen sind im Horizont heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit zwar als vorstellbare und auch lebbare konstituiert, jedoch in einer Weise, in der sie zugleich abgewertet werden oder als problematisch erscheinen – etwa im Kontext medizinisch-psychologischer Klassifizierungen von sogenannten geschlechtlich-sexuellen Abweichungen und Störungen. Gegenüber dem verletzenden Potential, innerhalb einer derart konstituierten Wirklichkeit begriffen zu werden oder sich selbst zu begreifen, kann eine Rahmung von Praxen des Kinging als Spiel, Theater oder Kunst einen »Schutzraum« (Franka/Micha) oder auch eine Ermächtigung bedeuten: einen Schutz vor der Zumutung, innerhalb klassifizierender und pathologisierender Kategorien erfasst zu werden, oder deren offensive Zurückweisung. Von einigen Interviewten wird eine solche Rahmung daher teils auch strategisch in Anschlag gebracht. Allerdings legen viele der zitierten Interviewpassagen nahe, dass die Bedeutung eines durch derartige Rahmungen konstituierten Erfahrungsraums nicht in seiner Funktion gegenüber hegemonialen Strukturierungen von Geschlecht aufgeht. Die Erfahrungsqualitäten des Spiels oder Theaters sind für viele mit einem besonderen, eigenen Vergnügen verbunden, das keiner weiteren Begründung bedarf. Die Analyse, wie unterschiedliche Rahmungen im Kontext des Kinging an gesellschaftliche und soziale Bedingungen der Vorstellbarkeit und Lebbarkeit geschlechtlicher Existenzweisen gebunden sind, weist bereits über die Goffman’sche Konzeption der Rahmen hinaus. Rahmen geraten so nicht allein als Effekt gesellschaftlicher ›Konventionen‹ in den Blick, sondern in ihrem Zusammenhang mit kollektiven Praxen sowie im Kontext von Machtverhältnissen und deren Sedimentierungen in Institutionen, Wissensweisen und Interaktionsordnungen. Kinging steht diesen Machtverhältnissen nicht äußerlich gegenüber. Herrschende Erfahrungsweisen von ›Spiel‹ und ›Wirklichkeit‹ und deren jeweilige Bedingungen 51 Butler spricht einen ähnlichen Punkt an, wenn sie auf die Bedeutung von ›Fantasie‹ im Kontext von Drag Performances für die Hervorbringung alternativer Möglichkeiten hinweist: »It is important to note that the struggle to survive is not really separable from the cultural life of fantasy. It is part of it. Fantasy is what allows us to imagine ourselves and others otherwise. Fantasy is what establishes the possible in excess of the real« (Butler 2004b: 217). 296
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werden in dieser experimentellen Praxis teils angefochten und umgearbeitet, teils aber auch in Anspruch genommen und wiederholt. Allerdings wird gleichzeitig die Unterscheidung und Entgegensetzung beider Erfahrungsweisen selbst in und durch Praxen des Kinging wiederholt verunklart und diffus. Gezeigt wurde, wie Erfahrungsweisen teils ›schleichend‹ von einem in einen anderen Rahmen wechseln, teils zwischen unterschiedlichen Rahmen hin und her shiften und teils in einem schwer zu bestimmenden Zwischenraum angesiedelt zu sein scheinen. So sehr die Unterscheidung in den Interviews auch in Anspruch genommen wird, um Erfahrungen möglichst präzise zu artikulieren, so wenig lässt sie sich in den meisten Beschreibungen vollständig durchhalten. Relativierungen, nachträgliche Präzisierungen, das Anführen abweichender Beispiele, unauflösbare Widersprüchlichkeiten kennzeichnen viele der hier angeführten Interviewausschnitte. Die Unmöglichkeit einer klaren Grenzziehung zwischen den angeführten Rahmen verweist auf eine Erfahrungsweise, zu deren Beschreibung Goffmans Vokabular nicht mehr ausreicht und die auch ansonsten schwer auf den Begriff zu bringen ist: die Möglichkeit, die eigene Praxis und geschlechtliche Darstellungsweise weder eindeutig als wirklich noch eindeutig als gespielt, weder als direkten Ausdruck noch als bloßen Schein, weder als (wesenhafte) Identität noch als (der eigenen Person äußerliche) Rolle zu erleben. Eine Erfahrungsweise, die Kinging bei weitem nicht durchgängig bestimmt (weil, wie gesagt, immer wieder Vereindeutigungen nach einer der beiden Seiten vor- bzw. in Anspruch genommen werden), die aber eine der in dieser Praxis angelegten Möglichkeiten ist; eine Möglichkeit, durch die – situativ, partiell, kontextuell und flüchtig – sowohl die Zwänge, die einen an eine klassifizierbare, intelligible Identität und damit an Wirklichkeit binden, als auch die Zwänge, die einem die Möglichkeit intelligiblen geschlechtlichen Seins verweigern, angefochten werden. »Es hat sich wie eine Täuschung angefühlt«: Niko Gefragt nach seiner eigenen Geschichte mit dem Kinging, beginnt Niko im Interview mit der Erzählung einer Drag Queen-Performance, die er einige Jahre zuvor miterlebt hat: Die Queen, eine auffällige Erscheinung mit riesiger Perücke, trat mitten in einem Song plötzlich aus der Tür hinaus und mitten auf die Straße, wo sie den gesamten Verkehr aufhielt. Seine Faszination für diese Szene beschreibt Niko später im Interview ausführlicher:
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»Ich denke, was mich an dieser Drag Queen so angezogen hat, war, dass sie stolz war auf diese -, dass sie so offensiv war mit ihrer Weiblichkeit, keine Angst hatte vor diesem Anderssein, sondern daraus was Attraktives gemacht hat, etwas, womit man Leute reinholen und mit ihnen flirten kann. Und außerdem hat sie es performt, also sie übernahm auf ’ne Art die Kontrolle und hat gespielt damit, so dass du nicht wirklich sicher warst, wie viel gespielt und wie viel Realität war, und das war echt faszinierend […]. Ich denke, deshalb hab’ ich dann auch nachgedacht -, ich meine, natürlich nicht in so direkten Begriffen, das war mehr ein Gefühl als alles andere, es war einfach -, ich hatte nicht mehr so viel Angst vor meinem eigenen Anderssein, es fühlte sich an wie etwas -, wie ein wunderbares neues Land, das man entdecken kann.« (Int. 11)
Ein mit Angst und Scham verbundenes Gefühl, »anders« zu sein, begleitet Niko zu diesem Zeitpunkt schon lange. Bereits im Alter von acht Jahren wird sein Körper zum Anlass elterlicher und ärztlicher Sorge, als seine Brüste zu wachsen beginnen; eine Sorge, die sich nicht nur in medizinischen Untersuchungen, sondern vor allem in einem beredten Schweigen äußert. Das dadurch hervorgerufene Gefühl, dass mit ihm etwas »falsch« ist, setzt sich fort, als sich mit dem Eintritt in die Pubertät Körperbau und Körperbehaarung in einer »maskulinen« Weise entwickeln, was auf eine als Krankheit diagnostizierte Besonderheit seiner Hormonproduktion zurückgeführt wird. Wieder wird kaum mit ihm darüber gesprochen. Er glaubt, bei seinen Eltern eine Enttäuschung darüber zu verspüren, keine »normale« Tochter zu haben. Obwohl er sich einerseits vom Stil der anderen Mädchen in seiner Klasse bewusst abgrenzt, empfindet er doch Scham darüber, nicht so sein zu können wie sie. Gegenüber dieser Problematisierung seiner Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit im Kontext von ›Krankheit‹ und peinlichem Schweigen, durch die er sich selbst als »falsch«, als scheiternd an der Verkörperung ›normaler‹ Weiblichkeit erfährt, erlebt er in der Performance der Drag Queen eine gänzlich andere Art der Inszenierung geschlechtlichen »Andersseins«: eine stolze, auch sexuell offensive Art, in der eine spezifische Geschlechtlichkeit zum Medium von Begegnungen werden kann, anstatt schamvoll verborgen zu werden. Die Faszination, die für Niko von der Performance ausgeht, liegt auch darin, dass die Queen sich die Freiheit herausnimmt, »damit« zu spielen, und das Publikum im Unklaren darüber lässt, vie viel von dem Gesehenen »gespielt« und wie viel »Realität« ist. Niko beschreibt dies als eine Form, die »Kontrolle« zu übernehmen: mit etwas zu ›spielen‹, was für Niko bislang Anlass zu Scham und Verunsicherung war; und zugleich eine Lesart zurückzuweisen, die die Performance lediglich als Spektakel begreift. Weniger die konkrete inszenierte Geschlechtlichkeit selbst als diese spezifische, 298
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selbstermächtigende Haltung inspiriert Niko dazu, sich anders zu sich selbst und seiner eigenen Geschlechtlichkeit ins Verhältnis zu setzen – sie als etwas neu zu entdeckendes zu begreifen. Nicht dieses Erlebnis allein, sondern auch andere, zeitgleiche Entwicklungen bedingen einen solchen Prozess. Gerade frisch als Lesbe geoutet, bewegt Niko sich nun erstmals in Zusammenhängen, in denen das, was er seine »Männlichkeit« nennt, als »butch« gelesen und geschätzt wird, und er beginnt, das Potential dessen auszuloten und zu kultivieren. In den kommenden Jahren engagiert er sich mehr und mehr in einer deutlich männlich codierten Verkörperung und greift dabei auch auf Stilmittel des Kinging zurück (durch Kleidung, Abbinden, packing), ohne dies jedoch als Drag zu begreifen: Drag bedeutet für ihn eine als solche kenntlich gemachte geschlechtliche Performance, während er diese Art der Gestaltung seines Körpers als eine Möglichkeit erlebt, sich »sexy« zu fühlen, als Ausdruck seiner »Sexualität« und »Persönlichkeit«. Dennoch bleibt die Frage, was seine derart besetzte Körperlichkeit für seine geschlechtliche Verortung bedeutet, für ihn virulent. In seine Wut über die medizinische Umgangsweise mit seiner körperlichen Konstitution, die geprägt ist durch Desinformation und in der für ihn unklar bleibt, inwieweit es dabei um ›notwendige‹ medizinische Behandlungen zur Abwehr von Gesundheitsrisiken geht oder aber um die Normierung zur ›Frau‹, mischt sich die Frage, ob er selbst sich eigentlich als Frau oder als Mann begreift. Im Kontext seiner Beziehungen zu (anderen) transgeschlechtlich lebenden Menschen entwickelt er schließlich die Möglichkeit, sich nicht in der einen oder anderen Weise entscheiden zu müssen, sondern eine Verortung als ›trans*‹ zu leben. Gegenüber den alltäglichen Anstrengungen, die das mit sich bringt – abschätzenden Blicken auf der Straße ausgesetzt zu sein, Missachtung oder Spott zu spüren zu bekommen, die häufige Aufforderung, über sein Geschlecht Auskunft zu geben, das Vereindeutigt-Werden als Mann oder als Frau – erlebt er die Drag King-Szene, in die er nun mehr und mehr eintaucht, als einen sozialen Kontext, in dem eine solche Verortung selbstverständlich lebbar ist. In anderen Zusammenhängen reagiert er in unterschiedlichen Weisen auf die Anforderung, sich geschlechtlich lesbar zu machen: Mal antwortet er auf Fragen nach seinem Geschlecht, eine Frau zu sein, und mal legt er es bewusst darauf an, als Mann durchzugehen. Beides bereitet ihm jedoch häufig Unbehagen – so auch eine Situation, in der er sich (in Drag und mit der Absicht zu passen) eines nachts in einer Schwulenbar lange mit zwei älteren Männern unterhält und dabei zweifelsfrei als Schwuler adressiert wird. Die Begegnung verläuft ausgesprochen freundlich – seine beiden Gesprächs299
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partner sind gerührt über die Freundlichkeit dieses attraktiven jungen Mannes, der sich mit ihnen abgibt, anstatt sie zum ›alten Eisen‹ zu rechnen –, und dennoch fühlt Niko sich danach unwohl und auch »schuldig«, was ihn selbst überrascht: »Es hat sich wie eine Täuschung angefühlt. Und das ist komisch, weil -, ich sehe mich selbst mehr als schwulen Mann als als irgendwas anderes – ich hab’ Sex wie ein Schwuler, ich steh’ auf Männerkörper oder so, und auf Frauen, die sehr butch sind, und ich mag schwulen Porno – na ja, ich mein’, wer mag das nicht [lacht], ich denke mal, ’ne Menge Leute mögen das. Aber es ist -, wenn ich eine Identität oder so was wählen müsste, würde das dem wahrscheinlich am nächsten kommen, am ehesten etwas beschreiben. Und deshalb ist es ziemlich seltsam für mich, dass es sich so schlecht anfühlt -, oder nicht so schlecht, aber dass es sich seltsam anfühlen sollte, für das gehalten zu werden, was ich eigentlich fühle zu sein, es -, plötzlich war es wie: Nein, nein, nein, das bin ich nicht. Ich denke, es war halt wieder dieses Gefühl, ein bisschen unsichtbar zu sein, dass ein Teil von mir unsichtbar war.«
Nicht nur lesbische, sondern auch (und zunehmend) schwule Ausformulierungen von Begehren, Sexualität und geschlechtlichen Identifizierungen sind Teil des Horizonts, in dem Niko seine eigenen körperlichgeschlechtlichen Wünsche und Praxen bedeuten kann, und auch seine Beziehung mit einer anderen Person aus der Drag King-Szene gilt beiden als schwul. Warum, so fragt Niko sich selbst, fühlt es sich dann wie eine »Täuschung« an, wenn er als Schwuler durchgeht, wie ein Vorspielen von etwas, das er nicht ist, und nicht wie ein Ausdruck seines Seins? Die Art und Weise, wie Niko selbst sich ›wirklich‹ als Schwulen erlebt, ist ganz offensichtlich nicht dieselbe wie die Erfahrungsweise seiner Gesprächspartner. Wüssten sie um seine Körperlichkeit, seine Geschichte, seine Verortung, würden sie sich vermutlich tatsächlich ›getäuscht‹ fühlen. Da Niko seine eigene, in Transgender Kontexten und in der Kings-Szene stabilisierte Version von Wirklichkeit nicht als eine in dieser Interaktion teilbare durchsetzen kann, hört sie auch für ihn selbst auf, stabil zu sein. Er selbst gewinnt, zu seiner eigenen Überraschung, den Eindruck, jemanden zu ›täuschen‹ – d.h. er erlebt seine geschlechtliche Darstellungsweise nicht länger in einem primären Rahmen, sondern als Versuch, etwas darzustellen, was er ›eigentlich‹ nicht ist.52 Niko wird in der Begegnung als Schwuler anerkannt, aber nicht in der Weise, 52 Mit seinem (unfreiwilligen) Engagement in dieser Erfahrungsweise schafft Niko die Möglichkeit einer mit seinen Gesprächspartnern teilbaren Rahmung der Situation: Sie wird damit potentiell – wenn auch nicht aktuell – rückführbar auf einen primären Rahmen, in dem Niko nicht ›wirklich‹ ein Mann und ein Schwuler ist. 300
KINGING, SELBST- UND WELTVERHÄLTNISSE
wie er das gerne hätte, so dass er sich nicht vollständig ›sichtbar‹ fühlt. Er resümiert dieses Erlebnis mit den Worten: »Ich hab’ den Eindruck, wenn ich Drag nutze, um meine Uneindeutigkeit zu verstecken anstatt sie aufzudecken, fühlt es sich falsch an.« Auf diesen Satz kommt Niko im Interview mehrfach wieder zurück. Er möchte nicht nur Drag, sondern insgesamt Techniken und Stilmittel geschlechtlicher Verkörperung und Darstellung in einer Weise nutzen, die seine geschlechtliche »Uneindeutigkeit« sichtbar macht. In einer doppelten Weise sind Praxen und soziale Kontexte des Kinging konstitutiv für ein Gelingen dessen. Anders als in den geschilderten Situationen fühlt er sich in der Szene in seiner Geschlechtlichkeit ›gesehen‹ (in einem primären Rahmen); die Szene bedeutet ihm einen »Raum, in dem ich mich gesehen fühle, anstatt immer zu verschwinden«. Von dieser alltäglichen Seins- und Wahrnehmungsweise in Szene-Kontexten unterscheidet er zunächst deutlich seine bühnenbezogene PerformancePraxis: Gerade weil sie seine alltägliche Erscheinungsweise und Verkörperung prägt, reizt ihn die Inszenierung von Männlichkeit auf der Bühne wenig – es gelingt ihm dann nur schwer, dies tatsächlich als ›Performance‹ zu begreifen, außer in deutlich parodistischen und überzeichnenden Darstellungen. Interessanter findet er hier das Experimentieren mit Darstellungsformen, die sich von seinen Alltagsinszenierungen deutlich unterscheiden, am liebsten im Entwerfen von Grenzfiguren, die sich herkömmlichen geschlechtlichen und sexuellen Zuordnungen entziehen: etwa als Drag Queen Weiblichkeiten auszuloten, die einerseits deutlich schwul konnotiert sind, die Niko jedoch gleichzeitig als Inszenierung »starker Frauen« begreift und in denen für ihn auch eine Tradition lesbischer Butchness lebendig ist; oder auch durch eine Vermischung von Stilmitteln und Codes für Verwirrung zu sorgen: »Ich mag auch mixed drag sehr, so genderfuck-Sachen, wie einen Bart dran machen und dann ein Kleid anziehen, weißt du, so dass die Leute überhaupt nicht mehr durchsteigen können. Weil körperlich wirke ich so männlich, dass die Leute, wenn ich ein Kleid anziehe, oft denken, dass ich ’ne Drag Queen bin, wenn ich noch ’nen Bart dranhabe, und das finde ich total lustig [lacht], also ich mag es, die Leute total zu verwirren.«
Seine sorgfältig geplanten und gestalteten und als solche kenntlich gemachten Performances zielen nicht auf einen transparenten Selbstausdruck, sondern im Gegenteil auf die Verwirrung und Verunklarung herrschender Lesweisen und implizieren teils eine Verweigerung von Intelligibilität (eine Zurückweisung der Zumutung, innerhalb der zweigeschlechtlichen, auf der Kohärenz von sex, gender und Begehren basie301
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
renden Ordnung sich lesbar machen zu sollen). Dennoch oder zugleich begreift Niko auch seine Performances als Teil des Projekts, »Uneindeutigkeit« »sichtbar« zu machen – er zielt damit also nicht nur auf Verunklarung und Verwirrung, sondern auch auf die Möglichkeit anderer Wahrnehmungsweisen, in denen anderes sichtbar werden kann; ein Projekt, das seine ›alltäglichen‹ Darstellungsweisen und Auseinandersetzungen und seine Bühnenpraxis verbindet. Auch wenn Niko einerseits deutlich unterscheidet zwischen seiner alltäglichen geschlechtlichen Seinsweise und seinen Bühnen-Performances, artikuliert er andererseits eine spezifische Haltung zu Geschlecht, die gerade durch die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von ›Performance‹ und ›Sein‹, von »spielen« und »leben« geprägt ist: »Durch meine eigene Erfahrung mit Drag weiß ich, dass man etwas als -, als Illusion oder als Schein betrachten kann, als etwas, was du dir aneignest, um damit zu spielen, und dass du es gleichzeitig leben kannst. Das ist möglich, aber für die meisten Leute ist es das, glaub’ ich, nicht. […] Sie denken, wenn sie damit spielen, verlieren sie es. Und das stimmt einfach nicht. Leute dazu zu bringen, das zu kapieren, würde mir schon reichen [lacht].«
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IV. Interaktionen, Bezugnahmen, Beziehungen: Geschlecht in unterschiedlichen Kontexten Im vorangegangenen Kapitel (III) wurde gezeigt, wie durch Praxen des Kinging alternative Möglichkeiten, geschlechtlich in der Welt zu sein, hervorgebracht werden, und zwar in einer Weise, die sie zumindest teilweise als ›wirklich‹ erfahrbar werden lässt. Im Fokus standen damit im Horizont der Szene kollektiv entwickelte und gelebte Praxen und die Frage danach, was durch sie (praktisch) konstituiert wird. Dabei wurde bereits deutlich, dass diese Praxen eingelassen sind in soziale Beziehungen und Bezugnahmen, und dass der Effekt des ›Wirklichwerdens‹ von ›etwas‹ wesentlich von diesen abhängt: Wer man geschlechtlich sein kann, was als ein ›Teil von mir‹, als ein ›Ich‹, als Wirklichkeit eines eigenen Geschlechtseins lebbar und erfahrbar wird, ist gebunden an unterschiedliche Weisen des Adressiertwerdens sowie eigener Bezugnahmen auf andere, realisiert sich in Interaktionen und Beziehungen in geschlechtlich strukturierten sozialen Zusammenhängen. Vor dem Hintergrund ihrer empirischen Studien zu Transsexualität haben sowohl Gesa Lindemann (1993) als auch Stefan Hirschauer (1993) den Umstand, dass die Wirklichkeit des Geschlechtseins als eine soziale in Interaktionen (oder zumindest deren Potentialität) hervorgebracht und perpetuiert wird, pointiert formuliert. »Jemand ist ein Geschlecht, indem er/sie eines für andere ist, und jemand ist ein Geschlecht, indem andere ein Geschlecht für sie bzw. ihn sind«, artikuliert Lindemann diesen Umstand (1993: 61), und Hirschauer bemerkt: »Dass ein Teilnehmer allein sein Geschlecht nicht wechseln kann, liegt weniger daran, dass er für seine besondere ›transsexuelle‹ Kondition Ärzte und soziale Unterstützung bräuchte, sondern daran, dass er es allein gar 303
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
nicht ›hat‹« (1993: 53). Die Wirklichkeit von Geschlecht, so machen beide Autor_innen deutlich, beruht wesentlich auf praktischen, körperlichen sozialen Bezugnahmen – auf Darstellungs- und Wahrnehmungsakten, die (so hebt insbesondere Lindemann hervor) nicht nur auf der Ebene des Visuellen, sondern auch auf der des leiblich-affektiven Spürens (des eigenen und begegnender Körper) vonstatten gehen. Dass man ein Geschlecht ist, indem man eines für andere ist, verweist allerdings implizit auf die Frage, welche Geschlechter man überhaupt für andere sein kann – eine Frage, die im Kontext der Wirklichkeit, die Lindemann und Hirschauer in den Blick nehmen, eine relativ eindeutige Antwort erhält: Mann oder Frau.1 Vor dem Hintergrund meiner Ergebnisse muss die Frage danach, wie geschlechtliche Wirklichkeiten in alltäglichen Interaktionen hervorgebracht werden, nun offensichtlich ergänzt werden um die Frage, um welche Wirklichkeit es sich dabei jeweils handelt. Welche Wirklichkeit in einer Situation gültig ist, entscheidet grundlegend darüber, wie die Welt für die Beteiligten strukturiert ist (u.a. welche geschlechtlichen Existenzweisen darin vorkommen können) und damit zugleich darüber, ›wer‹ die Beteiligten selbst sind oder sein können – für sich selbst und für andere. D.h. dass alle Beteiligten in ihrem geschlechtlichen Sein abhängig sind davon, welche Wirklichkeit sich als für sie gültige erweist. Um diesen Aspekt soll es im Folgenden gehen. Rekonstruiert werden soll, welche geschlechtlichen Wirklichkeiten in Interaktionen in geschlechtlich unterschiedlich strukturierten sozialen Kontexten hervorgebracht werden und welche Möglichkeiten geschlechtlichen Seins damit einhergehen: Werden die im Horizont der Szene entwickelten kollektiven Praxen auch in anderen sozialen Kontexten wirksam, und wenn ja, auf welche Weise? Welche Effekte hat das Involviertsein in unterschiedliche Kontexte für geschlechtliche Selbstverhältnisse? Zu fragen ist auch, als wie stabil und wie verbindlich sich die jeweiligen Wirklichkeiten erweisen (und für wen); wo umgekehrt Risse, Brüche oder Irritationen auftreten, vermeintliche Selbstverständlichkeiten fraglich werden, ein Knirschen vernehmbar wird; und wo sich möglicherweise unterschiedliche Wirklichkeiten überlappen, so dass eine Situation durch mehrere Wirklichkeiten zugleich strukturiert zu sein scheint. 1
Lindemann und Hirschauer zeigen allerdings auch, wie jemand in Beziehungen und Begegnungen teilweise auch dann ›wirklich‹ ein Mann oder eine Frau sein kann, wenn diese Wirklichkeit nicht durch einen biologisch und/oder morphologisch eindeutigen entsprechenden Geschlechtskörper fundiert wird. D.h. es geht auch bei ihnen teils um geschlechtliche Wirklichkeiten, die nicht vollständig durch die hegemoniale, heteronormative und somatisch fundierte Zweigeschlechtlichkeit determiniert sind.
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INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
Gegliedert ist das Kapitel vorwiegend entlang unterschiedlicher Strukturierungen sozialer Situationen. In Kapitel IV.1, das sich mit Bezugnahmen und Beziehungen im Horizont der Szene und ihres Umfelds befasst, werden diesbezügliche Ergebnisse des letzten Kapitels in Erinnerung gerufen und um einige weitere Aspekte ergänzt. In Kapitel IV.2 geht es um flüchtige Begegnungen im öffentlichen Raum – Begegnungen, in denen nicht unbedingt gesprochen wird und in denen daher die Frage danach, wie man (im wörtlichen Sinne) sieht und gesehen wird und was man zu sehen gibt, besonders entscheidend ist. Kapitel IV.3 beleuchtet Erfahrungen in Erwerbsarbeitsverhältnissen. Arbeitsbeziehungen lassen sich zunächst grob als nicht vollständig freiwillig eingegangene und oft hierarchische soziale Beziehungen charakterisieren, die ein gewisses Maß an Verbindlichkeit und Dauer implizieren, was sowohl besondere Zwänge als auch Aushandlungsspielräume bedeuten kann. ›Geschlecht‹ wird hier in doppelter Weise relevant: Geschlechtliche Aushandlungen, Erwartungen und Anforderungen, wie sie in jeder sozialen Beziehung wirksam werden, verschränken sich hier mit je spezifischen vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Strukturierungen beruflicher Tätigkeiten, Arbeitsfelder und (hierarchisierter) Positionen. Die durch diese Verschränkung konstituierten geschlechtlichen Strukturierungen, die daraus resultierenden Anforderungen und Spielräume und die unterschiedlichen Umgangsweisen damit stehen im Fokus dieses Abschnitts. Das Thema längerfristiger Beziehungen wird in Kapitel IV.4 über die Beschränkung auf Erwerbsarbeitsverhältnisse hinaus weiter verfolgt. Im Zentrum steht hier die Frage nach den (Un-) Möglichkeiten, die im Kontext der Szene konstituierte Wirklichkeit von ›etwas‹ auch unter den Bedingungen der zweigeschlechtlichen Strukturierung anderer Kontexte für sich selbst (auf der Ebene der Selbstverhältnisse) beizubehalten und/oder (mit-)teilbar zu machen.
1. Geschlecht in der Szene Im vorangegangenen Kapitel wurde gezeigt, wie sich im Zuge von Praxen des Kinging veränderte geschlechtliche Wahrnehmungsweisen und Selbstverhältnisse entwickeln können, wie sich ein alternativer ›Habitus des Geschlechtseins‹ zu konstituieren vermag, der eine Entselbstverständlichung der zweigeschlechtlich strukturierten Welt betreibt, und wie sich – in fließenden Übergängen zwischen unterschiedlichen Erfahrungsweisen – ›etwas‹ in einem »schleichenden Prozess« als lebbare Möglichkeit, als ›Teil von mir‹, als ›wirklich‹ erweisen kann. Die damit einhergehenden sozialen Bezugnahmen, die Adressierungs- und Bezie305
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
hungsweisen, die sich im Horizont der Szene und ihres Umfeldes herausbilden und eine geteilte Wirklichkeit mit herstellen, rückten dabei immer wieder sporadisch, aber nicht systematisch in den Blick. Im Folgenden werden einige wesentliche Charakteristika solcher Bezugnahmen kurz in Erinnerung gerufen und durch einige weitere Aspekte ergänzt. Im Unterschied zu einer strikt zweigeschlechtlich organisierten Wahrnehmung, so wurde in Kapitel III.1 gezeigt, werden im Horizont der Szene »produktive Blicke«, die ander/e/s zu sehen vermögen, nicht nur vereinzelt wirksam, sondern in einer Weise gewöhnlich, dass sich (vorsichtig) von einem alternativen gaze, einem anderen Blickregime, sprechen lässt. Dies legt auch das folgende Zitat von Flin nahe: »Im Prinzip bin ich genauso wie vorher [vor dem Kinging; U.S.] auch, nur hat’s jetzt halt Worte gefunden und wird anerkannt, ich fühl’ mich jetzt nicht anders, es hat halt nur ’ne Ausdrucksweise bekommen sowohl visuell über Drag King sein -. Ich mein’, die Klamotten, die ich anhab’, die hab’ ich schon immer an, ich hab’ immer die Klamotten von meinem Bruder getragen und da hat sich nichts geändert, aber es hat jetzt zum ersten Mal ’ne Visibilität gekriegt.« (Int. 6)
»Es« – ›etwas‹ – findet Flin zufolge im Kontext des Kinging Worte und Anerkennung und eine visuelle »Ausdrucksweise«. Die »Visibilität«, die ›etwas‹ bekommt, ist nicht allein Effekt einer geschlechtlichen Darstellungsleistung (wie etwa dem Tragen männlich konnotierter Kleidung), denn daran, so Flin, habe sich eigentlich nichts geändert. Erst in Verbindung mit einer kollektiv geteilten und sich verstetigenden Wahrnehmungsweise, die nicht strikt zweigeschlechtlich strukturiert ist, konstituiert sich eine andere Sichtbarkeit, eine anerkennende und als adäquat empfundene Weise des Gesehen-Werdens; konstituiert sich die Szene als ein »Raum, in dem ich mich gesehen fühle, anstatt immer zu verschwinden«, wie Niko konstatiert (Int. 11). Neben der visuellen Dimension, in der ›etwas‹ im Kontext der Szene Anerkennung erfährt, verweist Flin auf die Bedeutung der Sprache (etwas hat »Worte gefunden«). Bezeichnungen für geschlechtliche Verortungen und Verkörperungen – etwa Transgender, trans*, auch Drag King selbst – machen, bei all ihrer Umkämpftheit, Wandelbarkeit und Unschärfe, ›etwas‹ benennbar, sprachlich kommunizierbar, intelligibel – für diejenigen, die sich in dieser Sprache bewegen und sie miteinander teilen. Auch die Praxis, sich selbst (einen oder mehrere) neue Namen zu geben und die alltäglich werdende Verwendung dieser Namen im Kon306
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
text der Szene – teils durchgehend, teils situativ und alternativ zum weiterhin verwendeten Geburtsnamen, je nach unterschiedlichen individuellen Wünschen und/oder sich verselbständigenden Gewohnheiten des Gebrauchs – trägt dazu bei, dass in Adressierungen und Bezugnahmen alternative geschlechtliche Verortungen als sozial geteilte und anerkannte wirklich werden.2 Dasselbe gilt für die Verwendung von Pronomina: »Da [im Kontext einer Drag King-Performance-Gruppe] hat’s auch zum ersten Mal angefangen, dass mich Leute mit er anreden, wir haben von Anfang an er gesagt, das war der erste Raum, wo ich so angeredet wurde, wie ich das auch richtig finde. Ich finde sie auch richtig, aber es muss im -, in der Balance bleiben. Und wenn du im täglichen Leben immer mit sie und als Frau angesprochen wirst, brauchst du-, brauch’ ich einen Raum, wo’s eben nicht so ist. Und dieser Raum ist auch immer größer geworden zum Glück, und jetzt passt’s auch. Also mit der Situation, wie’s jetzt ist, kann ich auch echt leben, aber früher war’s nicht richtig. […] Und es verändert ja auch, wie du dich selber siehst, wie du angesprochen wirst, ist auch klar. Das macht schon was auch mit dir.« (Int. 6)
Sich sprachlich mit männlichen Pronomina auf ihn zu beziehen, empfindet Flin als »richtig«. Allerdings ist das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem hier offensichtlich ein anderes als in der hegemonial üblichen Verwendungsweise geschlechtsanzeigender Fürwörter, denn die Verwendung von ›er‹ schließt für Flin die alternative Verwendung von ›sie‹ als Referenz auf dasselbe zu Bezeichnende nicht aus (»ich finde sie auch richtig«). Diese Möglichkeit kann die Bedeutung des Gebrauchs männlicher Pronomina in der Szene nicht unberührt lassen: Obgleich eindeutig männlich codiert, bezeichnen die Pronomina hier nicht notwendig als männlich vereindeutigte Personen. Die Funktionsweise ist homolog zu der, die für den Drag King-Bart bereits herausgearbeitet wurde (vgl. Kapitel III.1): Der Gebrauch männlicher Pronomina im Horizont der Szene löst das so Bezeichnete aus dem Horizont eindeutigen Frauseins heraus und hält zugleich einen Abstand zur Bedeutung ›Mannsein‹. Und: die Pronomina werden, durch die Möglichkeit einer willentlichen Entscheidung für das eine oder das andere und durch die Möglichkeit alternierenden Gebrauchs, als Konventionen erkennbar und so entselbstverständlicht. Dennoch und zugleich sind Flin die verwendeten Pronomina durchaus nicht egal, sie bleiben ihm nicht äußerlich, sie weist sie nicht als eine bloße, für sie bedeutungslose Kon2
Dieser Aspekt wurde in Kapitel III.3.3 in Bezug auf ›Klaus‹ ausführlich thematisiert. 307
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
vention zurück. Die Bezeichnungen haben eine performative Wirkung auch auf sein geschlechtliches Selbstverhältnis (»es verändert ja auch, wie du dich selber siehst, wie du angesprochen wirst«); ein Selbstverhältnis, in dem er sich jedoch nicht als Mann konstituiert, sondern in der »Balance« zwischen zwei je unterschiedlich geschlechtlich vereindeutigenden Bezeichnungen seine/ihre Verortung als trans* auslotet. Die Präferenz für bestimmte Pronomina und deren subjektive Bedeutungen sind für die Einzelnen unterschiedlich. Für manche bezeichnet ›er‹ ausschließlich einen Bühnencharakter oder eine auf bestimmte Situationen beschränkte Seinsweise, einige empfinden wechselnde Verwendungen von ›sie‹ und ›er‹ als angemessen, und für andere ist der Gebrauch männlicher Pronomina für sich selbst eindeutige Präferenz und zur Selbstverständlichkeit geworden, was für einige auch bedeutet, sich als Mann zu konstituieren oder ein Mannsein zum Ausdruck zu bringen. Es ist in der Szene üblich, im Zweifelsfall danach zu fragen, wie jemand adressiert werden möchte bzw. wie in der dritten Person auf sie/ihn Bezug genommen werden soll. Aus den unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten ergibt sich – wiederum ähnlich wie für den Drag KingBart – eine gewisse Unschärfe dessen, was geschlechtliche Pronomina innerhalb der Szene genau bezeichnen; eine Unschärfe, die konstitutiv ist für die Möglichkeit der Investition in und Bezugnahme auf unterschiedliche, in den hegemonialen Bedeutungen von ›er‹ und ›sie‹ nicht implizierte geschlechtliche Seinsmöglichkeiten. Anerkennbar werden alternative geschlechtliche Verortungen und Verkörperungen auch in erotischen und sexuellen Bezugnahmen: im erotischen Austausch zwischen Bühnenperformances und Publikum, in Blicken, Berührungen, Begegnungen, in szenenahen sexuellen Räumen,3 in sexuellen und Liebesbeziehungen. »Und auch meine Freundin, die hat mich so unterstützt, also ich glaub’, ihr gefällt das auch, dass ich so bin. […] ich hab’ mich auch gerne dann so >4@ richtig von ihr als Drag King ansehen lassen, also das war dann ganz klar, dass ich eigentlich erst mal in die Richtung mit ihr gehe.« (Int. 12)
Die meisten der sexuellen und Liebesbeziehungen, die in den Interviews thematisiert werden, haben sich im Kontext der Drag King-Szene oder in szenenahen Zusammenhängen eines trans*-/queeren Umfelds entwi3
Einige der Interviewten berichten von diesbezüglichen Erfahrungen in (insbesondere lesbisch und/oder queer geprägten) BDSM- und FetischKontexten. Vgl. zu Möglichkeiten des Gender Play in solchen Kontexten und damit verbundenen Bezugnahmen und Erfahrungsräumen Hale 1997; Bauer 2005 und 2007.
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INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
ckelt. Sean hat die Freundin, von der er sich »als Drag King ansehen« lässt und durch deren »produktiven Blick« er darin unterstützt wird, weiter mit ihr »in die Richtung« zu gehen, in einem Butch/FemmeKontext kennen gelernt; auch zwei weitere Interviewte sind zum Zeitpunkt des Interviews mit Femmes aus einem solchen Kontext zusammen. Sieben Interviewte hatten oder haben langfristige Partnerschaften mit Menschen, die ebenfalls als Drag Kings in der Szene ›unterwegs‹ sind. Erzählt wird außerdem von vergangenen oder gegenwärtigen Beziehungen mit Menschen, die sich in Trans*-Zusammenhängen verorten (z.B. eine Beziehung mit einem Transmann, zwei Beziehungen bzw. Affären mit Transfrauen) oder in queeren, insbesondere lesbischqueeren Kontexten. Lediglich eine_r der Interviewten ist zum Zeitpunkt des Interviews mit einer (Cis-)Frau zusammen, die sich bislang ausschließlich in heterosexuellen Kontexten verortet hat.4 Hier werden also Beziehungen thematisiert, in denen von unterschiedlichen Verortungen und Verkörperungen aus verschiedene, konkrete Geschlechtlichkeiten begehrt, geliebt, in sexuellen Praxen konstituiert und anerkannt werden; Beziehungen, die Bestandteil der Bezugnahmen und Praxen sind, durch die im Kontext der Drag KingSzene und ihres Umfelds alternative geschlechtliche Möglichkeiten entwickelt und wirklich werden, und die zugleich selbst in ihrer Spezifizität erst in einem solchen Kontext sinnhaft verstehbar werden: Bela erzählt von ihrer Affäre mit einer Transfrau, die in Kontexten außerhalb der Szene regelmäßig als heterosexuelle Beziehung galt, in der sie selbst als Frau und ihre Partnerin als »Mann mit ’nem Rock irgendwie« wahrgenommen wurde, »obwohl es ja tendenziell dann eher andersrum gewesen wäre: ich als King, und sie irgendwie so sich überhaupt nicht gern als Mann definieren würde« (Int. 14). In der Szene, so Bela, war dagegen klar, »das ist jetzt ’ne lesbische Sache« (ebd.). Als lesbisch begreift auch Tam weiterhin die von ihm gelebten sexuellen Beziehungen, auch wenn er häufig als Mann und seine Beziehungen zu als solchen erkennbaren Frauen als heterosexuell gelesen werden. Beziehungen zwischen zweien, deren Passeintrag (noch) auf ›weiblich‹ lautet und deren Verkörperung dem hegemonialen gaze ebenfalls als solche gilt, können im Horizont der hier verhandelten Szenen als schwul oder »trannyschwul« (Int. 6) gelten, ebenso ein Kings-Begehren nach Cis-Männern. 4
Einige der Interviewten hatten in der Vergangenheit auch Beziehungen mit Cis-Männern, allerdings keine_r von ihnen seit Beginn des Engagements in der Drag King-Szene. Beziehungen mit Cis-Männern, die dann oft als schwule Beziehungen erfahren und charakterisiert werden, werden im Kontext der Szene aber ebenfalls gelebt, wie u.a. aus dem Austausch auf der Mailingliste hervorgeht. 309
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Dass Begehrensweisen und Beziehungsformen derart oder auch als jenseits der Termini lesbisch, schwul, bi- oder heterosexuell angesiedelt begriffen werden, ist hier nicht nur mögliche private Übereinkunft zwischen zweien, sondern prägt auch die Wahrnehmung der Beziehungen innerhalb des sozialen Gefüges der Szene.5 Die Herausbildung und Routinisierung von sprachlichen, visuellen und körperlichen sozialen Bezugnahmen, durch die ›etwas‹ ander/e/s sichtbar, sinnhaft verstehbar und anerkennbar wird, schafft Räume, in denen die hier verhandelten geschlechtlichen Existenzweisen als selbstverständlich, nicht weiter erklärungsbedürftig, jenseits einer Markierung als ›anders‹ gelebt werden können. Carlo erzählt von einem Drag KingStammtisch: »Und je nachdem gab’s eben interessante Diskussionen und manchmal auch sehr intime Gespräche, ne, auch sehr intime Zweiergespräche, ähm, neue Kontakte, und gleichzeitig konntest du aber auch einfach nur Spaß haben, dein Bier trinken und dummes Zeug erzählen, so, [2], und du selber sein, entspannt sein. Das war, glaub’ ich, so der Punkt, dass viele irgendwie da ein Forum gefunden haben, so: Ah, jetzt kann ich mich entspannen, ich bin nicht anders, sondern ich bin wie ich und das ist total okay.« (Int. 4)
Entspannung und Selbstverständlichkeit: »Also irgendwie ist das Stück für Stück normaler geworden, irgendwie so: Gibt halt Kings, ne, so, ist halt -, ist halt da, gut ist. Ja, okay«, resümiert Klaus eine Entwicklung in seinem sozialen Umfeld und meint damit nicht nur ›die‹ Drag KingSzene im engeren Sinne, sondern freundschaftliche, bekanntschaftliche und auch politische Netzwerke und Verflechtungen unterschiedlicher Kontexte: universitär geprägte queere und queer-affine Gruppen, lesbische, lesbisch-schwule und Trans*-Kontexte, feministische, linke und links-autonome Zusammenhänge (Int. 15). Flin spricht von einer ähnlichen Entwicklung:
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Die Art und Weise, wie man zu anderen in Beziehung steht, ist Teil dessen, wie man auch öffentlich als eine geschlechtliche Person in Erscheinung tritt. Aussagen wie ›mein Mann‹, ›meine Freundin‹ etc. verorten immer auch den/die Sprecher_in und den/die derart Bezeichnete/n in einer geschlechtlich-sexuellen Ordnung. Auch deshalb ist es von Bedeutung, auf welche Weise Liebes- und sexuelle Beziehungen sinnhaft verstehbar werden. In zweigeschlechtlich strukturierten Kontexten steht etwa Felix vor folgendem Problem: »Na, jedenfalls [2] ist halt zum Beispiel die Frage, ja, was machst du, also wie soll Tina mich vorstellen. Sie kann nicht sagen, das ist mein Freund, weil irgendwie ist es ja so, aber irgendwie doch auch nicht, also ich mein’, du stehst da echt irgendwie zwischen drin, und was soll man da sagen.« (Int. 10)
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INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
»Und diese ganze Kings-Szene an sich ist halt -, je größer die geworden ist und das Umfeld und je weiter das geworden ist, desto größer ist auch mein Bewegungsumfeld geworden. Das [das Engagement in der Szene; U.S.] ist ja auch ’ne Sache, die ich für mich mache, nicht nur für andere, mach’ ich ja vor allem für mich, dass ich mich wohlfühle und in ’nem möglichst großen Kreis akzeptiert werde so wie ich bin, und das, wo es nicht so ist, möglichst klein gehalten wird in meinem Leben.« (Int. 6)
Die »Kings-Szene«, so Flin, ist gewachsen und auch deren »Umfeld«. Für Flin bedeutet das eine Erweiterung seines »Bewegungsumfeldes«, die Möglichkeit, sich in möglichst weiten Kreisen zu bewegen, sich wohlzufühlen und akzeptiert zu werden als der, der sie ist. Die Räume der Szene und ihres Umfelds, die in den zitierten Interviewausschnitten evoziert werden und in denen die hier skizzierten Weisen sozialer Bezugnahmen offenbar erwartbar sind, beschränken sich nicht auf klar umgrenzte Partyräume, Hinterzimmer von Kneipen, für den alternativen CSD gesperrte Straßenzüge, Performance-Bühnen oder WG-Küchen; sie gehen hinaus über Freundschaften, enge persönliche Beziehungen, auch über persönliche Bekanntschaften und über ›Community‹. Sie haben vielmehr, wie bereits in Kapitel II.4 gezeigt wurde, zum Teil öffentlichen Charakter, für den Kommunikation auch zwischen Fremden konstitutiv ist. In Kapitel II interessierten die damit verbundenen Adressierungen vorwiegend hinsichtlich ihrer (gegen-)öffentlichkeitskonstituierenden Wirkung. Hier konnte nun (unter Rückgriff auf die in Kapitel III entfalteten Ergebnisse) gezeigt werden, welche Effekte damit für mögliche geschlechtliche Selbstverhältnisse, für mögliche Weisen des geschlechtlichen In-der-Welt-Seins und für die Erfahrung einer anderen geschlechtlichen Wirklichkeit verbunden sind. Innerhalb des gegenöffentlichen Horizonts, in dem die Drag King-Szene situiert ist, werden offensichtlich Bezugnahmen und Adressierungen auch zwischen Fremden erwartbar, in denen ›etwas‹ anerkennbar wird und als wirklich gilt, das sich einer strikt zweigeschlechtlich strukturierten Wahrnehmungsweise entzieht. In Kapitel II wurde allerdings auch deutlich, dass die hier interessierende Gegenöffentlichkeit keineswegs in sich homogen ist; dass hier vielmehr unterschiedliche geschlechtlich-sexuelle (Selbst-)Verständnisse, Ansprüche, Lebensweisen und politische Vorstellungen aufeinander treffen und dass dies teils auch zu konflikthaften Auseinandersetzungen führt. Wenn, wie gezeigt wurde, so unterschiedliche Räume wie eine Drag King-Party, eine universitäre Diskussionsveranstaltung, eine kommerzielle Lesbendisco, ein Transmann-Stammtisch, ein linksautonomer Wagenplatz, ein Punkkonzert, ein Transgender-Festival, ein 311
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
queer-feministisches Ladyfest, eine lesbische Fetisch-Party, ein schwuler Darkroom, ein queeres Filmfestival oder eine Kunstausstellung Teil des gegenöffentlichen Horizonts sein oder werden können, bleibt daher (so muss nun präzisiert werden) die Frage zunächst offen, in welcher Weise und in welchem Maße jeweils ›etwas‹ wahrnehmbar, zum Bestandteil gegenseitiger Bezugnahmen und einer geteilten Wirklichkeit wird. Sicherlich gibt es hier Unterschiede in Art und Grad: etwa, ob sich in einem Raum tatsächlich ein alternativer gaze etabliert derart, dass alternative Bezugnahmen als eine Selbstverständlichkeit erwartbar werden, oder ob dort lediglich vereinzelte Begegnungen auch zwischen Fremden möglich sind, in denen ›etwas‹ sich realisiert, während der Raum als solcher zweigeschlechtlich strukturiert bleibt; und auch, inwieweit die Wahrnehmbarkeit von ›etwas‹ eine grundsätzlich wertschätzende Anerkennung impliziert oder aber auch Vorbehalte oder Ablehnung hervorrufen kann. Auch im Horizont der Szene und ihres sich erweiternden Umfelds bleibt also ein Stück weit offen, wie sich das Potential einer alternativen, nicht strikt zweigeschlechtlich strukturierten Wirklichkeit in Bezugnahmen und Adressierungen je situativ und kontextuell tatsächlich realisiert. An dieser Stelle soll es jedoch genügen, aufgezeigt zu haben, dass es sich in vielen Situationen, Beziehungen und sozialen Zusammenhängen realisiert, dass eine solche Realisierung in bestimmten Kontexten erwartbar wird und dass dies die geschlechtlichen Selbst- und Weltverhältnisse der Interviewten entscheidend prägt. Vor diesem Hintergrund und im Unterschied dazu sollen im Folgenden nun Interaktionen, Bezugnahmen und Beziehungen in Kontexten in den Blick genommen werden, in denen umgekehrt eine (strikt) zweigeschlechtliche Strukturierung zunächst erwartbar ist – wie auch immer sich dies dann konkret ausbuchstabiert.
2. Geschlecht auf der Straße Klaus erzählt, wie er in der Anfangszeit seines Kinging, kurz nach dem Besuch eines Workshops, in dem ihm der Name ›Klaus‹ halb im Scherz verliehen wurde, auf der Straße unterwegs ist: »Benni [ein anderer Workshop-Teilnehmer] […] der hat mich dann irgendwann mal in [Stadtteil] gerufen: Klaus!, und ich hab’ irgendwie drauf reagiert, ohne dass ich [lacht] mir das vorher so bewusst gemacht hab’, hab’ ich mich umgedreht. Und, ähm, ja, irgendwie hat sich der Name jetzt halt auch etabliert.« (Int. 15) 312
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
Klaus evoziert eine Szene der Anrufung, in der er, wie das ›Subjekt‹ in Althussers bekannter Veranschaulichung dieses Konzepts,6 zu dem Angerufenen erst wird, in dem er sich umwendet und sich als der Gemeinte selbst erkennt und zu erkennen gibt: Vorher eher als Scherz begriffen oder als Bezeichnung für eine Rolle, wird ›Klaus‹ erst durch den Ruf und seine unwillkürlich-körperliche Reaktion darauf zu Klaus, zum King; erhält ›Klaus‹ eine leiblich verankerte, soziale, (mit-)teilbare Wirklichkeit. Dies geschieht auf der Straße, an einem ›gewöhnlichen‹ Tag, an einem ›gewöhnlichen‹ Ort. Eine solche szene-bezogene Weise der Adressierung, in der ›etwas‹ sich situativ realisiert, ist hier – auf der Straße, in einem geschlechtlich nicht näher spezifizierten öffentlichen Raum – allerdings kaum erwartbar und bleibt daher überraschend. In Kapitel III.2 wurde zwar gezeigt, wie auch das alltägliche Geschehen auf der Straße für diejenigen, die sich in Praxen des Kinging engagieren, teils anders erfahrbar wird. Wenn Franka/Micha in der U-Bahn die Körperstile von Männern studiert, wenn Katrin ihre eigenen Bewegungsweisen und die der ihr begegnenden Passant_innen beobachtet, während sie als Mann durchgeht, wenn Klaus sich unwillkürlich in einer mimetischen Erprobung geschlechtlich unterschiedlich codierter Gangarten engagiert und ihm dabei sowohl seine eigene Wahrnehmungsweise als auch die der anderen erklärungsbedürftig werden, verändert sich in ihren Augen und in ihren körperlichen Bezugnahmen die sie umgebende Alltagswelt. Die diese bestimmende zweigeschlechtliche Strukturierung verliert ihre Selbstverständlichkeit und gibt ihnen Anlass zur Verwunderung, zur genauen Beobachtung, manchmal auch zur Belustigung. Diese Entselbstverständlichung betrifft jedoch zunächst nur ihre eigene Wahrnehmungsweise, und so bleibt die ›Straße‹ zugleich ein durch den hegemonialen gaze und damit verbundene Bezugnahmen strukturierter Raum: Was der King sieht, wie er sich selbst sieht und wie er einem szene-geschulten, in diesem Setting jedoch kaum erwartbaren Blick erscheint, unterscheidet sich von dem, was seiner erfahrungsgesättigten Erwartung nach die unbekannten begegnenden Anderen sehen und wie sie ihn/sie sehen.
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»Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizeibeamten vorstellen: ›He, Sie da!‹ Wenn wir einmal annehmen, dass die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, so wendet sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, dass der Anruf ›genau‹ ihm galt und dass es ›gerade es war, das angerufen wurde‹ (und niemand anderes).« (Althusser 1977: 142f.) 313
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Um flüchtige Begegnungen im zweigeschlechtlich strukturierten öffentlichen Raum, in denen Bezugnahmen kaum sprachlich, sondern überwiegend visuell und körperlich vonstatten gehen und Geschlechtsdarstellungen und hegemonialer gaze daher unmittelbar aufeinander zu treffen scheinen, soll es im Folgenden gehen: Was wird unter dem hegemonialen gaze sichtbar, welche Bezugnahmen werden dadurch erwartbar, welche Möglichkeiten, welche Risiken, welche Drohungen werden dadurch konstituiert? Welche Effekte hat dies für Möglichkeiten und Grenzen des Engagements in bestimmten geschlechtlichen Praxen und Verkörperungen? Und wie werden umgekehrt die unterschiedlichen Praxen und Strategien, die die in die Drag King Szene Involvierten entwickeln, je situativ in Begegnungen und Interaktionen wirksam?
2.1 »… das ist dann selbstverständlich«: Die offensichtliche Sichtbarkeit von zwei Geschlechtern Sich geschlechtlich für andere in Erscheinung zu bringen beruht in aller Regel nicht auf einem deklarativen Sprechakt, sondern auf einer Darstellungsleistung. Bezogen auf die sozialen Möglichkeiten Transsexueller, in ihrem Wunschgeschlecht anerkannt zu werden, formuliert Hirschauer, dass es ihnen dafür gelingen müsse, »ihre Überzeugung [ein bestimmtes Geschlecht zu sein; U.S.] anderen so zu vermitteln, wie es die Alltagserfahrung ›offensichtlicher‹ Geschlechtszugehörigkeit erfordert, nämlich nicht verbal« (Hirschauer 1993: 42; Herv. i. O.). Eine Geschlechtsdarstellung, die die Offensichtlichkeit eines Mann- oder Frauseins nicht herzustellen vermag, wird bei Betrachter_innen nahezu unweigerlich die Frage nach dem ›eigentlichen‹ Geschlecht des/der Darstellenden aufwerfen – eine Frage, die sich z.B. in besonders eindrücklichen oder irritierten Blicken äußern kann oder auch in einer verbalen Aufforderung, über die Geschlechtszugehörigkeit Auskunft zu geben. Dass solche Irritationen oder Verletzungen der (zwei-)geschlechtlichen »Alltagserfahrung« relativ selten sind, liegt jedoch nicht nur daran, dass die meisten Darstellungen weitgehend normativen geschlechtlichen Anforderungen entsprechen, sondern auch an einer routinisierten alltäglichen Wahrnehmungsweise, die die Geschlechtszugehörigkeit aller als entweder Mann oder Frau als eine offensichtliche – und das heißt: als eine offensichtlich sichtbare – Tatsache unterstellt und reproduziert. Die visuelle Einordnung einer Person als Frau oder Mann geschieht in der Regel spontan und im Modus der Evidenz – als eine Gestaltwahrnehmung, in der mögliche Irritationen oder Inkongruenzen ausge314
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blendet oder in die wahrgenommene Gestalt integriert werden (vgl. Kapitel III.1.2). Erst dieses Potential, Varianzen und Inkongruenzen geschlechtlicher Erscheinungsweisen in spontanen Wahrnehmungsakten zweigeschlechtlich zu vereindeutigen, macht eine Wahrnehmungsweise, in der »wir immer und zu jeder Zeit zwei Geschlechter« sehen (Lindemann 1993: 12), verbindlich und stabil.7 So berichten auch viele der Interviewten von der Erfahrung, trotz einer geschlechtlich uneindeutigen Erscheinungsweise in flüchtigen alltäglichen Begegnungen spontan als Mann oder als Frau wahrgenommen zu werden – ohne allerdings immer im Vorhinein zu wissen, als was von beiden. So ergeht es Filip in der Zeit kurz nach dem Beginn seiner Hormonbehandlung. Er erzählt von seiner Erfahrung, »dass du so völlig im Dunkeln stehst, wie [andere Leute; U.S.] dich gerade wahrnehmen oder als was sie dich behandeln. Also es ist durchaus vorgekommen, dass ich irgendwie Klamotten gekauft hab’ und dann die ganze Zeit davon ausgegangen bin, dass die mich als er sehen, und dann kam irgendwann das sie dazwischen. Und dann denkst du auch so [lacht]: Wie jetzt, Moment, ach ja, stimmt ja, es könnte ja auch noch anders sein. Also es wird jetzt immer weniger, also ich würde fast behaupten, dass es mittlerweile sehr selten passiert, dass ich für ’ne Frau gehalten werde. Aber so ein paar Monate lang, klar: der eine so, der andere so, das ist eine absolute Wahrnehmungsfrage.« (Int. 3)
Filips Erscheinungsweise wird hier nicht zum Anlass von Zweifeln oder Nachfragen bezüglich seiner Geschlechtszugehörigkeit, sondern (so legt seine Erzählung nahe) sie wird spontan auf eine von lediglich zwei möglichen Weisen (als männlich oder als weiblich) interpretiert. Dass er nicht wissen kann, welche der beiden Interpretationen je situativ gültig werden wird, stellt allerdings dann ein Problem für ihn dar, wenn die Situation eine geschlechtliche Selbstzuordnung erfordert, wie es etwa beim Besuch von öffentlichen Toiletten der Fall ist. Für dieses Problem ersinnt er daher einen besonderen Trick: »[I]ch wusste, dass es auf der Damentoilette schwierig ist halt so im August, wo es halt langsam anfing mit der Stimme, dass es aber noch geht, und auf der Herrentoilette war wahrscheinlich genau dasselbe. Und dann wusste ich immer nicht so genau, wo gehst du jetzt hin, weil es ist einfach anstrengend, wenn du 7
Vgl. zur Flexibilität der Mechanismen der Geschlechtsattribution als einer notwendigen Voraussetzung der Stabilität der zweigeschlechtlichen Ordnung auch Regine Gildemeister 2004: »Durch die Unterstellung binärer Geschlechtlichkeit kann in faktisch jeder Interaktion auf ein Reaktionsund Interpretationspotential vertraut werden, das auch Irritationen noch verarbeitet. Die Attributionsmuster sind damit hochflexibel.« (Ebd.: 135) 315
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pausenlos und permanent angesprochen wirst oder immer das Gefühl hast, du störst, egal wo du reinkommst, so. Und da habe ich das immer so gemacht, bei den öffentlichen Toiletten oder Raststätten, Discos, keine Ahnung, was, ich hab’ darauf gewartet, wo die Toilettenfrau mich hinschickt [lacht], das ist auch nicht ganz unpraktisch.« (Ebd.)
Auf der einen wie auf der anderen Toilette sieht Filip sich der Gefahr ausgesetzt, »pausenlos und permanent angesprochen« zu werden oder das Gefühl zu haben, zu »stören«. Diese Gefahr mindert er ab, indem er die »Toilettenfrau« gewissermaßen als Verkörperung des herrschenden gaze besetzt und an ihr prüft, wie er unter diesem gaze aktuell erscheint – in der Hoffnung, dass die von ihr geleistete spontane Geschlechtszuordnung von der Mehrheit der anderen Toilettenbenutzer_innen geteilt werden möge und somit eben doch eine ›Offensichtlichkeit‹ seines Geschlechts – welches der beiden auch immer – wirksam werde. Während sein Geschlechtsein für andere in dieser Anfangszeit seiner Hormonbehandlung abhängig ist von einer je situativ unterschiedlich geschlechtlich vereindeutigenden Wahrnehmung, rechnet er für die nahe Zukunft damit, Mannsein in einer offensichtlichen Weise darstellen zu können und dann auch durchgängig und zweifelsfrei als solcher wahrgenommen zu werden. Dass die Evidenz des Sichtbaren eine geschlechtliche Wirklichkeit hervorbringt, die gegen Störungen durch wahrnehmbare Inkongruenzen sowie gegen Einsprüche immunisiert, macht Filip sich in einem Konflikt mit seinem Vater zunutze, der sich den Gebrauch des neuen Vornamens und der entsprechenden Pronomina nur widerwillig angewöhnt und Filip mit für ihn verletzenden Bemerkungen traktiert: »Er ist ein bisschen immer so ironisch, da kommen dann halt so Sachen wie: Ach, da ist ja wieder mein Kerl, oder: die Frau mit der männlichen Stimme, also lauter so Sachen, die eigentlich nicht sein müssen.« (Ebd.) Filip ist es irgendwann leid, bei seinem Vater um Verständnis zu werben, und so ändert er seine Strategie: »[I]rgendwann habe ich halt zu ihm gesagt: Weißt du, mir ist das im Prinzip egal, aber warte noch drei, vier Monate, wenn du dann mit mir in ’nen Laden gehst und sagst: die junge Dame sucht ’nen Laptop, dann gucken die dich doof an, nicht mich.« (Ebd.)
Filip macht sich die Tatsache zunutze, dass alltägliche Interaktionen nicht nur zu einer adäquaten Geschlechtsdarstellung verpflichten, sondern auch zu einer adäquaten Wahrnehmung und Bezugnahme,8 und 8
Hirschauer fasst diese ›Verpflichtungen‹ als »Geschlechtszuständigkeit« sowohl bezüglich der Darstellung als auch der Betrachtung oder ›Rezep-
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dass die Verletzung beider Verpflichtungen Anlass zur Beschämung bieten kann. Bislang ist er den beschämenden Bemerkungen seines Vaters sowie der Gefahr misstrauisch-abwertender Blicke ausgesetzt, prophezeit aber für die Zukunft eine Umlenkung solcher Blicke von sich auf den Vater: Aufgrund der Offensichtlichkeit seines Geschlechts im Kontext einer Evidenz des Sichtbaren wird die Äußerung des Vaters – »die junge Dame sucht ’nen Laptop« – nicht die Wirklichkeit von Filips Mannsein in Frage stellen, sondern vielmehr den Vater in ein zweifelhaftes Licht rücken. Der Vater wird derart gezwungen sein, die in der von Filip evozierten Situation von den anderen Anwesenden geteilte Wirklichkeit zu ratifizieren, wenn er nicht ›doof angeguckt‹ werden will als jemand, der offensichtlich das Offensichtliche nicht sieht. Die allgegenwärtige soziale Kontrolle, die Verstöße gegen die Offensichtlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit durch Blicke, Bemerkungen, Forderungen nach Erklärungen etc. ahndet und die Beteiligten derart in eine teilbare, hegemoniale Wirklichkeit hineinzwingt, spielt in diesem Falle für Filip und nicht gegen ihn. Tam, der inzwischen in nahezu allen alltäglichen Begegnungen als Mann durchgeht, hat weder eine Vornamens- noch eine Personenstandsänderung beantragt und wird daher in allen Dokumenten weiterhin mit seinem weiblichen Vornamen (Lara) geführt. Er ist deshalb darauf gefasst, Irritationen auszulösen, wenn er z.B. mit seiner EC-Karte bezahlt – und erlebt dennoch, dass sich diese Irritationen oft in Grenzen halten: »Da war ich dann auf’m Dorf bei meinen Eltern an der Tankstelle und hab’ damit [mit der EC-Karte; U.S.] bezahlt, und dann auch wieder so der komische Blick, und ich so: Ja, Lara Peters, das bin ich. Und dann so: Tse, heute morgen hatten wir einen Mann hier, der hieß Christine [I und A lachen schallend]. […] Weißt du, da wird nicht komisch geguckt oder komisch gefragt oder so, das ist dann selbstverständlich.« (Int. 2)
Die geschlechtliche Inkongruenz zwischen ›Laras‹ Name und ›seiner‹ Erscheinung fällt dem Tankwart sehr wohl auf. Dennoch wird Lara/Tam nicht direkt zu einer Erklärung aufgefordert; es reicht, dass er in Reaktion auf den »komischen Blick« bekräftigt, der- oder diejenige zu sein, der/die auf der Karte namentlich erwähnt wird (»Ja, Lara Peters, das bin tion‹. Die Geschlechtszuständigkeit von »Betrachtern« bestehe aus »Kompetenzen (ohne die sich jemand mit Irrtümern blamieren würde), aus einer Verantwortung, die Geschlechtszugehörigkeit eines Gegenüber weder zu ignorieren noch zu erfragen, aber auch aus einem Anrecht darauf, in der Wahrnehmung nicht allzu sehr gefordert zu werden, so dass die Geschlechtsidentifikation ebenso leicht fällt wie die Darstellung« (1993: 53). 317
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ich«). Die Evidenz seiner Erscheinung macht ihn für den Tankwart so unmissverständlich zum Mann, dass dieser Männer mit weiblichen Vornamen gewissermaßen für ontologisch zulässig erklärt: Sowas kommt vor. Im Horizont einer Wahrnehmungsweise, in der die offensichtliche Sichtbarkeit der Zugehörigkeit zu einem von zwei Geschlechtern sowohl vorausgesetzt als auch permanent reproduziert wird, bewirken dieselben Praxen der Geschlechtsdarstellung, die im Kontext der Szene als ›Kinging‹ wahrgenommen werden, oft ein fragloses passing als Mann. Von einigen werden sie auch bewusst dafür eingesetzt: sei es, weil dies der gewünschten Weise, geschlechtlich sichtbar zu sein, unter den Bedingungen zweigeschlechtlich strukturierter Wahrnehmung am nächsten kommt, oder um den Stress zu vermeiden, der mit einer geschlechtlich uneindeutigen Erscheinungsweise einhergehen kann; teils aber auch wegen des Vergnügens daran, dass ›das‹ tatsächlich möglich ist; aus Lust am Experiment und daran, ›anders‹ wahrgenommen zu werden als üblich (und auszutesten, wie sich das anfühlt und das eigene geschlechtliche In-der-Welt-sein mitbestimmt); und teils auch wegen des Vergnügens daran, mehr und anderes zu wissen als die, die eine/n als ›Mann‹ sehen. Franka/Micha berichtet von einer Begegnung bei einer Zugfahrt: »Die meinten -, der Mann hatte zu seiner Frau geguckt: ach, guck’ mal, der junge Mann ist wieder da im Zug, der junge Mann von vorhin [lacht]. Ich hab’ mich hinterher nur -, hab’ meine Zeitung oder irgendwas hatte ich in der Hand, etwas höher genommen [lacht], damit er mein Grinsen nicht sieht [beide lachen], aber ich hab’ mich -. Also so was freut mich dann schon, wie man die Leute so täuschen kann.« (Int. 5)
In den Worten Amy Robinsons (1994) werden die Begegnenden für Franka/Micha zu ›dupes‹ (d.h. zu leicht zu täuschenden ›Deppen‹), die nicht in der Lage sind, den ›apparatus of passing‹ als solchen wahrzunehmen (vgl. Kapitel II.3.2). Ihre geschlechtliche Wahrnehmungsweise oder Lesefähigkeit erscheint daher als defizitär und beschränkt gegenüber der in der Szene ausgebildeten, die geschlechtliche Codes differenzierter zu interpretieren erlaubt. Franka/Micha genießt es ganz offensichtlich, mit dem herrschenden gaze spielen zu können, ihn zu nutzen für ein absichtsvolles Durchgehen in einem Geschlecht, das ihr/ ihm nicht qua biologisch begründeter Körperlichkeit zukommt. In dieser Möglichkeit der ›Täuschung‹ der anderen über das hegemonial als ›eigentlich‹ oder ›wahr‹ bestimmte (Körper-)Geschlecht liegt für sie/ihn offenbar eine (situative) Ermächtigung, die mit einem Vergnügen verbunden ist. 318
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2.2 Irritationen des gaze, Verkörperungen und Gewaltverhältnisse Trotz seiner Fähigkeit, mögliche Irritationen auszublenden oder zu ignorieren, vermag der durch den herrschenden gaze strukturierte Blick ein spontanes und zweifelsfreies ›Erkennen‹ begegnender Personen als (eindeutige) Männer oder Frauen nicht immer zu leisten. Nicht immer werden Personen daher in einer Weise wahrgenommen, die sie offensichtlich und selbstverständlich in der zweigeschlechtlich strukturierten Wirklichkeit situiert, und derartige Störungen der Selbstverständlichkeit – ob sie beabsichtigt sind oder nicht – gehen mit unterschiedlichen Effekten einher. Sich in Drag in zweigeschlechtlich strukturierten öffentlichen Räumen zu bewegen, kann außer einem erfolgreichen passing als Mann auch eine situative Verunsicherung gewohnter Wahrnehmungsweisen bewirken, und einige zielen mit ihren Praxen genau darauf. Wenn Sean mit Bart unterwegs ist, macht er/sie die Erfahrung, »dass dich die Leute öfters angucken und sich fragen, ist das jetzt ’n Mann oder ’ne Frau, und das hörst du auch manchmal, so auch Kinder oder so. […] Vielleicht mach’ ich das auch ’n bisschen, um die Leute dahin zu bringen, dass es so was auch geben kann.« (Int. 12)
Blicke, die über begegnende Personen üblicherweise hinweg gleiten in der Gewissheit, ihr Geschlecht spontan und beinahe unmerklich erfasst zu haben, richten sich, so erlebt es Sean, hier öfters und direkt auf sie/ ihn und werfen eine Frage auf, die (insbesondere von Kindern) teils auch verbal geäußert wird. Sean verbindet damit die Möglichkeit, auch für andere erfahrbar zu machen, dass es »so was« – ›etwas‹, das sich einer spontanen zweigeschlechtlich strukturierten visuellen Einordnung entzieht – »geben kann«, existent ist entgegen der Annahme einer stets offensichtlichen Zugehörigkeit aller zu einem von zwei Geschlechtern. Auch für Carlo ist Kinging mit einer möglichen Irritation des herrschenden gaze verbunden: »Wenn ich als Kerl wahrgenommen werde, dann finde ich das ganz lustig, aber ist halt okay. [2] Was ich interessanter finde, ist, wenn die Leute irritiert sind, also wenn man merkt so, da ist jetzt so ’n -, so noch mal gucken: was war das jetzt und was soll das alles und, ähm, was muss ich jetzt damit so - [2], das find’ ich eigentlich das Interessanteste, so, also das provokative Element daran.« (Int. 4)
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Die (Selbst-)Ermächtigung, die sowohl mit der absichtsvollen ›Täuschung‹ des herrschenden gaze im erfolgreichen passing als auch mit seiner bewussten Irritation verbunden ist, bedeutet – als eine Form der Aneignung und Anfechtung von Macht – allerdings zugleich ein Risiko: Das passing kann scheitern, die Irritation nicht nur neugierige, sondern auch aggressive Reaktionen provozieren. Die Kränkung darüber, ›getäuscht‹ worden zu sein,9 und/oder die phobische Abwehr dessen, was unter dem herrschenden gaze sichtbar wird – Lesben, Transen, Perverse, Freaks – kann sich in abschätzigen oder auch hasserfüllten Blicken äußern, in mehr oder weniger aggressiven Bemerkungen, offenen Drohungen oder – im Extremfall – direkter körperlicher Gewalt.10 »Ich vermeide zum Beispiel einfach aus Erfahrung Gruppen von pubertierenden jungen Männern, weil ich das einfach so erlebe, die müssen sich halt viel produzieren, die sind auch selber furchtbar unsicher noch und ich denke, dass das dann eher - [2] oder meine Erfahrung ist einfach, dass das so ’ne Gruppe ist, die dann auch eher noch zu Aggressionen neigt. Bei älteren Typen äußert sich das dann eher in so ’nem sich lustig machen oder, ähm, ja, dass man dann so ’n Flüsterer hat, also es gibt ja immer so die Leute, die dann so ganz nah rankommen, und dann hörst du nur irgendwie eine dämliche Obszönität und der Rest drum herum kriegt das halt nicht mit.« (Int. 4)
Die Erwartung möglicher Gewalt strukturiert die Art und Weise derjenigen, deren passing nicht garantiert ist, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. »Ich fahr’ nur zu zweit U-Bahn als Drag King, nicht alleine, weil mir das irgendwie zu riskant ist« (Int. 5); »ich würd’ jetzt nicht unbedingt hier nach [Stadtteil] oder so in diese -. Also manchmal, wenn ich so einen seh’, der könnte ein Rechter sein, da hab’ ich schon ’n bisschen Schiss. >3@ Es gibt ja auch manche, die fahren nur mit dem Taxi oder so, wenn sie ’n Bart angeklebt haben. Also ich fahr’ auch im Sommer lieber mit ’m Fahrrad als mit der Bahn« (Int. 12). Und viele thematisieren den relativen Schutz, den das Leben in der Großstadt mit seiner Möglichkeit, sich unauffällig in der Menge zu bewegen, gegenüber kleinstädtischen und ländlichen Regionen bietet. 9
Vgl. zu transphober Gewalt in Reaktion auf als ›Täuschungen‹ wahrgenommene und ›enttarnte‹ Geschlechtsdarstellungen Bettcher 2007. 10 So kam es z.B. im Anschluss an ein internationales Drag Festival, das im Kontext der Berliner Drag King-Szene organisiert wurde, im Juni 2008 zu einem gewaltsamen Übergriff: Teilnehmer_innen des Festivals wurden beim Verlassen des Veranstaltungsortes in Berlin-Kreuzberg von mehreren Männern zunächst angepöbelt und anschließend zusammengeschlagen. Mehrere Personen wurden verletzt. (Vgl. Itzek 2008 sowie http://dragfestival.net/drag/?p=75, Stand: 24.02.2010.) 320
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Was für diejenigen, die nur zeitweise in Drag unterwegs sind und ansonsten einigermaßen zweifelsfrei als Frauen oder als Männer durchgehen, ein je temporäres sorgfältiges Management dessen bedeutet, wie man sich wann mit wem an welche Orte begibt und welche man zu meiden hat, treibt andere an die Grenzen dessen, was überhaupt eine lebbare Verkörperung sein kann. Etwa als ›Mann mit Brüsten‹ sichtbar zu sein, garantiert einem mindestens eine ständige Aufmerksamkeit, ständiges Angeblickt-Werden, so dass das Abbinden oder andere Techniken zum Verbergen der Brüste unabdingbare Voraussetzung für einen halbwegs erträglichen Alltag werden. Die Frage nach einer Mastektomie wird damit mehr als nahegelegt (vgl. dazu auch Kapitel III.2): »Weil -, also ich würd’ halt schon gerne irgendwie auch enge Sachen anziehen, also -. Andererseits sag’ ich mir, man läuft ja immer so mit den Schultern nach vorne, damit man das nicht so sieht, ne. Und ich mein’, du könntest einfach gerade laufen, dann würde es einfach auch ganz anders wirken, aber -, na ja. […] Oder dass ich einfach mal das Hemd auflassen kann oder so, weißt du, das ist einfach so -, da denkt man am Anfang gar nicht so drüber nach, weil am Anfang ist man glücklich: ah, ich bin der Felix oder bin der Jan oder hast du nicht gesehen, und dann kommt’s nach und nach, einfach dass -, also bei mir war’s auf jeden Fall so, dass du dann denkst: hm, eigentlich bist du damit nicht wirklich zufrieden.« (Int. 10)
Abhängig von der je spezifischen individuellen Verkörperung bedeutet das Durchgehen als Mann einen mehr oder weniger großen Aufwand11 und droht mehr oder weniger wahrscheinlich zu scheitern. Diese Drohung des Scheiterns oder auch der bewusste Versuch, geschlechtliche Uneindeutigkeit zur Schau zu stellen, konstituiert eine spezifische Verletzlichkeit bestimmter geschlechtlicher Verkörperungen. Einen verletzlichen, übergriffigen und/oder missachtenden Blicken und potentieller physischer Gewalt ausgesetzten Körper zu leben, ist nun allerdings für nahezu alle, die sich in der Drag King-Szene engagieren, keine vollständig neue Erfahrung. Auch als ›Frau‹ und/oder als ›Lesbe‹ 11 Dass der Aufwand, den Felix betreibt, um in der Öffentlichkeit als Mann durchzugehen, immerhin bewältigbar ist, führt er selbst darauf zurück, dass sein Oberkörper vergleichsweise flach ist: »[Ich] bin auch glücklicherweise nie in die Lage gekommen, dass ich irgendwie ’n BH oder ’n Sport-BH kaufen musste, weil es war immer: Puh, Glück gehabt [lacht]. Da sind manche wirklich gestraft, sag’ ich mal, die jetzt wirklich als Kerl durchgehen wollen, die sind ja ohne Ende gestraft, vor allen Dingen im Sommer, im Winter geht’s immer noch, aber im Sommer, das möcht’ ich nicht haben, also -.« (Int. 10) 321
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erkennbar (gewesen) zu sein, konstituiert schließlich eine spezifische Verletzlichkeit. Nicht nur konkrete Erfahrungen gewaltsamer Übergriffe, sondern auch deren Potentialität sowie die Alltäglichkeit sexistischer und homophober Blicke und Bemerkungen sind Bestandteil der Bedingungen solcher Körperlichkeit. Trotz des damit verbundenen Risikos kann der Versuch des passing als Mann vor solcher Gewalt einen möglichen Schutz bieten. Luka ist eine der wenigen, die Strategien des passing im Interview auch als einen solchen möglichen Schutz, als einen Einsatz in ihrem Management verschiedener sie betreffender Gewaltverhältnisse, thematisiert. Dies und die dabei verhandelten Wirkungsweisen unterschiedlicher, an bestimmte Verkörperungen gekoppelter Drohungen sollen nun etwas ausführlicher betrachtet werden. Dazu ist es erforderlich, die Beschränkung auf flüchtige Begegnungen in öffentlichen Räumen, für die ›die Straße‹ in diesem Kapitel paradigmatisch steht, kurzzeitig aufzugeben. Einige Monate vor dem Zeitpunkt des Interviews zieht Luka in die Großstadt, in der sie nach einiger Zeit erstmals Kontakt zur Drag KingSzene bekommt. Auch vor diesem Kontakt ist ihr die Erfahrung vertraut, als Mann durchzugehen, was sie gerade in ihrer ersten Zeit in der neuen Stadt bewusst forciert: »[I]ch hab’ definitiv nie gezeigt, dass ich ’n Weib bin. Es gab zwei Leute, die’s gewusst haben, und der Rest haben halt echt gedacht, ich bin irgendwie ’n schwuler Kerl.« (Int. 9) Dass es ihr (zu dieser Zeit) angenehmer ist, als »Kerl« wahrgenommen und adressiert zu werden, bringt sie selbst in Verbindung mit einer erst kurz zurückliegenden Erfahrung: Einige Monate lang hatte sie bei einer »Drückerkolonne«12 gearbeitet und war dort gemeinsam mit Kolleg_innen in einem Wohnheim untergebracht. Von einigen der Kollegen wurde sie massiv gemobbt und bedroht: »Die haben dumme Sprüche gemacht wegen meinem Lesbischsein, haben mir ständig irgendwelche Kerle ins Zimmer nachts geschickt, wenn ich geschlafen hab’. Und ich bin dann natürlich aufgewacht, klar, weil ich hab’ denen nicht vertraut. Und nach ’m vierten Mal hab’ ich echt gesagt: hallo, seid ihr noch ganz Backe. […] I: Und wie -, was haben die dir für Kerle aufs Zimmer geschickt? A: Die neuen, die frisch dazu gekommen sind, damit sie ihren Druck ablassen können. Dafür ist Laura ja gut. Hhm, ja. Da hab’ ich dann auch immer gedacht, ist doch geil. I: Und was hast du gemacht dann? 12 Umgangssprachliche Bezeichnung für Verkäufer_innen im Außendienst, die mittels Haustürgeschäften Kund_innen für Zeitschriften-Abonnements u.ä. werben, meist ohne jede arbeitsrechtliche Absicherung. 322
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
A: Ich hab’ die natürlich rausgeschickt auf ihr Zimmer und [2] hab’ da erst mal nicht drauf reagiert. Und ich hab’ dann erst im Juni drauf reagiert und merkwürdigerweise hatt’ ich ’ne Woche später dann die fristlose Kündigung. I: Und wie hast du reagiert da drauf? A: Ich hab’ denen gesagt: Hej, ich krieg’ das jetzt schon seit drei Monaten mit, dass ihr ständig mir nachts Kerle aufs Zimmer schickt. Und merkwürdigerweise, jedes Mal wenn ich frag’, warum sie überhaupt da sind, sagen die: ja, mir wurde gesagt, wenn ich ficken will, dann soll ich nur zu dir kommen.« (Ebd.)
Einen nonkonformen Geschlechtsausdruck präsentierend und offen lesbisch lebend, wird Luka von ihren Kollegen gewaltsam heterosexualisiert: Mit der Inszenierung einer Vergewaltigungsdrohung, an der mehrere Männer gemeinsam beteiligt sind, wird Luka in die Position der heterosexuell verfügbaren und als solcher verachteten Frau gezwungen (»dafür ist Laura ja gut«).13 Inwieweit diese gewalttätige Anrufung als ›Schlampe‹ zugleich rassistisch inspiriert ist – inwieweit Luka nicht nur als Frau und Lesbe, sondern spezifisch als schwarze Frau oder schwarze Lesbe hyper- und heterosexualisiert, gedemütigt, überwältigt werden soll – bleibt unklar und kann nur spekuliert werden. Luka widersetzt sich sowohl der konkreten körperlichen Gewalt als auch, so scheint es, der gewaltsamen Anrufung: Relativ trocken, unaufgeregt, selbstbewusst und bestimmt weist sie ihrer Schilderung zufolge zunächst die »Kerle« in ihrem Zimmer in ihre Schranken und stellt später auch die Anstifter der Aktion zur Rede (was ihrer Vermutung nach allerdings ihre Kündigung zur Folge hat). Dennoch bleibt die Gewalt ihr keineswegs äußerlich. Sie bewirkt eine Verletzung und konstituiert oder bekräftigt ›Frausein‹ als einen gefährlichen Ort, dem Luka sich, in bewusster Reaktion auf diese Erfahrung, in ihrer Anfangszeit in der Großstadt zu entziehen versucht: »[Z]u dem Zeitpunkt [war ich] einfach noch zu sehr verletzt wegen der Scheiße mit der Drückerkolonne, da hat mir die Kraft dafür gefehlt, dazu zu stehen, dass ich ’n Mädchen bin.« (Ebd.) Nicht nur der Drohung mit sexualisierter Gewalt, sondern auch jeder (hetero-)sexualisierten Adressierung als ›Frau‹ in Blicken, Gesten und Bemerkungen will sie entgehen (»die Männer baggern dich ganz anders an und die reagieren auch ganz anders auf dich, wenn du als Frau rüberkommst«; ebd.) und ist deshalb froh darüber, relativ problemlos als Mann durchzugehen (»ich
13 Luka verwendet in dieser Paraphrase der gewaltsamen Anrufung ihrer Kollegen ihren deutlich weiblich codierten Geburtsnamen anstelle des geschlechtlich uneindeutigen Namens Luka, unter dem sie seit mehreren Jahren in fast allen persönlichen Beziehungen bekannt ist. Dies unterstreicht nochmals die Anrufung als ›Frau‹. 323
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
hab’ nur sehr maskuline Klamotten gehabt und ich bin nun mal ’n bisschen größer als der Durchschnitt [lacht] der Weiber […]. Von daher, es war immer ein Vorteil, dass ich sehr groß bin«; ebd.).14 Auf den Straßen des Außenbezirks, in dem Luka zu diesem Zeitpunkt wohnt, als Mann, als Schwarzer, als schwarzer Schwuler wahrgenommen zu werden, konfrontiert sie jedoch mit einer anderen Gewaltdrohung: »[I]ch hab’ definitiv nie gezeigt, dass ich ’n Weib bin. Es gab zwei Leute, die’s gewusst haben, und der Rest haben halt echt gedacht, ich bin halt eben irgendwie ’n schwuler Kerl. Wurde deswegen zwar auch von ’n paar Rechten drüben in [Stadtteil] angemacht, aber wirklich schlagen hätten sie sich nicht getraut, weil sie genau gewusst haben, in [Stadtteil] sind genug schwarze Leute und sie wussten nicht, ob ich da dazu gehöre. […] Und ich fand’s zu dem Zeitpunkt definitiv von Vorteil [lacht], dass die gedacht haben, ich gehör’ da dazu, weil ansonsten hätten sie mir definitiv das Maul verhauen, weil sie haben gedacht, ich wär’ ’n schwarzer Schwuler [lacht].« (Ebd.)
Als »schwarzer Schwuler«15 gelesen zu werden, macht Luka zur Zielscheibe rechtsradikaler, rassistischer und homophober Gewalt. Luka entgeht der Drohung einer (heterosexualisierenden) Vergewaltigung als Frau, riskiert aber, als Schwarzer rassistisch motiviert zusammengeschlagen zu werden. Anders als der Position des ›Frauseins‹ kann sie sich der Position des ›Schwarzseins‹ nicht entziehen: Im Kontext der gesellschaftlichen Verfasstheit von Geschlecht und von race erlaubt es ihr ihre körperliche Konstitution, Mannsein überzeugend darzustellen, nicht aber, unter dem herrschenden rassistischen gaze als ›weiß‹, d.h. als unmarkiert durchzugehen.16 Der Drohung in der geschilderten Situation entkommt sie stattdessen durch das Evozieren einer Gegendrohung: Ebenfalls aufgrund ihrer wahrgenommenen Hautfarbe und des wahrge14 Dass die geschlechtliche Verortung von Luka und auch ihre Aneignungen von ›Männlichkeit‹ nicht in einer strategisch motivierten Abkehr von einem Ort gefährlicher Weiblichkeit aufgehen, wird später (im ›themenbezogenen Kurzporträt‹ zu Luka) deutlich werden. 15 Es bleibt im Interview offen, aufgrund welcher wahrnehmbarer Codes die Lesart als ›schwul‹ entsteht, und auch, durch welche Anzeichen Luka wiederum auf diese Lesart der Anderen schließt. 16 Ob passing im Kontext von race möglich ist bzw. wie wahrscheinlich ein Gelingen dessen ist, hängt (ähnlich wie beim geschlechtlichen passing) von der je individuellen körperlichen Konstitution und der je historischgesellschaftlich und kontextuell spezifischen Wahrnehmungsweise von race ab. Vgl. zu Aspekten von racial passing vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Annahme einer visuellen Evidenz von race Robinson 1994. 324
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nommenen Geschlechts wird sie von den Rechtsradikalen einer Clique junger Schwarzer zugerechnet, die offensichtlich gut organisiert ist und eine Gegen- und Schutzmacht in dem betreffenden Stadtteil darstellt. Luka erzählt etwas später im Interview die Szene erneut: »Wo ich halt eben bei dem Kumpel gewohnt hab’, sind einige Rechte unterwegs, und ausgerechnet denen lauf’ ich über ’n Weg. Da hab’ ich auch gedacht: Scheiße. Und das ist in ’ner Ecke, wo grad mal nicht wirklich viele Menschen da sind [macht würgende, ihre Angst artikulierende Geräusche]. Ja, da hab’ ich dann auch [hechelt] ein Herzrasen gehabt, das war echt übel. […] Und die haben halt nicht genau gewusst, ob ich jetzt da dazu gehör’ und nur pfeifen muss und die Jungs sind da.« (Ebd.)
Zu den »Jungs« nimmt Luka einige Zeit danach tatsächlich Kontakt auf und erfährt eine temporäre Zugehörigkeit zu dieser Clique, wovon später noch die Rede sein wird. Die Drag King-Szene, in der sie sich zum Zeitpunkt des Interviews erst seit Kurzem und noch tastend bewegt, wird ihr zum Horizont praktischen und reflektierenden Auslotens ihrer geschlechtlichen Verortung und damit verbundener Strategien. Für ihre Verortung in einer durch rassistische Wahrnehmungsweisen und Gewaltdrohungen strukturierten sozialen Welt bietet ihr die Szene jedoch keine kollektiven Ressourcen; ihre Auseinandersetzung damit bleibt individualisiert bzw. an die Suche nach anderen kollektiven Kontexten gebunden (vgl. dazu ausführlicher das im Anschluss folgende ›Kurzporträt‹). Körper, Verkörperungen produzieren unter dem herrschenden gaze Bedeutungen, die eine_n in sozialen Verhältnissen, die unter anderem auch Gewaltverhältnisse sind, situieren. Dies ist Teil der Bedingungen, unter denen die Interviewten ihre Körperwünsche entwickeln und ausloten, unter denen die Frage, was ein bewohnbarer Körper sein kann, gestellt und beantwortet werden muss. Dass im Kontext der Szene ein anderes Blickregime und andere individuelle Blicke (looks) möglich sind, dass in den dort routinisierten sozialen Bezugnahmen Körperlichkeiten anders bedeutet und anerkennbar werden, setzt den herrschenden gaze und die damit verbundenen sozialen Ordnungen nicht außer Kraft. Es generiert jedoch Erfahrungen, die eine andere Welt vorstellbar und wünschbar machen und in denen sich die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Körperwünschen und hegemonialen (Geschlechter-)Ordnungen anders stellt, wenn sie auch nicht unbedingt beantwortet werden kann. Dies wird unter anderem deutlich in einigen Reaktionen auf meine Abschlussfrage in den Interviews: die Frage danach, was ›Ge325
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schlecht‹ in einer idealen, wünschbaren Welt bedeuten würde, und wie man selbst dann leben würde. Tino verweist zunächst auf die Schwierigkeit, diese Frage zu beantworten, weil die eigenen Denkmöglichkeiten und Vorstellungen durch die gegenwärtige soziale Realität begrenzt seien. Er antwortet daher mit einer Gegenfrage: »Na ja, wenn Geschlecht -, na ja, die interessantere Frage wäre, glaube ich, also ob -, wenn Geschlecht -, also jetzt in meiner spezifischen Situation, wenn Geschlecht keine Rolle spielt, ob man dann immer noch bestrebt wäre, sich zu verändern. Also sei es jetzt -, also einfach in der Selbstwahrnehmung und halt auch, ähm, im Äußeren, also wie einen andere wahrnehmen. Das wäre ’ne sehr spannende Frage, die ich natürlich jetzt nicht beantworten kann. I: Die du wirklich nicht beantworten kannst? A: [unterbricht] Die ich nicht beantworten kann, ja, nee, weiß ich gar nicht.« (Int. 8)
Unter den gegenwärtigen Bedingungen hat Tino die Frage nach dem Bestreben, »sich zu verändern«, für sich eindeutig beantwortet: Mit dieser Formulierung referiert er auf seine Entscheidung für körperliche Veränderungen mittels medizinischer Technologien; zum Zeitpunkt des Interviews nimmt er bereits seit einiger Zeit Testosteronpräparate, steht kurz vor der Mastektomie und entspricht damit seinen Körperwünschen und dem Wunsch, als Mann wahrgenommen zu werden. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sind seine Wünsche für ihn eindeutig und unhintergehbar, und der von ihm gewählte Weg ist eine (wenn auch riskante und aufgrund aufwändiger Begutachtungsverfahren anstrengende) Lösung dafür. In welcher Weise genau nicht nur ›äußere‹ Bedingungen, sondern auch die eigenen Wünsche und deren Realisierung, das eigene ›Bestreben‹ und die eigene »Selbstwahrnehmung« gebunden sind an die spezifische gegenwärtige Verfasstheit und Bedeutung von Geschlecht (als rigide, somatisch fundierte Zweigeschlechtlichkeit), ist für ihn eine zwar nicht zu beantwortende, aber aus der Erfahrung des Kinging heraus zu stellende und zu denkende Frage. Eine Frage, die sich in etwas anderer Weise auch für Felix stellt: Sein zum Zeitpunkt des Interviews virulenter innerer Konflikt, ob er sich für medizinische Veränderungen seines Körpers entscheiden soll oder dagegen, nimmt in seiner Erzählung einen breiten Raum ein. Wünsche, Ängste, Hoffnungen und Sorgen gewinnen jeweils nur kurzzeitig die Oberhand und führen ihn in oft wochenlange Zustände vollkommener Handlungsunfähigkeit, die er als Depression beschreibt. Im Kontext seiner Antwort auf meine Abschlussfrage formuliert er: 326
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
»Oder dass-, [2] ja, dass das einfach alles offener ist und du einfach so leben kannst, wie du willst. Und wie würde ich leben? Eigentlich schon so wie heute [2], oder sagen wir mal so, wenn es alles offener wäre, dann könnt’ ich auch so leben, wie ich heute lebe, [lacht] dann wär’s optimal, dann bräuchte ich mich nicht verändern. Also genau, ich kann das ja mal -, genau, ich werde jetzt mal an die Zeitung schreiben und sagen: Bitte, damit ich so leben kann, wie ich will, und mich so wohlfühlen kann, wie ich bin, ändert euch doch mal bitte, liebe Gesellschaft, bitte ändert euch. […] Ich mein’, vielleicht wär’ für manche gar nicht die ganzen Hormonsachen -, vielleicht wären die gar nicht -, obwohl I: Ist schwer zu sagen? A: Ist schwer zu sagen.« (Int. 10)
Deutlicher noch als für Tino ist für Felix – der eine offizielle Vornamensänderung beantragt hat, der in seinem Betrieb als Mann geführt und adressiert wird, der sich den weiter oben ausgeführten alltäglichen Anstrengungen des passing unterzieht – eine Welt vorstellbar, die so »offen« ist, dass sein Körper auch ohne medizinisch bewirkte Veränderungen ein mit Wohlgefühl bewohnbarer sein könnte: »Ja, Fazit ist eigentlich, wenn die Gesellschaft offen wäre, also alles so wäre -, [2] ja, offen wäre, dann könnt’ ich auch so leben, wie ich das will, das glaube ich schon.« (Ebd.)17 Für Katrin stellt sich die Frage nach der Inanspruchnahme medizinischer Technologien zur Körperveränderung nicht. Katrin experimentiert sowohl mit weiblich codierten Stilmitten und Ausdrucksweisen als auch mit männlichen, sieht für sich beides jedoch begrenzt durch damit verbundene Gefahren: Mehrfach wurde sie als ›Frau‹ und als ›Lesbe‹ angegriffen und bedroht,18 und sie befürchtet, durch den Versuch des passings als ›Mann‹ (sollte er misslingen) weitere gewalttätige Reaktionen zu provozieren (»die einzige Angst ist vor Entdeckung, und da denk’ ich, wenn du dann entdeckt wirst, dann sind die Folgen fürchterlich«; Int. 13). Sie wünscht sich eine Welt, in der Geschlecht »keine spezielle Bedeutung hat«, kein Anlass ist zu Hierarchisierung, Diskriminierung und Gewalt. »[U]nd das würde für mich auch bedeuten, dass
17 Vgl. zur Verschränkung von Körperwünschen und gesellschaftlich etablierten Lesarten geschlechtlicher Körper und zur Reflexion dieser Verschränkung in Trans*- und Drag King-Kontexten auch Franzen/Beger 2002: insbesondere 55ff.; Franzen 2007: insbesondere 145 und 150. 18 Katrin erzählt sowohl von einer einige Jahre zurückliegenden Vergewaltigung als auch von einer Situation, in der sie von einem Autofahrer absichtlich angefahren wurde, nachdem sie, sich an seinen parkenden Wagen lehnend, auf seine ›Aufforderung‹: »du lesbische Fotze, nimm deinen Hintern von meinem Auto!« nicht sofort reagiert hatte (Int. 13). 327
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
ich heute als Mann oder morgen als Frau gehen kann, und das würde ich gut finden.« Wünschen würde sie sich, »dass also weder das eine noch das andere eine Gefahr in sich birgt, [denn] das find’ ich so Scheiße, ja.« (Ebd.: 79) Flüchtige Begegnungen in öffentlichen Räumen, so lässt sich zusammenfassen, sind in der Regel durch eine zweigeschlechtliche Wahrnehmungsweise strukturiert, die eine Offensichtlichkeit der Geschlechtszugehörigkeit zunächst voraussetzt. Unter diesen Bedingungen werden die in die Drag King-Szene Involvierten auf unterschiedliche Weisen sichtbar, und sie entwickeln verschiedene Strategien, mit diesen Bedingungen umzugehen, sie für sich zu nutzen oder auch anzufechten. Sowohl Strategien des passings als auch solche der Irritation des herrschenden gaze können Formen einer situativen Ermächtigung darstellen in einer Wirklichkeit, die lediglich zwei Geschlechter kennt und die Zugehörigkeit zu einem von beiden an die (einzig) ›richtige‹ Verkörperung bindet. Beide Strategien können allerdings auch scheitern, und beide sind mit Risiken und Anstrengungen verbunden. Dazu gehören die ständige Ungewissheit, ob ein passing je situativ gelingt oder nicht, und die besondere Aufmerksamkeit, die den gaze irritierende Geschlechtsdarstellungen auf sich ziehen und die manche Geschlechterentwürfe an die Grenze des Lebbaren treibt; die Ungewissheit, ob einen gleichgültige, freundliche, irritierte, taxierende, missachtende oder hasserfüllte Blicke treffen werden – je nachdem, was der je konkrete Blick (als ein durch den gaze strukturierter, aber nicht determinierter individueller look) wahrnimmt. Geschlechtlich nicht spontan einzuordnen zu sein oder als geschlechtlich ›abweichend‹ zu erscheinen, kann auch offen gewaltsame Reaktionen provozieren. Deren Potentialität konstituiert eine Drohung, die die Lebbarkeit und Wünschbarkeit bestimmter geschlechtlicher Praxen, Entwürfe und Verkörperungen mit strukturiert. Durch individuelle Strategien lässt sich der herrschende gaze situativ austricksen oder irritieren, und darstellungspraktisch lässt sich partiell beeinflussen, wie man unter ihm wahrgenommen wird. Verändern oder gar aussetzen lässt sich der gaze durch solche Strategien jedoch nicht. Dies bleibt den Individuen nicht äußerlich: Gerade die Erfahrung einer kollektiv hervorgebrachten alternativen Möglichkeit des Sichtbarwerdens wirft für einige die Frage auf, in welcher Weise auch eigene Wünsche von gesellschaftlichen Bedingungen der Sichtbarkeit, die sich einem individuellen Einfluss entziehen, abhängig sind. Unter den Bedingungen herrschender Wahrnehmungsweisen ›sichtbar‹ zu sein, ist über die Dimension einer normativen oder nicht-normativen Vergeschlechtlichung hinaus von Bedeutung. Im Aufeinander328
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treffen von Darstellungsweisen, die sowohl durch absichtsvolle, mit individuellen Wünschen verbundene Inszenierungen als auch durch die je individuelle körperliche Konstitution geprägt sind, und durch den herrschenden gaze strukturierten Blicken werden Personen in gesellschaftlichen Verhältnissen situiert, die auch Herrschafts- und Gewaltverhältnisse sind. Die Verschränkung sexistischer, rassistischer, homophober und transphober Achsen der Gewalt konstituiert spezifische Verletzbarkeiten und Schutzmöglichkeiten, mit denen umzugehen eine individuell zu lösende Aufgabe ist, die den einzelnen einen unterschiedlich großen Aufwand abverlangt. »Wenn die Leute dir ständig mit Unsicherheit begegnen, wirst du selbst unsicher«: Luka »[I]ch bin eigentlich von meiner Mutter aus schon immer mit raspelkurzen Haaren rumgelaufen, mit Kerlenklamotten. Es ist jetzt schade, dass ich dir jetzt keine Fotos zeigen kann von mir aus der Grundschule, aber du würdest echt denken, das ist ein süßer schwarzer Bub.« (Int. 9)
Liebevoll evoziert Luka das damalige Bild ihrer selbst als »süßer schwarzer Bub« und erinnert sich, dass sie sich mit dieser Erscheinungsweise »wohl gefühlt« habe: »Und ich fühl’ mich ja heut’ immer noch damit wohl, weil ich hab’ mich nicht wirklich verändert seither in der Beziehung.« Luka beansprucht damit eine Kontinuität dessen, was sie ihre »sehr maskuline Ausstrahlung« nennt, und stellt darüber hinaus das evozierte Bild in den Horizont einer spezifischen kulturellen Tradition: »[B]ei uns auf den [Kapverdischen] Inseln«, wo Luka, selbst in Süddeutschland geboren, aufgrund der Herkunft ihrer Mutter ihre »Wurzeln« sieht, schneide man den Kindern »grundsätzlich erst mal die Haare kurz«. Die Erscheinungsweise als »süßer schwarzer Bub« wird damit beheimatet in einem kulturellen Sinnzusammenhang, den Luka auch dadurch als ihren eigenen reklamiert und innerhalb dessen sie sich identifizierend auf das aufgerufene Bild bezieht. Luka stellt ihre damalige Erscheinungsweise auf diese Weise als eine (für sie) selbstverständliche und unproblematische dar, zugleich jedoch als eine, die im Kontext herrschender Selbstverständlichkeiten der besonderen Erwähnung bedarf: als ›Mädchen‹ aufzuwachsen und dennoch wie ein »Bub« auszusehen, und – im Kontext einer sich als ausschließlich ›weiß‹ imaginierenden Gesellschaft – nicht ›einfach‹ als
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GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Bub, sondern als »schwarzer Bub« zu erscheinen und aufzufallen.19 Die damit implizit bereits angesprochene Entselbstverständlichung ihrer Erscheinungsweise durch den herrschenden gaze, deren Effekte und Lukas Umgangsweisen damit sind im Interview ausführlich Thema. Einige Aspekte dieser Zusammenhänge sollen im Folgenden beleuchtet werden. Das Thema ihrer Auseinandersetzung mit ihrer geschlechtlichen Verortung führt Luka ausgehend von dem Wahrgenommenwerden durch andere ein – als eine Reaktion auf häufige Nachfragen nach ihrem Geschlecht: »Ja, und dann hab’ ich auch immer öfter in letzter Zeit gehört: Ey, du bist eigentlich ja ’n Kerl, oder bist du ’ne Frau? Und da hab’ ich halt auch selber für mich noch mal über dieses Thema nachgedacht, ob’s nicht vielleicht doch sein könnte, dass ich vielleicht doch mehr Mann wie Frau bin.«
Später im Interview führt sie diese Überlegung näher aus: »Von daher gab’s dann doch einige Zeitpunkte, wo ich dann echt überlegt hab’: Von deinem Inneren bist du ja eigentlich schon ’n Kerl, aber biologisch bist du definitiv ’ne Frau. Gut, es macht schon ’nen Unterschied, wenn du vom Aussehen her mehr Kerl bist, aber rein innen drinne definitiv all die Sachen hast, die ’ne Frau nun mal hat, und die Leute in deiner Umgebung dich einfach als Kerl wahrnehmen, weil du willst ja eigentlich als das wahrgenommen werden, was du bist, und du bist eigentlich schon ’ne Frau. Und dieser Zwiespalt halt einfach immer, ich bin mir nie hundertprozentig sicher, was bin ich, vielleicht bin ich ja auch gar nichts von beidem. […] [W]eil wenn die [Leute] uns, dir ständig mit Unsicherheit begegnen, wirst du selbst unsicher.«
Erst durch die Verunsicherung begegnender Menschen, so Luka, wird sie selbst »unsicher« und sieht sich aufgefordert, eine (zweigeschlechtlich vereindeutigende) Antwort auf die Frage zu finden, die der gaze aufwirft und die ihr teils auch explizit gestellt wird. Die Problemati19 Im Kontext der gesellschaftlichen Verfasstheit von race, in der lediglich ›schwarz‹ und nicht ›weiß‹ eine rassische Markierung darstellt, ist es selbstverständlich und zugleich erwähnenswert, dass keine_r der Interviewten sich selbst als ›weiß‹ thematisiert bzw. die eigene Geschlechtlichkeit als eine zugleich ›weiße‹ markiert. Dass Luka sich veranlasst sieht, ihre Erscheinungsweise in der zitierten Passage als ›schwarz‹ zu charakterisieren, geschieht zudem in einer Interviewsituation, in der ich als Weiße den mehrheitsdeutschen gaze verkörpere: Explizit bezieht Luka sich auf meinen Blick, darauf, was ich sehen würde, wenn sie mir das Foto zeigte; sie weiß, dass ich auf dem Foto nicht ›einfach‹ einen »süßen Bub« sehen würde, sondern einen »süßen schwarzen Bub«. 330
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sierung ihrer selbst, die Weise, in der sie sich ihr Sein zu denken gibt, führt sie im Kontext gegenwärtiger Konzeptionen von Geschlecht zu einem Chiasmus unvereinbar scheinender Gegensätze: vom »Innern« her ein »Kerl« zu sein, konfligiert mit dem biologisch als weiblich bestimmten ›Äußeren‹ des Körpers. Gleichzeitig ist jedoch das ›Äußere‹, das »Aussehen«, männlich, das (Körper-)Innere dagegen das einer Frau.20 Auch wenn Luka formuliert, dass sie sich als »Kerl« nicht angemessen wahrgenommen fühle, weil sie »eigentlich schon ’ne Frau« sei, bleibt ein unlösbarer »Zwiespalt« darüber, was sie ist. Ihre gegenwärtige Erscheinungsweise, die zu derlei Fragen und Problematisierungen veranlasst, beschreibt Luka, der dafür in Anspruch genommenen Kontinuität seit ihrer Kindheit zum Trotz, als Resultat einer wechselvollen Entwicklung. Zunächst bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufwachsend, kommt Luka mit sieben Jahren in eine (weiße) Pflegefamilie. Dort wird Luka, die wie ein »Kerl« rumläuft, die sich mit anderen Kindern prügelt, um sich gegen rassistische Anfeindungen und Übergriffe zu wehren und die sich offensichtlich eher jungenhaft bewegt, einer radikalen Erziehung zum Mädchen ausgesetzt. Ihre Pflegeeltern schicken sie zum Ballettunterricht, »weil sie gesagt haben, ich beweg’ mich wie so’n Bauer«. Sie bestehen auf weit über das übliche Maß hinaus rigiden Kleidungsvorschriften, was Luka mit einer als fundamentalistisch zu bezeichnenden christlichen Einstellung der Pflegeeltern erklärt21 und die sie, je älter sie wird, zunehmend als Zwang erlebt: »Potthässliche Blümchenkleider« soll sie tragen, und »karottenmäßig geschnittene rosane Hosen […] waren die einzigsten Hosen, die ich tragen durfte, wenn’s kalt genug war, und die durfte ich also somit nur im Winter tragen und im Herbst, wenn’s gepisst hat. Ja, und ansonsten hab’ ich Röcke getragen, [ironisch:] wie es sich für eine Frau gehört oder eine angehende Frau«. Ihre Versuche, dennoch einen weniger mäd20 Damit liest sich die zitierte Interviewpassage beinahe wie eine Paraphrase der durch Judith Butler berühmt gewordenen Formulierung Esther Newtons, in der sie die paradox anmutende Aussage von (female-to-male) Drag charakterisiert: »As its most complex, [drag] is a double inversion that says, ›appearance is an illusion.‹ Drag says […] ›my »outside« appearance is feminine, but my essence »inside« [the body] is masculine.‹ At the same time it symbolizes the opposite inversion; ›my appearance »outside« [my body, my gender] is masculine but my essence »inside« [myself] is feminine.‹« (Newton 1972, zitiert nach Butler 1990: 174) 21 Diese äußert sich z.B. darin, dass Luka nach der Grundschule trotz ihrer Gymnasialempfehlung zunächst auf eine Realschule geschickt wird, weil dies die einzige Schule in christlich-kirchlicher Trägerschaft in der Gegend ist; auch ihr Umgang mit Gleichaltrigen wird reglementiert, sie soll nach Möglichkeit Umgang mit Kindern anderer praktizierend-christlicher Familien haben. 331
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chenhaft codierten Stil zu pflegen, scheitern. Mit dem Geld, dass sie von ihrer Mutter (zu der sie weiterhin viel Kontakt hat) zum 14. Geburtstag bekommt, kauft sie sich »’n paar Baggys und ’nen schönen weiten Pulli«: »Und meine Pflegeeltern haben dann die Klamotten gesehen, haben gesagt, [herrisch:] nein, diese Klamotten trägst du nicht. [wieder normal:] Haben mich gezwungen, ’ne Schere zu nehmen und diese Klamotten zu zerschneiden.« Mit 15 setzt Luka beim Jugendamt durch, die Pflegefamilie verlassen zu dürfen und in einem Heim untergebracht zu werden, bis sie mit 18 in einem Programm ›betreuten Wohnens‹ allein lebt. Sie versteht sich zu diesem Zeitpunkt bereits als lesbisch und bekommt nun Kontakt zur Lesbenszene ihrer Stadt, findet ihre erste Freundin und verändert – leicht ironisch als Anpassungsleistung an die herrschenden Codes der Szene beschrieben – ihren geschlechtlichen Stil: »[Z]u dem Zeitpunkt bin ich halt noch als Weib hundertprozentig durchgegangen. Das kam dann erst, wo ich mit meiner ersten Freundin zusammen war, dass ich mir diesen Einheitslesbenkurzhaarschnitt verpasst habe […]. Und ich sah aus wie ’n junger Kerl, es sah süß aus, es sah verdammt süß aus [lacht]. Und da hab’ ich mich dann auch das erste Mal wieder wirklich wohlgefühlt, auch mit meinen Haaren.«
Mit ihrer Beschreibung, wie ein »junger Kerl« und »süß« ausgesehen und sich damit »wohlgefühlt« zu haben, knüpft Luka an das Bild ihrer Kindheit an und konturiert demgegenüber die (Über-)Stilisierung zum Mädchen in der Pflegefamilie als einen ihr letztlich äußerlich bleibenden Zwang. Dennoch ist ihre Investition in eine Erscheinungsweise als »junger Kerl« ambivalenter, als es zunächst scheint. Denn trotz der Veränderung ihres eigenen geschlechtlichen Stils begegnet sie in ihrer ersten Zeit in der Lesbenszene denjenigen, die sich betont »maskulin« inszenieren, mit Vorbehalten, »[w]eil ich gedacht hab’, wenn Frauen so maskulin aussehen, dann tut ihnen was weh, und sie müssen wirklich psychische Schmerzen haben«; »dass die halt eben ’nen psychischen Knacks haben und das halt eben sich auch physisch zeigen müssen«. Neben dieser pathologisierenden Interpretation ›maskuliner‹ lesbischer Inszenierungen greift Luka ein weiteres gesellschaftlich verfügbares und mit Verachtung aufgeladenes Bild auf, das sie in einer ambivalenten Distanz zu solchen Inszenierungen hält; das Bild der »Kampflesbe«, deren Erscheinung sie wie folgt beschreibt: »raspelkurze Haare, übelst fett, einfach nur abstoßend. Und wenn sie ’n Kerl sehen, dann am liebsten Schwanz ab«. Die derart gezeichnete »Kampflesbe« fungiert allerdings nicht nur als Inkarnation eines gesellschaftlich als 332
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verbiestert und ›unfeminin‹ verächtlich gemachten (lesbischen) Feminismus, sondern steht auch für eine proletarische und als solche stigmatisierte lesbische Verkörperung.22 Dies wird deutlich in Lukas Beschreibung ihrer ersten Begegnung mit der Drag King-Szene der Großstadt, in die sie mit 21 Jahren, wenige Monate vor dem Interview, zieht. Aufgrund der skizzierten abwertenden Bilder lesbischer Maskulinität hat sie zunächst Vorbehalte und ist daher überrascht, wie gut ihr die erste Drag King-Show, die sie bei ihren Erkundungen der Lesbenszene in der neuen Stadt zu sehen bekommt, gefällt: »Da hab’ ich dann auch gedacht [begeistert:] das ist gediegen, das gefällt mir«, und sie hebt hervor, dass die Show »professionell« gewesen sei. Als einen wesentlichen »Unterschied zwischen Kampflesben und Drag Kings« formuliert sie, »dass Drag Kings einfach mehr Klasse haben, die können immer noch höflich sein, sind eher dieser Gentleman«. Lukas proletarische Herkunft als Kind einer Mutter, die, auch aufgrund der Dequalifizierung im Kontext ihrer Migrationsgeschichte, als Ungelernte arbeitet, setzt sich in ihrer eigenen Geschichte bislang fort. Sie geht nach der 12. Klasse von der Schule ab, verschiedene Bemühungen um einen Ausbildungsplatz scheitern, sie lebt teils in prekären Arbeitsverhältnissen (wie in der bereits erwähnten »Drückerkolonne«), teils von Sozialhilfe. Zugleich hofft sie, diese Geschichte hinter sich lassen zu können, demnächst ihr Abitur nachmachen und studieren zu können. Möglicherweise entfaltet das Bild des ›Drag King‹ gerade vor diesem Hintergrund eine besondere Attraktivität: als eine modernisierte, entproletarisierte Verkörperung lesbischer Maskulinität, die »Klasse« hat und gerade deswegen jeden Klassenhintergrund scheinbar abstreift (d.h. nicht in Widerspruch zu einer Mittelschichtsverortung gerät, die sich als unmarkiert behaupten kann). Ausgehend von dieser anfänglichen Faszination lernt Luka einige Leute kennen, die ›als Kings unterwegs‹ sind, besucht Treffen und Veranstaltungen und verortet sich zunehmend selbst in der Drag KingSzene. Der zuvor skizzierte »Zwiespalt« (die Problematisierung ihrer selbst vor dem Hintergrund der Forderung nach (zwei-)geschlechtlich bestimmter Vereindeutigung) und ihre Ambivalenz gegenüber ›maskulinen‹ lesbischen Inszenierungen und Identifizierungen werden dadurch deutlich entschärft. Sie fühlt sich bestärkt und ermutigt dadurch, »dass die [Drag Kings] halt eben auch dieses Maskuline in ihrer Art hundert und ein Prozent in sich involviert haben und das nicht ablehnen, wie
22 Vgl. zu proletarisch codierten, abwertenden Bildern lesbischer ›Maskulinität‹ Kapitel II.2.1.1. 333
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ich’s halt eben Jahre lang gemacht hab’«, und durch die Erfahrung, dass es »[…] da noch andere Leute [gibt], die dieselbe Einstellung haben wie ich, dass man auch -, trotz dass man als Frau geboren ist, sehr maskulin sein kann und damit auch keinerlei Probleme haben muss, man muss das nicht verstecken. Und das find’ ich halt eben cool«.
Im Zuge dieser Verortung reklamiert Luka ihre geschlechtliche Erscheinungsweise als eine unproblematische, als herausgelöst aus den Kontexten von Pathologisierung und auch von (Klassen-)Abwertung, die auch in vielen lesbischen Zusammenhängen nach wie vor virulent sind: »[E]s ist, wie wenn ich jetzt [in der Drag King-Szene] endlich mein Zuhause gefunden hab’, weil in der Lesbenszene fühl’ ich mich nicht hundertprozentig wohl, weil es doch einige von den Weibern gibt, die dann sagen: Uah, die ist so maskulin, uah. So wie ich früher auf die ganzen Kampflesben reagiert hab’, so reagieren halt jetzt zum Teil Leute auf mich.«
Dennoch reicht dieses »Zuhause« nicht aus, um Luka zu beheimaten. »Mir war’s schon immer wichtig, auch für schwarze Leute da zu sein, ansonsten hätt’ ich nicht so viele schwarze Leute hier in meinen Freundeskreis wieder mir geholt«, sagt sie, und diese Leute trifft sie bislang nicht in der Drag King-Szene. Während die Szene ihr eine Möglichkeit bietet, den Fragen, Pathologisierungen und Stigmatisierungen etwas entgegenzusetzen, mit denen der herrschende gaze ihre geschlechtliche Erscheinungsweise besetzt, muss sie sich andere Kontexte suchen, um den mit einem rassistischen Blickregime verbundenen, verkennenden Fixierungen, Drohungen und Abwertungen zu begegnen. Mit Bezug auf die Clique junger Schwarzer, deren Präsenz ihr in ihrer Anfangszeit in der neuen Stadt Schutz gegen die ›Rechten‹ bedeutet hat und der sie sich zeitweilig anschließt, sagt sie: »Und so Sachen sind einfach auch wichtig, weil ich bin nicht die einzige, die in ihrer Jugendzeit Anfeindungen deswegen gehört hat. Und von daher, wir brauchen diesen Schutzraum, weil wir sind hier -, auch wenn wir hier in Deutschland geboren sind, wie ich jetzt, wir sind trotz allem Ausländer und das kriegen wir öfters zu spüren als andere Leute, die jetzt doch sehr europäisch aussehen, weil wir werden nie europäisch aussehen.«
Begriff und Konzept des »Ausländers«, so macht Luka deutlich, verbergen nur unzulänglich die rassistische Strukturierung von Kriterien der Zugehörigkeit. Nur scheinbar eine Frage des Passes und/oder des Ge334
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burtsorts, macht der herrschende gaze das Deutsch- oder Ausländersein an visuellen, im Kontext biologischer Rasse-Diskurse konstituierter Codes fest.23 Fast ausschließlich unter Weißen aufgewachsen und im Kontext dieses Blickregimes als Schwarze markiert, wird Luka die Zugehörigkeit nicht nur zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch zu ›Europa‹ von Anfang an verweigert, wird sie fixiert von einem Blick, der immer schon ein verkennender ist, ist sie »Anfeindungen«, Übergriffen und Drohungen ausgesetzt. Auch geschlechtlich kann Luka selten ihrem Wunsch entsprechen, »als das wahrgenommen [zu] werden, was du bist« (s.o.); es gelingt ihr jedoch wiederholt, sich einer Fixierung zu widersetzen und die verschiedenen geschlechtlichen Codes, die sie beherrscht, auch strategisch einzusetzen. Wie bereits gezeigt, geht sie teilweise bewusst als Mann durch, um einer (Hetero-)Sexualisierung als Frau zu entgehen; in ähnlich strategischer Weise inszeniert sie sich in anderen Situationen jedoch als Frau, um eine ihr willkommene Sexualisierung zu unterstützen: »[I]n der [Name einer großen kommerziellen lesbischen Disco] hab’ ich samstags abends dann doch ab und zu mal meine weibliche Seite rausgekehrt, weil’s einfach einfacher ist zum Baggern [beide lachen] oder angebaggert zu werden.«
Innerhalb einer rassistischen Matrix bleibt sie dagegen, aufgrund der Wahrnehmung ihrer Hautfarbe, an eine Position als ›schwarz‹ gebunden. Ihr bleibt, diese Position einzunehmen und umzuarbeiten, stolz auf ihre ›Herkunft‹ zu sein und sich, die Markierung gegen die Markierenden wendend, von den »Weißärschen« zu distanzieren, sowie aktiv für Zusammenhänge und Verbindungen zu sorgen, in denen sie als ›schwarz‹ 23 Vgl. dazu Nanna Heidenreich (2006), die bemerkt, dass »[m]it der Verdrängung des Begriffs ›Rasse‹ im deutschen Ausländerdiskurs […] auch die Verdrängung seiner Verankerung im Feld des Sichtbaren verbunden« sei (ebd.: 208): Die von ihr als »V/Erkennungsdienste des deutschen Ausländerdiskurses« bezeichneten Wahrnehmungsweisen seien eben sehr wohl »vergleichbar zu denjenigen, die sonst unter dem signum ›race‹ fungieren, es sind Oberflächenlektüren, die von Evidenzen ausgehen, und sich dabei Einteilungskriterien wie Morphologie (dazu gehören auch Haut- und Haarfarbe), Habitus, Sprache, religiöse Praktiken usw. bedienen« (ebd.; Herv. i. O.). – Vgl. zu Analysen von Erfahrungen in Deutschland aufgewachsener Schwarzer, durch ein solches rassistisches (Blick-)Regime konstituiert zu werden, sowie zu widerständigen Anfechtungen und Selbstpositionierungen ausführlich Oguntoye et al. (Hg.) 2002. Die in diesem Band versammelten Texte thematisieren vielfach auch die konstitutive und sich je konkret ausbuchstabierende Verschränkung von Rassismus, Sexismus/ Patriarchat und Homophobie/Heteronormativität. 335
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zwar wahrgenommen, aber nicht verkannt, nicht fixiert, nicht besondernd markiert und nicht abgewertet wird: Sie ist bewusst in einen Stadtteil mit starker Präsenz von Menschen nicht-deutscher Herkunft gezogen, »und dass ich jetzt auch noch ’n Haus gefunden hab’, wo ziemlich viele Schwarze in der Umgebung wohnen, wenn du hier die [X-Straße] lang läufst, an drei von zehn Klingeln steht ’n afrikanischer Name – das find’ ich halt cool.« Und sie sucht und pflegt bewusst den Kontakt zu anderen schwarzen Lesben, die sie bislang eher in der kommerziellen Lesbenszene antrifft als im Umfeld der Drag King-Szene. Ihre Hoffnung ist allerdings, durch ihr eigenes Engagement, evtl. auch als Performer_in auf der Bühne, zukünftig auch anderen Schwarzen den Zugang zu dieser Szene zu erleichtern: »Einfach dadurch, dass halt eben mal einer von uns präsent ist, wird’s vielleicht auch noch mehr geben, die sich da präsenter zeigen.« Ermutigt fühlt sich Luka in ihrem Vorhaben, da sie, u.a. auch durch Internet-Kontakte zu Drag Kings in Los Angeles und New York, um die Präsenz schwarzer Drag King-Performer_innen und -zusammenhänge in den USA weiß: »Das ist keine reine Weißen-Bewegung, und das sollte hier in Deutschland auch gezeigt werden.« Luka betreibt viele unterschiedliche Strategien, die man als eine ›Politik der Sichtbarkeit‹ bezeichnen könnte. Sie nimmt aktiv und teils strategisch Einfluss darauf, wie sie sich anderen (geschlechtlich und sexuell) zu lesen gibt, und schlägt dem fixierenden gaze damit ein Schnippchen; sie setzt sich mit abwertenden Bildern auseinander, besetzt sie neu und arbeitet sie damit um; sie sucht und schafft Kontexte, in denen je unterschiedliche Aspekte des herrschenden gaze teilweise ausgesetzt sind und in denen sie anders sehen und sichtbar werden kann; und sie engagiert sich für eine Sichtbarkeit schwarzer Drag Kings und kritisiert, dass die Drag King-Szene in Deutschland bislang als »reine Weißen-Bewegung« erscheint. Ihre ›Vision‹ – wenn die Bezeichnung nicht so unangebracht wäre – zielt jedoch auf eine Welt, in der dieser Aufwand sich erübrigen würde; in der die mit Sehen und Sichtbarkeit unlösbar verquickt scheinenden Strukturierungen außer Kraft gesetzt wären. Auf meine Abschlussfrage nach der ›idealen Welt‹ antwortet sie ohne zu zögern: »Der Mensch wär’ definitiv blind, wenn’s nach mir ginge. Weil da könnt’ er gar nicht gucken, wie der andere ist. Und das Geschlecht würde überhaupt keine Rolle spielen, weil so Sachen, nach der ist die Welt definitiv eingeteilt und ich find’ das schade. [3] […] Die ganzen Vorurteile, die wir haben, die kommen ja erst dadurch zustande, dass wir eben unser Gegenüber sehen können. […] [I]ch glaub’, ich würd’ da auch nie so ’n Riesenthema draus machen, dass 336
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ich halt dunkelhäutig bin, und ich bin stolz darauf, dass ich dunkelhäutig bin [lacht], das kann man ohne Probleme merken, wenn man mich reden hört.«
3. Geschlecht bei der Arbeit Die Notwendigkeit, einer Erwerbsarbeit nachzugehen und einen großen Teil der eigenen Zeit darein zu investieren, impliziert das Eingehen vielfältiger, auch längerfristiger und verbindlicher sozialer Beziehungen mit Menschen, die man sich nicht frei aussuchen kann. Anders als in flüchtigen Begegnungen im öffentlichen Raum handelt es sich hier um Beziehungen, von deren Fortgang die Beteiligten abhängig und die daher mit anderen Anforderungen verbunden sind. Als Arbeitsbeziehungen sind diese Beziehungen zugleich strukturiert durch auch formale Hierarchien sowie durch die spezifischen Anforderungen an die jeweilige berufliche Tätigkeit und Position. Beide Arten von Anforderungen sind teils explizit, teils implizit mit vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Erwartungen verbunden. Die (je nach Arbeitsverhältnis spezifischen) geschlechtlichen Strukturierungen, Bezugnahmen und Interaktionen, in denen solche Anforderungen generiert und wirksam werden, und die unterschiedlichen Umgangsweisen damit sind Gegenstand dieses Kapitels: Welche geschlechtlichen Wirklichkeiten werden in Erwerbsarbeitsverhältnissen hervorgebracht, welche Zwänge und welche Spielräume gehen damit einher, und welche Effekte hat dies auf geschlechtliche Darstellungsweisen, Seinsmöglichkeiten und Selbstverhältnisse? (Wie) werden im Kontext der Drag King-Szene entwickelte Praxen und Sinnhorizonte in Interaktionen, Beziehungen und Aushandlungsprozessen wirksam? Auf welche Weise verschränken sich geschlechtliche Strukturierungen unterschiedlicher Arbeitsfelder mit subjektiven Wünschen, Ansprüchen und Fähigkeiten? Zur Bearbeitung dieser Fragen schließe ich an eine Forschungsperspektive an, die Renate Lorenz, Brigitta Kuster und Pauline Boudry mit ihrem Konzept der »sexuellen Arbeit« entwickelt haben (Boudry et al. 1999 und 2002; Lorenz/Kuster 2007; Lorenz 2009). Die für meine Fragestellung relevanten Aspekte dieses Konzepts sowie meine Bezugnahme darauf werden im folgenden Abschnitt kurz erläutert. Vor diesem Hintergrund werden dann verschiedene Aspekte und Dimensionen der hier interessierenden Aushandlungsprozesse empirisch ausgelotet.
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3.1 Das Konzept der »sexuellen Arbeit« In ihrer Perspektive auf die konstitutiven Zusammenhänge von Geschlecht, Sexualität und Arbeit schließen Renate Lorenz, Brigitta Kuster und Pauline Boudry an frühere feministische Diskussionen an, in denen der Arbeitsbegriff um reproduktive, der Sphäre des Privaten zugeordnete Tätigkeiten (zu denen auch emotionale und ›Beziehungsarbeit‹ gehören) erweitert wurde. Als Arbeit und damit als Bestandteil der gesellschaftlichen Produktivität in den Blick zu nehmen, was gesellschaftlich nicht als solche bewertet (und entlohnt) wird, bedeutet für die Autorinnen über die Adressierung von Reproduktionsarbeit hinaus, ihr Augenmerk auf die oft impliziten, mit Geschlecht und Sexualität verbundenen Anforderungen im Kontext von Erwerbsarbeitsverhältnissen zu richten. Solche Anforderungen sehen sie im Zusammenhang damit, »[…] dass Arbeitsverhältnisse Fähigkeiten und Emotionen in den Arbeitsprozess integrieren, die dem Bereich des Persönlichen, der Subjektivität zugeordnet sind. Es handelt sich um Weisen der Selbstdarstellung in Kleidung und Verhalten, darum, ›wie‹ eine Person bestimmte Aufgaben erledigt, ›wie‹ sie Gespräche führt. […] Die Anforderungen an solche Fähigkeiten/Eigenschaften […] sind in hohem Maße geschlechtsspezifisch. Den gesellschaftlichen Normen von Zweigeschlechtlichkeit und Zwangsheterosexualität entsprechend, wird mit ihnen eine eindeutige Darstellung von Geschlecht ebenso wie von Heterosexualität verbunden.« (Boudry et al. 1999: 9)24
Die Autorinnen betonen, dass derartige Anforderungen den Beschäftigten nicht lediglich als Zwang entgegentreten, sondern auch Wünsche anreizen bzw. sich mit Wünschen und Begehrensweisen verbinden (vgl. ebd.: 14). Dass (betriebliche) Arbeitsanforderungen »ein sorgfältiges Management von Geschlecht und Heterosexualität einschließen« (Boudry et al. 2002: 10), bedeutet daher zugleich ein Management damit verbundener Wünsche und Zwänge, die je kontextuell und je individuell unterschiedlich gelagert sein können. Der mit einem solchen Management verbundene und für verschiedene Individuen unterschiedlich große »Aufwand« ist es nun, den die 24 Mit ihrer Fokussierung der Integration von emotionalen und ›subjektiven‹ Fähigkeiten in den Arbeitsprozess schließen die Autorinnen an gegenwärtige Debatten um Transformationsprozesse im Feld der Erwerbsarbeit an, die unter den Stichworten ›immaterielle Arbeit‹ (vgl. exemplarisch Negri et al. 1998) bzw. ›Subjektivierung von Arbeit‹ (vgl. exemplarisch Moldaschl/Voß [Hg.] 2002) geführt werden, und wenden sich zugleich gegen die Ausblendung bzw. verkürzende Rezeption feministischer Analysen in diesen Debatten (vgl. z.B. Lorenz/Kuster 2007: 222ff.). 338
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
Autorinnen als »sexuelle Arbeit« fassen.25 In ihrer Analyse von Materialien, die von den Tagebüchern einer Hausangestellten im viktorianischen England bis zu Interviews mit jüngst nach Deutschland migrierten Computerspezialistinnen reichen, spüren die Autorinnen diesem Aufwand nach und entfalten dabei eine Perspektive, die »die Alternative zwischen Fragen der ›Anerkennung‹ – die Möglichkeit als Subjekt einen gesellschaftlichen Platz zu erhalten – und der Frage nach den Produktionsverhältnissen – nach materiellen Lebens- und Arbeitsbedingungen – zu vermeiden« sucht (Lorenz/Kuster 2007: 20). Diese Fragen zusammenzudenken, bedeutet für sie jedoch nicht, alle Anforderungen als einer einzigen Logik verpflichtet bzw. als Effekt eines umfassenden Herrschaftsverhältnisses zu konzipieren. Vielmehr richten sie ihr Augenmerk gerade auf die Reibungen und Widersprüche, die durch die Verschränkung unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhältnisse und sozialer Praxen entstehen. Als »sexuelle Arbeit« fassen die Autorinnen auch den Aufwand, der mit der Bearbeitung dieser Widersprüche, die den Einzelnen als ein je individuell zu lösendes Problem aufgebürdet werde, einhergehe: »Das Individuum wird als ein Subjekt angerufen, das den Widerspruch zwischen verschiedenen Machtwirkungen im Feld der Arbeit und im Feld der Sexualität selbst bearbeiten ›darf‹ und muss. Es ist charakteristisch für sexuelle Arbeit, dass sie Individuen systematisch mit Widersprüchen konfrontiert […], die ihnen ein aufwändiges individuelles Handeln abverlangen, obwohl sie nur gesellschaftlich zu lösen sind.« (Ebd.: 112f.)
25 Die Autorinnen verstehen die Kennzeichnung der von ihnen fokussierten Praxen als sexuelle als eine »strategische Setzung«, die der Ausblendung von Sexualität als relevanter Kategorie für die Analyse von Arbeitsverhältnissen entgegenwirken und »eine Kritik ermöglichen [soll], die den Begriff der ›Heteronormativität‹ auf das Feld der Arbeit anwendet« (Lorenz/Kuster 2007: 154). Wenn die Autorinnen allerdings letztlich jeden mit Subjektivierung verbundenen Aufwand als »sexuelle Arbeit« kennzeichnen (und dabei beispielsweise den Aufwand der Verhandlung von rassisierenden und ethnisierenden Anrufungen konsequent einbeziehen), wird der Begriff der Sexualität sehr gedehnt und läuft die Analyse Gefahr, die je spezifische Verfasstheit unterschiedlicher (subjektivierender) Herrschaftsverhältnisse zu entnennen. Für meine eigene Bezugnahme auf die Arbeiten der Autorinnen ist weniger die Kennzeichnung des zu analysierenden Aufwands als sexuell relevant als die hier skizzierte spezifische Perspektive auf die Verschränkungen von geschlechtlichen Anforderungen, Wünschen und Praxen in Erwerbsarbeitskontexten. (Vgl. zu einem Vorschlag, bestimmte Aspekte »sexueller Arbeit« begrifflich als ›geschlechtliche Arbeit‹ zu fassen, Schirmer/Weckwert 2006.) 339
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Ihre These ist, dass gerade in den oft als ›neoliberal‹ gekennzeichneten gegenwärtigen Arbeits- und Lebensverhältnissen weniger die Einnahme oder Ausbildung einer stabilen, in sich widerspruchsfreien, mit einer fixierten ökonomischen Position homologen Identität angereizt werde, als vielmehr die Fähigkeit zur ›Durchquerung‹ unterschiedlicher Positionen: »Die Individuen sind häufig mit ganz unterschiedlichen Anrufungen zugleich konfrontiert und aufgefordert, Identitäten nicht einzunehmen, sondern zu ›durchqueren‹ […]. Das produziert Widersprüche, die die sexuelle Arbeit anfeuern: Es muss viel sexuelle Arbeit geleistet werden, um die unterschiedlichen Anforderungen, Zuweisungen, Versprechungen, Zumutungen und Drohungen miteinander zu verhandeln.« (Ebd.: 154)26
Aus der von den Autorinnen entfalteten Perspektive gilt es daher, den je unterschiedlichen Aufwand in den Blick zu nehmen, den das Verhandeln oder auch Zurückweisen sowohl von identitären Zwängen und Bindungen als auch von den mit ›Mobilität‹ oder ›Flexibilität‹ einhergehenden Anforderungen und Versprechen bedeutet. Die den Aufwand anreizenden unterschiedlichen Anforderungen, Versprechen und Drohungen fassen die Autorinnen im Anschluss an Louis Althusser (1977) als Anrufungen, d.h. als Prozesse, in denen Individuen als gesellschaftliche Subjekte konstituiert werden. Allerdings vermeiden sie es, derartige Anrufungen in dichotomer Weise als entweder erfolgreich oder scheiternd zu begreifen: »Sexuelle Arbeit« kann, so die Autorinnen, auch einen Prozess der disidentification im Sinne von Muñoz bedeuten, d.h. eine Arbeit, »die die angebotenen gesellschaftlichen Plätze nicht abweist oder annimmt, sondern die ›an, mit und gegen sie‹ arbeitet« (Lorenz/Kuster 2007: 54). Um eine mögliche Distanz zu gesellschaftlich vorgegebenen Positionen konzipieren zu können, ohne dies notwendig mit einem ›Scheitern‹ der Anrufung gleichzusetzen, beziehen sich die Autorinnen außerdem auf einen Vorschlag von Kaja Silverman: Silverman verweist auf die Möglichkeit, nicht auf eine vollständige Übereinstimmung mit den als Anrufung angebotenen gesellschaftlichen Idealbildern zu zielen, sondern sie lediglich »genügend gut« (»good enough«) zu verkörpern (vgl. Silverman 1996: 220ff; dies.
26 Und man könnte hinzufügen, dass es zu der Anrufung dazu gehört, den mit diesen Verhandlungen verbundenen Aufwand möglichst unsichtbar zu halten, ihn nicht zu thematisieren und vor allem nicht zu politisieren. Genau darin liegt der strategisch-politische Einsatz der Autorinnen – den Aufwand (wieder) sichtbar zu machen und damit Machtverhältnisse auch dort thematisieren zu können, wo sie im ›Ergebnis‹ – etwa dem erfolgreichen Aufstieg der deklassierten Migrantin – unsichtbar werden. 340
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
1997: 60f.). Lorenz und Kuster interpretieren diesen Modus des »genügend Guten« als Variante einer ›disidentifizierenden‹ Praxis: »Kaja Silverman [unterläuft] eine dichotome Anordnung von Idealisierung und Verwerfung und erlaubt eine Identifikation, die auch eine schlampige Annäherung, eine Distanz, eine veränderte und verändernde Aneignung mit einzuschließen vermag. So ermöglicht ihre Darstellung des ›genügend Guten‹ im Sinne einer ›Disidentifikation‹ Spielraum für Widerstände und Umarbeitungen, ohne dass der Prozess der Identifikation gänzlich zurückgewiesen würde.« (Lorenz/Kuster 2007: 92)
Ob dies allerdings tatsächlich geschieht und auch, ob die disidentifizierende Arbeit ›an, mit und gegen‹ gesellschaftlich vorgegebene Platzanweisungen herrschaftsförmig strukturierte Anordnungen reproduziert oder unterläuft, ist eine empirisch offene Frage. Als ein analytisches Konzept lenkt »sexuelle Arbeit« zunächst lediglich die Aufmerksamkeit auf den ›Aufwand‹ selbst und auf das, was ihn anreizt, auf die Bedingungen, unter denen er geleistet wird, und wie. Die Markierung dieses Aufwands als Arbeit geschieht, so die Autorinnen, zunächst »probehalber« (ebd.: 20): Sie zielt nicht auf einen quantitativen Vergleich unterschiedlicher Aufwände, über den sich soziale Ungleichheitsrelationen exakt bestimmen ließen, sondern wirft explorativ ein Schlaglicht auf verschiedene Formen von Mehrarbeit, die mit unterschiedlichen Positionierungen in geschlechtlich strukturierten Kontexten einhergehen. In diesem Sinne lasse ich mich bei der folgenden Analyse von der durch das Konzept der »sexuellen Arbeit« umrissenen Perspektive leiten. Ich richte meinen Blick auf die jeweils relevanten, im Kontext geschlechtlich strukturierter Arbeitsverhältnisse vorgesehenen Positionen (die gesellschaftlichen Plätze); auf die Bewegungen, in denen diese eingenommen, verweigert oder lediglich ›gut genug‹, in einer distanzierenden Haltung besetzt werden; auf die mit diesen Bewegungen verbundenen Kräfte: die wirksam werdenden Zwänge, Selbstverständlichkeiten, Wünsche und Anreize; sowie auf die Verhandlungen verschiedener Plätze, Anforderungen und Wünsche mit- und gegeneinander und auf den jeweils damit verbundenen ›Aufwand‹.
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GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
3.2 »Ich bin da schon irgendwie ein bunter Vogel«: Besondernde Einschlüsse Uli arbeitet seit einigen Jahren in einem recht konservativen Unternehmen im Dienstleistungsbereich: »Die sind jetzt nicht so wie die Deutsche Bank, dass alle im dunklen Anzug rumlaufen, aber es ist schon so, man achtet auf die Kleidung. Ich arbeite als Assistentin, Sekretärin, was auch immer – also ich benutze jetzt die weibliche Form, weil ich so besetzt bin – von einem Partner, der sehr jung da Karriere gemacht hat und die sehr vehement auch verfolgt, und da bin ich schon so ein bunter Vogel, das ist einfach so, also zumindest die anderen Sekretärinnen sehen anders aus.« (Int. 1)
Uli arbeitet als Sekretärin eines jungen, aufstrebenden Mannes und besetzt damit innerhalb des Unternehmens eine klassisch weibliche Position. Sie nimmt diese Position ein und geht gleichzeitig in Distanz dazu: Mit der Formulierung »ich benutze jetzt die weibliche Form, weil ich so besetzt bin« macht sie deutlich, dass es sich hier um eine Anrufung zur Frau handelt, der sie einerseits Folge leistet (sie spricht von sich selbst in der »weiblichen Form«), die sie jedoch andererseits als solche kenntlich macht und damit eine Sprecher_innenposition einnimmt, die sich der Anrufung zugleich entzieht bzw. darin nicht aufgeht. Diese Gleichzeitigkeit des Einnehmens und der Distanz dazu macht Uli im Unternehmen auch für andere sichtbar. Ein »bunter Vogel« ist sie dort, weil sie, obgleich sie um die Kleiderordnung weiß, die im Unternehmen Frauen und Männer als solche kenntlich macht und vermutlich auch die (davon nicht unabhängige) hierarchische Anordnung der Positionen inszeniert, sich nicht daran hält. Sie geht üblicherweise z.B. »im Trainingsjäckchen« und »mit Bundeswehrstiefeln« ins Büro (ebd.), trägt die Haare sehr kurz und legt einen geschlechtlich uneindeutigen Körperstil an den Tag. Für sie ist es daher wenig verwunderlich, dass sie, wie auch sonst öfters in ihrem Alltag, in Flurbegegnungen mit ihr bis dahin unbekannten Kolleg_innen auch mal als Mann adressiert wird: »Und wie gesagt, da bin ich auch schon als Herr angesprochen worden und da hat sich der Mensch dann selbst korrigiert, aber ich hätte das nicht gemacht. Und es ist eigentlich auch merkwürdig, wenn da eine erwachsene Frau so was nicht richtig stellt. […] Also er hat selbst das dann richtig gestellt, und ich habe gemerkt: huch, das war ihm jetzt aber sehr unangenehm. Mir ja gar nicht, aber ihm war es unangenehm. Und ich denke, er hatte den Eindruck, dass mir das hochnotpeinlich war, war es ja aber gar nicht. Ich denke, wäre ich jetzt -, ich gehe stramm auf die 40 zu, wäre ich da schon Managerin oder so, dann 342
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
sähe das noch mal anders aus, dann müsste ich mich deutlicher festlegen. Also dann wäre so eine Szene allein im Flur, ich werde mit Herr angesprochen, wäre undenkbar, da würde ich sowieso im Kostümchen daherlaufen. Ich denke, es ist sehr schwierig, so uneindeutig im Berufsleben zu segeln.« (Ebd.)
Der ihr begegnende Kollege ist peinlich berührt, als er seinen ›Fehler‹ bemerkt: Er verstößt gegen die in alltägliche Interaktionen eingelassene Anforderung, das Geschlecht des Gegenübers spontan und zweifelsfrei ›richtig‹ zu erfassen. Zudem unterstellt er (so Ulis Eindruck), dass die Situation auch für Uli eine peinliche sein müsse – schließlich scheitert sie aus seiner Perspektive daran, ihr Frausein in einer offensichtlichen Weise darzustellen. Für Uli selbst ist die Adressierung jedoch nicht unangenehm und verweist nicht auf ein Scheitern, sondern kommt im Gegenteil einer erfolgreichen Inszenierung ihrer geschlechtlichen Uneindeutigkeit, die ihrem Selbstbild entspricht, am nächsten: Wir erinnern uns, dass Uli ihr Selbstbild als ›weder Mann noch Frau‹ unterstützt findet dadurch, dass sie (durch den herrschenden, strikt zweigeschlechtlich strukturierten gaze) mal als das eine, mal als das andere »erkannt« werde (vgl. Kapitel III.1.3). Diese Sichtweise lässt sich in der beschriebenen Begegnung jedoch nicht vermitteln und als eine teilbare durchsetzen, so dass auch die Peinlichkeit nicht aufgelöst werden kann. Uli verstößt damit nicht nur gegen die Kleiderordnung des Unternehmens, sondern verletzt auch die Regeln der Interaktion: Sie versetzt andere in die peinliche Situation, sie (aus deren Sicht) falsch zu lesen, und hilft nicht einmal bei der Aufklärung der Situation, indem sie sich als Frau bezeichnen (›das richtig stellen‹) und damit zumindest nachträglich eine teilbare Wirklichkeit ratifizieren würde. Eine solche Störung, so Uli, könnte sie sich nicht leisten, wenn sie in dem Unternehmen eine höhere Position anstreben würde. Die Position einer »Managerin« etwa wäre unvereinbar mit einer geschlechtlichen Inszenierung, die ihr Geschlecht in den Augen der anderen fraglich macht. »Würde ich jetzt die Höllenkarriere anstreben, ginge das nicht, denke ich mal, da wäre so was schwer möglich, sich so vielen Dingen zu entziehen.« (Ebd.) Dass Uli sich bestimmten geschlechtlichen Anforderungen »entziehen« kann und dennoch mit ihrem Stil akzeptiert wird (»[ein solcher Kleidungsstil] ist eigentlich absolut tabu, mir wird das aber offenbar nicht angekreidet, das ist okay«; ebd.), führt sie nicht nur auf ihren Karriereverzicht zurück, sondern auch darauf, dass sie für ihre Tätigkeit überqualifiziert ist: Ihr akademischer Abschluss und ihre berufliche Qualifikation entsprechen denen ihrer Vorgesetzten. Uli gibt sozusagen einen Vorschuss: Sie übererfüllt bestimmte Anforderungen des Unter343
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
nehmens, verzichtet auf üblicherweise damit verbundene Gratifikationen (etwa der Anerkennung in Form von Aufstiegsmöglichkeiten) und ›erkauft‹ sich dadurch einen Spielraum, anderen Anforderungen (an eine ihrer Position als »Sekretärin« angemessene geschlechtliche Inszenierung) nicht nachkommen zu müssen. Sie kann damit die von ihr besetzte Position gerade »gut genug« besetzen, um akzeptiert, d.h. nicht angefeindet zu werden, bleibt aber in den sozialen Beziehungen im Unternehmen leicht fremd: »Ich denke, ich gehöre nicht richtig dazu. Ich bin auch eine von denen, die sehr konsequent gesiezt wird, also anderen wird da schon mal eher das Du angeboten, unter Fachkräften und Verwaltungskräften ist das einfach eine Sache, die meistens von den Fachkräften ausgeht, und weil ich aber eine Ausbildung habe, die den Fachkräften entspricht, ist das vielleicht ein bisschen schwierig für die, zumal ich älter bin als viele von denen. Ist ein bisschen schwierig, aber mir wird es halt nicht angeboten, und ich biete es von mir aus auch nicht an. Und dadurch bin ich da schon -, ich habe ein Teilzeitarbeitsverhältnis, das gehört dann auch noch mal dazu, dann ist man sowieso nicht so extrem integriert. Ich bin da schon irgendwie ein bunter Vogel, denke ich, also sonst läuft da keiner mit Bundeswehrstiefeln rum, das ist einfach sehr auffällig.« (Ebd.)
Uli fällt in mehrfacher Hinsicht durch das Raster, in dem die Plätze in der Firma hierarchisch angeordnet und auch die sozialen Beziehungen strukturiert werden. Anstatt als Verwaltungskraft weiblich, jünger und weniger qualifiziert den männlichen, höher qualifizierten und älteren »Fachkräften« unter- und zugeordnet zu sein, ist sie älter, gleich qualifiziert und geschlechtlich schwer einzuordnen. Die routinisierten Regelmäßigkeiten, der »praktische Sinn« dafür, wie sich welche kollegialen Beziehungen als soziale Beziehungen ausbuchstabieren, wer wem das ›Du‹ anbietet und damit eine Form der Vertrautheit initiiert usw., geraten dadurch ins Stolpern. Als ein »bunter Vogel« ist Uli aus den kollegialen Beziehungen nicht ausgeschlossen, sondern auf eine besondernde und distanzierende Weise in sie eingelassen. Diese Distanz entspricht aber auch Ulis eigenen Wünschen. Sie arbeitet absichtlich in Teilzeit, um einen Großteil ihrer Arbeitskraft in Dinge investieren zu können, die ihr wichtig sind, z.B. in die Organisation von Veranstaltungen im Kontext der Drag King-Szene; teilweise gelingt es ihr auch, zusätzlich einen Teil ihrer Arbeitszeit im Unternehmen dafür (z.B. für das Schreiben von E-Mails) zu nutzen. Wollte sie im Unternehmen Karriere machen, so Uli,
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»[…] dann müsste ich mich anpassen, ganz klar. Dann müsste ich auch meine Einstellung verändern, da müsste ich mich da wirklich mehr mit dem ganzen Geschäft identifizieren und das tue ich ja nicht. Also das hat auch andere Gründe, das will ich jetzt nicht alles an diesem Transgender festklopfen, das ist einfach -, ich würde nie für so ein rein wirtschaftlich orientiertes Unternehmen mich da aufopfern wollen, ne. Also da spielt so eins ins andere. Aber an diesen Dingen oder an so Kleinigkeiten – in Anführungszeichen – macht sich mein Drag Kinging eher fest als an schillernden Partys.« (Ebd.)
Uli selbst zieht eine Verbindung zwischen den verschiedenen Anforderungen, die im Unternehmen an sie gestellt werden. Um dort Karriere zu machen, genügt es nicht, die fachlichen Aufträge gut zu erledigen; gefordert ist vielmehr, sich »mit dem ganzen Geschäft zu identifizieren«, d.h. einer subjektivierenden Anrufung Folge zu leisten, die die ganze Person ergreift und die bedeuten würde, sowohl die geschlechtlichen Normen als auch die wirtschaftlichen Ziele des Unternehmens zu verkörpern. Uli geht auf Distanz zu dieser Anrufung, verweigert sich ihr jedoch nicht vollständig: Sie füllt die Position einer Sekretärin und Kollegin ›gut genug‹ aus, um ihre Stelle zu behalten und (wenn auch als »bunter Vogel«) kollegial akzeptiert zu werden. Uli verhandelt auf diese Weise (auf eine Weise, die für sie mit dem Drag Kinging in Zusammenhang steht) verschiedene Anforderungen und Wünsche gegeneinander, die mit gesellschaftlichen Plätzen (Geschlecht, berufliche Position, Alter) verbunden sind. Dass sie sich entgegen der mit ihrer Position verbundenen Anrufung als Frau nicht (eindeutig) als eine solche inszeniert, stört die Interaktionen in der Firma – es führt zu Peinlichkeiten, die Uli bearbeiten oder aushalten muss – und beschränkt ihre Aufstiegschancen. Was aus einer Perspektive als eine Durchquerung gesellschaftlicher, subjektivierender Platzanweisungen erscheint – Uli subjektiviert sich nicht als das ihr zugewiesene Geschlecht – stellt sich aus einer anderen Perspektive gerade als eine Unfähigkeit zur oder Verweigerung von Mobilität dar: Sie kann oder will ihre geschlechtliche Performance nicht beliebig den je kontextuellen Anforderungen anpassen und nimmt keine vollständig strategische Distanz dazu ein, sondern engagiert sich weiterhin in einem Entwurf, der ihr eine partielle Spiegelung ihres Selbstbildes ermöglicht (indem sie ab und zu als ›Typ‹ wahrgenommen wird), und nimmt die sich daraus ergebenden Beschränkungen, Spannungen und den zu ihrer Bearbeitung nötigen Aufwand in Kauf. Verbunden mit ihrem Engagement in diesem Entwurf (der sowohl gewählt als auch Effekt einer affektiven, identifizierenden Verhaftung ist) ist auch der Aufwand, den sie in die Drag King-Szene investiert und 345
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
den sie wiederum gegen die Anforderungen ihrer Erwerbsarbeit verhandeln muss – indem sie in Teilzeit arbeitet und Teile ihrer Arbeitszeit für Szene-Tätigkeiten umwidmet und sich auch dadurch von dem Unternehmen ›disidentifiziert‹. Diese ›Disidentifizierung‹ ist sowohl Effekt eines Auf-Distanz-gehalten-werdens als »bunter Vogel« als auch politische Wahl. Uli engagiert sich nicht in einer Vision, in der sie – ob nun trotz oder mit ihrer geschlechtlichen Erscheinungsweise – vollständige Anerkennung innerhalb des Unternehmens erlangen und sich im Gegenzug mit dem Unternehmen identifizieren würde (eine Logik, die etwa in Diversity-Management-Programmen einiger großer Unternehmen verfolgt wird).27 Nicht als »bunter«, aber als »komischer Vogel« gilt seiner Einschätzung nach auch Tam in der Agentur, für die er zu der Zeit, als er mit Praxen des Kinging zu experimentieren beginnt, als Programmierer_in arbeitet. Aus seiner Sicht macht es deshalb keinen »großen Unterschied« mehr, als er beginnt, dort öfters mit gemaltem oder geklebtem Bärtchen aufzutauchen: »Also ich glaube, ich war da eh einfach schon immer ein komischer Vogel oder war halt eh immer -, ähm, die kannten mich da halt auch nicht vorher als das typische Wesen für irgendwas. Also wenn ich da natürlich die drei Jahre davor mit langen Haaren und Rock und weiß ich nicht, jetzt ganz klassisch als Frau aufgetaucht wäre, wie ’ne Agentur Frauen halt meistens da präsentiert, die hätten sich natürlich gewundert, wenn ich plötzlich mit Jeans und Bärtchen angekommen wäre. Aber dadurch, dass ich da schon eh immer der Freak war, habe ich da, glaub’ ich -, das hat dann nicht mehr den großen Unterschied gemacht [lacht].« (Int. 2)
27 Vgl. z.B. die Zielbestimmung der Rainbow Group Germany, einem Mitarbeiter_innen-Netzwerk im Rahmen des Diversity-Management-Programms der Deutschen Bank Gruppe: »Die Deutsche Bank möchte durch den Abbau von Vorurteilen und die Förderung gegenseitiger Toleranz zu einem positiven Arbeitsklima beitragen. Die Rainbow Group Germany ist das Netzwerk für schwule, lesbische, bisexuelle und transsexuelle MitarbeiterInnen und deren Freunde und Unterstützer in der Deutschen Bank Gruppe. Das Ziel ist es, den MitarbeiterInnen, gleich welcher sexuellen Identität, die Möglichkeit zu geben, ihr volles Potential zum Wohle des Unternehmens zu entfalten, sowie ihre Identifikation mit dem Konzern zu stärken.« Die Group will dazu beitragen, die Deutsche Bank Gruppe zum »›Employer of Choice‹ für schwule und lesbische, bisexuelle und transsexuelle Mitarbeiter« zu profilieren und möchte u.a. »Unterstützung beim Zielgruppen-Marketing« des Unternehmens leisten. (Zitiert nach http://db. com/careers/en/files/Insert_Rainbow_Ger_DEU.pdf, Stand: 01.09.2008). 346
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
Anders als Ulis berufliche Tätigkeit ist die von Tam – das Programmieren – männlich konnotiert. Zugleich weiß Tam, dass er aus der Sicht der Kolleg_innen diese Tätigkeit dennoch (zunächst) als Frau ausführt, womit die Erwartung einer entsprechenden Inszenierung einhergeht (»wie ’ne Agentur Frauen halt meistens da präsentiert«); eine Erwartung, der er sich scheinbar selbstverständlich und unproblematisch entzieht. Dass er durch seine Erscheinungsweise als »komischer Vogel« und »Freak« gilt, dem man offensichtlich alle möglichen Merkwürdigkeiten zutraut, so dass Wollkrepp-Fusseln in seinem/ihrem Gesicht dann auch nicht mehr überraschen, nimmt er gelassen: »Ich wurde da eher immer als komisches Wesen behandelt [lacht]. I: Hat dich das gestört? A: Gar nicht, nee, das hat mir ermöglicht, mit den komischsten Klamotten zur Arbeit zu gehen und mich nicht anpassen zu müssen und trotzdem einen Job zu haben, und, ähm, wann immer wohlmeinende Menschen sagten: Hhm, du bist ja super, aber wenn du es wirklich zu was bringen willst, musst du dir andere Klamotten anziehen -. Und dass ich das nicht gemacht hab’ und trotzdem immer vollen Erfolg hatte, ist doch eigentlich ein sehr schönes Erlebnis [lacht].« (Ebd.)
Offensichtlich frei nach dem Motto: ›Ist der Ruf erst ruiniert…‹ erfährt Tam das Adressiert-Werden als »komisches Wesen« als einen Freiraum, sich nicht an die für Andere geltenden Regeln der (geschlechtlichen) Kleiderordnung halten zu müssen »und trotzdem einen Job zu haben«. Anders als Uli sieht Tam seine beruflichen Chancen dadurch anscheinend nicht beeinträchtigt: Entgegen dem Rat der »wohlmeinenden Menschen« präsentiert er sich als ›lonely rider‹, der sich gegen alle bürgerlichen Konventionen stellt und »trotzdem immer vollen Erfolg« hat, weil er einfach »super« ist. Tam dethematisiert die in den von ihm verwendeten Begriffen »komischer Vogel«, »komisches Wesen« und »Freak« mitschwingende Abwertung und deren verletzendes Potential und macht damit auch den Mehraufwand unsichtbar, den es bedeutet, sich entgegen dieser Abwertung und entgegen den von den »wohlmeinenden Menschen« thematisierten beruflichen Hindernissen als selbstbewusstes, erfolgreiches Subjekt zu konstituieren. Leistet Tam damit einer individualisierenden Anrufung Folge, die – im Horizont der Ideologie, dass jede_r kann, wenn er/sie nur will – dazu auffordert, die sich aus unterschiedlichen Anforderungen, Wünschen und Versprechen ergebenden Widersprüche individuell zu bearbeiten, den Aufwand herunter zu spielen und den angebotenen abwertend-besondernden Platz als »Freak« gut gelaunt zu akzeptieren? 347
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Im Fortgang des Interviews wird deutlich, dass Tams diesbezügliche Haltung differenzierter ist. Zunächst einmal thematisiert er im nächsten Satz selbst die kontextuellen Bedingungen, die seine Erscheinungsweise akzeptabel machen: »Das ist halt auch leicht in dem Bereich, also in der Bank kannst du so nicht arbeiten. Als Computer-, also vor 15 Jahren warst du als Computerfreak, warst du genauso gut wie mit Anzug.« (Ebd.)
Anstatt, wie weiter oben nahegelegt, mit seiner Erscheinungsweise sämtliche gesellschaftlichen Konventionen zu verletzen, gerät Tam durch seine Inszenierung zumindest in die Nähe eines in seiner Branche verfügbaren und akzeptablen Bildes. Zwar ist der »Computerfreak«, der etwas verschrobene, aber leicht genieverdächtige individualistische Tüftler, der die Kaffeeflecken auf seiner ausgebeulten Jeans nicht einmal mehr wahrnimmt, zu der Zeit der von Tam geschilderten Erlebnisse (um die Jahrtausendwende) auch nicht mehr das, was er mal war; aber er lebt in veränderter Form fort im Bild des jungen, individualistischen Kreativen, dessen exzentrischer Kleidungs- und Lebensstil ihn als ›Unternehmer seiner selbst‹ wie seiner Start-Up-Firma kennzeichnet. Tam kann dieses deutlich männlich codierte Bild offenbar ›gut genug‹ verkörpern, um in seiner Branche keine Sanktionen zu spüren, aber er bleibt dennoch in Distanz dazu: Was (seiner Vermutung nach) von seinen Kolleg_innen als exzentrischer Lifestyle wahrgenommen wird, ist für ihn selbst verbunden mit dem Ausloten einer lebbaren Verkörperung, mit der er für sich und durch andere eine Sichtbarkeit seiner selbst erfahren kann (vgl. das ›themenbezogene Kurzporträt‹); eine Auseinandersetzung, die in einer ›freien Wahl des Lebensstils‹ nicht aufgeht, sondern mit existenziellen Wünschen, über die Tam nicht frei verfügt, verbunden ist. Und dieses Ausloten bleibt keine individuelle Arbeit: Wie für Uli reicht auch für Tam die verkennend-akzeptierende Wahrnehmung seiner selbst als »komischer Vogel« nicht aus, und auch er investiert in Kontexte, in denen andere Wahrnehmungsweisen entwickelt und routinisiert werden. Sein organisatorisches Engagement für die Drag King-Szene, sagt er, nimmt wöchentlich im Schnitt ca. zehn Stunden in Anspruch, und die Zeit, die er dafür und für andere Interessen aufwendet, beschränkt seine freiberufliche Erwerbsarbeitszeit: »Also es ist ganz selten so, dass ich eine Festanstellung oder ein festes Projekt habe. Und dadurch kann ich halt meistens -, wenn ich viel Geld brauche, kann ich mehr arbeiten meistens, und wenn ich mehr Zeit brauche […], kann ich weniger arbeiten. Und das hat die letzten acht Jahre sehr gut hingehauen, ich
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hoffe, [lacht] dass ich mich auch weiter damit so gut über Wasser halten kann. Also, ich mein’, da nimmst du auch andere Jobs an, also ich mache jetzt auch viele anspruchslose Jobs. Aber für mich ist halt wichtig, dass mich mein Berufsleben nicht so auffrisst, dass ich die Sachen nicht mehr machen kann. Also ich hab’ da auch nicht die Ansprüche, mich jetzt im Berufsleben verwirklichen zu müssen.« (Ebd.)
Auch Tam, so wird hier deutlich, verzichtet in einem gewissen Maß auf beruflichen Aufstieg und auch darauf, sich mit seinem Beruf zu ›identifizieren‹ – sich »im Berufsleben verwirklichen zu müssen« –, und setzt stattdessen andere Prioritäten. Dass er sich diese Distanzierung leisten und sich dennoch »gut über Wasser halten« kann (auch wenn er oft nicht weiß, »wo im nächsten Monat die Miete herkommen soll«; ebd.), verdankt auch er seiner akademischen Ausbildung und seinen (bislang) marktgängigen beruflichen Fähigkeiten.
3.3 »Man merkt schon, dass man einfach ’nen anderen Stand hat«: Strategische Männlichkeit, Mannsein, »patriarchale Dividende«28 Anders als etwa Tam benennt Flin die Einschränkungen, die er aufgrund seiner geschlechtlichen Erscheinungsweise erfährt, deutlich als ›Diskriminierung‹: »[M]an wird ja auch weiterhin diskriminiert als sehr männlich wirkende immer noch Frau sozusagen in der Gesellschaft jeden Tag.« (Int. 6) Dies äußert sich für Flin zum Beispiel in einer »eingeschränkte[n] Berufswahl«: »[I]ch arbeite in ’nem Job, den würd’ ich nie machen können bei ’ner andern Firma als der bei meinem Bruder, von der verantwortlichen Position. Ich bin im Auslandsgeschäft tätig […], und ich hab’ da Projektmanagement und alles inne, treff’ mich dort mit Kunden, mit Partnerfirmen. Die Leute müssen mit mir kommunizieren, weil sie wissen, ich bin der Vertreter dieser Firma und ich hab’ die Rückendeckung, weil es ist mein Bruder, der Geschäftsführer ist. Und, ähm, DaimlerChrysler würd’ mich nicht nach vorne schicken zu Kunden, so wie ich aussehe. Damit fängt’s schon mal an, also dass du ’ne eingeschränkte Berufswahl hast eigentlich für deinen Ausbildungsstandard, wenn du dich nicht anpassen möchtest […].« (Ebd.)
28 Der Begriff der »patriarchalen Dividende« wurde geprägt von Robert W. (inzwischen Raewyn) Connell (2000). Er bezeichnet »den allgemeinen Vorteil, der den Männern aus der Unterdrückung der Frauen erwächst« (ebd.: 100) – unabhängig davon, ob, wie oder in welchem Maße sie je individuell aktiv an dieser Unterdrückung beteiligt sind. 349
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Trotz der Rückendeckung durch seinen Bruder bleibt Flins geschlechtliche Performance im Berufsalltag Gegenstand der Auseinandersetzung und Bearbeitung. Seine Umgangsweise damit sieht er selbst geprägt von einer im Kontext des Kinging entwickelten spielerischen Distanz zu geschlechtlichen Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen: »Und Geschlecht so auch als spielerische Kategorie schadet im Alltag auch nicht [beide lachen], weil wenn ich da wirklich das alles so ernst nehmen würde, müsste ich ja verzweifeln [lacht], echt. Also wenn ich mit den Kunden verhandele, weiß ich schon auch, in welcher Position ich da bin und wie ich gesehen werden soll und möchte. Und dann spielt man das Spielchen halt mit I: Nämlich? A: Auch so Business-Spielregeln und so Sachen, also das ist ’n bisschen verwoben. Man spielt das Spielchen mit, dass man als Frau gesehen wird, aber gleichzeitig ist man ja natürlich ganz untypisch und kann dann auch so mit entsprechender Härte Sachen vertreten und ’n bisschen kompromisslos sein und das dann auch ausnutzen. – Ausnutzen ist eh Quatsch, das sind einfach ganz normale sachliche Business-Dinge. Aber man merkt schon, dass man einfach ’nen anderen Stand hat in ’nem Gespräch, wie wenn man jetzt ganz lange blonde Haare hätte, dann wären andere Sachen plötzlich auch wichtig, oder ’nen kurzen Rock oder was weiß ich.« (Ebd.)
Flin nutzt seine Erfahrung des Kinging dafür, die alltäglichen Inszenierungen von Geschlecht als ›Spiel‹ zu begreifen, in dem er sich zwar engagiert, von dem er sich durch diese Rahmung jedoch zugleich (strategisch) distanziert: Er »spielt das Spielchen mit, das man als Frau gesehen wird« und akzeptiert damit die Wahrnehmung der anderen, ohne sie zu seiner eigenen Wirklichkeit zu machen und sich durch diese Anrufung selbst (vollständig) als Frau zu konstituieren. Im Kontext dieser disidentifizierenden Praxis stellt er ein Frausein lediglich ›gut genug‹ dar, um als solche wahrgenommen zu werden. Teil des ›Spiels‹ ist jedoch nicht nur die Aufforderung zum Frausein. Die »Business-Spielregeln« fordern ebenso und gleichzeitig dazu auf, sich in männlich codierten Verhaltensweisen zu engagieren (»mit entsprechender Härte Sachen vertreten und ’n bisschen kompromisslos sein« zu können). Dies zu tun und zu können, ist für Flin ebenso wenig Ausdruck einer geschlechtlichen ›Authentizität‹ wie das Wahrgenommenwerden als Frau, sondern ebenso sehr ein ›Mitspielen‹ gemäß geltender, teils explizit, teils implizit vergeschlechtlichter Regeln; ein Mitspielen, für das es sich als Vorteil erweist, aufgrund der Praxis des Kinging geschlechtlich unterschiedlich codierte Repertoires zu beherrschen und »Geschlecht als spielerische Kategorie« begreifen zu können. Dass die geschlechtlichen und die »Business-Spielregeln« komplex miteinander »verwoben« sind, 350
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führt zu Widersprüchen zwischen unterschiedlichen Anforderungen, die Flin offensichtlich müheloser bearbeiten kann als viele andere ›Frauen‹: Der Anforderung an eine angemessene geschlechtliche Inszenierung nachzukommen und sich z.B. mit »langen blonden Haaren« und »kurzem Rock« zu präsentieren, würde die ebenfalls auch von Frauen geforderte Durchsetzungsfähigkeit in Geschäftsverhandlungen potentiell erschweren. Denn es würde die Person als eine weiblich (hetero-) sexualisierte (»dann wären andere Sachen plötzlich auch wichtig«) markieren und eine (männlich codierte, sich jedoch neutral gebende) Inszenierung von Sachlichkeit und Kompetenz konterkarieren.29 Durch seine zwar Frausein (›gut genug‹) darstellende, jedoch nicht Weiblichkeit, sondern eher Männlichkeit inszenierende Erscheinungsweise, so Flin, habe er in solchen Verhandlungen »einfach ’nen andern Stand«. Dass mit einem Wahrgenommenwerden als Mann in den meisten beruflichen Feldern nach wie vor der Zuspruch eines Kompetenzbonus’ einhergeht, ist eine bekannte Tatsache, die auch von vielen derjenigen bestätigt wird, die den Vergleich aus eigener Erfahrung in erster Person kennen. So berichtet etwa Tino, der seine jetzige Arbeitsstelle einige Zeit nach dem Beginn der Hormonbehandlung als ›Mann‹ angetreten hat, von den Unterschieden zu früheren Arbeitserfahrungen als (wenngleich geschlechtlich uneindeutig erscheinender) ›Frau‹: »[M]an merkt, […] dass von einem andere Sachen erwartet werden und man auch anders einfach behandelt wird. Also es kommt natürlich drauf an, in welchen Bereichen man arbeitet, aber -, wie soll ich sagen, es ist halt -, von Anfang an kriegt man ’ne andere Kompetenz zugesprochen, also so erschreckend man das im Jahre 2004 immer [lacht] noch finden mag, ähm, rein dadurch, dass man halt als Mann auftritt, werden einem einfach andere Kompetenzen zugesprochen, die Arbeit wird weniger kontrolliert. Also ich nehme das jetzt bewusst wahr, ich guck’ mir das ja auch bewusster an, wie arbeiten jetzt sozusagen Frauen untereinander und wie arbeiten Männer untereinander und wechselseitig. Also ich persönlich hab’ sozusagen da ’nen bestimmten Bereich, für den ich zuständig bin, und da hab’ ich auch mehr oder weniger freie Hand so nach dem Motto: Der macht das schon, das ist auf jeden Fall was anderes wie vorher. Und es ist so, wenn ’ne Frage auftaucht, dass ich eher als Ansprechpartner genommen werde von Kolleginnen als ’ne andere Kollegin, also als Mann also noch mal irgendwie ’n Kompetenzzuspruch, auch wenn das vielleicht nicht mein Arbeitsbereich ist, aber wenn es um Entscheidungen 29 Vgl. zu widersprüchlichen Anforderungen an Frauen im beruflichen Alltag, die aus der Spannung zwischen ›Weiblichkeit‹ und der implizit männlichen Codierung von Sachlichkeit und fachlicher Kompetenz resultieren, Heintz/Nadai 1998; Boudry et al. 2002. 351
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
geht, dass ich dann halt eher angesprochen werde als andere. […] Dass einfach, ja, von Anfang an diese grundsätzliche Kompetenz einem zugesprochen wird, die man hat, und die Verantwortlichkeit, und: Hier, mach’ mal und, ähm, irgendwie wird das schon, du machst das schon. Also es ist schon ein Unterschied, der einem auch schon auffällt.« (Int. 8)
Anders als die meisten Cis-Männer nimmt Tino die »patriarchale Dividende« (Connell 2000: 100), an der er nun teilhat, deutlich als solche wahr, weil er den »Kompetenzzuspruch« nicht als Reaktion auf individuelle Eigenschaften oder Fähigkeiten rationalisieren kann: An diesen hat sich durch seine körperlichen und geschlechtlichen Veränderungen schließlich nichts geändert.30 Die Erfahrung von Flin zeigt nun, dass nicht nur Mannsein (oder das Wahrgenommenwerden als solcher), sondern auch eine männlich codierte geschlechtliche Performance unter Umständen vorteilhaft im Hinblick auf berufliche Anforderungen sein kann, selbst dann, wenn man nicht als Mann durchgeht. Im Kontext konfligierender Anforderungen erlebt Flin ambivalente Effekte seiner Erscheinungsweise: »Es macht’s schwer eher innerhalb der Firmenstrukturen, dass man halt so untypisch ist und aus’m Rahmen fällt, aber in manchen Sachen hilft es auch, dass man ernst genommen wird.« (Int. 6) Anders als Tino bekommt Flin nicht generell ›als Mann‹ besondere Kompetenzen zugesprochen, sondern muss seinen Status als (legitimer, adäquater) »Vertreter der Firma« entgegen seiner auffälligen, geschlechtliche Anforderungen verletzenden Erscheinungsweise besonders absichern (wofür er die »Rückendeckung« seines Bruders braucht). Dass männlich codiertes Auftreten und Erscheinen »hilft […], dass man ernst 30 In einer auf Interviews mit 29 Transmännern (FTMs) in Südkalifornien basierenden Studie setzt Kristen Schilt (2006) an der »outsider within«Perspektive von Transmännern an, um Mechanismen der Perpetuierung von Geschlechterungleichheiten und Diskriminierungen am Arbeitsplatz zu untersuchen: »FTMs can find themselves benefiting from the ›patriarchal dividend‹ – the advantages men in general gain from the subordination of women – after they transition. However, not ›being born into it‹ gives them the potential to be cognizant of being awarded respect, authority, and prestige they did not have working as women.« (Schilt 2006: 466) In der Tat zeigen ihre Ergebnisse, dass die Mehrheit der Befragten berichtet, als ›Männer‹ mehr Kompetenz und Autorität zugesprochen zu bekommen als früher als ›Frauen‹; dass sie mehr Respekt und Anerkennung für ihre Arbeit erfahren; und dass sich ihnen teilweise größere ökonomische Chancen bieten als früher. Dies gilt teilweise auch für diejenigen Befragten, die bei der Arbeit nicht ›einfach als Mann‹, sondern als Transmann bekannt sind. 352
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
genommen wird«, wird dagegen in bestimmten konkreten Interaktionen erfahrbar: »Wenn ich ’n LKW beladen muss und red’ da mit dem Fahrer, dann nimmt er das von mir entgegen. Wenn ich dastehen würde in ’nem Kostümchen, mit langen Haaren, das wär’ -, oder in Stöckelschuhen, was weiß ich, ja. Eigentlich müsste ich mich so anziehen, weil es in der Business-Welt so üblich ist, mach’ ich aber nicht, also ich versuch’ da immer so meinen Kompromiss zu finden. Äh, das ist einfach ’n anderes Kommunizieren, das ist eher so auf Kumpelebene so unter -, nicht ganz, aber fast, fast kommt es hin. Natürlich nehmen die dann den andern Projektmanager, den Mann, noch ernster als mich. Und das sind dann auch wieder so Situationen, wo man sich -, wo man halt auch wieder wütend drüber werden könnte immer wieder, warum passiert das trotzdem immer wieder, solche Sachen.« (Ebd.)
Flin gelingt es, »fast« »auf Kumpelebene« unter Männern zu kommunizieren. Anders als Uli, deren Erzählung zeigt, wie ihre geschlechtlich uneindeutige Erscheinungsweise die kollegialen Beziehungen zum Stolpern bringt und eine gewisse Sperrigkeit produziert, sorgt Flin damit für eine reibungslose und vertraute Interaktion, die der Effektivität des geschäftlichen Vorgangs zugute kommt und die trotz der vermeintlichen ›Kumpelhaftigkeit‹ Flins Position des (Anweisungen gebenden) Projektmanagers gegenüber dem LKW-Fahrer festigt. Und zugleich erlebt Flin, dass sein (cis-männlicher) Kollege in vergleichbaren Situationen »noch ernster« genommen wird – einfach qua Mannsein.31 Flin verhandelt verschiedene Anforderungen gegeneinander: Der Anforderung nach einer in der »Business-Welt« üblichen Kleidungsund Erscheinungsweise gemäß des ihm zugewiesenen Geschlechts entzieht er sich weitgehend und stellt Frausein gerade ›gut genug‹ dar (»ich versuch’ da immer so meinen Kompromiss zu finden«; ebd.), was er sich wegen der Rückendeckung durch seinen Bruder leisten kann. Der Anforderung, sich in Beziehungen zu Kund_innen und Beschäftigten von Partnerfirmen Respekt zu verschaffen und die Interessen seiner Firma durchzusetzen, kann er dagegen aufgrund seiner (durch das Kinging entwickelten und habitualisierten) Beherrschung eines männlich codierten Verhaltens- und Darstellungsrepertoires müheloser nachkommen als 31 Während das Beispiel von Flin zeigt, dass eine männlich codierte Performance auch ohne die Bindung an ›Mannsein‹ situativ einen Gewinn an Durchsetzungsfähigkeit bewirken kann, ist das Umgekehrte offensichtlich auch der Fall: Vgl. zu einem Beispiel dafür, wie ein weiblich codierter Körperstil, von einer als Mann wahrgenommenen Person an den Tag gelegt, die Durchsetzungsfähigkeit im beruflichen Kontext schwächen kann, Wagels 2008: 146. 353
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
viele ›Frauen‹, jedoch weniger leicht als die als solche wahrgenommenen männlichen Kollegen. Diese Verhandlungen unterschiedlicher Anforderungen im Kontext der »Business-Spielregeln« begreift Flin selbst als ein »Spielchen«, das er gerade deswegen vermutlich besonders gut zu spielen vermag. Seine Fähigkeit zur Durchquerung gesellschaftlicher Plätze, die ihn beruflich relativ erfolgreich sein lässt, beruht auf einer disidentifizierenden Distanzierung von den ›Regeln‹; eine Distanzierung, die er implizit mit seiner Praxis des Kinging in Verbindung bringt (indem er ›Geschlecht‹ als »spielerische Kategorie« begreift). Auch für Flin ist Kinging jedoch nicht lediglich ›spielerisch‹, sondern eine Praxis, durch die er eine transgeschlechtliche Verortung entwickelt und in der sein Wunsch, auf eine bestimmte Weise gesehen und adressiert zu werden, an Gewicht gewinnt. Dadurch werden seiner Fähigkeit zur Durchquerung auch Grenzen gesetzt: Seine geschlechtliche Performance auch auf der Arbeit bewegt sich in einem Rahmen, der durch den Wunsch nach einer angemessenen Sichtbarkeit abgesteckt ist und der seine Möglichkeit, sich auf eine Performance von Weiblichkeit einzulassen, deutlich begrenzt. Sein Wunsch nach angemessener Sichtbarkeit impliziert für ihn außerdem, nicht als Mann wahrgenommen werden zu wollen, so dass ein durchgängiges passing für ihn (bislang) keine Option ist – auch seiner Performance von Männlichkeit sind dadurch also Grenzen gesetzt. Und schließlich fordert sein Wunsch nach einer solchen Sichtbarkeit auch ihm die Arbeit ab, soziale Räume zu schaffen und zu erhalten, in denen sie möglich wird. Obwohl er Vollzeit arbeitet, sieht auch Flin seinen Lebensmittelpunkt nicht im Betrieb, sondern in seinen Tätigkeiten in der und für die Drag King-Szene.
3.4 »Dann find’ ich’s auch wichtig, mich in dem Moment als Frau zu bezeichnen«: Arbeiten im Männerberuf In beruflichen Kontexten geschlechtlich auffällig zu sein und daher gefordert, Strategien des Umgangs mit dieser Auffälligkeit zu entwickeln, ist eine Erfahrung, die insbesondere für Frauen in Männerberufen vielfach beschrieben und analysiert wurde (vgl. z.B. Kanter 1977; Heintz/ Nadai 1998). In beruflichen Kontexten, die männlich codiert sind und in denen überwiegend Männer arbeiten, scheinen Frauen in besonderer Weise auf ihr Geschlecht zurückgeworfen zu werden: Alles, was sie tun, scheinen sie ›als Frauen‹ zu tun, d.h. es wird tendenziell als Effekt oder Ausdruck ihres Geschlechtseins gewertet (und nicht ihrer Individualität oder fachlichen Funktion). Eine solche geschlechtliche Auffälligkeit, in der das Geschlecht gewissermaßen verstärkt zu werden scheint, erfahren 354
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
zwar auch Männer in typischen Frauenberufen, wie etwa Bettina Heintz und Eva Nadai (1998) für das Feld der Krankenpflege zeigen können. Aufgrund der engen Verschränkung von Männlichkeit und Professionalität, so die Autorinnen, gerate dies den Krankenpflegern jedoch eher zum Vorteil (z.B. in Bezug auf Aufstiegschancen), während der gleiche Nexus Frauen in beruflichen Männerdomänen einem besonderen Beweisdruck aussetze. Derart ›als Frau‹ markiert und dadurch mit besonderen und besondernden Zuschreibungen und Anforderungen konfrontiert zu werden, thematisieren auch einige der Interviewten, die in typischen Männerberufen arbeiten und – wenngleich geschlechtlich uneindeutig auftretend – von ihren Kolleg_innen als Frauen wahrgenommen werden. Ihre Erfahrungen und Umgangsweisen damit erinnern in ihren Grundzügen zunächst deutlich an die in der erwähnten Literatur zu Frauen in Männerberufen bereits beschriebenen. So formuliert etwa Sean, der/die als Landschaftsgärtner_in »eigentlich nur mit Männern« zusammenarbeitet: »[A]ls Frau ist es ziemlich schwer in dem Beruf, also du wirst nicht für voll genommen, weil ’n Mann -, die meinen alle, du kannst nicht so arbeiten wie ’n Mann irgendwie. >4@ Du wirst dann gleich irgendwie -, du kriegst andere Arbeiten als die Männer und so. I: Zum Beispiel? A: Na, die erwarten dann von dir, dass du eher die kleinen Blumen pflanzt und die Männer legen die Platten, die Steinplatten oder so.« (Int. 12)
Sean beschreibt, dass die unterschiedlichen Arbeiten innerhalb des Männerberufs wiederum geschlechtlich ausdifferenzierend codiert sind: »Das teilt sich auf in Steinarbeiten und in Pflanzarbeiten.« (Ebd.) Entgegen der damit verbundenen geschlechtlichen Zuweisung kann Sean durchsetzen, auch an »Steinarbeiten« beteiligt zu werden: »Wenn du zeigst, dass du das genauso kannst wie’n Mann und dass du auch nicht rumjammerst oder -, dann sehen die auch, du kannst das und dann ist es auch okay.« Sean muss eine Fähigkeit erst unter Beweis stellen, die seinen/ ihren Kollegen qua Mannsein selbstverständlich zugesprochen wird.32
32 Anders als die bisher zitierten Interviewten kann Sean von seiner Arbeit allein nicht leben: Obwohl durch eine entsprechende Berufsausbildung qualifiziert, wird er/sie schlecht bezahlt und zudem nur je befristet von Frühjahr bis Herbst eingestellt – eine Prekarität, die Sean mit vielen anderen Beschäftigten in diesem Beruf teilt. Im Winter lebt Sean von Arbeitslosengeld und/oder jobbt als Ungelernte_r: »Es ist halt blöd, du hast Zeit, aber kein Geld [lacht], und wenn du ’n Job hast, dann hast du keine Zeit.« (Ebd.) 355
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Dass es »einfach nicht alltäglich ist, in meinem Beruf als Frau zu arbeiten« (Int. 14), erfährt auch Bela regelmäßig, die in einem Handwerksbetrieb ihre/seine Ausbildung macht. Anders als Sean arbeitet Bela jedoch ausschließlich mit Kolleginnen zusammen33 und muss deswegen weniger innerhalb des Betriebs als gegenüber Kund_innen und Kolleg_innen anderer Firmen beweisen, dass sie/er die Arbeit ›wie ein Mann‹ erledigen kann. Gerade wenn Bela gemeinsam mit Kolleginnen einen Auftrag ausführt, sorgt diese Truppe aus lauter ›Frauen‹ oft erst einmal für Verwunderung: »Na ja, oft wird man halt komisch angeguckt und so: Hä, was machen die denn hier -, oder alles, was man macht, wird halt zehnmal angeguckt, so: Hä, machen die das denn auch gut und so, es wird halt alles immer doppelt geprüft. Also ’n Handwerker kann schlechte Arbeit leisten, aber ’ne Handwerkerin, also sie kann einpacken, wenn sie schlechte Arbeit leistet. Du stehst halt immer unter dem Druck, dass du besonders gut sein musst so. Oder was ich auch total ätzend finde, dass einem alles aus der Hand genommen wird, so: das kannst du ja nicht tragen und so, wo wir jetzt ’nen ziemlich coolen Spruch haben >lacht@, find’ ich. Wenn jetzt irgend ’ne Lieferung kommt und wir kommen dann mit fünf Frauen raus und wollen irgendwie Bohlen reinschleppen, und die sagen: Ha, könnt ihr das denn tragen. Dann sagen wir irgendwie: Nee, also können wir eigentlich gar nicht, wir sind hier so ’n Modellbau und >beide lachen@ -, wir tragen aber eigentlich nie schwere Sachen. […] Und dann merken die auch so: Hm, ähm, ja >beide lachen@, wir haben grade ’ne ziemlich doofe Frage gestellt.« (Ebd.)
Als ›Frau‹ steht Bela (wie ihre Kolleginnen) unter dem Druck, »besonders gut sein« zu müssen, d.h. die Arbeit mit besonderer Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Engagement auszuführen. Wiederholt in Frage gestellt wird sowohl ihre handwerkliche Kompetenz als auch eine für die Arbeit ausreichende Körperkraft. Die sich hartnäckig haltende Vorstellung, die dies Frauen qua Geschlecht abspricht, führt teils zu geradezu absurden Situationen – wenn nämlich nicht mehr nur in Frage steht, ob die Handwerkerinnen ihre Arbeit ›gut genug‹ erledigen können, sondern ob sie basalen Anforderungen ihrer Tätigkeit gewachsen sind und damit, ob sie überhaupt ›richtige‹ Handwerker(innen) sein können. Über den Mehraufwand hinaus, den es bedeutet, die Arbeit ›besonders gut‹ zu machen, müssen Bela und ihre Kolleginnen sich Strategien des Umgangs mit
33 Dies ist Bela zufolge der Praxis ihres (männlichen) Chefs geschuldet, bevorzugt Frauen einzustellen, um dafür staatliche Mittel zur Frauenförderung zu erhalten (Int. 14). Es handelt sich hier also nicht um einen klassischen (feministischen) ›Frauenbetrieb‹. 356
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diesem Absprechen ihrer beruflichen Funktion überlegen. Sie tun dies, indem sie die Zuschreibung weiblicher Schwäche ironisch affirmieren (»wir tragen eigentlich nie schwere Sachen«) und damit die Absurdität der Annahme ihres Gegenübers offen legen und so den Ball zurückspielen. Zusätzlich zu dem Aufwand, den es bedeutet, sich ›als Frau‹ im Männerberuf zu beweisen, reflektiert Bela im Interview, was es bedeutet, derart auf eine geschlechtlich vereindeutigte Position zurückgeworfen zu sein, ohne sich selbst eindeutig als ›Frau‹ zu begreifen. Ihre/seine Versuche, dies und andere im Kontext der Drag King-Szene konstituierte Existenzweisen den Kolleginnen gegenüber verständlich zu machen, sind mal mehr, mal weniger erfolgreich. Einerseits stößt Bela auf Interesse und Akzeptanz, andererseits aber auch an Grenzen, wenn die Kolleginnen in Bezug auf die auf einem von ihr/ihm mitgebrachten Drag King-Flyer abgebildeten Personen hartnäckig pauschalisierend von ›Frauen‹ sprechen – den Erklärungsversuchen von Bela zum Trotz. Während Bela sich innerhalb der kollegialen Beziehungen im Betrieb zumindest um eine Infragestellung ausschließlicher Zweigeschlechtlichkeit bemüht, scheint ihm dies im Kontext der geschilderten Aushandlungen der Position von ›Frauen‹ im Männerberuf eher aussichtslos und teils auch kontraproduktiv: »Da find’ ich es schon wichtig, dass jetzt Frauen halt gestärkt werden. Dann komm’ ich da nicht an und sag’: Äh, aber eigentlich gibt’s ja ganz viele Geschlechter >lacht@ und bla, das wär’ dann vielleicht für den Bauarbeiter dann etwas -. Dann find’ ich wichtig zu sagen: Hallo, ich bin hier als Frau auf der Baustelle und so, und dann find’ ich’s auch wichtig, sich -, mich in dem Moment als Frau zu bezeichnen, und in anderen Situationen dann vielleicht eher nicht.« (Ebd.)
Bela ordnet das Bestreben, in ihrer/seiner im Kontext der Drag KingSzene konstituierten Geschlechtlichkeit sichtbar zu werden, dem Kampf um Anerkennung von Frauen im Männerberuf unter. Strategisch nimmt sie/er den zugewiesenen Platz als ›Frau‹ ein, um ihn umarbeiten zu können (in dem Sinne, dass dieser Platz nicht – wie hegemonial tradiert – im Widerspruch zu physischer Stärke und handwerklicher Kompetenz steht). Belas Durchquerungen unterschiedlicher geschlechtlicher Positionen – sich »in dem Moment als Frau zu bezeichnen, und in anderen Situationen dann vielleicht eher nicht« – sind motiviert durch das Streben nach einer strategischen (oder taktischen) politischen Handlungsfähigkeit: Je nachdem, wie bestimmte Kontexte und Situationen geschlechtlich strukturiert sind, sieht er/sie unterschiedliche Möglichkeiten 357
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und Notwendigkeiten, geschlechtliche Anrufungen und Zumutungen anzunehmen, anzufechten oder umzuarbeiten; Möglichkeiten und Notwendigkeiten, die mit unterschiedlichen Weisen einhergehen, für andere geschlechtlich in Erscheinung zu treten.
3.5 »… weil das einfach ein Begriff ist, mit dem man weiter kommt«: ›Transsexuell werden‹ im Betrieb Die bisher betrachteten Aushandlungsprozesse in Erwerbsarbeitsverhältnissen bezogen sich (in unterschiedlicher Weise) auf die mit dem jeweils wahrgenommenen Geschlecht verbundenen Erwartungen und Anforderungen, kaum jedoch auf eine Veränderung des Geschlechtsstatus selbst: Auch wenn Flin ein ›männliches‹ Auftreten an den Tag legt, unterliegt seine ›eigentliche‹ Geschlechtszugehörigkeit als Frau keinem Zweifel; umgekehrt geht Tino fraglos als Mann durch, auch wenn seine Erfahrungen ihn in einer Distanz zu dieser Position konstituieren. Was geschieht nun, wenn nicht nur die Erscheinungsweise Anlass gibt zu bestimmten Annahmen und Adressierungen, sondern wenn jemand aktiv eine Veränderung der Adressierung einfordert und damit der Geschlechtsstatus selbst verhandelt wird? Bevor Tino die bereits geschilderte Erfahrung macht, bei einer (neuen) Arbeitsstelle zweifelsfrei als Mann adressiert zu werden, ist er – als ›Frau‹ – in einer Behörde beschäftigt. Als die ersten körperlichen Effekte seiner Hormonbehandlung auch für andere bemerkbar werden, stellt sich ihm die Frage, in welcher Weise er dies erklären soll und will – »hm, wie lange soll ich behaupten, dass ich heiser bin?« (Int. 8) Eine befreundete Kollegin, die er ins Vertrauen zieht, rät ihm davon ab, seine geschlechtliche Veränderung offen zu legen, weil sie befürchtet, »dass dann Leute sozusagen gucken kommen: wie sieht so jemand aus, so nach dem Motto.« (Ebd.) Tino hält sich an diesen Rat und vermeidet es dadurch, ins Zentrum einer voyeuristischen Aufmerksamkeit zu geraten. Weil sein befristeter Arbeitsvertrag sowieso bald danach ausläuft und eine Verlängerung nicht in Aussicht gestellt ist, kann er sich die Anstrengung einer Verhandlung seiner geschlechtlichen Veränderung in den kollegialen Beziehungen ersparen. Solche Verhandlungen unternimmt dagegen Felix, der (zum Zeitpunkt des Interviews) seit rund zehn Jahren im selben großen Industriebetrieb beschäftigt ist – zunächst als Auszubildende_r (zur Industriekauffrau) und später als Angestellte_r im Vertrieb. In diesem langen Zeitraum (dem längsten von allen in den Interviews thematisierten kontinuierlichen Arbeitsverhältnissen) hat Felix vielfältige verbindliche Beziehungen aufgebaut – zu Kolleg_innen, zu Vorgesetzten und auch zu 358
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Vertreter_innen von Kundenfirmen. Als Felix einige Monate vor dem Zeitpunkt des Interviews im Zuge der Beantragung seiner Vornamensänderung beschließt, dies auch im Betrieb öffentlich zu machen und durchzusetzen, dort als ›Herr Felix Marth‹ adressiert zu werden, kann er zum Teil auf die in diesen Beziehungen über Jahre hinweg geleistete geschlechtliche bzw. »sexuelle Arbeit« zurückgreifen. Mehrfach hat Felix erlebt, dass Kund_innen, denen er als ›Frau Marth‹ angekündigt wurde, beim ersten Treffen zunächst an ihm vorbeiliefen oder zumindest ihr Erstaunen über seine Erscheinungsweise nicht verbergen konnten: »[D]a hatte ich ’nen Kundenbesuch gemacht und der wusste: Ah, da kommt ’ne Frau, und dann kam ich mit meinem Anzug, und er guckte mich an, war total ent-, nicht entsetzt, aber ihm entglitten seine Gesichtszüge ’n bisschen. Da meinte er: Entschuldigen Sie bitte, dass ich jetzt ’n bisschen verstört bin, aber ich hab’ halt gedacht, da kommt ’ne ganz andere Person [I lacht]. Da meinte ich so: Ja, ich hab’ mir das schon gedacht, also -. Da meinte er, es tut ihm leid, also es ist nichts Persönliches oder so, aber er hat halt -, ja, er hat’s nicht gesagt, aber er hat halt was Feminineres erwartet, sagen wir mal so. Habe ich gesagt: ja, normalerweise schicke auch immer ’n Bild vorher, aber in dem Fall hab’ ich’s halt vergessen. Da meinte er: ja, okay. Der hat die ganze Zeit irgendwie -, dem war das so unangenehm, dass er so einfach reagieren musste.« (Int. 10)
Aus früheren solchen Erfahrungen heraus hat Felix sich angewöhnt, seinen Kund_innen vor der ersten Begegnung ein Foto von sich zu schicken, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre spontanen Reaktionen auf die Diskrepanz zwischen seiner Erscheinungsweise und seinem Geschlechtsstatus bis zum Treffen unter Kontrolle zu bringen und nicht Gefahr zu laufen, durch ein Entgleisen der Gesichtszüge die Regeln geschäftsmäßiger Höflichkeit zu verletzen. Auch in der geschilderten Interaktion, in der sein Gegenüber nicht entsprechend vorbereitet ist, bemüht sich Felix, gelassen und freundlich auf die Verwirrung seines Gegenübers zu reagieren und dessen offensichtliches Gefühl der Peinlichkeit zu mildern. Diese und vergleichbare Situationen schildert Felix im Interview mit leichter Belustigung und Nachsicht für die Verwirrung seiner Gesprächspartner_innen. Dass er selbst inzwischen eine souveräne Position einnehmen kann, aus der heraus nicht sein eigenes, sondern das Verhalten der andern eine reibungslose und peinlichkeitsfreie Interaktion zu stören scheint, ist Ergebnis einer jahrelangen Auseinandersetzung mit seinen geschlechtlichen Wünschen und Verortungen und der ›Stabilisierung‹ seiner selbst als ›Felix‹ im Kontext der Drag King-Szene (vgl. Kapitel III.3.3). 359
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Die Arbeit in der und für die Szene unterstützt ihn in seinen beruflichen Aushandlungspraxen jedoch nicht nur hinsichtlich seines dadurch konstituierten Selbstverhältnisses und gestärkten Selbstbewusstseins. Sie konstituiert darüber hinaus eine Wirklichkeit, die offensichtlich zumindest partiell gegenüber einigen seiner Kolleg_innen vermittelbar und somit teilbar wird: »[In der Firma] ging’s schon mal rum, dass ich halt auftrete, und da waren auch ’n paar Leute dann, auch Freunde also oder Kollegen da, mit dem einen hab’ ich damals die Ausbildung gemacht, der andere ist so alt wie ich und so, und die sind dann einfach mal im [Veranstaltungsort] gewesen und haben sich das angeguckt. Und da hab’ ich gesagt: Naja, ich bin halt hier Felix, und ich würde mich freuen, bla, wenn ihr mich halt auch so nennen könntet, wolltet. – Wie, auch in der Firma? Meinte ich so: Ja, klar.« (Ebd.)
Die mit der Drag King-Show verbundene (gegen-)öffentliche Adressierungsweise, die einerseits auf eine subkulturell geprägte alternative geschlechtliche Wirklichkeit bezogen ist, andererseits aber ›allen‹ ungeachtet ihrer geschlechtlichen Verortung das Zuschauen ermöglicht, wird hier in besonderer Weise wirksam: Felix lädt befreundete und langjährig vertraute Kollegen zur Show ein, die sich damit offensichtlich auf eine neue Erfahrung einlassen. Felix nutzt die Gelegenheit, über die Performance hinaus etwas von seiner Wirklichkeit zu zeigen: In dem Raum, in dem ›Felix‹ selbstverständlich als solcher existiert und adressiert wird, bittet er die Kollegen beinahe beiläufig, diese Selbstverständlichkeit zu teilen und ihn künftig ebenfalls so zu nennen – auch in der Firma. Auch wenn sich die geschlechtliche Wirklichkeit von ›Felix‹ im Horizont der Drag King-Szene den Kollegen nicht als eine evidente aufdrängt und sie zunächst etwas erstaunt reagieren, gelingt es in dieser Situation offenbar dennoch, ›etwas‹ über die Szene hinaus (mit-)teilbar zu machen. Darüber schleicht sich ›Felix‹ – lange vor einem offiziellen outing – sukzessive in die Firma ein: Im Klatsch und Tratsch wird der Name verbreitet und ist bald auch vielen derjenigen bekannt, die ihn nicht zu seiner/ihrer Adressierung verwenden. (»Und dann nahm das einfach seinen Lauf. Und ich mein’, Buschfunk ist einfach schneller als alles andere in der Firma und du kriegst das halt auch nicht mit. Und ich denke, das ist einfach darüber dann auch gelaufen. Und das ging dann halt auch bei den Azubis rum, irgendwie: Ja, da ist jemand, der tritt auf und bla, weißt du, so«; ebd.) Als Felix dann eines Tages in die Personalabteilung geht und darum bittet, künftig als ›Herr Felix Marth‹ geführt zu werden, hält sich die Überraschung daher in Grenzen. Auf die Frage der Kollegin, »wie es 360
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denn dazu kommt«, antwortet Felix: »[D]as ist schon eigentlich seit sieben Jahren, dass ich im Privaten halt Felix bin und jetzt einfach nicht mehr -, ich muss einfach weiter und das geht halt nicht, dass ich zwei verschiedene Personen irgendwie bin, ich komm’ damit einfach nicht mehr klar« (ebd.) – eine Antwort, die die Kollegin offensichtlich problemlos akzeptiert. Zu ihrer Absicherung besorgt Felix ihr Dokumente, aus denen hervorgeht, wie eine solche Namensänderung gemäß dem sogenannten »Transsexuellengesetz« (TSG) vonstatten geht und wie diese rechtliche Grundlage davor schützt, die Verwendung des neuen Namens etwa bei Vertragsunterzeichnungen als Urkundenfälschung auszulegen. Bevor die entsprechenden Änderungen in den Firmenunterlagen vollzogen werden, steht Felix allerdings noch ein Gespräch mit dem Geschäftsführer bevor, ohne dessen Einwilligung die Kollegin von der Personalabteilung nicht handeln kann oder will. Vor diesem Gespräch ist Felix ein bisschen bange, weil er das Verhältnis zu dem Geschäftsführer als wenig entspannt empfindet: »[W]ir sind uns nicht wirklich grün, also er kann mit mir nicht irgendwie und ich kann mit ihm nicht wirklich. Und ich denke mal, er kann einfach mit mir nicht, weil er nicht wusste, wen oder was er da vor sich hat, weißt du, so in die Richtung. […] Er ist halt so ’n Typ, der mir dann Tag sagt, aber so Tag sagt, weißt du, so Kopf weg irgendwie und so, also nicht so wirklich -, nicht so wirklich da.« (Ebd.)
Felix nimmt bei dem Geschäftsführer eine Irritation wahr und eine Unfähigkeit oder Unwilligkeit, ihm (Felix) mit Präsenz und direktem Blick zu begegnen. Dieser als missachtend zu deutenden Haltung ausgesetzt, soll Felix nun im Gespräch sein Anliegen vermitteln: »Und da meinte er: Also was ist denn jetzt hier eigentlich los. Und ich so: Naja, was ist los, was wollen Sie ’n wissen. Alles, sagt er, alles [I lacht]. Und ich so: Na ja, gut, also, ähm, ich hab’ meine Namensänderung beantragt, weil ich halt schon seit sieben Jahren auch als Felix im privaten Bereich lebe und ich will einfach diese Diskrepanz, also zwischen privat und beruflich, einfach weg haben, und würd’ mich freuen, wenn [die Firma] mir da zur Seite stehen kann und das machen würde, wenn ich sozusagen auch nach außen hin als Felix auftreten kann. – Aha, ja, gut, ähm, und wie kommt das? Und ich so: Na ja, ich bin halt transsexuell, [lacht] so schnell -, ich konnt’ gar nicht so schnell denken, wie ich das ausgesprochen hab’, weil mit transgender hätt’ er sowieso nichts anfangen können. Aber dann gehst du einfach in so ’ne andere Schiene und gibst mehr sozusagen nach außen hin preis, als es wirklich ist oder so. Also -, wenn ich ihm jetzt gesagt hätte: Ja, ich bin transgender, da hätt’ er nichts mit anfangen können, sage ich aber, ich bin transsexuell, dann kann er 361
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damit wesentlich mehr anfangen, weißt du, weil das einfach ein Begriff ist, mit dem man weiterkommt, also -, oder sich was drunter vorstellen kann. Und ich so: Na ja, und -, wie’s jetzt halt weitergeht, weiß ich nicht, das ist halt so diese kleine Lösung, diese sogenannte kleine Lösung, um zu sehen, will ich wirklich als Mann leben, und so weiter.« (Ebd.)
Anders als die Kollegin von der Personalabteilung gibt der Geschäftsführer sich nicht zufrieden mit Felix’ Erklärung, wie im »privaten Bereich« nun auch in der Firma als ›Felix‹ gelten zu wollen und dadurch die ihn anstrengende »Diskrepanz« zwischen unterschiedlichen Weisen des Adressiert- und Konstituiertwerdens aufzuheben. Ein solcher Wunsch bleibt für den Geschäftsführer begründungsbedürftig (»und wie kommt das?«), und Felix kommt der Aufforderung zur Begründung nach, indem er sich als »transsexuell« bezeichnet. Mit der strategischen Unterwerfung unter eine Diagnose, die Felix für sich selbst als nicht zutreffend empfindet, kann er einen für den Geschäftsführer sinnhaft verstehbaren, wenngleich als pathologisch konstituierten Ort einnehmen. Im Kontext der Diagnose scheint sein Wunsch nicht länger als der nach einer ihm gemäßen Lebensweise, sondern als ein aus der »transsexuellen Prägung« resultierender »Zwang […], [seinen] Vorstellungen entsprechend zu leben« (vgl. § 1 TSG); ein Zwang, dessen ›Nachweis‹ durch psychiatrische Gutachten ihn erst für die sog. »kleine Lösung« (d.h. die gesetzliche Vornamensänderung) nach § 1 TSG qualifiziert. Auf diese Weise wechselt Felix im Laufe des Gesprächs seine Strategie: Während er sich zunächst als ein souveränes Subjekt präsentiert, das eine konkrete Bitte um Unterstützung für eine eigene Entscheidung formuliert, ruft er sodann Autoritäten auf, die diese Entscheidung gerade nicht als die eines souveränen Subjekts bezeugen, sondern sein Anliegen durch die Bescheinigung legitimieren, dass er ›nicht anders kann‹, weil er unter einem ›inneren Zwang‹ steht. Diese Autoritäten sind sowohl die in den Behandlungsstandards verdichtete ärztliche Lehrmeinung als auch der im TSG formulierte ›Wille des Gesetzgebers‹ (vgl. Kapitel II. 2.2.1). Felix gibt damit »mehr sozusagen nach außen hin preis als es wirklich ist«, er macht sich lesbar als etwas oder jemand, der er nicht wirklich ist (aber auch nicht wirklich nicht ist). Dass er damit bestimmten Intelligibilitätskriterien folgt, ist ihm deutlich bewusst: Mit der für ihn selbst treffenderen Selbstbezeichnung als »transgender«, einem weder diagnostischen noch rechtlich kodifizierten Begriff, hätte der Geschäftsführer seiner Einschätzung nach »nichts anfangen« können, während ›transsexuell‹ »einfach ein Begriff ist, mit dem man weiterkommt«.
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Dass seine Strategie aufgeht und dass es tatsächlich die Anrufung der genannten Autoritäten ist, die für dieses Gelingen entscheidend ist, zeigt der Fortgang des Gesprächs: »[D]ann hat er gesagt: Na ja, und wie soll das weitergehen und so. Da hab’ ich gesagt: Na ja, Hormone, das überleg’ ich halt noch, das ist halt ’ne -, wie gesagt, diese kleine Lösung, um einfach klarzustellen, will man weitergehen oder nicht. Und da hat er gesagt: Und was ist, wenn jetzt der Staat sagt: Nee, die Namensänderung können Sie nicht vollziehen? Und da hab’ ich gesagt: Da mach’ ich noch mal ’nen Antrag oder geh’ woanders hin, und das wird schon gehen, also da wird nichts anderes kommen, also ich werde mit Sicherheit nicht auf meinen alten Namen zurückgreifen. – Na ja, okay, gut, dann -, ja, viel Erfolg, gutes Gelingen, bla, shake hands. Und da hat er mir echt das erste Mal in die Augen geschaut so richtig, da war ich echt baff, also da war ich wirklich: Puh, ja, na ja.« (Ebd.)
Der Geschäftsführer fordert Felix gewissermaßen das Versprechen ab, dass ihm die rechtliche Anerkennung durch staatliche Behörden erteilt werden wird. Auch der Geschäftsführer unterwirft sich damit unter die staatliche Autorität. Er weigert sich, nach eigenem Ermessen über Felix’ Bitte zu entscheiden, und präsentiert sich stattdessen als jemand, der lediglich einer staatlichen Entscheidung folgt. Trotz dieser distanzierenden, Felix’ Bitte nur indirekt anerkennenden Haltung äußert der Geschäftsführer mehr und anderes als lediglich seine formale Zustimmung: Beim verabschiedenden Handschlag »hat er mir echt das erste Mal in die Augen geschaut so richtig«. Im Gegensatz zu früheren Begegnungen, in denen der Geschäftsführer (aus Felix’ Sicht) Zeichen der Anerkennung verweigert, wird eine solche nun in der Interaktion spürbar. Wenn der Geschäftsführer früher nicht wusste, »wen oder was er da vor sich hat«, so glaubt er es nun offensichtlich zu wissen: Lässt Felix, der ihm zuvor geschlechtlich uneindeutig oder merkwürdig erschienen war, sich nun in einem medizinisch und rechtlich abgesteckten Terrain präzise fixieren – sowohl begrifflich als auch mit Blicken? Felix jedenfalls sieht in dem Blick des Geschäftsführers nun etwas, was er zuvor vermisst hat: Respekt. Nicht nur der Geschäftsführer, sondern auch seine unmittelbaren Vorgesetzten unterstützen Felix in seiner Entscheidung. Die Namensänderung wird in einem offiziellen Schreiben der Firma den Kund_innen mitgeteilt – »aus Frau Marth wird nun Herr Felix Marth« – »mit der Bitte um Änderung in den Stammdaten« (ebd.). Dass, wie Felix von Kolleg_innen erfährt, dadurch in einigen Kundenfirmen ein großes Gerede losgeht und er zum Klatschthema des Tages wird, nimmt er gelassen, ist 363
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aber dennoch froh, wenn er Gelegenheit dazu hat, das ›Thema‹ im direkten Kontakt selbst ansprechen und verhandeln zu können. Und zu verhandeln hat er weiterhin einiges: Felix geht in seinem Arbeitskontext nie ›einfach als Mann‹ durch – weil er aufgrund seiner langen Geschichte in der Firma so vielen noch als ›Frau‹ bekannt ist, und auch, weil er bislang auf hormonelle und operative körperliche Veränderungen verzichtet. So wundern sich auch neue Kund_innen etwa am Telefon über seine hohe Stimme, sind nicht sicher, ob sie richtig verbunden sind, er muss erklären (»ich war ja auch früher Frau Marth und hab’ jetzt die Namensänderung durch und bin jetzt Herr Felix Marth«; ebd.), und wieder spürt er auf der anderen Seite der Leitung eine Peinlichkeit, die zu lindern er sich zur Aufgabe macht. Und als er erstmals nach der Bekanntgabe seiner Namensänderung die Firma auf einer Messe vertritt, verwendet er besondere Sorgfalt auf seine Erscheinungsweise, beschreibt die Anstrengung, acht Stunden lang mit abgeklebten Brüsten und in möglichst aufrechter Haltung am Messestand zu stehen, und ist sich dennoch nicht sicher, inwieweit und für wen er nun als ›Mann‹ sichtbar ist. Auch hier ist seine Geschlechtlichkeit in vielen Gesprächen explizit Thema, insbesondere mit bereits bekannten Kund_innen (»Naja, Sie kennen mich ja noch als Frau und bla und so«; ebd.). Die damit verbundene Anstrengung erlebt Felix jedoch weniger als eine solche denn als Möglichkeit, sich mehr als früher verständlich und sichtbar machen zu können; er genießt es deutlich, mit neuen Visitenkarten und neuem Namensschild präsent zu sein, und auch die Gespräche, in denen er überwiegend freundliche Reaktionen erfährt. Hier trifft er auch den Kunden wieder, dessen irritierte Reaktion bei ihrem ersten Treffen weiter oben geschildert wurde: »Und dann haben wir uns auf der [Fachmesse] wieder gesehen und dann habe ich ihm gesagt: Ja, so und so ist das, bla. – Ja, gut, Herr Marth. Und ich so: okay. Also für ihn war das einfach stimmig, weißt du, das war so vorher so: Hm, Frau Marth kommt, aber da kommt einfach ’n Typ irgendwie an. Und dann hab’ ich zu ihm gesagt: na ja, und ich hab’ jetzt meinen Namen halt meiner Person angeglichen und so. Meinte er: Ja, super.« (Ebd.)
Anders als gegenüber dem Geschäftsführer bezeichnet Felix sich hier und in vielen weiteren von ihm wiedergegebenen Gesprächen nicht als transsexuell und verzichtet auch auf andere kategorisierende Bezeichnungen. Er belässt es bei der unaufgeregten Feststellung, nun Herr Marth zu sein und damit »meinen Namen halt meiner Person angeglichen« zu haben, und engagiert sich nicht in dem Versprechen, auch seinen Körper durch medizinische Maßnahmen dem ›anzugleichen‹ (im 364
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Sinne des TSG).34 Obwohl er also die Regeln somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit weiterhin in einer teils auch für andere wahrnehmbaren Weise verletzt, gelingt es ihm, auf andere einen Eindruck zu machen, der für sie »stimmig« ist und auch für ihn selbst. Dies erlebt er nicht nur in der geschilderten Begegnung, sondern auch in vielen weiteren Arbeitsbeziehungen: »[B]ei einigen hab’ ich das Gefühl, als ob sie das jetzt verste-, also als ob sie mich jetzt anders, also besser sehen, weil das einfach jetzt klarer ist. Weil vorher war das immer: Frau Marth, läuft aber in Herrenklamotten rum, ’n bisschen merkwürdig, na ja – und jetzt ist es einfach klarer für sie, das Bild, glaub’ ich.« (Ebd.)
Felix entwickelt unterschiedliche Strategien, um Kolleg_innen, Kund_innen und Vorgesetzten ein halbwegs ›klares Bild‹ seiner selbst anbieten zu können – d.h. eines, das für sie verstehbar ist und daher sinnhafte wechselseitige Bezugnahmen ermöglicht. Zunächst gewöhnt er sich an, vor Erstbegegnungen ein Foto von sich zu schicken, um sein Gegenüber auf die Inkongruenz zwischen seiner Erscheinungsweise und dem Adressiertwerden als Frau vorzubereiten – und bleibt in den Augen der anderen dennoch »’n bisschen merkwürdig«. Die von ihm gewünschte Veränderung der geschlechtlichen Adressierung seiner selbst leitet er ein, indem er die Wirklichkeit seines geschlechtlichen Seins im Horizont der Drag King-Szene für einige befreundete Kollegen partiell erfahrbar (und ansatzweise sinnhaft verstehbar) macht. Die Art und Weise, wie er dadurch im Unternehmen anders wahrnehmbar wird, unterscheidet sich offensichtlich von der Art seiner ›Sichtbarkeit‹ im Horizont der Szene, ebenso sehr aber auch von dem Bild, das er später seinem Geschäftsführer vermittelt: Für diesen wird Felix’ geschlechtlicher Geltungsanspruch erst im Horizont der medizinisch-rechtlich konstituierten Kategorie der Transsexualität legitim und verständlich. Irgendwo zwischen diesen beiden Weisen des Sich-Sichtbarmachens (durch die Vermittlung von Bezügen zum Kinging einerseits, durch Bezüge zur Transsexualität andererseits) scheinen die Strategien zu liegen, mit denen er in vielen weiteren beruflichen Interaktionen seine Ge34 Die gesetzliche Vornamensänderung nach § 1 TSG gilt in diesem Gesetz gewissermaßen als Vorstufe zur Personenstandsänderung nach § 8 TSG. Voraussetzung für Letztere ist es, sich einem die »äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen [zu haben], durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht worden ist«, sowie »dauernd fortpflanzungsunfähig« zu sein. (Vgl. § 8 TSG, zitiert nach http://bundesrecht.juris.de/tsg/index.html, Stand: 24.02.2010.) 365
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schlechtlichkeit verständlich zu machen sucht – als eine, die im beruflichen Kontext stets erklärungsbedürftig bleibt, aber offenbar dennoch für viele akzeptabel wird.
3.6 »Sexuelle Arbeit« und Zonen des Sichtbarwerdens: Ein Fazit Die hier skizzierten Umgangsweisen mit geschlechtlichen Erwartungen, Anforderungen, Wahrnehmungsweisen und eigenen Wünschen im Kontext von Erwerbsarbeitsverhältnissen, die sich mit Boudry, Kuster und Lorenz als »sexuelle Arbeit« fassen lassen, sind durch je spezifische kontextuelle und individuelle Bedingungen geprägt. Während es bei der vorangegangenen Darstellung darum ging, gerade diese Spezifizitäten und die Verschränkungen unterschiedlicher Anforderungen und Wünsche so genau wie möglich auszuloten, soll abschließend nun der Versuch unternommen werden, interview- und kontextübergreifende Ergebnisse zu formulieren. Zunächst sollen verschiedene Ebenen begrifflich unterschieden werden, die als relevante Felder »sexueller Arbeit« identifiziert werden können. Jede dieser Ebenen geht mit einer spezifischen Form »sexueller Arbeit« einher: Die Ebene der geschlechtlichen Erscheinungsweise, des Aussehens und Auftretens: Mit den beruflichen Positionen, die die Interviewten als ›Frauen‹ oder als ›Männer‹ besetzen, gehen diesbezüglich jeweils mehr oder weniger explizite und rigide geschlechtliche Erwartungen einher, zu denen sich die Interviewten ins Verhältnis setzen müssen. Durch Kleidungsweisen und Körperstile tragen sie einerseits Sorge dafür, eine lesbare Position ›gut genug‹ einzunehmen, und bemühen sich andererseits um Geschlechtsdarstellungen, die von ihren Wünschen nach einer als ›angemessen‹ empfundenen Sichtbarkeit geprägt sind. In diesem Spannungsverhältnis bedeutet das Management der eigenen Erscheinungsweise teils ein sorgfältiges Abwägen, ein Ausloten dessen, was in welchen Kontexten akzeptabel ist (etwa als ›Computerfreak‹ einen eher nachlässigen oder auch exzentrischen Kleidungsstil an den Tag legen zu können), welche Kompromisse erträglich sind und welche man sich ›leisten‹ kann, welche Adressierungen und Bezugnahmen durch bestimmte visuelle Codes hervorgerufen werden etc. Der damit verbundene Aufwand lässt sich als Aussehens- oder Inszenierungsarbeit charakterisieren.
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INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
Die Ebene der Beziehungen und Interaktionen: Mehrere der Interviewten berichten von Irritationen, die sie durch ihre je spezifischen Verkörperungen und die Art der von ihnen verfolgten Kompromisse bezüglich ihrer geschlechtlichen Erscheinungsweisen bei Kolleg_innen und Kund_innen hervorrufen; Irritationen, die einen reibungslosen Ablauf geschäftlicher Interaktionen stören können: Begegnende sind peinlich berührt, verunsichert in ihrer spontanen Bezugnahme, wissen nicht, »wen oder was sie da vor sich haben« (Felix). Die Interviewten sind gefordert, solche Peinlichkeiten zu bearbeiten oder auszuhalten, sich um ein freundliches Klima zu bemühen, andere auf die eigene Erscheinungsweise vorzubereiten oder sie zu erklären; sie sind gefordert, kollegiale Beziehungen auch dann als solche aufrechtzuerhalten, wenn sie, z.B. als »Freak«, als »komischer« oder als »bunter Vogel«, darin abwertend-besondernd auf Distanz gehalten werden; sie sind gefordert, Beziehungen herzustellen und zu pflegen, die sich im Zweifelsfall als unterstützend erweisen. Der damit verbundene Aufwand lässt sich als Beziehungsarbeit bezeichnen. Die Ebene der Selbstverhältnisse: Die Art und Weise, wie viele der Interviewten in ihren Arbeitsverhältnissen für andere lesbar werden – etwa als »Freak«, als »komischer« oder »bunter Vogel«, als »Lesbe«, als »transsexuell« –, ist mit einer Besonderung und oft auch Abwertung verbunden. Diese Positionen einzunehmen und dadurch erst lesbar zu werden, sich jedoch gleichzeitig nicht vollständig dadurch konstituieren zu lassen – d.h. sich die abwertenden, (potentiell) verletzenden und teils pathologisierenden Implikationen auf Distanz zu halten, eine Gelassenheit und größtmögliche Unabhängigkeit gegenüber den Wahrnehmungen anderer zu entwickeln und/oder Verletzungen auszuhalten und zu bearbeiten –, bedeutet einen Aufwand, der sich als psychische Arbeit charakterisieren lässt. Die Ebene beruflicher Anforderungen und Qualifikationen: Einige der Interviewten legen nahe, dass sie sich durch eine Übererfüllung beruflicher Anforderungen gewisse Spielräume bezüglich ihres geschlechtlichen Auftretens sichern können: Uli ist für ihre gegenwärtige Position überqualifiziert und verzichtet bewusst auf beruflichen Aufstieg, und auch Tam deutet an, dass sein beruflicher Erfolg ›trotz‹ seines Auftretens als »Freak« zumindest zum Teil seinen besonderen fachlichen Fähigkeiten geschuldet ist. Stärker noch sehen sich diejenigen Interviewten zu besonderer beruflicher Leistung gefordert, die als ›Frauen‹ in einem Männerberuf arbeiten. Was ihren als Männern wahrgenommenen Kollegen selbstverständlich zugetraut wird, müssen sie erst beweisen; 367
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was man den Kollegen durchgehen lässt, wird bei ihnen besonders streng kontrolliert. Umgekehrt berichtet Tino davon, sich beruflich weniger stark beweisen zu müssen, seit er als ›Mann‹ arbeitet. Die nicht nur in Männerberufen wirksame Verknüpfung von Mannsein und zugesprochener beruflicher Kompetenz führt dazu, dass ihm bei gleicher Anstrengung mehr zugetraut wird als seinen Kolleginnen. Ambivalenter wirkt sich dieselbe Verknüpfung im Fall von Flin aus: Nicht als Mann, aber dennoch ›männlich‹ aufzutreten, fordert ihm einerseits die Arbeit ab, seine für eine ›Frau‹ ungewöhnliche Erscheinungsweise rechtfertigen zu müssen, sichert ihm in manchen geschäftlichen Interaktionen jedoch ein Standing und eine Durchsetzungsfähigkeit, für die weiblich auftretende Kolleginnen sich mehr anstrengen müssten als er. Auch der mit dem beruflichen Engagement verbundene Aufwand lässt sich also teilweise als »sexuelle Arbeit« fassen, deren Ausmaß je nach geschlechtlichem Auftreten und Kontext unterschiedlich hoch ist. Aus einer Perspektive, in der alle mit den Verhandlungen von Geschlecht und Sexualität bei der Arbeit verbundenen Aufwände »probehalber« als Arbeit markiert werden, erscheint das im Kontext der Drag King-Szene geleistete Engagement als Reproduktionsarbeit – d.h. als eine Arbeit, in der die ›sexuelle Arbeitskraft‹, die Befähigung zur Bewältigung der meisten der hier skizzierten Aufwände, mit hergestellt und reproduziert wird: die Fähigkeit zur teils bewussten und strategischen Geschlechtsdarstellung und zur Reflexion derselben; die Beherrschung unterschiedlicher geschlechtlicher Codes, Körperstile und Inszenierungen; die Fähigkeit, die eigene geschlechtliche Erscheinungsweise in Interaktionen und Beziehungen zu verhandeln; die Fähigkeit, mit abwertenden und pathologisierenden Zuschreibungen umzugehen und sich dadurch nicht vollständig konstituieren zu lassen – d.h. eine mögliche Distanz zu verfügbaren Bildern, die durch die Erfahrung einer anderen Wahrnehmungsweise und Wirklichkeit im Horizont der Szene mit konstituiert wird. Konstituiert wird durch die Praxis des Kinging außerdem, so scheint es, eine Fähigkeit, der im Kontext des Konzepts der »sexuellen Arbeit« eine besondere Bedeutung zukommt: die Fähigkeit zur Durchquerung unterschiedlicher (geschlechtlicher) Positionen. Die Analyse hat allerdings gezeigt, dass die Zusammenhänge zwischen Praxen des Kinging und solchen Durchquerungen in den verschiedenen Fällen sehr unterschiedlich gelagert sind, und dass es zudem teilweise von der Perspektive abhängt, ob eine Praxis als Durchquerung oder gerade als ein Verhaftet-Sein erscheint. Dies soll nun kurz noch einmal erläutert werden.
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Einerseits wurden in den dargestellten Arbeitserfahrungen und deren Reflexionen sehr wohl Durchquerungen geschlechtlicher Positionen sichtbar, die mit der Erfahrung des Kinging in direktem Zusammenhang zu stehen scheinen. Flin etwa bezeichnet aus seiner Erfahrung des Kinging heraus Geschlecht als »spielerische Kategorie«, was ihm eine strategische Distanznahme ermöglicht, die ihn geltende »Business-Spielregeln« gerade besonders gut beherrschen zu lassen scheint: nämlich (entgegen seiner eigenen geschlechtlichen Verortung) als ›Frau‹ erkennbar zu sein und gleichzeitig in einer Weise ›männlich‹ auftreten zu können, die seine berufliche Durchsetzungsfähigkeit erhöht. Eine anders gelagerte Durchquerung leistet Bela: Während sie sich in manchen Situationen bewusst als ›Frau‹ verortet, um Frauen im Männerberuf sichtbar zu machen und deren Status zu verändern, bemüht sie sich gegenüber ihren Kolleginnen um eine Sichtbarkeit ihrer spezifischen, im Kontext der Drag King-Szene konstituierten Geschlechtlichkeit, um auf die Beschränkungen rigider Zweigeschlechtlichkeit aufmerksam zu machen. Seine Durchquerung geschlechtlicher Positionen ist weniger direkt durch berufliche Anforderungen motiviert als vielmehr durch das Bestreben, innerhalb dieser Anforderungen eine (politische) Handlungsfähigkeit zu erlangen (im Sinne der Umarbeitung jeweils verfügbarer geschlechtlicher Positionen). Neben diesen beiden recht deutlichen Beispielen zeigt sich auch in vielen der anderen dargestellten Erfahrungen eine Haltung bezüglich der geschlechtlichen Anforderungen und Strukturierungen der jeweiligen Erwerbsarbeitskontexte, die durch eine reflexive Distanz gekennzeichnet ist, so dass auch das eigene geschlechtliche Handeln darin deutlich als ein solches thematisiert wird (und nicht als unmittelbarer Ausdruck eines geschlechtlichen So-Seins naturalisiert wird). Auf diese Weise, so scheint es, begünstigt der durch das Kinging konstituierte ›Habitus des Geschlechtseins‹, der eine Entselbstverständlichung der herrschenden zweigeschlechtlichen Strukturierung der Welt betreibt, einen flexibleren Umgang mit unterschiedlichen geschlechtlichen Anforderungen. Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Denn andererseits werden in und durch Praxen des Kinging auch geschlechtliche Wünsche, Ansprüche und Körperstile konstituiert bzw. bekräftigt, die ein eigenes Gewicht erlangen, das bestimmten Anforderungen entgegenstehen und den Preis für bestimmte Kompromisse als zu hoch erscheinen lassen kann. Uli etwa verweigert die Anstrengung, sich in einer Weise geschlechtlich zu inszenieren (etwa im »Kostümchen«), die ihr zufolge eine unerlässliche Vorbedingung für beruflichen Aufstieg wäre, weil sie an einer Geschlechtsdarstellung festhält, die durch ihren Wunsch nach einer ›angemessenen‹ Sichtbarkeit bedingt ist. Was aus einer Perspek369
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tive als eine Durchquerung geschlechtlicher Positionen erscheint (Uli inszeniert sich nicht ›entsprechend‹ dem ihr zugewiesenen Geschlecht), lässt sich aus einer anderen Perspektive gerade als ein Verhaftet-Sein interpretieren: als eine Begrenzung von geschlechtlicher Mobilität und der Fähigkeit oder dem Willen, bestimmten Anforderungen nachzukommen. Auch Felix scheint (in den Augen seiner Kolleg_innen) zunächst eine Durchquerung geschlechtlicher Positionen zu leisten, wenn er eine Veränderung des Adressiertwerdens einfordert und damit in der Firma von ›Frau Marth‹ zu ›Herrn Marth‹ wird. Seine eigene Begründung für diesen Schritt verweist jedoch darauf, dass er dadurch gerade eine mit einer besonderen Anstrengung verbundene Durchquerung zu vermeiden sucht – nämlich die zwischen einer ›privaten‹ und einer ›beruflichen‹ geschlechtlichen Verortung: »das geht halt nicht, dass ich zwei verschiedene Personen irgendwie bin, ich komm’ damit einfach nicht mehr klar« (s.o.). Auch die Bereitschaft und/oder die Fähigkeit der meisten anderen der hier zitierten Interviewten, den mit ihren beruflichen Positionen verbundenen geschlechtlichen Anforderungen nachzukommen, sind begrenzt durch ihr Beharren auf einer geschlechtlichen Darstellungsweise, die ihren eigenen Wünschen oder identifizierenden Verhaftungen entspricht. Die mit der Erfahrung des Kinging verbundenen Wünsche, Fähigkeiten und Geltungsansprüche stehen, so wird hier deutlich, in einem komplexen und teils widersprüchlichen Verhältnis zu geschlechtlichen Strukturierungen und Anforderungen unterschiedlicher Erwerbsarbeitsverhältnisse. Teils geraten die Interviewten auch dadurch in Konflikt mit beruflichen geschlechtlichen Anforderungen, und sie nehmen berufliche Nachteile, besondere Anstrengungen und auch Abwertungen in Kauf. Gleichzeitig sind es teils gerade die durch die Erfahrung des Kinging konstituierten Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, die spezifische »sexuelle Arbeit« zu leisten, die erforderlich ist, um Arbeitsverhältnisse und -beziehungen dennoch aufrechtzuerhalten und darin teilweise erfolgreich zu sein. Ob es gelingt, gewissermaßen trotz der partiellen Verweigerung bestimmter geschlechtlicher Anforderungen das eigene Arbeitsverhältnis zu sichern und beruflich erfolgreich zu sein, lässt sich allerdings nicht allein auf bestimmte Erfahrungen und Fähigkeiten zurückführen. Deutlich wurde, dass hierfür auch die Verfügung über Ressourcen entscheidend ist, die unter anderem an soziale Herkunft und biographische Hintergründe gekoppelt sind: z.B. kulturelle und ökonomische Ressourcen, die für eine qualifizierte Berufsausbildung oder ein Studium erforderlich sind; Beziehungen, die sich als unterstützend und fördernd erweisen – 370
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
d.h. soziale Ressourcen; Ressourcen an Macht und Einfluss in Abhängigkeit von der jeweiligen Position im hierarchischen Gefüge des Arbeitsverhältnisses. Die Bedeutung solcher Ressourcen zeigt sich besonders deutlich gerade dann, wenn sie nicht vorhanden sind. Die in einem früheren Kapitel (IV.2.2) thematisierten Arbeitserfahrungen von Luka seien in diesem Zusammenhang nochmals aufgerufen: Wir erinnern uns, dass Luka im Kontext ihres Arbeitsverhältnisses in einer »Drückerkolonne« einer massiven Vergewaltigungsdrohung von Kollegen ausgesetzt wird, die sie selbst im Zusammenhang mit ihrer Erkennbarkeit als ›Lesbe‹ sieht und die womöglich auch eine rassistisch motivierte Gewalt darstellt. Diese offen gewaltsame Anrufung fordert Luka einen immensen Aufwand ab, der über die Dauer des Arbeitsverhältnisses hinaus reicht: Sie setzt sich erfolgreich gegen die unmittelbare Gewaltdrohung zur Wehr, kann jedoch die gewaltsame Anrufung nicht vollständig aussetzen; diese konstituiert eine Verletzung, infolge derer Luka später für eine Weile Sorge dafür trägt, nicht als Frau erkennbar zu werden. Anders als in den anderen hier dargestellten Arbeitserfahrungen führt der Aufwand, den Luka betreibt, jedoch nicht dazu, ihr Arbeitsverhältnis zu sichern. Als sie die Anstifter der sexualisierten Gewalt zur Rede stellt, wird ihr eine Woche später gekündigt. Als Ungelernte in einem prekären, jederzeit kündbaren Arbeitsverhältnis beschäftigt, sieht Luka offensichtlich keine Möglichkeit, der von ihr vermuteten Kumpanei zwischen den sie bedrohenden Kollegen und ihrem Arbeitgeber etwas entgegenzusetzen und Rechte einzufordern. Verschärft wird ihre abhängige und unterlegene Position auch dadurch, dass ihre Wohnsituation (im Wohnheim an einem ihr fremden Ort) und ihr Arbeitsverhältnis direkt miteinander verbunden sind: Die kollegialen Beziehungen sind zugleich die Beziehungen des Wohnens, das keine Rückzugsmöglichkeit bietet, sondern im Gegenteil der Ort des gewaltsamen Übergriffs ist. Für Luka gibt es in dieser Situation keine ›Privatheit‹, die gegenüber den Arbeitsbeziehungen eine Grenze setzen und in der sie unterstützende Freundschaften und Netzwerke mobilisieren könnte. Die durch Ausbildung, Qualifikation, relativ gesicherte berufliche Positionen und unterstützende soziale Kontexte konstituierten Verhandlungsspielräume, die etwa für Uli und Tam ihre Positionierung als »bunter« resp. »komischer Vogel« und den damit verbundenen Aufwand akzeptabel machen, tendieren für Luka in dieser Situation gegen Null: Luka verfügt über keine der genannten Ressourcen. Dass sie nicht bereit ist, die gewaltsamen Übergriffe und fortgesetzten Drohungen, die mit ihrer Erkennbarkeit als (schwarzer) Lesbe einhergehen, hinzunehmen, führt letztlich zur Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses.
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Zonen des Sichtbarwerdens Zusätzlich zu den bisher formulierten Ergebnissen lassen sich aus der in diesem Kapitel (IV.3) geleisteten Analyse noch weitere Schlüsse ziehen, die über das spezifische Feld von Erwerbsarbeitsverhältnissen hinausweisen. Im Zentrum des Gesamtkapitels IV, so sei hier erinnert, steht die Frage danach, welche geschlechtlichen Wirklichkeiten in Interaktionen und Bezugnahmen in unterschiedlichen Kontexten hervorgebracht werden, und welche Möglichkeiten, geschlechtlich zu sein und in Erscheinung zu treten, damit einhergehen. Im Horizont dieser Fragestellung können Erwerbsarbeitsverhältnisse als beispielhaft gelten für Kontexte, in denen eine heteronormative, zweigeschlechtliche und die zwei Geschlechter hierarchisierende Strukturierung zunächst erwartbar ist, und die sich – anders als etwa der öffentliche Raum der ›Straße‹ – durch verbindliche und längerfristige soziale Beziehungen auszeichnen. Was lässt sich aus der geleisteten Rekonstruktion von Erfahrungen in Erwerbsarbeitsverhältnissen nun über geschlechtliche Wirklichkeiten und Möglichkeiten in derartig strukturierten sozialen Kontexten sagen? (Wie) werden Praxen und Erfahrungen des Kinging hier wirksam? Es wurde einerseits deutlich, dass die Interviewten auch im Kontext ihrer Arbeitsbeziehungen bemüht sind, in einer Weise geschlechtlich in Erscheinung zu treten, die ihnen ›gemäß‹ scheint, d.h. sie engagieren sich in dem Versuch, ›etwas‹ sichtbar zu machen. Andererseits wurde deutlich, dass diese Bemühungen um eine ›angemessene‹ Sichtbarkeit unter den herrschenden Bedingungen höchstens eine Annäherung erreichen können an das, was sich im Kontext der Szene als Eindruck des ›Gesehen-Werdens‹ konstituiert. Die von den Interviewten aufgerufenen Bilder, mit denen sie die Wahrnehmung ihrer selbst durch ihre Kolleg_innen charakterisieren – »Freak«, »komischer Vogel«, »Lesbe«, »Transsexueller« – verweisen auf Positionen, die innerhalb der hegemonialen Ordnung heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit als ›Abweichungen‹ konstituiert und verfügbar sind und zugleich Irritationen dieser Ordnung darstellen. Trotz der darin implizierten Fixierungen und Abwertungen erscheinen diese Lesemöglichkeiten nicht nur als Zumutungen, sondern auch als ›Angebote‹, als Möglichkeiten, in einer anderen Weise als als (heteronormativ vereindeutigte/r) ›Frau‹ oder ›Mann‹ sichtbar zu werden. Die Interviewten arrangieren sich mit diesen Bildern, ohne sich vollständig dadurch konstituieren zu lassen (d.h. in einem Modus der disidentification). Die Bereiche, in denen die Weisen des Sich-zu-Lesen-Gebens (geschlechtliche Darstellungspraxen sowie verbale Äußerungen oder Erklärungen) und die Weisen des Wahrgenommen-Werdens (im Horizont 372
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strukturierender Wahrnehmungsordnungen und verfügbarer Bilder) aufeinander treffen, möchte ich als ›Zonen des Sichtbarwerdens‹ bezeichnen. Ich möchte damit deutlich machen, dass die Art der Sichtbarkeit, die sich hier realisiert, weder von der einen noch von der anderen Seite her determiniert wird: Weder können die Interviewten ihre im Kontext der Szene konstituierten geschlechtlichen Geltungsansprüche vollständig (mit-)teilbar machen, noch setzt sich eine strikt zweigeschlechtlich strukturierte Wahrnehmungsweise, die sie zweifelsfrei als (heteronormativ vereindeutigte) ›Frauen‹ oder ›Männer‹ erfassen würde, vollständig durch. Es bleibt eine Diskrepanz bestehen zwischen den geschlechtlichen Selbstverständnissen der Interviewten und der Art und Weise, wie sie für andere in Erscheinung treten. Obwohl sich daher keine für alle verbindliche und vollständig geteilte Wirklichkeit realisiert, die die Situationen totalisieren würde, werden in den Zonen, in denen sich unterschiedliche geschlechtliche Sinnhorizonte überlappen, doch wechselseitige sinnhafte Bezugnahmen möglich: Die Interviewten können sich arrangieren mit der Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden, ohne dadurch in ihrem Selbstverhältnis und in ihren Praxen völlig bestimmt zu werden. Die ihnen begegnenden Personen vermögen sich nicht immer ein ›klares Bild‹ zu machen davon, »wen oder was sie vor sich haben« (Felix), und dennoch können sie das von ihnen Gesehene im Horizont verfügbarer Wahrnehmungsweisen und Bilder verorten und sich entsprechend darauf beziehen. Die ›Zonen des Sichtbarwerdens‹ sind daher weder völlig offen und unbestimmt noch vollständig determiniert: In ihnen wird das Bemühen um eine Sichtbarmachung und (Mit-)Teilbarkeit von ›etwas‹ wirksam, und zugleich bleiben sie strukturiert durch die hegemoniale, heteronormativ und zweigeschlechtlich verfasste Wahrnehmungsweise und die durch diese konstituierten ›Abweichungen‹. Sie sind Möglichkeitsfelder einer Intelligibilität, die Handlungsfähigkeit und sinnhafte gegenseitige Bezugnahmen in Interaktionen erlaubt, ohne dass alle Beteiligten exakt das Gleiche sehen und exakt die gleiche geschlechtliche Wirklichkeit miteinander teilen würden.35
35 Eine Diskrepanz zwischen eigenem Selbstverständnis und den Weisen, wie man von anderen wahrgenommen wird, kann wohl allerdings als Normalfall zwischenmenschlicher Beziehungen und Bezugnahmen gelten. ›Sichtbar‹ zu sein bedeutet immer, dies im Horizont gesellschaftlich verfügbarer Bilder (d.h. innerhalb des screens) zu sein, und man verfügt weder über dieses Bildrepertoire noch über die konkrete Wahrnehmungsweise (den look) der anderen. Bemerkenswert an den hier interessierenden Aushandlungsprozessen scheint mir jedoch, dass das Spannungsverhältnis zwischen geschlechtlichen Selbstverhältnissen und den Weisen des Sichtbarwerdens auf eine spezifische Weise thematisierbar und thematisiert 373
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4. Zonen des Sichtbarwerdens und die (Mit-)Teilbarkeit von ›etwas‹ Es ist, so haben die vorangegangenen Abschnitte gezeigt, wohl kaum möglich, in Begegnungen und Beziehungen nicht geschlechtlich in Erscheinung zu treten. Dies gilt sowohl im Kontext der Drag King-Szene und ihres Umfelds als auch in zweigeschlechtlich strukturierten Räumen. Wer man geschlechtlich für andere sein kann, ist abhängig von je kontextuell erwartbaren Wahrnehmungsweisen und Bezugnahmen, aber auch von der Art der Begegnungen und Beziehungen. Gegenüber flüchtigen Begegnungen im öffentlichen Raum erhält die Anforderung, sich auf eine sinnhafte Weise geschlechtlich in Erscheinung zu bringen, in längerfristigen Beziehungen, an deren Aufrechterhaltung ein wechselseitiges Interesse besteht, ein stärkeres Gewicht. Zugleich bestehen in solchen Beziehungen jedoch auch andere Möglichkeiten des Aushandelns und Vermittelns geschlechtlicher Selbst- und Weltverständnisse und eigener geschlechtlicher Geltungsansprüche. Für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher geschlechtlicher Sinnhorizonte in solchen Beziehungen wurde der begriffliche Vorschlag entwickelt, von ›Zonen des Sichtbarwerdens‹ zu sprechen: Zonen, in denen unterschiedliche Wahrnehmungsweisen und Verständnisse nicht zur Deckung kommen, die aber dennoch Möglichkeitsfelder wechselseitiger sinnhafter Bezugnahmen darstellen. Derartige Zonen sollen nun über die Beschränkung auf Beziehungen in Erwerbsarbeitsverhältnissen hinaus weiter ausgelotet werden. Der Fokus richtet sich auch hier auf die jeweils verfügbaren und sich realisierenden Möglichkeiten, in Beziehungen und Bezugnahmen geschlechtlich in Erscheinung zu treten. Dabei soll jedoch stärker als zuvor in den Blick rücken, was dies für geschlechtliche Selbstverhältnisse bedeutet; d.h. inwiefern die Weisen, für andere geschlechtlich sinnhaft verstehbar zu werden, auch die (je situativen) Bezugnahmen auf sich selbst und die Erfahrung des eigenen geschlechtlichen In-der-Welt-Seins mit strukturieren. Dieses Thema wird zunächst in einem ›themenbezogenen Kurzporträt‹ beispielhaft entfaltet und anschließend durch eine interviewübergreifende Rekonstruktion weiter bearbeitet.
wird – nämlich vor dem Hintergrund der Erfahrung einer kollektiv entwickelten und geteilten alternativen Weise des Wahrgenommen-Werdens. 374
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»… was sie noch dazupacken, das ist dann quasi Filip mit aber«: Filip Auf meine Einstiegsfrage nach seiner eigenen Geschichte mit der Drag King-Szene beginnt Filip seine Erzählung, indem er sagt, dass sei »eigentlich eine lange Geschichte, obwohl das mit dem Drag Kingdom noch gar nicht so lang geht« (Int. 3): »[W]as es […] für mich immer schon gibt, auch schon lange davor [vor der ersten Begegnung mit der Drag King-Szene; U.S.], ist halt eben die Frage: warum bin ich eigentlich Frau geworden und muss das so sein [lacht], und was heißt das eigentlich für mich. Also ich hab’ -, klar habe ich als Frau gelebt. Ich hab’ dann später lesbisch gelebt, hab’ mich auch so definiert, war für meine Eltern Mädchen. Das war auch alles okay, aber für mein Gefühl bin ich als Neutrum durch die Welt gelaufen, so, also weil ich halt, ähm, mich da nicht einordnen konnte.«
Das Gefühl, sich selbst nicht »einordnen« zu können in das, was er für andere geschlechtlich ist und was auch seine wechselnden Selbstdefinitionen mitbestimmt, sowie ein massives Unbehagen an der eigenen Körperlichkeit und deren geschlechtlichen Bedeutungen (»dieses Körpergefühl oder dieses Rollen-Körperverhältnis«, wie er selbst es formuliert) stellen Filip vor die Frage nach seinem geschlechtlichen Sein. Eine Frage, die ihn auf der Suche nach einer alternativen Verortung u.a. auch auf die Website einer Transmann-Selbsthilfegruppe führt: »Und dann hab’ ich halt […] auf die Seite geguckt und hab’ festgestellt: Nee, also wenn das das heißt, dann bin ich das nicht [lacht], weil das war zu eingleisig, das war halt irgendwie [1] explizit [1] man muss irgendwie von Anfang an immer Junge gewesen sein und sich so gefühlt haben. Also für mich war das Stichwort, dass viele immer sagen: ich weiß, dass ich Mann bin, und ich wusste das schon immer -, hatte ich nicht [lacht].«
Weil Filip sich auch hier nicht »einordnen« kann, verfolgt er die Auseinandersetzung mit einer möglichen transsexuellen Verortung zunächst nicht weiter. Es ist stattdessen der bereits geschilderte »Aha-Effekt«, als Filip sich im Vorfeld seiner ersten Drag King-Party erstmals mit Koteletten im Spiegel sieht, der weitere Entwicklungen anstößt. Relativ schnell involviert er sich in die Szene, lernt Leute kennen, beteiligt sich an der Organisation von Veranstaltungen, schließt Freundschaften. »Und das Tolle halt, was mir da so gefallen hat und weswegen ich da, glaube ich, recht schnell meinen Weg gefunden hab’, ist, dass halt jede Möglichkeit 375
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offen ist. Und das war, glaube ich, das, warum ich dann überhaupt mich getraut hab’, wieder in diese Richtung Transmann zu denken, weil mittlerweile würde ich mich als Transmann bezeichnen definitiv. […] Und so bin ich eigentlich dahin gekommen, weil da eben [1] jeder seine eigene Geschichte hatte, seine eigene Definition.«
Das Erleben einer Vielfalt unterschiedlicher geschlechtlicher Selbstverständnisse, Verkörperungen und Lebensweisen im Kontext der Szene ermöglicht es Filip, sich anders als bisher zu seinen eigenen Wünschen ins Verhältnis zu setzen und sich zu ›trauen‹, »wieder in diese Richtung Transmann zu denken« – auch ohne eine kontinuierliche innere Gewissheit, ein Mann zu sein: »was mir fehlt, ist diese Überzeugung: ich weiß, dass ich Mann bin. [2] Ich weiß, dass ich ich bin, und ich weiß, dass es mir wichtig ist, als Mann wahrgenommen zu werden, so hab’ ich das für mich formuliert.« Die Auseinandersetzung mit dieser Perspektive, die gleichwohl anstrengend und langwierig ist, verschiebt sich nun weg von der Frage nach einer inneren Seinsüberzeugung hin zu der Frage nach einer Fähigkeit: »Und deswegen kam für mich immer die Frage: kann ich denn Mann sein überhaupt, weil mir schon sehr klar war, dass ich -, ich bin unter Frauen aufgewachsen, ist einfach so, also ich hab’ einfach diese Sozialisation, das ist ’ne andere, und für mich hieße das, wenn ich dann gesagt hätte: okay, ich möchte jetzt mit Testo anfangen, ich möchte als Mann leben, heißt das für mich eben, einerseits ein Stück weit das ausleben, was ich fühle oder wo ich merke, da könnte es mir besser mit gehen, heißt aber für mich auch, ganz viel Neues dazulernen und leben können, also wirklich im Sinne von es gelernt haben, es leben zu können. […] Und da hab’ ich mich halt eben ganz häufig gefragt, ob ich das kann.«
Für andere überzeugend ein Mann zu sein, so fürchtet Filip, bedeutet, das zu erfüllen, »was von Männern erwartet wird«: z.B. »selbstbewusster auftreten« und »führen« zu können, »präsenter« und »aggressiver« zu sein und »geradliniger«. Filip ist sich unklar darüber, ob er solche Erwartungen erfüllen will, aber auch, ob er es überhaupt kann: »Also ich hatte auch diese ganzen Klischees im Kopf, ne: ich bin zu emotional irgendwie zum Beispiel, ich bin zu nah am Wasser gebaut, ich rede zu gerne, ich rede gerne diffus [lacht], irgendwie alles, was man halt so an, ne, weiblichen Eigenschaften -, und die sind ja dann auch noch nicht mal unbedingt positiv besetzt irgendwie, dem so zuspricht. Und ich bin auch überhaupt -, also ich bin schon logisch, aber jetzt nicht so stringent, also ich bin eigentlich kein Geradeausdenker, ich hab’ eigentlich immer viele Ecken drinne so. Und ich 376
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
mag zum Beispiel kein Mathe, ich kann mit Mathe überhaupt nichts anfangen [lacht], aber dafür sind mir halt Sprachen eher gegeben. Also alles, was man so als Klischeebild -, oder was jetzt auch in diesen ganzen Büchern, die da so hochkommen, alles, was da so als männlich, weiblich -, das hatte ich eben auch im Kopf. Und da habe ich dann abgewogen und hab’ gedacht: ja, also dann hast du auf jeden Fall ein weibliches Wesen eher, und mich gefragt, ob ich denn damit dann als Mann leben kann oder ob ich dem Mann gerecht werde.«
Seine »Angst davor, dass ich dann als Mann lebe, aber ständig entlarvt werde, weil ich ja eigentlich gar nicht mich wie ein Mann verhalte«, erweist sich jedoch als weitgehend unbegründet. Bereits wenige Monate nach Beginn der Hormonbehandlung, durch die er sich auch bald sehr viel wohler in seinem Körper fühlt, macht er die Erfahrung, von Leuten, die er neu kennen lernt, vollkommen fraglos als Mann wahrgenommen zu werden. »[I]ch geh’ so unter in der Masse im Moment [lacht], ja, also ist einfach so. Und ich hab’ auch entdeckt, dass ich viele Züge hab’, die ganz viele Leute von mir erwarten, die für die völlig ins Rollenbild reinpassen. Und manche, ja, gut, dann bin ich halt da vielleicht ein schräger Vogel, aber ich bin trotzdem ’n Mann [lacht], so, ne. Und davor hatte ich halt damals ganz viel Angst, dass mich so was halt dann direkt verraten würde.«
Im Kontext einer strikt dichotomen Geschlechterordnung ist einerseits alles und jedes sexuierbar (wie auch Filips Ausführungen zu ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ Verhaltensweisen und Eigenschaften zeigen), andererseits kann nahezu alles in das Bild integriert werden, das durch die Evidenz der Erscheinung einmal etabliert wurde (vgl. Kapitel IV.2): »Und das [das unproblematische passing; U.S.] macht mir einfach nur wieder mehr deutlich, wie sehr das doch auch damit zu tun hat, wie man wahrgenommen wird oder als -, wo einen die Leute dann plötzlich einstufen.« Um fraglos als Mann durchzugehen, reicht es, Mannsein ›gut genug‹ darzustellen: Auch das Wahrgenommenwerden als »schräger Vogel« stellt nicht die Geschlechtszugehörigkeit selbst in Frage. Anders ist dies allerdings gegenüber denjenigen, die um Filips transsexuellen Weg wissen: »Ich hab’ auch jetzt neulich gesagt gekriegt, ich dürfte kein blaues Portemonnaie haben, Männer haben kein blaues Portemonnaie, Männer haben schwarze Portemonnaies, schwarze, kleine Portemonnaies, die in Hinterhosentaschen passen. Ja. Ich habe ein großes blaues, das passt zwar auch in meine Hosentasche, ich würd’s da aber nie hintun, und ich liebe dieses Portemonnaie und 377
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
das wird auch immer blau bleiben [lacht]. Also, die entwickeln dann manchmal ganz komische -, also fühlen sich sehr tolerant, weil sie halt mit mir ja noch weiterhin umgehen können, wie sie’s vorher auch konnten, aber entwickeln dann so ganz komische Vorstellungen davon, was ich jetzt dann zu tun und zu lassen hab’.«
Einige derjenigen, für die Filips ›neue‹ Geschlechtszugehörigkeit aufgrund des Wissens um deren Veränderung grundsätzlich ontologisch instabil ist, fordern ihm gewissermaßen eine besonders adäquate, die dichotome Sexuierung von allem und jedem streng berücksichtigende Geschlechtsdarstellung als Voraussetzung ab, um die Wirklichkeit seines Mannseins mittragen zu können.36 Auch wenn Filip gegenüber Leuten, die ihn »als Filip und als weiter nix« neu kennen lernen, mittlerweile problemlos als Mann durchgeht und sich auch keinem besonderen Verhaltenszwang ausgesetzt fühlt, empfindet er manche Begegnungen dennoch als »ein bisschen seltsam«: »[E]s ist schon ein bisschen seltsam, wenn dann Sachen ganz selbstverständlich angenommen werden und ich dann einfach da stehe und mir so denk’, ja, [jedes Wort einzeln gesprochen:] wenn du wüsstest. Oder wenn man dann auf so ’ner Party ist, das ist diese wirklich typische Situation, auf ’ner Party ist und man hat was getrunken, und dann kommt da irgend so ’n Kerl daher und erzählt dir von seiner letzten Eroberung, ja, so was, was er wirklich nur ’nem Mann erzählen würde, sei es, um anzugeben oder irgendwie so was. Und du stehst dann da und denkst dir so, ja: Wenn du wüsstest [beide lachen]. Und dann ertapp’ ich mich dabei selber, ja, was sollte er denn wissen. Eigentlich bin ich ihm völlig ebenbürtig, von meinem Erleben bin ich jetzt Mann, also eigentlich ist da überhaupt kein Unterschied. Das einzige, was ich halt nicht hab’, ist was in der Hose. Gut, aber das macht ja nicht unbedingt ’n Mann aus. Aber ich weiß halt eben, dass das für jemand, der nichts mit dem Thema zu tun hat, verdammt viel ausmachen würde. Und aus der Sicht gesehen, wäre es dann halt schon dieses: Wenn du wüsstest, dass du eigentlich mit ’ner Frau sprichst [lacht], was ja für mein Empfinden nicht so ist, aber das ist dann manchmal -, also das sind dann so Sachen, wo ich echt das Gefühl hab’: ist das jetzt ein Lügen von mir oder spiel’ ich da jemandem was vor, [1] was ich dann hinterher immer wieder verneine für mich, weil die sollen ja 36 Gesa Lindemann hat das pointiert als Zwang zur »Wohlgestaltetheit« der Geschlechterdifferenz gefasst: »Gegenüber denjenigen, die es wissen, unterliegen Transsexuelle einem Zwang zur ästhetischen und moralischen Wohlgestaltetheit der Geschlechter. Bei Nicht-Transsexuellen ist dieser Zusammenhang relativ locker; ob sie ein Geschlecht sind, hängt nicht davon ab, ob sie die Differenz der Geschlechter als wohlgestaltete präsentieren.« (Lindemann 1993: 169) Für zahlreiche Beispiele dieses Zwangs und deren Interpretation vgl. ebd.: 169ff. 378
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
eigentlich das kennen lernen, als was ich mich fühle und das ist dann auch nicht gelogen, sondern echter geht’s eigentlich nicht, das ist dann eher so aus der anderen Blickrichtung betrachtet, wo ich dann das Gefühl hab’, da könnte jemand, wenn das irgendwann mal rauskommt, sich vielleicht ein bisschen angeschmiert fühlen, so, aber von mir aus ist es ja nicht so. Und deswegen erzähle ich das dann auch nicht.«
Filip nimmt zwei verschiedene Perspektiven auf die geschilderte Situation ein und verhandelt sie gegeneinander. Er antizipiert eine Perspektive seines Gegenübers, die im Kontext somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit die Wirklichkeit eines Geschlechts an eine adäquate Verkörperung bindet: Was jemand »in der Hose« hat, macht »aus der Sicht gesehen« »verdammt viel« aus; aus dieser »Blickrichtung betrachtet« ist Filip nämlich »eigentlich« eine Frau, und seine Geschlechtsdarstellung, aufgrund derer er hier kumpelhaft als heterosexueller Mann adressiert wird, konstituiert keine Wirklichkeit, sondern ist lediglich ›etwas vorspielen‹, ein »Lügen«.37 Dann gibt es die (andere) Perspektive seines »Empfindens«, aus der heraus Filip nicht »eigentlich« eine Frau ist, sondern sich als das präsentiert, »als was ich mich fühle« und daher nicht lügt oder etwas verbirgt, sondern sich ›echt‹ zeigt (»echter geht’s eigentlich nicht«). Filip gelingt es in dieser Situation, seinem Wunsch, als Mann wahrgenommen zu werden, zu entsprechen; und dennoch stellt sich (für ihn) keine bruchlos teilbare gemeinsame Wirklichkeit her: Beide Perspektiven bleiben unvereinbar nebeneinander stehen, und zwar ›in‹ Filip selbst. Weil er für sich keine Möglichkeit sieht, sie in der Interaktion zu verhandeln, bearbeitet er die Divergenz innerlich, in einer Problematisierung seines eigenen Tuns, die sich ihm in der Situation selbst aufdrängt und ihn von dieser und auch von sich selbst distanziert. Auch ohne dass sein Gegenüber explizit etwas entsprechendes geäußert hätte, repräsentiert er für Filip das hegemoniale Verständnis von Geschlecht derart, dass die Stabilität seines Geschlechtseins auch für Filip selbst fraglich wird. Erst aus der nachträglichen Distanz heraus kann er sich seiner eigenen Perspektive wieder vergewissern (»ist das jetzt ein Lügen von mir oder spiel’ ich da jemandem was vor, [1] was ich dann hinterher immer wieder verneine für mich«).
37 In den Begriffen Goffmans hieße das, dass Filips Mannsein aus der antizipierten Perspektive seines Gegenübers in einem transformierten Rahmen erscheint (transformiert durch das Modul des ›Vorspielens‹ oder der ›Lüge‹); vgl. Kapitel III.3. 379
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Gegenüber der Situation einer flüchtigen Partybegegnung verschärft sich dieser innere Konflikt für Filip in der Beziehung zu den Eltern seiner Freundin: »Also ich bin jetzt mit Nina noch nicht lang zusammen, aber das ist schon, ähm, Familienumkreis, wo ich das Gefühl hab’, das kann auch für mich irgendwann eine werden. Und da habe ich dann halt -, wenn die jetzt irgendwie mich als Filip kennen lernen und -, und auch eben von Selbstverständlichkeiten ausgehen, die eben so nicht da sind, [1] habe ich schon manchmal so ein bisschen das Gefühl, irgendwie schmier’ ich sie doch an oder irgendwie spiel’ ich ihnen was vor, was nicht so ist. Und [2] ja, also das find’ ich manchmal vom Gefühl her ein bisschen grenzwertig, weil die ja [1]-, ähm, [1] ja vielleicht eben weil sie mir schon so vertrauen oder -, oder mir soviel Herzlichkeit entgegenbringen, halt einfach davon ausgehen, dass ich auch mit allem irgendwie ehrlich bin. Und da habe ich dann irgendwie schon manchmal so dieses: Ja, bin ich denn jetzt unehrlich oder bin ich’s eigentlich nicht? Und [2], also zum Beispiel, wenn das halt so Sachen wären, wenn wir jetzt irgendwie [1] lange zusammen bleiben, weiß man ja vorher immer nicht [lacht], aber kann ja durchaus passieren, und das ist halt einfach so ein Familienklüngel, das ist völlig klar, da gibt’s Enkelkinder, aber eben von mir nicht [lacht]. So was halt. Und so was wird da -, also so was wird da vorausgesetzt, wenn du in die Familie aufgenommen wirst. Und das ist da super wichtig [1] für alle einfach. Und das ist dann schon ein bisschen komisch, wenn ich mir dann vorstelle, dass dann halt irgendwie einfach die das jetzt voraussetzen, dass ich vielleicht mal irgendwann in diese Familie richtig aufgenommen werde und dann gibt’s Enkelkinder, und dann kriegen die gesagt: nee, gibt’s eben nicht, weil -. Und da habe ich dann halt das Gefühl, das ist vielleicht ein bisschen -, ein bisschen was vorspielen, was nicht so ist.«
Die »Herzlichkeit« und das »Vertrauen«, die Ninas Eltern ihm entgegenbringen und die er zu enttäuschen fürchtet, scheinen ihm an bestimmte Erwartungen an ihn als ›zukünftigen Schwiegersohn‹ gebunden. Anders als in früheren lesbischen Beziehungen kann Filip diesen Platz ›gut genug‹ einnehmen, um entsprechende Erwartungen zu wecken, ihn jedoch zugleich nicht vollständig ausfüllen, da Zugehörigkeit zu (dieser) Familie derart eng an heterosexuelle Reproduktion, an Generativität gebunden zu sein scheint. Fraglich scheint allerdings, ob Filips Problematisierung seiner Selbstdarstellung als einer möglichen ›Täuschung‹ tatsächlich unmittelbar seiner ›Zeugungsunfähigkeit‹ geschuldet ist oder vielmehr dem durch die Thematisierung der Generativität aufgespannten normativen Horizont, in dem ›Familie‹ und ›Heterosexualität‹ die ›richtigen‹ Geschlechter sowohl voraussetzen als auch hervorbringen: Ein aus anderen Gründen zeugungsunfähiger Mann hätte innerhalb dieses 380
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
Rahmens sicherlich bessere Chancen, dennoch als ›vollwertiger Mann‹ »in die Familie aufgenommen« zu werden als Filip, der eben nicht nur in einem Detail, sondern auf fundamentale Weise gegen das hegemoniale Verständnis von Geschlecht verstößt. Dass es hier um mehr bzw. um anderes geht als um eine bestimmte körperliche Funktion oder Fähigkeit – nämlich um die Weise seines Personseins – macht Filip selbst im Fortgang seiner Erzählung deutlich: »[energisch:] Aber eigentlich geht’s die überhaupt nichts an. Also ne [lacht], so, ich will halt eben als das leben, als das ich mich fühle, und ehrlicher geht’s ja dann auch nicht. Also weil ich einfach gemerkt hab’, wenn ich das so durchziehe, wie ich das im Moment mache, dann kriegen die Leute hundert Prozent mich eigentlich. Aber wenn ich dahin gehe und sage: Ja, ich bin der Filip, aber -, dann kriegen die nicht hundert Prozent mich. Dann kriegen die zwar hundert Prozent von mir mich, aber das, was sie noch dazupacken, das ist dann quasi Filip mit aber, und das bin dann nicht hundert Prozent ich. I: Weil, was ist das für ein Aber? A: [2] Ja, Filip mit aber, ich bin halt nicht von Geburt an ’n Mann. [3] Also ich geh’ mal von zwei Seiten aus. Also wenn ich das irgendwie für mich lebe, dann bin ich halt [2] -, bin ich hundertprozentig da, viel ehrlicher kann ich eigentlich nicht sein, so. Und dann ist ja auch immer noch das Bild, was die Leute sich von mir machen. Und wenn sie einfach das -, das übernehmen, was ich ihnen gebe, dann bin ich für die auch hundert Prozent das, was ich auch fühle. Und wenn ich aber irgendwie sag’: [1] aber ich bin eben kein biologischer Mann, so, bei mir geht das und das und das nicht, so, dann kriegen sie von mir zwar diese hundert Prozent, weil für mich gehört das ja eben auch dazu in meinem Leben, dass ich kein biologischer Mann bin [1], aber das, was sie dann an eigenem Bild entwickeln darüber, [1] ist dann eben gefiltert [lacht] also quasi, weil die ja dann [1] von Anfang an gar keinen normalen -, ich sag’ einfach jetzt mal bewusst, Menschen in mir sehen können, also weder normalen Mann, noch normalen Menschen, weil ich auch als Mensch quasi ja nicht das bin, was [1] für die normal ist. Und das sind zum großen Teil Leute, für die gibt es Begriffe wie normal und männlich, weiblich, so. Es denkt ja nicht jeder so wie ich oder -, oder wie du oder wie die aus dem Drag Kingdom, dass es da eben noch diese und jene Differenzierung gibt, ne. Und dann wäre ich eben von mir aus hundert Prozent und von denen aus bin ich halt der Filip, aber eben mit aber, so, ne.«
Darstellungspraktisch gelingt es Filip, sich als Mann wahrnehmbar zu machen und damit »hundert Prozent mich« zu zeigen. Im Unterschied dazu würde »hundert Prozent von mir mich« vermitteln zu können für ihn bedeuten, nicht nur als Mann, sondern zugleich in Differenz zu einem »biologischen Mann«, der »von Geburt an« einer war/ist, in Erscheinung zu treten. Das ist (im Kontext einer zweigeschlechtlich 381
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vereindeutigenden Wahrnehmungsordnung) allein darstellungspraktisch nicht zu leisten, sondern würde einen erklärenden Sprechakt erfordern. Filip ist sich jedoch der Tatsache bewusst, dass er über die Wirkungen eines solchen Sprechakts nicht verfügt. Der diskursive Horizont, in dem die sprachliche Mitteilung seiner spezifischen Geschichte und Körperlichkeit aufgenommen würde, würde ihn als »Filip mit aber« konstituieren: Als zugleich weniger und mehr als das, was er vermitteln möchte – »gefiltert« und angereichert durch »das, was sie noch dazupacken« – würde Filip im Kontext pathologisierender Diskurse geschlechtlicher Abweichungen zugleich als abweichend von ›normalem Menschsein‹ wahrgenommen. Mit einer solchen Erklärung würde er nicht nur die Stabilität seines Geschlechtseins riskieren, sondern auch die seines Personseins (so zumindest seine Befürchtung). Gegenüber den zwei hegemonialen Möglichkeiten des Wahrgenommenwerdens – als (Cis-)Mann vereindeutigt zu werden oder als »Filip mit aber« als nicht-ganz-menschlich zu gelten – verweist Filip auf den Gegenhorizont einer dritten Möglichkeit: »Es denkt ja nicht jeder so wie ich oder -, oder wie du oder wie die aus dem Drag Kingdom, dass es da eben noch diese und jene Differenzierung gibt.« In der Erfahrung dieser in kollektiven Praxen verankerten anderen Denk- oder Sichtweise, die für Filip Bedingung der Möglichkeit des Engagements in einer Verortung als Transmann war/ist, konstituiert sich das reflektierende ›Ich‹ dieser Passagen in einer Distanz zu den Normen, die ihn als Mann vereindeutigen oder aus dem ›normalen‹ Menschsein auszuschließen drohen; eine Distanz, aus der heraus die Aporie, sich nicht ›angemessener‹ sichtbar machen zu können, überhaupt erst als solche beschreibbar wird. Eine wertschätzende Anerkennung seines spezifischen Geschlechtseins, seiner Körperlichkeit und Geschichte erfährt Filip allerdings nicht ausschließlich im Kontext des Kingdom: »Es gibt sicherlich den einen oder andern, der trotzdem in der Lage ist dazu [ihn trotz des Wissens um seine Geschichte nicht als ›Filip mit aber‹ zu sehen; U.S.]. Ich mein’, Nina ist das auch, sonst wär’ ich nicht mit ihr zusammen, so. Und die wusste das ja auch vorher, bevor wir zusammengekommen sind.«
Bislang sind es jedoch nur wenige Beziehungen außerhalb der Szene, in denen Filip seine eigene Wirklichkeit (mit-)teilbar zu machen versucht. In zahlreichen neuen Begegnungen insbesondere mit Leuten aus Ninas Umfeld teilt er selbst dagegen mehr oder weniger deren Wirklichkeit, die nicht nur eine zweigeschlechtliche, sondern auch eine heterosexuelle ist:
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INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
»[A]lso im Moment ist ja sowieso das erste Mal seitdem ich 13 bin, dass ich überhaupt mich mit meiner heterosexuellen Umwelt beschäftige quasi. Ja, ich hab’ da drin gelebt, aber es war nicht meine, so, ich weiß nicht, ob du so was kennst oder -, aber es war einfach nicht meine, so. Ich hab’ da drin gelebt, es war selbstverständlich, aber die andern waren eben so, das sind die Filme von andern Leuten, das ist die Werbung von andern Leuten, das ist das Umgehen von andern Leuten. Und das ist für mich das erste Mal, dass ich da selber drinstehe, dass ich da involviert bin, dass das meine Werbung zu sein hat, dass das meine Filme sind, dass das meine [2], ja, Erwartung von, wie Familie auszusehen hat, ist, oder was ich denn als Mann an der Seite einer Frau auszufüllen hab’ an Rolle, das hatte ich vorher nie, weil ich hatte halt meine Szene, ne. Und in der Lesben- und Schwulenszene tickt’s halt irgendwie anders, da tickt’s irgendwie offener und freier.«
Dass Filip die heterosexuelle Strukturierung eines für ihn neuen sozialen Umfelds einerseits mit Befremden wahrnimmt, er jedoch andererseits tatsächlich selbst darin »involviert« ist und ihm die damit verbundenen Anrufungen nicht äußerlich bleiben, verdeutlicht er durch die folgende Schilderung eines Geburtstagsfestes: »Das beste Beispiel dafür war, ich war mit Nina auf einem Geburtstag von ihren ganzen Freunden und saß dann da, guckte mich so um und dachte mir: Nee, was sind die alle bekloppt. Weil da saßen nämlich die ganzen Männer und haben geplaudert, zwischendrin kamen dann ihre Freundinnen an mit dem Bierchen für sie, und: Schatz, willst du noch was knabbern, ne, so, wie man das so kennt, ne. Und ich dachte so: Was seid ihr eigentlich alle doof. Und nebenan kriegte er dann auch gerade wieder sein Bier hingestellt, die Freundin entschwand wieder [I lacht, dann auch A]. Und ich hab’ irgendwie gedacht, nur so: Ja, okay, aber das ist die Welt, in die du jetzt -, nee, willst du aber eigentlich gar nicht, ich mein’ -. Ich dachte aber auch so: ihr Frauen, wie doof müsst ihr denn sein, dass ihr euch bei so was wohl fühlt einfach, ne. Und in dem Moment kam Nina und meinte so: Hier ist dein Bier. Und ich so: Nein!! Bitte nicht [beide lachen]. Und da fiel mir eigentlich erst mal auf, dass ich da gerade mitten drin sitze und es genauso mache, ne, einfach genauso mache. Und das ist ein ganz komisches Gefühl von Zweischneidigkeit, dass ich da sitze und mir das eigentlich von außen angucke, aber genau dasselbe tue. Und da habe ich echt -, also da habe ich gelacht, da habe ich laut gelacht, die haben mich alle doof angeguckt, aber ich dachte echt nur so [beide lachen]: Haha, das darf einfach nicht wahr sein. Also das war schon ein bisschen seltsam, ja.«
Filip nimmt die ihn umgebende Szene zunächst distanziert und mit Befremden wahr: die deutliche geschlechtliche und heterosexuelle Strukturierung, in der die Männer untereinander ›plaudern‹ und ausschließlich aufeinander bezogen scheinen, während die Frauen als »Freundinnen« 383
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Umsorgerinnen und ›Zuträgerinnen‹ (von Bier und Snacks) sind und ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Wohl ihres jeweiligen Partners richten. Mit ungläubigem Staunen fragt Filip sich noch, wie »doof« man sein müsse, um sich freiwillig in eine solche Anordnung zu fügen, als er realisiert, dass er selbst vollkommen bruchlos in der Szene aufgeht: Seiner vermeintlichen Beobachterposition zum Trotz wird auch Filip gemäß der den Raum bestimmenden Anordnung als heterosexueller Mann adressiert und ist als ein solcher selbst an der Herstellung und Aufrechterhaltung einer Wirklichkeit beteiligt, von der er sich eben noch gefragt hat, ob das nun wirklich ›seine Welt‹ zu sein habe. Wirksam wird seine Distanz dazu – die disidentification bezüglich der ihn konstituierenden Anrufung – einzig noch in seinem spontanen Gelächter, das die Wirklichkeit, auf die er sich einlässt, als eine kontingente und zudem reichlich groteske kommentiert.
4.1 »Es fühlt sich so rum und so rum nicht richtig an«: Jenseits von passing und outing Filip ist einer derjenigen Interviewten, denen am meisten daran gelegen ist, tatsächlich als Mann wahrgenommen zu werden, und dennoch konstituiert auch er sich in einer Differenz zu dieser Position. Von den beiden hegemonial verfügbaren Möglichkeiten, entweder als (›biologischer‹ und über eine von Geburt an ›männliche‹ Vergangenheit verfügender) Mann durchzugehen oder als »Filip mit aber« abwertend-besondernd klassifiziert zu werden, unterscheidet er die im Kontext der Szene konstituierte Möglichkeit, mit seiner spezifischen Geschichte und Körperlichkeit eine intelligible Verortung in einem Spektrum unterschiedlicher geschlechtlicher Seinsweisen und Verkörperungen einzunehmen. Erfahrungen des Kinging und anderer subkultureller (queerer und trans*-) Praxen und sozialer Kontexte konstituieren so gewissermaßen einen ›dritten Ort‹ gegenüber der hegemonialen Alternative des passings (als eines der beiden Geschlechter) oder eines outings (etwa als transsexuell oder als ›eigentlich‹ dem biologisch begründeten Geschlecht zugehörig): ›Etwas‹, das in den hegemonialen Alternativen nicht aufgeht, äußert sich nicht lediglich als ein unbestimmtes Unbehagen, sondern wird in kollektiven Praxen und sozialen Bezugnahmen ausbuchstabiert und in einer (möglichen) alternativen Wirklichkeit verankert. Wird ein solcher ›dritter Ort‹ auch situativ in Interaktionen und Beziehungen außerhalb von Szene-Kontexten wirksam, und wenn ja, wie? Für Filip konnten wir sehen, dass der ›dritte Ort‹ seine Wirksamkeit vor allem für ihn selbst, für sein Selbstverhältnis, entfaltet: Auch wenn er Sorge hat, von anderen aufgrund seiner Körperlichkeit und Ge384
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schichte aus dem Bereich ›normalen Menschseins‹ ausgeschlossen zu werden, muss er sich nicht selbst fragen, ob er eigentlich ein normaler Mensch sei; die Erfahrung eines Kontextes, in dem »Begriffe wie normal und männlich, weiblich« (s.o.) ihre Selbstverständlichkeit verlieren, konstituiert seine Geschlechtlichkeit als eine nicht defizitäre; im Gegenteil geht sie mit einem Verständnis von Geschlecht und einer Wahrnehmung der ihn umgebenden Welt einher, durch die Filip sich situativ überlegen fühlt gegenüber denjenigen, die heterosexuell strukturierte und hierarchisierte Geschlechterarrangements selbstverständlich reproduzieren. Zugleich konnten wir sehen, dass der ›dritte Ort‹, auch wenn er ›in‹ Filip selbst auch in Interaktionen präsent bleibt, nicht stabil und unveränderbar ist. Erstens fragt Filip sich mitunter, inwieweit er sich der ›Täuschung‹ schuldig macht, wenn andere seine Geschlechtsdarstellung als die eines (Cis-)Mannes vereindeutigen; d.h. auch für ihn selbst wird die Wirklichkeit seines Geschlechtseins situativ fraglich. Zweitens erlebt er, wie er wider ›bessere‹ Absichten in die Interaktionsordnungen heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit hineingezogen wird, derart, dass er diese Ordnungen selbst mit herstellt und der Abstand verschwindet. Selbstverhältnisse konstituieren sich in Kontexten, aber nicht ein für allemal: Weder gehen sie im Kontext auf, noch bleiben sie durch diesen unbeeindruckt. Dies zeigt sich auch in Nikos Erzählung seiner Erfahrung in einem Kurs, den er eine Zeit lang regelmäßig besucht. Weil sich einige seiner Mitschüler_innen spontan auf ihn als Mann beziehen und andere ebenso spontan als Frau, fordert ihn schließlich jemand laut und vor aller Augen dazu auf, über sein Geschlecht Auskunft zu geben. Unter dem Druck von dreißig gebannten Blicken entschließt er sich, sich als Frau zu bezeichnen, obwohl das für ihn so nicht stimmt: »Es fühlt sich so ’rum und so ’rum nicht richtig an, und es nervt mich, es immer wieder auf die eine oder andere Art sagen zu müssen. Also ich weiß, dass das das Leben für die Leute einfacher macht, aber in ’ner Weise ruft das oft auch dieses alte Gefühl von Scham wieder wach, dieses: Warum passe ich nicht wirklich rein? – Und dann muss ich mich selbst wieder daran erinnern, dass das nichts ist, woran ich glaube. Aber das ist nicht immer so leicht. Wenn andere Leute das widerlich finden, ist es schwierig, das zu ignorieren, es ist wirklich -, manchmal ist es echt schwer, es nicht an sich ranzulassen.« (Int. 11)
Dass Niko sich durch seine Erscheinungsweise nicht eindeutig (zwei-) geschlechtlich lesbar macht und unterschiedlich vereindeutigende Bezugnahmen hervorruft, ist offensichtlich nicht hinnehmbar. Die Situation 385
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
bedarf einer (Er-)Klärung über das ›eigentliche‹ Geschlecht, zu der Niko sich nicht nur verbal aufgefordert, sondern durch die Gewalt der starrenden Blicke, die ihn nicht zu lesen vermögen, gezwungen sieht. Die Erklärung, die Niko unter diesem Druck abgibt, verfehlt in doppelter Weise das Ziel der Herstellung einer ›offensichtlichen‹, von allen geteilten Wirklichkeit. Erstens fühlt es sich für ihn selbst nicht »richtig« an, sich als Frau zu vereindeutigen; und zweitens kann der Sprechakt, mit dem er die zweigeschlechtliche Wirklichkeit der anderen ratifiziert, seinen Verstoß gegen ebendiese nur ungenügend reparieren. Allein dass er sein Geschlecht nicht in einer offensichtlichen Weise darstellt und daher ein erklärender Sprechakt nötig wird, macht ihn dieser Wirklichkeit gegenüber zum Fremden. Durch die situative Anerkennung einer ausschließlich zweigeschlechtlichen Wirklichkeit wird Niko nicht fraglos in dieser beheimatet, sondern trägt gezwungenermaßen selbst dazu bei, die Normen zu bestätigen, die seine Geschlechtlichkeit als ein Scheitern konfigurieren: »Warum passe ich nicht wirklich rein?« Die Macht, mit der Niko durch diese Erfahrung des Nicht-Passens in ein Gefühl der Scham gezwungen wird, entsteht nicht allein in der Situation selbst. Es ist ein »alte[s] Gefühl«, konstituiert durch eben die Geschlechternormen, die hier implizit wieder aufgerufen und durchgesetzt werden und ihre Macht ihrer sedimentierten Geschichtlichkeit verdanken – sedimentiert auch in Nikos Lebensgeschichte, die ihn für das Gefühl der Scham empfänglich macht (vgl. das ›themenbezogene Kurzporträt‹ in Kapitel III.3). Die in der Situation durchgesetzte Wirklichkeit bleibt Niko derart also nicht äußerlich, und dennoch geht er in der beschämenden Anrufung nicht auf. Die Erfahrung einer anderen, kollektiven geschlechtlichen Praxis ist für ihn (wenn auch mit Mühe) aktivierbar als Erinnerung daran, dass er an die Wirklichkeit, die er gerade bestätigt hat, ›eigentlich‹ »nicht glaubt«. Ein durch solche kollektiven Praxen konstituiertes alternatives geschlechtliches Selbstverhältnis lässt sich zwar nur mit Anstrengung, aber immerhin doch gegen die wirkmächtigen Normen und deren phobische und verletzende Implikationen (»wenn andere Leute das widerlich finden«) aufrechterhalten. Sowohl Niko als auch Filip evozieren in ihren Erzählungen ein geschlechtliches Selbstverhältnis, das in den Alternativen, die in den jeweils erzählten Situationen verfügbar scheinen, nicht aufgeht; beide sehen sich jedoch außerstande, dieses ›etwas‹ in den Situationen anderen gegenüber mitteilbar zu machen, und geben sich stattdessen gemäß einer der verfügbaren geschlechtlichen Positionen zu lesen.
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INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
Auch Paula/Carlo berichtet von zahlreichen Situationen und Kontexten, in denen sie/er schlicht als Frau vereindeutigt wird. Dass sie/er etwa bei der Erwerbsarbeit und in flüchtigen alltäglichen Begegnungen kaum eine Möglichkeit sieht, ›etwas‹ anderes vermittelbar zu machen, nimmt sie relativ gelassen und verzichtet teilweise auch bewusst auf die Anstrengung, die eine explizite Thematisierung seiner geschlechtlichen Verortung entgegen dieser Vereindeutigung bedeuten würde: »Also da ist so ’ne Grenze, wo ich sagen würde: nee, muss jetzt nicht sein, ich muss auch meinen Namen nicht im Pass ändern lassen, und ich muss auch nicht das ständig vor mir hertragen. Aber mir ist es wichtig, dass die Leute, die mich näher kennen, also mein Freundeskreis, der damit dann ja auch zum Teil meine Familie geworden ist, dass die Bescheid wissen und das respektieren, so. Und ansonsten handhabe ich das so nach dem Motto: leben und lassen. Ich kann nicht von allen Leuten erwarten, weiß nicht, vom Hüttchenmann oder so, dass der sich jetzt damit beschäftigt.« (Int. 4)
»Leben und leben lassen«: Jenseits enger persönlicher Beziehungen, in denen sie gemäß ihrer eigenen geschlechtlichen Wirklichkeit ›respektiert‹ werden möchte, akzeptiert Paula grundsätzlich, dass in manchen Situationen unterschiedliche Wirklichkeiten nebeneinander bestehen bleiben. Anstatt auf eine Anerkennung seiner eigenen geschlechtlichen Wirklichkeit zielt er, wie an anderer Stelle deutlich wird, eher auf eine Anerkennung dessen, dass überhaupt eine andere als die hegemoniale Wirklichkeit existiert. Dieser Anspruch und die Möglichkeiten, ihn zu transportieren, sind für sie eng mit ihrem Engagement in der Drag KingSzene verbunden. Dies führt für ihn dazu, »[…] also mit ’nem anderen Bewusstsein so von sich selbst [durch die Welt zu gehen; U.S.] und [4] dadurch auch ein anderes Selbstbewusstsein zu entwickeln, weil ich plötzlich dann Worte für was habe, auch wenn die jetzt immer noch nicht so hundertprozentig zutreffen mögen, aber es gibt dann überhaupt ’ne Möglichkeit, das zu verbalisieren. Und wenn man’s schon nicht im Gespräch mit jeder Person transportieren kann, um Verständnis zu bekommen, dann hat man aber trotzdem die Möglichkeit, Grenzen zu setzen und zu sagen: No, stop, also, das ist mir egal, ob du das begreifst oder nicht, aber [klopft auf den Tisch] so ist es hier, friss oder stirb.« (Ebd.)
Worte für ›etwas‹ – z.B. Drag King oder Transgender – zur Verfügung zu haben, verändert sowohl ihr Selbstverhältnis (im Sinne eines »anderen Bewusstsein[s] von sich selbst« und eines »andere[n] Selbstbewusstsein[s]«) als auch ihr Verhältnis zu anderen. Zwar helfen auch Worte nicht immer dabei, ›etwas‹ zu »transportieren«, um »Verständ387
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
nis« zu bekommen, aber sie bedeuten eine »Möglichkeit, Grenzen zu setzen«: Verortet im Bereich der Sprache, ist ›etwas‹ nicht nur ›im‹ Individuum, sondern in der Welt; ist Bestandteil einer sozialen und prinzipiell teilbaren Wirklichkeit auch dann, wenn sie situativ nicht geteilt wird. Auf die soziale, in kollektiven Praxen und Kontexten verankerte Dimension dieser Wirklichkeit verweist Carlo zusätzlich durch eine räumliche Referenz: »so ist es hier« – es gibt einen ›Ort‹, an dem ›etwas‹, das andernorts nicht begreifbar ist, eine Selbstverständlichkeit und Solidität genießt. Die (sprachliche) Möglichkeit des Verweises auf diese selbstverständliche Wirklichkeit macht Carlo in seinem Selbstverhältnis weitgehend unabhängig vom Verständnis der ›anderen‹; transportierbar wird nicht die Wirklichkeit selbst, sondern die Tatsache der Existenz einer anderen Wirklichkeit, die unabhängig davon Bestand hat, ob das Gegenüber sie ratifiziert oder nicht: »das ist mir egal, ob du das begreifst oder nicht, aber so ist es hier, friss oder stirb.« In diesem Sinne ist die Erfahrung im Kontext der Drag King-Szene (selbst-)ermächtigend auch dann, wenn die Macht, die eigene Wirklichkeit als eine teilbare durchzusetzen, fehlt: Sie ermächtigt einen Anspruch, wenn auch nicht dessen Durchsetzung, und sie schützt ein alternatives geschlechtliches Selbstverhältnis davor, im Kontext hegemonialer Wirklichkeiten unwirklich zu werden. Gegenüber der situativen Ratifizierung einer zweigeschlechtlichen Wirklichkeit deutet Carlo damit eine andere mögliche Strategie oder Haltung an: die der offensiven Thematisierung einer Differenz, die nicht notwendig auf Verständnis zielt, sondern als Explizierung des Nicht-Verstehens gegenüber der hegemonialen Wirklichkeit eine »Grenze« zieht. Situativ engagiert sich auch Luka in einer Strategie oder Haltung, die nicht auf ein Verstehen zielt, sondern eher auf eine Verweigerung dessen. Luka tut dies allerdings nicht durch eine offensive Thematisierung der Existenz von ›etwas‹, sondern durch die explizite Weigerung, der Aufforderung zu einer (zwei-)geschlechtlich vereindeutigenden Positionierung nachzukommen. Sie schildert die Begegnung mit einem Passanten, den sie um eine Zigarette bittet: »Und der guckt mich so an, guckt mich länger an, guckt mich noch länger an, dann fragt er mich irgendwann: Ähm, are you a boy or are you a girl? Und ich sag’ so: Guess what! Und [2] ich find’ das eigentlich auch ganz gut so, dass man’s nicht sofort erkennt. [2] Es ist so mein Markenzeichen, [2] dass die Leute echt ihre Augen anstrengen müssen, um zu erkennen, was ich bin.« (Int. 9)
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INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
In dieser flüchtigen Begegnung auf der Straße kann Luka eine Antwort auf die Frage nach ihrem Geschlecht verweigern, und die Interaktion wird, so scheint es, beendet, ohne dass diese Frage für ihr Gegenüber ›geklärt‹ würde. In längerfristigen Beziehungen scheint so etwas dagegen kaum möglich zu sein: Alle bisher dargestellten diesbezüglichen Erfahrungen zeigen, dass eine irgendwie geartete Antwort auf die Frage nach dem Geschlecht – eine irgendwie geartete Möglichkeit, das jeweilige Gegenüber geschlechtlich zu verorten – offenbar gegeben sein muss, um sinnhafte Bezugnahmen im Kontext einer sozialen Beziehung (und damit den Fortgang der Beziehung als solcher) zu ermöglichen. Dennoch findet sich in den Interviews eine Schilderung (allerdings die einzige ihrer Art im gesamten ›Material‹), die die Möglichkeit längerfristiger wechselseitiger Bezugnahmen ohne eine Klärung der Frage nach dem Geschlecht nahelegt. Auch diese Schilderung stammt von Luka. Sie erzählt, wie der Kontakt zu der Clique junger Schwarzer, die ihr Schutz gegen die ›Rechten‹ bedeutet und der sie sich zeitweilig anschließt, zustande kam: »Ich hab’ ja damals im letzten Monat auch zu dieser Gang dazu gehört, weil die Jungs ja auch nicht genau gewusst haben, ob ich jetzt ’n Mädchen oder ’n Junge bin. […] Ich bin einfach vorbeigelaufen an einem von den Balkonen, wo die halt grade draußen saßen und geraucht haben und getrunken haben, und die rufen mir so hinterher. Die haben zuerst gedacht, ich bin definitiv ’n Mädchen, und dann, wo ich dann zu denen hingekommen bin, mit denen geredet hab’, haben die auch nicht mehr hundertprozentig gewusst, was ich bin. Und ich hab’s auch dabei belassen. Und dann haben wir uns halt eben öfter getroffen und sind dann auch gemeinsam um die Häuser gezogen, sind öfters auf Partys gegangen. […] Hab’ danach öfters bei dem einen in der Autowerkstatt mitgeholfen, weil der hat hinten in [Stadtteil] ’ne Autowerkstatt. Und von daher, es war für die nie eindeutig, was ich jetzt bin. Und wenn -, im ersten Moment, da haben sie definitiv richtig gelegen [lacht], aber das hab’ ich eben nie gesagt. I: Und haben die gefragt? A: Sie haben gefragt, aber ich hab’ gesagt: ich bin ich. I: Und dann? A: Dabei haben wir’s dann bewenden lassen, sie haben nicht genauer nachgefragt. Das fand ich auch ganz gut so, also dafür bin ich ihnen definitiv dankbar.« (Int. 9)
Luka weiß nicht, was genau die »Jungs«, mit denen sie sich zusammen tut, über sie denken und wie sie sie wahrnehmen. Entscheidend für Luka ist jedoch, dass sie ihre Antwort, ihr »ich bin ich«, akzeptieren und die darin enthaltene Weigerung, dieses »Ich« in geschlechtlichen Termini zu 389
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
spezifizieren, respektieren. Luka ist ihnen dafür »dankbar«, und sie erfährt im geteilten Alltag eine Solidarität und Selbstverständlichkeit des Umgangs miteinander, in dem sie offenbar nicht in der ihr unangenehmen Weise als ›Mädchen‹ oder als ›Frau‹ adressiert wird: »Und das hat mich auch damals verwundert, dass die da nicht weiter nachfragen und so, aber die haben’s nicht gemacht. Für die war’s okay, ich war cool drauf, und von daher - […]. Das war das einzigste, was für die interessant war, dass ich cool drauf bin. I: Und was war cool drauf sein? A: Dass ich einfach immer für ’n Scherz zu haben bin, dass ich öfter mal Zeit hab’ für die, weil zu dem Zeitpunkt, ich war arbeitslos. Ich hatte also auch keine Beschäftigung, das heißt, ich bin öfters bei denen in der Autowerkstatt rumgehockt und hab’ mit denen rumgeschraubt. […] Und auf die Art und Weise, sie haben nicht nachgefragt, was ich ständig bei denen mach’, haben halt eben gedacht, ich schraub’ gerne und vertreib’ mir auf die Art und Weise meine Zeit. Und die waren froh über jemanden, der ihnen in der Autowerkstatt hilft, und sie haben noch nicht mal was dafür bezahlen müssen. Gut, sie haben mich öfters zum Essen mit eingeladen, weil die immer für die ganze Truppe was bestellt haben, aber es war cool.« (Ebd.)
Auch ohne langwierige Erklärungen und eher im Verzicht darauf, sich explizit verständlich zu machen, gelingt es Luka offenbar, in den Beziehungen mit den »Jungs« ihr gemäße praktische Bezugnahmen zu etablieren. Allerdings ist sie selbst verwundert darüber, dass weitere Nachfragen nach ihrem Geschlecht ausbleiben. Und in der Tat scheint es kaum vorstellbar, dass diese Frage für die »Jungs« tatsächlich völlig unbeantwortet bleibt – dass Bezugnahmen und Beziehungen sich hier realisieren und aufrechterhalten werden, ohne dass die »Jungs« zu einer irgendwie gearteten Einschätzung von Lukas Geschlecht gelangen. Dass Lukas Schilderung die Frage offen lässt und zugleich auf den Plan ruft, wie genau hier eine Wahrnehmung und Einschätzung ihrer Person vonstatten geht – dass ihre Erfahrung für Überraschung und Verwunderung sorgt – verweist einmal mehr darauf, dass sinnhafte interaktive Bezugnahmen unter völliger Absehung von Geschlecht gegenwärtig kaum im Bereich des Vorstellbaren liegen.
4.2 »… dass das nicht nur bei mir ’n Thema ist«: ›Etwas‹ ansatzweise erfahrbar machen Eine geschlechtliche Wirklichkeit lässt sich alleine weder herstellen noch durchsetzen – sie realisiert sich erst in kollektiven Praxen, in teilbaren Sinnhorizonten und Wahrnehmungsweisen und in sozialen Bezug390
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
nahmen. Die in bestimmten Kontexten und Situationen erfahrbare Wirklichkeit von ›etwas‹ lässt sich daher kaum diskursiv vermitteln. Wenn Niko seine Verwandten besucht, kommt ihm seine eigene Existenz manchmal etwas »surreal« vor, weil er sie nicht (mit-)teilbar machen kann: »Ich kann mich denen nicht wirklich erklären, ohne aggressiv zu werden oder -, weil -, das ist nicht wirklich was, was du Leuten erklären kannst, wenn sie’s nicht leben. Ich mein’, du kannst ihnen sagen, dass du diese Unterschiede [zwischen den zwei Geschlechtern, so wie sie ›üblicherweise‹ gefasst werden; U.S.] nicht verstehst oder so, oder dass du denkst, dass die Leute -, dass viele Annahmen, die sie machen, eigentlich Illusionen sind, aber wenn jemand das nicht lebt, dann versteht er’s nicht, weißt du.« (Int. 11)
Das sinnhafte Verstehen von ›etwas‹ ist für Niko gebunden daran, ›es‹ zu »leben«; ist gebunden an die praktische Erfahrung einer alternativen, nicht strikt zweigeschlechtlich strukturierten Wirklichkeit. Eine verbale Erklärung vermag diese Erfahrung offenbar weder zu transportieren noch zu ersetzen. In zahlreichen Situationen in zweigeschlechtlich strukturierten Kontexten, so wurde deutlich, stoßen Versuche, ›etwas‹ diskursiv oder auch darstellungspraktisch (mit-)teilbar zu machen, in der Tat an klare Grenzen. Deutlich wurde jedoch auch, dass die Weisen, für andere geschlechtlich in Erscheinung zu treten, von den Interviewten nicht ausschließlich entlang einer dichotomen Unterscheidung zwischen ›Sichtbar-Werden‹ und ›Unsichtbar-Bleiben‹, zwischen ›Erkannt-‹ und ›Verkannt-Werden‹ erfahren werden. Unterschiedliche geschlechtliche Praxen, Selbst- und Weltverständnisse und Wahrnehmungsweisen, die in wechselseitigen Bezugnahmen aufeinander treffen, konstituieren – so wurde vorgeschlagen – ›Zonen des Sichtbarwerdens‹. In diesen Zonen kommen Selbstverständnisse und Geltungsansprüche einerseits und die Weisen des Wahrgenommen-Werdens andererseits nicht zur Deckung, aber sie bleiben auch nicht unvermittelt nebeneinander stehen. In unterschiedlichem Maße und auf verschiedene Arten werden hier sowohl routinisierte zweigeschlechtliche Adressierungs- und Wahrnehmungsweisen als auch (darstellungspraktische und diskursive) Artikulationen von ›etwas‹ wirksam. Eine zunächst erwartbare zweigeschlechtliche Strukturierung kann dabei durchaus auch auf überraschende Weise aufgebrochen werden – so etwa in Lukas Erfahrung von Solidarität und Akzeptanz durch die »Jungs« trotz ihrer Weigerung, sich in einer zweigeschlechtlich vereindeutigenden Weise erkennbar zu machen.
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GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
Die Bemühungen, ›etwas‹ auch außerhalb von Szene-Kontexten zumindest ansatzweise zu realisieren, beruhen auf unterschiedlichen Strategien. Beleuchtet wurden bislang insbesondere darstellungspraktische und verbal-diskursive Versuche, ›etwas‹ (mit-)teilbar zu machen. Vor dem Hintergrund, dass Wahrnehmungsweisen und Möglichkeiten sinnhaften Verstehens weitgehend an praktische Erfahrungen gebunden sind, stoßen solche Bemühungen trotz ihrer situativen Effekte regelmäßig an Grenzen. Ist es stattdessen möglich, in Beziehungen und Begegnungen ›etwas‹ auch für andere erfahrbar zu machen und derart die ›Zonen des Sichtbarwerdens‹ situativ zu verschieben? Dass viele der kollektiven Aktivitäten der Drag King-Szene in der Tat darauf zielen, ›etwas‹ praktisch erfahrbar zu machen, wurde in Kapitel II ausführlich dargestellt. Partys, Performance-Shows, Workshops etc. richten sich nicht nur an ›Insider‹, sondern laden potentiell ›alle‹ dazu ein, im Mitvollzug einer Praxis neue Erfahrungen zu machen, möglicherweise ›anders‹ zu sehen und auch sich selbst anders zu erfahren. Lässt sich eine solche praktische Erfahrung auch in individuellen Beziehungen teilbar machen? Neben darstellungspraktischen Bemühungen und diskursiven Erklärungsversuchen besteht eine weitere Strategie der Vermittlung von ›etwas‹ darin, von szene-bezogenen Aktivitäten zu erzählen oder sie zu zeigen – z.B. Freund_innen, Bekannte oder Verwandte zu Partys oder Shows mitzunehmen oder ihnen Flyer, Fotos, Filme etc. zu zeigen. Durch Erzählen oder Zeigen zu versuchen, andere ›mitkriegen‹ zu lassen, was man tut, anstatt ihnen zu erklären, wer man ist, zielt möglicherweise auf eine andere Art des Verstehens: (Mit-)geteilt wird nicht eine Selbsterkenntnis bezüglich der eigenen ›Identität‹, sondern eine alternative Wirklichkeiten konstituierende und durch diese konstituierte Praxis. Einige Beispiele eines solchen Zeigens wurden bereits beleuchtet. Felix nimmt befreundete Kollegen mit zu einer Drag King-Show, lässt sie erfahren, dass er in den Szene-Räumen als Felix adressiert wird, und bittet sie, ihn ebenfalls so anzusprechen. Dadurch schleicht der in der Drag King-Szene als solcher konstituierte ›Felix‹ sich auf eine andere Weise in die Firma ein, als das spätere Outing als ›transsexuell‹ gegenüber dem Geschäftsführer es vermag. – Karla/Klaus kann sich vorstellen, ihrer Oma Fotos zu zeigen und ihr vom ›Verkleiden‹ zu erzählen; mit diesem Angebot, das, was sie tut, im Rahmen von Spiel oder Theater zu begreifen, schafft sie eine Möglichkeit, sich der Oma zu zeigen, ohne auf ein vollständiges Verstehen zu zielen. In solchen Weisen des Zeigens wird das Schillern von Kinging zwischen Theater und Wirklichkeit, zwischen Spiel und Identität erneut 392
INTERAKTIONEN UND KONTEXTE
wirksam: ein Schillern und eine Offenheit, die unterschiedliche Bezugnahmen und Anschlüsse ermöglicht. Karla/Klaus etwa erzählt von den Reaktionen ihrer Schwester auf ihre Drag King-Praxis: »Also meine Schwester weiß es und sieht die Fotos auch und findet es -, fand es anfangs, ja, schon seltsam, oder so: Ach, hhm, so ’n bisschen vorsichtig, und -, aber das ist lustig, weil sie sich danach immer relativ schnell öffnet, also sie hat selber dann -, das war echt süß, mit ihrem Verlobten jetzt dann so ausprobiert. […] [D]ie sind zu so ’nem Fasching gegangen, und dann ist er als -, also sie sind als Pärchen gegangen, als heterosexuelles, nur andersrum, also er ist als Frau und sie ist als Typ gegangen. Die Verkleidung war eigentlich sehr schlecht [beide lachen], also sie hätten sich mich mal als Beraterin holen können […]. Und sie haben auch nur Klamotten getauscht, das heißt, ihre Klamotten haben ihm nicht wirklich gepasst und seine Klamotten haben ihr nicht wirklich gepasst, und das ist noch mal auf jeden Fall ’ne andere Ebene. Aber sie finden es jedenfalls lustig. I: Und das ist für dich auch ’ne okaye Reaktion dann, also du fühlst dich da schon verstanden? A: Na, verstanden würde ich nicht sagen, akzeptiert. Also ich würde jetzt nicht mit ihr sagen: Hach, und da habe ich jetzt überlegt, ob ich den Bart oder -, hach, und was findest denn du jetzt besser, also ich präsentiere ihr, was ich mache, aber ich würde das nicht mit ihr ausdiskutieren, diese Auseinandersetzung läuft hier ab mit Freund_innen, so, und nicht in der Familie.« (Int. 15)
Die Schwester lässt sich von Karla/Klaus zu einer Praxis inspirieren, die als ›Kleidertausch‹ im Faschingskontext deutlich etwas anderes ist als Karlas Kinging. Dennoch findet über das Erzählen, Zeigen und SichInspirieren-Lassen ein Austausch zwischen den beiden statt, in dessen Verlauf sich Karla/Klaus zwar nicht »verstanden«, aber »akzeptiert« fühlt. Auch Flin erlebt, dass seine Erzählungen vom Kinging in einer eher scherzhaften Weise aufgegriffen werden: Einer seiner Arbeitskollegen adressiert ihn in Reaktion auf solche Erzählungen gern als »schwules Mädchen« – »um mich zu ärgern«, sagt Flin, aber: »Na ja, aber es hat ja auch was Wahres, also wir lachen dann immer beide drüber.« (Int. 6) In der scherzhaften Bemerkung und dem gemeinsamen Lachen erhält ›etwas‹ eine Präsenz in der gegenseitigen Bezugnahme, ohne dass explizierbar wäre, wie genau der Kollege Flins Geschlechtlichkeit begreift. Selbstverständlich können derartige Angebote auch zurückgewiesen werden. Uli erzählt, wie ihre Mutter sich, bei ihr zu Besuch, immer so setzte, dass sie die an der Wand hängenden Drag King-Fotos nicht sehen konnte – obwohl ihr der Platz unbequem war: »Also ich habe den Eindruck, dieses Thema wollte sie vermeiden.« (Int. 1) Wegsehen, Bemer393
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
kungen überhören, auf zugeschickte Fotos nicht reagieren – von solchen Reaktionen berichten auch andere Interviewte; aber eben auch von Neugier, Interesse, Nachfragen und Nachdenklichkeiten, in denen manchmal auch zum Vorschein kommt, »dass das nicht nur bei mir ’n Thema ist, sondern bei vielen andern auch, und dass es einfach jemanden braucht, der damit anfängt« (Int. 6); und von Bezugnahmen – durch Blicke, Bemerkungen, Anspielungen – in denen durch die mitgeteilte Praxis ›etwas‹ zum Gegenstand der geteilten Beziehung werden kann, ohne dass vollständig geklärt wird oder werden müsste, was genau ›etwas‹ für die Beteiligten bedeutet. Durch Versuche, die im Horizont der Szene entwickelten kollektiven Praxen (mit-)teilbar und dadurch ›etwas‹ ansatzweise erfahrbar zu machen auch für diejenigen, die sich nicht in szene-bezogenen Kontexten bewegen, lassen sich die ›Zonen des Sichtbarwerdens‹ offenbar manchmal verschieben: Mehr oder weniger deutlich werden strikt zweigeschlechtlich strukturierte Weisen der Wahrnehmung und Bezugnahme dadurch situativ aufgebrochen zugunsten einer Adressierung, in der anderes aufscheint. Die sich dadurch realisierende Möglichkeit, geschlechtlich für andere in Erscheinung zu treten, wird ganz offensichtlich nicht als eine vollständig transparente oder ›authentische‹ Weise des Wahrgenommen-Werdens erfahren. Zudem unterscheidet sie sich weiterhin von der Erfahrung des Wahrgenommen-Werdens im Horizont der in der Szene herausgebildeten Bezugnahmen. Dennoch werden hier Beziehungen und Begegnungen möglich, in denen die hegemoniale Wirklichkeit, die lediglich zwei Geschlechter als ›tatsächliche‹ zulässt, situativ etwas von ihrer Macht und ihrer Stabilität zu verlieren scheint.
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V. Schlussbetrachtungen Aus der zweigeschlechtlichen Wirklichkeit fällt man nicht einfach so heraus. Auch Verkörperungen, Praxen und Selbstverständnisse, die den Kohärenzgeboten heteronormativer, somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit nicht entsprechen, sind zunächst weiterhin innerhalb dieser Wirklichkeit situiert. Konstituiert als erklärbare Abweichungen, als Ausnahmen, als pathologische oder als ›unernste‹ (z.B. spielerische, theatralische) Phänomene, bleiben sie aus hegemonialer Perspektive gebunden an die Tatsächlichkeit einer Welt, in der es ›eigentlich‹ nur zwei Geschlechter gibt. Die Inkongruenzen und Verfehlungen, die die Reproduktion der zweigeschlechtlichen Ordnung beständig begleiten, führen daher nicht automatisch zu ›wirklichen‹ anderen Geschlechtlichkeiten. Um als eine alternative geschlechtliche Wirklichkeit erfahrbar zu werden, muss eine solche vielmehr praktisch hervorgebracht, artikuliert und gestaltet werden. Dies kann auf höchst unterschiedliche Weisen geschehen, wie zahlreiche sowohl historische als auch gegenwärtige kollektive Bestrebungen solch alternativer Artikulationen und Hervorbringungen zeigen. Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Prozesse der Entwicklung und Gestaltung alternativer geschlechtlicher Möglichkeiten ausgehend von einer spezifischen gegenwärtigen Praxis – der Praxis des Kinging im Kontext der hiesigen Szene – zu rekonstruieren. Untersucht wurde, inwiefern und in welchem Sinne diese Möglichkeiten als wirklich erfahrbar werden und eine alternative geschlechtliche Wirklichkeit zu konstituieren vermögen. Dabei wurde eine konzeptionelle Perspektive zugrunde gelegt, die sozialwissenschaftliche Ansätze zur empirischen Rekonstruktion der Konstruktionsprozesse sozialer Wirklichkeit mit einer queer-theoretisch geschulten Aufmerksamkeit für die Ränder, Überschüsse und Ausschlussmechanismen des Wirklichen zu verbinden suchte. 395
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
In dieser Perspektive wurden zunächst die kollektiven Sinnhorizonte, Aktivitäten und Praxen, die die Drag King-Szene als eine solche konstituieren, sowie die in ihnen wirksam werdenden (historischen und gegenwärtigen) kulturellen und sozialen Bezüge nachgezeichnet. Herausgearbeitet wurde, welche Möglichkeiten geschlechtlicher Verkörperung und Verortung in diesem Horizont wie als sinnhaft verstehbare entwickelt, vermittelt und verbreitet werden. In den Fokus rückten sodann subjektive Erfahrungsweisen und Selbstverhältnisse, die mit dem Engagement in kollektiv entwickelten Praxen des Kinging einhergehen. Durch diese Praxen, so wurde deutlich, wird die Selbstverständlichkeit zweigeschlechtlicher Strukturierungen aufgebrochen und werden alternative Möglichkeiten der Wahrnehmung, des Selbstbezugs und des geschlechtlichen In-der-Welt-Seins generiert. Diese Möglichkeiten sind vielfältig: Sie führen zu sehr unterschiedlichen individuellen geschlechtlichen Selbstverständnissen, Verkörperungen und Lebensweisen. Bezogen sind sie jedoch auf einen kollektiven Erfahrungsraum, auf kollektiv geteilte Sinnhorizonte und praktische Bezugnahmen, in denen sie – in ihrer Spezifizität – als wirklich erfahrbar werden. Zugleich bewegen sich die Interviewten weiterhin alltäglich in sozialen Kontexten, in denen eine strikt zweigeschlechtliche Strukturierung zunächst erwartbar ist. Welche geschlechtlichen Möglichkeiten und Wirklichkeiten sich in Interaktionen, Beziehungen und Bezugnahmen in solchen Kontexten realisieren – und welche Erfahrungen, Selbst- und Weltbezüge und Weisen, für andere geschlechtlich in Erscheinung zu treten, damit einhergehen – bildete einen weiteren Schwerpunkt der rekonstruierenden Untersuchung. Unter drei Gesichtspunkten möchte ich im Folgenden einige Ergebnisse dieser Arbeit aufgreifen und diskutieren: Zunächst werde ich darlegen, auf welche Weise Geschlecht im Zuge einer Forschungsperspektive in den Blick rückte, die mögliche Qualitäten des Wirklichen zu rekonstruieren suchte. Anschließend beschäftige ich mich mit der Frage nach der möglichen Relevanz von Erfahrungsräumen einer nicht strikt zweigeschlechtlich strukturierten Wirklichkeit für die Vorstellbarkeit einer anderen Welt. Ich schließe mit Überlegungen zur Bedeutsamkeit einer Forschungsperspektive, die – im Unterschied zu Bestrebungen, Prozesse der ›Neutralisierung‹ von Geschlecht zu fokussieren – auf die Rekonstruktion alternativer Weisen des Geschlechtseins setzt.
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SCHLUSSBETRACHTUNGEN
1. Geschlechtliche Erfahrungsweisen und Qualitäten des Wirklichen Der Begriff der Wirklichkeit wurde zu Beginn dieser Untersuchung nicht definiert, und auch an ihrem Ende wird – soviel soll vorweg genommen werden – keine abschließende und trennscharfe Definition entwickelt werden. Auf die daraus resultierende begriffliche Unschärfe und die Fragen, die dies aufwirft, komme ich am Ende dieses Abschnitts zurück. Zunächst einmal soll dargelegt werden, was der ›Gewinn‹ einer Perspektive war, die in einer heuristisch offenen Weise nach der Qualität des Wirklichen in Bezug auf Geschlecht fragte. Im Zuge dieser Frage rückten unterschiedliche Aspekte in den Blick, die weder als hinreichende noch als notwendige Kriterien von Wirklichkeit gelten können, die aber zunächst plausibel auf mögliche Qualitäten des Wirklichen zu verweisen schienen: Rekonstruiert wurde, auf welche Weisen Geschlechtlichkeiten in einer sinnhaft verstehbaren Weise sichtbar werden, und inwiefern diese Sichtbarkeit als evident und unmittelbar erfahren werden kann. Gefragt wurde nach der Bedeutung leiblich-affektiver Erfahrungsdimensionen – bezogen auf das Sehen und Spüren des eigenen Körpers sowie auf wechselseitige soziale Bezugnahmen. Beleuchtet wurde, wie bestimmte Praxen, Körperstile, Wahrnehmungsweisen und Formen der Bezugnahme routinisiert, alltäglich und selbstverständlich werden. Implikationen und Wirkungen sprachlicher Benennung und Bezugnahme – etwa der Verwendung von Namen, Pronomina und verschiedener Bezeichnungen für geschlechtliche Seinsweisen und Verortungen – wurden aufgezeigt und spezifische kollektive Sinnhorizonte bezüglich geschlechtlicher Möglichkeiten und Bedeutungen ausgelotet. In den Blick rückten unterschiedliche Möglichkeiten, sich auf sich als ein geschlechtliches Selbst zu beziehen, und die Frage, welche Geschlechtlichkeiten im Zuge dessen als ein ›Ich‹, als ein ›Teil von mir‹ oder auch als ›Identität‹ erfahrbar werden. Rekonstruiert wurde, welche geschlechtlichen Möglichkeiten in Interaktionen, Beziehungen und Bezugnahmen (mit-)teilbar, sinnhaft verstehbar, adressierbar und anerkennbar werden. Und schließlich wurde die mögliche Qualität des Wirklichen im Unterschied oder in Abgrenzung zu Erfahrungsdimensionen herausgearbeitet, die mit Begriffen wie ›Rolle‹, ›Spiel‹ (auch: ›nur gespielt‹ oder ›vorgespielt‹) oder ›Täuschung‹ umrissen werden können. Zur Exploration von einigen dieser Aspekte wurden theoretische Ansätze herangezogen, die auf verschiedene Weisen zu erhellen
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GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
suchen, wie Wirklichkeit als evident, stabil und selbstverständlich hervorgebracht wird.1 Indem auf diese Weise unterschiedlichen Erfahrungsdimensionen geschlechtlicher Möglichkeiten nachgegangen wurde, konnten Veränderungen von Erfahrungsmöglichkeiten sowie ihre Bedingtheit durch (kollektive) Praxen, soziale Kontexte und die in ihnen wirksam werdenden geschlechtlichen Strukturierungen aufgezeigt werden. Dabei konnten auch die Bewegungen von ›etwas‹ nachgezeichnet werden, das sich zunächst an den Rändern des Wirklichen oder auch überhaupt des Benennbaren zeigte: als Irritationen oder Fragen, als diffuses Gefühl des NichtPassens oder des Unbehagens, als Ahnungen, als Wünsche oder Sehnsüchte, als wieder auftauchende Erinnerungen. Gezeigt wurde, wie ›etwas‹ – das für die Interviewten je individuell sehr Unterschiedliches bedeuten konnte – im Horizont der kollektiven Praxen des Kinging ausgelotet, artikuliert werden und zur Repräsentation kommen konnte: etwa, indem es im bebärteten Gesicht seiner selbst ein Bild fand; oder indem im Experimentieren mit unterschiedlichen Bewegungsweisen, Gesten und Rollen ›etwas‹ als ein ›Ich‹ oder als ein ›Teil von mir‹ erfahrbar wurde – als eine leiblich-affektive Erfahrung sowie im Rahmen anerkennender, wertschätzender Bezugnahmen. ›Etwas‹ artikulierte sich auch in wechselseitigen Adressierungen mit anderen, männlich codierten Namen und Pronomina; oder auch in der Bezugnahme auf ›Vorbilder‹, d.h. auf die im Kontext der Szene durch andere aufgezeigten Möglich-
1
Diese Ansätze sollen hier nicht nochmals ausgeführt und diskutiert werden. Zur Erinnerung sei lediglich kurz benannt, um welche Aspekte und Ansätze es sich handelte: Im Anschluss an Gesa Lindemann sowie an Kaja Silverman ließen sich Funktionsweise und Bedeutung der Evidenz der Sichtbarkeit von Geschlecht – im Zusammenspiel von Wahrnehmungsweisen und Darstellungspraxen im Horizont verfügbarer geschlechtlicher Codierungen – für die Wirklichkeit bzw. Stabilität der Zweigeschlechtlichkeit beleuchten. Beide Ansätze verbinden zudem die Frage nach Sichtbarkeit bzw. Wahrnehmungsweisen mit der Dimension geschlechtlicher Selbstverhältnisse. Die Bedeutung von Körperlichkeit zur Stabilisierung der zweigeschlechtlichen Ordnung wurde sowohl mit Lindemann (insbesondere in Bezug auf die Verschränkung des sichtbaren Körpers mit der Dimension eigenleiblichen Spürens) als auch mit Pierre Bourdieu (in Bezug auf die Habitualisierung von Körperstilen) adressiert. Mit Erving Goffman wurde die Bedeutung der Unterscheidung zwischen unterschiedlichen (primären und modulierten) Rahmen für die Erfahrung von etwas als Wirklichkeit oder aber als Spiel oder Performance ausgelotet. Stefan Hirschauer und nochmals Gesa Lindemann wurden schließlich (kursorisch) herangezogen, um Prozessen der Hervorbringung und Absicherung von Wirklichkeit in Interaktionen und wechselseitigen Bezugnahmen auf die Spur zu kommen.
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SCHLUSSBETRACHTUNGEN
keiten, bestimmte Verkörperungen, Geltungsansprüche und Selbstentwürfe tatsächlich realisieren und leben zu können. Dass im kollektiven Horizont der Szene und durch die damit verbundenen Praxen ›etwas‹ ausgelotet, (mit-)teilbar gemacht und zum Ausgangspunkt der Entwicklung konkreter geschlechtlicher Selbstentwürfe und deren Realisierung werden kann, hängt, so wurde gezeigt, mit zwei nur analytisch zu unterscheidenden Wirkungsweisen der in den Blick genommenen kollektiven Praxen zusammen: der Entselbstverständlichung der hegemonialen, zweigeschlechtlich strukturierten Wirklichkeit einerseits und der praktischen Hervorbringung von Alternativen andererseits. Beides geschieht in und durch Praxen des Kinging in ein und derselben Bewegung. Durch das Engagement in solchen Praxen, so wurde vorgeschlagen, konstituiert sich ein alternativer ›Habitus des Geschlechtseins‹, der eine permanente Entselbstverständlichung der zweigeschlechtlichen Strukturierung der Welt betreibt und eine praktischreflexive Distanznahme von ihr ermöglicht. Entselbstverständlicht wird z.B. eine Wahrnehmungsweise, die immer und zu jeder Zeit zwei Geschlechter sieht; aufgebrochen wird der Zwang, sich als das Geschlecht zu realisieren, dass der Körper hegemonial bedeutet, sowie die Anforderung, sich überhaupt als eines von zwei Geschlechtern zu realisieren; entselbstverständlicht wird das Ausdrucksverhältnis von Körperstilen und den geschlechtlichen Bedeutungen, auf die sie unproblematisch zu verweisen scheinen; werden sprachliche Bezugnahmen bzw. der strikte geschlechtliche Verweisungscharakter geschlechtlicher Bezeichnungen, Namen und Pronomina. Diese Entselbstverständlichung wird im praktischen, körperlichen Tun und Wahrnehmen erfahrbar. Der dadurch eröffnete Erfahrungsraum bleibt jedoch nicht rein negativ bestimmt. Im Engagement in Praxen, die die skizzierte Entselbstverständlichung betreiben – etwa im Experimentieren mit Bärten und anderen geschlechtlichen Stilmitteln, mit unterschiedlichen Körperstilen, Bühnenfiguren und Rollen, im Shiften zwischen Bühnen- und Alltagserfahrung – werden zugleich andere Wahrnehmungsweisen, andere Weisen, Körperlichkeit zu bedeuten, zu erfahren und zu bearbeiten, andere Bezüge zu sich und andere Weisen wechselseitiger Bezugnahmen entwickelt. Die Entwicklung und Artikulation solcher Alternativen und vor allem die Möglichkeit ihrer Konstitution als Wirklichkeit sind alles andere als beliebig. Zunächst einmal sind sie nicht Resultat einer spontanen und willkürlichen ›Erfindung‹, sondern gebunden an eine kollektive Praxis, die als solche erst eine teilbare und sich verstetigende Wirklichkeit zu konstituieren vermag. Obgleich durchaus mit Intentionen verbunden, 399
GESCHLECHT ANDERS GESTALTEN
entfaltet die kollektive Praxis auch eine Eigendynamik, die das Planvolle und Intentionale übersteigt. Im Alltäglichwerden und in der Routinisierung von Körperpraxen, Wahrnehmungsweisen, Selbstbezügen und wechselseitigen Bezugnahmen können alternative Geschlechtlichkeiten auf eine Weise selbstverständlich werden, in der das (auch) Absichtsvolle ihrer Hervorbringung in den Hintergrund tritt. Praxen des Kinging können außerdem Effekte haben, mit denen die in ihnen Engagierten nicht unbedingt gerechnet haben: etwa, wenn sich zunächst bewusst angeeignete Körperstile derart habitualisieren, dass sie als unwillkürliche körperliche Äußerungen erfahrbar werden; oder wenn sich ein zunächst als Bühnenfigur entworfener Charakter in einem »schleichenden Prozess« (Felix) zunehmend als ein ›Teil von mir‹ oder als ein ›Ich‹ aufdrängt. Alles andere als beliebig ist die Hervorbringung einer alternativen geschlechtlichen Wirklichkeit im Kontext des Kinging auch deshalb, weil die damit verbundenen Praxen als immer schon sinnhafte in vielfältiger Weise auf historische und gegenwärtige gesellschaftliche und soziale Entwicklungen und Bedingungen bezogen sind. Ihr Möglichkeitsraum ist mit konstituiert durch die wechselhafte Geschichte unterschiedlicher Aneignungen und Umarbeitungen von Geschlecht insbesondere in lesbischen und in transsexuellen bzw. Transgender-Zusammenhängen. Im Horizont heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit als Formen der ›Abweichung‹ konstituiert, in denen, wie Corinna Genschel (2001) formuliert, »die Pathologien und die Konflikte der zweigeschlechtlichen Ordnung quasi zwischengelagert sind« (ebd.: 823), waren und sind sowohl Homo- als auch Transsexualität Bezugspunkte der Entwicklung geschlechtlicher Praxen, Verkörperungen, Selbstverhältnisse und sozialer Zusammenhänge, in denen die Strukturierungen heteronormativer, somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit auf sehr unterschiedliche Weisen umgearbeitet und/oder angefochten wurden und werden. Insbesondere gegenwärtige lesbisch-queere Reformulierungen von Geschlecht und Sexualität sowie die zunehmende Artikulation unterschiedlicher Trans*-Geschlechtlichkeiten können, so wurde gezeigt, als Bedingung der Möglichkeit von Praxen des Kinging als einem sinnhaft verstehbaren und kollektiv teilbaren Phänomen gelten: Kinging ist sowohl auf die damit verbundenen Sinnhorizonte als auch auf die sich im Zuge dessen entwickelnden konkreten sozialen (und auch politischen) Zusammenhänge konstitutiv bezogen. Konstitutiv bezogen ist Kinging jedoch nicht nur auf subkulturell geprägte Reformulierungen von Geschlecht, sondern auch auf ›die‹ hegemoniale geschlechtliche Wirklichkeit – und dies nicht nur in Abgrenzung und auch nicht nur, weil zweigeschlechtliche Codes und Stilmittel 400
SCHLUSSBETRACHTUNGEN
das ›Material‹ der Umarbeitung und veränderten Aneignung darstellen, sondern auch hinsichtlich der Dimensionen, die die Qualität des Wirklichen von Geschlecht ausmachen: In der Hervorbringung alternativer Geschlechtlichkeiten als wirkliche werden dieselben Dimensionen wirksam, die auch hegemonial Geschlecht als wirklich erfahrbar werden lassen – wenn auch in einer veränderten Weise. Zentrale Stützpfeiler der zweigeschlechtlichen Wirklichkeit – die Evidenz der Sichtbarkeit, die zentrale Bedeutung von Körperlichkeit, die ebenso zentrale Bedeutung von Geschlechtsidentität, die Bedeutung der Unterscheidung zwischen ›tatsächlichen‹ und ›nur gespielten‹ oder ›vorgetäuschten‹ Geschlechtlichkeiten – werden durch Praxen des Kinging nicht vollständig außer Kraft gesetzt, sondern umgearbeitet. Sichtbarkeit – d.h. die Weisen, sich selbst zu sehen und gesehen zu werden – ist auch hier von zentraler Bedeutung; und alternative Geschlechtlichkeiten als wirklich wahrnehmen zu können, ist teilweise auch hier einer mit Sichtbarkeit verbundenen Evidenzerfahrung geschuldet (wie insbesondere am Beispiel des Sehens bebärteter Gesichter gezeigt wurde). Wahrnehmungen und Erfahrungen von Körperlichkeit sind auch im Kontext des Kinging zentral für die Wirklichkeit von Geschlecht – auch wenn die zweigeschlechtliche Strukturierung dessen aufgebrochen wird und Körper in anderer Weise bedeutet, wahrgenommen und erfahren werden. Auch die Frage nach geschlechtlicher Identität wird im Horizont des Kinging nicht obsolet. Zwar ist die Frage, wer man ›in Wirklichkeit‹ ist, im Engagement in Praxen des Kinging nicht andauernd virulent und kann – insbesondere in Performance-Praxen – situativ auch wirksam außer Kraft gesetzt werden. Dennoch wird diese Frage nicht vollständig zurückgewiesen, sondern strukturiert viele der unterschiedlichen herausgearbeiteten Formen möglicher Selbstverhältnisse. Wer man geschlechtlich ist und wer man sein kann, was als ein ›Ich‹ oder als ›Teil von mir‹ erfahrbar ist, bleibt auch hier entscheidend für die Erfahrung der eigenen Geschlechtlichkeit als wirklich – auch dann, wenn diese Frage nicht abschließend und/oder nicht begrifflich fixierend beantwortet wird und werden kann. Das durch den Begriff der Identität evozierte Terrain bleibt daher bedeutsam, auch wenn sich, wie gezeigt, geschlechtliche Selbstverhältnisse hier nicht bruchlos im Modus der Identität realisieren (im Sinne einer Bezugnahme auf Innerlichkeit, Kontinuität und Kohärenz), sondern Identität selbst in vielfältigen Prozessen der ›disidentification‹ umgearbeitet wird. Und schließlich wird die Unterscheidung zwischen ›tatsächlichen‹ und ›gespielten‹ Geschlechtlichkeiten durch Praxen des Kinging zwar teils verunklart und durchlässig, und was als das eine oder das andere erfahren wird, kann sich im Laufe der Praxis verschieben. Dennoch bleibt eine solche Unterscheidung hier 401
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relevant und strukturiert unterschiedliche Erfahrungsweisen von Geschlecht. Die Möglichkeit der Erfahrung von Geschlecht als wirklich – und damit auch die Hervorbringung einer alternativen geschlechtlichen Wirklichkeit – bleibt also auch hier bezogen auf hegemonial tradierte Dimensionen dessen, was die Wirklichkeit von Geschlecht ausmacht. Dennoch unterscheidet sich die im Horizont des Kinging konstituierte Wirklichkeit nicht nur dem ›Inhalt‹ nach von ›der‹ hegemonialen Wirklichkeit, sondern auch hinsichtlich der Qualität des Wirklichen selbst. Während die hegemoniale Zweigeschlechtlichkeit ihre Stabilität und Fraglosigkeit wesentlich der Tatsache ihrer erfolgreichen Naturalisierung verdankt, erscheint die im Horizont des Kinging erfahrbare geschlechtliche Wirklichkeit auch den in sie Involvierten nicht in der gleichen Weise als ›natürlich‹: Die Bedingtheit dieser Wirklichkeit durch soziale Kontexte, durch Beziehungen und Bezugnahmen, durch kollektiv entwickelte Praxen bleibt in der Erfahrung der Wirklichkeit selbst präsent und wird in den Interviews vielfach artikuliert und reflektiert. Die Frage nach der möglichen Wirklichkeit von ›etwas‹ ist daher eng verknüpft mit der Frage nach seiner Lebbarkeit, d.h. nach den sowohl subkulturellen als auch hegemonialen Bedingungen, die es ermöglichen, erschweren oder verhindern können, ›etwas‹ tatsächlich zu leben. Als eine nicht-naturalisierte, in ihrer gesellschaftlichen und sozialen Bedingtheit erfahrbare Wirklichkeit erscheint sie in der Tat als weniger selbstverständlich, weniger fraglos, weniger unhintergehbar und weniger stabil als ›die‹ hegemoniale Wirklichkeit. Dass die hier hervorgebrachte Wirklichkeit nicht vollständig fixiert und fraglos wird, hat darüber hinaus noch zwei weitere Gründe. Zum Einen – so wurde deutlich – werden die Grenzen zwischen dem Wirklichen und einem Bereich der Imagination, des Spiels, der Parodie oder Ironie in und durch Praxen des Kinging wiederholt verunklart und fraglich. Das mit dem Ausloten unterschiedlicher geschlechtlicher Stilmittel, Körperpraxen, Inszenierungsweisen und Rollen verbundene Vergnügen speist sich teilweise auch aus einer situativen Freiheit von den Zwängen und dem Gewicht des Wirklichen. Die Praxis folgt, so wurde gezeigt, keinem Telos vom ›Spiel‹ zur ›Wirklichkeit‹: Der Raum des spielerischen Experimentierens, in dem beständig neue Möglichkeiten entworfen werden können, ohne sie zugleich durch die Frage ihrer Realisierbarkeit zu beschränken, wird in und durch diese Praxis immer wieder offen gehalten – und damit auch eine Erfahrungsweise an den Rändern des Wirklichen. Dass die hier konstituierte Wirklichkeit nicht vollständig fraglos, stabil und unhintergehbar erscheint, ist vor allem aber (zum Zweiten) ihrer 402
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Prekarität im Horizont einer weiterhin zweigeschlechtlich strukturierten Welt geschuldet. Aufgrund der Übermächtigkeit der zweigeschlechtlichen Wirklichkeit, die auch von den in Praxen des Kinging Involvierten alltäglich in ihrer auch gewaltförmigen Wirkmächtigkeit erlebt wird, ist die hier evozierte alternative Wirklichkeit zu keiner Zeit als ›die‹ Wirklichkeit schlechthin erfahrbar. In zweigeschlechtlich strukturierten sozialen Kontexten werden die hier als wirklich konstituierten Geschlechtlichkeiten wiederholt ent-wirklicht: Sie sind oft weder darstellungspraktisch noch verbal (mit-)teilbar und verlieren teilweise auch für die Betreffenden selbst die Qualität des Wirklichen (wenn etwa Niko seine eigene Existenz beim Verwandtenbesuch als »surreal« empfindet oder wenn Filip glaubt, sich gegenüber den Eltern seiner Freundin einer ›Täuschung‹ schuldig zu machen). Gegenüber der Selbstverständlichkeit, Fraglosigkeit und Evidenz, die die Zweigeschlechtlichkeit in den meisten sozialen Kontexten genießt, lässt sich die Erfahrung einer alternativen Wirklichkeit oft nur mit Mühe oder eben gar nicht präsent halten. Dennoch wird ›etwas‹ in manchen zunächst strikt zweigeschlechtlich strukturierten Kontexten und Situationen spurenhaft wirksam. Bezüglich der möglichen Weisen, in solchen Kontexten für andere geschlechtlich in Erscheinung zu treten, wurde die Rede von ›Zonen des Sichtbarwerdens‹ vorgeschlagen – Zonen, in denen Versuche der Artikulation von ›etwas‹ einerseits und hegemonial strukturierte Wahrnehmungsweisen andererseits derart aufeinander treffen, dass weder das eine noch das andere die Situation vollständig zu strukturieren vermag. Diese Kontaktzonen unterschiedlicher geschlechtlicher Wirklichkeiten lassen sich jedoch nicht als Möglichkeitsräume einer Aushandlung unter Gleichen mit vollständig offenem Ausgang fassen. Sie sind von vorneherein strukturiert durch die Tatsache, dass die im Horizont des Kinging und ihres subkulturellen Umfelds erfahrbare Wirklichkeit als solche prekär ist – sie ist aus hegemonialer Perspektive problemlos zu leugnen oder als Hirngespinst zu behaupten, ist prinzipiell anfechtbar, unter Erklärungsund Legitimationsdruck, kaum durch Brückenköpfe in Institutionen oder im Common Sense gestützt. Umgekehrt hat ›die‹ zweigeschlechtliche Wirklichkeit – als eine strukturell, institutionell und in Alltagsroutinen, tradierten Wahrnehmungs- und Wissensweisen fest verankerte – zunächst alle Macht auf ihrer Seite: Ob es gelingt, sie zu irritieren und/oder wenigstens situativ ihres Evidenzcharakters zu berauben, ist in jeder Situation erneut fraglich, und der Versuch kann riskant sein – Reaktionen, die von einer Distanzierung über mehr oder weniger offene Formen der Missachtung oder Beschämung bis hin zu Drohungen oder gar physischer Gewalt reichen können, sind mögliche Folgen. Dennoch 403
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kann die Erfahrung einer alternativen Wirklichkeit subjektiv ermächtigend sein auch dann, wenn sie nicht (mit-)teilbar wird: Die Erinnerung daran wach zu halten kann die Selbstverständlichkeit zweigeschlechtlicher Strukturierungen relativieren und alternative geschlechtliche Selbstverständnisse so davor schützen, vollständig entwirklicht zu werden. In einer heuristisch offenen Weise nach möglichen Qualitäten des Wirklichen in Bezug auf Geschlecht zu fragen, ermöglichte es derart, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Wirklichkeit zwar konstruiert ist, aber nicht jede Konstruktion als wirklich erfahrbar wird: Nicht alles, was denkbar und vorstellbar ist, ist auf die gleiche Weise wirklich; und was in einer Situation fraglos und selbstverständlich scheint, kann unter anderen Bedingungen prekär, flüchtig oder ›irreal‹ werden. Die eingeschlagene Fragerichtung lenkte den Blick daher auf die situativen, kontextuellen und gesellschaftlichen Bedingungen, die die Erfahrung unterschiedlicher geschlechtlicher Möglichkeiten als wirklich nahelegen, erzwingen, ermöglichen, erschweren oder verhindern können. Nachdem resümiert wurde, was in meiner Arbeit im Zuge der Frage nach möglichen Qualitäten des (geschlechtlichen) Wirklichen in den Blick rücken konnte, möchte ich kurz auf die begriffliche Unschärfe des zugrunde gelegten Wirklichkeitsbegriffs zurückkommen. Gesa Lindemann widmet sich in einem Aufsatz (Lindemann 1994) dem Problem, wie Wirklichkeiten nicht nur konstruiert, sondern Konstruktionen tatsächlich Wirklichkeit werden. Auf die leibtheoretische Konzeption, die sie (im Anschluss an Plessner) zur Bearbeitung dieser Frage entwickelt, möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. Aufgreifen möchte ich lediglich eine Schlussfolgerung, die sie aus ihren an einem empirischen Beispiel geschärften theoretischen Überlegungen zieht; nämlich, dass es letztlich »kein qualitatives Kriterium für das Wirkliche« gebe (ebd.: 140) und Wirklichkeit deshalb nur als eine (von ihr leibtheoretisch begründete) Erfahrungsqualität zu rekonstruieren sei. Entscheidend für die Frage nach Wirklichkeit sei, so Lindemann, letztlich einzig »die Erfahrung, dass etwas wirklich ist und ich es als solches hinnehmen muss, da eine Widerrede nur darauf hinauslaufen würde, mir etwas vorzumachen« (ebd.: 141). Wirklich sei demnach »das, was von leiblichen Individuen in ihrer Beziehung zum Feld je situativ als das erfahren wird, was sie hinnehmen müssen, dem sie sich nicht entziehen können. Mehr lässt sich darüber nicht sagen« (ebd.: 140). Auch ich habe in dieser Arbeit mögliche Qualitäten des Wirklichen wesentlich auf der Ebene unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen in den Blick genommen. Allerdings erschien das, was auf dieser Ebene als 404
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wirklich (bzw. als Erfahrung von etwas als wirklich) rekonstruiert wurde, meist weniger zwingend und weniger unumstößlich als die von Lindemann evozierte Erfahrungsqualität: nicht unbedingt als etwas, das unweigerlich und fraglos hinzunehmen sei und von dem eine Distanzierung unmöglich sei. Die alternative geschlechtliche Wirklichkeit, deren Hervorbringung im Horizont des Kinging ich rekonstruiert habe, wird (so wurde nun mehrfach betont) weder als unhintergehbar, noch als völlig fraglos, noch als zwingend erfahren. Dennoch ist sie von Gewicht: Die Erfahrung von ›etwas‹ als wirklich wird wirksam in Selbstverhältnissen, Verkörperungen, Lebensweisen, sozialen Strukturierungen und Bezugnahmen. Die Wirkmächtigkeit dieser Erfahrung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie – für diejenigen, die sie teilen – ›die‹ hegemoniale Wirklichkeit zu relativieren vermag. Aus einem solchen Erfahrungshintergrund wird auch diese Wirklichkeit weniger evident, weniger fraglos, weniger unhintergehbar und weniger zwingend. Dieses Gewicht, diese Wirkmächtigkeit als Wirklichkeit bzw. als Effekt einer Qualität des Wirklichen zu bezeichnen, hat den Preis, dass der Begriff der Wirklichkeit hier unscharf bleibt. Darüber, was genau die Qualität des Wirklichen ausmacht, lässt sich aus meiner Perspektive notwendig noch weniger sagen als aus der von Lindemann skizzierten. Harte Kriterien wie Unhintergehbarkeit, Nicht-Relativierbarkeit oder die Unmöglichkeit reflexiver Distanznahme werden der hier mit diesem Begriff bezeichneten Erfahrungsqualität jedenfalls nicht gerecht. Einen soziologischen Wirklichkeitsbegriff systematisch zu entwickeln, der der möglichen Relativierbarkeit und Fraglichkeit unterschiedlicher Wirklichkeiten auch auf der Ebene von Alltagserfahrungen Rechnung zu tragen suchte und dennoch das besondere Gewicht des Wirklichen im Unterschied zu anderen Erfahrungsdimensionen zu markieren erlaubte, könnte eine lohnende Aufgabe weiterer Forschung sein.
2. Eine andere geschlechtliche Welt vorstellbar machen Dass sich die zweigeschlechtliche Ordnung nicht bruchlos reproduziert, sondern von Irritationen, Verfehlungen, Inkongruenzen und Rissen durchzogen ist, ist mittlerweile im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung nahezu unumstritten. ›Etwas‹ ist immer und überall: Es zeigt sich nicht nur in offensichtlichen ›Abweichungen‹ vom ›Normalen‹, sondern in vielen kleinen Momenten des Stolperns, in diffusem Unbehagen und Prozessen des Scheiterns, in Ahnungen, Wünschen und Fantasien, in den Widersprüchlichkeiten geschlechtlicher Lebensentwürfe und 405
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teils noch in den Versuchen, diese zu glätten. Sowohl im theoretischen Nachdenken über Geschlecht als auch in empirischen Untersuchungen wird diesen Phänomenen zunehmend Rechnung getragen, werden Instabilitäten, Irritationen und Inkongruenzen herausgearbeitet und betont. Welche Konsequenzen sich aus der Einsicht ergeben, dass die zweigeschlechtliche Ordnung so monolithisch nicht ist, wie es häufig den Anschein hat, bleibt dabei allerdings oft unklar. Die Frage, unter welchen Bedingungen die aufgezeigten Irritationen zum Ausgangspunkt von Artikulationen werden könnten, die tatsächlich einen Unterschied machen, anstatt immer wieder an zweigeschlechtliche Strukturierungen rückbindbar zu bleiben, tritt häufig in den Hintergrund. Meine Arbeit vertritt die These, dass ›etwas‹, um ein wirkmächtiges Gewicht zu erhalten und einen Unterschied zu machen, artikuliert, ausbuchstabiert und in kollektiven Praxen konkretisiert werden muss (wenn auch nicht notwendig in einer intentionalen und organisierten Form). Die in vielen Interviews artikulierten Erfahrungen des Unbehagens an der zweigeschlechtlichen Ordnung, die zunächst oft diffusen Gefühle, dass ›etwas nicht stimmt‹ – mit ›mir‹ oder mit der Welt –, die Ahnungen, Wünsche und Sehnsüchte, die von vielen bis in die frühe Kindheit zurückverfolgt werden können, bahnen sich ihren Weg nicht von selbst, führen nicht zwangsläufig zu Praxen und Lebensentwürfen, in denen sie ein Gewicht erhalten. Mit dem Kinging verbundene Sinnhorizonte, Praxen und soziale Zusammenhänge sind für die meisten der Interviewten nicht die einzigen, aber entscheidende Bezüge, die es ermöglichen, dem ›etwas‹ konkrete Gestalt zu geben und sich in Verkörperungen, Lebensweisen und einer kollektiven Praxis zu engagieren, die nicht nur diffus, sondern dezidiert auf einer Anfechtung zweigeschlechtlicher Strukturierungen beruhen und einen Unterschied markieren. Die These, dass ›etwas‹ kollektiv artikuliert und ausbuchstabiert werden muss, um von Gewicht zu sein, verweist zudem darauf, dass es mit einer Befreiung von den Zwängen und Einschränkungen der zweigeschlechtlichen Ordnung allein nicht getan ist. Sicherlich bleibt es eine vordringliche Aufgabe emanzipatorischer Bestrebungen, die vielfältigen Zwänge, Normierungen und Formen von Unterdrückung, die mit der gegenwärtigen heteronormativen, somatisch fundierten und hierarchisierenden zweigeschlechtlichen Verfasstheit von Geschlecht verbunden sind, sowohl in ihren institutionalisierten als auch in ihren alltagspraktisch routinisierten Formen zu kritisieren und praktisch zu bekämpfen. Aber unter dem Pflaster liegt nicht unbedingt schon der Strand: Alternative, weniger gewaltsame und zwanghafte Möglichkeiten, Geschlecht zu leben, gilt es nicht lediglich unter den Verkrustungen einer drückenden Ordnung freizulegen, sondern positiv zu entwickeln. Mit Michel 406
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Foucault (2005 [1984]) ließe sich von einer »Praxis der Freiheit« sprechen, durch die ihm zufolge die – ebenfalls notwendige – Befreiung von Herrschaft und Unterdrückung ergänzt werden müsse, um Freiheit tatsächlich zu realisieren: eine Praxis, in der andere Formen von Beziehungen, andere Selbstverhältnisse und Lebensweisen gestaltet werden können, in denen Freiheit konkretisiert und lebbar wird. Die dezidiert politische Bedeutung der im Kontext der Drag KingSzene entfalteten Praxen und Aktivitäten sehe ich daher nicht nur in der darin artikulierten Kritik der bestehenden Verhältnisse, sondern mindestens ebenso sehr in der kreativen Hervorbringung anderer geschlechtlicher Möglichkeiten. In Kapitel II dieser Arbeit wurde herausgearbeitet, wie solche Möglichkeiten in gegenöffentlichen Adressierungsweisen auch über die Szene hinaus performativ wirksam werden. Die Frage nach der Reichweite einer solchen Ver-Öffentlichung sowie nach den Chancen, darüber gesellschaftlichen Wandel anzustoßen, stand allerdings nicht im Zentrum dieser Arbeit. Der Schwerpunkt lag vielmehr darauf, zu rekonstruieren, in welcher Weise im Kontext dieser ›Gegenöffentlichkeit‹ – im Horizont der Drag King-Szene und des für sie konstitutiven, durch lesbisch-queere, feministische, links-alternative und Transgender-Bezüge geprägten Umfelds – alternative geschlechtliche Möglichkeiten konkretisiert, gestaltet und gelebt werden; wie sie in Selbstverhältnissen, wechselseitigen sozialen Bezügen, sozialen Netzwerken und sich veralltäglichenden Praxen Gestalt und Gewicht erhalten. Rekonstruiert wurde derart ein Erfahrungsraum, in dem alternative geschlechtliche Möglichkeiten bereits hier und heute als wirklich erfahrbar werden. Was bedeutet das für die Frage nach der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung? Es bedeutet zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass Möglichkeiten solcher Veränderung durch diese Erfahrung auf andere Weise vorstellbar werden können. Impulse zur Veränderung resultieren nicht allein aus dem drückenden Gewicht bestehender Verhältnisse, sondern auch aus der Vorstellbarkeit von Alternativen. Aus der rekonstruierten Erfahrung heraus erscheint die Vorstellung einer nicht strikt zweigeschlechtlich strukturierten Welt nicht im Wortsinne utopisch: Sie ist kein abstraktes Gedankenspiel, kein bloßer Traum, der auf ein fernes Nirgendwo gerichtet wäre, sondern verankert in der Erfahrung konkreter Orte, an denen Geschlecht bereits anders gelebt wird. Aus der Erfahrung einer sich bereits kontextuell und situativ abzeichnenden alternativen Wirklichkeit heraus erscheint eine andere Welt nicht nur denkbar, sondern ›wirklich‹ möglich. Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, die hier rekonstruierten Erfahrungsräume als Blaupause einer solchen möglichen zukünf407
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tigen Welt zu betrachten. Sie beruhen auf sehr spezifischen geschlechtlichen Verortungen, Verkörperungen, Erfahrungen und Interessen, die nicht ohne weiteres verallgemeinerbar sind. Die Konkretisierung der Vorstellung einer Welt, in der Geschlecht in keiner Weise Herrschaft, Zwang, Hierarchisierung, Diskriminierung, Normierung, Disziplinierung und Unterdrückung bedeuten würde, sondern für alle im Sinne einer ›Praxis der Freiheit‹ gestaltbar wäre, müsste vielmehr den vielfältigen und auch widerstreitenden Artikulationen Rechnung tragen, die aus unterschiedlichen Positioniertheiten und Erfahrungen heraus entwickelt wurden und werden. Im Horizont dieses enormen Projekts möge die hier geleistete Rekonstruktion von Praxen des Kinging und von den dadurch evozierten – und sicherlich streitbaren – Visionen einer möglichen anderen Welt als ein winziger Mosaikstein gelten.
3. Neutralisieren oder anders gestalten? Geschlecht wird in den Erfahrungsräumen und Wirklichkeiten, die in dieser Arbeit rekonstruiert wurden, nicht bedeutungslos, außer Kraft gesetzt, neutralisiert oder irrelevant: Der im Kontext des Kinging entfaltete Horizont ist nicht ungeschlechtlich, sondern verweist auf vielfältige Möglichkeiten, andere Geschlechtlichkeiten zu leben und – was nicht unbedingt das Gleiche ist – ›Geschlecht‹ selbst in einer grundsätzlich anderen Weise zu leben. Eines der Anliegen dieser Arbeit war es, konkrete, unterschiedliche Weisen des Geschlechtseins, die sich in den Interviews artikulierten, in ihrer Spezifizität zu rekonstruieren. Dabei wurden sehr verschiedene Möglichkeiten sichtbar, die weder in zweigeschlechtlichen Strukturierungen noch in tradierten Artikulationen geschlechtlicher ›Abweichungen‹ aufgehen. Filip etwa, so wurde gezeigt, entwickelt ausgehend von seiner Erfahrung, sich in der bestehenden geschlechtlichen Wirklichkeit nicht ›einordnen‹ zu können, schließlich ein Selbstverständnis als Transmann. Er gelangt zu der Überzeugung, dass es ihm wichtig ist, von anderen als Mann wahrgenommen zu werden, und er erlebt, dass er sich mit einer durch Testosteron veränderten Körperlichkeit deutlich wohler fühlt als zuvor. Zugleich lehnt er es jedoch als Zumutung ab, sich nun auch als Mann fühlen zu sollen: Er behauptet von sich, ein eher »weibliches Wesen« zu haben und möchte dies auch leben. Die Art und Weise, wie Filip sich zu seinen Wünschen, zu seiner Körperlichkeit, zu seiner Geschlechtlichkeit ins Verhältnis setzt, ist nicht organisiert durch die Vorstellung von einem ›wahren‹ (männlichen) inneren Wesen, demgegenüber der (weiblich codierte) Körper ein ›falscher‹ sei; eine Vorstellung, die vor dem Hintergrund 408
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somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit zur paradigmatischen Formulierung der Transsexualität wurde. Im Ausloten seiner Wünsche, in seinem Selbstentwurf und dessen Realisierung wird vielmehr ein Verständnis von Geschlecht praktisch wirksam, das sich offenbar von dem hegemonialen, auf eine Vereindeutigung und Kohärenz von Geschlechtskörper und -identität zielenden Verständnis unterscheidet und das, wenngleich schwer auf den Begriff zu bringen, im Horizont des Kinging und gegenwärtiger Transgender-Artikulationen sinnhaft ist. Karla/Klaus engagiert sich in Praxen, in denen ein zunächst als ›Rolle‹ erfahrener Charakter zunehmend zu einem ›Teil von mir‹ wird. Die Möglichkeit, auch für andere ›Klaus als King‹ zu sein (eine Formulierung, mit der Karla/Klaus die Seinsweise von Klaus von der eines Mannes unterscheidet), wird ihr/ihm zunehmend wichtig. Sie sieht sich jedoch nicht veranlasst, genau diese Möglichkeit in allen Beziehungen und Situationen zu leben. Er genießt es auch, in öffentlichen Räumen gegenüber Fremden als Mann durchzugehen, und hat umgekehrt kein Problem damit, für manche Leute weiterhin ›Karla‹ zu sein. Dennoch erscheint die Weise, wie Karla/Klaus Geschlecht lebt, nicht als ein beliebiges Zappen zwischen willkürlich erfundenen Möglichkeiten: In der konkreten Gestaltung ihrer/seiner Lebensweise werden sowohl frühere biographische Erfahrungen als auch sich neu artikulierende Wünsche und ein verändertes Körpererleben wirksam – in einer Weise, die sowohl die Seinsweise von ›Klaus‹ als auch von ›Karla‹ als auch die Unmöglichkeit einer trennscharfen Unterscheidung zwischen beiden prägt. Diese hier notwendig verkürzend in Erinnerung gerufenen Artikulationen stehen nur für zwei von vielen im Laufe dieser Arbeit sichtbar gewordenen Möglichkeiten, Geschlecht zu leben; Möglichkeiten, die nicht nur auf ›andere‹ oder auf mehr als zwei Geschlechter verweisen, sondern auf Geschlechtlichkeiten, die offenbar grundsätzlich ›anders‹ funktionieren, als es der Horizont heteronormativer, somatisch fundierter und hierarchisierender Zweigeschlechtlichkeit nahelegt. Der Beitrag, den derartige Rekonstruktionen konkreter alternativer Weisen des Geschlechtseins zu einer Debatte über sich gegenwärtig abzeichnende Möglichkeiten einer Veränderung von Geschlecht zu leisten vermögen, unterscheidet sich seiner Stoßrichtung nach deutlich von einem Strang der konstruktivistischen und/oder systemtheoretisch inspirierten Geschlechterforschung, der seit einigen Jahren nach der Möglichkeit einer Irrelevantsetzung oder ›Neutralisierung‹ von Geschlecht fragt. Unter Stichworten wie »Dethematisierung von Geschlecht« (Pasero 1995), »undoing gender« (Hirschauer 1994; im Anschluss daran auch Heintz/Nadai 1998) oder einem »Vergessen des Geschlechts« (Hirschauer 2001) sollen, so die Autor_innen, nach der Konzentration auf Pro409
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zesse der Aktualisierung der Geschlechterdifferenz nun Kontexte, Situationen und Prozesse in den Blick rücken, in denen Geschlecht situativ neutralisiert werden könne. Stefan Hirschauer als prominentester Vertreter dieser Perspektive fasst »Neutralisierung« bzw. »undoing gender« dabei ebenfalls als eine aktive, konstruktive Leistung, durch die die weiterhin getroffene Geschlechterunterscheidung gewissermaßen ungeschehen gemacht werde; als ein »praktiziertes ›Absehen‹« (Hirschauer 1994: 678) von der Geschlechterdifferenz, so dass deren potentielle Relevanz situativ nicht aktualisiert würde. Hirschauer entwickelt damit eine konzeptionelle Perspektive, die dazu beitragen kann, der je kontextuell und situativ unterschiedlichen Präsenz und Brisanz geschlechtlicher Strukturierungen auf die Spur zu kommen. Dass derartige Strukturierungen weiterhin wirksam sind, macht Hirschauer in seinen Texten durchgängig deutlich und benennt vor diesem Hintergrund selbst die Grenzen einer möglichen Neutralisierung von Geschlecht. So betont er, dass eine gelingende ›Neutralisierung‹ strikt zweigeschlechtlich bestimmte Geschlechtsdarstellungen nicht nur nicht aussetzt, sondern sogar voraussetzt: Um die Bedeutung von Geschlecht in Interaktionen situativ abzuschwächen, sei es notwendig, Frausein oder Mannsein in einer fraglosen, unauffälligen (und das heißt gesellschaftlichen Normen entsprechenden) Weise darzustellen. Hirschauer formuliert pointiert, dass »eine Absehung von Geschlechtszugehörigkeit […] nur durch das Umgehen ihrer Aberkennung durchgesetzt werden kann. Die Impulse, als ungeschlechtliche Person handeln zu wollen, stehen unter der Drohung, eine geschlechtliche Unperson zu werden.« (Ebd.: 679; Herv. i.O.) Auf diesen Aspekt geht Hirschauer in seinen weiteren Ausführungen allerdings nicht mehr ein: Ungeachtet der steten Präsenz einer solchen Drohung hält Hirschauer daran fest, von einer »möglichen Neutralität« von Geschlecht (ebd.: 671) für bestimmte soziale Situationen auszugehen. Ebenso macht Hirschauer deutlich, dass die mögliche Neutralisierung auch auf die stets aktualisierbare Möglichkeit der Hierarchisierung der zwei Geschlechter konstitutiv bezogen bleibt – als eine aktive Strategie, einer solchen Aktualisierung entgegenzuwirken. Vor diesem Hintergrund und im Anschluss an Hirschauer können Bettina Heintz und Eva Nadai (1998) zeigen, dass die Mühen der Neutralisierungsarbeit vor allem jenen obliegen, die unter einer Aktualisierung der Differenz zu leiden hätten – d.h. insbesondere ›Frauen‹. Dass gerade der Blick auf Bestrebungen einer ›Neutralisierung‹ von Geschlecht die Wirkmächtigkeit einer strukturellen, hierarchisierenden Zweigeschlechtlichkeit einmal mehr bestätigt, hindert Hirschauer jedoch nicht daran, seinen Ansatz in teils polemischer Abgrenzung gegenüber Konzeptionen der feminis410
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tischen Frauenforschung als produktive Überwindung der Annahme einer »Omnirelevanz von Geschlecht« (Hirschauer 1994: 671) zu behaupten. Und mehr noch: Ungeachtet der auch von ihm aufgezeigten konstitutiven Bedeutung geschlechtlicher Strukturierungen für die fokussierten Neutralisierungsbestrebungen legt Hirschauer nahe, dass in diesen bereits die Möglichkeit einer zukünftigen Welt aufscheine, in der Geschlecht insgesamt an Relevanz verlöre. Ein möglicher Schritt in diese Richtung wäre ihm zufolge offenbar die Herausbildung sozialer Bezugnahmen, durch die »die Geschlechtszugehörigkeit als Privatsache aus den meisten Begegnungen aus[ge]klammert« würde (2001: 231f.). Geschlecht als Privatsache ›ausklammern‹, von Geschlecht ›absehen‹: So interessant es sein mag, die Bedeutung derartiger Praxen im Horizont gegenwärtiger Interaktionsordnungen genauer zu betrachten, so wenig scheint mir ein solcher Fokus geeignet, der Wirkmächtigkeit heteronormativer, somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit im Interesse ihrer möglichen Überwindung gerecht zu werden; einer Wirkmächtigkeit, die nicht nur soziale Situationen und Interaktionen, sondern auch Selbstverhältnisse, Verkörperungen und subjektive Welterfahrungen nach wie vor strukturiert. Meiner Einschätzung nach bergen weder empirisch vorfindliche Routinen des ›Absehens‹ von Geschlecht noch ihre soziologische Reflexion eine begründete Hoffnung in sich, dass Geschlecht in absehbarer Zeit bedeutungslos werden könnte. Eine vollständig ungeschlechtliche Welt scheint mir aus einer gegenwärtigen Perspektive heraus in der Tat utopisch zu sein. Anstatt dort hinzusehen, wo von Geschlecht abgesehen wird, scheint es mir lohnender, in den Blick zu nehmen, wo und wie es möglich ist, Geschlecht anders zu sehen und anders geschlechtlich zu sehen: wo und wie im Zusammenspiel von kollektiven Praxen, kontextuellen Strukturierungen, Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen, wechselseitigen Bezugnahmen und möglichen Selbstverhältnissen andere Geschlechtlichkeiten auftauchen können und Geschlecht anders gelebt werden kann. In den Blick rücken könnten derart nicht ›nur‹ subkulturell geprägte und vergleichsweise ›offensichtliche‹ praktische Reformulierungen von Geschlecht, wie in dieser Arbeit geschehen. Zu untersuchen wäre auch, ob, wo und wie sich in den Ritzen und an den Rändern einer zunächst zweigeschlechtlich strukturierten ›Alltäglichkeit‹ Praxen, Selbstverhältnisse und Bezugnahmen ausmachen lassen, in denen sich ein anderes Verständnis von Geschlecht abzeichnet – und unter welchen Bedingungen dieses ›Andere‹ tatsächlich einen Unterschied zu machen vermag.
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