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German Pages [457] Year 2021
Thomas Sandkühler Angelika Epple Jürgen Zimmerer (Hg.)
GESCHICHTSKULTUR DURCH RESTITUTION? Ein Kunst-Historikerstreit
Beiträge zur Geschichtskultur begründet von Jörn Rüsen herausgegeben von Stefan Berger, Angelika Epple, Thomas Sandkühler, Holger Thünemann und Marcus Ventzke Band 40
Thomas Sandkühler / Angelika Epple / Jürgen Zimmerer (Hg.)
Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit
BÖHLAU VERLAG WIEN ⋅ KÖLN ⋅ WEIMAR
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses
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© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung unten: Gedenkkopf eines Königs, Benin, Nigeria, 16. Jh., Gelbguß (Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, © akg-images). Oben: Humboldt-Forum, West- und Südfassade im Mai 2019 (© SHF) Korrektorat: Ute Wielandt, Markersdorf Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51862-2
Inhalt
Thomas Sandkühler / Angelika Epple / Jürgen Zimmerer Restitution und Geschichtskultur im (post-)kolonialen Kontext: Facetten einer schwierigen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
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Positionen
Erhard Schüttpelz Der kurze Moment der Restitutionsdebatte und seine Lange Dauer. Ein Zwillingstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Brigitta Hauser-Schäublin Provenienzforschung zwischen politisierter Wahrheitsfindung und systemischem Ablenkungsmanöver . . . . . . .
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Rebekka Habermas Rettungsparadigma und Bewahrungsfetischismus: Oder was die Restitutionsdebatte mit der europäischen Moderne zu tun hat . .
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Hermann Parzinger Shared Heritage als Chance. Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes ist mit Rückgaben allein nicht erledigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Hartmut Dorgerloh Building Bridges – Das Humboldt Forum in Berlin. Es geht um das Wie in der Ausstellungs- und Programmarbeit: Wie Teilhabe in Vielstimmigkeit neues Bewusstsein schaffen kann . . . . . 113 Mirjam Brusius Dekolonisiert die Museumsinsel! Museumsnarrative, Rassentheorie und Chancen einer viel zu stillen Debatte . . . . . . . . . 125
II.
Fallstudien
Benno Nietzel Kulturgutschutz in Europa seit dem 19. Jahrhundert zwischen Verrechtlichung und Kolonialpraxis. Historische Bemerkungen zur aktuellen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
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Inhalt
Till Förster Alternativen zur Restitution? Lokale Perspektiven auf ein globales Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Flower Manase Restitution and Repatriation of Objects of Colonial Context. The Status of Debates in Tanzania, Uganda, and Kenya National Museums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Safua Akeli Amaama Restitution and Dialogue Towards Collaboration. Some Considerations from Samoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Osarhieme Benson Osadolor The Benin Sculptures. Colonial Injustice and the Restitution Question . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Lukas H. Meyer Gerechtigkeit in der Zeit. Die zukunftsorientierte Begründung der Rückgabe des Padrão von Deutschland an Namibia . . . . . . . . . . 223
III.
Deutschland postkolonial?
Andreas Eckert Die „Wiederentdeckung“ des deutschen Kolonialismus . . . . . . . . . . 245 Thomas Thiemeyer Deutschland postkolonial. Genealogische und kosmopolitische Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 David Simo Formen und Funktionen des Gedächtnisses der Kolonisation. Das Humboldt Forum und das postkoloniale Deutschland . . . . . . . 281 Viola König Das Humboldt Forum als Katalysator? Ein Blick in die Geschichte von Sammlungen und Disziplinen, Zuständigkeiten und Haltungen, Kolonialismusdebatte und Restitutionspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
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Inhalt
IV.
Rechtsgeschichte und Geschichtskultur
Sheila Heidt Koloniales Unrecht, Rückgabeforderungen und Provenienzforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Matthias Goldmann / Beatriz v. Loebenstein Alles nur geklaut? Zur Rolle juristischer Provenienzforschung bei der Restitution kolonialer Kulturgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Judith Hackmack / Wolfgang Kaleck Warum restituieren? Eine rechtliche Begründung . . . . . . . . . . . . . . 385 Bettina Brockmeyer Ein Zahn, ein Film und eine Geschichte? Überlegungen zur Rolle der Geschichtswissenschaften in den Restitutionsdebatten . . . 411 Christoph Zuschlag Provenienz – Restitution – Geschichtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Verzeichnis der Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
Thomas Sandkühler / Angelika Epple / Jürgen Zimmerer
Restitution und Geschichtskultur im (post-)kolonialen Kontext: Facetten einer schwierigen Debatte
1. Koloniale Aneignung Am 5. Juni 1799 erreichte Alexander v. Humboldt auf seiner großen Reise nach Südamerika Venezuela. Zehn Jahre zuvor hatte er bei dem berühmten Göttinger Wissenschaftler Johann Friedrich Blumenbach Vergleichende Anatomie studiert. Seinem ehemaligen Lehrer blieb er treu verbunden und unterstützte tatkräftig dessen ehrgeiziges Projekt, menschliche Schädel aus der ganzen Welt zusammenzutragen. So auch in Venezuela. In seinem Tagebuch vermerkte er: „Wir suchten recht charakteristische Schädel für [Johann Friedrich] Blumenbach und öffneten daher viele Mapire [Körbe]. Armes Volk, selbst in den Gräbern stört man deine Ruhe! Die Indianer sahen diese Operation mit großem Unwillen an, besonders ein paar Indianer von Guaicia, welche kaum vier Monate lang weiße Menschen kannten. Wir sammelten Schädel, ein Kinderskelett und zwei Skelette erwachsener Personen.“ 1
Nur selten finden sich Passagen in den Texten europäischer Weltreisender, in denen auf Europäer als „weiße Menschen“ Bezug genommen wird. Die farbliche Codierung wird in kolonialen Kontexten meist Menschen anderer Weltregionen zugeschrieben. Der kurze Perspektivenwechsel, mit dem Humboldt einen Blick auf die Europäer als fremde Eindringlinge wirft, lässt die irritierende Widersprüchlichkeit des Kolonialismus als eines auf Gewalt, Unterdrückung und Vernichtung gegründeten Systems aufblitzen. Humboldt war überzeugter Abolitionist und zugleich ein Akteur innerhalb globaler Machtverhältnisse, die zu stützen er in vielfacher Hinsicht beitrug. 2 1 Zit. n. Margot Faak (Hrsg.): Alexander von Humboldt: Reise durch Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern. Berlin 2000, S. 324 f. Übersetzung aus dem französischen Original. 2 Vgl. Angelika Epple: Inventing White Beauty and Fighting Black Slavery. How Blumenbach, Humboldt, and Arango y Parreño Contributed to Cuban Race Comparisons
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Ungeachtet aller berechtigten moralischen Zweifel, die in dem Zitat ausgesprochen werden, fährt Humboldt mit den Ausgrabungen fort: „Die Nacht brach ein, indem wir noch unter den Knochen wühlten.“ Mithilfe seines weltweiten Netzwerks – und dank der Royal Navy, die Forschungsreisende und deren Fundstücke transportierte 3 – gelang es Johann Friedrich Blumenbach, eine in der damaligen Gelehrtenwelt viel beachtete Sammlung von über 200 menschlichen Schädeln in Göttingen zusammenzutragen. Bis heute liegen sie in dem Archiv des Zentrums für Anatomie der Georg-August-Universität zu Forschungszwecken. Szenenwechsel: Hundert Jahre nach Humboldt, ein anderer Akteur, ein vergleichbarer Kontext. Felix v. Luschan, einflussreicher Direktor der Afrika- und Ozeanien-Abteilungen des Berliner Museums für Völkerkunde, arbeitet mit Nachdruck am Aufbau ‚seiner‘ Sammlungen. Dazu bedient er sich bewusst der Mittel des kolonialen Staats, seit 1884 ist das Deutsche Reich schließlich auch formal Kolonialmacht. Schon 1897 schrieb ihm der Arzt Richard Kandt aus dem wenige Jahre vorher unter deutschen ‚Schutz‘ gestellten Ostafrika, „[ü]berhaupt ist es sehr schwer einen Gegenstand zu erhalten, ohne zum mindesten ein wenig Gewalt anzuwenden“, was Kandt zu der Prognose führte: „Ich glaube, dass die Hälfte Ihres Museums gestohlen ist.“ 4 Als Luschan 1905, nur drei Jahre nach dem Ende des ‚Burenkriegs‘, ins nun britische südliche Afrika reiste, nutzte er die Gelegenheit, um selbst dort „Menschen zu vermessen und Objekte für das Berliner Völkerkundemuseum zu erwerben.“ Wie selbstverständlich bediente sich Luschan der Macht der konkurrierenden Kolonialmacht. Seine Forschungen führte er in Polizeirevieren, Passämtern und Gefängnissen durch, also an Orten, die den Kolonisierten keine Möglichkeit ließen, sich „den erniedrigenden Praktiken Luschans und anderer Forscher, die ihm vorausgegangen waren oder nachfolgen würden, zu entziehen.“ 5 Szenenwechsel: 2011 in Kairo: Luschans ägyptischer Kollege Zahi Hawass, langjähriger Direktor des Supreme Council of Antiquities, der zenin the Long Nineteenth Century. In: Dies./Walter Erhart / Johannes Grave (Hrsg.): Practices of Comparing. Towards a New Understanding of a Fundamental Human Practice. Bielefeld 2020, S. 295–328, https://www.transcript-verlag.de/978-3-83765166-9/practices-of-comparing/?c=331021469 (aufgerufen am 4. 12. 2020). 3 Julia Angster: Erdbeeren und Piraten. Die Royal Navy und die Ordnung der Welt, 1770–1880. Göttingen 2012. 4 Zit. n. Regina Sarreiter: „Ich glaube, dass die Hälfte ihres Museums gestohlen ist.“ In: Dies./Anette Hoffmann / Britta Lange: Was Wir Sehen. Bilder, Stimmen, Rauschen. Zur Kritik anthropometrischen Sammelns. Begleitende Publikation zur Ausstellung „Was Wir Sehen“ im Pergamon-Palais der Humboldt-Universität zu Berlin, 15.5-6. 7. 2012. Basel 2012, S. 43–58, hier S. 53, 56. 5 Ebd., S. 53.
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tralen Verwaltung archäologischer Besitzungen in Ägypten, fordert öffentlichkeitswirksam die Rückgabe der im Berliner Neuen Museum ausgestellten Büste der Nofretete. 6 Sie war 1912 von Ludwig Borchardt und seinem Team in Amarna ausgegraben und im Zuge einer sogenannten Fundteilung nach Deutschland gebracht worden. Es gab sowohl konkrete Vorwürfe des Betrugs bei dieser Aufteilung archäologischer Funde als auch grundsätzliche, da nicht nur Ägypten damals unter britischer Herrschaft stand, sondern die staatliche ägyptische Antikenverwaltung von Franzosen geleitet wurde. Die Europäer hätten sich selbst also die Regeln gegeben, nach denen sie anschließend die archäologischen Funde untereinander aufteilten, so der Vorwurf. Rückgabeforderungen hatte es schon unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs gegeben. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, gegenwärtige Besitzerin der Büste, lehnte ab. 7 Selbst Bitten Ägyptens, die Nofretete leihweise an den Nil zu schicken, wird deutscherseits nicht entsprochen. Zu groß ist die Angst, die Nofretete käme nicht mehr zurück. Szenenwechsel: Das Humboldt Forum, die soeben fertiggestellte Rekonstruktion des Hohenzollern-Schlosses in der Berliner Stadtmitte, wird als neues Museum die Bestände des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst übernehmen, beide bislang in Berlin-Dahlem beheimatet und als staatliche Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz angehörend. Über die koloniale Signatur der Kunst- und Kulturschätze dieser Museen ist eine heftige Debatte entbrannt. Wenige Tage vor Eröffnung des Humboldt Forums aktivierte der nigerianische Botschafter in Deutschland seine bereits 2019 an die deutsche Regierung übergebene Forderung nach Rückgabe der Benin-Bronzen. 8 Es handelt sich um Kunstgegenstände aus dem ehemaligen Königreich Benin, heute Nigeria, die 1897 bei einer als ‚Strafaktion‘ gerechtfertigten britischen Invasion geraubt wurden und heute auf verschiedene Museen weltweit verteilt sind. 9 Die größten Sammlungen befinden sich im British 6 Gert v. Paczensky / Herbert Ganslmayr: Nofretete will nach Hause. Europa, Schatzhaus der ‚Dritten Welt‘. München 1984; Bénédicte Savoy (Hrsg.): Nofretete. Eine deutsch-französische Affäre 1912–1931. Köln u. a. 2011; Joyce Tyldesley: Mythos Nofretete. Die Geschichte einer Ikone. Stuttgart 2019; vgl. auch die Beiträge von Mirjam Brusius, Viola König, Matthias Goldmann / Beatriz v. Loebenstein sowie Christoph Zuschlag im vorliegenden Band. 7 http://www . preussischer - kulturbesitz . de / meldung / article / 2011 / 01 / 24 / pressemeldung-zur-bueste-der-nofretete.html (aufgerufen am 21. 12. 2020). 8 Paul Starzmann: Raubkunst-Streit überschattet Eröffnung des Humboldt-Forums. In: Der Tagesspiegel, 11. 12. 2020, https://www.tagesspiegel.de/politik/nigeria-willbenin-bronzen-zurueck-raubkunst-streit-ueberschattet-eroeffnung-des-humboldtforums/26707296.html (aufgerufen am 3. 1. 2021). 9 Vgl. den Beitrag von Osarhieme Osadolor im vorliegenden Band. Osadolor ist auch Mitglied des von Jürgen Zimmerer geleiteten und von der Gerda-Henkel-Stiftung
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Museum in London und im Ethnologischen Museum in Berlin. Von den 580 Bronzen, die sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs in der deutschen Hauptstadt befanden, sind heute nach eigenen Angaben noch 440 im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. 10 In mehr als einer Weise sind die Benin-Bronzen emblematisch für das Thema koloniale Raubkunst geworden. Zum einen gehören sie vermutlich zu den ersten afrikanischen Objekten, die in Europa als Kunst anerkannt wurden und somit den – rassistischen – Blick auf Afrika veränderten, dessen Bewohner*innen man bis dahin bestenfalls Befähigung zum Kunsthandwerk zugetraut hatte. Zum anderen wurden sie ikonisch für das Thema koloniale Beutekunst; zu ihnen hatte es bereits seit der – zumindest zeremoniellen – Wiedereinsetzung des Oba von Benin nach dem Ersten Weltkrieg Rückgabeforderungen gegeben. Die ersten Rückgabeforderungen an Deutschland gab es bereits 1972. 11 Konkret geschehen ist nichts.
2. Traditionen der Restitutionsdebatte In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Debatte um die Restitution afrikanischer Kunstschätze erst neuerdings in Gang gekommen. Ohne Zweifel stellten die diesbezügliche Rede des französischen Staatspräsidenten Macron und die in seinem Auftrag erstellte Expertise der Wissenschaftler*innen Felwine Sarr und Bénédicte Savoy eine Zäsur dar. Die Debatte um die Rückkehr von Objekten, die sich Europäer unter kolonialen Bedingungen angeeignet hatten, ist jedoch so alt wie die Aneignungen selbst. Und auch in Europa wurden diese Debatten über und Forderungen nach Rückgabe sehr viel länger wahrgenommen und geführt, als es gegenwärtig erscheinen mag. Schon 1972 bat etwa der Direktor der nigerianischen Antikenbehörde, der Archäologe Ekpo Eyo, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz unter finanzierten deutsch-nigerianischen Forschungsprojekts „Die Benin-Bronzen. Die Globalisierung des kolonialen Kunstraubs“, vgl. https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/ benin_bronzen?nav_id=9412 (aufgerufen am 10. 12. 2020). 10 Felix von Luschan und die Benin-Sammlung. In: Freunde des Ethnologischen Museums e. V., 17. 1. 2018 (http://www.ethnofreunde-berlin.de/felix-von-luschan-und-diebenin-sammlung/, aufgerufen am 10. 12. 2020); Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage v. 22. 8. 2019 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema ‚BeninBronzen‘ in den Beständen bundesbezuschusster kulturgutbewahrender Einrichtungen, 12. 9. 2019 (https://kappertgonther.de/wp-content/uploads/2019/09/RS_KleineAnfrage-19_12576.pdf, aufgerufen am 10. 12. 2020), S. 2. 11 Bénédicte Savoy: Ein Fall von Verschleppung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 12. 2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/verschleppungbenedicte-savoy-zur-rueckgabe-der-benin-bronzen-17101862.html (aufgerufen am 20. 12. 2020).
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Bezugnahme auf entsprechende Empfehlungen des Internationalen Museumsverbands um Dauerleihgaben von Objekten zur Ausstellung in den Museen seines 1960 unabhängig gewordenen Staats. 12 Offenbar scheiterte dies trotz anfänglicher Unterstützung durch das Auswärtige Amt am Widerstand der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Die angekündigte breitere Debatte wurde nie geführt. Die Dekolonisation weiter Teile der Welt, die allein im Jahr 1960 zur Unabhängigkeit von 17 Staaten führte, stellte auch die Frage nach dem Eigentum an Kunstobjekten neu. So trat der Präsident Zaires, Mobutu Sese Seko, auf der UN-Generalversammlung 1973 für eine UN-Resolution zur Rückgabe ein: „In der Kolonialzeit hatten wir nicht nur unter Kolonialismus, Sklaverei und wirtschaftlicher Ausbeutung zu leiden, sondern wir litten auch und in erster Linie an der barbarischen und systematischen Plünderung all unserer Kunstschätze. Auf diese Weise eigneten sich die reichen Länder das Beste von uns an, unsere einzigartigen Kunstschätze, und wir wurden daher nicht nur im ökonomischen Sinne arm, sondern verarmten auch kulturell. [. . .] Ich bitte diese Generalversammlung um die Annahme einer Resolution, mit der sie die reichen Länder, welche Kunstschätze der armen Länder besitzen, auffordert, einige von ihnen zurückzugeben, so daß wir unseren Kindern und Kindeskindern die Geschichte ihrer Länder vermitteln können.“ 13
Insbesondere da die Resolution eine (generelle) Wiedergutmachungspflicht der (ehemaligen) Kolonialmächte andeutete, stieß sie auf Widerstand. In den Folgejahren wurde sie immer weiter verwässert und erst nach inhaltlicher Bedeutungslosigkeit konsensfähig. 14 Der internationale Druck war allerdings auch in Deutschland zu spüren, etwa als die damalige Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Hildegard Hamm-Brücher, noch Anfang der 1980er-Jahre Verständnis „für den Wunsch vieler Länder der Dritten Welt, Kulturgut, das für ihre nationale Identität von Bedeutung ist, zurückzuerhalten“ äußerte. 15 Die Beharrungskräfte waren stärker. Sie speisten sich aus einer in den letzten vierzig Jahren vergleichsweise konstanten Argumentationslinie: Eine Pflicht zur Restitution gebe es historisch nicht. Die Objekte gehörten zum Welterbe und sollten nicht in den Dienst des Nationalismus der
12 Ebd. 13 Zit. n. Thomas Fitschen: 30 Jahre ‚Rückführung von Kulturgut‘. Wie der Generalversammlung ihr Gegenstand abhanden kam. In: Vereinte Nationen. Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen (2004) H. 2, S. 46–51, hier S. 46. 14 Ebd., passim. 15 Hildegard Hamm-Brücher am 11. 8. 1982, zit. n. Moritz Holfelder: Unser Raubgut. Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte. Berlin 2019, S. 51.
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postkolonialen Staaten gestellt werden. Sie würden von den Museen des Globalen Nordens vor der ansonsten drohenden Vernichtung bewahrt. So betonte beispielsweise der Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, Stephan Waetzoldt, Ende der 1970er-Jahre: „[D]em Nationalismus der Entwicklungsländer nachzugehen, vielleicht um kurzfristiger politischer Soforterfolge willen“, sei „unverantwortlich“.
Der Direktor des Hamburgischen Museums für Völkerkunde, Jürgen Zwernemann, rechtfertigte diese Position mit den Worten: „Vieles von dem, was heute in den Museen Europas und Nordamerikas bewahrt wird, wäre in seinen Ursprungsländern längst verfallen“. 16
Ganz in dieser Tradition stehend argumentierte auch Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, anlässlich der Einhundertjahrfeier der Entdeckung Nofretetes im Jahr 2012: „Für mich ist entscheidend, dass dieses Dinge gemäß den damaligen Gesetzen völlig rechtens abgelaufen sind“,
um fortzufahren: „Nofretete ist Teil des kulturellen Erbes der Menschheit. Eine Rückgabe einfach so aus Großmut halte ich ganz grundsätzlich nicht für vertretbar [. . .].“ 17
In den letzten Jahren wurden jedoch auch andere Standpunkte in der öffentlichen Diskussion lauter. So widmete beispielsweise der Deutsche Museumsbund seine Jahrestagung 2015 sehr grundsätzlich dem Thema kolonialer Provenienzen. Dort wurde auch auf den generellen Unrechtscharakter der kolonialen Situation hingewiesen und die Forderung nach einer Beweislastumkehr zulasten der Museen des Globalen Nordens formuliert. 18 Der Vorwurf, mit der Forderung nach Restitution allein auf „politische Soforterfolge“ zu zielen, wie er Ende der 1970er-Jahre geäußert wurde, ereilte auch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Macron hatte am 28. November 2017, am Vorabend des Afrika-Europa-Gipfels an der Universität von Ouagadougou, der Hauptstadt des westafrikanischen Burkina Faso, erklärt: 16 Beide Zitate nach: Eingepackt – und ab in den Louvre. In: Der Spiegel 3. 12. 1979, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39867543.html (aufgerufen am 28. 12. 2020). 17 „Wir verschweigen nichts“. Hermann Parzinger im Gespräch mit Marco Evers u. Ulrike Knöfel. In: Der Spiegel, 3. 12. 2012, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d89932590.html (aufgerufen am 29. 12. 2020). 18 Die Biografie der Objekte. Provenienzforschung weiter denken. Jahrestagung des Deutschen Museumsbundes, Essen 3.5.-6. 5. 2015; die genannte Forderung bei Jürgen Zimmerer: Kulturgut aus der Kolonialzeit. Ein schwieriges Erbe? In: Museumskunde 80 (2015) H. 2, S. 22–25.
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„Ich gehöre einer Generation von Franzosen an, für die die Verbrechen der europäischen Kolonialisierung unbestreitbar und Teil unserer Geschichte sind. Daher weigere ich mich, immer wieder auf dieselben Darstellungen der Vergangenheit zurückzukommen. [. . .] Das wichtigste Heilmittel ist die Kultur – und in diesem Zusammenhang kann ich nicht mehr länger akzeptieren, dass ein großer Teil des kulturellen Erbes mehrerer afrikanischer Länder in Frankreich verwahrt wird. [. . .] Das afrikanische Erbe darf sich nicht länger zu großen Teilen in privaten Sammlungen und europäischen Museen befinden. [. . .] Ich möchte, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre die Voraussetzungen für eine vorübergehende oder endgültige Rückgabe des künstlerischen Erbes an Afrika geschaffen werden.“ 19
Unbeschadet aller sonstigen damit verfolgten politischen Ziele stieß der Präsident die Tür zu einer weiteren Intensivierung der Debatte auf, vor allem, als er mit dem senegalesischen Wirtschaftswissenschaftler und Künstler Felwine Sarr und der in Berlin lehrenden Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy keine Regierungskommission, keine Museumsleute, sondern zwei Intellektuelle und Wissenschaftler*innen mit einem Bericht über das in Frankreich verwahrte Raubgut und die Möglichkeiten seiner Rückgabe betraute. Savoy hatte ursprünglich einem Expertenbeirat des Humboldt Forums angehört. Im Juli 2017 trat Savoy aus diesem Gremium zurück, indem sie das geplante Museum mit dem havarierten Atomreaktor von Tschernobyl verglich, die atomare Strahlung mit den Nachwirkungen kolonialer Raubpraktiken. 20 Der von Sarr und Savoy im November 2018 vorgelegte Bericht ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. 21 Schon die Zahlen erschütterten. Nach Einschätzung der Autorin und des Autors befinden sich 95 Prozent aller afrikanischen Kulturobjekte in Europa oder allgemein im Globalen Norden. Einzelne Museen horteten eine enorme Menge an Objekten, die niemals ausgestellt wurden. Zur Überraschung vieler in Deutschland: Die einschlägigen Berliner Museen rangierten mit 75.000 Exponaten kolonialer Provenienz in einer Spitzengruppe, zu der auch das Pariser Musée du
19 Zit. n. Holfelder (Anm. 15), S. 16 f. 20 Bénédicte Savoy: „Das Humboldt-Forum ist wie Tschernobyl“. In: Süddeutsche Zeitung, 20. 7. 2017, https://www.sueddeutsche.de/kultur/benedicte-savoy-ueber-dashumboldt-forum-das-humboldt-forum-ist-wie-tschernobyl-1.3596423?reduced= true (aufgerufen am 12. 12. 2020), vgl. auch den Beitrag von Viola König im vorliegenden Band. 21 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle. Paris 2018; Dies.: The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics. Paris 2018 (http://restitutionreport2018.com/sarr_savoy_en.pdf, aufgerufen am 12. 12. 2020), leicht gekürzte deutsche Fassung: Dies.: Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Berlin 2019.
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quai Branly (70.000) und das British Museum in London (69.000) gehörte, ganz zu schweigen vom Brüsseler Königlichen Museum Zentralafrikas in Tervuren, das nicht weniger als 180.000 Exponate aus belgischer Kolonialzeit beherberge. 22 Vollständigkeit strebte der Bericht nicht an. In Deutschland kommen noch die vielen Museen außerhalb Berlins hinzu, die teilweise erhebliche Sammlungen aufweisen, etwa in Hamburg, Leipzig, Köln oder München. Nicht nur die Umstände des Erwerbs seien moralisch fragwürdig, so Sarr und Savoy. Vielmehr verlange die Tatsache, dass in Afrika quantitativ nur Bruchteile dieser europäischen Sammlungen vorhanden seien, mit der Folge, dass Afrikaner*innen ihre eigene Kultur und Geschichte nur in den Museen des Globalen Nordens bestaunen und studieren könnten 23, nach einer neuen Ethik im Umgang mit Afrika im Allgemeinen, den Sammlungen im Speziellen. Der Bericht sorgte weltweit für Aufmerksamkeit und erhöhte den Druck vor allem in Deutschland, wo das Thema des Umgangs mit dem kolonialen Erbe eine vorher nicht verspürte Dringlichkeit erhielt. Einerseits war durch die vorangegangene Debatte um nationalsozialistische Raubkunst, die vor allem durch den „Fall Gurlitt“ ausgelöst wurde, sowie über die Kontinuität zwischen dem kolonialdeutschen Völkermord an den Herero und Nama – seit 2015 verhandelt Deutschland offiziell mit Namibia über Entschädigungsleistungen sowie eine Entschuldigung für deutsche Verbrechen – und den nationalsozialistischen Genoziden ein geschichtspolitischer Boden bereitet. Andererseits intensivierte der Bericht von Sarr und Savoy die schon länger andauernde Debatte um das koloniale Erbe des Humboldt Forums, in der sich beide Themenkomplexe, ‚Raubkunst‘ und koloniale Massenverbrechen, zusammengeführt sahen. Die schiere Größe und symbolpolitische Bedeutung des Humboldt Forums führten dazu, dass aus Richtung Öffentlichkeit und Medien ein „perfect storm“ blies, der die Fundamente des wiederaufgebauten Hohenzollernschlosses erschütterte oder doch jedenfalls hätte erschüttern können. Hatte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz Kritik an der kolonialen Provenienz von Exponaten des künftigen Humboldt Forums wenige Wochen vor Macrons Rede zunächst noch als „das Sommerlochthema des Jahres 2017“ abgetan, 24 reagierte die Bundesregierung auf die bevorstehende
22 Sarr / Savoy, Restitution (Anm. 21), S. 15. 23 Diese Möglichkeit ist durch die finanzielle Situation und Visabestimmungen zudem eingeschränkt. 24 Savoy (Anm. 20); Jürgen Zimmerer: Der Kolonialismus ist kein Spiel. Die Verantwortlichen für das Humboldt-Forum haben noch nicht verstanden, welche Objekte
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Veröffentlichung des Sarr-Savoy-Berichts proaktiv. Nachdem die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Monika Grütters, den Deutschen Museumsbund 2017 mit einer detaillierten Handreichung zum Umgang mit Sammlungen aus kolonialen Kontexten beauftragt hatte, 25 lud sie im Mai 2018 eine informelle Expert*innengruppe zur Besprechung u. a. über die Macron-Initiative ins Bundeskanzleramt. Im Ergebnis setzte man dort auf die Bürokratisierung der Restitutionsfrage durch langwierige Recherchen zur Provenienzforschung, statt die Chance eines symbolischen Bekenntnisses zur Rückgabe zu nutzen. 26 Im Vagen und Ungefähren verblieb auch die – digitale – Teileröffnung des Humboldt Forums am 16. Dezember 2020. Das Versäumnis vor allem der politisch Verantwortlichen, die Frage des Umgangs mit geraubten Objekten aus kolonialen Kontexten grundsätzlich vor der Eröffnung zu regeln, führte dazu, dass auch in der Eröffnungswoche selbst die Frage nach der Restitution kolonialer Objekte in der Öffentlichkeit präsent war. 27 Mehr als Lippenbekenntnisse zu einem Dialog auf Augenhöhe und das Versprechen, sich um schwierige Themen wie das koloniale Erbe nicht herumzudrücken, war angesichts dieser programmatischen Ungenauigkeit der vorangegangenen Monate und Jahre allerdings nicht zu erwarten. Ein Zentrum „im Geiste der Aufklärung, der Weltoffenheit und der Toleranz“ solle das Humboldt Forum sein, hieß es in der Eröffnungsrede von Kulturstaatsministerin Grütters: „[I]ch denke, es sagt eine Menge über das Selbstverständnis Deutschlands im 21. Jahrhundert, dass wir hier nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern den Kulturen Afrikas, Amerikas, Asien, Ozeaniens und ihren unterschiedlichen Weltanschauungen eine Bühne bieten. Für den Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten – für die Darstellung der Herkunfts-
sie zeigen wollen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 8. 2017, https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/170809_faz_FD12017080951993771.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020); Einladung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz v. 25. 8. 2017 zu einer Debatte über Provenienzforschung („Gehört Provenienzforschung zur DNA des Humboldt Forums?“), zit. n. Bénédicte Savoy: Der Savoy / Sarr Restitutions-Report zur kolonialen Raubkunst: ein Jahr danach, Vortrag in Hamburg, 8. 1. 2020 (Min. 26:20), https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/l/5179/(aufgerufen am 11. 1. 2021). 25 Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, hrsg. vom Deutschen Museumsbund. Die unterschiedlichen Fassungen, die in einem konsultativen Prozess erstellt wurden, finde sich hier: https://www.museumsbund.de/publikationen/leitfaden-zum-umgang-mit-sammlungsgut-aus-kolonialen-kontexten/ (aufgerufen am 3. 1. 2021). 26 Jürgen Zimmerer: Die größte Identitätsdebatte unserer Zeit. In: Süddeutsche Zeitung, 20. 2. 2019, https://www.sueddeutsche.de/kultur/kolonialismus-postkolonialismushumboldt-forum-raubkunst-1.4334846 (aufgerufen am 3. 1. 2021). 27 Starzmann (Anm. 8).
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geschichten, für den Zugang zu den Objekten und für das Miteinander in der Aufarbeitung der Sammlungen – sollte das Humboldt Forum in Deutschland Maßstab und Vorbild sein.“ 28
Grütters umschiffte sorgsam das heikle Thema der Restitution. Welche Schlussfolgerungen aus dem Gesagten zu ziehen sind, zumal für den Umgang mit umstrittenen Objekten, darüber wird wohl auch noch in Zukunft zu diskutieren sein. Hier ist die für September 2021 angekündigte Eröffnung der Ausstellung der Objekte aus dem Ethnologischen Museum von größerem Interesse. Sollen im Humboldt Forum auch die Benin-Bronzen präsentiert werden – oder nicht?
3. Restitution und Geschichtskultur Was hat die Diskussion um afrikanische Kunst und ihre mögliche Rückgabe mit dem Thema Geschichtskultur zu tun? Versteht man mit dem Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen unter Geschichtskultur die „praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft“, sind kognitiv-wissenschaftliche, politische und ästhetische Dimensionen der Geschichtskultur zu unterscheiden. 29 Als Rüsen sein Konzept 1994 vorstellte, war jedoch, jedenfalls in Deutschland und in dem museologischen Kontext, in den sein Aufsatz hineinzuwirken suchte, von der Rückerstattung kolonialer Sammlungsgegenstände keine Rede. Wenig berücksichtigt wurde von Rüsen damals – und in der Geschichtskulturforschung seitdem – auch die Frage danach, wie sich die Geschichtskultur in miteinander verflochtenen Gesellschaften, in translokalen oder transnationalen Zusammenhängen ausbildet. Geht man davon aus, dass sich die Geschichtskultur einer Gesellschaft als Ausdruck von und Umgang mit Verflechtungsbeziehungen deuten lässt, dann kann der Begriff der Geschichtskultur in mehrfacher Hinsicht gewinnbringend auf die Restitutionsdebatte angewendet werden. So hat der Kunsthistoriker Christoph Zuschlag darauf hingewiesen, dass „die Erforschung von Objektbiografien im Zuge der Provenienzforschung und die unter Umständen als Konsequenz daraus folgende Restitution“ einen „wesentlichen und integralen Bestandteil der Geschichts- und Erinne28 Zit. n. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-anlaesslich-der-fertigstellung-und-eroeffnung-des-humboldt-forums-1829224 (aufgerufen am 3. 1. 2021). 29 Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füßmann / Heinrich Theodor Grütter / Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln / Weimar / Wien 1994, S. 3–26.
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rungskulturen einer Gesellschaft“ darstellten. 30 Globalgeschichtlich wäre Zuschlags These zu ergänzen: Es geht um mindestens zwei Gesellschaften, die „Herkunftsgesellschaft“ und die Gesellschaft, die gegenwärtig die fraglichen Exponate besitzt. Häufig geht es aber um mehrere Gesellschaften, da der Kolonialismus auf vielfältigen Verflechtungsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Kolonialmächten und kolonisierten Gesellschaften gründete und die Artefakte häufig einen langen und verschlungenen Weg zurücklegten, bevor sie in einem Museum des Globalen Nordens landeten. Allgemeiner gesprochen erstreckt sich die Diskussion um die Restitution von Objekten mit kolonialer Aneignungsgeschichte auf alle Dimensionen der Geschichtskultur. Sie zeigt dabei, wie die Geschichtskultur einer Gesellschaft in den (historischen und aktuellen) Interaktionen mit anderen Gesellschaften gründet und wie sich aus den Debatten über die geteilte Geschichte dieser Gesellschaften eine global wirksame Geschichtskultur ausbildet. „Global wirksam“ bedeutet allerdings nicht, dass es sich um eine gemeinsame Geschichtskultur handeln muss. Vielmehr geht es darum, zu betonen, dass die Geschichtskulturen der unterschiedlichen Gesellschaften sich gegenseitig beeinflussen und prägen, aber auch sich wechselseitig verstehen und anerkennen können. Dies ist für die wissenschaftliche Dimension sicherlich am einfachsten nachzuvollziehen. Wissenschaft ist – ihrem Anspruch nach – immer schon in eine globale Diskussion eingebunden. Die globale Wirksamkeit zeigt sich jedoch auch bezüglich der politischen Dimension, z. B. wenn es um die Frage der Restitution geht, aber auch in der ästhetischen Dimension, z. B. wenn es darum geht, ein Artefakt als „Kunst“ oder als „alltäglichen Gegenstand“ zu klassifizieren.
3.1 Wissenschaft Die Bundesrepublik hat ein Problem mit alltäglichem Rassismus. Auch deshalb ist die Geschichtswissenschaft gut beraten, rassistische Traditionen des eigenen Fachs aufzuarbeiten. Wir betrachten den vorliegenden Band als einen Beitrag zu einer solchen Selbstverständigung „über die alltäglichen Grundlagen unseres gesellschaftlichen Miteinanders, gerade auch und ganz konkret in unserer akademischen Arbeit.“ 31 30 Vgl. den Beitrag von Christoph Zuschlag im vorliegenden Band. 31 Christina Morina / Norbert Frei: Rassismus und Geschichtswissenschaft (24. 9. 2020), https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/rassismus_und_geschichtswissenschaft_morina_frei (aufgerufen am 13. 12. 2020).
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Wenn hingegen die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Monika Grütters, die Auseinandersetzung um die Restitution von Sammlungsgegenständen kolonialer Provenienz als einen „Kunsthistorikerstreit“ bezeichnet, dann werden entscheidende Aspekte der Problematik ausgeblendet. Die Frage nach der Restitution ist hoch komplex und – von wissenschaftlicher Seite – nur im Zusammenspiel unterschiedlicher Disziplinen zu beantworten. Die Debatte ist eine internationale, in Deutschland wird sie jedoch vor einem ganz spezifischen Hintergrund geführt. Wie selbstverständlich zitierte Grütters den „Historikerstreit“ der 1980er-Jahre um die Singularität des Holocaust und die Rolle des Nationalsozialismus im Geschichtsbewusstsein der Bonner Republik. Die Verbindungslinien zu dieser früheren Auseinandersetzung sind wichtig, sie dürfen jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass es sich erstens um eine internationale Debatte handelt, die immer wieder aufs Neue aktualisiert wird, jüngst durch die Black-Lives-Matter-Bewegung. Und zweitens, dass die Beziehungsbestimmung von Rassismus, Antisemitismus und Kolonialismus von jeder Generation neu vorgenommen werden muss. 32 Nach unserer Auffassung handelt es sich daher nicht um einen „Kunsthistorikerstreit“, sondern um einen interdisziplinär geführten Streit zwischen Ethnolog*innen, (Kunst)Historiker*innen, Philosoph*innen und Jurist*innen um historische, ästhetische und politische Dimensionen von Restitutionsforderungen, einen Historiker-Kunst-Politik- und Rechtswissenschaftsstreit, kurzum: einen „Kunst-Historikerstreit“, wie er im Untertitel dieses Bands genannt wird, und zwar einen internationalen. Anthropologie, Ethnologie, Kunstgeschichte und Wissenschaftsgeschichte haben wichtige Beiträge zur Geschichte und Gegenwart kolonialer Sammlungsgegenstände und der Provenienzforschung geleistet. Diese hat keineswegs erst jetzt begonnen, erhält aber im Zuge der gegenwärtigen Entwicklung beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit und Fördermittel. Weit weniger beachtet ist die Frage, welche Eigentumsbegriffe von Kolonisatoren verwendet wurden und wie diese mit dem Eigentumsverständnis kolonisierter Kulturen interagierten bzw. konfligierten. Die Debatte ermöglicht die Frage nach dem historischen und systematischen Zusammenhang zwischen kolonialen Wissensordnungen und nationalen Selbstverständnissen der Kolonialstaaten, die in einen Wettlauf
32 Michael Rothberg: Vergleiche vergleichen. Vom Historikerstreit zur Causa Mbembe. In: Geschichte der Gegenwart, 23. 9. 2020, https://geschichtedergegenwart . ch / vergleiche - vergleichen - vom - historikerstreit - zur - causa - mbembe (aufgerufen am 25. 9. 2020); Aleida Assmann: Polarisieren oder solidarisieren? Ein Rückblick auf die Mbembe-Debatte. In: Merkur 75 (2021) H. 860, S. 5–19, hier S. 14.
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mit anderen Kolonialstaaten um Kunst- und Kulturgegenstände aus dem Globalen Süden eintraten. Was die Herkunft einschlägiger Artefakte anbelangt, ist die Diskussion derzeit stark auf den afrikanischen Kontinent konzentriert, national vorzugsweise auf die ehemaligen Kolonialgebiete Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens. In der Öffentlichkeit weit weniger wahrgenommen wird der Umstand, dass eine erhebliche Zahl kolonial belasteter Exponate aus den Amerikas und Ozeanien stammt. 33 Es handelt sich mithin um ein weltumspannendes Problem, ein globales Thema. Die Geschichtswissenschaft untersucht das Verhältnis von Globalgeschichte, transnationaler Geschichte und Nationalgeschichte, beteiligt sich an der internationalen Debatte um den Postkolonialismus, erforscht die Geschichte des europäischen Kolonialismus und seiner Gewaltausübung gegen die lokale Bevölkerung sowie den lange unterschätzten Einfluss des Kolonialismus auf das kollektive Geschichtsbewusstsein. Für die deutschen Staaten des frühen 19. Jahrhunderts hat die Historikerin Susan Crane beispielsweise einen engen Zusammenhang zwischen musealem Sammlungseifer und entstehendem Historismus konstatiert. 34 Nach Auffassung der Historikerin Rebekka Habermas lag dem Ausgreifen dieses Eifers auf die außereuropäische Welt das Motiv zugrunde, kolonisierte Kulturen vor dem Schicksal des Vergessenwerdens zu bewahren, das der okzidentale Fortschritt ihnen bereiten sollte und zwangsläufig bereiten würde. Die Kulturschätze der Kolonisierten wurden so zum musealisierten Zeugnis europäischer Traditionsbildung degradiert. 35 Im Vergleich zu solchen und anderen Studien nimmt sich der Beitrag von Geschichtsdidaktik und Geschichtskulturforschung zur gegenwärtigen Restitutionsdebatte bescheiden aus. 36 Trotz der offenkundigen Relevanz des Themas schweigen die Expert*innen und überlassen anderen Fächern das Terrain. Es ist unbefriedigend, dass wiederholten Bekenntnissen der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik zur globalen Dimension von Geschichtskultur und historischem Lernen bisher kaum Taten gefolgt sind. 37
33 Vgl. die Beiträge von Safua Akeli und Viola König im vorliegenden Band. 34 Susan A. Crane: Collecting and Historical Consciousness in Early Nineteenth-Century Germany. Ithaca / London 2000. 35 Vgl. den Beitrag von Rebekka Habermas im vorliegenden Band. 36 Thomas Sandkühler: Restitution und historische Urteilskraft / Restitution and Historical Judgment. In: Public History Weekly 7 (2019) H. 9, dx.doi.org/10.1515/phw2019-13510. 37 Bernd-Stefan Grewe: Geschichtsdidaktik postkolonial. Eine Herausforderung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 5–30; Michele Barricelli: Globales Lernen als unerfülltes Versprechen einer Geschichtsdidaktik im Augenblick der Öffnung. In: Ders. u. a.: Globalgeschichtliche Perspektiven und Globales Lernen im
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Die deutsche Rechtsgeschichte ergründet, allzu oft noch eurozentrisch verengt, in welchem Ausmaß die den Kolonien aufgenötigten Rechtsordnungen das Gewaltverhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten bestimmten. Der Kolonialismus war von Beginn an ein Projekt, an dem viele europäische Akteure mitwirkten. Häufig war die innereuropäische Konkurrenz zugleich Treiber und Ausdruck kolonialer Ambitionen. Rechtlich schlug sich diese Konfliktlage deutlich nieder, wie sich schon am „mare liberum“ des frühneuzeitlichen Völkerrechtlers Grotius zeigen lässt. Die Herausbildung europäischer Vorstellungen von Staatlichkeit, das Zusammenspiel von internationalem Recht und nationalen Interessen, das Entstehen von lokalen Konsummustern und global agierenden Handelsnetzwerken waren schon lange vor den Zeiten des Hochimperialismus im 19. Jahrhundert eng miteinander verflochten. Hierher gehört auch die fragwürdige Konstruktion einer „terra nullius“, eines angeblichen Niemandslands, auf das die Europäer*innen ungehindert Zugriff hätten. Gemäß dieser Vorstellung fehlte es den im Kindheitsstadium der Ontogenese verbliebenen Kolonialgebieten an allen Ingredienzien eines Völkerrechtssubjekts, so dass die jeweilige europäische Kolonialmacht berechtigt und zivilisatorisch verpflichtet war, den unterworfenen Völkern und Kulturen die eigene Rechtsordnung zu oktroyieren (sofern es nicht zweckmäßig erschien, bestimmte lokale Traditionen beizubehalten). 38 Kein Wunder war in Anbetracht dieses Oktrois, dass auch nach den Maßstäben des damaligen (europäischen) Völkerrechts die Wegnahme von Artefakten rechtmäßig war. Folglich stellt sich aus heutiger Perspektive die Frage nach der Fortgeltung von positivierten und gewohnheitsrechtlichen Rechtsnormen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ihrer diskursbestimmenden Wirkung. Im Bereich des Strafrechts hat der Nürnberger Gerichtshof gegen die Hauptkriegsverbrecher das seit der Antike anerkannte Rückwirkungsverbot („nulla poena sine lege“) durchbrochen, indem ein neuer Straftatbestand des Menschheitsverbrechens eingeführt wurde. Es mehren sich Anzeichen, dass der Kolonialismus als vergleichbarer Verstoß gegen ele-
Geschichtsunterricht. Konzeptionelle Überlegungen zur Unterrichtsmaterialienreihe „Wissen um globale Verflechtungen“. Bielefeld 2018, S. 12–16; Holger Thünemann: Geschichtskultur revisited. Versuch einer Bilanz nach drei Jahrzehnten. In: Thomas Sandkühler / Horst Walter Blanke (Hrsg.): Historisierung der Historik. Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 39). Köln / Weimar / Wien 2018, S. 127–149, hier S. 149. 38 Vgl. den Beitrag von Sheila Heidt im vorliegenden Band.
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mentare Grundsätze der Humanität betrachtet wird, so dass das zivil- und völkerrechtliche Prinzip der Intertemporalität juristisch in Frage steht. 39 Dagegen wurde die Frage nach dem Rechts- und Gerechtigkeitsverständnis, überhaupt nach dem Selbstverständnis der mit den Europäern interagierenden lokalen Eliten, nach ihrer politischen Agenda und ihren Durchsetzungschancen jenseits eines reinen Gewaltverhältnisses, in der deutschen Debatte bislang kaum aufgeworfen. 40 Diese Agency der Kolonisierten machte sich während und nach der Dekolonisation der 1950er und 1960er-Jahre auch international deutlich bemerkbar. In den letztgenannten Zusammenhang gehören die oftmals als soft laws bezeichneten Konventionen und Deklarationen der Vereinten Nationen und ihrer einschlägigen Agenturen, vorrangig der Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO). 41 Sie haben mittlerweile eine eigene Zeitgeschichte, die von Geschichts- und Rechtswissenschaften erforscht wird. Deutlich wird vor diesem Hintergrund: Der Begriff „Restitution“ wird allzu eingeschränkt auf juristische Vorgänge nach europäischen Maßstäben verstanden, geht es doch bei der möglichen Rückgabe von Sammlungsgegenständen um mehr als einen bloßen Rechtsakt. Es geht um Gerechtigkeit und moralische Wiedergutmachung. 42 Dies wird vor allem an menschlichen Überresten deutlich, die meist unter ostentativer Missachtung einheimischer Vorstellungen und Ansprüche nach Europa verbracht wurden, um der ethnologischen und anthropologischen Forschung zu dienen und / oder in einschlägigen Museen ausgestellt zu werden. Im Unterschied zu künstlerischen Exponaten kolonialer Provenienz bezweifelt kaum jemand die Berechtigung der Forderung, sie zurückzugeben. Da es sich hierbei um eine Diskussion mit anderen Implikationen handelt, werden human remains im vorliegenden Band nur im Beitrag von Bettina Brockmeyer gestreift.
39 Vgl. den Beitrag von Matthias Goldmann und Beatriz v. Loebenstein im vorliegenden Band. 40 Larissa Förster: Wer fühlte sich beraubt? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 11. 2018, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/koloniale-raubkunst-wer-fuehltesich-beraubt-15906194.html (aufgerufen am 12. 12. 2020). 41 Vgl. den Beitrag von Judith Hackmack und Wolfgang Kaleck im vorliegenden Band. 42 Vgl. den Beitrag von Lukas H. Meyer im vorliegenden Band.
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3.2 Ästhetik Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass um die im missverständlichen Begriff des „Kunsthistorikerstreits“ so stark hervorgehobene ästhetische Komponente der Restitutionsdebatte einerseits noch gar nicht richtig gestritten wurde, sie andererseits aber auch in der vorliegenden Einleitung den geringsten Umfang einnimmt. Denn diese Dimension der Geschichtskultur ist schlechterdings unbestreitbar und als Ästhetik glücklicherweise unbestritten, im Unterschied zu der Frage, was man mit den kolonialherrschaftlich angeeigneten Stücken heute tun soll. Das war nicht immer so. Europäische Forscher*innen betrachteten und missverstanden künstlerische Hervorbringungen der kolonisierten Völker oft als nicht-künstlerische, anthropologische Zeugnisse. Der Umstand, dass die Europäer ihre künstlerische Qualität nicht wahrnahmen oder wahrnehmen wollten, ist selbst Teil des kolonialen Aneignungs- und Legitimationsprozesses. Heute bedarf es keines besonderen Beweises, dass die Restitutionsdebatte eine ästhetische Dimension hat. Aber auch die Formgebungen repräsentativer Museumsbauten in den europäischen Hauptstädten des 19. Jahrhunderts hatten eine fulminante ästhetische Seite. Sie brachten das Verständnis der jeweiligen Eliten von nationaler Identität und nationaler Sendung zum Ausdruck. Dies gilt auch für das Humboldt Forum, die soeben teileröffnete Nachbildung des barocken Schlosses in der Berliner Stadtmitte. (Postkoloniale) Kritik hebt hervor, dass solche steingewordenen Selbstbilder ohne hierarchische Überhebung über die außereuropäischen Kulturen gar nicht denkbar seien, die auch der Beschaffung von Exponaten zugrunde gelegen habe.
3.3 Politik Die Diskussion um die Restitution von europäischen Sammlungsgegenständen hat in Feuilleton und Politik Deutschlands seit 2016 an Fahrt aufgenommen. Die Debatte konzentriert sich derzeit, wie gesehen, auf das Humboldt Forum, das an die Stelle des Palasts der Republik aus DDR-Zeiten getreten ist. Viele empfinden es als eine Verhöhnung derjenigen Kulturen, denen die Artefakte des Ethnologischen Museums ursprünglich weggenommen worden waren, diese ausgerechnet in pseudopreußischer Herrschaftsarchitektur der Öffentlichkeit darzubieten, noch dazu ohne die kolonialen Ambitionen und Traditionen Preußen-Deutschlands hinreichend zu reflektieren. Die Ausblendung der Tatsache, dass es sich bei den Exponaten beider Museen zu erheblichen Teilen um Raubkunst handle, belaste das Humboldt Forum mit einem hochproble-
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matischen Erbe und komme einer Fortschreibung kolonialer Weltbilder gleich. 43 Es gibt aber auch Kritiker*innen der Kritiker, Gegner der Restitution. Ihre Kritik richtet sich einerseits gegen den interessegeleiteten Eigentumsbegriff, der nach ihrer Auffassung dem Bericht von Sarr / Savoy zugrunde liegt und entgegen seinem postkolonialen Gestus Traditionen des römischen Rechts wie selbstverständlich zum Maßstab transnationaler Kulturpolitik erhebe. 44 Zum anderen wird die Rolle kritisiert, die Sarr / Savoy und andere vorher und nachher den rückerstatteten Kulturgütern in der Nationsbildung afrikanischer Staaten zuwiesen, als sei es ein erstrebenswertes Ziel, den europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts auf dem südlichen Kontinent wiedererstehen zu lassen. 45 Diese Vorbehalte – Topoi, die, wie gesehen, eine lange Tradition aufweisen – könnte man unter dem Leitbegriff einer Frankophonie durch die Hintertür zusammenfassen. Grundsätzlicher argumentierte der in Südafrika lehrende Kameruner Historiker Achille Mbembe, ein profilierter Vertreter postkolonialer Theorie. „Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der jeder und alles wieder nach Hause zurück muss?“, so Mbembe. Um auf die Doppelmoral europäischer Politik aufmerksam zu machen, parallelisierte er im Mai 2018 die Rückerstattung von Objekten mit der Zurücksendung von Menschen und hielt den Europäern vor, sie wollten sich durch die Restitution afrikanischer Kunstgegenstände auf billige Weise ein gutes Gewissen verschaffen. 46 Mit der Person und öffentlichen Rolle Mbembes verbindet sich seitdem auch ein emotional aufgeladener Streit um Israelkritik und Antisemitismus, den der „Antisemitismusbeauftragte“ der Bundesregierung, Felix Klein, anfachte. Er und andere Kritiker warfen Mbembe seine Nähe zur israelfeindlichen Bewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) 43 Jürgen Zimmerer: Humboldt, und was nun? Humboldt Forum, koloniale Amnesie und aktuelle Identitätsdebatten, Hamburg 23. 10. 2019, https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/ - /get/v/25233 (aufgerufen 11. 1. 2021); War Humboldt Kolonialist? Streitgespräch zwischen Horst Bredekamp und Jürgen Zimmerer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 1. 2019, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/streitgespraech-ueber-raubkunst-mit-bredekamp-und-zimmerer-15969024.html (aufgerufen am 11. 1. 2021); „Sie sehen in allem nur Ausbeutung“. Streitgespräch zwischen Hermann Parzinger und Jürgen Zimmerer. In: Die ZEIT, 27. 7. 2019, https://www.zeit. de/zeit-geschichte/2019/04/humboldt-forum-kolonialismus-hermann-parzinger-juergen-zimmerer?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (aufgerufen am 11. 1. 2021). 44 Vgl. die Beiträge von Erhard Schüttpelz und Brigitta Hauser-Schäublin im vorliegenden Band. 45 Patrick Bahners: Französisches Ausleerungsgeschäft. Der „Bericht über die Restitution afrikanischen Kulturerbes“. In: Merkur 73 (2019) H. 838, S. 5–17. 46 Zit. n. ebd., S. 6.
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vor. 47 Darüber und über manche Äußerungen Mbembes lässt sich füglich streiten. Bedenklich in unserem Zusammenhang ist allerdings, dass Klein den postcolonial studies im Allgemeinen und Mbembe im Besonderen vorwarf, Theorien zu vertreten, die offensichtlich „mit unserer Erinnerungskultur“ kollidierten, die er „als Errungenschaft ansehe. Es mag sein, dass man in anderen Ländern dafür weniger sensibilisiert ist, aber etwas aus deutscher Sicht Falsches wird doch nicht dadurch richtig, dass es von außen kommt.“ 48
Wie selbstverständlich nahm Klein hier das Recht in Anspruch, eine deutsche Erinnerungskultur zum Maßstab dessen zu machen, was auch im Ausland als falsch und was als richtig zu gelten habe. Für andere Teile der Welt ist die deutsche Tätergeschichte jedoch nicht in gleicher Art und Weise identitätsrelevant. Die politische Privilegierung des weltweiten Holocaust-Gedenkens kritisieren zahlreiche nicht-weiße Gelehrte als „weißes Privileg“, ohne damit den Holocaust relativieren zu wollen. 49 Aber auch in Deutschland selbst findet eine Verschiebung des öffentlichen Interesses statt. Am „Westen“, der Selbst- und Weltwahrnehmung Weißer Eliten in einer zunehmend von Immigration und Diversität geprägten innerstaatlichen Wirklichkeit, an Rassismus und von rassistischen Einstellungen durchtränkten Wissensordnungen wird schneidende Kritik geübt. Tatsächlich haben koloniale Aneignungspraktiken im Geschichtsbewusstsein und in den Wissenschaften des europäischen Kontinents tiefe Spuren hinterlassen. Um diese offen zu legen, wird die Pluralität von „Eigenzeiten“ und nicht-westlichen Kulturen hervorgehoben. In vielen europäischen Ländern – wie auch im Globalen Süden – drängen zahlreiche bürgerschaftliche Initiativen auf eine Dekolonisierung des öffentlichen Raums und fordern die Entfernung von Geschichtszeichen, von Straßennamen bis zu Denkmälern, die in kolonialer Zeit angebracht wurden und nach dem Verständnis der Aktivisten Rassismus perpetuieren. 50 Der performative Selbstwiderspruch von Positionen, die ihre Kritik am westlichen Universalismus – im Mittelpunkt stehen hier die Menschenund Bürgerrechte – mit universellem Geltungsanspruch vortragen, ist
47 Assmann (Anm. 32), passim. 48 Felix Klein: Für eine Entschuldigung sehe ich keinen Anlass. Interview mit Adam Soboczynski. In: Die ZEIT, 20. 5. 2020, https://www.zeit.de/2020/22/felix-klein-holocaust-achille-mbembe-proteste?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com% 2F (aufgerufen am 12. 12. 2020). 49 Vgl. den Beitrag von Andreas Eckert im vorliegenden Band. 50 Jens Adam u. a. (Hrsg.): Europa dezentrieren. Globale Verflechtungen neu denken. Frankfurt a. M. 2019.
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wiederholt hervorgehoben worden. 51 In Deutschland wird dieser Selbstwiderspruch häufig dadurch umgangen, dass zwar postkoloniale Zielsetzungen postuliert, diese aber strikt einer partikulären, auf die Massenverbrechen des Nationalsozialismus ausgerichteten Perspektive untergeordnet werden, wie zuletzt in der Causa Mbembe. Andererseits konstatieren Beobachter*innen, dass dem „Ende der Zeitgenossenschaft“ durch den Tod der letzten Überlebenden, die aus eigener Erfahrung über Verfolgung und Massenmord unter dem Nationalsozialismus berichten konnten, eine abnehmende Relevanz des Nationalsozialismus im historischen Orientierungshaushalt der Bundesrepublik entspreche. 52 Sie sehen den Nationalsozialismus als zur Geschichte geworden, der nur in einer teils hochritualisierten, zunehmend sinnentleerten „Erinnerungskultur“ präsent bleibe. 53 Der vermeintliche Widerspruch zwischen einer Leitperspektive nationalsozialistischer Verbrechen und abnehmender Relevanz der NS-Geschichte löst sich bei näherem Hinsehen auf. Denn vor dem Hintergrund des beschriebenen Orientierungsverlusts werden zwei Anliegen miteinander verbunden: Die Aufarbeitung von Wurzeln und Ursprüngen der nationalsozialistischen Verbrechen etwa im deutschen Kolonialismus wie in Namibia erscheint als postkoloniale Erneuerung einer verblassenden Erinnerung an den Holocaust, die Orientierungsbedürfnisse der jüngeren Generationen anders als in den vorangehenden Jahrzehnten adressiert, weil sich diese verändert haben. Indem der deutsche Kolonialismus vor dem Hintergrund der Erinnerung an den Holocaust thematisiert wird und die Verbindungslinien zu den sogenannten deutschen Schutzgebieten diskutiert werden, gewinnt der Holocaust neue Aktualität. 54 Doch wird dafür in Deutschland ein Preis gezahlt: Wer nur auf den Nationalsozialismus schaut, läuft Gefahr, die Verbrechen des Kolonialismus 51 Jörn Rüsen: Menschsein. Kognitive Kohärenz in disziplinärer Fragmentierung. In: Ders. (Hrsg.): Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen. Bielefeld 2010, S. 11–39, hier S. 13–17. 52 Verena Nagel / Lena Kahle: Die universitäre Lehre über den Holocaust in Deutschland. Berlin 2018, https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/21625/Naegel_ Kahle_universitaere_Lehre_ueber_Holocaust_Deutschland.pdf?sequence=7&isAllowed=y (aufgerufen am 13. 12. 2020). 53 Volkhard Knigge: Abschied von der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland. In: Ders.: Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Axel Doßmann. Göttingen 2020, S. 223–239. 54 Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust. Münster 2011; Sybille Steinbacher: Sonderweg, Kolonialismus, Genozide. Der Holocaust im Spannungsfeld von Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Geschichte. In: Frank Bajohr / Andrea Löw (Hrsg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung. Frankfurt a. M. 2015, S. 83–101.
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und ihre globale Dimension auszublenden. Humboldts Grabschändungen geraten ebenso aus dem Blick, wie nicht-europäische Stimmen zum Schweigen verurteilt werden. Es handelt sich mithin um eine nationale Engführung, die aufs Engste mit der deutschen Verbrechensgeschichte im 20. Jahrhundert verbunden ist – und dies, obwohl die Thematik ein Effekt und Motor von Globalisierungsprozessen seit der Frühen Neuzeit ist, also mit nationalen Maßstäben gar nicht angemessen erfasst werden kann. Umso mehr würde die Diskussion der politischen Aspekte der Restitutionsdebatte von einer Globalisierung und Transnationalisierung der Geschichtskultur-Diskussion und Geschichtskulturforschung profitieren. Diese Öffnung des nationalgeschichtlichen Rahmens könnte auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, das Verhältnis zwischen der Erinnerung an koloniale und nationalsozialistische Verbrechen neu zu justieren. Eine globalgeschichtlich dimensionierte Geschichtskulturforschung kann darüber hinaus das Potenzial einer Versöhnung von kultureller Diversität und humaner Allgemeingültigkeit im Wege der Anerkennung ausloten, die auf hermeneutischem Verstehen beruht. 55 Es liegt aber in der Logik der medialen Auseinandersetzung, dass solche Argumente selten durchdringen, stattdessen der Konflikt um Deutungshoheit im Reich der Geschichtskultur erbittert ausgetragen und gegensätzliche Standpunkte unversöhnlich gegenübergestellt werden. Denn die Restitutionsfrage ist in erheblichem Maße eine Machtfrage. Wer die Restitution von Kunstschätzen fordert, stellt die Machtfrage, indem er die Verfügungs- und Deutungshoheit europäischer Staaten grundsätzlich in Frage stellt. Auch innerhalb ehemaliger Kolonialstaaten finden teilweise Auseinandersetzungen um die völkerrechtliche Repräsentation von Gruppen statt, die kolonialer Gewaltausübung zum Opfer fielen und sich im fortbestehenden Nationalstaat kolonialer Provenienz nicht adäquat vertreten fühlen. Umgekehrt gilt: Wer die Restitution von künstlerischen und kulturellen Artefakten verweigert, übt Macht aus, weil derjenige, der im Besitz eines umstrittenen Gegenstands ist, per se eine stärkere Position innehat als die Gegenseite. Zwar hat bisher kein Museum in Deutschland oder im europäischen Ausland die prinzipielle Berechtigung von Restitutionsforderungen bestritten, wohlgemerkt über human remains hinaus. Im Einzelfall wur-
55 Gerhard Kruip / Wolfgang Vögele (Hrsg.): Schatten der Differenz. Das Paradigma der Anerkennung und die Realität gesellschaftlicher Konflikte. Berlin u. a. 2006; Jörn Rüsen: Der Ethnozentrismus und seine Überwindung. Ansätze zu einer Kultur der Anerkennung im 21. Jahrhundert. In: Michael Kastner / Eva-M. Neumann-Held / Christine Reick (Hrsg): Kultursynergien oder Kulturkonflikte? Eine interdisziplinäre Fragestellung. Lengerich 2007, S. 103–117.
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den auch Artefakte wie der sogenannte Padrão aus den Beständen des Deutschen Historischen Museums oder persönliche Wertgegenstände des Nama-Führers Hendrik Witbooi an den Staat Namibia zurückerstattet. 56 Doch dominieren Vorbehalte gegen Restitutionen, in Deutschland wie im europäischen Ausland. In Anbetracht der riesigen Zahl einschlägiger Exponate werfen die Leitungen betroffener Museen die bange Frage auf, was von ihren Häusern übrig bleibe, sollte tatsächlich in großem Umfang zurückerstattet werden. Auch stelle sich die Frage, ob in den Empfängerländern überhaupt eine museale Infrastruktur für die Ausstellung und den Erhalt der potenziell zurückgegebenen Stücke existiert. Statt Restitutionsforderungen zu entsprechen, solle vielmehr der Dialog mit den „Herkunftsländern“ gesucht werden, um gemeinsame Lösungen zu entwickeln. 57
4. Belastete Wissenschaft Der Dialog in dieser Sache kann nur dann gelingen, wenn er multiperspektivisch und kontrovers angelegt ist, Fächergrenzen überschreitet und die Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten vormals kolonisierter Länder und Gruppen systematisch einbezieht. Im Sinne der schon angesprochenen Selbstverständigung über Grundlagen der Geschichtswissenschaft muss darüber hinaus geklärt werden, ob und in welchem Maße Methoden unseres Fachs kolonial kontaminiert sind. Es sollte bis hierher deutlich geworden sein: Fragen nach der Restitution von Kunstgegenständen, menschlichen Knochen oder anderen Überresten aus kolonialen Kontexten weisen in die Zeit des europäischen Kolonialismus seit der Frühen Neuzeit zurück. Sie sind nicht unabhängig von diesen globalen Verflechtungen, von den Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Weltregionen, von kolonialen Machtverhältnissen, von wirtschaftlichen Interessen und geopolitischen Ansprüchen zu beantworten. Und doch geraten gerade diese meist aus dem Blick. So wird leicht übersehen, dass „Raubkunst“ eine koloniale Tradition hat, die nicht erst mit dem Erwerb von – verharmlosend als „Schutzgebiete“ bezeichneten – deutschen Kolonien oder gar erst mit dem Natio56 Sie befanden sich zuvor im Stuttgarter Linden-Museum. Zum Padrão vgl. den Beitrag von Lukas Meyer im vorliegenden Band. 57 Vgl. den Beitrag von Hartmut Dorgerloh im vorliegenden Band, ferner Achille Mbembe: Restitution ist nicht genug. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 10. 2018, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/was-passiert-mit-derraubkunst-der-kolonialzeit-15827815.html (aufgerufen am 13. 12. 2020), und den Beitrag von David Simo im vorliegenden Band.
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nalsozialismus begann. Aus deutschen Ländern stammende Forschungsreisende wie Alexander v. Humboldt nutzten die imperiale Infrastruktur anderer Großmächte. Bis weit in das deutsche Hinterland hinein waren Händler, Finanziers, Kaufleute, aber auch Konsument*innen Profiteure des Kolonialismus und aktiv am Aufbau und Erhalt kolonialer Strukturen beteiligt. Die aus den Kolonien in die Metropolen verbrachten Artefakte erlauben tiefe Einblicke in Globalisierungsprozesse seit der Frühen Neuzeit: Geleitet von individuellen, lokalen, gesellschaftlichen oder nationalen Interessen handelten Institutionen wie die Royal Navy, Hamburger Reedereien oder das Berliner Museum für Völkerkunde, aber auch Einzelakteure wie Alexander v. Humboldt oder Felix v. Luschan innerhalb kolonialer Strukturen, die sie zugleich am Leben hielten. Humboldt und Luschan fehlte es nicht an der Kenntnis der Fragwürdigkeit ihres Tuns – kaum wohl hätten sie zu Studien- oder Sammlungszwecken in Berlin ähnlich gehandelt –, wohl aber fehlte es ihnen an Unrechtsbewusstsein, sobald sie in anderen regionalen Kontexten agierten. Dessen kurzes Aufblitzen wurde im einen Fall durch einen in der eigenen peer group bis heute bewunderten Forschungseifer überspielt, im anderen Fall konnte es als unmaßgebliche Meinung eines Dritten externalisiert werden. Dass wissenschaftliche Praktiken auf ihre Genese hin reflektiert werden müssen, lässt sich an der Forschung des Empfängers der von Humboldt ausgegrabenen menschlichen Überreste exemplarisch erläutern. Der Göttinger Anatom Johann Friedrich Blumenbach belegte mit seinen Studien, dass es keine unterschiedlichen menschlichen Rassen gibt. Als Beweismittel diente ihm die vergleichende Betrachtung der geschickten Schädel aus aller Welt. Die Methode des Vergleichens trat seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihren Siegeszug in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen an. Warum? Vergleichen ist eine Tätigkeit, die auf den ersten Blick den Anschein von Neutralität erweckt. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass Vergleiche – zumal in kolonialen Kontexten – Hierarchien untermauern, verstetigen und sie „naturalisieren“ können. Mithilfe von Vergleichen werden Verfahrensweisen legitimiert. Wenn „Barbaren“ „Zivilisierten“ gegenübergestellt werden, leuchtet dann die als „white man’s burden“ verbrämte Pflicht zur Eroberung nicht ein? Die im 19. Jahrhundert entstehende Ethnologie und Geschichtswissenschaft geben von der Wirksamkeit vergleichsbasierter Hierarchisierungen in globalen und lokalen Kontexten ein beredtes Zeugnis: Zwischen den sich professionalisierenden Disziplinen entstand eine Arbeitsteilung. Während sich die Geschichtswissenschaft denjenigen Gesellschaften und Kulturen zuwandte, die – der eigenen zeitgenössischen Diagnose folgend – zum historischen Weltgeschehen Wesent-
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liches beigetragen hatten, 58 behandelte die Ethnologie diejenigen Kulturen, die sich durch ihre vermeintliche Ahistorizität auszeichneten. Eric Wolf hat diese Art der Arbeitsteilung eindrücklich nachgezeichnet. 59 Er ironisierte mit dem Titel seines Buchs eine Bemerkung von Karl Marx und Friedrich Engels, mit der diese zahlreiche Nationen Osteuropas aufgrund mangelnden revolutionären Engagements als „unhistorisch“ bezeichnet hatten. Der zum Schlagwort geronnene Buchtitel „People without History“ macht darauf aufmerksam, dass das Zu- und Abschreiben von „Geschichtsfähigkeit“ sowohl innerhalb Europas als auch zwischen Weltregionen Hierarchien festklopfen sollte. Mit Vergleichen, die zivilisatorische Entwicklungsstadien bestimmter westeuropäischer und bald auch nordamerikanischer Regionen zum Maßstab setzten, wurde auch die koloniale Aufteilung Afrikas auf der Kongokonferenz in Berlin 1884/85 begründet. Zugleich wurde so der weltpolitische Rahmen gesetzt, innerhalb dessen Artefakte aus den Kolonien entwendet werden konnten, vermeintlich ohne Unrecht zu begehen. Der von Ernst Bloch stammende, von Hans Freyer aufgegriffene und von Reinhart Koselleck in die Geschichtswissenschaft eingeführte Begriff der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ verweist, ohne dass Koselleck dies kritisch gewendet hätte, auf den Zusammenhang von (temporalen) Vergleichspraktiken und europäischem Überlegenheitsdiskurs, der ganze Weltregionen in den „waiting room of history“ versetzte. 60 Die eigene europäische Gegenwart wurde so zu der (noch nicht erreichten) Zukunft vermeintlich rückständiger Gesellschaften, deren Kulturschätze zum Zweck der Veranschaulichung dieses Geschichtsbilds nach Europa geholt wurden. Fortschrittsnarrative und Zivilisierungsmission beruhen auf komparativ begründeten Wertungen. Vergleichen ist – auch in der Wissenschaft – daher keine unschuldige Tätigkeit. 61 Der Nachhall dieser wertenden Vergleichspraktiken – man denke nur an den Begriff der „Entwicklungsländer“ – ist in der heutigen Debatte um die Restitution deshalb noch so lautstark zu hören, weil historisch gesehen das Zu- und das Abschreiben von Geschichts- und Kunstfähigkeit eng miteinander verbunden waren. 58 Diese Aussage bezieht sich auf die Formierung von akademischen Disziplinen in Europa. Für eine globale Perspektivierung siehe: Dominik Sachsenmaier: Global Perspectives on Global History. Theories and Approaches in a Connected World. Cambridge 2011. 59 Eric Wolf: Europe and the People without History. Berkeley 1982. 60 Achim Landwehr: Von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. In: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1–34; Dipesh Chakrabarty: Provincialising Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000. 61 Rajagopalan Radhakrishnan: Why Compare? In: New Literary History 40 (2009), S. 453–471.
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Eine Diskussion über die erzwungene oder die legitime Aneignung von Artefakten in kolonialen Kontexten ist also von der hier nur angerissenen Vielschichtigkeit geprägt. Sie muss die ihr zugrunde liegenden wissenschaftlichen, rechtlichen, historischen, ethischen Diskurs- und Vergleichspraktiken sorgfältig auf ihre Entstehenskontexte hin prüfen und hinterfragen. Unser Hinweis auf problematische Wurzeln des wissenschaftlichen Vergleichs ist daher nicht zufällig. Denn einerseits gilt der historische Vergleich als Königsdisziplin der Gesellschaftsgeschichte. Andererseits ist die bereits angedeutete transnationale und globalgeschichtliche Erweiterung der Geschichtskulturforschung ohne vergleichende Verfahren kaum zu bewerkstelligen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Vergleich zur Absicherung historischer und gesellschaftlicher Hierarchisierungen missbraucht werden kann. Hier liegen geschichtstheoretische und methodische Herausforderungen, denen sich die künftige Geschichtskulturforschung stellen muss.
5. Vorläufige Schlussfolgerungen Die Restitutionsdebatte kann als „praktische Artikulation des Geschichtsbewusstseins“, mithin als Geschichtskultur gedeutet werden. Deren Dimensionen anhand exemplarischer Stellungnahmen zu dokumentieren ist ein Ziel des vorliegenden Bands. Wir möchten aber hierbei nicht stehenbleiben. Vielmehr liegt in der transnationalen und interkulturellen Dimension des Gegenstands, ebenso aber auch in der Analyse seiner jeweiligen nationalen Brechungen innerhalb und außerhalb Europas, erhebliches Innovationspotenzial für die Geschichtskulturforschung, die zu einer transnationalen Perspektive meist noch gar nicht vorgedrungen ist. Weitet man auf diese Weise den Blick, verändert sich die Frage- und Aufgabenstellung. Dann geht es nicht mehr nur darum, den geschichtskulturellen Istzustand innerhalb einer Nation darzustellen. Sondern es soll erstens die im Titel des Buchs aufgeworfene Fragestellung adressiert werden, inwiefern die Debatte um die Restitution verdeutlicht, dass sich die Geschichtskultur einer Gesellschaft notwendigerweise aus Verflechtungsbeziehungen heraus entwickelt, also nicht an die Geschichte einer isoliert gedachten Gesellschaft gebunden ist. Zweitens gilt es zu erkunden, wie sich die Geschichtskultur im globalen Maßstab herausbildet. Welche Sprengkraft, aber auch welches Potenzial liegt in der Restitutionsdebatte: Führt eine geteilte, aber nicht gemeinsame Geschichte zu einer geteilten oder zu einer gemeinsamen Geschichtskultur? Welche Veränderungen erführe die verflochtene Geschichtskultur durch Restitution? Rückerstattungen haben bislang nur in geringem Um-
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fang stattgefunden, so dass die empirische Grundlage zur Beantwortung dieser Frage fehlt. Andererseits erinnert die Frage an einen normativen Gehalt des Geschichtskulturbegriffs, der meist hinter sein analytisches Potenzial zurückgetreten ist. Anzustreben sei, so Rüsen, ein Gleichgewicht zwischen wissenschaftlichen Befunden, ästhetischen Erscheinungsformen und politischen Machtansprüchen der Geschichtskultur. In aller Regel könne von einem solchen Equilibrium nicht die Rede sein, weil die Protagonisten von Wissenschaft, Kunst und Politik danach streben, die Geschichtskultur zu dominieren und die jeweils anderen Protagonisten in die Schranken zu weisen. Die Restitutionsdebatte mit ihrem stark politischen Einschlag liefert auf jeden Fall für diese Überlegungen Beispiele. So sehr also in der alltäglichen Praxis das Gleichgewicht der geschichtskulturellen Dimensionen fehlen mag, so sehr lohnt es sich, es argumentativ zur Geltung zu bringen, bevor die bekannten Mechanismen von Elfenbeinturm, Ästhetizismus und wahrheitsabstinenter Machtausübung greifen. So gesehen, sind die Offenheit der Restitutionsdebatte und ihr bislang fehlender praktischer Eintrag nicht nur Nachteile. Will man auch die Geschichtskultur durch Restitution fördern, bedarf es allerdings einer erheblichen Erweiterung der Diskussion. Auf diese Weise abstrakt vorgezeichnete Lösungsvorschläge trügen auch dazu bei, die Praxis der Restitution – oder eines anderen Instruments der Rückerstattung – zu messen. Das Ende des narrativen Konstrukts, das diesem Buch zugrunde liegt, ist noch gänzlich offen. Bislang wurden Kunstschätze kolonialer Herkunft aus europäischen Museen nicht in größerem Umfang an die Staaten des Globalen Südens zurückerstattet. Aus diesem Grund versteht sich der Band nicht ausschließlich als Geschichtsschreibung über einen abgeschlossenen Ereigniszusammenhang, sondern als Beitrag zu einer prinzipiell ergebnisoffenen Diskussion zwischen Forscherinnen und Forschern verschiedener Disziplinen, Museumsfachleuten und Vertretern repräsentativer Museen in der Bundesrepublik Deutschland.
I. Positionen
Erhard Schüttpelz
Der kurze Moment der Restitutionsdebatte und seine Lange Dauer Ein Zwillingstext
Bemerkungen zu Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics, o. O., November 2018, http://restitutionreport2018.com, hier linksbündig gesetzt 1; Nachbetrachtungen zum selben Bericht 2, hier rechtsbündig und im Kasten gesetzt. 3
1 Vgl. Erhard Schüttpelz: Everything Must Go: Looting the Musseum as Compensation for Looting the World. Raubkunstforschung als angewandte Wissenschaft, November 2018, https://blog.uni-koeln.de/gssc-humboldt/everything-must-go-lootingthe-museum-as-compensation-for-looting-the-world/ (aufgerufen am 30. 11. 2020). Deutsche Übersetzung (Alles muss raus: Die Plünderung des Museums als Kompensation für die Plünderung der Welt. Raubkunstforschung als angewandte Wissenschaft) für diesen Band von Benet Lehmann, Berlin. 2 Erhard Schüttpelz: The Crisis of Anthropological Museums from the Perspective of an Anthropology of Museums, and Some Remarks on the Agency of Restitution Conceived as a Restitution of Agency, Juli 2019, https://boasblogs.org/de/dcntr/thecrisis-of-anthropological-museums-from-the-perspective-of-an-anthropology-ofmuseums-and-some-remarks-on-the-agency-of-restitution-conceived-as-a-restitution-of-agency/ (aufgerufen am 15. 2. 2020). 3 Anmerkung vom Februar 2020: Der linksbündige Text wurde innerhalb von 24 Stunden nach der Veröffentlichung des Sarr / Savoy-Reports am 26. 11. 2018 geschrieben und kurz danach ins Netz gestellt. Der rechtsbündige Text versuchte, im Vorfeld einer Kölner Konferenz zur Restitutionsdiskussion eine Perspektive der ganz Langen Dauer oder sogar der „Deep History“ zu entwickeln, um das Geschehen anders einzuordnen. Er wurde 18 Monate später geschrieben und ebenfalls im Netz veröffentlicht (und ist im Gegensatz zum ersten Text leicht ergänzt worden). Der erste Text wurde weithin beachtet und allem Anschein nach auch von Sarr und Savoy gelesen. Da es sich in beiden Fällen um zeithistorische Dokumente handelt, hatte es wenig Sinn, beide Texte für eine deutschsprachige Veröffentlichung grundlegend zu überarbeiten. Die Absicht geht jetzt dahin, einen Zwillingstext zu erzeugen, dessen Interferenzen je nach Tagesnachricht und Beleuchtung changieren können, und das auch in den Augen des Autors. Was bei der Erstveröffentlichung wie ein Einspruch wirken sollte, war schon wenig später veraltet, zum einen, weil Sarr und Savoy ihre Position fortlaufend
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Marx hatte recht. Dennoch ist es möglich, tiefer in sein berühmtes Diktum aus „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ einzutauchen. Die Geschichte wiederholt sich nicht, indem sie von der Tragödie zur Farce wechselt. Denn die Farce ist eine Verschleierung der Tragödie, ihr Wesen und ihre Maske. Die Entwicklung des Berliner Humboldt Forums ist eine Tragödie, die nicht nur gegenwärtig die Form einer Farce angenommen hat, sondern die von vielen kleinen Zerrbildern herrührt und von vielen weiteren begleitet wird. Aber auch die großformatige Tragikomödie des Humboldt Forums verblasst im Vergleich zum kunsthistorischen Tschernobyl-Unfall des Jahrzehnts, dem „Bericht“ von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy für Herrn Macron. In den folgenden Zeilen versuche ich, mich den einzelnen Travestien dieses „Berichts“ zu widmen, um dessen eigentliche Tragik deutlich hervorzuheben. Sicherlich könnte eine Vielzahl von Personen aus den Bereichen Museumskuratierung, Anthropologie und postkoloniale Ausstellungen einen besseren Kommentar schreiben als ich im ersten Ansturm von Wut und Verwirrung. Der einzige Grund, warum ich angefangen habe, diesen Text zu schreiben, ist, dass ich den Zwiespalt bei anderen wie bei mir selbst erlebt habe. Handelt es sich denn nicht um einen Bericht über eine historische Zäsur, einen Erdrutsch? Haben wir etwa kein Verständnis für all jene, die unter der Kolonialherrschaft ausgeraubt, gedemütigt und enterbt wurden? Schließlich verhalten sich Museumsmitarbeiter*innen vorsichtig und agieren diplomatisch, denn auch sie sind von politischen Entscheidungen abhängig. Anthropologen sympathisieren mit dem Radikalismus und der nach Jahrhunderten des Machtmissbrauchs
kommentierten und dabei gegenüber dem „Report“ zum Teil drastisch modifizierten, und zum anderen, weil die Diskussion sich in eine andere Richtung entwickelte, als sie der „Report“ vorgeben konnte. Die Restitutionsdebatte hat zumindest in Deutschland zu einem erstaunlichen Boom der ethnologischen Museen und vor allem der Stelleneinrichtungen für Provenienzforschung geführt. Die Folgen dieses Booms sind noch nicht abzusehen, nicht einmal, wie lange er anhalten wird. Gerade deshalb bleibt der erste Aufprall des „Reports“ ein historisches Ereignis, das dokumentiert zu werden lohnt. Kann diese Collage in einer nicht allzu fernen Zukunft als Anleitung zur Anamnese einer Situation dienen, die kaum noch verständlich erscheinen wird? Solche Hoffnungen sind vermutlich illusionär, denn nach einer Durchsetzung neuer Rechtfertigungsordnungen werden die Argumente gegen ihre Durchsetzung nur noch selten gehört und erscheinen gerade in ihrer polemischen Zuspitzung mehr oder minder unverständlich oder opak. Eine zukünftige Anamnese findet an dem hier vorgelegten Dokument daher weniger eine Hilfe als ein Hindernis. Und nur als Hindernis wird es zum Hilfsmittel bei dem Versuch, die Selbstverständlichkeiten einer zukünftigen Vergangenheit zu formulieren: weniger um herauszufinden, warum die Angehörigen vergangener Zeiten falschlagen, denn das weiß jede Gegenwart am besten für sich und durch sich selbst, als vielmehr um zu präzisieren, was sie – also der Autor des Texts und die von ihm zitierten Gegner und Zeugen – aus welchen Gründen für falsch oder richtig, Recht und Unrecht gehalten haben.
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versprochenen „Rückzahlung“ und denken an Möglichkeiten, die Enteigneten für die materiellen und immateriellen Verluste zu entschädigen. Niemand will als Kolonialist bezeichnet werden und einige ältere Anthropologen haben bereits ihre Niederlage angesichts der neuen Epoche eingeräumt, die im Widerspruch zu allem steht, wofür sie standen, und zu der wissenschaftlichen Autorität, die sie für selbstverständlich hielten. Auch ich sympathisiere mit dem Radikalismus und der „Revanche“, die nach Jahrhunderten des Machtmissbrauchs und in der Aktualität eines nie aufgehobenen Machtgefälles möglich wird. Aber das sollte kein Grund sein, einen Vorschlag zu akzeptieren, der voller Inkonsistenzen und Ungerechtigkeiten, uninformierter und verzerrter Geschichte steckt. 4 Thesen: 1.
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In dem Bericht geht es nicht um Beutekunst, sondern um die Plünderung von Museen im Namen der historischen Gerechtigkeit. Dieses Konzept einer historischen Gerechtigkeit ist im Report nicht stimmig. Die Museologie in diesem Bericht ist eine Pseudomuseologie. Die im Bericht vorgelegte Geschichtsschreibung ist Pseudo-Geschichtsschreibung. Die Rechtsgrundlagen dieses Berichts stehen im Widerspruch zu traditionellen Rechtsgrundsätzen. Ebensowenig versuchen sie, die Rechtsvorstellungen der betroffenen Herkunftsgemeinschaften anzurufen. In dem Bericht geht es nicht um die Rückgabe von Eigentum, sondern um die Abschaffung von unveräußerlichem Eigentum, insbesondere um die Abschaffung des Konzepts der Unveräußerlichkeit. Unveräußerliches Eigentum zu profanem Eigentum zu machen, bedeutet, es zu gewerblichem Eigentum zu machen: Der Bericht schafft einen neuen Kunstmarkt (einen potenziell gewalttätigen Kunstmarkt). Wenn das Verwahrungsrecht der Wissenschaft aus politischen Gründen aufgegeben wird, werden aus den Artefakten politische Artefakte werden, wodurch sie ein weiteres Mal aus ihrem historischen Kontext gerissen werden. Wenn auf das Erbe der anthropologischen Museen verzichtet wird, verwandeln sich die Artefakte nicht einfach in Kunst: Hier wird auf historische Amnesie und anthropologische Apathie hingearbeitet. Wenn dieser Bericht in die Praxis umgesetzt wird, verwandelt sich die Tragödie in eine Travestie, und Travestien werden zum Teil der Tragödie.
4 Vgl. Nicholas Thomas in: Tristam Hunt / Hartmut Dorgerloh / Nicholas Thomas: Restitution Report: Museum Directors Respond. In: The Art Newspaper, 27. 11. 2018, https://www.theartnewspaper.com/comment/restitution-report-museums-directors-respond (aufgerufen am 27. 11. 2018).
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1. In dem Bericht geht es nicht um Beutekunst, sondern um die Plünderung von Museen im Namen eines Konzepts der historischen Gerechtigkeit. Die Verfolgung dieses Prinzips der historischen Gerechtigkeit wird ein Fall von „summum ius summa iniuria“ sein. Natürlich erscheint die Plünderung des Museums nach der Plünderung der Welt wie der perfekte Ausgleich oder der vollkommene Akt des Ausgleichens. Vielleicht handelt es sich sogar um die perfekte Wiedergutmachung oder wenigstens um die anständigste. Doch das ist sie nicht: Die Plünderung des Museums nach der Plünderung der Welt bedeutet nur einen weiteren Akt der Ungerechtigkeit. Denn so vollzieht sich eine zweite Ausplünderung der Welt. Stellen Sie sich vor, in diesem Bericht geht es nicht um Afrika, sondern um die Gebiete des Pazifiks. All diese pazifischen Artefakte haben zumindest einen Anhänger, der angibt, von welcher Insel sie stammen. Sendet sie einfach alle fünftausend zurück zur jeweiligen Insel. Alle diese Artefakte werden per Post verteilt und sollen nun auf ihrer spezifischen Herkunftsinsel, isoliert im engeren Sinne des Wortes, bleiben. Was dadurch gewonnen wird, müssten wir herausfinden. Aber wir wissen, was wir verloren haben. Niemand wird in seinem ganzen Leben jemals in der Lage sein, 5.000 Inseln zu besuchen, um die Artefakte materiell und archäologisch zu vergleichen. Niemand, auch nicht aus Polynesien, Melanesien, Mikronesien, wird die finanziellen Mittel und die Zeit haben, diese Aufgabe zu erfüllen. Zwar könnten Traditionen wiedergewonnen werden, aber es wäre ein Kulturerbe, ein wissenschaftliches Erbe und sogar ein politisches Erbe verloren. Warum sollte Afrika in dieser Hinsicht anders sein? Nehmen wir 500 Museen statt 5.000 Inseln oder nehmen wir die Verwirrung, die sich einstellt, sobald wir versuchen, den Überblick zu behalten, wo sich die Artefakte befinden. Stellen Sie sich die Frustration eines afrikanischen Gelehrten in 20 Jahren vor. Es gibt Archive, es gibt Kataloge, es gibt Spezialisten mit Fachwissen, mit denen man jetzt sprechen kann. Sobald wir die Artefakte verstreut haben, werden es Kataloge sein, auf die wir uns in Zukunft verlassen können. Nur die Kataloge der Auktionen werden uns in Zukunft nach der „Rückgabe“ sagen, wo sich die Artefakte befunden haben. Ich schreibe hier nicht über „Korruption“. Ich beziehe mich hier auf den Begriff des „Eigentums“ (siehe unten) und insbesondere auf B. Savoys Konzept von „Eigentum“. Apart from royal societies and their art, e.g. Benin Bronze sculptures, most African ritual objects were not preserved for eternity or created for permanent preservation, but were made for their cyclical reproduction and renewal in new artefacts. Once objects fell out of ritual use or were damaged by use, they were destroyed or left to decay.
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After all, these objects were parts of performative arts, of music, dance, ritual, and of invisible powers manifesting themselves first in movement, and more often than not deriving their existence from performances, or from „African Art in Motion“. In the ethnographic sources from ca. 1850 to 1950, we do not seem to find a narrative or a theorem or a message that discarded African objects had a „soul“ that is lost by their being collected and exported. This narrative or rather: „myth“ is made in the museum itself and about the museum, and it was made by Europeans, especially in the film „Les statues meurent aussi“ by Chris Marker and Alain Resnais. The film-makers were instructed for their film by the „Présence Africaine“ group to use Placide Tempels’ „La philosophie bantoue“ as their blueprint. 5 The English Présence Africaine edition of Tempels’ book contains seven photos of African Art in European collections; and it has a chapter on the „Restitution“ of Bantu agency in cases of damage (not, of course, of art works, but about the redressing of injustice and evil magic by „Restitution“). Even „property“ is subjected to Tempels’ philosophy and ontology of „forces“: „Another law says that the living being exercises a vital influence on everything that is subordinated to him and on all that belongs to him. . . . The fact that a thing has belonged to anyone, that it has been in strict relationship with a person, leads the Bantu to conclude that this thing shares the vital influence of its owner. It is what ethnologists like to call ‚contagious magic, sympathetic magic‘; but it is neither contact nor ‚sympathy‘ that are the active elements but solely the vital force of the owner, which acts, as one knows, because it persists in the being of the thing possessed or used by him.“ 6
It is from these and other sentences by Tempels that Resnais and Marker developed their motif of a „loss of vital force“ or „soul loss“ in African objects in European museums: The „vital force“ persists in the object and its „alienated“ status demands restitution: „Even when the restitution takes the form of a transfer of natural goods, it is considered as part of the re-establishment of life; or rather, as being a re-establishment of life.“ 7 Thus, French filmmakers without anthropological training reinterpreted a Belgian missionary’s essay on African „philosophy“ or
5 Pierre-Philippe Fraiture: Statues also Die. In: Journal of French and Francophone Philosophy 24 (2016) No. 2, S. 45–67; Placide Tempels: Bantu Philosophy. Paris 1959. 6 Tempels (Anm. 5), S. 54. 7 Ebd., S. 94.
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„ontology“ in a critical film about museums. It’s important to note that they referred to a European missionary’s text re-interpreting Victorian anthropological theories of „Mana“ and „magic“. Tempels’ text was and remains a catechetical text preparing for Christian conversion; he interprets the „psychic unity“ in Bantu ontology that enables the pagans to become good Christians. We know how influential Tempels’ text was to become: for the development of African and Afroreferential philosophy, for an autonomous religious African movement called „Jamaa“, for the musicians of U.S. Free Jazz, for Janheinz Jahn and his literary vision of a Black Antlantic: and last but not least, it seeems for the crisis of anthropological museums and for current narratives and enactments of „restitution“. Statues want to return home, because they lost their souls by being robbed, bought and sold. This seems to be a most successful, but specifically European emplotment, after all, it is based on a metaphysics of the soul as Self. And this idea is very popular amongst journalists and politicians, and much less so amongst anthropologists and historians of Africa. The blueprint of „Les statues meurent aussi“ provides a powerful narrative because it links loss and restitution, the European agency of alienating the object and the non-alienable agency within the object. The agency of restitution will lie in a restitution of agency. This narrative nucleus has a long Mediterranean and Near Eastern genealogy ultimately linked with laments of loss and exile: e.g. „city laments“ demanding the re-erection of the temples of city goddesses of cities destroyed in Mesopotamian wars. Concerning Africa, this genealogy remains apocryphal, at least as far as ritual objects are concerned, and unless, of course, we accept „Les statues meurent aussi“ as an authentic source of a theory about what a museum does to African objects.
2. Die Museologie im Bericht von Sarr und Savoy ist eine Pseudomuseologie. Die im Bericht geschriebene Geschichte ist eine Pseudo-Geschichte. Versuchen wir einmal, das Auftreten der „Anthropologie“ in diesem Bericht zu verstehen. „Anthropologie“ wird zweimal erwähnt: als Kind der kolonialen Gewalt und als Magd der kolonialen Gewalt im Jahr 1903. Außerdem finden sich zwei leitgebende Motti: eines von Michel Leiris, der der Anthropologie vorwirft, die Tempel zu plündern, und ein Zitat über Afrika aus dem „Manifeste culturel panafricain“. So werden 100 Jahre Anthropologie und die Wissenschaft an Museen auf koloniale Gewalt als „Erbsünde“ reduziert. Diese „Erbsünde“ charakterisiert die Anthropologie ein für alle Mal. Es gibt keine Würdigung der anthropologischen Museumsarbeit, es gibt keine Geschichte der anthropologischen Muse-
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umsarbeit, es findet nicht einmal eine Anerkennung der Arbeit statt, die in anthropologischen Museen geleistet wurde. Savoy und Sarr ignorieren genau die Arbeit, die für ihr eigenes Unternehmen am entscheidendsten war, und behandeln sie wie nicht existent. Das ist keine Geschichte, sondern Geschichtsphilosophie; das ist nicht Geschichtsphilosophie (denn dafür bräuchte sie mehr Beweise), sondern die Erlösung von der Last der Geschichte: ein Argument für ahistorische Wiedergutmachung. In dem Bericht sind 100 Jahre nur ein Wimpernschlag. Es scheint, als ob nach der Entkolonialisierung nichts passiert sei. „To speak of restitution in the year 2018 is to thus to simultaneously reopen the old colonial machine as well as the file containing the erased memories of both the Europeans and the Africans [. . .].“ 8
Die Geschichte der Restitution scheint die Geschichte von Rip van Winkle zu sein. Aber Rip van Winkle wusste wenigstens, dass er geschlafen hatte, als er sah, wie sehr die anderen gealtert waren. Bei Sarr / Savoy haben alle anderen geschlafen. Die Sprache der historischen Erlösung spricht in diesem Bericht von „Erinnerung“, als „Reaktivierung einer verborgenen Erinnerung“. Was das „Gedächtnis“ betrifft, das für Ideen des Universalismus geeignet ist, so geht es um universelle „menschliche Erfahrung“ oder auch um „menschliche Brillanz“, „Kreativität der Menschheit“, „eine Beziehung, die neu erfunden werden muss“, und um viele weitere Qualifikationen. Erinnerung in diesem Bericht ist historischer Amnesie gleichzusetzen. Der Erinnerungszustand, so scheint es, wird von Grund auf verändert. Er wird „menschliche Erfahrung, Brillanz und Kreativität“ beschwören, und nicht historische Erfahrung, Brillanz und Kreativität, die uns in eine verstrickte Geschichte zurückführen. Aber was ist mit den nicht getilgten Erinnerungen und Dateien der Museen? Wie verhält es sich mit den 100 Jahren Arbeit für und gegen den Kolonialismus in der Anthropologie? Und was ist mit den Akten, die die alte Kolonialmaschine dokumentieren? Was ist mit der Anerkennung der anthropologischen Arbeiten für das historische Gedächtnis der Menschheit? Könnten die Autoren bitte ihr zweites leitgebendes Motto in diesem Zusammenhang wiederholen: „The conservation of culture has helped to save the various African peoples from the attempts at erasing the history and soul of Africa’s peoples [. . .] and if it [culture] binds humans together, it also impels memory. This is the reason anthropology has gone to such great lengths and taken such care in
8 Ebd., S. 15.
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recovering the world’s culture heritage, in defending its personality and tending to the flourishing of new branches of its culture.“ 9
So, what is a museum? Before the museum, there are the collections of tribute and items of exotical crafts. Mary W. Helms has summarized their constitution in these succinct sentences: „Foreign tribute-payers or traders or agents of the polity itself . . . may bring exquisitely crafted goods or highly valued and symbolic natural ‚riches‘ of the earth. Official symbols and regalia of rank or of office may include foreign ornaments, accoutrements, or robes, and great effort may be expended on exotic collections of holy relics, foreign wonders, strange plants, curious animals, or even human beings, such as foreign slaves and entertainers, which graced temple precincts and royal courts, or were housed in royal zoos and aristocratic gardens in (for example) ancient Egypt, pre-Columbian America . . . the ancient Near East, and the capital of imperial China . . . Far from being curiosities (though some collections may have been, at least to some extent . . .) these animate and inanimate exotics from the ends of the earth or from its most sacred centers were repositories of power and symbols of the distant, potent regions known to, and ‚controlled‘ by, the lords of the realm.“ 10
Mary W. Helms compared the constitution of „collections of tribute“ with shamanistic bundles of knowledge and power: „In a sense, far-fetched though at first it may seem, royal collections of the strange and the sacred . . . can be considered as vastly elaborated expressions of the power-filled medicine pouches of tribal shamans, filled with potent bits and pieces of unusual minerals, wood, flora and fauna replete with (and symbolic of) cosmic power, or of the small ‚pods‘ prepared by young men . . . to enhance their social and intellectual development and the acquisition of personal power pods in which they place various magical substances such as beetle wings . . . etc.“ 11
„Collections of tribute“ are and were also places of knowledge by „assembling things“ and making them symbols of cosmic order. Assembling and re-assembling collections are what collections do: they collect other collections, or from other collections, and they assemble things that are themselves „repositories of power and symbols of the distant“, e.g. altars, curiosity cabinets, shaman’s drums,
9 Ebd., Motto vor dem Inhaltsverzeichnis (modifiziert). Ich habe das Wort „Africa“ durch das Wort „anthropology“ ersetzt (d. Vf.). 10 Mary B. Helms: Ulysses’ Sail: An Ethnographic Odyssey of Power, Knowledge, and Geographical Distance. Princeton 1988, S. 164. 11 Ebd., S. 165.
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amulets and other cosmogrammatic objects. The collection of exotic objects and their exhibiting are symbols of power: the power of representation and the representation of sovereign or especially of imperial power. The collections of royalty, of courts, of cloisters and of feudal elites demonstrate their cosmic kingdom, their imperial power, and the superiority of elite consumption. So far, there is nothing specifically European in or about these characteristics.
3. Die Rechtsgrundlagen des Berichts von Sarr und Savoy stehen im Widerspruch zu traditionellen Rechtsvorstellungen. Unschuld soll bewiesen werden, denn die Unschuldsvermutung gilt in diesem Bereich nicht. Ebenso versuchen die Autoren nicht, die rechtlichen Vorstellungen der betroffenen Herkunftsgemeinschaften zu berücksichtigen. Die Raubkunst, von der die Autoren handeln, bereitet einen Tatbestand zukünftiger Raubkunst vor. Wenn alles Raub ist, gibt es wenig Grund, individuelle Schuld und die jeweilige Provenienz von Objekten zu untersuchen. Sie sind durch die Klassifizierung entkoppelt und entindividualisiert. Morgen, wenn dieser Bericht in die Praxis umgesetzt wird, wird niemand mehr wissen wollen, um wie viele Objekte es sich handelt. Wie sich Individuen unter bestimmten Umständen verhalten haben, welche ethischen Entscheidungsmöglichkeiten sie hatten, welchen Wegen die Objekte folgten, all diese historischen Fragen sind dann in den Schleier der Kollektivschuld gehüllt. Denn nicht nur die gesamte Periode des Kolonialismus wird im Bericht von Sarr und Savoy als Periode der Kriegsverbrechen eingestuft, sondern auch jede Transaktion. Das macht es leicht, alles als Beute zu klassifizieren, darunter auch alle akademischen Aktivitäten bis 1960. Diese Art der Einordnung wird sich selbst auch in ihrer Bestreitung reproduzieren: Verallgemeinerte Kollektivschuld wird in den Fällen individueller Vorkommnisse als halbe Unschuld oder gar als Unschuld erscheinen, und eine Generation später womöglich wieder als Verdienst. Die heterogenen Geschichten des Kolonialismus, des Widerstands und des Austauschs, der gegenseitigen Wirkungsgeschichte und der Innovationen bleiben ungeklärt. Letztlich wird die weit verbreitete Sichtweise von Beute und Gegenbeute einer Amnesie und dem Gefühl, betrogen zu werden, den Weg bereiten. In diesem Bericht wird keine der Gruppen der Besitzer von ethnografischen Artefakten bis 1960 als unschuldig angesehen; stattdessen müssen sie ihre Unschuld beweisen oder durch Dritte beweisen lassen. Das ist nicht die Logik eines gerechten Prozesses, sondern diejenige einer Inquisition, eines Tribunals oder einer Giftprobe. Kann der oder die rechtmäßige
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Eigentümer*in seine oder ihre Unschuld nicht beweisen, so wird er oder sie per Assoziation schuldig gesprochen. Falls der oder die zukünftige Eigentümer*in nichts beweisen kann, muss jedoch lediglich bewiesen werden, dass er oder sie im Namen der territorialen Souveränität eines postkolonialen Staats handelt, zu der auch Personen gehören, in deren Namen er oder sie Rückerstattung verlangt, und dass sie oder er in der Lage ist, diesbezügliche Rechte auszuüben. 4. In dem Bericht geht es nicht um die Rückgabe von Eigentum, sondern um die Abschaffung von unveräußerlichem Eigentum, insbesondere um die Abschaffung des Konzepts der Unveräußerlichkeit. 12 Alles, was übrig bleibt, ist eine römische Auffassung von Eigentum und Besitz. Dieser Unterscheidung folgt Bénédicte Savoy und verteidigt sie gegen jede Vorstellung von außereuropäischem Recht und gegen europäische Vorstellungen von „Unveräußerlichkeit“, die mit außereuropäischen Rechtsvorstellungen durchaus vereinbar sein könnten und können. Im Zuge dieser römischen Rechtsauffassung werden die Artefakte als Eigentum ausgewiesen. Das bedeutet, dass sie auf Marktplätzen zirkulieren können. 5. Unveräußerliches Eigentum zu profanem Eigentum zu machen bedeutet, es zu gewerblichem Eigentum zu machen: Der Bericht schafft einen neuen Kunstmarkt (einen potenziell gewalttätigen Kunstmarkt). Für die Zurückweisung des außereuropäischen Rechts gilt die folgende Begründung: Auf einer im vergangenen Juni im Collège de France in Paris abgehaltenen Tagung zum „Selbstbestimmungsrecht von Objekten?“ plädierte der Ethnologe Benoît de L’Estoile überzeugend dafür, die aktuelle Restitutionsdebatte von ihrem engen, binären römisch-europäischen Rechtskorsett zu befreien (droit des personnes et droit des biens) und sie mit außereuropäischen Rechts- und Besitzvorstellungen zu konfrontieren. Es sei an der Zeit, alternative Konzepte von Besitz und Eigentum zu explorieren, um zukunftsweisende, innovative Rechtsmodelle für den Kulturbesitz im 21. Jahrhunderts zu entwerfen. Eine solche Exploration ist sicherlich angebracht, wenn nicht schon überfällig. Sie kann meines Erachtens aber auch in der eigenen Rechtstradition erfolgen und in dieser, im Sinne einer umgekehrten Prophetie, nach verloren gegangenen Optionen oder produktiven Konstellationen suchen.
12 Zur Nichtanerkennung unterschiedlicher Rechtsauffassungen vgl. Larissa Förster: Wer fühlte sich beraubt? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 11. 2018.
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Savoy ist der Auffassung: Ja, wir sollten auf ausländische Rechtstraditionen achten, aber wir können das in unserer eigenen Tradition tun. 13 Dafür ist es notwendig, das zu radikalisieren, was wir in unserer Tradition finden. Zugleich verweist sie auf das Grundprinzip des Römischen Rechts, das es von allen anderen Rechtstraditionen unterscheidet, und folgt dieser Reduktion bis zum bitteren Ende. Aus ihrer Absage entwickelt B. Savoy ihre Vorstellungen von der heilenden Kraft des „Eigentums“ und der „Rückgabe“ des Eigentums. Da jeder Erwerbsakt in der Kolonialzeit (bis 1960) als „Diebstahl“ reklassifiziert werden kann, war das Erworbene nie legitimes Eigentum, und schon immer „Eigentum“, das für den zukünftigen Eigentümer und Handel wiederhergestellt werden muss – oder auch erfunden werden muss. Die Definition des Räubers definiert auch das „Eigentum“, und das Definieren aller europäischen Besitztümer von Artefakten südlich der Sahara als „Beute“ definiert das zukünftige Eigentum. „Eigentum“ und „Besitz“ sind metaphysisch unterschiedlich; „Unveräußerlichkeit“ hingegen tritt nie als relevante Kategorie auf, weder im Bericht noch im Kommentar von Savoy zu „Eigentum und Besitz“. B. Savoy zitiert Karl Pfeifer, der Savigny 1840 polemisch konterkarierte und dessen Doktrin über das Recht des Besitzes in Frage stellte: „Kann man denn auch fremdes Eigentum an einer Sache ausüben?! Wohl kann man das Eigentum an einer fremden Sache ausüben, und das tut z. B. der Dieb; überhaupt jeder, welcher die Sache als seine eigene behandelt, und doch nicht Eigentümer derselben ist. Aber was fremdes, resp. eigenes Eigentum an einer Sache ausüben bedeuten soll, das kann ich mir nicht vorstellen. Es ließe sich unter dem Willen, fremdes Eigentum auszuüben, etwa noch der Wille denken, das Eigentum einer Sache, von welcher man weiß, dass sie einem Andern gehört, auszuüben, also ein Wille, wie ihn derjenige hat, welcher eine Sache stiehlt, raubt, unterschlägt. Aber in dem Sinne versteht es Savigny nicht, denn der Dieb gerade soll den Willen haben, eigenes Eigentum an der Sache auszuüben!“ 14
Der Sarr / Savoy-Bericht rechtfertigt die Manifestation dessen, was Macpherson die „politische Theorie des Besitzindividualismus“ nannte. Hier wird im Namen von Kollektiven gesprochen, vor allem aber durch Individuen, die im Namen von Kollektiven sprechen können. Und „Eigentum“ in diesem Bericht bezieht sich auf wertvolles Eigentum, das von Einzelpersonen im Namen von Kollektiven geführt wird, aber dennoch in Eigeninteresse und
13 Vgl. Bénédicte Savoy: Eigentum und Besitz. Ein paar ideengeschichtliche Gedanken zu einem juristischen Begriffspaar, https://voelkerrechtsblog.org/eigentum-und-besitz/ (aufgerufen am 26. 11. 2018). 14 Karl Pfeifer: Was ist und gilt im römischen Rechte der Besitz? Eine Abhandlung. Tübingen 1840, S. 65 f.
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im Interesse ihrer Wählerschaften. Interessanterweise haben sich bereits Vertreter*innen des Kunstmarkts gegen die Folgen des Sarr / Savoy-Berichts ausgesprochen. 15 Es scheint, als könnte die Abschaffung der „Unveräußerlichkeit“ außereuropäischer Kunst in öffentlichen Sammlungen auch den Wert kommerziell gehandelter außereuropäischer Kunst zerstören. Denn Kunst in öffentlichen Sammlungen stellt eine Garantie dar, dass die Sammlung der Kunsthändler*innen eingelöst werden kann, indem sie Kunstwerke spenden, indem sie ein Museum für eine Sammlung organisieren, indem sie selbst öffentliche Museen bauen oder eines sponsern, das ihre Sammlung beherbergt. Sobald diese Garantie hinfällig ist und die Rückerstattung wie ein Schwert über jedem Artefakt hängt, müssen kommerzielle Sammlungen sorgfältig versteckt werden, denn sonst leiden sie unter den gleichen Folgen. Nichts garantiert den Preis eines Artefakts aus außereuropäischen Herkünften vor 1960, da ähnliche Kunstgegenstände zurückgegeben oder beschlagnahmt werden können, um die Schuld zu beweisen. Aber selbst wenn die Sorgen des Kunstmarkts um die langfristigen Folgen für die außereuropäische Kunst unbegründet sind, werden die langfristigen Ergebnisse des Berichts, sobald sie praktiziert werden, der Unterscheidung des Römischen Rechts genügen, die B. Savoy so schätzt. Die Artefakte werden für die Besichtigung in außereuropäischen Museen freigegeben, ebenso wird eine unbekannte Menge von ihnen in Umlauf gebracht. Es ist vorstellbar, dass der Markt zusammenbricht oder durch einen „Schwarzmarkt“ mit unbekannten künftigen Dimensionen ersetzt wird. The only specifically European transformation of the collections of tribute and of exotic specimens and crafts: In modern times, it’s not the king who is sovereign, but the people. The royal, clerical and elitist collections become an inalienable „property of the people“, by opening the museum for the general public, by public responsibility for the collections, and by scientists and scholars taking control of the collections in the name of the administrative order, and vice versa. It seems only logical that all sovereign nation states and peoples have a right to administer and to own their own museums and its collections. And this taken-for-grantedness is at least one crucial factor in the recent debates on restitution. But of course, there is more to the question of collecting and exhibiting than just public
15 Joseph Hanimann / Jörg Häntzschel / Thomas Kirchner: Richtig, falsch, übereilt, nichtig und sehr mutig. Emmanuel Macron gibt 26 Kunstwerke aus Benin an Museen zurück – und am heftigsten reagiert der Kunstmarkt. In: Süddeutsche Zeitung, 26. 11. 2018, https://www.sueddeutsche.de/kultur/raubkunst-debatte-richtig-falschuebereilt-nichtig-und-sehr-mutig-1.4226044 (aufgerufen am 26. 11. 2018).
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collections: there are commercial interests, and there is the question of science and scholarship. Ever since the 19th century, and against wishful thinking to the contrary, there was a strong divide between the museum as a place of exhibiting, and the collection as a place for scientific and scholarly work. This dualism is irreducible, and it was only by compromise that the interests of representing the world (or exhibiting) and the scholarly and scientific interests to preserve and investigate the collections were linked (or divorced). And of course, there is the sphere of individual consumption and consumerism in general, the sphere of owning and cherishing NonEuropean Art. As the historian Frank Trentmann writes, „the proliferation of individual and institutional collections“ may be the „most prominent manifestation of such consumerism“. And referring to the cosmological constitution of collections: „Cosmic kingship has been democratized: anyone can play the role of conservator and guardian of things facing extinction.“ 16 Which means, anybody can become an owner of any collection by being the buyer of objects of any sort.
6. Wenn das Verwahrungsrecht der Wissenschaft aus politischen Gründen aufgegeben wird, werden aus den Artefakten politische Artefakte werden, die auch in Zukunft politischen Neuordnungen unterliegen, die ebenso arbiträr vorgehen wie die Gegenwart. Und das ist der wichtigste Punkt. Überspringen Sie den Rest, aber lesen sie folgenden Absatz: Minderheiten und die Herkunftsgemeinschaften ethnografischer Artefakte werden durch das neue System nicht geschützt, sondern werden unter den Konsequenzen leiden. Letztlich werden sie von repräsentativen Institutionen der postkolonialen Staaten abhängig sein und nicht von postkolonialen Museen. Das Eigeninteresse der postkolonialen Staaten wird die prekäre Repräsentation kleinerer Communities am Rande des Weltsystems behindern. Und vor allem werden diese Communities die Artefakte nicht besitzen – das wird Sache der Staatshoheit und ihrer Institutionen sein. Für die Rechte der Herkunftsländer wird dies einen Einschnitt darstellen. „Restitution“ wird lediglich ein Politikum sein. Natürlich wird in den afrikanischen Staaten eine politische Begeisterung für „Restitution“ aufkommen. Und genau da beginnt der Ärger. Sobald „Restitution“ eine Angelegenheit von politischen Ansprüchen ist, können
16 Thomas Trentmann: Crossing Divides: Consumption and Globalization in History. In: Journal of Consumer Culture 9 (2009), S. 187–220, hier S. 201.
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Objekte von mehreren Parteien gleichzeitig, von Generation zu Generation, beansprucht werden. In der englischen Version des Berichts von Sarr und Savoy, Fn. 35, heißt es ausdrücklich, dass es hier um den Aufbau von Nationen im subsaharischen Afrika gehe: „However, the history of restitution has shown that once works are returned, the Nation-States are quick to welcome them and prepare for the adequate political infrastructures necessary.“
Was aber ist mit den Minderheiten und kleinen Communities, die im Konflikt mit ihren nationalen Regierungen leben, und was ist mit dem Eingeständnis, dass die meisten Gruppen, die in ethnografischen Museen vertreten sind, im Konflikt mit ihren Staaten gelebt haben oder leben? All diese ungeklärten Vermittlungen und Rückerstattungen zwischen NichtStaatsangehörigen und ethnografischen Museen und Sammlungen werden durch das zukünftige Regime unmöglich gemacht – auch wenn es für diejenigen, die an den Staat und seine Institutionen glauben, schwer zu verstehen sein wird. Staat ist nicht Demokratie, und die weitaus meisten postkolonialen Staaten besitzen keine unabhängige Justiz. Ist es Sarr und Savoy jemals in den Sinn gekommen, dass der postkoloniale Staat Erbe kolonialer Gewalt und Ungerechtigkeit sein könnte und dass die meisten der kleinen Communities, die in den anthropologischen Museen und Sammlungen vertreten sind, am Rande von Imperien und Staaten lebten und leben? Die Geschichte wiederholt sich, als Fußnote, als Erinnerung sogar als Gefahr: „However, the history of restitution has shown that once works are returned, the Nation-States are quick to welcome them and prepare for the adequate political infrastructures necessary.“
At the moment, the discussion about museums and museum restitution is more than paradoxical, and it is problematic. We accept the fact that anthropological objects are traded commercially and owned privately, and if we see them in galleries, nobody seems to worry about their „loss of soul“ or vital force. But in museums, we question their status as tribute and representation and demand their „return“. But in the strict sense, there is no „return“ and there is no „restitution“. Restitution is a narrative that invents the subjects for „restitution“ under the premise that our public institutions are the inheritors of injustice, „that they are not ours“ and have to be given away to other peoples’ institutions. We don’t feel the pain of their status as commercial goods; but we feel the pain of representing the world „for us“ and of representing „us“ for the
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world. And the scholarly and scientific interests to preserve and investigate the collections, the trusteeship of what is neither ownership nor representation, neither exhibition nor consumption, seems of negligible importance, as far as political and / or commercial decisions are concerned. The „repositories of power and symbols of the distant“ seem an embarrassing „survival“ from a criminal past, because publicly accountable exoticism itself has become embarrassing, whereas private exoticism and its collections are accepted, but may soon become critically scrutinized as well. Endless accusations state, quite correctly, that the bulk of all collections is never shown, and that it remains difficult to get access to the corpora of regional ethnographic collections. But if art museums would show all their artworks, we would be very much surprised, and shocked by what we might envisage. And nobody doubts that you have to be a specialist to get a closer look at, e.g., a Michelangelo drawing. Just one example for the many double standards in this debate about Non-European Art (sic). 7. Wenn auf das Erbe der anthropologischen Museen verzichtet wird, verwandeln sich die Artefakte nicht einfach in Kunst: Hier wird auf historische Amnesie und anthropologische Apathie hingearbeitet. Vielmehr wird auf einen Ethnozentrismus der schlimmsten Art vorbereitet: die Standardisierung von Verhalten, Normen und Rechtsansprüchen, nicht die Anerkennung einer neuen Heterogenität. Entledige Dich der Anthropologie, und Du wirst Dich auf eine Welt von neuen Verwaltungsnormen vorbereiten. Sarr und Savoy beabsichtigen, die Rückgabe zu vereinfachen: Rechtmäßige Eigentümer sollen Formulare ausfüllen und Listen erstellen. Das soll genügen. Es bedarf keiner persönlichen Verhandlungen und keiner Wissensvermittlung, sondern nur Verhandlungen über das Ausfüllen von Formularen. Sollen doch Anwälte entscheiden, und nicht, wie bis dato, Diskussionen zwischen den Erben von Traditionen und Rechten und spezialisierten anthropologischen Kuratoren. Die Regelung durch Listen, das Ausfüllen von Formularen, all dies wird nicht dazu führen, dass Gerechtigkeit geschaffen wird – nicht einmal ein Gefühl der Gerechtigkeit. Es wird darauf hinauslaufen, das Offensichtliche zu wiederholen, zu wiederholen, was durch bürokratische Vorgänge erfasst werden kann. Die individuellen oder „handwerklichen“ Verhandlungen zwischen Anthropologen und Herkunftsgemeinschaften werden einer juristischen „Massenproduktion“ weichen. 17 17 Vgl. sehr viel genauer und ausführlicher: Tim Murphy: Legal Fabrications and the Case of „Cultural Property“. In: Alain Pottage / Martha Mundy (Hrsg.): Law, Anthro-
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The reason for current changes is twofold: Nation-states in the 19th century started to claim that their identity demanded selfrepresentation and the rightful ownership of objects manifesting that self-representation, i.e. the representation of genealogical manifestations of national identity – in all its material and nonmaterial forms. But European nation-states were empires too, thus, their representation was split between nationalist and imperialist (and thus, universalist) forms of representation. After World War II, „identity rights“ gave rise to more and more property rights. Nationalist and ethnic forms of representation win in the long run. After all, we have about 25 more nation-states than in 1989. Publicly accountable exoticism goes against the grain of translating identity rights into property rights, which is not only a juridical movement, but a seemingly endless source of legitimacy. The focus of nationalism is the self-same: the self and the same. Nationalism believes in ethnic differences, and in places of origins, and the return to these places. And nationalist restitution claims are easy to understand for journalists and politicians, because they combine two of the most powerful instruments of modernity: the property regime of Roman Law, and the constitutional rights of nation states to become the legitimate inheritors of ancient and modern empires, and of everything that inheres in their territories, their languages and their cultures. O sweet poison! The language of identity is a language of property rights. And don’t these statues demand their return to the places of origin? And if we can’t avoid the gold standard of nationstates, why not embrace it? 8. Wenn dieser Bericht in die Praxis umgesetzt wird, verwandelt sich die Tragödie zur Travestie, und Travestien werden zum Teil der Tragödie. „Erlöse uns von unserer Verunreinigung durch koloniale Schuld. Und führe uns nicht in die Versuchung, mit Hilfe unserer immensen finanziellen Mittel das zurückzugewinnen, was unser war. Und lass unsere Museen nicht Teil eines neuen Eigentumsregimes sein, das dem alten gleicht. Und bitte lass sie zugestehen, dass wir die Dinge an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben haben, solange sie denn behaupten können, rechtmäßige Besitzer zu sein. Bringe die Stimmen derer zum Schweigen, die behaupten, um ihre Rechte oder sogar um den Zugriff auf das, was ihre Vorfahren hergestellt und gefeiert haben, betrogen worden zu sein. Und lass uns nicht schuldig werden an den
pology, and the Constitution of the Social. Making Persons and Things. Cambridge / New York 2004, S. 115–141.
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Missetaten des Eigentums, in die Welt gesetzt durch unsere Verantwortung gegenüber unseren Schuldigern. Wenn das Schicksal unserer Verantwortung darin besteht, unserer Unverantwortlichkeiten bis in alle Ewigkeit ins Auge zu schauen, erspare uns dieses Schicksal. Denn unser war das Reich und die koloniale Gewalt und das Ende ihrer Herrlichkeit in Amnesie.“ 18
Who are the losers in this steady erosion of publicly accountable exoticism? The small populations that are not or cannot be represented by nation-states or post-colonial states – which are most of the populations represented in anthropological museums (ca. 10.000 non-national groups vs. ca. 100 nation-states); the dead, because we would have to represent their worlds and not ours or that of our ancestors; the scientists and scholars who will soon be or are already employed in principal-agent relationships with political directives, instead of leading the politicians to do the right thing or doing it informally without consulting politicians and diplomats. The amalgamation of identity rights and property rights will be our nemesis and our abyss. In each particular case, we will find the dubious consequences of this amalgamation. We will find the tragedy and the travesty, the laughter and the pain, the absurdity and the pedantry of what-they-call-restitution. Our societies will change accordingly. In fact, the change is already happening. Zum Ende, im Februar 2020: Nationalismus erscheint Sarr und Savoy als etwas so Selbstverständliches, dass sie sich nicht einmal fragen, welche Vergehen im Namen der Staaten möglich sind, die sie mit den von ihnen requirierten Gegenständen betrauen wollen (oder in ihrem Bericht betrauen wollten). Postkoloniale Nationalstaaten freuen sich, wenn ihnen Kulturgüter ersten Rangs zum „nation-building“ angeboten werden, und dann schaffen sie – wie oben zitiert – auch die „angemessenen politischen Infrastrukturen“ zur Ausstellung, Aufbewahrung, Zirkulation, wissenschaftlichen Aufbereitung und ggf. auch Zerstörung der Werke. Wäre es nicht besser gewesen, für jedwede Maßnahme zukünftiger ethnologischer Museen zu fordern, dass sie einer Entnationalisierung ihrer Ausstellungen und Sammlungen zuarbeiten und keinem zukünftigen oder bestehenden Nationalstaat bei der Einrichtung 18 Anmerkung vor der Drucklegung im November 2020: Alle, die sich durch die parodistische Anverwandlung des Vaterunsers in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlen, bitte ich um Nachsicht. Es ging mir um den Hinweis, dass unsere Handlungen die Form eines Gebets annehmen können, und, wenn es um unsere Beziehungen zu den unbefriedeten Toten geht, zum Teil auch müssen.
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seiner patriotischen Interessen dienlich sind? (Und zwar auch unserem eigenen Nationalstaat nicht.) Ethnologische Kurator*innen haben diese Maxime mindestens eine Generation lang in deutschen ethnologischen Museen beachtet, so scheint es im Rückblick. Sarr und Savoy setzen diese Denkweise mit einem Federstrich außer Kraft. Zum Verhältnis der vielen Herkunftsgemeinschaften ihrer Objekte zu den postkolonialen Staaten, denen sie diese Objekte anvertraut sehen wollen, verlieren sie kein Wort. „Der postkoloniale Staat war gegenüber seinen ethnischen Minderheiten schon immer ein kolonialer Staat.“ Dieser Satz, der unter Ethnologen eine provokative Binsenweisheit darstellt (und aus der Mail eines Ethnologen der älteren Generation an den Verfasser dieser Zeilen stammt), läuft auf eine grausame Ironie hinaus: dass die Antikolonialisten von heute durch ihr Vertrauen auf die postkoloniale Staatsbildung das Erbe des Kolonialismus besiegeln werden, wo sie meinen, es zu bekämpfen und aufzulösen.
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Provenienzforschung zwischen politisierter Wahrheitsfindung und systemischem Ablenkungsmanöver
1. Einleitung Ausgangspunkt für meinen Beitrag bilden mehrere Aufsätze, die ich zwischen 2018 und 2020 in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht habe. 1 In ihnen habe ich gegen eine pauschale Verurteilung von ethnografischem Sammeln während der Kolonialzeit und ein Einstimmen in den dominanten Kanon der Restitution und für eine sorgfältige Differenzierung plädiert. 2 Aus der Sicht der Ethnologie gibt es kein „koloniales Sammeln“, weil jeder Fall wieder anders gelagert ist und einer sorgfältigen Erforschung bedarf. Ich habe auch gegen eine pauschale Rückgabe plädiert, da letztlich auch die Legitimität der Rückforderer, besonders wenn es sich um Privatpersonen handelt, überprüft werden müsste. In der öffentlichen Diskussion dominiert das Opfer / Täter-Schema, das, wie Kostner aufgezeigt hat, auf Zwangszuweisungen von Schuld- und Opferidentitäten – hier die
1 Alles aus Frankreich muss zurück nach Afrika. In: Neue Zürcher Zeitung, 31. 12. 2018, https://www.nzz.ch/feuilleton/kulturelles-erbe-afrikas-in-frankreich-soll-restituiertwerden-aus-emmanuel-macrons-plaenen-wird-ein-politisches-manifest-ld.1444037; Wohin mit der Raubkunst? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 2. 2019, https:// www . faz . net / aktuell / feuilleton / kunst / debatte - ueber - restitution - wohin - mit - der raubkunst-16018402.html; Auch im alten Afrika ging es nicht gewaltfrei zu. In: Die Welt, 3. 5. 2019, https://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article192867205/Auchim-alten-Afrika-ging-es-nicht-gewaltfrei-zu.html (alle aufgerufen am 1.10.2019). Gauguin und die fehlende Wiedergutmachung. In: Basler Zeitung 17. 6. 2019, https:// www.bazonline.ch/kultur/kunst/gauguin-und-die-fehlende-wiedergutmachung/story/30718323 (aufgerufen am 30. 9. 2019); Danach fragt ein treuer Beamter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 17. 1. 2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/raubkunstdebatte-am-beispiel-der-kultkrokodile-16584351.html (aufgerufen am 22. 7. 2020). 2 Vgl. dazu Karl-Heinz Kohl u. a.: Das Humboldt Forum und die Ethnologie. Frankfurt a. M. 2019, S. 35–52. Ich danke Karl-Heinz Kohl für das Lesen und Kommentieren meines Beitrags im vorliegenden Band.
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Kolonialisten und die ethnologischen Museen als deren Erbschuld, dort die „Herkunftsgesellschaften“, die „Indigenen“ – basiert. Diesem Schema liegt die Annahme von starren, auch durch die Zeit hindurch unwandelbaren Gruppen mit homogenen und egalitären Identitäten zugrunde. 3 Was in der öffentlichen Diskussion stattfindet, ist ein Kultivieren von „Schuld- und Opferidentitäten“, wobei die lautstarken Pro-Restitutions-Protagonisten durch „Läuterungsdemonstrationen“ (beispielsweise durch Forderungen wie „alles zurück an die Herkunftsländer“) anstreben, auch ihre moralische Autorität – da sie sich selbst der Tätergruppe zuordnen – wiederzugewinnen. In der Restitutionsdebatte bilden die heutigen Menschenrechtsvorstellungen und -regelungen die Folie, auf deren Hintergrund argumentiert wird. Jedoch werden die heutigen Rechts- und Unrechtsvorstellungen auf die koloniale Interaktion beschränkt. Unrechtskontexte, aus denen die Kulturgüter möglicherweise stammen, selbst wenn sie gravierende Menschenrechtsverletzungen beinhalteten, werden ausgeblendet. 4 Meine Erkenntnisse basieren auf meinen Studien zu kulturellem Eigentum, die ich im Rahmen der DFG-Forschergruppe „Cultural Property“ an der Universität Göttingen zwischen 2009 und 2016 durchgeführt habe; eines meiner Projekte befasste sich mit rechtswidrigem Kulturgütertransfer. 5 Die Forschergruppe ging vom Tatbestand aus, dass im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte eine zunehmende Propertisierung von „Kultur“ – die Annahme, dass selbst Kultur einen Eigentümer hat – stattgefunden hat. Im vorliegenden Beitrag beziehe ich mich auf die Argumente, die Felwine Sarr und Bénédicte Savoy in ihrem Bericht „Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationelle“ formuliert haben. 6 Den Bericht habe ich deshalb als Referenzpunkt gewählt, weil er fast alle Argumente der pauschalen Pro-Restitutionsprotagonisten enthält. Dieser vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Auftrag gegebene Bericht hat auch in Deutschland hohe Wellen geschlagen, nicht zuletzt deshalb, weil Savoy sich schon zuvor in Berlin als vehemente Ver-
3 Sandra Kostner (Hrsg.): Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für die Migrationsgesellschaften. Stuttgart 2019, S. 10–13. 4 Ich möchte jedoch ausdrücklich festhalten, dass ich das, was während der Kolonialzeiten geschehen ist, keineswegs verharmlosen möchte und auch die Art und Weise, wie manche ethnografische Sammlungen zustande kamen – durch Plünderungen, Brandschatzung und Massaker – nicht gutheiße. 5 Brigitta Hauser-Schäublin / Lyndel V. Prott (Hrsg.): Cultural Property and Contested Ownership. The Trafficking of Artefacts and the Quest for Restitution. London 2017. 6 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle. Paris 2018, http://restitutionreport2018. com/sarr_savoy_fr.pdf (aufgerufen am 30. 06. 2019).
Provenienzforschung zwischen Wahrheitsfindung und Ablenkungsmanöver
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treterin postkolonialer Provenienzforschung und entsprechender Rückgabeforderungen profiliert hatte. Ihr Austritt mit einem Paukenschlag aus dem Expertenbeirat des Humboldt Forums in Berlin ist legendär. 7 In diesem Beitrag werde ich zuerst kritisch über die gegenwärtige, oft als „post-kolonial“ bezeichnete Position reflektieren, von der aus koloniales Sammeln gesamthaft bewertet und alle Sammelnden während der Kolonialzeit pauschal verurteilt werden. Danach folgt eine ebenso kritische Analyse der in der öffentlichen Diskussion verwendeten politisierten Begrifflichkeiten. Abschließend diskutiere ich „Provenienzforschung“ als Teil der (kapitalistischen) Marktwirtschaft.
2. Zweifel an der Legitimität moralischer Überlegenheit Seit ich begonnen habe, mich in die an Tagungen und in den Medien immer wichtiger werdende „Restitutionsdebatte“ einzuklinken (2017), nagt an mir der Zweifel, wozu diese Debatte über symbolisches Kapital – die Frage, wem Kulturgüter gehören, die früher in den Kolonien auf unterschiedlichste Weise erworben wurden – letztlich dient. 8 Angestoßen von der Rede des französischen Präsidenten Macron an der Universität in Ouagadougou, der 2017 afrikanischen Ländern eine Rückgabe afrikanischer Kulturgüter in französischen Museen versprach, hat die Diskussion über dieses Thema, befeuert durch die Medien, 9 politische Kreise in Deutsch7 So soll sie „herausgebrüllt“ haben, das Humboldt Forum sei „wie Tschernobyl“, weil es seine Malaisen wie „Atommüll“ unter einer Bleidecke begrabe. Bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, so Savoy weiter, herrsche „totale Sklerose“; vgl. Süddeutsche Zeitung vom 21. 7. 2017 und Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 7. 2017. Vgl. auch den Beitrag von Viola König im vorliegenden Band. 8 Brigitta Hauser-Schäublin: Ethnologische Provenienzforschung – warum heute? In: Larissa Förster u. a. (Hrsg.): Provenienzforschung zu ethnografischen Sammlungen der Kolonialzeit. Positionen in der aktuellen Debatte. Elektronische Publikation zur Tagung „Provenienzforschung in ethnologischen Sammlungen der Kolonialzeit“. Museum Fünf Kontinente, München, 7./8. April 2017. Berlin 2018, S. 327–333, https:// doi.org/10.18452/19029 (aufgerufen am 30. 6. 2019). 9 Der Journalist Jörg Häntzschel (Süddeutsche Zeitung), einer der medialen Meinungsmacher in Sache Restitution von „kolonialer Raubkunst“, hatte sich Anfang 2019 auf die Suche nach Stimmen zu Restitutionsforderungen in Afrika begeben und sagte in Kamerun in einem Interview: „J’ai eu à interroger des personnes en Afrique mais elles ne m’ont jamais répondu. C’est très difficile d’avoir des avis là-dessus pourtant je vous assure que le sujet fait des vogues en Allemagne.“ („Ich habe Persönlichkeiten in Afrika befragt, aber sie haben nie geantwortet. Es ist sehr schwierig, Meinungen zu diesem Thema zu erhalten, aber ich versichere Ihnen, dass dieses Thema in Deutschland Wellen wirft“): Voix du Koat: Vol de la mémoire: aidé par l’inertie des Africains, l’Allemagne refuse toute restitution, 24. 2. 2019, http://lavoixdukoat.com/vol-de-lamemoire-aide-par-linertie-des-africains-lallemagne-refuse-toute-restitution/ (aufgerufen am 15. 7. 2019).
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land erreicht, selbst solche, die sich bisher weder um das jahrzehntelange unterfinanzierte Dasein ethnologischer Museen gekümmert oder sich für deren Sammlungen interessiert, noch sich Gedanken über deren Herkunft gemacht haben. Für die Aufarbeitung kolonialen Unrechts und die Wiedergutmachung engagieren sich auch in Deutschland zahlreiche Wissenschaftler und Aktivistengruppen. 10 Tatsächlich wurde viel zu lange die Erforschung der Umstände vernachlässigt, unter welchen Kulturgüter während der Kolonialzeit erworben wurden und auf welchen Wegen sie in europäische Museen gelangten (von Privatsammlungen, die nach wie vor unangetastet bleiben, ganz zu schweigen). Zwar war die Erwerbsgeschichte immer ein Teil des ethnologischen Erforschens von Artefakten, 11 jedoch, mit wenigen Ausnahmen, ohne Einbettung in explizit postkolonial-politische Zusammenhänge. 12 Was ich bei dieser mit moralischer Entrüstung und Verve geführten Debatte jedoch vermisse, ist eine Standortbestimmung, d. h. eine explizite Darlegung der Position, von der aus die einzelnen Akteure dieser Debatte die Kolonialzeit und den damaligen Erwerb von Kulturgütern kritisieren und Schuldzuweisungen vornehmen. 13 Die dominanten Protagonisten der 10 Nachdem in Deutschland Nachforschungen nach NS-Raubkunst bereits entsprechende Kunstwerke zu Tage gefördert hatten, begannen ethnologische Museen nach kolonialer Raubkunst in ihren Sammlungen zu suchen, vgl. Hauser-Schäublin (Anm. 8), S. 89. Provenienzforschung wurde plötzlich zum Mainstream und fast jedes größere ethnologische Museum in Deutschland betreibt inzwischen Provenienzforschung als eine seiner aktuell dringlichsten Aufgaben. Mehrere größere Forschungsförderinstitutionen haben entsprechende, mit beachtlichen Drittmitteln ausgestattete Programme ausgeschrieben. So viele neue Stellen wie für Provenienzforschung, die seit 2017 geschaffen worden sind, gab es zuvor an Museen während Jahrzehnten nicht. Der politische Druck hat gewirkt, und das ist gut so. 11 Vgl. Larissa Förster: Eine Tagung zu postkolonialer Provenienzforschung. Zur Einführung. In: Dies. u. a. (Anm. 8), S. 16. 12 Eine der wenigen Ausnahmen bildete Herbert Ganslmayer, der Direktor des Überseemuseums in Bremen (1975–1990), der schon in den 1970er-Jahren für eine Rückgabe von Ethnografica plädierte. Vgl. Herbert Ganslmayer: Nofretete will nach Hause: Europa – Schatzhaus der „Dritten Welt“. München 1984; vgl. auch Eike Haberland: Überlegungen zum Problem der Restitution von Kulturgütern an die Dritte Welt aus der Sicht des Ethnologen. In: Das Museum und Dritte Welt. Bericht über ein internationales Symposium vom 7.–10. Mai 1979 am Bodensee. München 1981, S. 144–153, zum Thema der Restitution. 13 Auch Forscher*innen der Provenienzforschung zu NS-Raubkunst kritisieren frühere Museumsleute, Sammler und Händler dafür, dass diese nicht schriftlich über ihr Handeln reflektiert haben. So schreibt etwa Hoffmann über Hildebrand Gurlitt, dass bei ihm „kein Ansatz einer kritischen Reflexion über seine Rolle als Kunsthändler im Dritten Reich zu lesen“ sei. „Damit lud Gurlitt eine zweite Schuld auf sich [. . .]“. Meike Hoffmann: Eine kritische Betrachtung von Hildebrand Gurlitts Lebensweg. In: Bestandsaufnahme Gurlitt. München 2018, S. 25. Jedoch fehlt auch bei den NS-Raubkunst-Forscher*innen die kritische Reflexion ihrer eigenen Position.
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Pro-Restitutionsfraktion in Deutschland scheinen davon auszugehen, dass die Epoche des Kolonialismus (charakterisiert als „une ère de violence“) 14 vorbei und heute alles besser sei. „Entkolonisierung“ als moralischer Imperativ untermauert diesen heutigen, selbstgerechten Standpunkt; er impliziert moralische Überlegenheit. Bekanntlich ist die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten erst 65 Jahre alt. Sie wurde 1954 unter dem Eindruck der während der beiden Weltkriege angerichteten Zerstörungen von der UNESCO und ihren Vertragsstaaten geschaffen 15; sie verbietet unter anderem Zerstörungen, Plünderungen und gewaltvolle Aneignung von Kulturgütern. 16 Wesentlich beeinflusst haben die heutige Werthaltung auch das Genfer Abkommen (1949), bei dem der Schutz von Menschen (und nicht Dingen!) vor „Kriegsverbrechen“ im Vordergrund steht, und die UN-Erklärung für Menschenrechte (1948). 17 Es stehen also historische Entwicklungen hinter dem moralisierenden, selbstgefälligen Standpunkt, von dem aus frühere Zeiten kritisiert werden, und zwar so, als hätten diese Regelungen schon immer gegolten. Kritik aus heutiger Warte ist selbstverständlich legitim, jedoch müssten als Erstes, zumindest von einem wissenschaftskritischen Standpunkt aus, die damaligen Verhältnisse in ihrer Zeit und ihrem Selbstverständnis beleuchtet werden, bevor diese pauschal verurteilt werden. Viele der während der Kolonialzeit aktiven Beamten, Sammler und Wissenschaftler waren sich des aus heutiger Sicht begangenen Unrechts, an dem sie direkt und indirekt beteiligt waren, kaum bewusst, zumal damals ein anderes Rechtsverständnis und andere moralische Maßstäbe herrschten. Genauso wenig scheinen sich heute selbst Wissenschaftler, trotz besseren Wissens, die heutigen Unrechts- und Gewaltverhältnisse, die schwerpunktmäßig zwischen den
14 Vgl. Sarr / Savoy (Anm. 6), S. 9–11. 15 Die Vorläuferabkommen, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen, bleiben hier unerwähnt. Auf dieser Haager Konvention bauen auch die späteren UNESCO-Konventionen auf. Insgesamt haben diese Konventionen die Bedeutung und den Wert von materiellen Kulturgütern im Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise verankert. Vgl. dazu die Beiträge von Lukas Meyer sowie Matthias Goldmann und Beatriz v. Loebenstein im vorliegenden Band. 16 Bemerkenswert ist, dass Krieg als solcher nicht stigmatisiert wird, nur bestimmtes Verhalten während der Kriegshandlungen, wie Zerstörung von Kulturgütern und Plünderungen oder „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bzw. wie mit Kriegsgefangenen und Zivilpersonen umgegangen wird, wie dies die Genfer Konvention von 1949 (und deren Zusatzprotokolle) definieren. Wie begrenzt solche Übereinkommen greifen, zeigen Kriegsereignisse in jüngster Zeit. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Krieg formal humanisiert werden soll – dabei ist Krieg das Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 17 Im Unterschied zu Konventionen, wie beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention, sind Deklarationen nicht rechtlich bindend.
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industrialisierten Ländern des Nordens und dem „Globalen Süden“ bestehen, eingestehen zu wollen.
3. Der blinde Fleck Der Wohlstand der Länder des Nordens baut auf diesem Unrechtssystem auf. Dieses ist nicht „bloß“ die Folge des Kolonialismus, sondern eines Systems, das, wie Eric Wolf (1982) überzeugend aufgezeigt hat, mit der europäischen Expansion nach 1492 begann: 18 Es sind weltumspannende Prozesse der merkantilen und kapitalistischen Entwicklung, die unterschiedlichste lokale Gesellschaften durchdrungen und transformiert haben. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sie sich im Zuge zunehmender „Liberalisierung“ immer mehr staatlich-gesellschaftlicher Kontrolle entzogen. Sie haben inzwischen eine Eigendynamik erlangt, die längst nicht mehr „nur“ vom „Westen“ bzw. „vom Norden“ ausgeht. Angetrieben von der Gier nach Profitmaximierung ist die Spirale von Produktion (oft mit faktisch unterbezahltem Ressourcenabbau und Produktion in Billiglohnländern ohne Sozialversicherungen sowie in Staaten mit wenig restriktiven Umwelt- und Gesundheitsgesetzen), Marketing und Dauerberieselung potenzieller Konsumenten mit Werbung, alles resultierend in Müll (der oft wieder in Ländern des Südens landet) zusehends kurzphasiger und enger geworden. In jeder alltäglichen Ware, vom T-Shirt über den gekapselten Kaffee bis zum Handy, sind diese Prozesse vielfach eingeschrieben. Der Wohlstand der Wohlhabenden weltweit basiert auf dem stillschweigenden Akzeptieren des Leidens und Sterbens von Millionen Menschen. Die Kolonialzeit war zweifellos eine Zäsur, aber sie war nur eine Epoche in einer Dynamik der Entfaltung der Prozesse, die Wolf so treffend analysiert und sichtbar gemacht hat und deren heutiges Ausmaß alles Bisherige übertrifft. Wie viele Restitutionsprotagonisten thematisieren auch Sarr und Savoy die heutige Ausbeutung Afrikas (und anderer Länder des Südens) durch Staaten und Konsortien (Land Grabbing, Kreditvergaben, Plünderung der Bodenschätze, Zoll- und Handelsbeschränkungen der industrialisierten Länder etc.) mit keinem Wort. Auch Plünderungen und (absichtliche) Zerstörungen von Kulturgütern im Rahmen militärischer Aktionen, wie sie in den Kriegsgebieten noch heute täglich stattfinden, sei es in Afghanistan, im Nahen Osten oder auch in Afrika aufgrund von ethnischem, religiösem und politischem Fanatismus (etwa die Zerstörung des
18 Eric T. Wolf: Europe and the People Without History. Berkeley 1982.
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Weltkulturerbes von Timbuktu 2012) bleiben unerwähnt. Ebenso foltern Militärs selbst aus Ländern des Nordens weiterhin Zivilisten und Gefangene, sei es in Afghanistan, im Irak (Abu Ghraib) oder in Guantanamo und anderswo, produzieren und exportieren die Industriestaaten Kriegswaffen, die weltweit in Konfliktgebieten auftauchen und zum Morden verwendet werden. Dies sind Prozesse, die direkt einsehbar sind und, wie die Medien zeigen, täglich Opfer fordern. Jedoch bleiben systemische Prozesse der Unterwerfung und Ausbeutung fast unsichtbar, wie beispielsweise die Staatsverschuldung der Länder des Südens und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Der Soziologe Jean Ziegler spricht von den „Raubrittern des globalisierten Finanzkapitals“, 19 wenn er pointiert darauf hinweist, dass der Kapitalfluss vom Süden nach Norden weit größer ist als der vom Norden nach Süden: „Die Schulden dienen dazu, die armen Länder zu strangulieren. [. . .] Das wenige Geld, das [etwa] die afrikanischen Länder einnehmen [. . .](,) wandert ohne Umwege in Form von Zinszahlungen oder Rückzahlungen in die Tresore der europäischen und amerikanischen Gläubigerbanken.“ 20
Man müsste hinzufügen, dass inzwischen einer der größten und mächtigsten Kreditgeber vor allem an kleinere und ärmere Länder China, d. h. dessen staatlich kontrollierte Zentralbank, ist. Sollten die armen kreditnehmenden Staaten der Schuldentilgung nicht nachkommen können, wird deren Infrastruktur als Pfand genommen. 21 Der Investigativjournalist Tom Burgis spricht von einer „looting machine“, welche die reichen natürlichen Ressourcen Afrikas systematisch plündert. Die looting machine agiert heute staatsübergreifend: „Where once treaties signed at gunpoint dispossessed Africa’s inhabitants of their land, gold and diamonds, today phalanxes of lawyers representing oil and mineral companies with annual revenues in the hundreds of billions of dollars impose miserly terms on African governments and employ tax dodges to bleed profit from destitute nations. In the place of the old empires are hidden networks of multinationals, middlemen and African potentates. These networks fuse state and corporate power. They are aligned to no nation and belong instead to the transnational elites that have flourished in the era of globalization. Above all, they serve their own enrichment.“ 22
19 Jean Ziegler: Was ist so schlimm am Kapitalismus? München 2019, S. 57. 20 Ebd., S. 82 f. 21 Sebastian Horn / Carmen Reinhart / Christoph Trebesch: China’s Overseas Lending (Kiel Working Papers 2132). Kiel 2019. 22 Tom Burgis: The Looting Machine. Warlords, Tycoons, Smugglers and Systematic Theft of Africa’s Wealth. London 2015, S. 8.
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Es ließen sich noch viele weitere Beispiele beibringen, etwa das CO2-Emissionshandelssystem der Europäischen Union. 23 Bei all diesen „Würgegriffen“, wie dies Jean Ziegler einmal genannt hat, geht es nicht um symbolisches Kapital, sondern um ökonomisches, kurz: ums Überleben breitester Bevölkerungsschichten. Dies ist – kurz zusammengefasst – die Situation, von der aus heute Eliten in den Ländern des Nordens mit (Teil-)Eliten der Länder des Südens über symbolisches Kapital aus der Kolonialzeit diskutieren und vielen, die eigentlich gar keine „Restitution“ verlangt haben, sozusagen eine Rückforderung und Rücknahme, im Sinne „eine[r] moralische[n] Kompensation für erlittenes Unrecht“ nahelegen. 24 Es sind also nicht tropenbehelmte Weiße oder Soldaten, die als verlängerter Arm von Kolonialherren lokale Gruppen irgendwo außerhalb Europas massakrieren, Dörfer plündern und reiche Beute nach Hause schleppen (um ein gängiges Bild von der Kolonialzeit zu bedienen). Die Tötung von Menschen (oder zumindest das Inkaufnehmen ihres Leidens und Sterbens) erfolgt heute auf subtilere (oder perfidere?) Weise, indirekt, weit weg vom Ort des Geschehens, jedoch mit aktiver Partizipation – durch Konsum – auch der Pro-Restitutionsprotagonist*innen. Der Zweifel, der an mir angesichts der Atemlosigkeit, der Lautstärke und Dezidiertheit nagt, mit der die Restitutionsdiskussion geführt wird, ließe sich folgendermaßen formulieren: Inwieweit dient die Diskussion über – vorwiegend elitäre – Kulturgüter aus elitären Einrichtungen in Europa, die zurück an die neue oder alte Elite in Afrika gehen sollen, dazu, von den gegenwärtigen sozio-ökonomischen Ausbeutungsprozessen und dem alltäglicher Kampf breiter Bevölkerungsschichten ums Überleben abzulenken? Steht sie im Dienst des kapitalistischen Systems und seiner Gewinner? Diese Frage stellt sich auch bezüglich der bereits erwähnten Rede des französischen Präsidenten in Ouagadougou. Sich an die politischen, bildungsmäßigen und ökonomischen Eliten, vor allem aber an „die Jugend“ („la jeunesse“) Afrikas wendend, hat Macron das Thema einer gemeinsamen Geschichten („histoire commune“), die Frankreich mit Afrika verbindet, aufgegriffen. Er verstand diese gemeinsame Geschichte als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer zukunftsgerichteten gemeinsamen Philosophie, einer gemeinsamen Vorstellungswelt („imaginaire commun“). 25 23 Tamara Gilbertson / Oscar Reyes: Globaler Emissionshandel. Wie Luftverschmutzer belohnt werden. Frankfurt a. M. 2010; vgl. auch Klaus Werner-Lobo / Hans Weiss: Schwarzbuch Markenfirmen. Die Welt im Griff der Konzerne. Berlin 2018. 24 Kostner (Anm. 3), S. 12. 25 https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2017/11/28/discours-demmanuel-macron-aluniversite-de-ouagadougou (aufgerufen am 30. 6. 2019).
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In seinem Zukunftsentwurf, deren Basis gemeinsame Freundschaft bilden soll, nannte er Kultur als wichtigstes (Heil)-Mittel (remède) für die Schaffung einer gemeinsamen Vorstellungswelt und versprach, das „kulturelle Erbe“ (patrimoine culturel) afrikanischer Staaten, das sich in französischen Museen befindet, innerhalb der nächsten fünf Jahre temporär oder permanent zurückzugeben („restitution“). Als zweites „Heilmittel“ nannte er den Sport und als drittes die gemeinsame französische Sprache, Frankophonie, also die Adaption der ehemaligen Kolonialsprache durch die ehemaligen Kolonien. Zur Frankophonie gehört nicht nur die gemeinsame (kolonial eingeführte) Sprache, sondern auch die Verbreitung einer gemeinsamen Kultur. Pointiert ausgedrückt, hat sich Macron auf fast zynische Weise auf die erfolgreiche Vollendung der „mission civilisatrice“ berufen, wie sie Frankreich als eine der Legitimationen seiner Kolonialpolitik gedient hatte und nun den Weg in eine gemeinsame Zukunft europäischen Zuschnitts öffnen soll. 26 Macrons Rede war eine Rede über europäisch-zentriertes symbolisches (Start-)Kapital und nicht über die Überlebensprobleme breiter Bevölkerungsschichten in Afrika und die dafür verantwortlichen systemischen Ausbeutungsbeziehungen.
4. Politische und eurozentrische Begriffe 4.1 „Kulturelles Erbe“ statt „Kulturgut“ Viele WissenschaftlerInnen, die sich in die Restitutionsdebatte eingebracht haben, verwenden in ihren Texten Konzepte und Begrifflichkeiten, die primär aus politischen Diskussionen und der Aktivistensprache stammen. Dies zeigt sich schon darin, dass auch Sarr und Savoy nicht von „Kulturgütern“ (biens culturels) sprechen, wie dies beispielsweise das 1970 geschlossene UNESCO-Übereinkommen über den rechtswidrigen Kulturgütertransfer tut, sondern von „afrikanischem kulturellem Erbe“ (patrimoine culturel africain). Die UNESCO-Konvention verwendet in der französischen Version den Begriff biens culturels, in der englischen cultural property; der äquivalente deutsche Rechtsbegriff lautet „Kulturgut“ bzw.
26 Auffällig ist, dass er den „frankophonen“ Staaten Afrikas nicht angeboten hat, wichtige europäische Werke aus dem Louvre, dem Musée d’Orsay oder dem Musée Picasso zur Verfügung zu stellen. Eine ähnliche Forderung hatte bereits Appiah aufgestellt; vgl. Kwame Anthony Appiah: Whose Culture Is It? In: James Cuno: Whose Culture? The Promise of Museums and the Debate over Antiquities. Princeton 2009, S. 71–86, hier S. 84.
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„Kulturgüter“. 27 Die UNESCO-Konvention definiert cultural property folgendermaßen: „‚[C]ultural property‘ means property which, on religious or secular grounds, is specifically designated by each State as being of importance for archaeology, prehistory, history, literature, art or science [. . .].“ 28
Selbst das Intergovernmental Committee for Promoting the Return of Cultural Property to its Countries of Origin or its Restitution in Case of Illicit Appropriation verwendet denselben Begriff, cultural property, und nicht cultural heritage. Dahinter stehen juristische Überlegungen. Wie die Völkerrechtler Lyndel Prott und Patrick O’Keefe betonen, befasst sich das rechtliche Konzept cultural property vor allem mit den Rechten (und Pflichten) des Eigentümers. Immerhin gibt dieser Begriff nicht vor, wer der Besitzer oder Eigentümer ist oder sein sollte und wie jemand in den Besitz des Kulturguts gelangt ist. Im Unterschied dazu ist kulturelles Erbe oder cultural heritage – der Begriff wird zunehmend auch in neueren Konventionen verwendet, so beispielsweise in der 1972 World Heritage Convention oder der Convention for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage von 2003 – ein policy-Begriff, welcher den Schutz des kulturellen Erbes für den Genuss der gegenwärtigen und künftigen Generationen gewährleisten soll. 29 Hier werden also bereits die gegenwärtigen und künftigen (Mit-)Nutzer und Erben definiert: Im Prinzip ist dies die Weltöffentlichkeit, also jedermann und jedefrau. Dies bedeutet beispielsweise, dass ein von der UNESCO als „Welterbe“ anerkanntes lokales Kulturgut in ein welt-öffentliches Gut transformiert wird. 30 Zwar haben Kulturgüter immer ein „Publikum“, das jedoch kulturspezifisch definiert ist und nie „allen“ offensteht, also kaum je eine 27 Deutsch ist keine offizielle Sprache der Vereinten Nationen (einschließlich ihrer Unterorganisationen), weshalb keine autorisierte deutsche Version des Übereinkommens existiert. 28 UNESCO Convention on the Means of Prohibiting and Preventing the Illicit Import, Export and Transfer of Ownership of Cultural Property von 1970, http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/illicit-trafficking-of-cultural-property/1970-convention/ (aufgerufen am 4. 7. 2019). 29 Lyndel V. Prott / Patrick O’Keefe: „Cultural Heritage“ or „Cultural Property“? In: International Journal of Cultural Property 1 (1992) H. 2, S. 309; vgl. Brigitta HauserSchäublin / Lyndel V. Prott: Introduction: Changing Concepts of Ownership, Culture and Property. In: Dies. (Anm. 5), S. 10; Valdimar Hafstein; Making Intangible Heritage. Bloomington 2018, S. 1–20. Am deutlichsten wird dieses mit dem HeritageKonzept verbundene policy-Ziel in der 2007er UN-Declaration of the Rights of Indigenous Peoples. Vgl. dazu den Beitrag von Judith Hackmack und Wolfgang Kaleck im vorliegenden Band. 30 Melanie Wiber: Cultural Property, Repatriation and Relative Publics: Which Public? Whose Culture? In: Franz v. Benda-Beckmann / Keebet v. Benda-Beckmann / Melanie G. Wiber (Hrsg): The Properties of Property. New York 2006, S. 332.
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Öffentlichkeit umfasst, wie diese etwa die UNESCO mit ihrem ErbenBegriff anvisiert. Aus völkerrechtlicher Perspektive schränkt der Begriff des „Welterbes“ die Rechte des Besitzers (sei dieser ein Individuum, eine Rechtsperson, eine Gemeinschaft oder ein Staat) ein, da auch andere Personenkreise Zugang zu diesem „Welterbe“ erlangen. 31 Ob „cultural property“ oder „kulturelles Erbe“ – beide Begriffe referieren auf Besitz oder Eigentum, wenn auch in ganz unterschiedlicher Form. Aus ethnologischer Sicht ist „kulturelles Erbe“ kein analytischer, sondern ein normativer Begriff, wie dies bereits Prott und O’Keefe betont haben. „Erbe“ setzt einen Erblasser voraus und eine (staatlich-gesetzliche oder durch das jeweilige Verwandtschaftssystem definierte) Beziehung zwischen Menschen verschiedener Generationen, welche die Weitergabe von Rechten / Pflichten und Eigentum von der älteren an die jüngere Generation regelt. Das in der Restitutionsdebatte gängige Konzept von „kulturellem Erbe“ widerspiegelt jedoch kein rechtliches Konzept, sondern common sense; es wird auch von Sarr und Savoy weder diskutiert noch definiert. Ein solches Common-sense-Verständnis von „kulturellem Erbe“ ist biologistisch inspiriert, so als würde ein solches Erbe, vergleichbar mit Genen, in einer Blutlinie von einer Generation auf die andere weitergegeben werden. In den Restitutionsdebatten hat cultural heritage den Begriff cultural property nicht zuletzt deshalb abgelöst, um die emotionale Bedeutung der Dinge und deren Bedeutung für Identitätsbildungen hervorzuheben. Durch diese Antizipation wird eine essentialistische, quasi-biologische, trans-generationale Zusammengehörigkeit von Menschen und materiellen und immateriellen kulturellen Gütern postuliert. Damit lässt sich, wie auch Sarr und Savoy meinen, relativ einfach bestimmen, wer ein rechtmäßiger Eigentümer des Erbes („propriétaire légitime“) 32 ist: die Nachfahren des ehemaligen Besitzers 33 in der „Herkunftsgesellschaft“ des Kulturguts. 34
31 Bei den Welterbestätten ist dies am augenfälligsten, da selbst beispielsweise lokale Heiligtümer wie Tempel, die in die UNESCO-Liste aufgenommen werden, Besuchern aus aller Welt zugänglich sein müssen. Dies stößt nicht immer auf Begeisterung der lokalen Bevölkerung, der ursprünglichen Besitzer des Tempels. 32 Sarr / Savoy (Anm. 6), S. 25. 33 In den Restitutionsdebatten wird kaum je differenziert zwischen „Besitzer“ und „Eigentümer“. Während der frühere „Besitzer“ eines Kulturguts relativ einfach zu identifizieren ist (sofern entsprechende mündliche oder schriftliche Informationen dazu existieren), wäre die Frage, wer Eigentümer ist, viel schwieriger zu beantworten (s. unten); vgl. dazu http://www.juramagazin.de/besitz_eigentum.html (aufgerufen am 19. 7. 2019). 34 „Herkunftsgesellschaft“ (Source Communities) suggeriert eine Unwandelbarkeit der sozialen Gruppen, so als wären die gegenwärtigen Gesellschaften geschlossene Einheiten und immer noch die gleichen wie vor 100 oder mehr Jahren – trotz des
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4.2 Der Eigentumsbegriff Aufs Engste verknüpft mit „kulturellem Erbe“ ist der Eigentumsbegriff, der in den Restitutionsdebatten verwendet wird. Er wird genauso wie „kulturelles Erbe“ weder diskutiert noch erklärt. Sarr und Savoy gehen von einem eurozentrisch-kapitalistischen Eigentumsbegriff aus, der nur ein Recht anerkennt: dasjenige eines „rechtmäßigen“ Eigentümers. Dieser Eigentumsbegriff baut auf der Dichotomie von privat und öffentlich auf; er wurde von den Europäern in die Kolonien eingeführt und hat sich schließlich in den Rechtsordnungen der nachkolonialen Staaten niedergeschlagen. Die beiden Autoren verwenden den Begriff offensichtlich gerade deswegen, weil sie das praktizieren, was v. Benda-Beckmann „partisan political engagement“ genannt hat. 35 Dieser Eigentumsbegriff wird jedoch den komplexen künstlerischen, spirituellen, sozio-politischen und performativen Rechten und der multiplen Teilhabe an einzelnen aus historischem Kontext stammenden Artefakten nicht gerecht. Eigentum ist Teil eines besonders gestalteten und mit Bedeutung versehenen Netzes von sozialen Beziehungen in Bezug auf Wertgegenstände und Rechte und Verantwortungen daran. 36 Benda-Beckmann, Benda-Beckmann und Wiber verstehen Eigentum (property) als ein „Bündel von Rechten“ und weisen damit auf die ganz unterschiedlichen Rollen und Bedeutungen hin, die Eigentumsrechte haben können. 37 So wäre etwa zu differenzieren zwischen der ideologischen Ebene, derjenigen der Rechtssysteme (den lokalen und staatlichen), derjenigen der tatsächlichen sozialen Beziehungen und derjenigen der mit diesen Dingen verbundenen sozialen Praxen sowie den Beziehungen zwischen diesen Ebenen. Dementsprechend unterscheiden sie in der konkreten Untersuchung zwischen sozialen Einheiten (Individuen, Gruppen, Kooperationen, Staaten), die Eigentumsrechte und entsprechende Verpflichtungen besitzen, und der Konstruktion von Wertgegenständen als Eigentumsobjekte. Hinzu kommen die unterschiedlichen Rechte und Verpflichtungen, die diese sozialen Einheiten in Bezug auf solche Objekte haben. Diese drei Dimensionen sind alle zeit- und ortspezifisch. Am Beispiel der Kulturgüter, die zu Welterbe transformiert werden, wurden diese komdemografischen, sozialen, ökonomischen, religiösen und politischen Wandels. Aus diesem Grund verwende ich den Begriff in Anführungszeichen. 35 Franz v. Benda-Beckmann: Relative Publics and Property Rights. A Cross-Cultural Perspective. In: Charles Geisler / Gail Daneker (Hrsg.): Property and Values. Alternatives to Public and Private Ownership. Washington 2000, S. 152. 36 Rosemary J. Coombe: Frontiers of Cultural Property in the Global South. In: Jane Anderson / Haidy Geismar (Hrsg.): The Routledge Companion to Cultural Property. London 2017, S. 377 f. 37 Franz v. Benda-Beckmann / Keebet v. Benda-Beckmann / Melanie G. Wiber: The Properties of Property. In: Dies. (Anm. 30), S. 1–39.
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plexen Verhältnisse bereits angedeutet. Überträgt man dieses Konzept von Eigentum auf außereuropäische Kulturgüter, die in den Kolonien erworben worden waren und sich nun in westlichen Museen befinden, zeigt sich die Vielfältigkeit dieser Beziehungs- und Bewertungsnetze. Hier wären also, um eine voreilige Identifizierung eines „rechtmäßigen Eigentümers“ zu vermeiden, die damaligen Verhältnisse, aus denen die Kulturgüter stammen, deren Akteure (Künstler, Auftraggeber, Besitzer, Eigentümer, Nutzer, „Publikum“) sowie deren Rechte und Verpflichtungen zu untersuchen. Dazu gehören auch die damaligen Ausschluss- und Inklusionsmechanismen zu diesem Gut, dessen Nutzungsformen und Nutzer sowie die Formen der Weitergabe, des Bewahrens oder der Zerstörung. Die Transaktionsformen während der Kolonialzeit bilden selbstverständlich einen wichtigen Teil einer solchen Untersuchung. Auf letztere Phase beschränkt sich bisher die Provenienzforschung, jedoch ohne das aktuelle Netz der Rechte, der Beziehungen, der Ansprüche / Verpflichtungen und Bedeutung für die Akteure (Individuen, Gruppen, Staaten) und Institutionen in Deutschland und in den Herkunftsländern sowie ihre Beziehungen untereinander zu berücksichtigen. Ebenso wenig wird deren jetzige und geplante Nutzung einschließlich des „Publikums“ in die Untersuchung miteinbezogen. Das zu tun wäre ein komplexes Unterfangen – und die Resultate wären ebenso komplex. Ein einziger „legitimer“ Eigentümer ließe sich kaum ausmachen, umso mehr, als Kulturgut nicht bloße Materie ist, weder im Herkunftsland noch in Europa. Hier hilft auch der diffus-plakative Begriff der Identität (wessen Identität?) nicht weiter. Nationalisierte, ebenso wie ethnisierte Kulturgüter, besonders wenn sie als „kulturelles Erbe“ deklariert werden, sind Instrumente von Macht und Identitätspolitiken und dienen der Abgrenzung gegenüber anderen. Nach dem Credo von Restitutionsprotagonist*innen kann während der Kolonialzeit gar kein rechtmäßiger Erwerb eines Kulturguts durch einen Europäer stattgefunden haben. Diese reduktionistische Betrachtungsweise eines einzigen „legitimem Eigentümers“ verbunden mit ihrem kapitalistischen Eigentumsbegriff schließt a priori die Möglichkeit aus, dass afrikanische (oder andere) Kulturgüter im Verlauf ihrer langen Zeit in Europa ebenfalls zu einem Kulturgut („Erbe“) des betreffenden Lands werden können. Die materiellen und ideellen Investitionen in Bewahren, Dokumentieren, Erforschen und Vermitteln (Ausstellungen und Publikationen) gehören zu diesem Netz von Teilhabe an Eigentum, das sich um solche Objekte entwickelt hat. 38 Wie bereits erwähnt, schließen Sarr und Savoy
38 Europäische Museen mit Kulturgütern aus Afrika (und anderswo) haben außereuropäische „Kunst“ erst bekannt gemacht und das Bild von Afrika in Europa geprägt.
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eine Vieleigentümerschaft aus. Dabei böten gerade die in den Artefakten inhärenten multilateralen Verbindungen von Institutionen und Menschen die Chance, diese sichtbar zu machen, sie zusammenzuführen und sie miteinander kommunizieren zu lassen. Diese knappe Skizzierung zeigt, wie in der gegenwärtigen Restitutionsdebatte die Begrifflichkeiten bezüglich property im Sinne von „kulturellem Erbe“ und Eigentum in einem sehr eingeschränkten, eurozentrischen Sinn verwendet werden: Sie dienen primär als politische Instrumente.
4.3 „Restitution“ Ähnliches gilt für den Restitutionsbegriff, den beispielsweise Sarr und Savoy bereits im Titel ihres Auftragsberichts verwenden. Sie verweisen darauf, dass dieser Begriff oft eine Abwehrhaltung bei Museen auslöse. Sie führen – indem sie indirekt „koloniales Sammeln“ mit NS-Raubkunst vergleichen – die Restitution von 27 französischen (!) Gemälden an, welche die Nationalsozialisten gestohlen hatten. Helmut Kohl gab diese 1994 offiziell dem französischen Präsidenten François Mitterand zurück. Die Autoren gehen in ihrem Bericht von einer Wörterbuchdefinition von Restitution aus: „‚restituer‘ signifie rendre un bien à son propriétaire légitime [. . .]“. 39 Sie betonen die moralische Verpflichtung, die damit einhergeht. In ihrem Text verwenden sie diesen Begriff konsequent und ersetzen ihn gelegentlich durch „retour“, Rückgabe, jedoch ohne explizit einen Bedeutungsunterschied zu machen. In völkerrechtlicher Hinsicht sieht es, zumindest was die UNESCO betrifft, anders aus. Die 1970er UNESCO-Konvention verwendet den Begriff Restitution im Zusammenhang mit rechtswidrigem Kulturgütertransfer (in Artikel 13 und 15). Sehr viel deutlicher wird die Differenzierung der Begrifflichkeiten in den bereits erwähnten Statuten des UNESCO Intergovernmental Committee for Promoting the Return of Cultural Property, die 1976 geschaffen und der Konvention von 1970 zur Seite gestellt wurde. 40 Dieses Gremium wurde eingerichtet, um den Län-
39 Sarr / Savoy (Anm. 6), S. 25. In der englischen Version: „To ‚restitute‘ literally means to return an item to its legitimate owner.“ Danach folgt die Interpretation der Autoren in Bezug auf Kulturgüter: „[. . .] to restitute aims to re-institute the cultural item to the legitimate owner for his legal use and enjoyment, as well as all the other prerogatives that the item confers (usus, fructus, and abuses)“, ebd., S. 29: https://restitutionreport2018.com/sarr_savoy_en.pdf (aufgerufen am 1.10.2019). 40 Vgl. UNESCO Convention 1970 (Anm. 28) und das Intergovernmental Committee: http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/restitution-of-cultural-property/intergovernmental-committee/statutes-and-rules-of-procedure/ (beide aufgerufen am 4. 7. 2019).
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dern behilflich zu sein, die Kulturgüter von fundamentalem Wert – hier als cultural heritage bezeichnet 41 – verloren haben und sie zurückerhalten möchten. 42 Bereits im Titel dieses Komitees wird der Unterschied deutlich: Rückgabe ist ein mehr oder weniger freiwilliger Prozess, der auch durch Einsicht oder durch moralischen Druck zustande kommen kann. Der Begriff „Restitution“ wird dann verwendet, wenn der Nachweis erbracht wurde, dass die Aneignung des Kulturguts rechtswidrig erfolgte. 43 Das Intergovernmental Committee versteht sich als Vermittlungs- und Mediationsinstitution, zieht jedoch auch andere Konfliktlösungsmöglichkeiten in Betracht, etwa dass die klagende Partei eine gerichtliche Klage einreicht oder ein Schiedsgerichtsverfahren durchgeführt wird. Das Komitee fördert jedoch, wie die Operational Guidelines festhalten, in erster Linie außergerichtliche Verfahren; es verweist darauf, dass es eine Reihe von Alternativen zur endgültigen Rückgabe eines Kulturguts geben kann, unter anderem eine Leihgabe, temporärer Austausch von Objekten für Studienzwecke und / oder Sonderausstellungen sowie gemeinsame Forschungsund Restaurierungsprojekte. Jedes Museum versucht zu vermeiden, dass ihm für die Rückführung eines Kulturguts der Stempel „Restitution“ aufgedrückt wird, denn „Restitution“ im normativ-völkerrechtlichen Sinn der UNESCO bedeutet so viel wie ein Schuldeingeständnis bzw. eine rechtlich erwiesene Tatsache. Selbst in Fällen, wo der Verstoß gegen die Konvention eindeutig war, versuchen US-amerikanische und europäische Institutionen und Staaten dieses Stigma zu vermeiden, indem sie die Rückgabe als „freiwillig“ bzw. als „Geschenk“ deklarieren. 44 So legte beispielsweise Frankreich Wert darauf, dass die Rückgabe im Jahr 2010 von 75 aus dem 14. Jahrhundert stammenden Manuskript-Bänden aus der königlichen Bibliothek in (Süd)Korea, welche französische Soldaten 1867 geplündert und die Manuskripte nach
41 Was als „cultural heritage“ bezeichnet wird und was nicht, entscheidet das Herkunftsland, der Staat, der die UNESCO-Konvention unterschrieben bzw. ratifiziert hat. 42 http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/restitution-of-cultural-property/intergovernmental-committee/ (aufgerufen am 4. 7. 2019). 43 Die Konvention ist nicht retroaktiv, d. h. sie ist für die einzelnen Mitgliedstaaten, welche die Konvention unterschrieben haben, erst nach dem Datum der Ratifizierung bindend. 44 Vgl. dazu Brigitta Hauser-Schäublin: Entangled in Artefacts. Governing Diverging Claims to Rights to Cultural Objects at UNESCO. In: Birgit Müller (Hrsg.): The Gloss of Harmony. The Politics of Policy-Making in Multilateral Organisations. London 2013, S. 154–174; Dies.: Looted, Trafficked, Donated and Returned. The Twisted Tracks of Cambodian Antiquities. In: Dies./Prott (Anm. 5), S. 64–81.
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Paris verbracht hatten, keine Restitution war, 45 sondern eine Rückgabe – und zwar im Sinne einer Dauerleihgabe. 46 Die meisten Protagonist*innen der Restitutionsdebatte verwenden ebenfalls unbesehen den Begriff der Restitution. Für sie ist der Unrechtkontext – die Kolonialzeit schlechthin – ausschlaggebend; dementsprechend entscheiden sie eigenmächtig, was rechtmäßig ist und was nicht.
5. Kunstmarkt und außereuropäische „Kunst“ Ein genauerer Blick auf die Kategorien von Kulturgütern, die bezüglich Rückgabe zur Diskussion stehen, zeigt, dass es sich größtenteils um solche handelt, die heute auf dem internationalen Kunstmarkt einen hohen Preis erzielen würden. 47 Der Kunstmarkt ist bekanntlich ein Markt wie jeder andere auch: Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Kulturgüter werden zur Ware. Den Kunstmarkt interessieren nur Objekte, die von Expert*innen, vor allem Kunsthistoriker*innen, als „Originale“ identifiziert wurden. „Repliken“ sind „wertlos“. Dahinter steht ein Dingverständnis, das sich von demjenigen der meisten ehemals nicht-kapitalistischen Gesellschaften unterscheidet. Kopieren und Nachahmen – nach kulturspezifischen ästhetischen Vorstellungen und sozialen Kriterien – waren und sind in vielen Gesellschaften üblich. Auch in den Fällen, in denen sich heute Nachkommen von Herkunftsgesellschaften für einen – temporären – Ersatz für Kulturgüter, die sich in deutschen Museen befinden, entschieden hatten, zeigt sich ein ganz anderes Verständnis von Repliken: Die „Kopien“ waren sehr viel größer und wuchtiger; ein 1:1 Maßstab; eine Detail- und Materialtreue spielten eine untergeordnete Rolle. 48
45 Sarr und Savoy verweisen bezüglich rechtlicher Perspektiven auf ein „Atelier juridique“, das im Collège de France im Juni 2018 stattfand, vgl. Sarr / Savoy (Anm. 6), S. 119–123. Diese Tagung stand jedoch nicht unter dem Begriff der „Restitution“, sondern dem der Rückgabe („le retour“). 46 Hauser-Schäublin (Anm. 44), S. 162. Sarr und Savoy erwähnen ebenfalls die Rückgabe der koreanischen Manuskripte, die in der Bibliothèque nationale de France aufbewahrt worden waren, an Südkorea. In diesem Zusammenhang vermeiden sie den Begriff der Restitution, sondern sprechen nur von „zurückgeben“ („rendre“). 47 Brigitta Hauser-Schäublin: Es zählt allein das Argument der Moral. In: Neue Zürcher Zeitung 16. 11. 2020, https://www.nzz.ch/feuilleton/ns-entschaedigungsforderungenund-das-argument-der-moral-ld.1583873 (aufgerufen am 7. 12. 2020). 48 Anne Splettstößer: Umstrittene Sammlungen. Vom Umgang mit kolonialem Erbe aus Kamerun in ethnologischen Museen. Die Fälle Tange / Schiffsschnabel und Ngonnso’/Schalenträgerfigur in Deutschland und Kamerun (Göttingen Studies in Cultural Property, Bd. 15). Göttingen 2019, S. 309–313. Vgl. beispielsweise den umstrittenen Schiffsschnabel der Bele-Bele (Kamerun) im Museum Fünf Kontinente in
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Auch der Kunstmarkt kennt nur einen Besitzer, denjenigen, der das Kulturgut sein Eigentum nennt und es verkauft, und, nach abgeschlossener Transaktion, der Käufer. Durch das für europäische Museen charakteristische langfristige Bewahren von Dingen – also ein enclaving im Sinne Appadurais – sind sie zu „Unikaten“ geworden, also zu genau dem, was der Kunstmarkt zum Funktionieren braucht. 49 In den meisten Gesellschaften wurde Kulturgütern, die als Verkörperung oder Sitz von Ahnen oder mächtigen jenseitigen Wesens galten, ein Leben zugeschrieben. Solange sie als magisch-wirkungsvoll wahrgenommen wurden, wurden sie sorgfältig aufbewahrt. Verloren sie ihre Kraft – neigte sich ihr Leben dem Ende zu –, wurden sie entweder zerstört oder ihrem Verfall überlassen. Jedoch wurden sie durch neu angefertigte ersetzt – und zwar kaum je im Sinne eines europäisch-originalgetreuen Kopierens. Im Unterschied dazu haben Artefakte in Sammlungen und Museen nicht mehr ein vergängliches Leben, sondern sind eingebettet in eine abstrakte Zeitlosigkeit. Auf dem Kunstmarkt sind Alltagsgegenstände, also Gebrauchsgegenstände wie Kleidung und Schmuck, Einrichtungsobjekte wie Hocker oder Matten, Arbeitsgeräte und Waffen bedeutungslos, es sei denn, sie weisen eine besondere künstlerische Ausgestaltung auf. Deshalb ist von „unspektakulären“ Kulturgütern in den Restitutionsdebatten kaum die Rede. Unberücksichtigt – oder als unbedeutend eingeschätzt – bleibt dabei das vielfältige lokale Wissen, das in erster Linie die lokalen Gemeinschaften entwickelt haben. Seien es die Jäger und Sammlerinnen, Feldbauer- oder Hirtengesellschaften: Handwerker unterschiedlichster Art, Musiker und Tänzer sowie dörfliche und städtische Spezialistinnen – sie alle haben über Jahrhunderte lokales Wissen, Techniken und Fertigkeiten entwickelt und weitergegeben, die in Alltagsgegenständen ihren materiellen Ausdruck gefunden haben. Dieses vielfältige lokale Wissen ist immaterielles Kulturgut, das in vielen Archiven Europas und in Publikationen schlummert, welche den Herkunftsländern nicht zugänglich sind (sei es wegen der Art der Veröffentlichung – dem wissenschaftlichen und theoretisch-beladenen Jargon – oder der Sprache). Dabei sind Dokumente wie Tonbandund Foto / Filmaufnahmen oder Texte, welche Wissen und Sichtweisen der lokalen Bevölkerung enthalten, mehr noch als materielle Zeugnisse, die auf dem Kunstmarkt heiß begehrt sind, Fragmente der Geschichte
München (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/debatte-ueber-restitutionwohin-mit-der-raubkunst-16018402/objekt-der-begierde-der-16018434.html ) und die von Prinz Kum’a Ndume angefertigte „Kopie“: http://lavoixdukoat.com/vol-de-lamemoire-aide-par-linertie-des-africains-lallemagne-refuse-toute-restitution/conference-africavenir/#prettyPhoto/0/ (beide aufgerufen am 11. 7. 2019). 49 Arjun Appadurai (Hrsg.): The Social Life of Things. Cambridge 1986.
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und der Erfahrung von Menschen. Auch immaterielle Kulturgüter stellen Momentaufnahmen früherer Zeiten dar. Sie sind Zeugnisse des Wissens und Könnens von Männern und Frauen und verdienten es noch mehr als die elitäre Kunst der Mächtigen, als Medium der Identitätsfindung breiter Bevölkerungsschichten zur Verfügung gestellt zu werden.
6. Elitäre Kulturdokumente – identitätsstiftend für wen? Die Rückgabedebatte konzentriert sich, wie bereits deutlich geworden sein dürfte, auf materielle Dinge, mit denen auf dem Kunstmarkt ein beachtlicher Gewinn erzielt werden kann. In den medialen und politischen Debatten wird „Identitätsfindung“ ins Feld geführt, wenn von der Bedeutung der materiellen Kulturgüter für die Herkunftsländer oder die Nachfahren der Herkunftsgesellschaften gesprochen wird. 50 Auch Sarr und Savoy betonen die überragende identitätsfördernde Bedeutung der symbolträchtigen Objekte, der Erbstücke (objets du patrimoine), denn sie vermögen, so die Autoren, selbst grenzüberschreitend Gemeinschaften um sich zu scharen; die materiellen Zeugnisse symbolisierten ihre Einheit. 51 Bei vielen Artefakten, die heute auf der Liste potenzieller Rückgaben stehen, handelt es sich – auf dem Hintergrund heutiger Menschenrechts- und Demokratievorstellungen betrachtet – zu einem beachtlichen Teil um Abzeichen der Macht von autokratischen Herrschern und hierarchisch organisierten Männerbünden. Dass ausgerechnet solche Artefakte, die vorbestimmte Eliten auch als Herrschaftsinstrumente über ihr „Volk“ verwendeten, nun zur Identitätsbildung generell von Menschen und Gemeinschaften in Afrika südlich der Sahara verwendet werden sollen, klingt eher zynisch. Sie sollen, so Sarr und Savoy weiter, Individuen und Gemeinschaften dazu dienen, Erinnerungsarbeit (travail de mémoire) leisten zu können, um ihre Identität wiederzufinden. 52 Dieser politisch aufgeladene Begriff, Erinnerungsarbeit, stammt aus dem Umfeld der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und wird nun im Analogieschluss auf die Kolonialzeit übertragen. Die Autoren – sowie weitere Protagonisten der Restitutionsdebatte – beschränken ihn in der Anwendung auf das Täter-Opfer-Schema
50 Dinge, die mit „Identität“ verbunden werden, werden dadurch tabuisiert. Kritische Rückfragen werden zu Tabubrüchen. 51 Sarr / Savoy (Anm. 6), S. 28. Die Autoren blenden mit dieser idealistischen Formulierung aus, dass Nation Building immer noch eine Herausforderung für zahlreiche Staaten darstellt. 52 Ebd., S. 30.
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der Kolonialisten und der Kolonisierten. Der Grundtenor ihres Plädoyers klingt auch so, als seien alle afrikanischen (und anderen außereuropäischen) Gesellschaften in vorkolonialer Zeit harmonisch-egalitäre, von Gewalt und Herrschaftsmechanismen freie Gemeinschaften von gleichberechtigten Bürgern gewesen. Implizit schimmert in solchen Annahmen das Bild vom „edlen Wilden“ durch. Zudem gilt es in den öffentlichen Restitutionsdebatten als ein Tabu, auch vorkoloniale gesellschaftliche Verhältnisse kritisch zu betrachten. Die provokative Forderung von Savoy in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung – sie wolle wissen, „wie viel Blut von einem Kunstwerk tropft“ – zeigt ihre Einäugigkeit, denn sie meint damit nur den Erwerb während der Kolonialzeit. 53 Alle früheren Bluttaten, die mit oder für diese „Kunstwerke“ vor dem kolonialen Erwerb begangen worden waren, werden nicht einmal thematisiert. Das Täter-Opfer-Schema wird zum Weiß-Schwarz-Raster, in welchem indigene Täter-Opfer-Beziehungen keinen Platz haben, weil sie das Hauptargument der Pro-Restitutionist*innen schwächen würden. Das Beispiel der Benin-Objekte – vor allem die berühmt gewordenen Benin-Bronzen und Elfenbeinschnitzereien, welche britische Soldaten anlässlich der Strafexpedition von 1897 aus dem Palast des Königs von Benin mitnahmen (im Zuge einer Plünderung und Brandschatzung) – wird in vielen Rückgabedebatten als Paradebeispiel für koloniale Gewalt und koloniale Raubkunst angeführt. Nur selten wird der Ablauf der Kriegshandlungen, auf welche die Strafexpedition erfolgte, erwähnt. 54 Vollständig ausgeklammert wird jedoch der lokale sozio-religiöse und politische Kontext, aus dem diese Gegenstände stammen. Einer der leitenden Offiziere der Strafexpedition, Reginald Bacon, hat in seinem Buch „Benin, the city of blood“ geschildert, 55 wie blutgetränkt vor allem das Gehöft des Königs von Benin zum Zeitpunkt des militärischen Vorstoßes war. Bacon mag als Mittäter der gewaltvollen kolonialen Eroberung mit „blutgetränkt“ übertrieben haben. Jedoch belegt sein Augenzeugenbericht, was bereits frühere Chronisten festgehalten hatten: Im königlichen Ahnenkult wurden Menschen gemartert, verstümmelt und getötet, zu Ehren der vergött-
53 Ein unlösbarer Widerspruch. „Das Humboldt-Forum ist wie Tschernobyl“. Interview von Jörg Häntzschel mit Bénédicte Savoy. In: Süddeutsche Zeitung, 21. 7. 2017, S. 9, https://www.kuk.tu-berlin.de/fileadmin/fg309/dokumente/Translocations/Interview_ Humboldt_Forum_SZ_21072017.pdf (aufgerufen am 21.9.2019). 54 Vgl. jedoch Barbara Plankensteiner: The Benin Treasures. Difficult Legacy and Contested Heritage. In: Hauser-Schäublin / Prott (Anm. 5), S. 133–155. 55 Reginald Bacon: Benin. The City of Blood. London 1897, https://archive.org/details/ cu31924028611709/page/n12 (aufgerufen am 4.7.2019). Das damalige Benin liegt im heutigen Staat Nigeria.
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lichten Vorfahren des Königs. Bronzeköpfe und Elfenbeinaufsätze wurden mit Menschenblut bestrichen. 56 Wenn nun ein nigerianischer Professor von diesen Bronzen sagt, sie „repräsentieren die Identität und Geschichte unseres Volkes“, 57 dann mag dies für die Nachfahren des Königshauses stimmen – vor allem, wenn man die rituelle Einbettung dieser Kulturgüter in die blutrünstigen Menschenopfer-Rituale ausblendet. Aber wie sieht es mit den Nachfahren jener Bevölkerungskreise aus, die der Willkür des autokratischen Herrschers ausgesetzt waren und aus deren Reihen die Opfer rekrutiert wurden? Sollen die Bronzen, gefördert vom europäischen Rückgabe-Drang, dazu dienen, die eigene Geschichte mit der Fokussierung auf die gewaltvolle Aneignung durch die Briten zu übertünchen, indem der kulturelle Kontext, aus dem sie stammen, totgeschwiegen wird? 58 Ähnliches gilt auch für Masken und weitere materielle Artefakte von Männergeheimgesellschaften. Mit ihnen wurden, um die heute gängige politisch-wertende Terminologie in der Restitutionsdebatte aufzugreifen, Menschen – vor allem Jungen und Frauen – terrorisiert und brutal misshandelt. 59 Der verklärende Blick der Restitutionsbefürworter*innen, der 56 Andreas Schlothauer: Das Königreich Benin in deutschen Medien – Was fehlt? In: Kunst & Kontext 15 (2018), S. 60–79, http://www.andreasschlothauer.com/texte/ kk15_restitutionsdebatte_benin_nigeria.pdf (aufgerufen am 22. 1. 2021). 57 Müssen die berühmten Benin-Bronzen zurückgegeben werden? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 5. 2019, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/zur-herkunft-der-umstrittenen-benin-bronzen-16182906.html (aufgerufen am 10. 7. 2019). Vgl. auch den Beitrag von Osarhieme Osadolor im vorliegenden Band. 58 Die Berichterstatter der Doktorandenschule „Prozesse von Kulturerbekonstruktion, Nutzungen und Musealisierung von Vergangenheit“ (2018) in Porto Novo (bis 1975: Dahomey), Benin, beschreiben Originalobjekte im Historischen Museum von Dahomey (Abomey), das im früheren Palast der zwölf Könige von Dahomey (UNESCOWeltkulturerbe seit 1985) untergebracht ist. Der Bericht hält fest: „[. . .] die europäischen Originalobjekte aus dem kolonialen Kontext [erfahren] eine Abwertung. Beispielsweise zeigen sich die Geschenke an die Könige von Dahomey zur Zeit des transatlantischen Sklavenhandels (1721–1865) und der Kolonialzeit (1892–1960) wie Kristallvasen oder Brokatmäntel in einem schlechten Zustand. Sie sind heute staubig und so zeigte sich uns, dass die Originalobjekte aus der Zeit des transatlantischen Sklavenhandels und der Kolonialzeit nicht aufgrund ihrer Geschichtlichkeit per se eine Aufwertung in der gegenwärtigen museologischen Praxis Benins erfahren. So erinnern die europäischen Geschenke auch an die Zeit des Sklavenhandels und die aktive Beteiligung der Könige Dahomeys an diesem – eine Tatsache, die lange tabuisiert und geächtet war.“ Claudia Jürgens / Barpougouni Mardjoua: Das Kulturerbe Benins auf dem Prüfstand der Zeit. Bericht der Doktorandenschule in Benin vom 14. bis 30. Juli 2018. Blog Wie weiter mit Humboldts Erbe?, https://blog.uni-koeln.de/ gssc-humboldt/das-kulturerbe-benins-auf-dem-pruefstand-der-zeit/ (aufgerufen am 22. 7. 2019). 59 So hatte beispielsweise ein junger Mann aus Liberia in Großbritannien ein Asylgesuch eingereicht. Er begründete dieses damit, dass er gewaltsam in den Poro-Geheimbund hätte initiiert werden sollen. Er hätte dabei schwerwiegende Misshandlungen, die zu seinem Tod führen könnten, erleiden müssen. Davor sei er 2010 geflohen, https:// tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/aa-10941-2014 (aufgerufen am 24. 9. 2019).
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in all diesen kunstvollen Gegenständen nur die Übeltaten von Kolonialisten – die gewaltvolle Aneignung – wiederzuerkennen glaubt, sieht an den Symbolen der Gewalt, die diese verkörpern, und dem Blut, das von ihnen tropft, vorbei. Die Forderung nach Rückgabe, oder eben: „Restitution“, wie sie von zahlreichen Protagonisten der Restitutionsdebatte formuliert wird, klammert zudem meistens aus, an wen und wohin Kulturgüter zurückgegeben werden sollen. Hier spielt die voreilige Bestimmung des „Erben“ – die Nachkommen der früheren Besitzer –, wie dies weiter oben dargelegt wurde, eine zentrale Rolle. Sarr und Savoy nennen als mögliche Empfänger der zurückzugebenden Sammlungen in erster Linie Museen. Wie bereits erwähnt, ist die Idee des Museums eine europäische. Die Kolonialherren haben diese Idee auch in ihre Kolonien exportiert und in fast allen Herrschaftsgebieten Museen errichtet. 60 Bei der Rückgabe von Artefakten würden diese also aus einer kolonialen Institution in Europa in eine Institution kolonialen Ursprungs in Afrika wechseln. Zudem möchten Angehörige von ehemals mächtigen Häuptlings- bzw. Königtümern nicht unbedingt ihre ehemaligen Machtinsignien in einem nationalen Museum wissen, sondern sie in ihrem persönlichen Besitz haben. 61 Die Autoren ziehen – ohne sich offensichtlich weiterreichende Gedanken darüber zu machen – etwa auch den Palast eines „Königs“ in Kamerun oder gar ein Museum in einem Sultanspalast als geeignete Orte für zurückzugebende Sammlungen in Betracht. Inwieweit die Rückgabe von Sammlungen – eben: Herrschaftssymbole der früheren Elite – an Paläste ehemaliger Herrscher alte feudale Strukturen wiederbeleben – und zwar auf Kosten der um Demokratisierung ringenden Staaten, müsste in jedem Einzelfall überprüft werden. Auch wäre zu fragen, ob Artefakte verschiedenster Herkunftsgesellschaften in einem Palastmuseum, das untrennbar mit einer bestimmten Ethnie beziehungsweise Elite verbunden ist, ebenbürtig behandelt werden.
60 Das neueste und modernste Museum Afrikas wurde 2019 in Dakar (Senegal) eröffnet. Es wurde in Peking geplant und von China finanziert und gebaut. 61 Vgl. Splettstößer (Anm. 48).
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7. „Provenienzforschung“ – ein Unternehmen im Dienste der Marktwirtschaft Wie ich gezeigt habe, weist die Restitutionsdebatte eine Reihe von Charakteristika auf. Diese sollen hier nicht nochmals einzeln aufgezählt werden. Stattdessen möchte ich abschließend die Provenienzforschung in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang beleuchten. „Provenienzforschung“ ist ein kunsthistorisches Konzept, entstanden auf dem Hintergrund der Bedürfnisse des Kunstmarkts euro-amerikanischen Ursprungs. Die Provenienzforschung geht auf den „Holbein-Streit“ zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die damit verbundene Holbein-Ausstellung 1871 in Dresden zurück. Bei diesem Streit ging es um die Frage, welches von zwei Bildern (das sogenannte Darmstädter Madonnen-Bild und das Dresdner Madonnen-Bild) „echt“ ist und Holbein als Autor zugeschrieben werden kann. Dies geschah unter anderem durch die Verfolgung der Geschichte der Bilder im Sinne heutiger Provenienzforschung. Zudem wurden erstmals kunsthistorische Kriterien für „Echtheit“ und „Original“ entwickelt, bei gleichzeitiger Abschreibung der „Kopie“ – mit entsprechenden Auswirkungen auf den Kunstmarkt: „Echt“ wurde wichtiger als „schön“, und demzufolge verloren „Kopien“ ihren ökonomischen Wert. 62 Der Kunstmarkt ist, wie bereits erwähnt, bekanntlich ein Markt wie jeder andere auch: Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis der Ware. Eine Verknappung des Angebots – bei entsprechender Nachfrage – treibt die Preise in die Höhe, die Gewinnmarge vergrößert sich stetig. Diese Verknappung geschieht über die Definition von „Originalen“ und „Unikaten“. Nur Originale sind „echt“ bzw. „authentisch“ und erzielen die entsprechenden Wertsteigerungen im ökonomischen Sinn. „Repliken“ sind minderwertig. Absichtlich für den Verkauf hergestellte Repliken, die als „echt“ ausgegeben werden, gelten als „Fälschung“ und die Tätigkeit wird als Betrug taxiert. Diese Bewertungen wurden auch auf außereuropäische „Kunst“ übertragen und gerade in der Restitutionsdebatte geht es zentral um „Originale“, wie diese seit dem Holbein-Streit definiert werden. Provenienzforschung beschränkt sich auf die Identifizierung der kulturellen Herkunft und der Chronologie der Besitzer materieller Kulturgüter. 63 Auf dem Hintergrund nationaler und internationaler rechtlicher Konzepte und Regeln von rechtmäßigem Kulturgütertransfer untersucht 62 Lena Bader: Bild-Prozesse im 19. Jahrhundert. Der Holbein-Streit und die Ursprünge der Kunstgeschichte. Leiden 2019. 63 Bei europäischer Kunst schließt die Provenienzforschung die Suche nach dem Schöpfer eines Kunstwerks mit ein. Bei außereuropäischer „Kunst“ geht es „nur“ um den
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sie die Transaktionsformen, durch welche diese als Ware auf den internationalen Markt gelangten und weiterverhandelt (oder zurückbehalten) wurden. Im Zentrum der Provenienzforschung steht der kapitalistische Eigentumsbegriff. Das Ziel der Provenienzforschung ist es, sicherzustellen, dass der Besitzer eines Kulturguts dieses rechtmäßig erworben hat. Es geht dabei um die Spielregeln des Markts und die Seriosität seiner Akteure. Der Tatbestand des rechtmäßigen Erwerbs ist zentral für das mehr oder weniger problemlose Funktionieren des Markts. Gerade in Deutschland hat die ethnologische Provenienzforschung einen moralischen Imperativ erhalten, weil die NS-Raubkunst-Ungeheuerlichkeiten implizit, oder, wie bei Sarr und Savoy, explizit als Folie dienen, auf der die Transaktionen während der Kolonialzeit untersucht werden. 64 Der moralische Imperativ der Provenienzforschung beschränkt sich jedoch auf die Zeit der kolonialen Interaktionen. Alles, was vorher war, aus welchen – aus heutiger Sicht – Unrechtskontexten Kulturgüter stammten und wozu sie dienten, ebenso wie das „Nachher“, was mit zurückgegebenen Dingen geschieht, blendet die Provenienzforschung aus. Im Unterschied zum ethnologischen Ansatz der Objektbiografie im Sinne von Appadurais „social life of things“ klammert „Provenienzforschung“ die politischen und sozialen Kontexte der Kulturgüter in der Herkunftsgesellschaft aus. 65 Das hängt damit zusammen, dass der Kunstmarkt in seiner systemimmanenten Logik jenseits der Frage der rechtmäßigen Transaktion von Kulturgütern keine moralischen Fragen stellt oder Bewertungen vornimmt. Oder anders ausgedrückt: Das „Vorher“ und „Nachher“ beeinträchtigt das Funktionieren des Markts nicht. Die Provenienzforschung beschränkt sich, wie ich gezeigt habe, bis jetzt auf Objekte symbolischen Kapitals, die in erster Linie einen Tauschwert besitzen. Vorrangig handelt es sich um politische und religiöse Herrschaftsabzeichen früherer Eliten. Alltagsobjekte – also Dinge, die einen Gebrauchswert besitzen – spielen fast keine Rolle. 66 In den ethnologischen Sammlungen betrifft diese Nichtbeachtung die materiellen Kulturgüter, welche die Lebensweise, das Wissen und die Fertigkeiten der „gewöhnli-
vorkolonialen Besitzer, der als Eigentümer angenommen wird. Die Frage nach der Autorenschaft wird gar nicht gestellt. 64 Erstaunlich ist, dass die napoleonischen Plünderungen von Kulturgütern in Europa und Afrika und ihr Dasein in französischen Museen von Sarr und Savoy mit keinem Wort erwähnt werden. 65 Vgl. Appadurai (Anm. 49). 66 Dies gilt auch für NS-Raubkunst und Plünderungen, wobei wichtige persönliche Erinnerungsstücke an Personen oder Lebensphasen gerade aus vielfach gebrauchten Alltagsgegenständen bestehen können; sie sind jedoch in der Bewertung des Kunstmarkts „wertlos“; für sie gibt es auch keine Reparationszahlungen.
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chen“ Angehörigen einer Gesellschaft dokumentieren; sie werden in den Restitutionsdebatten kaum erwähnt, ebenso wenig wie das immense Wissen und Können, das als immaterielles Kulturgut in Texten, Audioaufnahmen, Fotos und Filmen, in Archiven und Bibliotheken Europas ruht. Provenienzforschung in der jetzigen Form ist auf dem einen Auge blind, weil sie ein Kind des Kunstmarkts ist und auf potenzielle Prestigegüter fokussiert. 67 Die Konsequenz ist verheerend und dafür mitverantwortlich, dass die gegenwärtigen politischen und ökonomischen Bedingungen, unter denen die moralisierende Restitutionsdebatte ausgetragen wird, vollständig ausgeblendet werden. Weder bei heutigen Luxusartikeln (auch eine Form symbolischen Kapitals, das als Prestigeabzeichen eingesetzt wird) noch bei Gegenständen des alltäglichen Bedarfs findet eine Provenienzforschung statt, die sich mit der geografischen Herkunft dieser Konsumgüter und ihrer Komponenten befasst, aus denen sie bestehen, und zudem offen legt, unter welchen Bedingungen sie produziert, erworben und weiterverkauft wurden. Eine ethnologische Herkunftsforschung, also Provenienzforschung in einem umfassenden Sinn, die auch nicht indirekt im Dienste des Kunstmarkts steht, ist dringend notwendig. Es ist zu hoffen, dass eine solche mit den vielen an Museen neu geschaffenen Stellen geleistet wird. Es wäre an der Zeit, dass auch andere Wissenschaftler*innen, Medienleute und Politiker*innen beide Augen öffnen und „Provenienz“ auf Objektgeschichte erweitern und dann entscheiden, wo die jetzigen und künftigen Prioritäten liegen müssten. Das ist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohlals-Auch, jedenfalls mit mehr Augenmaß und ohne Tunnelblick in die Vergangenheit, sondern unter Berücksichtigung vergangener und heutiger Unrechtsverhältnisse, wie ich sie in diesem Beitrag skizziert habe.
67 Die Diskussionen um die Repatriierung menschlicher Überreste habe ich hier ausgeklammert.
Rebekka Habermas
Rettungsparadigma und Bewahrungsfetischismus: Oder was die Restitutionsdebatte mit der europäischen Moderne zu tun hat
1. Einleitung Betrachtet man die aktuelle Debatte, so fragt man sich, warum eigentlich so viele Millionen tote Tiere, getrocknete Pflanzen und Ethnografica in deutschen Museen lagern. Genaue Angaben kennt keiner, man rechnet aber mit mehreren Millionen, allein in den Depots der Museen hierzulande, darunter ethnologische Museen genauso wie Naturkundemuseen, Kunst- und Heimatmuseen, universitäre Sammlungen und Stadtmuseen. Der Hauptteil kam in den Jahrzehnten um 1900 aus dem außereuropäischen Raum, und zwar nicht nur aus Afrika, sondern auch aus den Amerikas, Asien und Ozeanien. Gewiss gibt es viele Gründe für diese massenhafte Präsenz von Dingen und menschlichen Überresten in europäischen und mittlerweile auch amerikanischen Museen: Alle verweisen jedoch auf einen regelrechten Sammelhype, der um die Jahrhundertwende viele in Europa erfasste und der getragen war von dem, was man in der Forschung zur Geschichte der Ethnologie das Rettungsparadigma nennt. Darunter versteht man die um 1900 sehr populäre Vorstellung, die Objekte des Außereuropäischen müssten gerettet werden, weil die Bevölkerung, die diese Dinge herstellt, dem Untergang geweiht sei (Stichwort: doomed races). Durch das Sammeln der Dinge – so die zeitgenössische Logik – könnten dann die letzten Spuren dieser doomed races für die Nachwelt gerettet werden. Eine Folge des Rettungsparadigmas war, dass man begann, massenhaft Artefakte zu sammeln. Ich will im Folgenden argumentieren, dass es lohnt, diesen Sammelhype und das damit verbundene Rettungsparadigma um 1900 genauer zu studieren, da seine Bedeutung weit über die Ethnologie hinausweist. Die Idee des Rettens war nicht nur die Leitidee der Ethnologie, sondern
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wurde von weiten Teilen der (zumindest bürgerlichen) Gesellschaft der Zeit geteilt, die gleichermaßen außer- wie innerhalb Europas sammelten. Genau das soll in einem ersten Abschnitt deutlich gemacht werden. Ein zweiter Abschnitt beleuchtet die Hintergründe dieses umfassenden Sammel- und Rettungsgedankens. Diese – so das Argument – sind in den gesellschaftlichen Umbrüchen um 1900 zu finden, genauer in Debatten, die man heute als Teil von identity politics beschreibt und die mit der sogenannten Krise der Moderne zum einen und der Nationalstaatsbildung zum anderen eng verknüpft waren. In einem dritten Teil werde ich auf die aktuellen Debatten zurückkommen und argumentieren, dass diese nur vor dem Hintergrund der langen Geschichte europäischer Rettungsphantasien und damit verwobener Identitätskonstrukte zu verstehen sind. In den aktuellen Debatten geht es nämlich um weit mehr als um die Frage, wer was rettet oder zurückgibt. Es geht letztlich auch um die Frage, ob sich Europa von einem längst mit überzeugenden Argumenten unter Beschuss geratenen Selbstverständnis verabschieden kann, in dessen Kern die an Hybris grenzende Vorstellung steht, man habe die Aufgabe und auch die Macht, die Dinge anderer zu retten, weil man glaubt, „the other society is weak and needs to be represented by an outsider“ – so James Clifford bereits 1986. 1
2. Situation um 1900: Sammeln und Retten in und jenseits der Ethnologie in und außerhalb von Europa Die Begeisterung für das Sammeln von Tieren, Dingen und menschlichen Knochen im Außereuropäischen – was strukturell mit Raub und Zerstörung einherging, freilich auch die Form von Tausch und Kauf annehmen konnte – ist ein recht junges Phänomen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs die bereits in humanistischen Gelehrtenkreisen populäre Sammelleidenschaft langsam, aber stetig an. 2 Und erst im Laufe des 19. Jahrhun-
1 James Clifford: On Ethnographic Allegory. In: James Clifford / George E. Marcus (Hrsg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley 1986, S. 98–121, hier S. 113. Charlotte Prauß (Göttingen) danke ich für zahlreiche Korrekturen. 2 Natürlich hatte bereits die erste große Expedition, an der deutsche Reisende maßgeblich beteiligt waren – die Cook / Forster-Expedition nach Ozeanien, welche naturwissenschaftlichen Forschungsfragen nachgehen sollte, die die Londoner Gesellschaft und auch andere wissenschaftliche Expertengruppen im ausgehenden 18. Jahrhundert interessierten – Ethnografica, Zoologica und Naturalia mit nach Hause gebracht. Und doch ging es da noch nicht darum, möglichst viele Objekte mitzunehmen, um diese vor dem Verfall zu retten. Die Bedeutung der Objekte changierte zwischen
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derts entstand die Idee, Europäer und Europäerinnen würden mit dem Sammeln gleichsam retten. Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts reisten nur wenige ins Außereuropäische. Und bei den wenigen Reisenden, die vor der Mitte des Jahrhunderts wie Humboldt oder kurz nach 1850 wie die Brüder Schlagintweit im Außereuropäischen sammelten, stand die Idee des Rettens weder bei den Forschern noch in einer breiteren Öffentlichkeit im Vordergrund. So argumentierten die Schlagintweits gegenüber ihren potenziellen Geldgebern, die sie zur Mitte des 19. Jahrhunderts für die Idee einer Indienreise gewinnen wollten, nicht mit der vermeintlich dringend notwendigen Rettung von Menschen oder Dingen, sondern mit Hinweis auf die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Erforschung (immer mit Rekurs auf Humboldt) des Außereuropäischen. Auch hoben sie ökonomische und nationale Interessen hervor. In ihren Bittbriefen an die East India Company, von der sie sich finanzielle Unterstützung erhofften, wurden auch koloniale Interessen betont, etwa die Erstellung medizinischer Topografien, welche die Niederlassung von Europäern erleichtern sollte, sowie die Möglichkeit für die Landwirtschaft (indem man Erdproben nahm) oder geografische Informationen, die wiederum für das Militär wichtig waren. 3 Von Rettung war keine Rede. Überhaupt war das Interesse an den Dingen des Außereuropäischen noch recht wenig entwickelt. Es gab noch keine größere Öffentlichkeit, die Sammelleidenschaften und Rettungsphantasien teilte. So überrascht es auch nicht, dass die Schlagintweits, als sie in den 1860er-Jahren mit über 40.000 Artefakten von ihrer Indienreise zurückkamen, erhebliche Probleme hatten, die Zeitgenossen von der Bedeutung ihrer Aktivitäten und Objekte zu überzeugen. Als sie nach Interessenten für ihre Artefakte und Naturalia suchten, stießen sie meist auf taube Ohren. Friedrich Wilhelm IV., dem sie die Idee eines Museums in Berlin verkaufen wollten, verstarb, und andere Adressaten konnten sie in Preußen nicht finden. Ihre 510 nach Berlin transportierten Kisten, mit-
Kuriositäten und wissenschaftlichen Objekten, an denen Linné genauso interessiert war wie die ersten Mediziner, die Affenskelette brauchten, um zu einer präziseren Bestimmung der Grenze zwischen Menschen und Tieren zu kommen – einer der beliebtesten Forschungsfragen von Aufklärern. Das änderte sich im deutschsprachigen Raum etwa nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. 3 Moritz v. Brescius: German Science in the Age of Empire. Enterprise, Opportunity and the Schlagintweit Brothers. Cambridge 2019, hier S. 239. Auch bemühte man ökonomische Argumente, um etwa die hunderte von Stoffspezimen, die sie in Indien gesammelt hatten, welche – so meinten sie – sicher wichtige Impulse für die preußische Wollmanufakturen liefern würden, loszuwerden. Ebd., S. 261.
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samt einem Paar lebender Wildesel, Tibetan Ghorkars, waren nicht sehr gefragt. 4 Nur wenige Jahre nach der Indienexpedition der Schlagintweits hatte sich die Situation deutlich verändert: Ein umfassender Sammelhype aller nur erdenklichen Objekte des Außereuropäischen hatte sich in vielen wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch unter Laien verbreitet. So kam etwa Hans Schinz – der 1884 mit dem Bremer Kaufmann Lüderitz startete, um in Westafrika nach technisch oder medizinisch verwertbaren Pflanzen zu suchen – mit zahlreichen Ethnografica, menschlichen Schädeln, aber auch Zoologica zurück. 5 Kapitäne und auch einfache Matrosen brachten unzählige Objekte von ihren Einsätzen etwa auf Kriegsschiffen mit. Allein der Führer des Berliner Völkerkundemuseums von 1887 erwähnt sieben Kriegsschiffe namentlich, die Ethnografica mitgebracht hatten. 6 Kaufleute oder Konsularbeamte sammelten ebenfalls, wie man in den Inventarbüchern des Lübecker Völkerkundemuseums nachlesen kann. 7 Auch in Köln, Freiburg und Stuttgart waren die Sammler ebenfalls häufig Kaufleute, aber auch Wissenschaftler. 8 Forscher wie Georg Schweinfurth, Franz und Pauline Thorbecke, Richard Thurnwald, Paul und Fritz Sarasin, Augustin Krämer und Elisabeth Krämer-Bannow, die sehr unterschiedliche Hintergründe hatten – sei es
4 Ebd., S. 273. London meldete sich und forderte Objekte zurück – da es sich um Eigentum der East India Company handle. 5 Vgl. Gitte Beckmann: „Man muss eben alles sammeln.“ Der Zürcher Botaniker und Forschungsreisende Hans Schinz und seine ethnographische Sammlung Südwestafrika. Zürich 2012. 6 Königliche Museen zu Berlin: Führer durch die Sammlungen des Museums für Völkerkunde. Berlin 1887–1914. Genannt werden die Schiffe Gazelle, Herta, Augusta, Bismarck, Elisabeth, Hyäne und Carola. 7 Brigitte Templin: „Oh Mensch, erkenne Dich selbst“. Richard Karutz (1867–1945) und sein Beitrag zur Ethnologie. Lübeck 2010, S. 66. Vgl. auch Claudia Kalka / Lars Frühsorge / Tanja Hörmann: „Es muss einen Grund haben, weshalb die Objekte damals zu Euch gekommen sind . . .“. Koloniale Ethnographica in Sønderjylland-Schleswig und Holstein. In: Marco L. Petersen (Hrsg.): Sønderjylland-Schleswig und Holstein Kolonial. Odense 2018, S. 347–360. 8 Vgl. zu dem Kölner Völkerkundemuseum Anne-Kathrin Horstmann: Koloniale Völkerkunde. In: Marianne Bechhaus-Gerst / Anne-Kathrin Horstmann (Hrsg.): Köln und der Deutsche Kolonialismus. Eine Spurensuche. Köln 2013, S. 107–110; Burkhard Fenner: „Eine Sammelstelle für den stofflichen Kulturbesitz der fremden Völker“. Das Rautenstrauch-Joest-Museum. In: Ebd., S. 131–137; Larissa Förster: Objekte aus deutschen Kolonien im Rautenstrauch-Joest-Museum. In: Ebd., S. 229–236. Zum Freiburger Völkerkundemuseum vgl. Markus Himmelsbach: Das städtische Museum für Natur- und Völkerkunde. In: Bernd-Stefan Grewe u. a. (Hrsg.): Freiburg und der Kolonialismus. Vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus. Freiburg i. Br. 2018, S. 143–156. Zum Linden-Museum (Stuttgart) vgl. Friedrich Kussmaul: Linden-Museum Stuttgart. Staatliches Museum für Völkerkunde. Rückblick, Umschau, Ausblick. In: Tribus. Veröffentlichungen des Linden-Museums 24 (1975), S. 17–65.
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ein Medizin-, Jura- oder naturwissenschaftliches Studium oder sei es, dass sie gar keinen Zugang zu Universitäten gehabt hatten wie die genannten Ehefrauen –, reisten im Auftrag des Kolonialamts, auf eigene Faust oder finanziert von wissenschaftlichen Gesellschaften durch Afrika, Ozeanien und Asien und sammelten Gesteine, Ethnografica, Naturalia oder Zoologica. 9 Aber auch Missionare sammelten Objekte und verkauften diese an Museen, nutzten sie gleich für eigene Ausstellungen, für die Ausbildung ihres Nachwuchses oder als Accessoires für Missionskoffer, mit denen man auf Missionsfesten Reklame für die Mission machte. 10 Nicht wenige Objekte wurden geraubt, waren die Ausbeute von Kriegshandlungen oder kamen durch andere Formen offener physischer Gewalt in die Hände der Europäer. 11 Ja, Felix v. Luschan – Nachfolger Adolph Bastians als Leiter des Berliner Völkerkundemuseums – schätzte gerade die auf Raubzügen geplünderten Artefakte ganz besonders, denn bei diesen könne man sicher davon ausgehen, dass sie nicht extra für Europäer angefertigt worden seien. 12 Mancherorts wurden nämlich Ethnografica eigenes für den Markt hergestellt, wie etwa Nolde aus der Südsee berichtet. 13 Kurzum: Um 1900 wurden Ethnografica, Zoologica und Naturalia kistenweise nach Europa 9 Weiterführende Arbeiten sind Bernhard Schär: Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900. Frankfurt a. M. 2015; Dietrich Schleip: Ozeanische Ethnographie und koloniale Praxis. Das Beispiel Augustin Krämer. Stuttgart 1989; Marion Melk-Koch: Auf der Suche nach der menschlichen Gesellschaft. Richard Thurnwald (Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde Berlin, Bd. 46). Berlin 1989. 10 Missionare zerstörten auch Ethnografica, um die ihnen teilweise in der lokalen Bevölkerung nachgesagten Kräfte zu zerstören. Zu den Ankäufen der Sammlung von Johann Flierl, Neuendettelsauer Missionar, durch das Hamburger Museum, vgl. Jeannette Kokott: Rauru, Rino, Uli und Co. Die Sammlung der Ozeanien-Abteilung im Museum für Völkerkunde Hamburg. In: Wulf Köpke / Bernd Schmelz (Hrsg.): Hamburg – Südsee. Expedition ins Paradies. Hamburg 2003, S. 17–67. Zu den Missionsausstellungen siehe Annika Dörner: „Von einer seltsamen Missionsreise“. Die Poetics und Politics einer Ausstellung. In: Linda Ratschiller / Karolin Wetjen (Hrsg.): Verflochtene Mission. Perspektiven auf eine neue Missionsgeschichte. Köln u. a. 2018, S. 141–162, und Linda Ratschiller: „Die Zauberei spielt in Kamerun eine böse Rolle!“ Die ethnografischen Ausstellungen der Basler Mission (1908–1912). In: Rebekka Habermas / Richard Hölzl (Hrsg.): Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert. Köln u. a. 2014, S. 241–264. 11 Die bekanntesten sind die sogenannten Beninbronzen, welche nach einer Plünderung der sogenannten ‚Strafexpedition‘ durch englische Truppen nach London geschafft wurden. Vgl. dazu umfassend und auf dem neuesten Stand der umfänglichen Forschung Staffan Lundén: Displaying Loot. The Benin Objects and the British Museum (Gotarc. Institutionen för Historiska Studier Göteborgs Universitet, Bd. 69). Göteborg 2016. Vgl. auch den Beitrag von Osarhieme Osadolor im vorliegenden Band. 12 Andrew Zimmerman: Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany. Chicago 2001, hier S. 173. 13 Vgl. Emil Nolde: Aus meinem Leben, hrsg. v. Manfred Reuther. Köln 2013, hier S. 322. Vgl. auch Rainer Buschmanns Arbeiten und den Übersichtsaufsatz mit weite-
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verschifft. So geht man davon aus, dass sich heute beispielsweise 90 Prozent der afrikanischen Kulturgüter in Europa befinden. 14 Mit dem 20. Jahrhundert gingen dann immer mehr ethnografische Museen, aber auch naturkundliche Gesellschaften dazu über, selber Expeditionen zu organisieren. So etwa das Hamburger Völkerkundemuseum, das 1908 eine Dutzende Forscher umfassende Expedition in die Südsee startete. Ihr erklärtes Ziel war es, umfassende anthropometrische Vermessungen vorzunehmen und so viele Ethnografica wie eben möglich nach Hamburg zurückzubringen. Freilich sollte die Expedition durchaus auch koloniale Aufgaben übernehmen, wie etwa zur Klärung der sogenannten kolonialen Arbeiterfrage beitragen. 15 Im Gegenzug wurde ihr die Unterstützung der Gouverneure vor Ort zugesagt, das heißt, es wurden vor allem Polizisten und Soldaten zum Schutz vor Überfällen durch die lokale Bevölkerung bereitgestellt. 16 Diese Sammelbegeisterten waren keineswegs nur in der Ethnologie anzutreffen – eine Disziplin, die erst mit dem 20. Jahrhundert klare Konturen annahm und erste Lehrstühle etablierte. Andere Disziplinen begeisterten sich nicht weniger für die Dinge des Außereuropäischen. Insbesondere Mediziner waren stark vertreten. Sie interessierten sich unter anderem für Gebeine, die sie massenhaft mitbrachten. Dann gab es angehende Geografen, die eigentlich allein nach Gesteinen suchten, aber doch stets auch Ethnografica mitnahmen. 17 Nicht zu vergessen sind die Archäologen, die spätestens mit Kaiser Wilhelms II. Begeisterung für Babylon neue Ausgrabungen initiierten und die Sammelleidenschaft des antikenbegeisterten Bürgertums befriedigten. 18 Wieder andere hatten deutliche Schwerpunkte in
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ren Beispielen für Ethnograficahandel zwischen lokaler Bevölkerung und kolonialen Europäern von Kalka / Frühsorge / Hörmann (Anm. 7). Cathérine Calvet / Guillaume Lecaplain: Vers une Remise des œuvres Africaines. In: La Libération 20. 11. 2018, https://next.liberation.fr/arts/2018/11/20/vers-une-remiseen-etats-des-oeuvres-africaines_1693302 (aufgerufen am 18. 9. 2019). Der Leiter des Hamburger Museums Georg Thilenius schrieb an Senator Mehle: „Die Denkschrift ist mit Absicht auch auf die praktische koloniale Arbeiterfrage zugeschnitten. Ich habe sie bisher nur dem befreundeten Dezernenten für die Südsee im Kolonialamt vertraulich mitgeteilt, um die Mitwirkung des Amtes in den deutschen Kolonien [. . .] zu erlangen. Diese ist für viele Aufgaben absolut unentbehrlich“, zit. n. Antje Kelm: Im ersten Jahr vom Schiffe aus. Die Hamburger Südsee-Expedition in der Inselwelt von Neuguinea. In: Köpke / Schmelz (Anm. 10), S. 92–141, hier S. 98. Andreas Leipold: Das erste Jahr der Hamburger Südsee-Expedition in Deutsch-Neuguinea (1908–1909). Bremen 2008, S. 32, zur Unterstützung der Hamburger Südseeexpedition mit Waffen und Polizisten. Carsten Gräbel: Die Erforschung der Kolonien. Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen 1884–1919. Bielefeld 2015. Vgl. Rebekka Habermas / Alexandra Przyrembel (Hrsg.): Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne. Göttingen 2013.
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der Naturkunde und halfen mit ihren Sammlungen von Schmetterlingen, exotischen Vögeln und ganz besonders gerne großen Tieren des afrikanischen Kontinents bei dem Aus- und Aufbau der Naturkundemuseen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert in fast allen größeren deutschen Städten entstanden. 19 Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurden sogar ganze Dinosaurierskelette aus Deutsch-Ostafrika ins Kaiserreich gebracht. 20 Manche Museen, so etwa in Lübeck, Hamburg und Bremen, verfassten regelmäßig Appelle: Alle in der Bevölkerung mögen daran denken, Objekte aus dem Außereuropäischen mitzubringen. 21 Kurzum: Objekte jedweder Natur wurden aus sehr unterschiedlichen Disziplinen heraus, aber auch von Missionaren, Kaufleuten, Händlern und Privatleuten gesammelt. Auch die Motive, die die Zeitgenossen formulierten, waren vielfältig. Es gab ökonomische Interessen, religiöse Überzeugungen, wissenschaftliche Erkenntnisinteressen sowie politische und militärische Gründe. Und doch trat immer wieder ein Motiv in den Vordergrund: Die angeblich im Schwinden begriffenen Daten oder Objekte sollten gerettet werden, um noch möglichst viel über die dem Untergang geweihten Naturvölker zu erfahren – so 1906 Felix v. Luschan. 22 Andere führten das gleiche Argument für Tiere an, die angeblich vom Aussterben bedroht seien. Wieder andere glaubten, ganze Landschaften retten zu müssen. Insbesondere – so der common sense – unter dem Einfluss der Europäer seien die außereuropäischen Kulturen wie die Tier- und Pflanzenwelt gefährdet und man solle „rasch zugreifen“, ehe es für immer zu spät sei. 23 Schon 1887 hatte es im Berliner Museumsführer geheißen, dass es „außergewöhnlicher Anstrengungen“ bedürfe, um gegen das „rapid gesteigerte Verschwinden [. . .] der Naturvölker“ vorzugehen – und zwar
19 Carsten Kretschmann: Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen im Deutschland des 19. Jahrhunderts (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 12). Berlin 2006. 20 Vgl. Ina Heumann u. a. (Hrsg.): Dinosaurierfragmente. Zur Geschichte der TendaguruExpedition und ihrer Objekte, 1906–2018. Göttingen 2018. 21 Templin (Anm. 7), S. 62. 22 Felix v. Luschan: Anthropologie, Ethnographie und Urgeschichte. In: Georg v. Neumayer (Hrsg.): Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen in EinzelAbhandlungen, Bd. 2: Landeskunde, Statistik, Heilkunde, Landwirtschaft, Pflanzengeographie, Linguistik, Zoologie, Ethnographie. Das Mikroskop und der photographische Apparat usw. Hannover 1906, S. 1–97, hier S. 3. Dabei rekurrierte er auf die englische Forschung und hier besonders auf Alfred Cort Haddon: The Saving of Vanishing Data. In: Popular Science Monthly Volume 62 (1903), S. 222–229. Das unterstreicht, dass es keine deutsche Besonderheit, sondern in Europa auch andernorts geteilte Prämisse war. 23 Luschan (Anm. 22), S. 44.
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durch das Sammeln ihrer Artefakte. 24 In keiner Bitte um Finanzierung einer Expedition fehlte der Hinweis, dass die „Rettung“ der Objekte besonders notwendig sei, da die Bevölkerung auszusterben drohe und man so wenigstens ihre Artefakte besäße. 25 Besonders prominent und vor allem konsequent verweist darauf Adolf Bastian, Begründer des Berliner Völkerkundemuseums, ihm wird der Ausspruch in den Mund gelegt: „Der letzte Augenblick ist gekommen, die zwölfte Stunde ist da! Dokumente von unermeßlichem, unersetzlichem Wert für die Menschheitsgeschichte gehen zugrunde. Rettet! Rettet! Ehe es zu spät ist.“ 26
Unter seiner Ägide wuchs die Sammlung des Berliner Völkerkundemuseums um jährlich 10.000 Stück, 27 was schließlich dazu führte, dass das Museum bereits um 1900 mehr einer Rumpelkammer als einem Museum glich. 28 Adolf Bastian sah wie viele seiner Zeitgenossen freilich keine Alternative zu dieser massenhaften Anhäufung von Objekten. Mehr noch, er sah in der „Materialbeschaffung“ seine drängendste Aufgabe. Diese Objekte und nur sie könnten „Abdrücke des Volksgeistes“ der „Naturvölker“ liefern, welche selbst „vor unseren Augen zu Grunde gehen, tagtäglich ringsum“. 29 Man müsse möglichst viel sammeln, um die für die „statistische Umschau erforderlichen Reihen“ bilden zu können, von denen man dann auf die Elementargedanken der Völker schließen könne. 30 Gewiss ist das Rettungsparadigma älter als Adolf Bastian. Bereits Diderot und Rousseau führen es im Munde. 31 Aber massenhaft angeführt wird es in Bezug auf das Außereuropäische erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, und erst da führt es zu einem regelrechten Sammelhype. 24 Königliche Museen zu Berlin: Führer durch die Sammlungen des Museums für Völkerkunde. Berlin 1887, S. 15. 25 Zur Südseeexpedition des Hamburger Völkerkundemuseum vgl. besonders Andreas Leipold: Das erste Jahr der Hamburger Südsee-Expedition in Deutsch-Neuguinea (1908–1909). Bremen 2012, S. 45. 26 Karl v. Steinen: Gedächtnisrede auf Adolf Bastian. In: Zeitschrift für Ethnologie 37 (1905) H. 3, S. 236–249, hier S. 248. Zit. n. H. Glenn Penny: Im Schatten Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie. München 2019, S. 68. 27 Dies seit 1884, ebd., S. 98. 28 Ebd., S. 99. Zur Kritik vgl. Zimmerman (Anm. 12). 29 Adolf Bastian: Ueber Ethnologische Sammlungen. In: Zeitschrift für Ethnologie 17 (1885), S. 38–42, hier S. 40. 30 Bastian (Anm. 29), hier S. 41. Wichtig ist, dass diese Objekte keine Spuren von Europäern tragen dürfen, sie müssen eben „urtümlich“ sein, vgl. dazu Rainer F. Buschmann: Exploring Tensions in Material Culture. Commercialising Ethnography in German New Guinea, 1870–1904. In: Michael O’Hanlon / Robert L. Welsch (Hrsg.): Hunting the Gatherers. Ethnographic Collectors, Agents and Agency in Melanesia, 1870s – 1930s. New York u. a. 2000, S. 55–80, hier S. 57. 31 Gustav Flaubert ironisiert diese Idee der Rettung bereits in seinem Roman Bouvard et Pécuchet (erschienen 1881). Es taucht auch in seinem posthum erschienenen Dictionnaire des Idées reçues (1913) auf.
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Ganz ähnliche Argumente führten auch diejenigen im Mund, die sich mit Tieren beschäftigten, wie etwa jene Wissenschaftler und Aktivisten, die sich für die Vogelschutzbewegung engagierten. 32 Sie initiierten um 1900 regelrechte Kampagnen gegen das Tragen von Paradiesvogelfedern, da diese in Ozeanien angeblich vom Ausstreben bedroht seien. Zu nennen sind hier auch diejenigen, die sich wie Augustin Krämer und Paul und Fritz Sarasin für die Etablierung von Naturschutzgebieten im Außereuropäischen einsetzten. Sie argumentierten, dass die Natur, aber auch die Häuser, die, wie Krämer für die Insel Palau – die Teil der deutschen Südseekolonie war – betont, so viel „Kunstsinn bei einem Naturvolk“ 33 verrieten, vom Untergang bedroht seien. Diese „Wunderwelt“ soll, so sein dringender Appell, unbedingt erhalten bleiben. Gleichzeitig sollte man alles tun, um das dort lebende „kleine Eingeborenenvolk in einem herrlichen Land“ zum Nutzen der Nachwelt, der Wissenschaft und Kunst zu erhalten. 34 Im Außereuropäischen waren also nicht allein angehende Ethnologen, sondern hunderte von Männern und einige wenige Frauen mit unterschiedlichen Agenden unterwegs, um – so die von allen geteilte Überzeugung – Ethnografica, Naturalia und Zoologica zu retten, indem man sie nach Europa verschiffte. Gleichzeitig nahmen die – wie es zeitgenössisch durchaus kritisch hieß – Sammelwut und damit zugleich Rettungsphantasien auch in Europa mehr und mehr zu. Innerhalb Europas regte sich die Sammelleidenschaft sogar schon früher, und zwar in den Anfangsjahrzehnten des 19. Jahrhunderts: Seien es die Gebrüder Grimm, die Märchen aller Art sammelten und eine ganze Gruppe von begeisterten Adeligen, wie etwa Annette v. Droste-Hülshoff, aber auch Bürgerliche animierten, es ihnen gleichzutun (wie Karin Duve in ihrem Roman sehr eindringlich beschrieben hat); 35 seien es diejenigen, die sogenannte Altertümer sammelten und mit diesen erste städtische Museen, die in fast allen noch so kleinen Provinzstädten wie Pilze aus dem Boden schossen, aufbauten, oder seien es die Begründer des Kölner Vereins
32 Bernhard Gißibl: Paradiesvögel. Kolonialer Naturschutz und die Mode der deutschen Frau am Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Johannes Paulmann / Daniel Leese / Philippa Söldenwanger (Hrsg.): Ritual – Macht – Natur. Europäisch-ozeanische Beziehungswelten in der Neuzeit. Bremen 2005, S. 131–154. 33 Augustin Krämer: Palau als Naturschutzpark. In: Deutsche Kolonialzeitung. Wochenschrift der Deutschen Kolonialgesellschaft, Nr. 31, 7. 3. 1914, S. 159–161, hier S. 160. Vgl. Rebekka Habermas: Die Suche nach Ethnographica und die kunstsinnigen Kannibalen der Südsee. Oder: Was die koloniale Nostalgie im Kaiserreich mit der kolonialen Aphasie heute zu tun hat. In: Historische Zeitschrift 220 (2020), S. 351– 386. 34 Krämer (Anm. 33), S. 160. 35 Karin Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer. Berlin 2018.
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zum Wiederaufbau des Doms. 36 Immer ging es darum, Dinge zu retten, um sie zu erhalten. Und die Vorstellung, dass dieses Sammeln ein Akt der Rettung und diese dringend notwendig sei, da ansonsten der Verlust von Lied- und Märchengut oder gar von ganzen Gebäuden in Europa drohe, wurde immer populärer – so Susan Crane in ihrer faszinierenden Arbeit zur Formierung des historischen Bewusstseins im 19. Jahrhundert. 37 Waren es zu Beginn des Jahrhunderts neben den Brüdern Grimm einige überschaubare Personengruppen, die sich für das Sammeln begeisterten, so wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Bewegung daraus. Ja, das Sammeln wurde zu einer Modeerscheinung, nicht nur im Adel, sondern insbesondere im Bürgertum. Sigmund Freud etwa erweiterte seine Antikensammlung, die mehr als 2.000 Objekte umfasste, stetig – auch über Raubgrabungen, mit denen sich Tagelöhner in Ungarn und vielen anderen Regionen der Welt ein Zubrot verdienten. 38 Stand bei den einen die Antikenbegeisterung im Vordergrund, während sich andere eher für die Schmetterlingswelt begeisterten oder sich von der Hinterlassenschaft der eigenen germanischen Vorfahren faszinieren ließen, so teilten doch alle die Vorstellung, dass auch im deutschen Kaiserreich selbst, also in Europa, Wesentliches verloren zu gehen droht. 39 Diese nostalgische Gefühlslage artikulierte sich etwa dadurch, dass man sich neben den Paradiesvögeln in Papua-Neuguinea auch für die vermeintlich bedrohte heimatliche Vogelwelt engagierte. So wurde der „Deutsche Verein zum Schutze der Vogelwelt“ Mitte der 1870er-Jahre gegründet, dessen Ziel es war, auf einen gesetzlichen Schutz der Vögel hinzuwirken. 40 Andere unterstützten die sogenannte Heimatschutzbewegung, die von der Überzeugung getragen war, dass die deutsche Landschaft bedroht sei, und zwar insbesondere durch die Industrialisierung, die diese ‚verschandele‘. So entstand 1904 der Deutsche Bund Heimatschutz, in dessen Präambel als zentrale Aufgabe der Schutz der Einzigartigkeit der deutschen Heimat,
36 Vgl. Christoph Dähnis: Der Karlsverein im 19. Jahrhundert. Eine Untersuchung zur Denkmalpflege im konfessionellen Konflikt am Beispiel des Münsters Karl des Großen. Magisterarbeit Universität Göttingen 2002. 37 Susan A. Crane: Collecting and Historical Consciousness in Early Nineteenth Century Germany. Cornell 2000. 38 Lothar Müller: Freuds Dinge. Der Diwan, die Apollokerzen und die Seele im technischen Zeitalter. Berlin 2019, hier S. 192. 39 Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Frankfurt 1997; Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göttingen 1974. 40 Friedemann Schmoll: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich. Frankfurt a. M. 2004, hier S. 264.
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die bedroht sei, 41 ebenso wie die „Rettung der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt, [. . .] der Sitten und Gebräuche und Feste und Trachten“ festgehalten wurde. 42 Gründungsinitiator war Ernst Rudorff, Berliner Klavierprofessor, der unweit von Hannover ein ländliches Anwesen besaß und dessen Kritik sich an den Veränderungen in der Provinz entzündete. Hier schien die Landschaft von einer organischen in eine moderne, die nach funktionalen Rastern organisiert war, zu zerfallen. Flurbereinigung und die Mechanisierung der Landwirtschaft wurden als Verlust wahrgenommen. Industriereviere wurden als Untergang deutscher Kulturlandschaften interpretiert. 43 In dem Zusammenhang sind auch die Naturschutzgruppen zu nennen, so wurde bereits in den 1880er-Jahren der „Verein zur Rettung des Siebengebirges“ ins Leben gerufen. Wieder andere engagierten sich für Heimatmuseen, in denen man sich dem Sammeln sogenannter Volkskunst, die scheinbar unwiederbringlich verloren zu gehen drohe, alter Hausgeräte und anderer Gebrauchsgegenstände widmete. 44 Zwischen 1890 und 1918 entstanden 371 Heimatmuseen, in denen alle nur erdenklichen Objekte, die möglichst alt und möglichst deutlich aus den Arbeitsfeldern des unteren Segments der Gesellschaft stammen mussten, gesammelt wurden: Heugabeln, Sauerkrautfässer, Schuhmacherwerkzeug, halb zerbrochene Krüge und alte Betten. 45 An vielen Orten kannten die städtischen Museen gar keine Trennung zwischen Sammlungen des Außer- und des Innereuropäischen. So gab es in Lübeck in der völkerkundlichen Sammlung genauso Objekte aus dem Baskenland und dem Norden Europas wie aus der direkten Umgebung Lübecks. Wichtig war allerdings, dass sie aus der „alteuropäischen Primitivkultur“ stammten – so Richard Karutz. 46 1889 gründete Rudolf Virchow das Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes, und auch hier ging es um Objekte, die möglichst alt waren und von denen man glaubte, dass sie bald gänzlich verloren gehen würden. 47 Das Sammeln sogenannter Volkskunst, etwa von Votivbildern oder Hinterglasmalerei und von Bauernmöbeln, die man als Ausdruck einer Kultur interpretierte, wel-
41 Alon Confino: The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany, and National Memory, 1871–1918. Chapel Hill 1997, hier S. 130. 42 Schmoll (Anm. 40), S. 401. So steht es in der Satzung, die 1904 verabschiedet wurde, unter § 1. 43 Ebd., S. 393. 44 Vgl. insbesondere Confino (Anm. 41) sowie Gerhard Kratzsch: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus. Göttingen 1969, S. 215. 45 Confino (Anm. 41), S. 134. 46 Templin (Anm. 7), S. 72. 47 Confino (Anm. 41), S. 137.
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che durch die zunehmende Verstädterung immer weiter verdrängt wurde, war auch unter Künstlern wie etwa Gabriele Münter sehr beliebt. Sie besaß über 130 als Volkskunst geltende Hinterglasbilder. 48 Kurzum: Der Rettungs- und Bewahrungsgedanke war erstens weit über die Ethnologie hinaus, in vielen Disziplinen und weiten Teilen der Bevölkerung, insbesondere des Bürgertums, verbreitet. Zweitens verband der Rettungsgedanke von Anbeginn an Europa und das Außereuropäische auf das Engste: Gesammelt und gerettet wurde alles, was innerhalb wie außerhalb Europas auf eine vermeintlich untergehende Kultur oder Natur verwies, die man behauptete retten zu können. Ethnografica, Naturalia und Zoologica, aber auch ganze Landschaften, seien diese in Palau oder im Siebengebirge, ebenso wie vermeintlich bedrohte Vögel, zuhause wie in der Südsee, wollte man sammeln und unter Schutz stellen beziehungsweise in neu erbauten Museen unterbringen. Bei all den Parallelen zwischen dem Sammeln in- und außerhalb Europas darf jedoch nicht vergessen werden, dass es entscheidende Unterschiede gab: Gewalt war außerhalb Europas die Regel, innerhalb nicht; innerhalb Europas verblieben die Dinge in der Regel in den Regionen, außerhalb Europas brachte man sie tausende von Kilometern weit weg. Innerhalb Europas sammelte man in der eigenen Gesellschaft, die einem freilich immer fremder zu werden schien, während es außerhalb Europas ein Sammeln in fremden Gesellschaften war. Ungeachtet dieser nicht zu vernachlässigenden Unterschiede springen die Gemeinsamkeiten zwischen inner- und außereuropäischem Sammeln ins Auge, ebenso wie die Tatsache, dass das Sammeln in der Gesellschaft des Kaiserreichs (genauso wie in allen anderen europäischen Nationen um 1900) weit verbreitet war. Damit handelt es sich beim Sammeln (zumindest innerhalb des Bürgertums) um ein Massenphänomen der Zeit, welches dazu führte, dass heute Millionen von Objekten in unterschiedlichsten Typen von Museen lagern. Wenn man dieses Sammeln als gesellschaftliches Phänomen begreift und nicht länger als Eigenart einer einzelnen wissenschaftlichen Disziplin oder einiger weniger besonders kolonial gesinnter oder abenteuerlustiger Menschen, stellen sich mindestens zwei Fragen: Warum scheute man keine finanziellen und logistischen Mühen und auch keine Form von – sei es indirekter oder direkter – Gewalt, um immer mehr Objekte nach Europa zu bringen, obschon es an Depots allenthalben mangelte und bereits zeitgenössisch nicht nur in der einheimischen Bevölkerung Afrikas, Asiens und Ozeaniens Stimmen laut wurden, die die Unrechtmäßigkeit und die verheerenden Folgen der Entleerung ganzer
48 Isabelle Jansen / Matthias Mühling (Hrsg.): Gabriele Münter 1877–1962. Malen ohne Umschweife. Ausstellungskatalog. München 2017, hier S. 138.
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Landstriche beklagten? 49 Warum glaubte man auch innerhalb Europas von Heugabeln über Tiere bis hin zu ganzen Landschaften alles Mögliche durch Sammeln retten zu müssen?
3. Krise der Moderne um 1900 und föderaler Nationalismus Ein Grund für diese Sammelwut ist das, was man als Krise der Moderne bezeichnet. Eine Gefühlslage, die um 1900 insbesondere das Bürgertum ergriff: Sei es, dass man die „Vereisenbahnung der Berge“ 50 beklagte; sei es, dass man den mit der Industrialisierung angeblich verbundenen Verlust von Muße und Gemeinsamkeit betrauerte. Oder sei es, wie Georg Simmel behauptete, dass man eine zunehmende Verstädterung und um sich greifende Automatisierung der modernen Konsumwelt beobachte, welche angeblich eine regelrechte Verwirrung der Sinne bewirke. Andere beklagten das Aufkommen neuer Krankheiten, die diesem rasanten Wandel geschuldet seien, etwa die vermeintlich durch moderne Kaufhäuser produzierte weibliche Kleptomanie oder die besonders unter Männern angeblich grassierende Nervenkrankheit Neurasthenie. 51 Dann beklagte man – etwa in der Debatte über die sogenannte Schundliteratur, die im Lex Heinze von 1900 kulminierte – den Zerfall von Sitte und Moral, wie er sich – allenthalben, aber in den Großstädten ganz besonders – beobachten lasse. Auch gab es breite Diskussionen über Gefahren und Verluste, welche mit der Verstädterung einhergingen, die der Vegetarier und Naturheilkundler Adolf Just folgendermaßen zusammenfasste:
49 Gewiss vereinfachte der in Europa herrschende koloniale common sense diesen massenhaften Transfer. Dieser basierte auf der Überzeugung, dass es ‚rassische‘ Differenzen gäbe, aus denen man unterschiedliche Rechte und Fähigkeiten ableiten könne. Eine für die Entwendung der Objekte zentrale Folge dieser Grundhaltung war, dass die kolonialen Gebiete, in denen angeblich bestimmte, als minderwertig geltende ‚Rassen‘ lebten, als Räume jenseits europäischer Rechts- und damit Eigentumsvorstellung definiert wurden. Hier galt weder die Haager Konvention (Garantie von Schutz vor Plünderungen im Kriegsfalle) noch die in Deutschland gerade sich formierende moderne rechtsstaatliche Ordnung, die Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichförmigkeit des Rechts und nulla poena sine lege garantierte. Vgl. auch den Beitrag von Sheila Heidt im vorliegenden Band. 50 Zit. n. Kratzsch (Anm. 44), S. 211. 51 Zur weiblichen Kleptomanie siehe Christina Templin: Von der Begierde hingerissen. Weibliche und männliche Kleptomanie im wissenschaftlichen Diskurs um 1900. Staatsexamensarbeit Göttingen 2008; zur Neurasthenie und der Krise der Männlichkeit siehe Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. Darmstadt 1998.
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„Das Großstadtleben verdirbt Körper, Geist und Seele, weil es immer mehr von der Natur und allem Natürlichen wegführt“. 52
Eng damit verbunden war die Vorstellung, die sich in einem auf vielen Ebenen um 1900 zu beobachteten Kulturpessimismus zeigte. So antwortete genau dieser Adolf Just zum Beispiel auf die Frage „Wodurch ist zum großen Teil das Elend und die Verlogenheit der Menschen gekommen?“ folgendermaßen: „Durch die Entwicklung des Geistes in seinen Wissenschaften, durch Erfindungen und Technik, die zum großen Teil die körperliche Arbeit den Maschinen übertrugen und dadurch auf allen Gebieten eine dementsprechende Mechanisierung des Lebens hervorriefen.“ 53
Die Beispiele für diese und ähnliche Debatten, die die Gemüter um 1900 bewegten, ließen sich endlos fortsetzen. 54 Und so breit das Feld der Krisensymptome war, so breit war das Angebot, wie man am besten damit umgehen solle. Eine Antwort auf diese gefühlte Krise der Moderne war die Lebensreformbewegung. Der Begriff Lebensreform selbst entstand in den 1890er-Jahren und postulierte eine Rückkehr zur naturgemäßen Lebensweise, die die Kulturmenschheit von den vermeintlich allgegenwärtigen Zivilisationsschäden befreien sollte. Eine andere Antwort waren die Heimatmuseen sowie die Heimatschutzbewegung, die Gründungen von Natur- und Tierschutzverbänden: alles Versuche, das zu konservieren, was verloren zu gehen drohte. Die unter den Europäern im Außereuropäischen zu beobachtende Art und Weise, einen Umgang mit diesen krisenhaften Gefühlslagen zu finden, hat der Anthropologe Renato Rosaldo mit dem Begriff „imperialist nostalgia“ beschrieben. Er hatte festgestellt, dass viele Kolonialoffiziere, Missionare, aber auch Anthropologen des britischen Empire darüber klagten, dass die Kulturen, die sie zu reglementieren, missionieren oder erforschen versuchten, im Verschwinden begriffen seien oder zumindest enormen Veränderungen unterlägen. Die Ursprünglichkeit und Traditionalität – so der Tenor –, die sie gehofft hatten zu finden, seien bereits verschwunden oder im Verschwinden begriffen. 55 Und deshalb, so die breit geteilte Überzeugung, sei es die Aufgabe aller und die Kernbestimmung der Eth52 Krabbe (Anm. 39), S. 14. 53 Ebd., S. 14 f. 54 Paradigmatisch zeigt sich dieses Verlustgefühl in den großen sozialen Bewegungen des Bürgertums wie in der Lebensreform- oder der Jugendbewegung. 55 Diese Klagen sind nicht ohne Widersprüche, schließlich sind sie dadurch gekennzeichnet, dass „agents of colonialism long for the very forms of life they intentionally altered or destroyed.“ Renato Rosaldo: Imperialist Nostalgia. In: Representations 26 (1989) (Special Issue. Memory and Counter Memory), S. 107–122, hier S. 107 f.
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nologie – wie Felix v. Luschan schrieb –, Objekte der außereuropäischen Völker zu sammeln, da diese zum Untergang verdammt und nur noch über ihre materielle Kultur zu retten seien. Seien diese Objekte erst einmal in die sicheren Depots europäischer Museen gebracht worden, könne man mit der eigentlichen Forschung beginnen. 56 Allein über materielle Objekte nämlich könne man versuchen etwas zu erhalten, was an diesen untergehenden Teil der Menschheit erinnere – so auch der erste Leiter des Berliner Völkerkundemuseums Adolf Bastian. Erweitert man den Begriff Rosaldos auf die Sammelaktionen, die sich auch innerhalb Europas beobachten lassen, dann zeigt sich, dass es in der Tat um 1900 vielseitige und sehr weit verbreitete Praktiken gab, mittels derer man die eigene und die fremde, anscheinend ebenfalls untergehende, Vergangenheit hoffte retten zu können. „Die Veränderungen, die man Tag für Tag im eigenen Lande zu beobachten glaubte, konnten zwar nicht aufgehalten geschweige denn rückgängig gemacht werden. Was man jedoch versuchen wollte, war die Bewahrung wenigstens der materiellen Spuren dessen, was vermeintlich für immer verlustig zu gehen schien, seien es Landschaften, alte Dachformen oder auch nur die aufgrund der Mechanisierung der Landwirtschaft überflüssig gewordenen Arbeitsgeräte.“ 57
Retten durch Sammeln war also um 1900 ein emotional aufgeladenes und eben nicht auf das Außereuropäische begrenztes Phänomen, das sich vor dem Hintergrund dessen erklären lässt, was bereits Zeitgenossen als Krise der Moderne bezeichnet haben. Damit ist es aber gleichzeitig auch eng mit der europäischen Moderne selbst verbunden. Ja, das massenhafte Sammeln und der damit verbundene Versuch der Rettung ist ein Phänomen, welches als spezifisches Signum der europäischen Moderne verstanden werden kann. Diese Sammelwut verweist jedoch auf ein weiteres Phänomen, welches ebenfalls eng mit der Formierung der europäischen Moderne verbunden ist, nämlich die Entstehung von Nationalstaaten. Das zeigt sich eindrücklich am Sammelhype, wie er sich im Kaiserreich beobachten lässt. Dieser war nämlich auch deshalb so groß, weil man sich in einer internationalen Konkurrenz befand, innerhalb derer man die jeweilige nationale Superiorität beweisen musste. Dazu eigneten sich Museen vortrefflich, worauf zahlreiche Arbeiten aus den museum studies mit Nachdruck verwiesen
56 Maria Six-Hohenbalken: Felix von Luschans Beiträge zur Ethnologie. Zwischen imperialem Liberalismus und den Anfängen des Sozialdarwinismus. In: Peter Ruggendorfer / Hubert D. Szemethy (Hrsg.): Felix von Luschan (1854–1924). Leben und Wirken eines Universalgelehrten. Wien 2009, S. 165–193. 57 Vgl. Habermas (Anm. 33).
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haben: Nicht nur die Berliner Museumsinsel, auch der Louvre und das British Museum sind Großprojekte, genauso wie das 1852 gegründete Germanische Nationalmuseum und das 1873 eröffnete Nordiska Museet in Stockholm, die mit der Zurschaustellung nationaler Überlegenheit verbunden sind. Dementsprechend symbolisch aufgeladen waren diese genuin bürgerlichen Institutionen, was sich bis heute an einer spezifisch herrschaftlichen Museumsarchitektur beobachten lässt. 58 Museen spielten gerade für die Bildung von Nationalität eine zentrale Rolle. Sie unterstützen die Einbildungskraft, die nötig ist, um Nation überhaupt vorstellbar zu machen. Stets ging es auch darum, welche Nation mehr und wichtigere Objekte ihr Eigen nennen darf. Das wird beispielhaft deutlich an dem Kampf, der zwischen den europäischen Nationen darüber entbrannte, wer den größten Dinosaurier hatte. Auch die Auseinandersetzungen, die sich Deutschland und England etwa um die Beninbronzen lieferten, belegt die nationale Bedeutung der Ausstellungsobjekte. 59 Nur wenige Monate nachdem die Bronzen und Elfenbeinobjekte 1897 aus Benin, wo sie aus dem dortigen Königshof geplündert wurden, nach London gebracht worden waren, kauften deutsche Museumsdirektoren in Londoner Auktionshäusern immer mehr Beutestücke. 60 Führende englische Forscher wie Henry Ling Roth beklagten sich daraufhin lautstark darüber, dass sich Deutsche die besten Stücke genommen hätten und die englische Forschung nicht bedacht worden sei. 61 Dass solche internationalen Kämpfe den Sammelhype anstachelten und gleichzeitig die Herausbildung nationaler Identitäten stärkten, liegt auf der Hand. Weniger bekannt ist das, worauf Wolfgang Lustig, Rainer Buschmann und Glenn Penny verwiesen haben: Nicht nur die sich gerade formierenden Nationen konkurrierten mittels der Objekte um die ersten Plätze im Ranking der europäischen Staaten, in Deutschland kämpften auch die jeweiligen Bundesstaaten um ihre Bedeutung in der neuen großen Einheit des deutschen Kaiserreichs, welche gerade erst im Entstehen be-
58 Vgl. den klassischen Aufsatz von Tony Bennett: The Exhibitionary Complex. In: New Formations 4 (1988) H. 1, S. 73–102, hier S. 99, der auch die Funktion von Museen für die Herausbildung nationaler Identitäten betont. „Museums [. . .] located at the center of cities [. . .] sought [. . .] to incorporate the people within the process of state“. So auch im Überblick Anke te Heesen: Theorien des Museums. Zur Einführung. Hamburg 3. Aufl. 2015. 59 Heumann (Anm. 20). 60 Barbara Plankensteiner: Die „Benin-Angelegenheit“ und ihre Folgen. In: Dies. (Hrsg.): Benin, Könige und Rituale. Höfische Kunst aus Nigeria. Antwerpen 2007, S. 199–212. 61 Ebd., S. 208.
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griffen war. Hier war die Konkurrenz zwischen den Dutzenden deutscher Völkerkundemuseen in den vormaligen freien Reichsstädten, Herzogtümern und Königreichen enorm und trieb die Sammelwut weiter an. So glaubten zahlreiche ehemalige Residenzstädte, aber auch selbstbewusste Hanse-, Universitäts- und Kaufmannsstädte, eigene Völkerkundemuseen haben zu müssen, da jeder Bundesstaat und auch viele ehemals freie Städte nach wie vor eine ganze eigene Identität als vormaliges Königreich oder Herzogtum oder freie Hansestadt behaupten wollten. Die Folge war ein Wettlauf um die besten Ethnografica, Naturalia und Zoologica. 62 Deutschland hatte nämlich im Unterschied zu Frankreich, England und Belgien nicht nur ein großes Museum in der Hauptstadt, das sich um die Objekte des Außereuropäischen bemühte, sondern es gab mindestens sieben, und diese konkurrierten um die Objekte und heizten so den Sammelhype weiter an: Berlin, welches immer wieder versuchte qua Bundesratsbeschluss durchzusetzen, dass alle Kolonialbeamten und Regierungsvertreter automatisch und ausschließlich ihre Ethnografica zuallererst in die Hauptstadt zu bringen hatten, war zweifellos führend, aber Dresden, Hamburg, Leipzig, München, Stuttgart und Bremen schufen ganz eigene Anreizsysteme, um an Objekte zu kommen. 63 Orden wurden geradezu massenweise an Reisende wie Augustin Krämer vergeben, ja Rainer Buschmann spricht von einer regelrechten Dekorationswelle. 64 Bremen, Hamburg und Lübeck, die keine Orden vergaben, initiierten andere Anreizsysteme und beförderten somit den Sammelhype. 65 Man kann davon ausgehen, dass Deutschland heute mehr Objekte aus dem Außereuropäischen beherbergt als die eigentlich bedeutenderen Kolonialmächte England und Frankreich. In Berlin spricht man heute von über 500.000 Ethnografica, während es
62 H. Glenn Penny: Municipal Displays. Civic Self-Promotion and the Development of German Ethnographic Museums. In: Social Anthropology 6 (1998), S. 157–168; Ders.: Fashioning Local Identities in an Age of Nation-Buildings. Museums, Cosmopolitan Visions and Intra-German Competition. In: German History 17 (1999) H. 4, S. 488– 504; Rainer F. Buschmann: Anthropology’s Global Histories. The Ethnographic Frontier in German New Guinea 1870–1935. Honolulu 2009; Wolfgang Lustig: „Außer ein paar zerbrochenen Pfeilen ist nichts zu verteilen . . .“. Ethnographische Sammlungen aus den Kolonien und ihre Verteilungen an Museen 1889 bis 1914. In: Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde Hamburg 18 (1988), S. 157–178. 63 Seit 1889 gab es den Bundesratsbeschluss, dass alle offiziellen Expeditionen ihre Objekte zuerst den Berliner Museen anbieten mussten. Dies galt ab 1892 auch für Kolonialbeamte und wurde ab 1896 auf die Schutztruppe ausgeweitet, dazu vgl. Buschmann (Anm. 62), S. 25. 64 Rainer F. Buschmann: Oceanic Collections in German Museums. Collections, Contexts, and Exhibits. In: Lucie Carreau u. a. (Hrsg.): Pacific Presences, Bd. 1: Oceanic Arts and European Museums. Leiden 2018, S. 197–228, hier S. 205–208. 65 Ebd., S. 208.
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in Paris, zumindest was das subsaharische Afrika anbelangt, nur 80.000 geben soll. 66 So war es für Leipzig, die aufstrebende Handels- und Industriestadt, mindestens so wichtig wie für Dresden, den symbolischen und historischen Mittelpunkt des Königtums Sachsen, welches um seine regionale Identität im sich formierenden Nationalstaat Deutschland kämpfen musste, ihre jeweiligen Völkerkundemuseen mit möglichst vielen Ethnografica und ihre Naturkundemuseen mit möglichst vielen Naturalia auszustatten. 67 München, Mittelpunkt des bayerischen Königtums, konnte Köln, der aufstrebenden Industriestadt, genauso wenig hinterherhinken wie Hamburg als die zentrale Hansestadt Berlin als Hauptstadt des Deutschen Reichs – deswegen blieben auch alle Bemühungen Felix v. Luschans, die Dinge in Berlin zu konzentrieren, ohne nachhaltigen Erfolg. 68 Und schließlich durfte Lübeck nicht hinter der Kieler Universitätssammlung zurückstehen. Glenn Penny nennt als treibendes Motiv dieses Konkurrenzkampfs „identity politics of civic self-promotion“. 69 Und in der Tat ging es bei dem europäischen Sammelhype auch um „identity politics“ auf nationaler und internationaler Ebene. Gleichzeitig wird hier auch eine deutsche Spezifität deutlich, nämlich das, was Dieter Langewiesche „föderativen Nationalismus“ genannt hat: 70 „Föderativer Nationalismus richtet sich [. . .] nicht [. . .] gegen einen Nationalstaat, der die historisch gewachsene staatliche Vielfalt überwindet, indem er die Einzelstaaten zu Ländern mediatisiert. Im Gegenteil, weil er regionale und einzelstaatliche Traditionen kulturell verteidigte, trug der föderative Nationalismus nun wesentlich dazu bei, dass der neue Nationalstaat in der deutschen Gesellschaft breit und schnell akzeptiert wurde. Man wuchs in den Nationalstaat hinein, indem man sich als Föderalist oder Regionalist bekannte.“ 71
Das heißt, dass internationale wie nationalen Anstrengungen auf dem Felde der identity politics im deutschen Fall Hand in Hand gingen und
66 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics. Paris 2018. 67 Beispielhaft scheint hier der ‚Kampf‘ um die Dinosaurier; siehe Heumann (Anm. 20). 68 Ein ausgeklügeltes Ordenssystem, so Rainer F. Buschmann, das fast jeden Sammler oder Forscher mit selbigem versah, tat das Seinige, um die regionalen Häuser mit Objekten zu versehen. 69 Penny (Anm. 62), S. 159. 70 Dieter Langewiesche: Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte. In: Ders./Georg Schmidt (Hrsg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München 2000, S. 215–243. 71 Ebd., S. 241.
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beide gleichermaßen den Sammelhype anheizten, wie sie der Herausbildung eines föderativen Nationalismus dienten. Das Erwerben, Stehlen und Plündern im Außereuropäischen wurde dadurch befördert und ist gleichzeitig Teil einer als krisenhaft erlebten Moderne, zu der auch der neue moderne Nationalstaat gehörte, der alte staatliche Strukturen ersetzen sollte. Gleichzeitig verweist dieser Zusammenhang darauf, wie wichtig die Artefakte von Anbeginn an für die – sei es nationale, sei es lokale, sei es regionale – Identität der jeweiligen Region waren. 72
4. Aktuelle Debatten Nachdem nun die Ausgangsfrage, warum so viele tote Tiere, getrocknete Pflanzen und Ethnografica in deutschen Museen lagern, beantwortet ist, möchte ich abschließend die Frage stellen, warum man in Europa seit einigen Jahren genau daran so vehement Anstoß nimmt. Damit sind wir bei den aktuellen Debatten über Restitutionen, die seit einiger Zeit mit großer Heftigkeit insbesondere in Deutschland, aber auch in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und einigen anderen europäischen Ländern geführt werden. 73 Warum stellt sich – vor dem Hintergrund der langen Geschichte von Rettungsparadigma und Bewahrungsfetischismus, die überdies eng mit zentralen Identitätsdiskursen der europäischen Geschichte verwoben ist – mit einem Mal die Frage nach der Rückgabe der Dinge, von denen man doch fest glaubte, man rette sie? Genau das: „Warum geht es auf einmal immer um Restitution?“ fragte mich unlängst eine Kuratorin aus Tansania und zeigte sich sehr überrascht von dieser Entwicklung. Schließlich, so sagte sie, habe in Europa doch jahrzehntelang niemand reagiert, wenn man Fragen der Repatriierung angesprochen habe. Nun allerdings wisse sie kaum noch, wie ihr geschehe, wenn sie die Einladungen zum Thema
72 Oder, wie es Alon Confino ausdrückte: Um 1900 „Germans experienced the unlimited expansion of time and space, they invented the ‚old Heimat‘ as a secure and eternal space [. . .].“ Confino (Anm. 41), S. 125. 73 Die Debatte selbst ist weit älter und wird andernorts schon seit geraumer Zeit geführt. Für die USA stellte der US-amerikanische Native American Graves Protection and Repatriation Act (NAGPRA), der im Kern beinhaltet, dass die first nations menschliche Überreste, aber auch bestimmte sogenannte sacred objects zurückerhalten können, einen Meilenstein dar. Genauso wichtig war in Neuseeland und Australien eine neue Politik, insbesondere in Bezug auf human remains. Diese Gesetzesänderungen und weitere Diskussionen über Repatriierungen in Amerika, Australien, aber auch Afrika und Ozeanien, die schon seit einigen Jahrzehnten laufen, fanden jedoch in Europa keinen Widerhall. Eine breitere Resonanz erfahren diese Debatten in Europa erst seit wenigen Jahren.
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Raubkunst aus Deutschland in ihrer Mailbox anschaue. Die einfache Antwort liegt auf der Hand: Weil Emmanuel Macron 2017 eine Rede in Ougadougou gehalten hat, in deren Kern es übrigens weit mehr um eine neue französische Afrikapolitik ging, die versucht, die durch globale Player wie China bedrohte französische Dominanz in Westafrika wieder zu erlangen, als darum, Kulturgüter zu restituieren. Auch die Diskussion um das Humboldt Forum, so ein zweiter gern genannter Hinweis, hat diese Debatten vorangetrieben. Ohne diese beiden Faktoren vollkommen von der Hand zu weisen, möchte ich doch abschließend argumentieren, dass es tieferliegende, strukturelle Gründe für diese Debatten gibt: Der entscheidende Grund liegt darin, dass die so eng mit dem europäischen Selbstverständnis verbundene Idee eines genuin europäischen Auftrags, zu retten und zu bewahren, brüchig geworden ist. Gleichzeitig damit ist auch die an Hybris grenzende Vorstellung, man habe die Macht zu retten, brüchig geworden. Ebenso ist die menschenverachtende Idee, Dinge seien wichtiger als Menschen und deswegen könne man den Frauen und Männern, die die Dinge nicht freiwillig herausgeben, Gewalt antun, fragwürdig geworden. Kurzum: Die Vorstellung, ein Kontinent zu sein, der gerade weil er modern sei, all das, was alt und primitiv scheine, retten und bewahren müsse, hat ganz erheblich an Plausibilität verloren. Genau dieser Verlust an Plausibilität und damit auch an Legitimität der Rettungsphantasie und des damit verbundenen Bewahrungsfetischismus bilden den Hintergrund für die aktuellen Restitutionsdebatten, die wiederum Ausdruck und gleichsam Katalysator dieses Brüchig-Werdens sind. Letztlich geht es bei den Restitutionsdebatten nicht allein um einige tote Tiere, Naturalia und Ethnografica, sondern um Kernbestandteile des europäischen Selbstverständnisses, welches um 1900 auch mittels just dieser Dinge Konturen annahm. Und es waren weder Macron noch deutsche Kulturbürokraten, die diesen Prozess in Gang gesetzt haben. Es waren die Aktivisten und Aktivistinnen aus den ehemaligen Kolonien, die mit Nachdruck auf die zahlreichen kolonialen Spuren gerade in den europäischen Metropolen hingewiesen und eine Auseinandersetzung mit den kolonialen Denkstrukturen in europäischen Selbstentwürfen eingefordert haben. 74 Ihnen und den postcolonial studies, die seit einigen Jahrzehnten europäische Selbstverständlichkeiten hinterfragen, verdanken wir, dass Rettungsphantasien und Bewahrungsfetischismen heute in einem anderen Licht erscheinen: Die Idee, man könne Dinge vor Veränderung retten und gleichzeitig aktiv 74 Siehe im Überblick Rebekka Habermas: Restitutionsdebatten, koloniale Aphasie und die Frage, was Europa ausmacht. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, September 2019, S. 17–22.
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und mit Gewalt die Zerstörung der Gesellschaften betreiben, denen diese Objekte gehören, ist spätestens seitdem Renato Rosaldo diese Haltung als „imperialist nostalgia“ demaskiert hat, obsolet geworden. Die Einsicht, dass es stets kulturell unterschiedliche Zeiten gibt, die freilich miteinander verwoben sind und nie schlicht untergehen oder überleben, sondern – so James Clifford bereits 1987 – „always undergo the impact of disruptive changes associated with the influence of trade, media, missionaries, commodities, ethnographers, tourists, the exotic art market“, 75
hat sich zumindest in den Kulturwissenschaften durchgesetzt. Und nicht zuletzt haben Museumsdebatten, die in den Ländern der source communities geführt wurden, die Einsicht befördert, die Flower Manase unlängst auf einem der vielen nun forcierten Kooperationstreffen zwischen deutschen und afrikanischen Museumsexperten mit Blick auf Deutschland treffend so zusammenfasste: „You have the objects, we have the knowledge.“ 76 Und doch, so brüchig Rettungsparadigma und Bewahrungsfetischismus unter Aktivisten und Aktivistinnen, vielen Ethnologen und Ethnologinnen wie manch anderen, die sich professionell mit Identitätsfragen beschäftigen, auch geworden sind, vieles von dem, was an der vorletzten Jahrhundertwende bei der Formierung nationaler europäischer Identitäten Pate stand und half, eine europäische Vorstellung von Moderne zu formulieren, spielt heute wieder eine Rolle dafür, wie Europa sich definiert. Mehr noch, es ist keine Überraschung, dass manche diese europäischen Selbstentwürfe gerade jetzt mit Verve glauben verteidigen zu müssen: In einer Situation, wo die deutsche Gesellschaft vor erneuten – nun im Gewand der Globalisierung oder in Gestalt von Flüchtlingen – daherkommenden Herausforderungen steht. Diese freilich können wir – und da müssen wir den Interventionen der Herkunftsgesellschaften sehr dankbar sein – nicht erneut mittels toter Tiere, getrockneter Pflanzen und Masken aus dem Außereuropäischen lösen.
75 James Clifford: Of Other People. Beyond the ‚Salvage Paradigm‘. In: Hal Forster (Hrsg.): Dia Art Foundation. Discussions in Contemporary Culture. Seattle 1987, S. 121–141, hier S. 122. 76 Flower Manase auf einem Projekttreffen von PAESE (Provenienzforschung in außereuropäischen Sammlungen und der Ethnologie in Niedersachsen) am 13./14. 9. 2019 in Hannover. Vgl. auch ihren Beitrag im vorliegenden Band.
Hermann Parzinger
Shared Heritage als Chance Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes ist mit Rückgaben allein nicht erledigt
Seit einigen Jahren wird intensiv über den richtigen Umgang mit Kulturgütern aus kolonialem Kontext debattiert. Das Humboldt Forum in Berlin wirkt dabei gleichermaßen als Projektionsfläche wie als Katalysator. 1 Doch es geht nicht allein um das neue Schloss und die vergleichsweise kurze, aber nicht minder gewalttätige koloniale Vergangenheit Deutschlands, sondern längst um eine europäische Dimension. Die Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Ouagadougou 2 vom November 2017, in der er erstmals die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter versprach, war ein Paukenschlag und stieß auf überwältigende Resonanz in den Feuilletons. Doch wie würde es dort weitergehen? Schon im Titel des Berichts, den Bénédicte Savoy und Felwine Sarr im Auftrag Macrons ausgearbeitet haben, wird eine Maximalforderung an die französische Regierung ablesbar: „Die Restitution des afrikanischen Kulturerbes“. 3 In mehreren Etappen sollten grundsätzlich alle Kulturgüter aus Afrika zurückgegeben werden. Dabei sei es völlig gleichgültig, ob die Stücke aus militärischen Strafexpeditionen stammten, von Sammlern erworben oder
1 Dieser Aufsatz ist die überarbeitete Fassung des Beitrags von Hermann Parzinger: „Shared Heritage“. Das Humboldt-Forum und die Kolonialismusdebatte, in: Die Politische Meinung. Zeitschrift der Konrad-Adenauer-Stiftung, 1. 4. 2020, https:// www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/shared-heritage (aufgerufen am 6. 5. 2020). Das Manuskript wurde im Oktober 2019 abgeschlossen. Neuere Entwicklungen konnten nicht mehr berücksichtigt werden. – Ders.: Von Chancen und Herausforderungen. Das Humboldt Forum im Berliner Schloss. In: Politik & Kultur. Zeitung des Deutschen Kulturrats 5 (2016), S. 7. 2 Martina Meister: Raubkunst. Es ist der Anfang von Macrons Kulturrevolution. In: Die Welt, 4. 12. 2018. 3 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle. Paris 2018, http://restitutionreport2018. com/sarr_savoy_fr.pdf (aufgerufen am 26. 11. 2017).
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bei Expeditionen von Forschern zusammengetragen wurden. Savoy und Sarr behaupteten, dass es nur Deals zwischen Ungleichen hatte geben können, weshalb es sich per se um Unrechtskontexte handelte. Provenienzforschung und wissenschaftliche Aufarbeitung von Objektbiografien seien nicht wirklich zentral und würden von den Museen doch nur vorgeschoben, um auf Zeit zu spielen und einen bereits erwiesenen Unrechtszustand beliebig zu perpetuieren. Die französischen Museen hätten nun Listen aller Objekte aus Afrika zu erstellen und den jeweiligen Staaten zu übergeben. Diese würden dann entscheiden, welche Stücke sie zurückhaben und welche sie künftig als Leihgaben in französischen Museen belassen wollten, ansonsten könnten sich Letztere ja auch mit Kopien und 3D-Reproduktionen behelfen. Die ersten Reaktionen auf das französische Papier in Deutschland waren geteilt. Anhänger postkolonialer Paradigmata nannten die Initiative eine Zeitenwende, eine Entscheidung von globaler Bedeutung, von der es jetzt kein Zurück mehr gebe. Andere kritisieren dagegen den postkolonialen Jargon des Papiers, der von einer Ideologie des Sühnens und Büßens beherrscht war, ohne der Komplexität des Themas wirklich gerecht zu werden. 4 Der Präsident des Goethe-Instituts, Klaus-Dieter Lehmann, sprach gar von einem „Ablasshandel“ zur schnellen Reinwaschung von kolonialer Schuld, der ein falscher Weg in die Zukunft sei. In den vergangenen Monaten machte sich dann nach der ersten Euphorie Ernüchterung breit. Fast nichts sei geschehen, sagte Felwine Sarr Ende Juli in einem Interview mit der ZEIT, 5 und attestierte der in Deutschland geführten Debatte, dass sie gar eine der fortschrittlichsten in Europa sei. Dies bestärkt uns in unserer Strategie des Primats einer gründlichen Provenienzforschung gemeinsam mit Partnern und Akteuren aus den Herkunftsländern und Ursprungsgesellschaften, ohne die die Erforschung der Sammlungen nicht gelingen kann. Für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und ihre Staatlichen Museen zu Berlin gehört die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern aus zahlreichen Herkunftsländern seit geraumer Zeit zum Tagesgeschäft. 6 Derzeit laufen 4 Frank Werner / Markus Flohr: „Sie sehen in allem nur Ausbeutung“. Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer streiten über das Konzept des neuen Humboldt Forums, die BeninBronzen und den Kolonialismus. In: Die ZEIT Geschichte, 24. 6. 2019, S. 94. 5 Werner Bloch: „Geschehen ist fast nichts“. Der französische Präsident wollte seinen Rat, wie er mit kolonialer Raumkunst umgehen soll – und schlägt ihn jetzt in den Wind. Der senegalesische Ökonom Felwine Sarr über die Arroganz der Europäer und die große Chance der Restitutionsdebatte. In: Die ZEIT, 25. 7. 2019, S. 34. 6 Susanne Messmer: Ein Glücksfall für das Humboldt Forum. Ende kommenden Jahres will das Humboldt Forum 60 Objekte von Omaha ausstellen, die in den 1890er-Jahren nach Berlin kamen. In: tageszeitung, 5. 6. 2019, S. 22.
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Abb. 1: Álvaro Jorge, Direktor des Museu Nacional de Antropologia in Luanda, Angola, zeigt Ziva Domingos, Hermann Parzinger und Norbert Spitz das moderne Depot seines Hauses. © SPK/Stefan Müchler
verschiedene kooperative Provenienzforschungsprojekte und gemeinsame Vorhaben zur Gestaltung von Ausstellungsbereichen im Humboldt Forum. Es sind Schritte, die zusammen mit den Herkunftsländern geplant und ins Werk gesetzt werden, deren Bedürfnisse wir dabei aber auch bewusst in den Mittelpunkt stellen. Wir haben uns an unseren Partnern in Afrika, Asien oder Ozeanien zu orientieren – nicht umgekehrt. Die wahre Komplexität des Themas ist ihnen sehr wohl bewusst. Auch sie wollen wissen, welche Geschichten hinter den Objekten stehen, das hören wir in unseren Gesprächen immer wieder. Und diese Geschichten lassen sich nur gemeinsam entschlüsseln. Auch sie wissen, dass ethnologische Sammlungen nicht nur Kunstwerke oder Objekte religiös-spiritueller Bedeutung umfassen, sondern zu großen Teilen auch Alltagsgegenstände oder gezielte Produktionen für den europäischen Sammlermarkt. Geschichte ist selten nur schwarz oder weiß. Auf der Grundlage kooperativer Forschung können gemeinsam Wege entwickelt werden, welche Objekte zurückzugeben sind, weil sie entweder unrechtmäßig entzogen wurden oder weil es aufgrund ihrer besonderen ideellen Bedeutung für die jeweilige Gesellschaft geboten wäre. Auf diese Weise könnte eine ganz neue Qualität in den Beziehungen zwischen Europäern und Menschen der Ursprungsgesellschaften entstehen. Gemeinsame Entscheidungen über den Umgang mit Kulturgütern, die vieles möglich
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Hermann Parzinger
erscheinen lassen, gehen jedoch nicht von heute auf morgen, sondern sie benötigen Zeit, damit Vertrauen wachsen kann. Bereits seit Juni 2016 läuft am Ethnologischen Museum das Pilotprojekt „Tansania – Deutschland: Geteilte Objektgeschichten?“, das ein Rahmenkonzept für die Erforschung der Provenienz problembeladener, insbesondere in der Kolonialzeit gesammelter Bestände entwickelt. Der Wunsch im wilhelminischen Deutschland nach einem „Platz an der Sonne“ hatte nicht nur im heutigen Namibia, sondern auch im Osten Afrikas gravierende Folgen für die dort lebenden Menschen. 7 Die deutsche Kolonialisierung Tansanias stieß auf breitere Gegenwehr und war blutiger, als allgemein bekannt ist. Bereits der Versuch der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft, 1888 die Handelsstädte der Küste zu besetzen, stieß auf den Widerstand der lokalen Elite sowie von Teilen der Bevölkerung, der in der Folge vom neuernannten Reichskommissar Herrmann v. Wissmann brutal niedergeschlagen wurde. Die Widerstandsbewegungen gegen die fremde politische und wirtschaftliche Einflussnahme hingegen dauerten an. Zwischen 1905 und 1907 lehnten sich große Teile der in der südlichen Hälfte Deutsch-Ostafrikas lebenden Gesellschaften gegen die Vertreter der kolonialen Ordnung auf. In dieser Zeit sozialer und wirtschaftlicher Krisen gewann eine prophetische Bewegung an Bedeutung, die durch eine spezielle Medizin (maji = „Wasser“) Schutz und Unverwundbarkeit versprach und namensgebend für den Aufstand wurde. Diesem sog. MajiMaji-Krieg, den die Deutschen – unterstützt durch Askari und weitere Hilfstruppen – mit äußerster Brutalität nach dem Prinzip der verbrannten Erde führten, fielen Hunderttausende zum Opfer, die zum großen Teil infolge der Zerstörung von Dörfern, Feldern und damit durch den Entzug jeglicher Lebensgrundlage in der Region ihr Leben verloren. Rund 10.000 Objekte umfasst die Tansania-Sammlung des Ethnologischen Museums heute; eine Anzahl hiervon ist leider untrennbar mit der damaligen Gewaltherrschaft verbunden. Dieser Tatsache sind wir uns als Stiftung Preußischer Kulturbesitz sehr wohl bewusst und stellen uns daher unserer Verantwortung. In der Vorbereitung des Umzugs der Sammlungen aus Dahlem in das Humboldt Forum sehen wir uns daher nicht nur verpflichtet, Provenienzforschung zu betreiben, sondern haben uns auch proaktiv mit den relevanten politischen und kulturellen Institutionen in Tansania in Verbindung gesetzt.
7 Hermann Parzinger: Der vergessene Krieg der Deutschen. Maji-Maji-Aufstand in Tansania. In: Spiegel Online, 27. 2. 2017, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ tansania-der-vergessene-krieg-maji-maji-aufstand-a-1136360.html (aufgerufen am 14. 10. 2019).
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Abb. 2: Veranstaltung zum Humboldt Lab Tansania in Berlin-Dahlem. © SPK/photothek.net / Florian Gaertner
Zusammen mit Wissenschaftlern aus Tansania wird diese Geschichte aufgearbeitet und im Humboldt Forum erzählt, und zwar in der Verantwortung von Kuratoren und Kuratorinnen aus Tansania. Der offene und von dem gemeinsamen Wunsch nach Aufarbeitung dieser dunklen Jahre getragene Dialog und die verschiedenen in Dar es Salaam geführten Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern des Nationalmuseums (National Museum and House of Culture), der Universität Dar es Salaam und des Kulturministeriums haben mich tief beeindruckt. Auch wenn sicherlich noch ein langer und manchmal auch mühsamer Weg vor uns liegt, für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist er dennoch alternativlos. Wir können und wollen die problematischen Teile unserer aus nahezu allen Weltregionen stammenden ethnologischen Sammlungen nicht verbergen, sondern offen damit umgehen. Ziel muss eine tiefe, langfristige und partnerschaftliche Zusammenarbeit sein. Rückgaben sind nur ein Teil davon, wenn auch sicher ein wichtiger. Auch wenn ein Großteil der Bestände des Ethnologischen Museums gar nicht aus ehemaligen deutschen Kolonien stammt, sondern durch Ankäufe in aller Welt systematisch erworben oder im Zuge von Forschungsreisen zusammengetragen wurde, unzweifelhaft kamen zu dieser Zeit auch Objekte aus verschiedenen Kriegen und Kampfhandlungen ins damalige Königliche Museum für Völkerkunde. Teilweise gerieten sie in Vergessenheit und wurden erst durch die gezielte Erforschung der Ostafrika-Sammlung
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im Hinblick auf Provenienzen „wiederentdeckt“: 32 Objekte, unter anderem Gewehrkugeln, ein Pulverhorn, ein Beutel mit Medizin und eine Herrschertrommel, konnten dabei identifiziert werden, die eindeutig im Zusammenhang mit dem Maji-Maji-Krieg stehen und für die Menschen dort von hoher symbolischer Bedeutung sind. Es ist Zeit, diesen vergessenen Krieg in das Bewusstsein auch der Menschen hier in Deutschland zurückzuholen. Museen sind geradezu ideale Orte dafür, weil sie Millionen von Besucherinnen und Besuchern erreichen und sie mit dieser schwierigen Geschichte konfrontieren, die zum Beispiel im Schulunterricht weitgehend ausgeblendet wird. Einen ähnlichen Grundansatz verfolgt unsere Zusammenarbeit mit Namibia, sie geht dabei aber auch neue Wege. Im Rahmen einer Partnerschaft zwischen der Museums Association of Namibia (MAN) und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz waren seit Frühjahr 2019 mehrere Forscherinnen und Forscher aus Namibia zu Gast im Ethnologischen Museum. Gemeinsam mit dem Wissenschaftlerteam des Museums untersuchten sie die rund 1.400 Objekte der Namibia-Sammlung des Hauses im Hinblick auf ihre Geschichte, Bedeutung und ihre künstlerischen Potenziale. Eine Besonderheit der Sammlungen ist ihre frühe Akzession. Erste Objekte kaufte das Museum bereits 1881; der Großteil der Sammlung wurde allerdings später, während der deutschen Kolonialzeit (1884–1919), erworben. Die zusammengetragenen Stücke spiegeln zum einen den Prozess der Aneignung durch deutsche Kolonialmächte, wie Angehörige der Militär- und Kolonialverwaltung, Missionare und Kaufleute wider. Aber nicht nur. Es geht auch um den Einfallsreichtum und die Kreativität der Menschen in Namibia. Der Völkermord an den Ovaherero und Nama (1904–1908) durch deutsche Kolonialmächte und die anschließende Enteignung, Zwangsumsiedlung und Diskriminierung von Namibiern während des UN-Mandats Südafrikas (1920–1990) gefährdeten das Wissen über die Objekte in deutschen und namibischen Museumssammlungen und behinderten deren Ersetzung durch neue Kulturproduktion. Historische Sammlungen sind heute von besonderer Bedeutung, da sie für viele Gemeinschaften in Namibia oft die einzigen materiellen Überreste präkolonialer und frühkolonialer materieller Kultur darstellen und damit sowohl eine wertvolle Quelle für die historische Forschung als auch eine wichtige Inspirationsquelle für zeitgenössische Künstler und Designer bilden. Mit einem von der Gerda Henkel Stiftung finanzierten Projekt wurde die gemeinsame Erforschung der Sammlung begonnen, ein beträchtlicher Teil der beachtlichen Fördermittel fließt direkt in die Arbeit in Namibia. Im Frühjahr 2020 wählten die namibischen Partner in enger Absprache mit Community-Vertretern 23 Objekte aus dem Gesamtbestand der 1.400 Nummern umfassenden Sammlung aus, die bald nach Namibia reisen sol-
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Abb. 3: Pressetermin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zur Zusammenarbeit mit Namibia. © SPK/photothek.net / Florian Gaertner
len. Ein ganz anderer Ansatz, den ich sehr vielversprechend finde. Erstmals in Deutschland findet ein solch ergebnisoffener Prozess der Zusammenarbeit statt, der maßgeblich von den namibischen Partnern bestimmt wird. Vor Ort sollen sie in den kommenden drei Jahren weiter erforscht werden und zeitgenössischen Künstlern für eine kreative Auseinandersetzung zur Verfügung stehen. Im weiteren Projektverlauf sind in Namibia vier mehrtägige Workshops am National Museum of Namibia und in KulturerbeGemeinschaften geplant, die das mit den Objekten verbundene Wissen und andere Formen des immateriellen Kulturerbes, wie zum Beispiel historische Techniken und Materialien, reaktivieren und dokumentieren sollen. Zusätzlich finanziert die Gerda Henkel Stiftung einen Restaurator sowie einen Museologen am National Museum of Namibia und unterstützt das Museum mit Capacity-Building-Workshops und Materialien zur Konservierung der Sammlung. Blicken wir auf einen anderen Erdteil. Aus Palau im östlichen Ozeanien stammt ein traditionelles Männerhaus von 1905, das jahrzehntelang im ethnologischen Museum in Dahlem ausgestellt war und in naher Zukunft im Humboldt Forum zu sehen sein wird. Weil das Männerhaus etwas in die Jahre gekommen ist, gab es das Angebot aus dem Inselstaat, das Dach mit alten Handwerkstechniken neu decken zu lassen. Mittlerweile wurden die dazu nötigen Palmblattschindeln in Palau geknüpft und auf dem Seeweg nach Hamburg verschifft – in Dahlem warten sie nun auf ihre Anbringung
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im Humboldt Forum. Der Umgang mit dem Männerhaus von Palau ist ein weiteres gutes Beispiel für Shared Heritage. Gemeint ist damit Teilhabe, Mitwirkung und Mitverantwortung. So gesehen gilt das auch für die Arbeit des chinesischen Künstlers und Architekten Wang Shu, der im Humboldt Forum einen gewaltigen Saal zur Präsentation chinesischer Hofkunst des 18. Jahrhunderts mit traditionellen Baustoffen gestaltet. Kulturgüter tragen etwas Verbindendes in sich, das aktiviert werden muss, um seine Wirkung zu entfalten. Die Formen der Aktivierung sind dabei vielfältig und auch abhängig von der Art der Kulturgüter und den jeweiligen historischen, aber auch politischen Kontexten. Wenn auch das Konzept von Shared Heritage, wie so vieles im Umgang mit nicht-europäischen Kulturgütern, nicht unumstritten ist, so halte ich den grundlegenden Gedanken, dass das kulturelle Erbe von Museen lediglich verwahrt wird, aber als Besitz der ganzen Menschheit gilt, für eine wichtige Weiterentwicklung im Vergleich zu Ansichten aus der Vergangenheit. Gelten kann dieser Grundsatz jedoch nur unter der Voraussetzung legalen Erwerbs. Shared Heritage bedeutet für mich kein „Teilen“, sondern „Teilhabe“, und ist damit in gewisser Weise eine staatenübergreifende Idee, die jedoch auch eine entsprechende Haltung bei den Beteiligten voraussetzt. Das bedeutet, dass das in Deutschland verwahrte kulturelle Erbe auch den Herkunftskulturen zur Verfügung stehen muss. Das führt direkt zur Dekolonialisierung und Demokratisierung von Museen. 8 Wichtig sind dabei erstens der Einbezug von Kuratoren aus den Herkunftsländern und Ursprungsgesellschaften sowie das Aufbrechen von alten Deutungshierarchien. Das wird vor allem dort wichtig, wo es darum geht, die vielfältigen Perspektiven und Bedeutungsebenen der Objekte zu erschließen und den Besucherinnen und Besuchern zu vermitteln, um den Ursprungsgesellschaften damit eine Stimme zu geben. 9 Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist die Arbeit an der Präsentation der Amazonien-Sammlung in Zusammenarbeit mit Vertretern der indigenen Universität von Tauca in Venezuela. Dieses Projekt erstreckt sich mittlerweile auf drei Länder – Venezuela, Brasilien und Kolumbien. Zweitens ist entscheidend, dass das hier versammelte materielle Wissen über die Kulturen der Welt jedermann allumfänglich zugänglich gemacht wird, weshalb die digitale Bereitstellung mit Angabe sämtlicher zur Ver8 Herrmann Parzinger: Geteiltes Erbe ist doppeltes Erbe. Wir dürfen die Herkunftsländer kolonialer Kunst nicht länger mit westlichen Beruhigungspillen abspeisen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 10. 2016, S. 11. 9 Ders.: Zeitenwende oder Ablasshandel? Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes ist mit Rückgaben allein nicht erledigt. Der Dialog mit den Herkunftsgesellschaften sollte in eine gemeinsame Museumsarbeit münden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. 11. 2018, S. 9.
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fügung stehenden Informationen und deren kontinuierliche Ergänzung im Zuge der fortschreitenden Erforschung eine zentrale Aufgabe ist. Der jüngste Erfolg in diesem Zusammenhang: Dem Berliner Ethnologischen Museum wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Vorhaben bewilligt, das die vollständige Digitalisierung und Erschließung sämtlicher Erwerbungsakten des Museums von Anbeginn bis 1947 ermöglichen wird. Dieses Projekt kann im Hinblick auf Transparenz neue Maßstäbe setzen, zumal es mit der Digitalisierung und unbeschränkten Zugänglichmachung (Open Access) allein nicht getan ist. Wirkliche Zugänglichkeit ist nur zu erreichen, wenn die in Sütterlin oder anderen Schriften der vorletzten Jahrhundertwende verfassten Unterlagen auch transkribiert und damit für viele Menschen überhaupt erst lesbar werden; zudem wäre eine Übersetzung ins Englische wünschenswert. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten, und schnelle Erfolge sind in der Forschung nur selten zu erzielen. Wer dies als Verzögerungstaktik abtut und die Ernsthaftigkeit dieser Anstrengungen bezweifelt, versteht wenig von der Komplexität von Sammlungs- und Provenienzforschung. Und warum sollte man, drittens, Teile der Sammlungen nicht auch häufiger reisen lassen, mit den Museen der Herkunftsländer in eine viel engere Kooperation eintreten und Bestände zeitweise für Wechselausstellungen austauschen, in die eine wie in die andere Richtung? Das Humboldt Forum könnte das Epizentrum einer solchen neuartigen Beziehung mit der Welt sein. Wir haben den Eindruck, dass dies gerade unseren Kolleginnen und Kollegen in Afrika ein ganz wichtiges Anliegen ist. Und viertens muss zu einer gleichberechtigten Partnerschaft natürlich auch die Rückgabe einzelner Objekte gehören 10, wenn sie nachweislich aus Unrechtskontexten stammen oder für die Ursprungsgesellschaft von besonderer Bedeutung sind, denn Shared Heritage kann immer nur so gut sein wie die Erforschung der Erwerbungsumstände und die Rekonstruktion der Objektbiografien. Ganz anders verhält es sich bei den großen anthropologischen Sammlungen mit tausenden menschlichen Gebeinen, meist Schädeln aus aller Welt, bei denen bisweilen nicht einmal mehr bekannt ist, woher genau und aus welchen Kontexten sie stammen. Das vor allem aber wollen unsere Partner wissen, wie wir derzeit in einem von der Gerda Henkel Stiftung finanzierten Projekt zur Provenienzforschung von ca. 1.200 Schädeln aus dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika (Tansania und Ruanda) sehen. Eine solche gemeinsame Untersuchung der Herkunft der Gebeine ist die Vor10 Ders.: Wem gehört die Kunst der Kolonialzeit? Leihgabe oder Rückgabe: Ohne internationale Regeln gibt es keine fairen Lösungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 1. 2018, S. 9.
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aussetzung dafür, menschliche Überreste an die richtigen Gemeinschaften repatriieren zu können. Ich sage es ganz klar: Provenienzforschung soll bei Human Remains aus kolonialen Kontexten nicht klären helfen, ob wir diese zurückgeben, sondern ausschließlich der Frage gelten, an wen sie zu repatriieren sind. Und es ist unsere Pflicht, menschliche Gebeine mit all der bei uns und anderswo noch verfügbaren Information zurückzugeben. Ob Kulturgüter oder anthropologische Sammlungen, es geht um Langfristigkeit und Nachhaltigkeit, gerade in der Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern und den betroffenen indigenen Gemeinschaften. Entscheidend muss dabei sein, dass diese Forschungen nicht wieder allein von Europäern, sondern gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Afrika, Asien, Ozeanien oder Amerika initiiert, geplant und realisiert werden. Auf dieser Grundlage kann ein neues Miteinander entstehen, bei dem ‚Augenhöhe‘ eine Selbstverständlichkeit ist. Ohne ein stärkeres Engagement der öffentlichen Hand ist das nicht zu leisten. Als letztes Beispiel möchte ich hier die sogenannten Benin-Bronzen ansprechen. Als britische Truppen als Vergeltung für die Ermordung britischer Gesandter 1897 den Palast des Königs von Benin plünderten, gelangte mit das Beste und Teuerste nach Europa, was die Kunst Afrikas zu bieten hatte. Gedenkköpfe aus Bronze, Reliefplatten und Figurengruppen aus Messing und prunkvoll geschnitzte Elfenbeinzähne rissen bei ihrer Ankunft in Europa Kunsthistoriker zu begeisterten Vergleichen mit Werken der europäischen Renaissance hin. Die Benin-Dialoggruppe, der Vertreter aus Nigeria sowie aller Museen mit Werken aus Benin angehören, widmet sich seit einigen Jahren diesen Sammlungen und soll Wege eines künftigen gemeinsamen Umgangs ergründen. Erklärtes Ziel: die Errichtung eines großen Museums in Benin-City, das wechselnd mit Benin-Bronzen aus verschiedenen europäischen Museen bespielt werden soll. Derzeit ist von Leihgaben die Rede, aber eingedenk der Erwerbungsumstände dieser Kunstwerke kann und wird es dabei nicht bleiben, und gewiss wird es auch zu Rückgaben kommen. Unabhängig von der Agenda bestimmter Interessengruppen sollen hier die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Afrika und aus den anderen Ländern, deren Museen Benin-Bronzen besitzen, Wege für eine gemeinsame Zukunft erarbeiten. Die Zeit dafür sollte man ihnen geben, denn nach über einem Jahrhundert haben diese Objekte auch hier in Europa eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erlangt und den Blick auf Afrika nachhaltig verändert. Es ist richtig, dass Kolonialgeschichte immer eine Geschichte von ungleicher Macht, Repression und Rassismus ist. So wie jede Geschichte ihre zwei Seiten hat, wird der Besucher bei der Präsentation der bronzenen Reliefplatten aus Benin, die zu den Highlights westafrikanischer Kunst im Humboldt Forum gehören, künftig auf der Vorderseite die kunstvollen
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Abb. 4: Andrea Scholz vom Ethnologischen Museum mit Wissenschaftlern aus dem Amazonas-Gebiet im Depot des Museums. © SPK/Inga Kjer / photothek.net
Darstellungen dieser Stücke bewundern können, während ihn die Rückseiten mit der Erwerbungsgeschichte konfrontieren: Interviews, Filme und Fotos thematisieren dort Ursache und Folgen der Kolonialisierung mit den Stimmen der Opfer; auch das ist Shared Heritage. Deshalb ist die Befürchtung abwegig, eine Ausstellung mit in dieser Zeit entstandenen Sammlungen im Humboldt Forum würde unweigerlich noch im 21. Jahrhundert koloniale Präsentationsmuster im Sinne einer Zurschaustellung exotischer Kuriositäten auf Kosten der Ursprungskulturen reproduzieren und perpetuieren. Dies würde das Ziel eines gleichberechtigten Miteinanders in unserer von Zuwanderung geprägten Gesellschaft überdies geradezu konterkarieren. Es ist ferner daran zu erinnern, dass ein Großteil der Bestände des Berliner Ethnologischen Museums gar nicht aus ehemaligen deutschen Kolonien stammt, sondern durch ein weit gespanntes Netz von Ankäufern in aller Welt systematisch erworben oder im Zuge von Forschungsreisen zusammengetragen worden ist. 11 Die Sammlungen gehen damit zwar auch auf koloniale Machtverhältnisse zurück, haben aber auch viel mit univer11 Ulrich v. Loyen: Das Archiv der Elementargedanken. Der amerikanische Historiker H. Glenn Penny schildert die „tragische Geschichte der deutschen Ethnologie“. In: Süddeutsche Zeitung, 7. 8. 2019, S. 12.
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saler Gelehrsamkeit, Forschergeist und dem enormen Interesse an fremden Kulturen zu tun. Schon Alexander v. Humboldt bemerkte mit Blick auf Naturvölker am Orinoco zu Recht, dass wir auch die Kulturentwicklungen in den abgelegensten Gegenden kennen müssen, wenn wir diese eine Welt in ihrer Gesamtheit verstehen wollen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ohne das Humboldt Forum im wieder aufgebauten Berliner Schloss die Debatte über den deutschen Kolonialismus und seine Folgen heute anders führen würden. Deutschland hat viele völkerkundliche Sammlungen und wunderbare Museen, aber kein Haus, das Europa und Globalisierung, Menschheitsgeschichten in ihrer ganzen historischen Tiefe und aktuelle Debatten der Gegenwart zugleich zum Thema haben wird. Das Humboldt Forum soll dem Dialog der Weltkulturen dienen. Doch solche Aussagen bleiben Worthülsen, wenn wir nicht präzisieren, was wir damit meinen und wie wir uns einen wirklich symmetrischen Dialog auf Augenhöhe vorstellen. Nebulöse Welterlösungsszenarien tragen nicht dazu bei, das tatsächliche Potenzial des Humboldt Forums begreifbar zu machen. Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes ist mit Rückgaben allein nicht erledigt. Der Dialog mit den Herkunftsgesellschaften sollte in eine gemeinsame, langfristige und vertrauensvolle Museumsarbeit münden. Gerade die Sammlungen bieten ein schier unendliches Potenzial für Kooperationen, Koproduktionen und Vernetzung mit der ganzen Welt. Wir müssen sie zu Trägern einer neuartigen, intensiven und dauerhaften Kommunikation mit den Kulturen und Ländern machen, aus denen sie stammen. Im Sinne von Shared Heritage müssen wir die Objekte und Kunstwerke gemeinsam entschlüsseln und ihnen ihre Geschichten entlocken. Nur dann können sie neues Wissen über die Welt vermitteln und alte und falsche Denkmuster aufbrechen. Sie haben das Potenzial, den Menschen Toleranz und Respekt gegenüber anderen Kulturen zu vermitteln. Das ist die heute vielleicht wichtigste Mission des Humboldt Forums im neuen Berliner Schloss.
Hartmut Dorgerloh
Building Bridges – Das Humboldt Forum in Berlin Es geht um das Wie in der Ausstellungs- und Programmarbeit: Wie Teilhabe in Vielstimmigkeit neues Bewusstsein schaffen kann
Sei es die Kontroverse um den Wiederaufbau des Berliner HohenzollernSchlosses bzw. den Abriss des Palasts der Republik, sei es die gesellschaftspolitisch relevante Debatte um die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit und die damit eng zusammenhängende Diskussion über museale Sammlungen aus kolonialen Kontexten, sei es die Forderung nach einer längst überfälligen Restitution von Objekten aus eben diesen Sammlungen – dessen, „was einst unter Gewalt und Zwang angeeignet“ 1 und eben nicht rechtmäßig erworben worden ist: Die öffentlichen Kontroversen und Auseinandersetzungen nehmen unmittelbar Einfluss auf das Humboldt Forum im Berliner Schloss. Und das gilt sowohl für das Wie, die Herangehensweise, als auch für das Was, die Inhalte im dem neuen kulturellen Zentrum in der Mitte der deutschen Hauptstadt. Diese Diskurse bestärken es in seinem neuen und unerprobten Selbstverständnis, sich als ein lernendes Unterfangen zu verstehen, als ein Medium für die gesellschaftliche Auseinandersetzung in einer multipolaren Welt, die vielstimmig und nicht minder komplex und hybrid ist. Jenseits des Monolithischen, das oft mit seiner äußeren Hülle assoziiert wird, hat sich das Innere des Humboldt Forums, die zu vermittelnden Inhalte und Herangehensweisen, bis heute mehrfach gewandelt: Während der architektonische Entwurf des mittlerweile fertiggestellten Baukomplexes seit 1993 in der Welt und seit 2008 konsequent und entwurfsgetreu umgesetzt worden ist, hat das inhaltliche und programmatische Konzept
1 Carsten Brosda (SPD), Kultursenator Hamburg. In: Deutsche Welle, Debatte um koloniale Raubkunst: Koloniales Erbe: Deutschland soll Kulturgüter zurückgeben, 13. 03. 2019, https://www.dw.com/de/koloniales-erbe-deutschland-soll-kulturgüterzurückgeben/a-47895324 (aufgerufen am 15. 3. 2019).
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des Humboldt Forums seit dem ersten Aufschlag durch die internationale Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“ im Jahre 2002, vor nunmehr 18 Jahren, deutliche Veränderungen erfahren. Im Gegensatz zum lang geplanten und schlussendlich auch umgesetzten architektonischen Entwurf des Humboldt Forums haben die konzeptionellen Bewegungen in der Programm- und Ausstellungsplanung vor allem in den letzten zehn Jahren gegenüber der Ausgangslage einiges spürbar verändert. Seitens des Lands Berlin hatte es im Frühjahr 2015 bereits mit dem Wechsel von der Zentral- und Landesbibliothek zur Stiftung Stadtmuseum eine deutliche axiale Verschiebung der Nutzung weg von Archiv und Bibliothek mit der Planung für eine „Welt der Sprachen“ hin zu einer „Berlin-Ausstellung“ gegeben. Die gesamtkonzeptionelle Planung ist spätestens mit der Berufung der Gründungsintendanz Ende 2015 und ein weiteres Mal seit meiner Berufung zum Generalintendanten im Juni 2018 in Bewegung gekommen – begleitet und beeinflusst durch die erwähnten koinzidierenden gesellschaftlichen Debatten, die das Humboldt Forum zu einem Dreh- und Angelpunkt, ja zu einem Katalysator, werden ließen. Wie wirken sich diese öffentlichen Diskurse der jüngsten Zeit nun auf das Humboldt Forum aus? Eine Frage, die ich selbstredend nicht für die beteiligten Partner, insbesondere die Staatlichen Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz beantworten kann (Hermann Parzinger kommt hier in einem eigenen Beitrag zu Wort), aber für die Institution Humboldt Forum. Immer wieder wurde über das Humboldt Forum in Superlativen als „die größte kulturpolitische Baustelle in Europa seit der Jahrtausendwende“ 2 gesprochen. Dies will ich nicht beurteilen, – mag sein, aber das Jahrtausend ist ja auch noch sehr jung. Aus der Innensicht wird es zuallererst als eine Unternehmung erkennbar, an der ausgesprochen viele, sehr unterschiedliche und zum Teil auch wechselnde Personen(gruppen), Institutionen und Interessenlagen beteiligt sind. Und es ist ein Vorhaben mit einer mittlerweile beachtlich langen, historisch bedeutsamen Vorgeschichte – ein Produkt der jüngsten deutschen Vergangenheit, dessen Wurzeln in die „Nachwendezeit“ des vereinigten Deutschlands reichen. Es sind nicht allein die einst und bis heute gefällten Entscheidungen für dieses Haus, mit denen wir uns auf neue Weise auseinandersetzen müssen. In besonderem und zunehmendem Maße sind es vielmehr die Hinterfragungen, die in der globalisierten, pluralisierten Wirklichkeit in weitem Umfang alle Lebensbereiche erfassen, die als Taktgeber für eine sensibi2 Monika Grütters, zit. n. Deutsche Welle: Festakt Berlin. Seit 20 Jahren gibt es Kulturstaatsminister, https://www.dw.com/de/seit-20-jahren-gibt-es-kulturstaatsminister/ a-46082814 (aufgerufen am 15. 3. 2019).
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lisierte Wahrnehmung, für reflektiertes Denken und Handeln fungieren. Das Humboldt Forum ist und bleibt ein Gebilde, das den für den jeweiligen Zeitausschnitt verbindlichen, jedoch wandelbaren common sense eines Denkraums spiegelt, den die gesellschaftliche Öffentlichkeit definiert hat – und dies seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Dabei lassen sich drei Phasen unterscheiden: 1.
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Mit Beginn in den 1990er-Jahren war es der Hamburger Unternehmer Wilhelm v. Boddien, der die Idee des Schlosses und einer Rückgewinnung der historischen Mitte Berlins außerordentlich einflussreich, gezielt und erfolgreich verfolgte. Knapp zehn Jahre später erging 2002 der Bundestagsbeschluss, den Palast der Republik abzureißen und das Berliner Schloss teilrekonstruiert wiederzuerrichten. Diese erste ideelle Gründungsphase des Humboldt Forums, besiegelt durch den politischen Mehrheitsbeschluss im Parlament, wurde bereits begleitet von einer massiven ersten Welle des Protests in architektonischer, bauhistorischer und politischer Argumentation: wiedererrichtetes Hohenzollern-Schloss contra Palast der Republik als ein wichtiges Zeugnis des kulturellen und politischen Erbes der DDR. Die zweite ideelle Gründungsphase war geprägt durch die Umwandlung der ursprünglich vorrangig als Bauherrin gegründeten Stiftung (Stiftung Berliner Schloss – Humboldt Forum) in eine Kultur- und Baustiftung (Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss), einschließlich der Gründung einer Tochtergesellschaft für die Vorbereitung des kulturellen Betriebs (Humboldt Forum Kultur GmbH) und der Berufung von drei Gründungsintendanten (Neil MacGregor, Horst Bredekamp, Hermann Parzinger) durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Monika Grütters. In dieser Phase trat neben die Diskussion über die Rekonstruktion und das bauliche Erscheinungsbild eine weitere Debatte. Diese beinhaltete sowohl die kritische Hinterfragung des Umgangs mit kolonialen Sammlungskontexten als auch eine massive institutionelle Kritik an der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, einer der Partnerinstitutionen des Humboldt Forums, die sich seit 2018 einer Strukturevaluation des Deutschen Wissenschaftsrats unterzieht. Neben die Auseinandersetzung über die architektonische Form des Humboldt Forums trat verstärkt die kritische Befragung seines kulturpolitischen Auftrags. Höhepunkte waren die sogenannte „Kreuzdebatte“ im Mai 2017, aber auch der wenige Wochen später öffentlich erklärte und weit über Deutschland hinaus wahrgenommene Austritt von Bénédicte Savoy aus dem internationalen Expertenbeirat, der die damalige Gründungsintendanz beraten hat.
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Die dritte Gründungsphase des Humboldt Forums begann mit dem Beschluss über eine neue Governance und der Berufung eines Generalintendanten am 1. Juni 2018 und schließt mit der coronabedingt vorerst digitalen Öffnung des Hauses im Dezember 2020 und nachfolgend mit der tatsächlichen Hausöffnung für das Publikum im 1. Quartal 2021 ab. Auch wenn dieser Abschnitt gemessen am gesamten Projektentwicklungszeitraum relativ kurz ist, so ist in dieser Zeit doch viel in der Weiterentwicklung von Konzept, Profil und Selbstverständnis des Humboldt Forums passiert. Neben der Baufertigstellung und den Planungen für die Eröffnung und das inhaltliche Programm beschäftigten uns auch viele andere wichtige Themen, die für das Zusammenwachsen der Akteursinstitutionen im Humboldt Forum entscheidend sind – die Staatlichen Museen Berlin / Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Stiftung Stadtmuseum Berlin, die Humboldt-Universität und die Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss. Neben der Umsetzung der neuen Governance und mehreren grundlegenden Kooperations- und Nutzungsverträgen ging es auch um weitere wichtige Prozesse, wie die zur Entwicklung von Strategie und Leitbild als Grundlage für ein gemeinsames Arbeiten der Akteursinstitutionen im Humboldt Forum.
Diese internen Prozesse wurden nicht nur begleitet, sondern massiv geprägt durch die Intensivierung der Restitutionsdebatte und, damit einhergehend, durch institutionelle und staatspolitische Initiativen zur Klärung des Umgangs mit Sammlungsbeständen aus kolonialen Kontexten. Ich erinnere an die Rede Emmanuel Macrons an der Universität von Ouagadougou, Burkina Faso, im November 2017, den Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten des Deutschen Museumsbunds, den international für großes Aufsehen sorgenden Bericht zur Restitution afrikanischen Kulturerbes von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr von November 2018, weiterhin an die Erklärung des Deutschen Kulturrats vom Februar 2019 oder die Gemeinsame Erklärung der Kulturminister von Bund und Ländern zur Regelung des Umgangs mit kolonialen Objekten, die im März 2019 veröffentlicht wurde. Das Humboldt Forum hat sich aktiv in diesen Diskurs eingebracht: Es war an diversen Tagungen, Workshops und Treffen beteiligt, wie beispielsweise an der Abschlusskonferenz „Museumsgespräche“, einer Projektreihe der Goethe-Institute in Subsahara-Afrika, die in Zusammenarbeit mit den Nationalmuseen, Ministerien und der UNESCO im September 2019 in Windhoek, Namibia, stattfand. Oder es hat die Diskussionen zwischen den betroffenen großen Sammlungen in Europa über die Frage aktiv be-
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fördert, wie die europäischen Ausstellungshäuser ihrer Verantwortung für eine kritische Aufarbeitung kolonialer Erwerbungskontexte gerecht werden können. Dabei verständigte man sich über die Notwendigkeit, museale Ausstellungsformate und Präsentationsformen, die kolonialen Traditionslinien folgen, aufzudecken und zu analysieren, um ihnen entgegenwirken zu können. Man war sich einig darüber, dass eine Dekolonisierung europäischer Museumshäuser nur als ein Prozess der selbstkritischen Befragung gelingen kann, um Muster und Sprachen zu hinterfragen und zu verändern, Gegenerzählungen zu stärken und damit koloniale Narrative und Kategorien zu brechen. Ein zentrales Vorhaben aus Sicht des Humboldt Forums ist dabei die enge Zusammenarbeit der Museen, um wissenschaftlichen Austausch, auch mit kritischen Aktivist*innen und Interessengruppen zu ermöglichen und zu fördern. Wie effizient könnten Restitutions- und die damit verbundenen Provenienzfragen bearbeitet und beantwortet werden, gäbe es beispielsweise eine europaweit vernetzte Objekt-Datenbank? Die reflexive Beschäftigung mit dem Kolonialismus und seinen Folgen sowie die Problematisierung aktueller Formen des Rassismus auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens werden wichtige Leitthemen für das Programm und Profil des Humboldt Forums sein. Hierzu gehört insbesondere die kritische Befassung mit der deutschen Kolonialgeschichte und mit den Auswirkungen kolonialer Praktiken und Bilderpolitiken, Handlungsund Denkmustern bis in die heutige Zeit. Mit dem Titel „Statue of Limitations“ spielt der Künstler Kang Sunkoo auf den juristischen Terminus der Verjährung von Straftaten an. Seine zweiteilige skulpturale Rauminstallation, eine Flagge aus schwarz patinierter Bronze, die auf Halbmast hängt und scheinbar die Decke des hohen Treppenhauses im Humboldt Forum durchbricht, wird zum stummen Mahnmal dieser erschütternden Erfahrung, ihren Folgen und ihrer verhängnisvollen Verdrängung. Das intensive Nachdenken über koloniales Unrecht und darüber, wie es bis in die Gegenwart hineinwuchert, ist jedoch meines Erachtens eingebettet in grundsätzliche und weitreichende gesellschaftliche Veränderungen, die uns vor ganz neue Herausforderungen stellen: sich massiv wandelnde Gesellschaftsstrukturen in Zeiten der Globalisierung und Entgrenzung, die neue Spannungsfelder erzeugen zwischen ethnischen, kulturellen Eigenheiten einerseits und einer globalen kulturnivellierenden ökonomischen Totalität andererseits, zwischen Inklusions- und Exklusionsmechanismen etc. Inhärent mitverhandelt werden die Marginalisierung Europas und eine wachsende Kritik angesichts der allgegenwärtigen Konsequenzen einer mechanistischen, evolutionären, rationalistisch-vernunftdominierten
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Abb. 1: Statue of Limitations von Kang Sunkoo, Kunst am Bau für das Humboldt Forum im Berliner Schloss, 2019. © Kang Sunkoo, Statue of Limitations / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss / David v. Becker
Weltsicht, wie sie westliches Denken und Handeln über Jahrhunderte geprägt hat und wie sie für das Museum als Konzept einer westlichen Kulturinstitution exemplarisch steht. 3 Insofern verwundert es nicht, dass das Humboldt Forum und mit ihm die Ethnologischen Sammlungen bzw. die des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin / Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die dort präsentiert werden, als ausstellende, sammlungsbesitzende und -bewahrende Institutionen im Fokus dieser Debatte stehen. Die Übermacht der Symbolik veranschaulicht sich im verdinglichten Bild: Zum einen entsteht das Bauprojekt Humboldt Forum in einer entscheidenden Umbruchphase und macht die Konflikte und Widersprüche im Selbstverständnis der westlichen Gesellschaft und ihres Verhältnisses zu all den anderen Weltregionen sichtbar. Zum anderen wird in der visuellen Darbietung einer Sammlung mit all ihren kontextuellen und räumlichen Bezügen das System einer gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Wertekategorien erkenn- und fassbar. In diesem Sinne wird es umso wichtiger, neben der Thematisierung dessen, was im Humboldt Forum ausgestellt wird, die Neuausrichtung des Wie in den Blick zu nehmen. In vielerlei Hinsicht lässt sich das Hum-
3 Siehe hierzu zuletzt Felwine Sarr: Afrotopia. Berlin 3. Aufl. 2019, S. 21–28.
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boldt Forum nicht in die althergebrachten Kategorien eines Kulturbetriebs einordnen: Es ist kein Museum; und neben den historischen Sammlungsbeständen aus Afrika, Ozeanien, Asien und Nord- und Südamerika zieht noch vieles andere mehr ins Haus ein: zeitgenössische Kunst, nicht nur als Resultate der diversen „Kunst am Bau“-Wettbewerbe, Objekte, die als historische Spuren an die Geschichten des Ortes erinnern, die „Berlin Ausstellung“ der Stiftung Stadtmuseum Berlin / Kulturprojekte Berlin, das „Humboldt Labor“ der Humboldt-Universität, ein großer Veranstaltungsbereich mit mehreren Sälen, die Akademie als Wissenschafts- und Vermittlungszentrum, Residency-Programme und nicht zuletzt das Laut- und Phonogrammarchiv der Humboldt-Universität und des Ethnologischen Museums, zwei der ältesten Schallarchive und umfangreichsten historischen Sammlungen akustischer Aufnahmen, die den unschätzbaren Wert des immateriellen Erbes vergegenwärtigen können – Sprachen, Laute und Gesang. Um die Relevanz der Sprachenvielfalt und die Problematik aussterbender bzw. bedrohter Sprachen geht es im Hörraum, dessen Konzept in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für allgemeine Sprachwissenschaften entwickelt worden ist. Wenn das Humboldt Forum eine Begegnungsstätte und Experimentierfläche für interkulturelle Zugänge werden soll, der Raum für Debatten bieten möchte, müssen viele Stimmen diverser Kulturkreise und Erdteile mit einbezogen, aber auch transdisziplinäre Zugänge geschaffen werden. Und um dieses Miteinander im globalen Maßstab möglich zu machen, muss sich die Institution Humboldt Forum diese Praxis des Zuhörens und Teilens selbst aneignen, denn Multiperspektivität und Vielstimmigkeit fangen bereits im kleinen Miteinander an. Für das Übungsfeld bieten sich beste Voraussetzungen, da die Polyfonie bereits fester Bestandteil der strukturellen DNA des Hauses ist – sowohl im Zusammenspiel der drei großen Programmsäulen „Ausstellungen / Museum“, „Kulturelle und künstlerische Veranstaltungen“ und „Wissenschaft und Forschung / Bildung und Vermittlung“ als auch im Zusammenwirken bzw. in den Einzelauftritten der Beteiligten, der Akteursinstitutionen und Kooperationspartner im Humboldt Forum. Im Zusammenkommen dieser unterschiedlichen Faktoren wird eine Verständigung über permanente Aushandlungsprozesse, so schwierig oder einfach sie sich im Einzelnen auch gestalten mögen, zum unverzichtbaren und bereichernden Tagesgeschäft. „If the building of a bridge does not enrich the awareness of those who work on it, then the bridge ought not to be built“, 4 diese Worte Frantz Fa-
4 Frantz Fanon: The Wretched of the Earth. New York 1968, S. 200.
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Abb. 2: Lange Nacht der Ideen. We are still here. The Omaha Speaking. © Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss / David v. Becker
nons lassen sich für das Humboldt Forum als gemeinsame Unternehmung Vieler in Anspruch nehmen. Wie man sich ein zukünftiges Arbeiten an einem neuen Bewusstsein unter Einbeziehung vieler Stimmen vorstellen kann, zeigte am 13./14. September 2019 die letzte öffentliche Großveranstaltung auf der Baustelle anlässlich des 250. Geburtstags Alexander v. Humboldts, die die Stiftung Humboldt Forum gemeinsam mit dem Goethe-Institut realisierte. In Ausstellungen, Performances, Vorträgen, Musik und einem VirtualReality-Projekt wurde das Wirken des Forschers Alexander v. Humboldt aus zeitgenössischer Perspektive in den Blick genommen, global gedacht und von Künstler*innen und Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Perspektiven und geografischen Verortungen her betrachtet – von Berlin über Bogotà, Lima, London, Mexiko-Stadt, Nowosibirsk, Potsdam, Quito und dem Amazonasgebiet. Dieses intensiv und aufwendig vorbereitete zweitägige Fest hat uns viel gelehrt. Vor allem hat es uns aber darin bestärkt, diesen Weg des Sich-Verbindens weiter zu verfolgen: Themen einen Ort geben, neue, anspruchsvolle Formate der Zusammenarbeit ausprobieren und dabei auch das Risiko des Scheiterns nicht scheuen, die Diskussion fördern, künstlerischen und wissenschaftlichen Positionen größtmögliche Freiheiten für die Umsetzung der Projekte gewähren. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde auch die Großprojektion „O Ciclo Anual no Rio Tiquié/Ein Jahreszyklus am Tiquié“ auf der Ostfassade
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Abb. 3: Lichtprojektion an der Ostfassade des Humboldt Forums anlässlich des 250. Geburtstags von Alexander v. Humboldt. © Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss / David v. Becker
des Humboldt Forums gezeigt – sie ist das Ergebnis einer intensiven Kooperation der letzten Jahre mit dem Ethnologischen Museum in Berlin und wurde hier erstmalig visuell erlebbar: das Zusammentreffen von Welten und Weltsichten. Indigene und nicht-indigene Künstler*innen sowie brasilianische und deutsche Ethnolog*innen übersetzten indigene Mythen und Beobachtungen über Sternbilder und den Jahreszyklus in eine beeindruckende visuelle Erzählung. Die monumentale, streng gegliederte Ostfassade wurde zur Projektionsfläche für diese bewegten, fließend Fiktion und Realität ineinander verwebenden Bilder, die in hoher Komplexität indigene Vorstellungen von Zeit, Ökologie und Ritual vermitteln. Hier verwandelte sich das Humboldt Forum in ein formbares Medium, das Ideen, Sichtweisen, Positionen projizieren und weitergeben kann. Die Frage „Who speaks to whom about what?“ ist für die Programmarbeit eine ganz entscheidende! Sie stellt sich jeden Tag aufs Neue. Was sehe ich aus welcher Perspektive, was ist überhaupt ein „Objekt“ für wen, und wann wird für wen ein Ding zum Objekt? Es muss darum gehen, global miteinander ins Gespräch zu kommen, um sich mit Marginalisierungs- und Exklusionsprozessen kritisch auseinanderzusetzen. Und wir hoffen, dass das Humboldt Forum für eine interkulturelle Begegnung unterschiedlichster Vorstellungen des Bildlichen und des Ausstellbaren ein neuer Experimentierort wird. Nur so
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Hartmut Dorgerloh
kann der kollektiv verstandene Prozess des gegenseitigen In-BezugSetzens aus vielen verschiedenen Perspektiven der Bildkultur zu denken sein. Die Selbstbefragung – der hinterfragende Blick auf eigene soziale, nationale, kulturelle, ethnische Identitäten – sollte immer Teil dieses Austausch- und Auseinandersetzungsprozesses sein. Kultur ist stets ein relationales wandelbares Konzept, mit vorläufigen und nicht abschließend fixierbaren in- und extrinsischen Bezügen, Verhältnissen und Dynamiken. Insofern wird sich auch die Spannung zwischen vermeintlich Eigenem und dem vermeintlich Anderen immer wieder neu definieren, wie auch zum Allgemeinen / Universalen und Partikularen / Besonderen. Als ein von der öffentlichen Hand finanziertes gemeinnütziges Projekt steht das Humboldt Forum in der Verantwortung, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und für die Allgemeinheit zu wirken. Wir verstehen unsere Kulturarbeit als eine soziale Aufgabe, Menschen miteinander zu verbinden – Kultur und die Welt der Ausstellungsobjekte sind soziale Bindemittel. In diese Richtung zielt auch eine zentrale Diskussion im Team des Humboldt Forums, wie man Diversität versteht und erhält und zugleich Verbindungen und Zusammenhalt stärkt. Deshalb scheint es umso wichtiger, den Exponaten nicht ihre multiplen interaktiven Funktionen zu nehmen und sie gleichermaßen als Identitäts-, Reflexions- und Erinnerungsobjekt oder auch spirituellen Gegenstand erkennbar werden zu lassen, unter anderem mittels performativer Zugänge zum Bild. Das westlich geprägte museale Ausstellungskonzept muss sich gegenüber den Rezeptionsgewohnheiten anderer Kulturen öffnen, genauso wie der westliche Kunstbegriff im Sinne von l’art pour l’art nur sehr begrenzt anwendbar ist und hinter einem Kunstbegriff zurücktritt, der performative, sozial vermittelnde, interagierende und ephemere Äußerungen miteinschließt. Insofern könnte dem Humboldt Forum über all die bereits genannten Verantwortlichkeiten hinaus noch eine weitere zukommen: die Beziehung des Bilds – zu seinen Umgebungen, zu seinen generierten / akkumulierten Inhalten und seinen unterschiedlichen Rezipienten und Interpretanten – im Ausstellungsraum noch einmal ganz bewusst empirisch erfahrbar zu machen. Indem Objekte und Bilder in neue Kontexte treten, können sich auch neue Wirkzusammenhänge kreieren und damit neue Bilder entstehen für ein empathisches, global geweitetes Bildverständnis in der Verbindung zwischen Hören und Sehen, Animation und Bewegung, des Realen und Irrealen und in dem Versuch, das Momenthafte, Ephemere mit einfließen zu lassen in den Pool kulturerhaltenden Erinnerns. Im Nachdenken über das Wie des Humboldt Forums wird eines ganz deutlich: Es wird nie etwas Fertiges, in sich Stringentes sein, das nur einem Narrativ folgt, sondern immer prozesshaft gedacht, widersprüchlich und
Building Bridges – Das Humboldt Forum in Berlin
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veränderlich. Insofern, so die Hoffnung, könnte die von Jürgen Zimmerer beschriebene „gefährliche Schlagseite des Humboldt Forums“ 5 letztendlich zu einer seiner Stärken werden: Widersprüche sichtbar zu machen, einen neuen Diskursraum zu schaffen und stilistische, kulturelle, ideologische, historische Brüche aufzuzeigen und vielleicht sogar zu überwinden – eben Brücken zu bauen!
5 Jürgen Zimmerer: Die größte Identitätsdebatte unserer Zeit. In: Süddeutsche Zeitung, 20. 2. 2019, https://www.sueddeutsche.de/kultur/kolonialismus-postkolonialismushumboldt-forum-raubkunst-1.4334846?print=true (aufgerufen am 15. 3. 2019).
Mirjam Brusius
Dekolonisiert die Museumsinsel! Museumsnarrative, Rassentheorie und Chancen einer viel zu stillen Debatte
1. Einleitung Von Inselmentalität spricht man, um einen durch Isolation entstandenen kulturellen Eigensinn zu beschreiben. Dieser Eigensinn wird Inseln oft verziehen. Die Rede ist hier nicht von den Briten, sondern von der Berliner Museumsinsel. Sie erweckte in den letzten Jahren den Eindruck, die Debatte über den Umgang mit außereuropäischen Museumsobjekten, die sich an den Plänen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz für das Humboldt Forum in der direkten Nachbarschaft der Insel entzündet hat, berühre sie nicht. Dabei befinden sich auch auf dieser Insel Objekte aus Gegenden wie der Westtürkei, Ägypten und dem Irak. Beim Anblick des Pergamonaltars oder des Ischtartors mag man diese Herkunft fast vergessen, so sehr waren die in „Kleinasien“ oder in dem zur „Wiege der Zivilisation“ stilisierten Zweistromland ausgegrabenen Funde schon immer im abendländischen, das heißt: klassisch-antiken und christlich-biblischen Kanon verankert. In „Spreeathen“ präsentierten sie einst Kultur- und Menschheitsgeschichte als eine nach Fortschritt strebende Entwicklung, die zwangsläufig in Preußen mündete. Dieser Gedanke hallt nach, wenn Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) und Co-Intendant im damaligen Humboldt-Gründerteam, die Museumsinsel als „Vision des neunzehnten Jahrhunderts“ charakterisiert: Sie präsentiere die Kunst- und Kulturentwicklung Europas, welche wiederum ihre Wurzeln im Vorderen Orient habe. 1 Tatsächlich kreiste die Debatte um die imperialen Kontexte, in denen manche Sammlungen entstanden, bisher kaum um die Altertumswissen-
1 http://www.preussischer-kulturbesitz.de/news-detail/article/2015/02/12/der-islamgehoert-zur-museumsinsel-artikel-von-hermann-parzinger-erschienen-am-11-februar-2015-i.html (aufgerufen am 10. 1. 2020). Vgl. auch den Beitrag von Hermann Parzinger in diesem Band.
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Mirjam Brusius
schaften oder die Archäologie und die aus ihnen generierten antiken Sammlungen, die sich in unmittelbarer Nähe des Humboldt Forums befinden. 2 Sie genießen nach wie vor einen nahezu unerschütterlichen und exklusiven Status. Im Humboldt Forum soll es zum Beispiel, so wurde es angekündigt, teilweise freien Museumseintritt geben. Auf der Museumsinsel nicht, denn die dortigen Sammlungen, so die Erklärung Parzingers, „werden ihre Attraktivität behalten. Wer die Impressionisten in der Alten Nationalgalerie, den Pergamonaltar oder Nofretete sehen will, wird dort auch hingehen.“ 3
Das ist ein interessanter konzeptioneller und monetärer Ansatz, der viel über Veränderung und Zielgruppen aussagt. Sind die Sammlungen des Humboldt Forums damit weniger attraktiv für bestimmte Besucher*innen, nun da z. B. das Ethnologische Museum gezwungen wurde, sich aus den alten Narrativen des 19. Jahrhunderts zu befreien? Doch Inseln sind nicht nur oft vom Festland abhängig, sondern werden auch selten verschont, wenn dort Unwetter aufziehen. Kann man also am Humboldt Forum Erwerbsgeschichten kritisch aufarbeiten, den eurozentrischen Blick durch Multiperspektivität überwinden und gleichzeitig andere Sammlungen implizit zum immunen Raum erklären, indem man mit Sammlungskonzepten argumentiert, die ihren Ursprung ausgerechnet in jener Epoche haben, die nun in den Fokus der Debatte gerückt ist? Wenn im Irak oder Ägypten die „Wiege aller Zivilisationen“ lokalisiert wird, so deutet bereits diese vorsorgliche Aktualisierung des Berliner Sprachgebrauchs darauf hin, dass westlich-museale Deutungshoheit relativ ist und man sich andernorts unterschiedlicher historischer Referenzen bedient. Einigen Verantwortlichen auf der Museumsinsel ist das durchaus bewusst; für das Pergamonmuseum wurde das Etikett „Migrationsmuseum“ in Umlauf gesetzt. 4 Rückkopplungseffekte werden nicht ausbleiben.
2 Dieser Essay ist eine erweiterte Form älterer Medienbeiträge. Meinem ersten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von 2017 folgte keine Debatte über die Museumsinsel: https://edition.faz.net/faz-edition/feuilleton/2017-09-28/ a1c9463e96fee6e24b63d5ca4da22a84/. Einen weiteren Versuch unternahm ich Anfang 2020 in der Süddeutschen Zeitung: https://www.sueddeutsche.de/kultur/wissenschaft-und-museen-dekolonisieren-hand-in-hand-1.4772201 (beide aufgerufen am 1. 12. 2020). Erwähnt und analysiert wird die Museumsinsel im Zusammenhang mit dem Humboldt Forum auch an verschiedenen Stellen in Friedrich v. Bose: Das Humboldt-Forum. Eine Ethnographie seiner Planung. Berlin 2016, und bei Fatima El Tayeb: The Universal Museum: How the New Germany Built its Future on Colonial Amnesia. In: Nka (2020) H. 46, S. 72–82. 3 https://www.welt.de/regionales/berlin/article204754954/Humboldt Forum-soll-weitgehend-keinen-Eintritt-kosten.html (aufgerufen am 4. 2. 2020). 4 Für Ansätze zum Thema Migration und Museum siehe https://www.tagesspiegel.de/ kultur/ausstellung-erinnerung-sprich/3928218.html (aufgerufen am 1. 6. 2020).
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Selbst wenn die Museumsinsel auf den ersten Blick in den Augen vieler also unproblematisch und somit „attraktiv“ wirkt – ein fester Fels in der Brandung –, kommt so manch anderem immer mehr das Bild eines brodelnden, ja, explosionsverdächtigen Topfes in den Sinn, auf den seit geraumer Zeit mit aller Kraft ein Deckel gehalten wird. Der Fall Nofretete ist auch aufgrund der Diskussion um Restitutionsforderungen aus afrikanischen Ländern in den Hintergrund gerückt, selbst wenn Ägypten ebenfalls in Afrika liegt. Archäolog*innen winken nicht selten mit dem Hinweis ab, dass die vorwiegend aus dem Osmanischen Reich – formal keine europäische Kolonie – stammenden Funde kein Anlass zur Sorge seien, wenngleich Kolonialhistoriker*innen den Nahen Osten als imperialen Eroberungsraum verstehen wissen wollen, der offensichtliche ungleiche Machtverhältnisse mit sich brachte. 5 Darüber kann man streiten. Tatsächlich zeigen der Fall Nofretete und die vieldiskutierten Fundteilungsabkommen, dass sich unter dem Schlagwort „Raubkunst“ auch auf der Museumsinsel nicht ohne Weiteres eine nuancierte Debatte führen lässt. 6 Wenn man der Anregung von Kritiker*innen folgen will, europäischen Kolonialismus als „strukturprägendes Phänomen“ zu begreifen, 7 wäre es andererseits sonderbar, wenn Orte wie das Neue Museum (wo Einschusslöcher an den Zweiten Weltkrieg erinnern) und das Pergamonmuseum nun ganz unbehelligt davonkämen. Sei es Preußens ÄgyptenExpedition oder die für die Imperialpolitik des Kaiserreichs strategisch wichtigen Grabungen in Mesopotamien: Waren die Beteiligten nicht selbst Akteure, dann zumindest sogenannte Nutznießer des europäischen Gesamtprojekts. Es überrascht daher nicht, dass sich – ja, wer eigentlich? – in Schweigen hüllt. Doch während beachtliche Bestände der Grabungsdokumente wegen Eigenforschung unter Verschluss gehalten werden, 8 lässt sich eines nicht aufhalten: Längst wird bei internationalen Tagungen auch zur „Dekolonisierung der Archäologie“ aufgerufen. 9 Wirkt es da nicht etwas ahnungslos, die neuesten klassizistisch anmutenden Anbauten auf der Museumsinsel 5 Siehe z. B. Suzanne Marchand: German Orientalism in the Age of Empire: Religion, Race, and Scholarship. Cambridge 2009. 6 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/streit-um-nofretete-die-bunte-darfnicht-bewegt-werden-1582217.html, siehe auch: https://www.zeit.de/2018/11/raubkunst-kolonialzeit-deutschland-rueckgabe (beide aufgerufen am 1. 12. 2020). 7 https://www . kolonialismus . uni - hamburg . de / 2017 /11 / 15 /kolonialismus - ist- kein spiel/ (aufgerufen am 1. 12. 2020). 8 Dies berichteten mehrere Forscher*innen in Bezug auf Archivalien, die Bestände aus den Gebieten des ehemaligen Osmanischen Reichs auf der Museumsinsel betreffen. 9 TAG (Theoretical Archaeology Group) Konferenz 2019, University College London, 16.–18. 12. 2019. Sektion ‚The Decolonisation of Archaeology and Archaeological Collections within museums‘, https://www.ucl.ac.uk/archaeology/news-events/confe-
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Abb. 1: Die James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel (2019), https://upload. wikimedia.org/wikipedia/commons/6/65/Berlin_James-Simon-Galerie_asv2019-07_ img2.jpg (A. Savin)
wie die James-Simon-Galerie zu glorifizieren, insbesondere wenn man bedenkt, dass gegenüber im rekonstruierten Stadtschloss und im Humboldt Forum gerade eine Debatte über Geschichtsvergessenheit in eine Sackgasse fährt? Doch ausgerechnet die James-Simon-Galerie könnte zum neuen Problemfall werden. Einerseits wird dem bekennenden Antisemiten Wilhelm v. Bode ein jüdischer Namensgeber entgegengestellt. Andererseits hatten die Gebrüder Simon in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Textilfabrik, die zu Europas größtem Baumwollhandel erstarkte. Hieraus ergeben sich eine Reihe neuer Fragen. 10 Woher kam die Baumwolle? Und wie hängt dies mit den von Simon finanzierten Expeditionen in Ägypten zusammen, woher nicht nur Nofretete stammte, sondern (wie auch aus anderen afrikanischen Ländern) Baumwollimporte, nachdem die Zufuhr der US-Plantagen in Europa immer knapper wurde? 11
rences/tag-2019/tagucl-ioa-conference-sessions/sessions-31-55/tag-45 (aufgerufen am 1. 12. 2020). Siehe auch die Diskussion um das Fach Classics in den USA: https://www. nytimes.com/2021/02/02/magazine/classics-greece-rome-whiteness.html. 10 https://blog.smb.museum/der-maezen-james-simon-ein-geschenk-fuer-die-museen/ (aufgerufen am 1. 12. 2020). 11 Vgl. Christian Kleinschmidt / Dieter Ziegler (Hrsg.): Dekolonisierungsgewinner: Deutsche Außenpolitik und Außenwirtschaftsbeziehungen im Zeitalter des Kalten Krieges. Oldenburg 2018. S. 22; Sven Beckert: Von Tuskegee nach Togo. Das Problem der Freiheit im Reich der Baumwolle. In: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005) H. 4, S. 505–545; Ders.: Empire of Cotton. A Global History. New York 2014.
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James Simon hatte indes nicht nur Grabungen finanziert, sondern sich auch für die Rückgabe der Nofretete eingesetzt. Die Zeitungen schreiben, was man in der James-Simon-Galerie nicht hört: „Es waren ja unfreie, koloniale Bedingungen, unter denen die Nofretete nach Berlin kam: In Ägypten herrschten die Briten, den Franzosen unterstand die Altertumsverwaltung, sie kontrollierten die gerechte Fundteilung. Selbst dem Finanzier der Grabung und zeitweiligen Besitzer der Büste, James Simon, kam es schließlich falsch vor, die Nofretete in Deutschland zu behalten. 1930 plädierte er öffentlich für eine Rückgabe. Das Unrecht wog schwerer als die Freude am Schönen.“ 12
Wie verhalten sich, anders gefragt, die außereuropäischen Sammlungen des Humboldt Forums zu jenen teilweise ebenso außereuropäischen Sammlungen auf der Museumsinsel? Geht es längerfristig ausschließlich um Provenienzforschung, Repatriierung und Partizipation im Zusammenhang mit dem Humboldt Forum? Oder könnte dessen Eröffnung Anlass sein, allgemein museale Kategorien vergangener Jahrhunderte kritisch aufzuarbeiten, um sie endlich und deutlich zu durchbrechen?
2. Imperialistische Zerstörung und museale Konservierung als Komplizen Um zu verstehen, wie tief museale Konzepte dem kollektiven Bewusstsein einverleibt sind und wie wenig Museen selbst darüber reflektieren, lohnt ein erneuter Blick auf die Debatte um die Zerstörung von Kulturerbe in Nahost. Im Jahr 2016 waren in einer Wanderausstellung historische Bildkonvolute von Palmyra unter dem nostalgisch anmutenden Titel „Palmyra. Was bleibt?“ zu sehen. 13 Hier erfuhr man viel über Palmyra als „geteiltes Erbe“, als Impulsgeber der griechisch-römischen Zivilisation, doch nur wenig darüber, dass das Kartografieren der Region den Weg für die europäisch dominierte, archäologische Bestimmung Palmyras als westliches Touristenziel erst geebnet hat und dies ein Umstand war, der verheerende Folgen hatte. Denn während sich diese Bilder häufig einer menschenleeren Ruinenästhetik verschreiben, belegen kürzlich aufgearbeitete Quellen, dass sich in den Ruinen ein Dorf befand. Die Archäologin Salam al-Kuntar berichtete der BBC, ihre Mutter sei im Baaltempel zur Welt gekommen, dessen Inneres einst als Kirche, dann in Teilen als umayyadische Moschee
12 https://www.zeit.de/2018/11/raubkunst-kolonialzeit-deutschland-rueckgabe (aufgerufen am 1. 12. 2020). 13 https://museenkoeln.de/portal/Palmyra-Was-bleibt-Louis-Fran%C3%A7ois-Cassasund-seine-Reise-in-den-Orient-im-Graphischen-Kabinett; http://derarchitektbda. de/das-mediale-bild/ (beide aufgerufen am 1. 12. 2020).
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Abb. 2: Dorfstraße von Palmyra, stereoskopische Aufnahme zwischen 1900 und 1920. Library of Congress, Washington (Public Domain, https://www.loc.gov/resource/ matpc.01426/)
diente – bis die Dorfbewohner 1929 unter der französischen Mandatsmacht zwangsumgesiedelt wurden. 14 Von Palmyra blieb also: wenig. Nicht selten gingen archäologische Expeditionen mit einer Zerstörung von Kulturerbe (unter anderem aus islamischer Zeit) durch europäische Kolonialmächte einher, während antike Ruinen für Reisende auf der Grand Tour aufgebaut wurden. Es wäre daher zu einfach, westlich-museales Bewahren und Zerstörung als Antipoden zu bezeichnen. Vielmehr waren sie häufig zwei Seiten einer Medaille. 15 Man mag sich angesichts dieser Quellen wundern, weshalb häufig von „dem“ Kulturerbe die Rede ist, welches gerettet werden muss. Wenn aus-
14 Kanishk Tharoor / Maryam Maruf: Museum of Lost Objects. The Temple of Bel. In: BBC News Magazine, 1. 3. 2016 https://www.bbc.co.uk/programmes/b071tgbm, https://www.bbc.co.uk/news/magazine-35688943 (aufgerufen am 1. 12. 2020). Vgl. Wendy M. K. Shaw: Preserving Preservation. Maintaining Meaning in Museum Storage. In: Mirjam Brusius / Kavita Singh (Hrsg.): Museum Storage and Meaning. Tales from the Crypt. Abingdon / New York 2017, S. 152–168. 15 http://theconversation.com/the-middle-east-heritage-debate-is-becoming-worryingly-colonial-57679 (aufgerufen am 1. 12. 2020); Mirjam Brusius: Objects and History Adrift. Contextualizing the Debate about Middle Eastern „Heritage“. In Uwe Fleckner / Elena Tolstichin (Hrsg.): Artworks Adrift. Berlin / München 2019, S. 55–71.
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gerechnet zwischen der an imperiale Zeiten erinnernden Nelsonsäule und der National Gallery in London eine kostspielige Attrappe des Triumphbogens aus Palmyra aufgestellt wird, um für dessen Wiederaufbau zu werben, werden westliche Praktiken als Norm propagiert. 16 Für andere grenzt dies an Zynismus. Die Verbreitung propagandistischer Zerstörungsfotografien des sogenannten Islamischen Staates diente jedenfalls nicht nur diesem selbst, sondern auch westlichen Museen, da sie plausible Argumente für den Verbleib zahlreicher Objekte lieferten – ungeachtet der Gefahren, denen diese Objekte im Getty Museum (Erdbeben), im Louvre (Überschwemmung), oder auf der Berliner Museumsinsel (Zweiter Weltkrieg) ausgesetzt waren 17 und es (z. B. durch Vandalismus) immer noch sind. 18 Die Assyriologin Eleanor Robson vertritt die Ansicht, dass die sichersten Objekte vielleicht die Löwen- und Stierskulpturen im irakischen Nimrud sind, die sich noch in mehreren Schichten tief in der Erde befinden. 19 Einige Objekte wären vielleicht heute nicht zerstört, hätten europäische Archäolog*innen sie im 19. Jahrhundert nicht ausgegraben. Überspitzt gesagt, sind die Zerstörungen des terroristischen Wüstenstaats eine gezielte Subversion des westlichen Paradigmas Weltkulturerbe. Sicherheit ist relativ, doch lässt sich längerfristig weder verleugnen, wie eng viele Ausgrabungen mit europäischer Expansionspolitik zusammenhängen, noch dass die heutige Gewalt gegen Mensch und Kultur in Nahost ein Beweis dafür ist, dass diese Politik scheiterte, nachdem die Region 1916 im Sykes-Picot-Abkommen in europäische Mandatsgebiete aufgeteilt worden war. 20
16 https://www.theguardian.com/culture/2016/apr/19/palmyras-triumphal-arch-recreated-in-trafalgar-square (aufgerufen am 1. 12. 2020). Eine effektivere und kritischere Intervention erfolgte 2018 am gleichen Ort von dem Künstler Michael Rakowitz: https://www.theguardian.com/artanddesign/2018/mar/26/michael-rakowitzinvisible-enemy-should-not-exist-fourth-plinth-winged-bull-date-syrup-cans-defying-isis (aufgerufen am 1. 12. 2020). Vgl. auch Mirjam Brusius: On Connecting the Ancient and the Modern Middle East in Museums and Public Space. In: Katarzyna Puzon / Sharon Mcdonald / Mirjam Shatanawi (Hrsg.): Islam and Heritage in Europe. Past, Present and Future Possibilities. London 2021, S. 183–201. 17 https://www.smb.museum/nachrichten/detail/stellungnahme-zum-akt-des-vandalismus-am-3-oktober-2020-in-museen-der-museumsinsel-berlin/ (aufgerufen am 1. 12. 2020). 18 Brusius / Singh (Anm. 14); Mirjam Brusius: Das mediale Bild. Zerstörung als PR-Instrument. In: Der Architekt (2016) H. 2, S. 43–48, http://derarchitektbda.de/dasmediale-bild (aufgerufen am 1. 12. 2010). 19 Eleanor Robson: Modern War, Ancient Casualties. In: Times Literary Supplement, 26. 3. 2015. 20 Postkoloniale Ansätze in der Archäologie wurden im Zusammenhang mit Nahost bereits im 20. Jahrhundert propagiert: Lynn Meskell (Hrsg.): Archaeology under Fire.
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Es mag zu viel verlangt sein, dies Ausstellungsbesucher*innen zu erklären oder ihnen gar zu vermitteln, dass europäische Archäolog*innen im 19. Jahrhundert zwar ein „geteiltes Erbe“ identifizieren wollten, dies jedoch im gleichen Atemzug mit einer Befreiung der Objekte aus „barbarischen“ Händen verbunden wissen wollten. Dieses Denken lebt jedoch fort, solange man in hiesigen Sammlungen erfährt, dass nur zwei europäische Archäologen Hunderte von einheimischen Grabungshelfern beaufsichtigen „mussten“, dass Büsten „geborgen“ oder eine Stele zum Zeitpunkt ihrer Bergung durch deutsche Archäologen von den Einheimischen als Esstisch benutzt wurde. Na und? Genau das passiert mit materieller Kultur, wenn sie eingebettet ist in reales Leben – auch in Europa. So war es bis zur Gründung der UNESCO auch in Italien nicht strafbar, Kapitelle im eigenen Haus zu verbauen. 21 Kunsthistoriker*innen sprechen von Spolien, ein Begriff, der jüngst eine produktive Erweiterung erfuhr, 22 jedoch selten benutzt wird, wenn der Kulturkanon bedroht scheint: an Orten wie Split, Athen, Petra, Rom und Palmyra, wo Kulturerbe und reales Leben bis in die Moderne symbiotisch verschmolzen. Doch auch so ließen sich Objektbiografien erzählen. 23 Das 19. Jahrhundert dauert auch in Form westlicher Trainingsprogramme für „Einheimische“ in Nahost an, welche sich im Wettbewerb um Fördermittel immer wieder gegen Denkmalschützer*innen und Archäolog*innen durchsetzen, die eigentlich lieber vorhandene Expertise respektieren und lokale Bedürfnisse ins Zentrum stellen wollen. Schließlich würde Berlin sich auch nicht von außen oktroyieren lassen, ob das Stadtschloss aufzubauen ist und wie Artefakte zu erforschen sind, um im Anschluss einmal im Jahr Forschungsergebnisse zu hören – auf Arabisch. Die bizarrste Fortsetzung findet die kulturimperialistische Herangehensweise auf Gruppenreisen, deren meist mitteleuropäische Teilnehmer*innen gerne kundtun, wie die Bewohner*innen von wo auch immer
Nationalism, Politics and Heritage in the Eastern Mediterranean and Middle East. London / New York 1998; Susan Pollock / Reinhard Bernbeck (Hrsg.): Archaeologies of the Middle East: Critical Perspectives. Oxford 2005; jüngst Amy Gansell / Ann Shafer (Hrsg.): Testing the Canon of Ancient Near Eastern Art and Archaeology. Oxford 2020. Die osmanische Seite wurde beleuchtet in Zainab Bahrani / Zeynep Celik / Edhem Eldem (Hrsg.): Scramble for the Past: A Story of Archaeology in the Ottoman Empire, 1753–1914. Istanbul 2011. 21 Fiona Rose-Greenland: Looters, Collectors and a Passion for Antiquities at the Margins of Italian Society. In: Journal of Modern Italian Studies (2014) H. 19, S. 570–582. 22 Stefan Altekamp / Carmen Marcks-Jacobs / Peter Seiler (Hrsg.): Perspektiven der Spolienforschung, Bd. 1: Spoliierung und Transposition. München / Berlin 2013. 23 Das Projekt „100 Histories of 100 Worlds in one Object“ verschreibt sich „alternativen“ Objektbiografien aus Sicht des „Globalen Südens“, https://100histories100worlds.org/ (aufgerufen am 1. 12. 2020).
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ihr „Kulturerbe“ handhaben sollten, wenn sich küssende Pilgerhäupter über seltene Ikonen beugen, Füße über filigrane Grabplatten schaben (weil so die Sünden der Toten vertrieben werden) oder antike Tongefäße als Futterkrüge verwendet werden. Nur wenn zukünftige Generationen verstehen, dass sich diese Rhetorik genauso in den empörten Reiseberichten europäischer Bildungsbürger*innen um 1850 findet, kann man sich selbst mit einer solchen Haltung vernünftig auseinandersetzen. Kann die Debatte um Provenienzforschung und Restitution also dazu führen, Objekte wieder ihren Zweckgeschichten zuzuordnen, nicht zuletzt, um die einstigen Benutzer*innen nicht zu Opfern zu degradieren? Soll der von der Humboldt-Intendanz anvisierte, rühmliche multiperspektivische Ansatz, der die Wertschätzung der Objekte ins Zentrum stellen möchte, berücksichtigen, dass das westliche Ideal nur eine Form des Bewahrens ist? Von japanischen Teetassen bis zu nigerianischen Ahnenbildern: Da in vielen Kulturen Objekte erst durch Abnutzung oder gar Zerfall an Wert gewinnen, ja, andere gar nicht erst angeblickt werden dürfen, würde dies das museale Bewahren selbst immer wieder in Frage stellen. 24 Man kann gespannt darauf sein, wie weit Multiperspektivität in Museen überhaupt möglich sein wird. Denn durch Museen haben sich Mensch, Ort und Ding oft voneinander entfremdet. Ertragen Museen also so viel kritische Sammlungsgeschichte, ohne sich abzuschaffen? Ja. Sie würden dadurch nicht nur interessanter werden, sondern auch ihrem Bildungsauftrag nachkommen, von dem im letzten Teil dieses Essays die Rede sein wird. Denn nicht nur weil am Ende für die Besucher*innen schlüssig sein muss, weshalb einige Objekte einst „europäisch“ wurden, obwohl sie aus Asien stammen, und weshalb der Islam laut Hermann Parzinger ausgerechnet zur Museumsinsel gehört, 25 muss die Historisierung von Sammlungskonzepten selbst in den Fokus rücken, mit allen ihren Facetten.
3. Rasse und Rassismus als Komplizen Nicht jedem wird zum Beispiel die Behauptung gefallen, dass bei den Sammlungskonzepten häufig „Menschenrassen“ im Vordergrund standen – auch auf der Museumsinsel. Museen würden ohne rassentheoretisch motivierte Denkmuster gar nicht existieren. Divide et impera: Museen teilen Kulturen in klar abgegrenzte Kategorien ein, die es angesichts der 24 Mirjam Brusius (Hrsg.): What is Preservation? Diversifying Engagement with the Middle East’s Material Past. In: Review of Middle East Studies 51 (2017) H. 2, S. 177– 182. 25 Wie Anm. 1.
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kontinuierlichen Migration von Menschen und Objekten so nie gegeben haben kann. Sie leben grundsätzlich von der Unterscheidung zwischen denjenigen, die sammelten, und denjenigen, von denen gesammelt wurde. Das oben erwähnte westliche Paradigma des Schutzes von Kulturgütern ist nichts anderes als das Relikt einer Ideologie, die darauf beruhte, Objekte aus den Händen jener zu befreien, die derer nicht würdig waren – auch wenn der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump, seit seiner Drohung im Januar 2020, Kulturgüter im Iran zu zerstören, jenes Postulat auf den Kopf stellte. 26 In Zeiten, in denen nicht nur koloniale Sammlungen in Museen, sondern auch Rassismus vielen Kopfschmerzen bereitet, lohnt es sich, sich diese Liaison einmal genauer anzusehen. Museen haben rassistische Hierarchien, die sich aus den im 19. Jahrhundert an den Universitäten formierenden Disziplinen generierten, selbst mit erfunden. Im Schulterschluss mit Universitäten waren sie an der wissenschaftlichen Entwicklung von Rassentheorien maßgeblich beteiligt. Es hat sie somit schon vor der NS-Zeit gegeben. Seither wurden sie nur teilweise durchbrochen. Mittlerweile hat sich herumgesprochen – man denke an Wissenschaftler wie Eugen Fischer, die nicht nur Anthropologen, sondern auch Vertreter der Rassenhygiene waren –, dass die im Humboldt Forum ausgestellten ethnologischen Sammlungen problematisch sind. „Othering“, also die bewusste und wertende Differenzierung der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, von anderen Gruppen, war zentrale Antriebskraft der Ethnologie. Doch wie verhält es sich, um auf ihren scheinbar immunen Status noch einmal zurückzukommen, mit den oben angesprochenen Disziplinen, die der Altertumswissenschaft und der Archäologie zuzuordnen sind? Zu kanonisiert, zu unantastbar ist das winckelmannsche Schönheitsideal, als dass man ihm Vielfalt statt „edle Einfalt“, Lärm statt „stille Größe“ zuschreiben möchte. Wer geht schon ins Museum, um zu lernen, dass der auf Winckelmann beruhende griechische Idealtypus Anthropolog*innen bis hin zur NS-Zeit als Fundament zur Standardisierung von Rassenhierarchien diente, in denen dunklere „Menschenrassen“ weit unten angesiedelt wurden, während weiße Menschen die Spitze der Entwicklung darstellten? Die Überlegenheit der Griechen beruhte nach Winckelmann vor allem auf ihrem „schöne[n] Geblüt“ und der daraus resultierenden „vollkommenen Form“ ihrer Körper, deretwegen nicht nur die alte Bevölkerung Ägyptens, sondern auch die moderne Bevölkerung Afrikas und Asiens derjenigen
26 https://www.theartnewspaper.com/news/cultural-heritage-officials-condemn-trump-sthreats-against-iranian-sites (aufgerufen am 1. 12. 2020).
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Abb. 3: Ernst Haeckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte“, 1868. https://de.m. wikipedia.org/wiki/Datei:Ernst_Haeckel_-_Nat%C3%BCrliche_Sch%C3% B6pfungsgeschichte,_1868.jpg (Public Domain)
Europas unterlegen sei. 27 Diese Vermächtnisse leben auch in der Kraniologie weiter. Die „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ des in Jena tätigen Rassentheoretikers Ernst Haeckel zeigte zwölf „in reiner Profil-Ansicht“ gezeichnete Köpfe in einer stufenweisen Entwicklung. Die „Jenaer Erklärung“ gegen Rassismus vom September 2019 zeigt, wie sich Institutionen nicht nur dazu bekennen, an der Konstruktion von Menschenrassen beteiligt gewesen zu sein, sondern sich auch explizit davon distanzieren können. 28 Wenn Dauerausstellungen antiker Sammlungen nicht erklären und historisieren, dass Fächer wie die Archäologie von Beginn an eng mit Rassentheorie, Antisemitismus und Eugenik verwoben 27 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Dresden / Leipzig 2. Auflage 1756. 28 https://www.sueddeutsche.de/wissen/genetik-rassen-ueberfremdung-1.4692679?reduced=true; vgl. Wir waren alle mal schwarz. In: Süddeutsche Zeitung, 24. 9. 2019, https:// www.shh.mpg.de/1464654/jenaer-erklaerung (beides aufgerufen am 15. 1. 2020). Vgl. auch Martin S. Fischer u. a.: Jena, Haeckel und die Frage nach den Menschenrassen oder der Rassismus macht Rassen. In: Zoologie. Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft 2020, S. 7–32.
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und somit schon immer von Vorurteilen geprägt waren, wie wollen sie diese dann durchbrechen? Doch nicht nur zum Idealbild stilisierte griechische Skulpturen, sondern auch jene aus dem „Alten Ägypten“ dienten einer rassenanthropologisch determiniertem Ägyptologie, die um die Kontroverse kreiste, ob es sich bei den „Alten Ägyptern“ um eine hellhäutige „Rasse“ handelte, mit dem Ziel, diese von den eigentlichen Bewohnern zu unterscheiden. Auch Archäologen wie George Robin Gliddon und Flinders Petrie, ersterer selbst Rassentheoretiker, lieferten Eugenikern wie Francis Galton im 19. Jahrhundert Schädel als Forschungsmaterial. 29 Wenngleich vor allem in der englischsprachigen Ägyptologie etabliert, sorgte Rassenkunde auch in Deutschland immer wieder für Diskussionen, bis sich in den 1920er und 1930er-Jahren eine völkische Neuausrichtung ägyptologischer Forschung durchsetzte. 30 Nationalsozialistische „Rassenkundler“ wiederum wollten Griechen als Vorreiter der Germanen wissen und somit als Abgrenzung von anderen als genetisch minderwertig erachteten Menschentypen. Stets ging es dabei um die Beweisführung einer Überlegenheit der europäischen „Zivilisation“, bei der Europa den Höhepunkt einer Entwicklung darstellte, die im alten Ägypten und in Mesopotamien ihre Ursprünge fand. 31 Derartige im Pergamonmuseum propagierte Narrative der „Wiege der Zivilisation“ dienten der Legitimation kolonialer und imperialer Expansionspolitik, an der die Archäologie maßgeblich beteiligt war. Sie schufen Hierarchien jenseits von Zeit und Raum, indem Funde bis heute zwar mit Europa, jedoch kaum mit der Region selbst oder den Einwohner*innen verbunden werden, die sie als Hilfsarbeiter*innen mit eigenen Händen ausgruben. 32 Der „Alte Orient“ zur Beflügelung westlicher Ursprungsmythen, jedoch ohne jeglichen Bezug zu den modernen Realitäten des Nahen Ostens, mit allen aktuellen Folgen westlicher Expansionspolitik? 33 Oder exotisiert als „Tausendundeine Nacht zwischen Orient und Europa“, wie das Kulturerbe der Region in der Staatsbibliothek in unmittelbarer 29 Debbie Challis: The Archaeology of Race. The Eugenic Ideas of Francis Galton and Flinders Petrie. London 2014. 30 Susanne Voss: Die Geschichte der Abteilung Kairo des DAI, Bd. 2. Rahden 2017, S. 16– 19, 41–63; Dies.: Wissenshintergründe. . . – die Ägyptologie als völkische Wissenschaft entlang des Nachlasses Georg Steindorffs. In: Dies./Dietrich Raue (Hrsg.): Georg Steindorff und die deutsche Ägyptologie im 20. Jahrhundert. Wissenshintergründe und Forschungstransfers. Berlin / Boston 2016; Thomas L. Gertzen: Einführung in die Wissenschaftsgeschichte der Ägyptologie. Berlin 2017; Marchand (Anm. 5). 31 Zainab Bahrani: Conjuring Mesopotamia. Imaginative Geography and a World Past. In: Meskell (Anm. 20), S. 159–174. 32 Alice Stevenson: Scattered Finds. Archaeology, Egyptology and Museums. London 2019. 33 Brusius (Anm. 15).
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Nähe der Museumsinsel in einer Ausstellung 2019 präsentiert wurde? 34 Derartige Kategorien und Ansätze – der „Orient“ ist eine Erfindung des Westens – müsste ein Museum des 21. Jahrhunderts eigentlich historisieren und durchbrechen, statt sie zu perpetuieren. 35 Stattdessen setzte sich das Narrativ einer von der „Wiege der Zivilisation“ ausgehenden progressiven Entwicklung auf der Museumsinsel über das Alte Museum mit der Klassischen Antike, das Christentum im BodeMuseum bis hin zur deutschen Malerei in der Alten Nationalgalerie fort. Der Classics-Experte Ja´s Elsner merkte hierzu auf einer Podiumsdiskussion an: „The centre of the old story is a clear line from antiquity to Germany. The addition of an ethnographic / Asian supplement in the old Schloss does not necessarily look like much of a challenge to that story and could easily be turned into a confirmation of it. That is a real problem.“
Über die einzelnen Museen der Museumsinsel selbst, insbesondere das Pergamonmuseum, setzt Elsner fort: „The very reconfiguration of the current museums is itself potentially a problem. Their current form is well exemplified by the architectural structure and orchestration of the Pergamon Museum, which descends from the post Classical Hellenistic era via the colourful arabesques of the Ishtar Gate and ancient Babylon to end in Islam. One might have preserved this configuration and critiqued its form and ideology explicitly – this would at least have been an option. But instead there will be a reshaping of the building that will have the great advantage of allowing much more into the display, but will effectively adapt the old narrative rather than start again.“ 36
Nahezu beunruhigend sei es, so Elsner, dass auf der Museumsinsel somit noch immer ein euro- und germanozentrisches Weltbild aus dem Wilheminischen Kaiserreich propagiert wird; eine Art antiquierte Ethnografie, die jeder Bestrebung des Humboldt Forums, sich zu „dekolonisieren“, an sich zutiefst zuwiderlaufen müsste. Diese Narrative setzten sich auch über 1945 hinweg fort. Auch der jüdische Namensgeber des neuesten klassizistischen Anbaus, der James34 https://blog.sbb.berlin/ausstellung-reisende-erzaehlungen-tausendundeine-nachtzwischen-orient-und-europa (aufgerufen am 1. 12. 2020). 35 Dazu Sumaya Kassim im Kontext des British Museum: http://lucywritersplatform. com/2020/02/07/there-is-no-mutual-fascination-why-the-british-museums-inspired-by-the-east-is-not-inspired-at-least-not-to-me-a-heartbroken-muslim-middleeasterner/ (aufgerufen am 15. 2. 2020). 36 Ja´s Elsner: Kommentar zum Humboldt Forum im Rahmen einer Podiumsdiskussion der Kosmos Summer School. Berlin 2015 (unveröffentlicht). Ich danke dem Autor für die freundliche Überlassung seines Manuskripts; https://www.smb.museum/en/museums-institutions/museumsinsel-berlin/about-us/masterplan-museumsinsel.html (aufgerufen am 15. 1. 2020).
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Simon-Galerie, kann der Tatsache keinen Abbruch erteilen, dass nebenan eines der bedeutendsten Museen Berlins 2006 wissentlich den Namen eines bekennenden Antisemiten bekommen hat: Wilhelm v. Bode. 37 Die unmittelbaren Folgen dieser Rassenlehren für die NS-Zeit sind nicht nur Elsner, dessen Familie damals fliehen musste, leider viel zu bekannt. Weniger Bewusstsein gibt es hingegen dafür, dass Menschen die realen Konsequenzen dieser Theorien immer noch täglich erfahren müssen. Diese Ideologien setzten sich nicht nur weiter fort, sondern gewinnen sogar an Konjunktur. Die Journalistin Angela Saini zeigte kürzlich in ihrem Buch „Superior: The Return of Race Science“, dass biologische Forschung noch immer von Rassentheorien des 19. Jahrhunderts beeinflusst wird und sich in Form eines steigenden Interesses an irreführenden DNA-Tests derzeit stark popularisiert. 38 Das ist gefährlich. Denn wenngleich sich wissenschaftlich etabliert hat, dass die Idee von biologischen „Menschenrassen“ nicht haltbar ist, so macht sich nicht nur bei „white suprematists“ Widerstand bemerkbar. Ist dies nicht ein beunruhigender Umstand, der auch Museen zu einer breiten Bildungsarbeit bewegen sollte? Die Museumsinsel als Aufklärungsort gegen Rassismus (natürlich mit freiem Eintritt), wo sie sich ohnehin gerade im Umbruch und im Umbau befindet? Der Vorschlag sollte nicht leichtfertig als verrückt abgetan werden. Das Tropenmuseum in Amsterdam nutzte in seiner Ausstellung über den Sklavenhandel, den es auch in Brandenburg-Preußen unter Friedrich Wilhelm gab, 39 die Gelegenheit, um über dessen Folgen zu sprechen: die ungebrochene Diskriminierung von BPoC (Black and People of Colour) heute. 40 In Großbritannien zeigte die Kuratorin Subhadra Das auf ihren Touren über den Campus des University College London, 41 wie sich in Museen und Laboren schon im 19. Jahrhundert Rassenhierarchien zusammenbrauten, auf denen sich die gesamten gewaltträchtigen Ideologien des British Empire gründeten – mit allen diskriminierenden Folgen für die Nachfahren ehemaliger Kolonien im 21. Jahrhundert. Andernorts also schon eingelöst, könnten sich viele Museen so gesellschaftlich neu positionieren. 37 https://blog.smb.museum/wilhelm-von-bode-kunsthistoriker-und-sammler-aus-leidenschaft/; https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/wilhelm-bode-bedeutendes-berliner-museum-traegt-namen-eines-antisemiten-li.51374 (beide aufgerufen am 1. 12. 2020). 38 Angela Saini: Superior: The Return of Race Science. New York 2019. 39 Die Mediendebatte zum deutschen Sklavenhandel ist noch recht jung. Vgl. z. B. https://www.planet-wissen.de/geschichte/menschenrechte/sklaverei/pwiewissensfrage604.html (aufgerufen am 1. 12. 2020). 40 https://www.tropenmuseum.nl/en/whats-on/exhibitions/afterlives-slavery; https:// www.museolasamericas.org/ (beide aufgerufen am 1. 12. 2020). 41 https://www.ucl.ac.uk/culture/projects/bricks-mortals (aufgerufen am 1. 12. 2020).
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Solch ein Unterfangen wäre in Deutschland nicht trotz, sondern gerade wegen der Aufarbeitung des Holocaust nicht ganz einfach. Da der Begriff „Rasse“ in Deutschland besetzt ist und automatisch mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wird, gab es bis zur Black Lives Matter Bewegung 2020 in Reaktion auf den gewaltsamen Tod von George Floyd wenig Diskussionen, die etwa mit den US-amerikanischen Diskursen vergleichbar sind, wo „race“ zum Dauersoundtrack jeglicher Debatten gehört: einerseits als soziales Konstrukt, andererseits derzeit stark beflügelt durch Ideologien weißer Vorherrschaft; zur Sorge vieler Betroffener. Auch nach den Black Lives Matter-Protesten dauerte es, bevor Deutschland den Blick von den USA abwendete, um nach innen zu blicken. Just an jenem Wochenende, an dem sich Menschen in Berlin zusammenfanden, um gegen Rassismus in Deutschland zu protestieren, wurde am Humboldt Forum ein Kreuz auf die Kuppel emporgehoben – während an vielen Orten in Europa Symbole und Denkmäler weißer Vorherrschaft abgerissen wurden. Warum? 42 Die Folgen dieser im Wilhelminischen Empire entstandenen Wissenschaften wirken bis heute auch in Deutschland nach und somit auch in den Museen und Forschungseinrichtungen selbst. Um beim Beispiel der Archäologie zu bleiben: Wer hält den Spaten bei Grabungen, wer die Deutungshoheit über die Funde? 43 Was zählt als Wissen? Damit verbunden ist auch die Frage: Wer kommt überhaupt vorwiegend ins Museum und wer bleibt draußen? 2018 stellte ein Filmstill genau diese Frage in der Museumswelt neu. 44 Es zeigt Erik „Killmonger“ Stevens (gespielt von Michael B. Jordan) im Film „Black Panther“ vor einer Vitrine mit afrikanischen Objekten im fiktiven „Museum of Great Britain“, eine Anspielung auf das British Museum. „Woher haben Ihre Vorfahren diese Objekte? Glauben Sie, sie zahlten dafür einen fairen Preis?“, fragt Killmonger in der Szene die Direktorin. „Ich denke, wir hatten alle unseren ‚Black Panther Moment‘“, sagte kürzlich eine Kuratorin für afrikanische Kunst auf einer Podiumsdiskussion in Washington. 45 Es gehe ja nicht nur um Restitution, sondern auch um die Tatsache, dass Museen jene Besucher*innen nicht willkommen heißen, deren Objekte ausgestellt werden.
42 https://news.artnet.com/opinion/humboldt-forum-cross-issue-1884378 (aufgerufen am 1. 12. 2020). 43 Stephen Quirke: Hidden Hands: Egyptian Workforces in Petrie Excavation Archives, 1880–1924. Bristol 2010. 44 https://news.artnet.com/art-world/black-panther-museum-heist-restitution-1233278 (aufgerufen am 1. 12. 2020). 45 Diese Diskussion fand am Deutschen Historischen Institut Washington im Oktober 2019 statt, siehe https://www.si.edu/sites/default/files/unit/OIR/prep-dc_oct_ 26_panel_discussion_at_ghi.pdf (aufgerufen am 1. 12. 2020).
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In Deutschland gab es keinen ‚Black Panther Moment‘. Der Ausschluss von Besucher*innengruppen, die den Eindruck haben, sie hätten in Museen nichts zu suchen, ist in der bisherigen Diskussion um das Humboldt Forum bisher zu kurz gekommen. Aber auch in Form sozialer Schwellenangst oder Diskriminierung bei Einstellungspolitiken zeigt sich die Fortsetzung rassistischer Muster. So wie „der Orient“ immer vergangen, bestenfalls auf ewig exotisch, aber nie modern ist, so sind Museen nach wie vor exklusiv und vor allem weiß – sowohl vor als auch hinter den Kulissen. Selbst gutgemeinte partizipatorische Projekte wie „Multaka“, in dem Geflüchtete Führungen übernehmen, 46 wirken erst dann glaubwürdig, wenn sich nicht nur europäische Imperialpolitik, mitunter Ursache für Konflikte und Flucht, an Museumswänden widerspiegelt, sondern dort auch Expert*innen mit Hintergrund aus der Region unbefristet als Kurator*innen eingestellt werden, die sich über politische Realitäten weltweit mehr Gedanken machen und damit ein noch vielfältigeres Publikum anziehen. In London trifft sich regelmäßig die Gruppe „Museumdetox“, eine Gruppierung Museumsschaffender „of colour“. 47 In Deutschland gibt es nur wenige, die solch einer Gruppe überhaupt beitreten könnten. 48 Stattdessen reißt die Kritik an der Personalpolitik des Humboldt Forums nicht ab: nicht nur zu männlich, sondern auch nach wie vor zu weiß. 49 Woran liegt es? Will man tatsächlich den absurden Schluss zulassen, dass andere Bewerber*innen eben einfach „weniger gut“ seien? Für viele ist die Verbindung zwischen Rassenforschung in den Museen damals und Diskriminierung heute weniger offensichtlich. Der Vorwurf rassistischer Denkmuster ruft in der Regel starke Abwehrhaltungen hervorruft. Es seien doch alle gleich. 50 Für andere sind Diskriminierungserfahrungen jedoch alltäglich: Bei „Museumdetox“ sprechen Mitglieder über die täglichen Konsequenzen über Jahrhunderte tradierter rassistischer Vorbehalte, aber auch Angst, etwa wenn das Albertinum in Dresden
46 https://multaka.de/projekt/ (aufgerufen am 1. 12. 2020). 47 https://www.museumdetox.org/ (aufgerufen am 1. 12. 2020). 48 Geplant ist eine Initiative der ‚Neuen deutschen Museumsmacher*innen‘ nach dem Vorbild von Museumdetox und der Neuen deutschen Medienmacher*innen: https:// www.neuemedienmacher.de/ (aufgerufen am 1. 12. 2020). 49 https://www . monopol - magazin . de / humboldt - forum - weiss - maennlich - kommentar; https://www . deutschlandfunkkultur . de / raubkunst - im - humboldt - forum - haus - der weissen-herren.3682.de.html?dram:article_id=451366 (beide aufgerufen am 1. 12. 2020). 50 Deniz Utlus ist der Meinung, „dass es einen zentralen Unterschied gibt, wenn es um die Bewertung der Aussage, dass Hautfarbe keine Rolle spiele, gehe: ‚Ist das eine Utopie, die uns Orientierung gibt? Oder ist das eine Beschreibung des Ist-Zustands?‘“, https:// www.deutschlandfunkkultur.de/rassismus-und-identitaetspolitik-warum-hautfarbe-keine.2165.de.html?dram:article_id=468914 (aufgerufen am 1. 12. 2020).
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neuerdings AfD-Mitglieder zum Gespräch einlädt. 51 Niemand, so belegen es Tests zu Wahrnehmungsverzerrungen, ist vorurteilsfrei, wie es Alice Hasters auch in ihrem Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten“ erklärte. 52 Doch weder das in Deutschland kaum debattierte „unconscious-bias-training“ 53 noch anonymisierte Bewerbungen könnten alleine zu Lösungen beitragen beitragen. Denn tatsächlich könnte man einwenden: Wo sollte eine Vielzahl von diversen Bewerber*innen für den kuratorischen Sektor im Inland überhaupt herkommen? Spätestens mit dem Humboldt Forum stellt sich die Frage nach der musealen Deutungshoheit neu. Die Glaubwürdigkeit des Humboldt Forums und von Projekten, die Sammlungsgeschichte kritisch angehen wollen, wird weiter angezweifelt werden, wenn etablierte Strukturen fortbestehen, die wahrer personeller und methodischer Veränderung vorbeugen. Das Problem lässt sich aber nicht im Alleingang lösen. Universitäten haben die mangelnde Diversität der Studierendenschaft bisher nicht problematisiert. Doch hier werden die Kurator*innen von morgen ausgebildet. Eine solche Zielgruppe wird sich wiederum nicht ohne Weiteres in geisteswissenschaftlichen Seminaren einfinden, wenn sowohl Lehrende als auch Lehrpläne nach wie vor vorwiegend „weiß“ sind. Längst überfällig ist in Deutschland daher eine grundlegende Debatte zur „Dekolonisierung des Curriculums“ 54, wie sie in anderen Ländern automatisch mit den Museumsdebatten einherging. Sie muss fundamentaler Bestandteil zukünftiger Diskussionen werden. Menschen – dies zeigte sich in Großbritannien –, deren Eltern aus den ehemaligen britischen Kolonien stammen, schreiben sich nun einmal eher für das Fach Geschichte ein, wenn Lehrende selbst „Einwanderkinder“ sind, Seminare zu Migrationsgeschichte stattfinden und Literaturlisten und Methoden auch nicht-westliche Autor*innen berücksichtigen. Doch nicht nur in der Geschichtswissenschaft, auch in anderen Fächern wie der Altertumswissenschaft wird mangelnde Diversität bisher kaum als Problem erkannt, selbst (oder gerade) wenn über den Nahen Osten oder Ägypten geforscht
51 https://www.theguardian.com/artanddesign/2020/jan/07/how-to-fight-the-far-rightinvite-them-in-the-german-museum-taking-on-hate (aufgerufen am 1. 12. 2020). 52 Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten. Berlin 2019. Siehe auch Reni Eddo-Lodge: Why I’m No Longer Talking to White People About Race. London u. a. 2017. 53 https://implicit.harvard.edu/implicit/selectatest.html (aufgerufen am 1. 12. 2020). 54 John Giblin / Imma Ramos / Nikki Grout: Dismantling the Master’s House. Third Text. DOI: 10.1080/09528822.2019.1653065, vgl. https://www.theguardian.com/education/ 2019/mar/20/academics-its-time-to-get-behind-decolonising-the-curriculum (aufgerufen am 1. 12. 2020).
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wird. Entwicklungen in den USA, die für mehr Vielfalt in den nach wie vor sehr weißen Altertumswissenschaften werben, stehen die Ängste derer gegenüber, die darin einen ‚umgekehrten Rassismus‘ sehen, auch wenn es ihn historisch betrachtet nicht geben kann, da Rassismus ungleiche Machtverhältnisse voraussetzt. 55 Doch Wissen über Rassismus kann in Deutschland noch nicht als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden. Auf Wissenslücken hinzuweisen, resultiert besonders für BPoC nicht selten in (noch) mehr Rassismus. Die Sorge über einen ‚reverse racism‘ scheint indes unbegründet. Auch Projekte zu ‚Black Studies‘, Sklaverei, Restitution und Kolonialgeschichte werden fast ausschließlich von europäischen weißen Wissenschaftler*innen geleitet. Die Stelle der international profilierten jüdisch-türkischen Professorin für Islamische Kunst und Museumsgeschichte Wendy Shaw läuft, so der letzte Stand, ohne Aussicht auf Verlängerung aus. Da es kaum Historiker*innen mit vielfältigen kulturellen Wurzeln gibt, sollte dies zumindest in Städten mit hohem Migrationsanteil wie Berlin für einen Aufschrei sorgen, genau wie die Tatsache, dass trotz langer Einwanderungsgeschichte „Turkish Studies“ als Fach noch nicht etabliert ist, wie das mit Asian and Oriental Studies in Großbritannien der Fall ist. Ein Teufelskreis. Forschungsanträge, die auf methodische Dekolonisierungspraxis und personelle Diversifizierung zielen, gelten inzwischen – dies sagen selbst Kommissionsmitglieder – als wenig aussichtsreich. Und für diejenigen, die sich aller Entmutigung zum Trotz durchringen, Anträge zu stellen, bringen Ablehnungsbegründungen für außereuropäische Forschungsprojekte häufiger schwerwiegende strukturelle Probleme ans Licht. Nicht selten geht daraus etwa ein tiefes Misstrauen der kaum als divers zu bezeichnenden Kommissionen gegenüber Forscher*innen aus den zu untersuchenden Regionen hervor, welche diesen damit indirekt nicht zutrauen, sich selbst kompetent mit der eigenen Geschichte befassen zu können. Wenn zum Beispiel Gutachter*innen der Sorge Ausdruck verleihen, die einzustellenden Projektmitarbeiter*innen seien nur schwer zu gewinnen, da von ihnen „seltene Doppelqualifikationen“ erwartet würden – neben den erforderten Hochschulabschlüssen auch Sprachkenntnisse der Herkunftsländer –, so lässt dies den Schluss zu, dass Kommissionen in erster
55 https://www . faz . net / aktuell / feuilleton / debatten / debatte - um - us - altertumswissenschaften-weisse-gelehrte-unerwuenscht-17070600.html, https://www.faz.net/aktuell/ karriere-hochschule/hoersaal/die-postkoloniale-kritik-erfasst-die-altertumswissenschaft-16504106.html. Zu einer Richtigstellung von ‚Rassismus gegen Weiße‘ vgl. https://www.tagesspiegel.de/kultur/der-grosse-unterschied-es-gibt-keinen-rassismus-gegen-weisse/25893440.html (beides aufgerufen am 1. 12. 2020).
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Linie von der eigenen inländischen Studierendenschaft als Zielgruppe ausgehen und diese vorwiegend weiß, nicht mehrsprachig (im Hinblick auf die jeweils relevanten Sprachen) und folglich nicht rekrutierbar ist. Ebenso wird die Möglichkeit einer Rekrutierung in ebenjenen Herkunftsländern entweder nicht bedacht oder sie ist nicht vorgesehen. 56 Dies sind nur wenige Beispiele institutioneller Diskriminierung, die Einblicke in mögliche Gründe geben, warum Personen auf Kuratorenlaufbahnen oder auf dem Weg zur Professur „auf der Strecke bleiben“ könnten. Sind es Einzelfälle? Für den Wissenschaftsbereich belegen Studien, dass ein niedriger sozialer Hintergrund, darunter gilt als Faktor auch Migration, die Chancen auf erfolgreiche Karrierewege auf dem Weg zur Professur extrem mindert: „Denn die soziale Herkunft ist ein geschlechterübergreifendes Thema und auch hinsichtlich anderer sozialer Dimensionen wie Migrationshintergrund oder Behinderungen immer miteinzubeziehen, da die soziale Herkunft ja etwas über die Ressourcen, die eine Person hat, aussagt. [. . .] Hierbei steht die Dimension soziale Herkunft besonders im Blickpunkt, die in engem Zusammenhang mit Geschlecht und Migration betrachtet wird.“ 57
Jedoch fehlen in Deutschland Zahlen, wie sie etwa der „Race und Ethnicity Report der Royal Historical Society“ hervorbrachte und die als Basis für eine detailliertere Erforschung von Diskriminierungsmechanismen bei BPoC, Zuwanderer*innen und deren Nachfahren dienen könnten. 58 Natürlich sind alles dies nicht nur Folgen bisher wenig thematisierter institutioneller Diskriminierung, sondern auch einer Politik, die Integration und Anpassung über Diversität und Vielfalt stellt: 59 Aus Diskussionen wie der um das Kopftuchverbot für Lehrerinnen kristallisiert sich ein Ansatz heraus, der schon muslimischen Grundschülerinnen die Möglichkeit
56 Dies geht aus Interviews der Verfasserin mit anonymen BPoC-Wissenschaftler*innen sowie aus anonymisierten Gutachten zu Forschungsanträgen hervor. Die Anfechtung der Gutachten wurde teilweise verfolgt, blieb jedoch von den jeweiligen Förderinstitutionen unbeantwortet. 57 Christina Möller: Als Arbeiterkind zur Professur? Wissenschaftliche Karrieren und soziale Herkunft. In: Forschung & Lehre (2014) H. 6, S. 372–374. Seit der Black Lives Matter-Bewegung wird Rassismus auch in der deutschen Wissenschaft mehr thematisiert. Vgl. hierzu die Blogs „Race, History, and Academia“, https://ghil.hypotheses. org/category/dialogue/race-history-academia, und das L. I. S.A Wissenschaftsportal, z. B. https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/rassismus_und_geschichtswissenschaft_ morina_frei (beides aufgerufen am 1. 12. 2020). 58 https://royalhistsoc.org/racereport/ (aufgerufen am 15. 1. 2020); Daniela Heitzmann / Kathrin Houda (Hrsg.): Rassismus an Hochschulen. Analyse – Kritik – Intervention. Weinheim 2019. 59 Max Czollek: Desintegriert Euch! München 2018; Fatma Aydemir / Hengameh Yaghoobifarah (Hrsg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin 2019.
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nehmen soll, Vorbilder zu finden, um vielleicht selbst einmal höhere Karrierewege einzuschlagen. 60 Dekolonisierung darf keine Metapher bleiben, 61 bei der ursprünglich von BPoC entwickeltes Gedankengut immer mehr von Institutionen kooptiert wird, ohne dass sich letztere wirklich verändern wollen. Es hilft also nur ein tiefer Blick in die Abgründe institutioneller Strukturen. Menschenrassen, obgleich einst an Museen und Universitäten erfunden, gibt es nicht. Doch Rassismus ist real. Museen, deren gesellschaftliche Relevanz ohnehin gerade hinterfragt wird, bietet sich nun eine einmalige Chance, die Kategorien, die sie selbst mitkonstruiert haben, zusammen mit den Universitäten zu dekonstruieren.
60 https://www.welt.de/politik/deutschland/article199760978/Berlin-Gutachten-bestaerktKopftuchverbot-fuer-Lehrerinnen.html (aufgerufen am 1. 12. 2020). 61 Eve Tuck / K. Wayne Yang: Decolonizing Is Not a Metaphor. In: Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1 (2012) H. 1, S. 1–40.
II. Fallstudien
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Kulturgutschutz in Europa seit dem 19. Jahrhundert zwischen Verrechtlichung und Kolonialpraxis Historische Bemerkungen zur aktuellen Debatte
1. Eine Debatte mit Geschichte Die schon seit einigen Jahren geführte Diskussion um koloniales Kulturgut in westlichen Museen hat in der letzten Zeit noch einmal erhebliche Zugkraft erhalten. Im November 2018 haben die Wissenschaftler*innen Felwine Sarr und Bénédicte Savoy im Auftrag des französischen Präsidenten einen umfangreichen Bericht vorgelegt, der sich für eine weitreichende und rasche Restitution von Kulturgut aus dem subsaharischen Afrika an die Herkunftsländer ausspricht. 1 Dieser Savoy-Sarr-Bericht wird weltweit kontrovers diskutiert. Im April 2018 fand im Deutschen Bundestag eine Expertenanhörung vor dem Kulturausschuss statt, in der es ebenfalls um die Rückgabe von Museumsobjekten aus kolonialen Kontexten ging. 2 Zahlreiche wissenschaftliche und Feuilleton-Beiträge sind zu dem Thema erschienen. Diese Dynamik ist selbst erklärungsbedürftig, denn neu ist die Problematik eigentlich nicht. Schon seit den 1970er/1980er-Jahren wird in Europa über die Rückgabe kolonialer Kunst diskutiert. 3 Ein wesentlicher
1 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle, November 2018, https://restitutionreport2018.com; deutsche Übersetzung in Buchform: Dies.: Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Berlin 2019. 2 Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien: Kulturpolitische Aufarbeitung des kolonialen Erbes, 3. 4. 2019, https://www.bundestag.de/dokumente/ textarchiv/2019/kw14-pa-kultur-medien-631622 (aufgerufen am 15. 8. 2019). 3 Vgl. etwa Gert v. Paczensky / Herbert Ganslmayer: Nofretete will nach Hause. Europa – Schatzhaus der „Dritten Welt“. München 1984; zahlreiche Einzelfälle in Jeanette Greenfield: The Return of Cultural Treasures. Cambridge 3. Aufl. 2007; resümierend Ana Filipa Vrdoljak: International Law, Museums and the Return of Cultural Objects. Cambridge 2006; Jos van Beurden: Treasures in Trusted Hands. Negotiating the Future of Colonial Cultural Objects. Leiden 2017.
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Faktor zumindest in Deutschland dürfte aber der Eindruck der Debatte um die Raubkunst des Zweiten Weltkriegs gewesen sein, die wiederum auch schon in die 1990er-Jahre zurückreicht, aber in den letzten Jahren durch den Fall Gurlitt noch einmal neu befeuert wurde. 4 Wenig präsent in der gegenwärtigen Debatte ist die Tatsache, dass die aktuell kursierenden und gegeneinanderstehenden Argumente, Ideen, Ansprüche und Konzepte zum Umgang mit Kulturobjekten ihre je eigene Geschichte haben und im Wesentlichen im 19. Jahrhundert entwickelt wurden. Es kann also erhellend sein, nach ihrer historischen Genese zu fragen. Zwar gab es im 19. Jahrhundert nur wenige tatsächliche Rückführungen von Kulturobjekten an ihren Ursprungsort. Jedoch ergaben sich immer wieder Situationen, in denen Ansprüche auf transferierte Kulturgüter strittig waren und problematisiert wurden. Viele Fälle, von denen einige sehr bekannt sind und seit Langem diskutiert werden, gehen auf Entwicklungen des 19. Jahrhunderts zurück. Gegenüber den momentan dominierenden kunsthistorischen Beiträgen, die sich tendenziell auf einzelne Objekte oder Objektgruppen und ihre jeweiligen Wege, sprich: Provenienzen, konzentrieren, sollen im Folgen einige längere, übergreifende Entwicklungslinien skizziert werden. Das verbindet sich mit einem breiten thematischen Spektrum, das den Transfer von Kunst- und Kulturobjekten im modernen Sinne, von Objekten und Ausgrabungsfunden der europäischen Antike und auch von Objekten außereuropäischer Herkunft einschließt, bei denen in zeitgenössischer Sicht der Status als Kulturgüter gar nicht klar war. Dieser historische Blick auf die Ursprünge der heutigen Auseinandersetzungen vermag der Diskussion mehr Tiefenschärfe zu geben und hilft dabei, ihre Grundlagen und unausgesprochenen Vorannahmen kritisch zu reflektieren.
2. Kulturerbe und Kriegsvölkerrecht Die Rückführung von Kulturgütern durch die alliierten Siegermächte nach den napoleonischen Kriegen 1815 stellt einen zentralen Ereigniskomplex für das Thema der Kulturrestitution dar. In Anspielung auf Thomas Nip-
4 Christian Welzbacher: Kunstschutz, Kunstraub, Restitution. Neue Forschungen zur Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus, in: H-Soz-Kult, 13. 12. 2012, www.hsozkult.de / literaturereview / id / forschungsberichte-1296 (aufgerufen am 15. 12. 2019); Stefan Koldehoff: Die Bilder sind unter uns. Das Geschäft mit der NS-Raubkunst und der Fall Gurlitt. Berlin 2014; Maurice Philip Remy: Der Fall Gurlitt. Die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal. Berlin u. a. 2017.
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perdey 5 muss man sagen, dass, anders als es in der öffentlichen Wahrnehmung manchmal heißt, hier am Anfang nicht Napoleon stand. Vielmehr war die systematische, staatlich betriebene Beschlagnahmung von Kunstwerken in europäischen Staaten und Fürstentümern durch die französischen Eroberer nur eine Etappe innerhalb eines Kontinuums von Entwicklungen, die seit der frühen Revolutionszeit im Gange waren: erstens die Ausformulierung der aus der Auseinandersetzung mit dem revolutionären Bildersturm geborenen Idee des nationalen Kulturerbes. Nachdem der Pariser Wohlfahrtsausschuss in den frühen 1790er-Jahren umfangreiche Maßnahmen zur Zerstörung von Kunstwerken initiiert hatte, die mit der Monarchie und der Feudalherrschaft allgemein identifiziert wurden, intervenierten mehrere revolutionäre Politiker dagegen und beschworen die Idee eines epochenübergreifenden Fundus von Kulturgütern, die ungeachtet ihres Entstehungskontexts die historische und zivilisatorische Größe Frankreichs gleichermaßen begründeten. 6 Zweitens setzte bereits unter der Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses ein Prozess der Zentralisierung von Kulturgütern in der Hauptstadt Paris ein, die zum Teil aus privaten Adelssammlungen in das dortige Zentralmuseum im Louvre verbracht wurden, um sie der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Schließlich begannen drittens bereits während der revolutionären Zeit systematisch geplante Beschlagnahmungen von Kunstwerken im Ausland, die von einer Universalisierung und Verschmelzung des Kunstgedankens mit dem Freiheitsgedanken vorangetrieben wurden. Frankreich als Land der Freiheit musste danach im Namen der Menschheit die wichtigsten Kunstwerke beherbergen bzw. zumindest einen repräsentativen Ausschnitt des menschlichen Kunst- und Kulturschaffens zu Bildungszwecken in Paris versammeln. Es überlagerten sich in der französischen Kunstraubpraxis folglich verschiedene Entwicklungen, zu der viertens unter Napoleon noch eine gleichsam neo-antike Form der Trophäensammlung hinzukam, die darauf hinauslief, Kriegsgegnern Gegenstände abzunehmen und in der Heimat in Triumphzügen zu präsentieren, die diese in ihrer kulturellen Identität trafen, wie zum Beispiel der Abbruch und Abtransport der Quadriga vom Brandenburger Tor in Berlin. 7 5 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, S. 11. 6 Edouard Pommier: L’Art de la liberté. Doctrines et débats de la révolution francaise. Paris 1991; Dominique Poulot: Musée, Nation, Patrimoine 1789–1815. Paris 1997; Ders.: Museum und Bildersturm zur Zeit der Französischen Revolution. In: Sigrid Schade / Gottfried Fliedl / Martin Sturm (Hrsg.): Kunst als Beute. Zur symbolischen Zirkulation von Kulturobjekten. Wien 2000, S. 27–43; Alexandra Stara: The Museum of French Monuments 1795–1816. ‚Killing Art to Make History‘. Farnham 2013. 7 Charles Saunier: Les Conquêtes artistiques de la révolution et de l’Empire. Reprises et abandons des alliés en 1815. Leurs conséquences sur les musées d’Europe. Paris
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Die Vorgänge der französischen Kulturrequisitionen und der Reaktionen darauf sind schon seit dem 19. Jahrhundert intensiv erforscht worden. Spätestens seit der Arbeit von Bénédicte Savoy wissen wir, dass es in den deutschsprachigen Ländern zwei Resonanzwellen gab. Während die ersten Konfiskationen auf deutschem Territorium in den 1790er-Jahren kaum öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen, reagierten deutsche Intellektuelle zunächst einhellig ablehnend auf die umfangreichen Beschlagnahmungen von Kunstobjekten aus den italienischen Staaten. Auch in Frankreich selbst wurde daran Kritik geübt, die bekannteste Stimme ist Quatremère de Quincy, der 1796 in einer Schrift die Verbringung antiker Werke von Rom nach Paris scharf kritisierte. Die in Rom versammelten antiken Monumente seien ein zusammenhängendes Gesamt-Kunstwerk, einzelne zu entfernen, komme dem Herausreißen von Seiten aus einem Buch gleich, die für sich genommen gar keinen Sinn ergäben. 8 Nachdem die Sammlungen des Louvre für eine europäische Öffentlichkeit geöffnet worden waren und auf überwältigendes Interesse stießen, drehte sich die öffentliche Stimmung in Deutschland jedoch wieder. Erst nach den militärischen Niederlagen Napoleons entstand ausgehend vom Rheinland in den deutschen Ländern eine Restitutionsbewegung, die sich nun auf die von dort nach Frankreich verbrachten Kultur- und Kunstobjekte richtete, diese als nationales Kulturgut zu beschreiben begann und auf dieser Basis zurückforderte. Vor allem Preußen drängte energisch auf eine Rückgabe aller nach Frankreich entführten Kunstwerke und setzte das im Sommer 1815 auch mit Waffengewalt durch. 9 In den Verhandlungen des Wiener Kongresses war es vor allem Großbritannien, das die Restitutionsfrage mit dem Verweis auf allgemein anerkannte Rechtsprinzipien angehen wollte. So verurteilte der britische Außenminister Lord Castlereagh nicht nur die französische Beschlagnahme von Kunstwerken als Verletzung des unter zivilisierten Staaten anerkannten Kriegsrechts, sondern sprach von einer unzerstörbaren Bindung von Kunstwerken an die Herkunftsländer, aus denen sie stammten. Auf dieser Basis sei das Eigentumsprinzip das einzige und sicherste Leitprinzip zur
1902; Wilhelm Treue: Kunstraub. Über die Schicksale von Kunstwerken in Krieg, Revolution und Frieden. Düsseldorf 1957; Cecil Gould: Trophy of Conquest. The Musée Napoleon and the Creation of the Louvre. London 1965; Paul Wescher: Kunstraub unter Napoleon. Berlin 1976; Bénédicte Savoy: Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen. Wien u. a. 2011. 8 Antoine Quatremère de Quincy: Lettres à Miranda sur le déplacement des monuments de l’art de l’Italie. Paris 3., erw. Aufl. 2017; hierzu auch Louis A. Jr. Ruprecht: Classics at the Dawn of the Museum Era. The Life and Times of Antoine Chrysostôme Quatremère de Quincy (1755–1849). Basingstoke 2014. 9 Savoy (Anm. 7), S. 151–193.
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Wiederherstellung des Rechts. Ganz verlassen mochte sich der Minister auf dieses Prinzip allerdings nicht, sondern fügte noch ergänzend an, dass eine Herausgabe der entwendeten Kunstwerke durch den französischen König auch einen wirkungsvollen Beitrag zu Versöhnung und zum Frieden in Europa darstellen werde. 10 Der größte Teil der greifbaren ausländischen Kunstwerke wurde auf dieser Grundlage wieder in die Herkunftsländer zurückgeführt. Damit wurde das Prinzip des unveräußerlichen nationalen Kulturguts gegen andere Ansprüche durchgesetzt, so gegen den von den Franzosen nach wie vor erhobenen Anspruch eines universalen Kulturerbes der Menschheit, das im Pariser Zentralmuseum repräsentiert sei und durch den barbarischen Akt der Alliierten wieder zerstört werde. Aber auch gegen formales Recht insofern, als zahlreiche Kulturgüter aus den italienischen Staaten im Rahmen von Friedensverträgen übereignet worden waren. Rechtsgeschäfte solcher Art erschienen jedoch nun als illegitim und nichtig. 11 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass auch in der Restitutionsdebatte selbst sich Verschiedenes mischte. So sprach Joseph Görres, im deutschsprachigen Raum der wichtigste öffentliche Fürsprecher einer umfassenden Rückforderungspolitik, im August 1815 in einem Artikel im Rheinischen Merkur davon, dass, wenn alle von Frankreich entwendeten Kunstwerke an den Herkunftsort zurückgeführt worden seien, immer noch eine „herrenlose Masse“ von Werken übrig bleibe, die „wie z. B. die egyptischen Gegenstände aus fremden Landen und über Meere herbeygeführt“ worden waren. „Da diese Masse“, so Görres weiter, „die Frucht früherer Siege gewesen, so fällt sie natürlich den zuletzt Siegenden anheim“ und sollte unter diesen verteilt werden. 12 Mit diesem Vorschlag wurde das Prinzip des nationalen Kulturerbes also wieder aufgebrochen und das Recht militärischer Sieger auf Trophäen in Geltung gesetzt, sofern es sich um außereuropäische Länder handelte. Umgekehrt wurde wiederum das strikte Herkunftsprinzip in einem interessanten Rückgabefall von 1815/16 durchbrochen. Vertreter des Kur10 Note remise le 11 Septembre 1815 par le viscomte Castlereagh aux ministres des puissances alliées, et portée sur leur protocole. In: Georg Friedrich de Martens (Hrsg.): Noveau recueil des traités d’Allicance, de Paix, de Trêve, de Neutralité, de commerce, de limites, d’échange etc. des Puissances et états de l’Europe. Bd. 2. Göttingen 1818, S. 642. 11 Dorothy M. Quynn: The Art Confiscations of the Napoleonic Wars. In: American Historical Review 50 (1945), S. 437–460; Franca Zuccoli: Le ripercussioni del trattato di Tolentino sull’attività diplomatica di Antonio Canova nel 1815, per il recupero dell opere d’arte. In: Ideologie e patrimonio storico-culturale nell’età rivoluzionaria e napoleonica. A proposito del trattato di Tolentino. Rom 2000, S. 611–631. 12 Joseph Görres: Die Zurücknahme der Kunst und wissenschaftlichen Werke. In: Rheinischer Merkur, Nr. 279 vom 6. 8. 1815, S. 1–2.
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fürstentums Pfalz forderten anlässlich der Verhandlungen mit Frankreich nämlich nicht nur in den zurückliegenden Jahren entnommene Kulturgegenstände, sondern auch Manuskripte und Druckwerke der sogenannten Bibliotheca Palatina für die Heidelberger Universitätsbibliothek zurück, die im Verlauf des Dreißigjährigen Kriegs in den Vatikan gelangt und von dort wiederum von den napoleonischen Truppen nach Paris gebracht worden waren. Der Sonderbeauftragte des Vatikans für die Rückforderungen der römischen Kunstwerke, der Bildhauer Antonio Canova, ließ sich von dem Argument überzeugen, dass eine historisch gewachsene und thematisch geschlossene Sammlung wieder am ursprünglichen Bestandsort zusammengeführt werden sollte, und vermittelte daher die Rückführung zumindest der deutschsprachigen Bestände nach Heidelberg. 13 Die Verhandlungen des Wiener Kongresses über die Rückführung der beschlagnahmten Kulturgüter aus Frankreich hatten also ein äußerst vielgestaltiges und zum Teil auch widersprüchliches Ergebnis. In jedem Fall kommt diesem Ergebnis aber paradigmatische Bedeutung für die weitere rechtliche Entwicklung des Umgangs mit Kulturgütern in bewaffneten Konflikten zu, die hier nur schlaglichtartig angerissen werden kann. Der napoleonische Kunstraub bildete eine Negativfolie, vor der sich während des 19. Jahrhunderts die Kodifizierung des Kriegsvölkerrechts vollzog. 14 Diese Entwicklung weist eine interessante transatlantische Dimension auf, die sich an der Person Francis Liebers (1800–1872) festmachen lässt. Lieber, geboren 1800 in Berlin, hatte als junger Freiwilliger selbst für Preußen im Napoleonischen Krieg gekämpft, wurde als deutschnationaler Demokrat jedoch im Vormärz politisch verfolgt und emigrierte 1827 in die Vereinigten Staaten. Dort wurde er zu einem Begründer der Politikwissenschaft und des Völkerrechts. Einen epochalen Beitrag zur Entwicklung des Kriegsrechts leistete er 1863, als er im Amerikanischen Bürgerkrieg als Berater Präsident Lincolns den heute sogenannten Lieber Code entwarf, der das Verhalten der Nordstaaten-Armee im bewaffneten Kampf regeln sollte. 15 Dies war der erste schriftlich kodifizierte Rechtsrahmen für die Kriegsführung überhaupt. Wichtig für das Thema der Kulturrestitution
13 Erik Jayme: Antonio Canova (1757–1822) als Künstler und Diplomat. Zur Rückkehr von Teilen der Bibliotheca Palatina nach Heidelberg in den Jahren 1815 und 1816. Heidelberg 1994. 14 Ludwig Engstler: Die territoriale Bindung von Kulturgütern im Rahmen des Völkerrechts. Köln u. a. 1963; Christoff Jenschke: Der völkerrechtliche Rückgabeanspruch auf in Kriegszeiten widerrechtlich verbrachte Kulturgüter. Berlin 2005; John H. Merryman / Albert E. Elsen: Law, Ethics and the Visual Arts. Den Haag u. a. 2002. 15 Theodor Meron: Francis Lieber’s Code and Principles of Humanity. In: Columbia Journal of Transnational Law 36 (1998), S. 269–281; Richard S. Hartigan: Lieber’s Code and the Law of War. Chicago 1983.
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war es vor allem, dass Lieber materielle Güter, die der Kultur, der Bildung und der Wissenschaft dienten, als eine eigene Eigentumskategorie fasste, die im Rahmen von Kampfhandlungen nicht angetastet und von militärischen Eroberern zwar in Beschlag genommen werden, bis zum Abschluss eines Friedensvertrags aber nicht in ihren Besitz übergehen konnte. Der Lieber Code war deswegen so einflussreich, weil seine Bestimmungen nur wenige Jahre später vom Schweizer Völkerrechtler Johann Caspar Bluntschli in die erste systematische Zusammenstellung des Kriegsvölkerrechts aufgenommen wurde. Darin heißt es: „Die Schulen, die Bibliotheken, die Laboratorien, die Sammlungen sind für die Zwecke der Bildung und der Wissenschaft gegründet. Eben deshalb sind sie, wie die Amerikanischen Kriegsvorschriften es ausdrücken (§ 34) [hiermit ist der Lieber Code gemeint, B.N.], nicht im Sinne des Kriegsrechts als öffentliches Vermögen zu betrachten und sollen ihren Zwecken nicht entfremdet werden. Der Raub von Kunstschätzen und Denkmälern, noch in den Revolutionskriegen zu Anfang dieses Jahrhunderts oft geübt, erscheint dem öffentlichen Gewissen bereits als anstößig und widerrechtlich, weil diese Dinge keinen nahen Bezug auf den Staat und den Krieg haben, sondern der friedlichen Cultur der bleibenden Nation dienen.“ 16
Und von dieser Arbeit Bluntschlis führt wiederum ein direkter Weg zu den Bestimmungen des sogenannten 1. Haager Abkommens über die Bestimmungen und Gebräuche des Landkriegs von 1899, in dem jede absichtliche Entfernung, Zerstörung oder Beschädigung von geschichtlichen Denkmälern und von Werken der Kunst und Wissenschaft als verboten bezeichnet wurde. Damit war völkerrechtlich verbindlich fixiert, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Kontinentaleuropa schon anerkannte Praxis gewesen war. Ein bekanntes Beispiel dafür, wie die Zerstörung von Kulturgütern im Krieg reguliert werden konnte, war die Bibliothek im belgischen Löwen, die Anfang des Ersten Weltkriegs von den einrückenden Deutschen in Brand gesetzt wurde. Dafür leistete das Deutsche Reich im Rahmen des Versailler Vertrags später Ersatz in Form von „gleichwertigen“ anderen Handschriften und Bibliotheksbeständen. 17
16 Johann Capar Bluntschli: Das moderne Völkerrecht der civilisierten Staaten als Rechtsbuch dargestellt. Nördlingen 1868, S. 37; vgl. auch Betsy Röben: Johann Caspar Bluntschli, Francis Lieber und das moderne Völkerrecht 1861–1881. Baden-Baden 2003. 17 Wolfgang Schivelbusch: Die Bibliothek von Löwen. Eine Episode aus der Zeit der Weltkriege. München / Wien 1988.
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3. Außereuropäische Archäologie und nationales Kulturerbe Der Verrechtlichungsprozess im Umgang mit Kulturgütern, der nach den Napoleonischen Kriegen einsetzte und sich eng darauf bezog, betraf nur in militärischen Konflikten erbeutete Güter, veränderte aber auch in anderen Bereichen die Wahrnehmung. Ein Beispiel dafür ist der wohl bis heute bekannteste und meistdiskutierte Fall transferierten Kulturguts in Europa im 19. Jahrhundert, nämlich die sogenannten Elgin Marbles. Diese sind Teile des Athener Parthenon-Tempels und wurden um 1800 von dem britischen Gesandten Thomas Bruce, Earl of Elgin, der von den osmanischen Behörden eine schriftliche Erlaubnis zu archäologischer Forschung und Sammlung auf dem Tempelgelände erhalten hatte, in mehrmonatiger Arbeit von dem Gebäude abgebrochen und in seine Heimat verschifft, wo die Teile schließlich 1816 vom British Museum angekauft wurden. Bereits während des Schifftransports sprach sich die Meldung in Europa herum, und es erhoben sich kritische Stimmen, die die Verbringung der Tempelteile als barbarischen Akt qualifizierten. 18 Die Diskussion darüber erreichte schließlich auch das britische Parlament, das dazu einen eigenen Untersuchungsausschuss einrichtete, der klären sollte, ob die Abnahme und Verschiffung der Teile rechtmäßig war. Da Elgin und sein Rechtsbeistand auf schriftliche Erlaubnisdokumente verweisen konnten – die allerdings nichts vom Abmontieren von Gebäudeteilen sagten und auch nicht im Original vorgelegt wurden –, kam die Kommission schließlich zum Ergebnis, dass der Erwerb und damit auch der Erwerb durch das British Museum rechtmäßig waren. 19 Das ist die britische Rechtsposition bis in die Gegenwart. Während es sich bei den Elgin Marbles um Objekte der griechischen Antike handelte, setzte sich bezogen auf Altertümer außereuropäischer Herkunft erst allmählich ein Bewusstsein von deren Schutzwürdigkeit durch, wie sich besonders gut am Beispiel Ägyptens verfolgen lässt. Schon die napoleonische Militärexpedition 1798 war das Ergebnis eines verstärkten europäischen Interesses an den dortigen Altertümern, auf das sie wiederum ganz erheblich zurückwirkte. Viele der von den Franzosen gesammelten Kulturobjekte wurden ihnen nach der militärischen Niederlage gegen die Briten allerdings von diesen abgejagt, so dass Stücke wie
18 William St. Clair: Lord Elgin and the Marbles. Oxford 1983; Greenfield (Anm. 3), S. 41–96; John H. Merryman (Hrsg.): Imperialism, Art and Restitution. Cambridge 2006; ders.: Thinking About the Elgin Marbles. Critical Essays on Cultural Property, Art and Law. Alphen 2009. 19 Report from the Select Committee on the Earl of Elgin’s Collection of Sculptured Marbles. London 1816.
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der sogenannte Rosetta Stone ihren Weg in das British Museum fanden, wo sie bis heute ausgestellt werden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lieferten sich britische und französische Repräsentanten im osmanischen Ägypten unter der Herrschaft des Gouverneurs Muhammad Ali Pascha einen regelrechten Wettlauf um die spektakulärsten archäologischen Sammlungstrophäen, die jeweils für die zentralen Nationalmuseen, den Louvre und das British Museum, bestimmt waren. 20 Ein häufig vorgebrachtes Argument war es dabei, die archäologischen Funde durch den Export nach Europa vor Zerstörung oder Verfall zu retten, da es in Ägypten zunächst kaum eine Infrastruktur für die Sicherung und Pflege der altägyptischen Kulturdenkmäler gab. Allerdings spielten auch kommerzielle Interessen eine erhebliche Rolle, da viele der Expeditionen durch den Verkauf von Fundstücken nach Europa refinanziert wurden bzw. Gewinn erbrachten. Der sich entfaltende Markt für ägyptische Altertümer führte darüber hinaus aber auch dazu, dass zahlreiche europäische Touristen das Land auf der Suche nach Kostbarkeiten und Erinnerungsstücken bereisten. Dabei ging es nicht in erster Linie um den künstlerischen oder kulturellen Wert dieser Objekte, sondern diese waren oftmals eher wegen ihres exotischen oder makabren Charakters begehrt, wie zum Beispiel Mumien. Die Nachfrage aus Europa führte außerdem dazu, dass die Suche nach antiken Gräbern und deren Plünderung zu einem eigenen Wirtschaftszweig wurde, an den sich weit verzweigte Handelsnetze, aber auch eine ausgedehnte Produktion gefälschter Altertumsstücke anlagerten. 21 Um der grassierenden Zerstörung und Plünderung entgegenzuwirken, erließ die ägyptische Regierung 1835 ein Gesetz, das die Ausfuhr weiterer antiker Objekte untersagte, vorerst alle laufenden Grabungsaktivitäten verbot und anordnete, dass alle Altertümer, die sich in Staatsbesitz befanden oder noch zu Tage gefördert würden, in Kairo zusammenzuführen waren und dort angemessen aufbewahrt und ausgestellt werden sollten. 22 20 Holger Hoock: The British State and the Anglo-French Wars Over Antiquities 1798– 1858. In: The Historical Journal 50 (2007), S. 49–72; Suzanne L. Marchand: The Dialectics of the Antiquities Rush, in: Annick Fenet / Natacha Lubtchansky (Hrsg.): Pour une histoire de l’archéologie XVIIIe siècle – 1945. Festschrift Ève Gran-Aymerich. Bordeaux 2015, S. 191–206. 21 Peter France: Der Raub der Nofretete. Die Plünderung Ägyptens durch Europa. München 1995; Suzanne L. Marchand: Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany 1750–1970. Princeton 1996; Donald M. Reid: Whose Pharaohs? Archaeology, Museums and Egyptian National Identity from Napoleon to World War I. Berkeley 2002; Margarita Diaz-Andreu: A World History of NineteenthCentury Archaeology. Nationalism, Colonialism and the Past. Oxford 2007; Elliott Colla: Conflicted Antiquities. Egyptology, Egyptomania, Egyptian Modernity. Durham 2007. 22 Ordonnance du 15 août 1835 portant mesures de protection des antiquités. In: Antoine Khater: Le régime juridique des fouilles et des antiquités en Égypte. Kairo
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Besonders energisch durchgesetzt wurden diese Bestimmungen allerdings nicht, was sich schon daran zeigt, dass nur ein Jahr später der bekannte Obelisk, der sich heute auf der Pariser Place de la Concorde befindet, nach Frankreich verschifft wurde. Die Situation änderte sich erst ein wenig, als die ägyptische Verwaltung der einheimischen Altertümer immer stärker unter französischen Einfluss geriet und schließlich 1858 der Ägyptologe Auguste Mariette zum Leiter des Service des Antiquités ernannt wurde. 23 Mariette übertrug in gewisser Weise die aus Europa bekannten Konzepte des Kulturgutschutzes und des nationalen Kulturerbes auf Ägypten, bemühte sich um eine konsequentere Durchsetzung des Ausfuhrverbots und der Kontrolle über laufende Grabungen und gründete im Kairoer Ortsteil Bulaq ein zentrales Museum für ägyptische Altertümer, das der Vorläufer des heutigen ägyptischen Nationalmuseums ist. Als 1867 auf der Pariser Weltausstellung Stücke aus ägyptischen Grabschätzen gezeigt wurden und begehrliche Blicke des französischen Königshauses auf sich zogen, setzte sich Mariette energisch für deren Rückführung nach Ägypten ein. Am Beispiel Ägyptens wird also erkennbar, dass die von dort nach Europa transferierten Objekte lange Zeit einen unklaren Status zwischen rein exotischen Sammeltrophäen, wissenschaftlichen Forschungsobjekten und genuin anerkannten Kunstwerken aufwiesen. Auch die zunehmende Verrechtlichung des Kulturgutschutzes seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte nicht verhindern, dass weiter unkontrolliert Fundstücke außer Landes kamen und dass Objekte wie die 1912 entdeckte Büste der Nofretete unmittelbar nach ihrer Präsentation in Deutschland bereits mit Rückgabeansprüchen belegt wurden. 24
4. Koloniales Othering und die Benin-Kunst Während in Ägypten das europäische Konzept des Kulturgüterschutzes gleichsam exportiert wurde, zeigt sich in genuin kolonialen Zusammenhängen, dass hier eine harte Grenze für die Anwendung dieser Vorstellungen existierte. Eines der bekanntesten Beispiele dafür sind die Objekte, 1960, S. 271–273; kommentiert auch unter: https://translanth.hypotheses.org/ueber/ ali-pascha (aufgerufen am 15. 12. 2019). 23 Élisabeth David: Der Antikendienst vor 1914. Paradoxe einer „französischen“ Verwaltung. In: Charlotte Trümpler (Hrsg.): Das große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860–1940). Köln 2010, S. 494–503; Thomas L. Gertzen: Einführung in die Wissenschaftsgeschichte der Ägyptologie. Berlin 2017. 24 Bénédicte Savoy (Hrsg.): Nofretete. Eine deutsch-französische Affäre 1912–1931. Köln u. a. 2011.
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die 1897 aus dem Königreich Benin, das auf dem Staatsgebiet des heutigen Nigeria liegt, nach Europa gelangten. Diese stehen in der deutschen Diskussion momentan häufig im Zentrum und gewissermaßen als pars pro toto für die Problematik der Kolonialkunst, obwohl ihr Fall in vieler Hinsicht speziell ist. An den heute sogenannten „Benin-Bronzen“ lässt sich indes klar erkennen, wie im Zusammenhang mit kolonialem Kulturgut eine komplexe Gemengelage von Aneignung und „Othering“ wirksam war. Der historische Hintergrund der Plünderung von Benin City war bekanntermaßen eine Auseinandersetzung zwischen der britischen Kolonialmacht, zu deren Einflusssphäre das Gebiet seit der Berliner Afrikakonferenz 1884/85 gehörte, und den Herrschern des Königreichs Benin um Herrschaftsrechte und regionale Handelsrouten. Nachdem 1897 die Mitglieder einer britischen Delegation gefangengenommen und getötet worden waren, wurde ein Strafexpeditionskorps entsandt, das schon wenige Wochen später Benin City eroberte und den dortigen König gewaltsam vertrieb. In den Tagen danach wurden die Stadt und der Königspalast umfassend geplündert und die Beutestücke zum Teil als britischer Staatsbesitz verschifft, zum Teil an die Expeditionsmitglieder verteilt. Auf diese Weise gelangten wahrscheinlich insgesamt einige Tausend Objekte in die Ströme des europäischen und später auch amerikanischen Kunsthandels, wodurch viele von ihnen in staatliche Museen gelangten, vor allem ins British Museum und in das Berliner Völkerkundemuseum. 25 Auffällig ist, dass, während zur gleichen Zeit in Europa Rechtsexperten Regeln für den Kulturschutz in internationalen Kriegen entwarfen, diese Aspekte für die Strafexpedition nach Afrika überhaupt keine Rolle spielten, dass sogar der Verkauf erbeuteter Objekte von vornherein eingeplant wurde, um die Kosten dafür zu re-finanzieren. Dabei waren zwei Ebenen des „Othering“ wirksam, die die Vorgänge in Benin als kategorial verschieden von westlich-europäischen Verhältnissen konstruierten: Erstens wurde die militärische Expedition als ein Kampf gegen den Brauch der Menschenopfer in Benin-Stadt überhöht, so dass sie als gerechter Krieg erschien, die Gegner hingegen als inhumane Barbaren wahrgenommen wurden. Zweitens wurde die Beute nicht oder jedenfalls nicht von vornherein als Kulturgut angesehen. Sie bestand zu großen Teilen auch aus Elfenbeinbeständen. Rohstoffe und Bronzen ließen sich gleichermaßen zu Geld machen. Insofern war der Status der Benin-Objekte als handwerklich
25 Reginald H. Bacon: Benin. The City of Blood. London 1897; Robert Home: City of Blood Revisited. A New Look at the Benin Expedition of 1897. London 1982; Salome Kiwara-Wilson: Restituting Colonial Plunder. In: Depaul Journal of Art, Technology and Intellectual Property Law 23 (2013), S. 375–425; Staffan Lundén: Displaying Loot. The Benin Objects and the British Museum. Diss. Gothenburg University 2016.
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hochwertige Kulturerzeugnisse nicht das Motiv für ihre Plünderung, sondern es ging zunächst um das Sammeln von Trophäen und Erinnerungsstücken, die unter anderem deswegen interessant und exotisch schienen, da einige von ihnen mit Ritualen von Menschenopfern in Verbindung zu bringen waren. Auch in den Sammlungen Europas wurden die Benin-Objekte zunächst nicht per se als Kunst angesehen, sondern eher als ethnografische Objekte, die für die Erforschung der afrikanischen Ursprungskultur herangezogen werden konnten. Erste Gelehrte begannen aber bald, die Objekte auch in Hinsicht auf ihre handwerkliche und ästhetische Qualität wahrzunehmen, was gleichzeitig bedeutete, sie tendenziell aus ihrem kulturellen Kontext zu lösen und in ein europäisch-westliches Verständnis von Kunst zu inkorporieren. Längere Zeit wurde in der europäischen Gelehrtenwelt noch diskutiert, unter welchen europäischen Einflüssen die Benin-Kunst entstanden sein könnte, da sich viele Zeitgenossen nicht vorstellen konnten, dass derartig hochwertige Objekte aus einer indigenen afrikanischen Tradition heraus entstanden sein konnten. 26 Es lässt sich also eine rasche Folge von De- und Rekontextualisierungen beobachten, die den Benin-Objekten eine ambivalente Stellung verliehen hat: Trotz anerkanntem Status als nach europäischen Maßstäben hochwertige Kunst fand keine Reflexion über ihren Status als schützenswertes Kulturgut statt, stattdessen wurden sie in das nationale Kulturarsenal in Großbritannien, Deutschland und andernorts inkorporiert, wo sie sich heute noch befinden.
5. Einige Schlussfolgerungen und Vorschläge Im Europa des 19. Jahrhunderts bildete sich also eine heterogene Landschaft der Verrechtlichung im Umgang mit Kulturgütern heraus. Einerseits entwickelte sich Kulturgutschutz zur anerkannten Rechtspraxis, die juristisch kodifiziert war und Mechanismen der Restitution kannte. Andererseits unterlag diese Entwicklung einem abgestuften Zentrum-PeripherieGefälle entlang imperialer und kolonialer Machtasymmetrien. Gleichzeitig bildeten sich im 19. Jahrhundert konkurrierende Anspruchsprinzipien in Bezug auf Kulturgüter heraus, die sich gleichermaßen auf den Gedanken des Kulturgutschutzes beriefen. John H. Merryman, einer der weltweit
26 Elazar Barkan: Aesthetics and Evolution. Benin Art in Europe. In: African Arts 30 (1997) H. 3, S. 36–41; Rebekka Habermas: Benin Bronzen im Kaiserreich – oder warum koloniale Objekte so viel Ärger machen. In: Historische Anthropologie 25 (2017), S. 327–352; Sabine Schulze / Silke Reuther: Raubkunst? Die Bronzen aus Benin im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Hamburg 2018.
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führenden Experten für Kunstrecht, hat versucht, ein universalistisches, kosmopolitisches Prinzip und ein nationales Prinzip zu unterscheiden. 27 Während das kosmopolitische Prinzip Kulturwerte im Namen der gesamten Menschheit schützen möchte, unabhängig davon, wo und in welchem Besitz sich diese befinden, geht das andere Prinzip vom Konzept des nationalen Kulturguts aus, das als ein solches schützenswert sei und daher nicht über die Grenzen des ‚Heimatstaats‘ hinaus verbracht werden dürfe. Merryman sieht diese beiden Prinzipien jeweils in den entscheidenden völkerrechtlichen Konventionen zum internationalen Kulturgutschutz seit 1945 festgehalten: Während die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten aus dem Jahr 1954 vom kosmopolitischen Prinzip getragen sei, artikuliere sich in der 1970 verabschiedeten und von vielen Staaten nur sehr zögerlich ratifizierten UNESCO-Konvention über den unzulässigen Transfer von Kulturgut das nationale Prinzip. 28 In längerer Perspektive zeigt sich allerdings, dass sich diese Prinzipien keineswegs so eindeutig auseinanderhalten lassen. Gerade das heute oftmals beschworene kosmopolitische Prinzip ist historisch in Wahrheit auf das Engste mit imperialen Praktiken der Aneignung mit dem Ziel der Mehrung nationalen Prestiges verwoben. Auch der Versuch führender westlicher Museen, mit der 2002 verabschiedeten Erklärung zum Konzept des Universalmuseums das kosmopolitische Prinzip für das 21. Jahrhundert neu zu formulieren, geht über diese historischen Zusammenhänge und Belastungen hinweg. 29 Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch, dass die Konstitution nationalen Kulturguts historisch immer ein Ergebnis dezisionistischer Akte der Deklaration und Aneignung darstellte, die historisch häufig vollkommen kontingent waren. Nicht selten ‚wurden‘ Kulturgüter erst zu nationalen Kulturgütern in einem Prozess der De- und Rekontextualisierung oder sogar erst durch die Verbringung vom Herkunftsort an einen anderen Ort. Dieser historische Befund stellt sich allen Versuchen entgegen, nationales Kulturgut essentialistisch als etwas per se Gegebenes aufzufassen und auf dieser Grundlage Ansprüche zu erheben oder zurückzuweisen.
27 John H. Merryman: Two Ways of Thinking About Cultural Property. In: Ders. (Anm. 18), S. 82–107. 28 Convention for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict with Regulations for the Execution of the Convention. Den Haag 14. 5. 1954; Convention on the Means of Prohibiting and Preventing the Illicit Import, Export and Transfer of Ownership of Cultural Property. Paris 14. 11. 1970, beide Texte unter: http://en.unesco.org (aufgerufen am 15. 12. 2019). 29 Declaration on the Importance and Value of Universal Museums, Dezember 2002, u. a. abgedruckt in: Merryman (Anm. 18), S. 34–36.
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Was können uns diese Beobachtungen für die heutige Debatte um die Restitution von Kulturgütern sagen? Die Geschichte der Genese, Vermischung und Verflechtung unterschiedlicher Anspruchsprinzipien kann uns auch darauf hinweisen, dass es in der Debatte um die Restitution von Kulturgut keinen absoluten Maßstab geben und dass die Debatte auch nicht unabhängig von bestimmten Objekten oder Objektgruppen geführt werden kann, denn welche Aufladungen und Bedeutungszuschreibungen diese Objekte erfahren haben oder noch erfahren, ist ein wichtiger Teil der historischen Translokationsprozesse. Gleichzeitig scheint aber auch ein Blick nur auf die Wege von Objekten nicht hinreichend, um sich über Wegnahmen und Rückgaben zu verständigen. In der momentanen Debatte wird meistens reflexhaft auf die Notwendigkeit zur Provenienzforschung verwiesen. Das greift aber zu kurz und führt in die Irre, denn Provenienzforschung fördert nicht als solche die Antwort auf die Frage zu Tage, wie mit bestimmten Objekten umgegangen werden sollte. Die zugrunde liegende Vorstellung, dass man für jedes Objekt einzeln bewerten kann, ob es rechtmäßig oder unrechtmäßig an seinen heutigen Aufbewahrungsort gelangt ist, scheint, auch unabhängig davon, ob dies überhaupt praktisch herauszufinden ist, problematisch. Denn welches Recht galt 1815 in Wien, welches 1850 in Kairo, welches 1897 in Benin? Rechtsexperten behaupten, dies zweifelsfrei bestimmen zu können, aber befriedigen können diese Versuche nicht wirklich. 30 Anstelle von umfangreicher Provenienzforschung sollten daher zukünftig auch Forschungsprojekte zur Geschichte der Vorstellungen von Kulturgutschutz gefördert werden, die nicht nur westlich-europäische Perspektiven berücksichtigen, sondern die historische Pluralität und oftmals widersprüchliche Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Diskurse und Konzepte in den Blick nehmen. 31 Nicht zuletzt die historische Erfahrung der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Raubpolitik hindert uns daran, rechtspositivistische Positionen zu akzeptieren, nach denen einfach die Rechtspraxis und das geschriebene Gesetz der Zeitgenossen, sofern überhaupt eindeutig feststellbar, den Maßstab der heutigen Beurteilung bilden sollten. Kann uns daher die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs auch im Umgang mit kolonialer Kunst den Weg weisen? Ja und Nein. Verschiedentlich ist der Vorschlag gemacht worden, analog etwa zu den alliierten Restitutionsregelungen der
30 Vgl. etwa die Untersuchungen John Merrymans zu den Elgin Marbles: John H. Merryman: Thinking About the Elgin Marbles. In: Ders. (Anm. 18), S. 24–63. 31 Hierzu etwa die Beiträge in Elazar Barkan / Ronald Bush (Hrsg.): Claiming the Stones, Naming the Bones. Cultural Property and the Negotiation of National and Ethnic Identity. Los Angeles 2002.
Kulturgutschutz in Europa zwischen Verrechtlichung und Kolonialpraxis
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Nachkriegszeit 32 einfach das gesamte Phänomen des europäischen Kolonialismus zu einem Unrechtskomplex zu erklären und infolgedessen eine Beweislastumkehr zu etablieren, wonach jeder Besitztransfer im kolonialen Kontext juristisch so lange als ungültig zu betrachten wäre, bis das Gegenteil nachgewiesen ist. Ob diese ‚Maximalforderung‘, die auch ein starkes erinnerungspolitisches Signal enthält, durchsetzbar und praktikabel ist, erscheint allerdings sehr fraglich. Waren schon in der Wiedergutmachung für NS-Unrecht die Grenzen zwischen genuin nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen und ‚gewöhnlichen‘ Zeit- oder Kriegsumständen oftmals nur schwer zu ziehen – nicht zuletzt, weil dies immer vergangenheitspolitisch höchst umstrittene Aussagen beinhaltete –, 33 so dürfte das für die Jahrhunderte des europäischen Kolonialismus kaum überzeugend gelingen. 34 Gerade weil strikte rechtliche Verfahren auch in der Bewältigung des NS-Kunstraubs nicht hinreichten, könnten aber die „Washington Principles“ als Leitbild dienen, die 1998 auf einer internationalen Konferenz zum Umgang mit den vermögensrechtlichen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus verabschiedet worden sind. 35 Allerdings gilt es dabei, viele umlaufende Missverständnisse zu vermeiden: Die Washingtoner Prinzipien sprechen nicht von einer generellen Pflicht zur Restitution während der NS-Zeit entzogener Kunstgegenstände, sondern sie zielen darauf, die Voraussetzungen zu schaffen, um überhaupt in die Auseinandersetzung darüber einzutreten. Hierzu gehören zuallererst eine Bestandsaufnahme, welche strittigen Objekte in öffentlichen Sammlungen vorhanden sind, sowie die Veröffentlichung dieser Bestände in allgemein einsehbaren Datenbanken und Registern. 36 Dies scheint auch im Falle des kolonialen Kulturguts der entscheidende Schritt, wichtiger als die Provenienzforschung 32 Hierzu u. a. Constantin Goschler: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945. Göttingen 2005; Jürgen Lillteicher: Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik. Göttingen 2007. 33 Siehe etwa die Beiträge in Hans Günter Hockerts / Claudia Moisel / Tobias Winstel (Hrsg.): Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa. Göttingen 2006. 34 Für den Versuch einer präziseren Bestimmung von Situationen und Konstellationen kolonialer Objekterwerbungen, die eine Rückgabe nahelegen, siehe Sarr / Savoy (Anm. 1), S. 125–127. 35 Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art, 3. 12. 1998. In: Washington Conference on Holocaust-Era Assets. November 30 – December 3, 1998. Proceedings. Washington, D.C. 1999, S. 971 f. 36 Gunnar Schnabel / Monika Tatzkow: Nazi Looted Art. Handbuch Kunstrestitution weltweit. Berlin 2007, S. 192–198; Benno Nietzel: Von der Londoner Goldkonferenz zur Theresienstädter Erklärung. Die internationalen Holocaust-Konferenzen 1997– 2009. In: José Brunner / Constantin Goschler / Norbert Frei (Hrsg.): Die Globalisie-
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im Einzelnen. Des Weiteren erkennen die Washingtoner Prinzipien die Tatsache an, dass Streitfälle um NS-Raubkunst heute im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung meist nicht befriedigend zu lösen sind. Folgt man diesen Gedanken, wird klar, dass die Restitution von kolonialen Kulturgütern weder ein juristischer Vorgang noch ein unilateraler Entscheidungsakt westlicher Regierungen sein kann und auch nicht sein sollte. Restitution kann nur aus Interaktion und wechselseitiger Auseinandersetzung heraus erfolgen. Daher greift das Konzept einer Restitution als Rückführung eines Objekts von A nach B überhaupt zu kurz. Würde die Angelegenheit nur darin bestehen, wäre die Gelegenheit versäumt, über die reine Rückgabe hinaus den Raum für ein Gespräch zu eröffnen, in das unterschiedliche Perspektiven eingehen. Inspirierend könnte das Konzept von Restitution sein, das der israelisch-amerikanische Historiker Elazar Barkan um die Jahrtausendwende angesichts der Debattenkonjunktur um historisches Unrecht und seine Bewältigung entwickelt hat. 37 Er stellt weniger das Materielle in den Vordergrund, sondern sieht als das Wesentliche die Verhandlungen selbst, die intensive Interaktion zwischen verschiedenen, über historische Unrechtsmaßnahmen verflochtenen Gruppen und ihren Vertretern, die erst dadurch eine gemeinsame Deutungs- und Handlungsperspektive erlangen. Nicht so sehr um das Ergebnis geht es dabei, sondern darum, dass um eine Lösung auf der Basis ethisch-moralischer Erwägungen, nicht formaljuristischer Prinzipien, verhandelt wird. Teillösungen sind daher besser als gar keine Lösungen, ein ausgehandeltes Ergebnis ist besser als ein vorab festgelegtes. 38 Ob und wie Objekte zurückgegeben werden, wäre dann erst der letzte Schritt innerhalb eines offenen Dialogs, den zu beginnen das Entscheidende ist.
rung der Wiedergutmachung. Politik, Moral, Moralpolitik. Göttingen 2013, S. 150– 175. 37 Elazar Barkan: Völker klagen an. Eine neue internationale Moral. Düsseldorf 2002. 38 Ebd., S. 361. Vgl. auch den Beitrag von Lukas H. Meyer im vorliegenden Band.
Till Förster
Alternativen zur Restitution? Lokale Perspektiven auf ein globales Problem 1. Einleitung Die Debatte über die mögliche oder wünschenswerte Restitution afrikanischer Kunst wird intensiv geführt. Weltweit anerkannte afrikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler und noch mehr Intellektuelle aus allen Teilen des Kontinentes äußern sich dazu. 1 Merkwürdig abwesend sind in dieser Debatte jedoch die Stimmen derer, die mit diesen Werken einmal umgegangen sind oder heute umgehen würden, wenn sie noch in Afrika wären. Die lokale Perspektive findet in der sich entfaltenden diskursiven Formation zumindest nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie die transnationale derer, die sich auf jedem Parkett sicher bewegen. Dieses vermeintliche Schweigen der lokalen Akteure hat viele Gründe. Sicher spielt eine Rolle, dass sie sich nicht oder nur selten in einer der großen internationalen Verkehrssprachen artikulieren können, die meistens zugleich die Verkehrssprachen der ehemaligen Kolonialverwaltungen sind. Einen Einfluss hat sicher auch, dass Menschen, die auf dem Lande leben, selten viel Erfahrung im Umgang mit den Medien haben sammeln können, in denen dieser Diskurs sich entfaltet hat.
1 Die Debatte wurde seit Jahrzehnten geführt, aber neu angestoßen durch den Bericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr (gekürzt deutsch: Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Berlin 2019). Einen Überblick über die Reaktionen und Beiträge aus Afrika und Europa bieten Achille Mbembe / Felwine Sarr (Hrsg.): Politique des temps. Imaginer les devenirs africains. Paris 2019, sowie Anna Codrea-Rado: Senegal Responds to Looted Art Report. In: The New York Times 1. 12. 2018, section C, S .3, online als: African Officials Respond to France’s Restitution Report, https://www.nytimes.com/2018/11/30/arts/ design/africa-macron-report-restitution.html (aufgerufen am 17. 12. 2019).
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Doch diese praktischen Hindernisse, die tatsächlich für viele, die auf dem Lande leben, kaum zu überwinden sind, verbergen, dass sich die Menschen auf der lokalen Ebene durchaus artikulieren – nur eben nicht in den Idiomen und diskursiven Formationen, die im Globalen Norden wahrgenommen werden. Darüber hinaus verschleiern sie, dass koloniale Strukturen und Hierarchien auch heute noch fortbestehen und nicht mit der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Staaten um das Jahr 1960 zu einem Ende gekommen sind. Eine dekoloniale Perspektive auf die Restitutionsdebatte darf sich nicht darauf beschränken, die Stimmen derer nachzuzeichnen, die sich in den im Globalen Norden zugänglichen Medien äußern. Es ist aber auch die Komplexität des Austauschs zwischen den Akteuren auf den verschiedenen Ebenen in den Blick zu nehmen. Das dörfliche Milieu, aus dem die meisten Künstler stammen, die die Werke schufen, die heute in den großen Kunstmuseen der Welt gezeigt werden, ist keineswegs so homogen, dass es sich in wenigen Worten darstellen ließe. Vielfältige Spannungen und Interessenskonflikte gibt es auch dort. Nur eine profunde Kenntnis solcher lokalen Umstände kann die Motive von Künstlern, von Händlern, von Bauern und von allen, die Ansprüche auf diese Werke erheben, verständlich machen. Daher kann dieser Artikel keine allgemeine Antwort auf die Frage liefern, wie die Menschen, die diese Werke geschaffen haben, den Verlust ihres Eigentums sehen. Vielmehr lässt sich nur anhand eines Beispiels zeigen, wie eine solche Analyse der komplexen Beziehungen und Interaktionen vor Ort aussehen müsste. Doch auch ein solches Einzelbeispiel zeigt schon, dass die Menschen nicht nur unterschiedliche Interessen haben und entsprechend handeln, sondern auch, dass sich die Ziele der Handelnden ändern. Trotz aller Kontinuität, die die koloniale und postkoloniale Zeit verbindet, hat auch der Handel mit afrikanischer Kunst und der Blick darauf eine Geschichte. Als Beispiel dienen mir in diesem Beitrag Erfahrungen, die ich seit 1979 und über viele Jahre in der nördlichen Côte d’Ivoire und in den benachbarten Regionen Westafrikas gemacht habe. 2 Sie sind nicht repräsentativ, aber Parallelen zu anderen Teilen Afrikas lassen sich schnell finden. Der größere Teil der Forschung wurde im ländlichen Milieu durchgeführt, ergänzend auch in zwei Städten, von denen die größere ein wichtiges Zentrum für den Handel mit Kulturgütern war. Die folgenden Äußerungen der Schnitzer, Händler und Bauern sind fast alle spontan in Gesprächen
2 Den Rahmen bildeten mehrere Forschungsprojekte, die sich künstlerischen Ausdrucksformen widmeten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und später vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurden.
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gefallen. 3 Als ich 1990 zu einer langen Feldforschung in den Norden der Côte d’Ivoire aufbrach, hatte ich vor, die ästhetischen Urteile und Werte im Milieu der Handwerker und Künstler zu erforschen, die gewöhnlich Senufo genannt werden. Dazu nahm ich Fotos von Werken aus europäischen und nordamerikanischen Sammlungen mit, die – nach unseren westlichen Kriterien – herausragende, weniger herausragende und mittelmäßige Stücke zeigten. Diese Aufnahmen wollte ich lokalen Schnitzern zeigen und mit ihnen bereden, welche Stücke denn nun ‚die besten‘ wären und warum. So hoffte ich zu erfahren, wo ihre und unsere ästhetischen Urteile übereinstimmten und wo nicht. Die Gespräche, die sich in diesem Zusammenhang entfalteten, berührten viele Aspekte des künstlerischen Schaffens der Schnitzer, die im Grunde nicht mit den jeweiligen Forschungsfragen verknüpft waren, aber viele für die Menschen vor Ort wichtige Bezüge zu anderen Bereichen ihrer Lebenswelt beleuchteten.
2. Die Entdeckung eines alten Schnitzers Kana heißt „männliche Ziege“ oder einfach „Ziegenbock“. 4 Die Vornamen der Senufo sind ungewöhnlich. Sie gehen oft auf ein Ereignis zurück, das der Mutter während der Schwangerschaft widerfuhr. Oder sie greifen einen Namen auf, den schon ein Vorfahr getragen hat. Kana stammte aus einem Clan von Schnitzern, wo viele solche im wörtlichen Sinne merkwürdigen Namen trugen. Dieses Handwerk steht nicht jedem offen. Man muss in einen Clan von Schnitzern hineingeboren sein, um das Handwerk ausüben zu können. Bereits als ein Junge hatte Kana sich an kleinen Hockern, dann Löffeln und anderen Haushaltsgegenständen versucht. Dann lernte er in einer der Werkstätten, die die Schnitzer im Ort unterhielten. Eigentlich war es nur ein Strohdach, Wände gab es nicht. Doch darunter saßen sie und schnitzten nach, was die Älteren unter ihnen schon beherrschten: Masken und Figuren, die mehr einbrachten als die Haushaltswaren. Als er ein junger Mann war und gelernt hatte, was er von den Älteren hatte lernen können, ging er auf die Walz. Die Jahre, die er von Ort zu Ort in der Region zog, machten ihn mit allem vertraut, was er zu Hause in 3 Interviews wurden nur ergänzend und nur dann geführt, wenn in den Gesprächen nicht alle Aspekte hinreichend geklärt werden konnten. Offene Gespräche haben gegenüber Interviews den großen Vorteil, dass die Gesprächspartner das Thema nicht nur beeinflussen, sondern auch verschieben oder setzen können. Außerdem fehlt spontanen Gesprächen der hierarchische Charakter von Interviews, in denen Rollen starr fixiert sind. 4 Das Senari, die Sprache der Senufo, kennt keine Geschlechter, sondern fünf Nominalklassen. Das Geschlecht muss daher mittels eines Adjektivs gekennzeichnet werden.
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der Schnitzerkolonie seiner Vorfahren nicht hatte lernen können. Als Kana sich mit Mitte 20 wieder zu Hause niederließ, war er ein Schnitzer, der sich in vielen Genres und Stilen auskannte. Er wusste, welche Figuren oder Masken wo gebraucht wurden und was die Menschen dort dafür zu zahlen bereit waren. Lange Zeit wurde noch in Kaurischnecken gerechnet, erst in den 1950er- und 1960er-Jahren setzte sich das von den Kolonialherren eingeführte Geld für solche Käufe durch. Doch den Wert einer Skulptur verhandelte man weiterhin in Kauris. Erst wenn man sich einig war, wurde deren Zahl in bare Münze umgerechnet. Kana wäre der ideale Partner, um mir zu den Stücken, deren Fotos ich hatte, Auskunft zu geben. Er war schon ein alter Mann, als ich ihm die Fotos 1990 zeigte. Zwei Jahre zuvor war er zum Ältesten und damit Sprecher der Schnitzerkolonie aufgestiegen. Er war Ansprechpartner nach außen, verhandelte mit denen, die eine Figur oder eine Maske in Auftrag geben wollten, und teilte dann die Arbeit den Schnitzern in der Kolonie zu, die das Genre am besten beherrschten. 5 Kana kannte seine Leute und wusste genau, wer für was begabt war und wer nicht. Wenn jemand eine Figur oder eine Maske in Auftrag geben wollte, wandte sich der Kunde also zuerst an ihn, Kana. Das waren die Aufgaben eines Ältesten, die er schon viele Jahre wahrnahm. Sein Vorgänger litt schon lange unter einem rheumatischen Leiden und konnte sich kaum mehr bewegen. Manche in der Nachbarschaft munkelten, dass Kanas Vorgänger das Opfer eines Zauberers geworden sei. Daher brachte sein Tod für Kana kaum neue Pflichten. Kana tat weiterhin, was er schon lange getan hatte. Nur war er nun auch als Ältester der Schnitzer des Orts anerkannt. Wir hatten uns gleich mehrere Nachmittage Zeit genommen, um zusammen die Fotos durchzugehen. Es war ein großer Stapel, um die 120 Aufnahmen, die größtenteils aus Ausstellungs- und Sammlungskatalogen abfotografiert oder kopiert waren. Die meisten Stücke waren als „Senufo“ ausgewiesen. Einige trugen auch andere Bezeichnungen, denn Senufo war eine koloniale Sammelbezeichnung, die der ethnischen Vielfalt in der Region nicht Rechnung trug. Sie wurde 1906 anlässlich der Kolonialausstellung in Marseille von dem französischen Kolonialbeamten und Sprachwissenschaftler Maurice Delafosse eingeführt und als Bezeichnung für ein Volk mit einer Kultur in das koloniale Archiv aufgenommen. 6 Dieses umfasste materielle wie immaterielle Dinge, die man in Europa in einem lockeren
5 Till Förster: Work and Workshop. The Iteration of Style and Genre in Two Workshop Settings, Côte d’Ivoire and Cameroon. In: Ders./Sidney Kasfir (Hrsg.): African Art and Agency in the Workshop. Bloomington 2013, S. 325–359. 6 Maurice Delafosse: Le cercle de Korhogo. In: Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française (Hrsg.): La Côte d’Ivoire. Marseille 1906, S. 312–422, hier S. 312.
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Sinne zur Kultur eines Volks rechnete. Schlussendlich war es eine offene und beliebig erweiterbare Liste, wie sie 35 Jahre zuvor von Edward Burnett Tylor, dem Gründer der englischen anthropology, propagiert und zur Grundlage der kolonialen Ethnologie gemacht worden war. 7 Im kolonialen Archiv besaß jeder Ethnos nur eine Kultur und nur eine Kunst, die in Form, Gestalt, Stil und Ausdruck eindeutig als solche zu erkennen war. Im Hinblick auf Skulptur und Plastik hieß das, dass der afrikanische Kontinent wie eine Landkarte mit „Stilzentren“ überzogen war. 8 Obwohl Senufo als ethnischer Name eine koloniale Schöpfung war und dem Namen keine lokale Vorstellung einer kohärenten Kultur oder Kunst entsprach, diente er doch zur Klassifikation des künstlerischen Schaffens in der Region, die sich über die französischen Kolonien Côte d’Ivoire, Soudan Français und Haute Volta erstreckte, heute Côte d’Ivoire, Mali und Burkina Faso. Dass ethnische Gruppen und deren Kunst durch den Kolonialismus konstruiert wurden, heißt jedoch nicht, dass sie nach der Unabhängigkeit irrelevant wurden oder sind. Jahrzehntelang haben sich die verschiedensten Verwaltungsakte daran orientiert, so dass sie eine soziale und politische Realität geblieben sind. Ihre diskursive Macht ist nach wie vor gewaltig, wie die fast ein Jahrzehnt dauernde militärische und politische Krise in der Côte d’Ivoire zeigt. Zweimal mündete sie in einen blutigen Bürgerkrieg. Als ich dem alten Schnitzer die Bilder mit Objekten aus europäischen und nordamerikanischen Sammlungen zeigte, war die militärische Zuspitzung noch nicht abzusehen – aber sehr wohl die Probleme, die um die Jahrtausendwende dazu führen sollten. Schlussendlich hatte die koloniale Ideologie nicht nur die Kultur, sondern zusammen mit ihr auch die Kunst der von den Kolonialherren konstruierten Ethnien zum Objekt gemacht. Das sollte sich in unseren Gesprächen bald zeigen – wenngleich auf andere Art und Weise, als ich ahnte. Kana hatte kleine, feingliedrige Hände – ungewöhnliche Hände für jemanden, der sein ganzes Leben mit den Händen gearbeitet hatte. Er war bedächtig, als er ein Blatt nach dem anderen in die Hand nahm. Wenn ihn etwas interessierte, drehte er das Foto wie eine Skulptur, die man von allen Seiten ansehen will, um sich ein vollständiges Bild zu machen. So sah er manchmal auf die entsprechende Skulptur, wenn er sie auf dem Kopf stehend hielt, manchmal von der Seite und dann wieder aufrecht so, wie sie aufgenommen worden war. Auf meine Fragen, welches Stück denn nun das ‚Schönste‘, das ‚Beste‘ oder schlicht das ‚Stärkste‘ sei, antwortete 7 Edward Burnett Tylor: Primitive Culture. 2 Bde. London 1871, hier Bd. 1.1. 8 Carl Kjersmeier: Centres de style de la sculpture nègre africaine. 4 vols. Paris / Kopenhagen 1935–1938.
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er bereitwillig. Jedoch waren seine Antworten nicht die, die man seitens eines Sammlers oder Connaisseurs hätte erwarten dürfen. Die ‚schönsten‘ Stücke waren stets die, die in Riten eine herausragende Rolle spielten, etwa die Masken, die für die dörflichen Bünde bei Beerdigungen agierten. Das Senari-Wort ɲɔ, welches meistens als „schön, beau / belle, joli / jolie, beautiful“ in europäische Sprachen übersetzt wird, verknüpft sich immer mit einem Zweck, in diesem Falle dem Zwecke des rituellen Handelns. Mit anderen Worten: Der Gedanke der künstlerischen Autonomie ist dem Senari fremd. Insofern liefen meine Mühen, auf diesem Weg etwas über ästhetische Urteile zu erfahren, ins Leere. Ähnlich ins Leere lief meine Erwartung, dass Kana aufgrund seiner profunden Kenntnisse der Region und der Schnitzerkolonien individuelle Stile oder wenigstens Werkstattstile würde identifizieren können. Es war in den 1970er und 1980er-Jahren ein großes Thema in der Kunstethnologie, und ich hoffte, auch hier würden die Kenntnisse Kanas mich weiterführen. Doch auch dem war nicht so. Er konnte zwar einige Werkstätten identifizieren, aber er verband diese mit keinen Künstlerpersönlichkeiten. Diese spielten offensichtlich nur innerhalb der jeweiligen Werkstatt und Schnitzerkolonie eine Rolle – genau so, wie Kana die Seinen gut kannte, so mussten andere auch die Ihren kennen. Nur war dies lokales Wissen, das keinen überregionalen Ruhm und Ansehen begründen konnte. Weder war hier die Autonomie der Kunst zu finden noch der ebenso moderne Kult des Künstlers als sich selbst verwirklichendes Genie. Doch es gab etwas anderes, das meine Aufmerksamkeit verlangte. Kana kam zu einer Maske, einer vergleichsweise kleinen Gesichtsmaske, wie sie in sehr vielen Sammlungen zu finden ist und die in großen Stückzahlen für den damals noch vorhandenen touristischen Markt an der Küste hergestellt wurde. Diese Masken, die sich aufgrund ihrer geringen Größe gut im Fluggepäck verstauen lassen, sind in den meisten Sammlungen als kpelie inventarisiert. Das heißt im Senari nicht viel mehr als „Springer“ und verweist auf die akrobatischen Sprünge, die die Tänzer dieser Masken während der Auftritte vollführen. Sie knien sich nieder, bis ihr Kopf mit der Maske, die das Gesicht bedeckt, fast den Boden berührt, und aus dieser kauernden Haltung springen sie plötzlich auf, so dass das Kostüm der Maske um sie weht (Abb. 1). Solche „Springer“-Masken dienten meistens der Unterhaltung. Sie gehörten zu keinem Bund, noch war es Kindern oder Frauen verboten, den akrobatischen Tänzen beizuwohnen. Ihr generischer Name kɔdali oder kɔdali ga kam ihrer Rolle im Maskenwesen der Senufo viel näher als das unter den Senufo ungebräuchliche kpelie. Denn kɔdali konnte man jede Maske nennen, die nicht mit Verboten und Geboten belegt war und deren Auftritten jedermann beiwohnen konnte.
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Abb. 1: Eine kɔdali-Maske der Schmiede springt auf. Im Hintergrund sitzt auf einem Stuhl der Älteste der Schmiede, links stehen die Musiker, die den Tanz der Maske begleiten (Nafoun 1983).
Allerdings gab es zwei Handwerkergruppen, für die gerade solche Masken dennoch eine herausragende Bedeutung hatten: die Schmiede und die Schnitzer. Ihre kɔdali-Masken waren zwar genauso öffentlich wie die einfachen der Bauern, aber sie besaßen ein zentrales ikonografisches Merkmal, welches die bäuerlichen Masken nicht hatten. Über der Stirn erhob sich ein kleiner Körper, der mit der Maske aus einem Stück Holz herausgearbeitet worden war, oder, im Falle der Masken der Schmiede, zusammen mit dem eigentlichen Maskenkörper aus Metall gegossen wurde. Auf diesem Körper erhoben sich kleine, spitz zulaufende Kegel, die die Senufo mit den Samen des Kapokbaumes assoziieren (Ceiba pentandra). Solche Kegel zeigten nur die kɔdali-Masken der Schnitzer selbst (Abb. 2). Sie waren ein Teil ihrer Identität als handwerkliche Geburtsgruppe und galten daher für Außenstehende als ein Zeichen ihres ganz eigenen Bunds. Als Kana diese Maske sah, stutzte er. Er schaute lange auf das Bild, um es dann ganz langsam zu drehen – so, als wolle er keinesfalls ein Detail übersehen. Er sah mich an, dann wieder auf das Bild. Schließlich sagte er mit leiser Stimme nur einen kurzen Satz: „Die kenne ich.“ Er sah weiter auf das Bild und begann es zu drehen, wie er es mit einigen anderen Fotos gemacht hatte – gerade so, als wolle er ganz sicher sein, sich nicht zu täuschen. Ein paar Minuten später wagte ich nachzufragen, woher er diese Maske kenne. Es stellte sich heraus, dass die Maske einmal die seiner Schnitzerkolonie
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war. Sein Großonkel sei damals der Doyen der Schnitzerkolonie gewesen und er selbst noch ein junger Mann. Die Maske trat bei Anlässen auf, wenn sie, die Schnitzer, als sozialer Verband in Erscheinung traten, zum Beispiel bei großen Festen oder wenn bei anderen Handwerkern eine bedeutende Persönlichkeit gestorben war. Die Frage, wie nun diese Maske in eine europäische Sammlung gelangt war, konnte ich ihm nicht beantworten. Kana kannte die üblichen Wege, auf denen Kunstwerke das Senufoland verließen. „Das war sicher ein ya lɛɛrɛ ca“, vermutete Kana und ergänzte: „Die sind überall.“ Der Ausdruck war ein stehender Begriff im Senari und hieß wörtlich übersetzt „Sucht die alten Sachen!“ So nannte man die Antiquitäten- und Kunsthändler, die von Ort zu Ort zogen. Schließlich fragte Kana, wo die Maske jetzt sei und ob er sie einmal sehen könne. Die erste Frage war leichter zu beantworten als die zweite. Es war klar, dass er hätte nach Europa reisen müssen. Die Maske war schon lange Teil einer Privatsammlung. Selbst wenn er die Reise hätte antreten können – eine eher hypothetische Annahme –, hätte Kana kaum Zugang zu der Sammlung erhalten.
3. „Sucht die alten Sachen!“ Masken und Figuren hatten seit Jahrzehnten in großer Zahl das Senufoland verlassen. Schon während der Kolonialzeit in den 1920er und 1930erJahren hatte dieser Handel eingesetzt. 9 Die Verluste waren gewaltig und hatten direkte Auswirkungen auf Leben, Riten und natürlich die materielle Kultur der Menschen. Begehrt war so ziemlich alles, was aus Holz geschnitzt war, aber die Kunsthändler suchten auch sorgfältig gearbeitete Textilien, die aus handgesponnenem Garn gewebt waren und aufwendige Zierschusseinträge zeigten. Viele Kunsthändler waren Hausa aus dem Norden Nigerias und dem Niger. 10 Daneben waren Senegalesen im Markt, über deren Akzent sich die Senufo oft lustig machten. Die allermeisten von ihnen waren Muslime und sprachen von den geschnitzten Kunstwerken nur als „dem Holz“ oder „den Hölzern“. Die herabwürdigende Bezeichnung hieß freilich nicht, dass sie kein Auge für „gute“ Stücke hatten, d. h. Werke, die sich auf dem internationalen Kunstmarkt verkaufen ließen. Hausa und Senegalesen gehörten zu den ersten ya lɛɛrɛ ca, die anfangs des 20. Jahrhunderts in den noch neuen Markt einstiegen. Sie hatten einen 9 Till Förster: New Markets, New Patrons. Work-Trade Relationships in a West African Art Market. In: Silvia Forni / Christopher Steiner (Hrsg.): Africa in the Market. Twentieth-Century Art from the African Art Collection. Toronto 2015, S. 75–97. 10 Christopher Steiner: African Art in Transit. Cambridge 1994.
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Abb. 2: Das Gesichtsstück einer kɔdaliMaske der Schnitzer (im Besitz der Schnitzerkolonie von Nafoun).
doppelten Vorteil: Einmal existierten ihre auf familiärer Basis organisierten Handelsnetze schon seit Jahrhunderten, so dass sie in vielen Regionen des Subkontinents präsent waren und auf bewährte Routen und Transportmöglichkeiten zurückgreifen konnten. Zum anderen waren sie mit den europäischen Kolonialverwaltungen vertraut. Sie kannten nicht nur die „Magie der Weißen“, d. h. die vielen, aus der Sicht der meisten Bauern merkwürdigen und undurchschaubaren Verwaltungsregeln, sondern auch den Geschmack der Weißen, der toubab oder toubabou 11, die sich zeitweise oder auf Dauer in den abhängigen Gebieten niedergelassen hatten. Sie wussten, dass viele Weiße sich „an der vordersten Front der Zivilisation“ 12 sahen, wo sie dem „Fortschritt“ den Weg zu ebnen meinten. Da
11 Abgeleitet aus dem Wolof, wörtlich „mächtiger Mann“ (André Demaison: Diaeli, le livre de la sagesse noire. Paris 1931, S. 29). Heute allgemein eine Bezeichnung für alle Weißen, unabhängig von ihrer Nationalität oder persönlichem Status. 12 Französischer Mathematiklehrer, etwa 50 Jahre, an einem Gymnasium in Korhogo tätig, Mai 1985.
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war es gut, wenn man die abergläubische Welt des schwindenden Afrikas in einem Bild und seiner Kunst bannen konnte. Es kam darauf an, ihnen ihr eigenes Bild afrikanischer Kunst und Kultur zu verkaufen. Viele Hausa wussten wenig, manchmal nichts von den Werken, die sie zu verkaufen suchten. Sie waren aber begabte Geschichtenerzähler und schmückten ihre Figuren und Masken mit allerlei Erzählungen, die ihnen erfolgversprechend erschienen, d. h. die die in aller Regel unwissenden europäischen Käufer überzeugen würden, dass die Stücke Zeugen eines alten, „authentischen“ Afrika seien. 13 Eine kleine Wahrsagefigur konnte so zur „Göttin des Manioks“ werden – obwohl die Senufo seinerzeit Maniok nicht aßen, ihn als eine ungesunde Speise der bedauernswerten Leute im Süden der Côte d’Ivoire ansahen und auch kein Götterpantheon kannten. Zwischen dem kolonialen und postkolonialen Kunsthandel gab es keinen einschneidenden Bruch. Vielmehr verschoben sich die Handelspraktiken nur langsam. Was man vordem vor allem an die vergleichsweise wenigen Kolonialbeamten verkauft hatte, wurde mehr und mehr den internationalen Entwicklungsexperten angeboten. Die Orientierung auf den touristischen Massenmarkt trat diesem Marktsegment hinzu, löste es aber nicht ab. In der Postkolonie waren Hausa und senegalesische Antiquitäten- und Kunsthändler in den Hauptstädten und bald überall dort ansässig, wo es regelmäßigen Tourismus gab, zum Beispiel an der sogenannten Petite Côte südlich von Dakar, wo sich ein großes Hotel und Resort an das andere reiht, oder in Assinie, einem der ältesten kolonialen Stützpunkte Frankreichs entlang der Guineaküste, heute etwa 80 Kilometer östlich von Abidjan. In den großen Hafenstädten hatten Hausa und Senegalesen oft eigene Marktstände, die in jenen Teilen der Märkte angesiedelt waren, wo Touristen häufig vorbeikamen. Sie waren auch oft vor den Attraktionen zu finden, die das Landesinnere bot, und vor den Hotels, wo Weiße während ihrer organisierten Rundfahrten nächtigten. Hausa-Händler durchstreiften das Landesinnere auf der Suche nach „guten“ Stücken, d. h. solchen, die sie den Connaisseurs verkaufen konnten. Damit waren Besitzer der wenigen spezialisierten Galerien gemeint, aber auch ein paar Sammler aus dem globalen Norden, die sich selbst auf die Suche nach der afrikanischen Kunst gemacht hatten. Hier waren die Margen sehr viel höher als in der touristischen Kunst. Eine gute Skulptur konnte einen Händler mit seiner meistens großen Familie leicht ein halbes Jahr oder noch länger ernähren. Es kam darauf an, den Besitzer nicht wissen zu lassen, was sein Stück eigentlich wert war. Insofern hatte die
13 Sidney Kasfir: African Art and Authenticity. A Text with a Shadow. In: African Arts 25 (1992), S. 40–53, 96 f.
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Bezeichnung der Skulpturen als „Holz“ durchaus eine Seite, die der Praxis dieses Handels entsprach. Dieser Markt, der sich von dem touristischen deutlich abhob und anderen ästhetischen Kriterien folgte, war jedoch nur ein Teil der Arbeit der Hausa-Händler. Da herausragende Kunstwerke kaum mehr zu finden waren und die Händler oft viele Monate vergeblich auf der Suche nach wirklich guten Werken waren, kombinierten sie Aufträge für den touristischen Massenmarkt mit der Suche nach solchen seltenen, „authentischen“ Stücken. Sie besuchten Schnitzerkolonien, wo sie Masken und Figuren in großen Stückzahlen orderten, etwa 200 oder 300 „kpelie-Masken“, womit dann nur der Teil aus Holz, der das Gesicht des Trägers verbarg, gemeint waren – nicht etwa die ganze kɔdali. Oft gaben die Hausa-Händler dabei auch ikonografische Details vor, die gerade bei ihrer Klientel hoch im Kurs standen. Zudem wurden oft nur Rohstücke bestellt. Das Schwärzen und ggf. die Bemalung besorgten die Hausa selbst, denn als Halbfertigprodukt waren die Masken billiger. Anfang der 1990er-Jahre kostete eine einfache „kpelie“ um die 300 CFA 14, wenn sie in größeren Stückzahlen geordert wurde, um dem aktuellen Geschmack der Touristen zu entsprechen. Auch im Hinblick auf den zweiten, den Markt für Sammler und Connaisseurs, wussten viele lokale Händler um die Vorlieben und den Geschmack ihrer Klientel. Die Hocker, die Senufo-Schnitzer aus einem Stück herstellen und die früher in jedem Haushalt und jeder Küche zu finden waren, ließen sich gut an Leute verkaufen, die an der „reinen Form“ Gefallen fanden, z. B. Innenarchitekten. Wenn man auf dem internationalen Markt einen guten Preis erzielen wollte, musste der Hocker freilich alt sein und eine tief glänzende, braune oder braun-schwarze Patina zeigen. Meistens hatte eine Frau ihn schon lange besessen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Folglich suchte man genau solche Hocker in den Küchen und Hütten der Armen, die sich nichts Neues leisten konnten. Den Frauen, von denen man sie erwerben wollte, bot man im Austausch einen neuen Hocker an und manchmal noch ein wenig Geld dazu. Jedoch nie so viel, dass sie auf den Marktwert hätten rückschließen können. Dennoch schien der Tausch vielen Frauen ein guter Handel zu sein. Allerdings waren die neuen Hocker aus billigem, weichem Holz zusammengezimmert und nicht sehr haltbar. Die Nägel, mit denen sie zusammengehalten wurden,
14 Heute 0,46 e. Der CFA-Franc BCEAO (Franc de la Communauté Financière d’Afrique) ist die Währung der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion, also von Benin, Burkina Faso, der Elfenbeinküste, Guinea-Bissau, Mali, Niger, Senegal und Togo. Anfang der 1990er-Jahre entsprachen 300 CFA etwa dem Kaufpreis für 1 bis 1, 5 kg Reis. Der Preis für eine solche Maske in einem touristischen Resort betrug in den 1990er-Jahren etwa 5.000 CFA (7,62 e).
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lockerten sich schnell. Während ein aus einem Stück Kernholz geschnittener Hocker gut und gerne zwei Jahrzehnte halten konnte, waren die neuen, gezimmerten Hocker oft nur zwei, drei Jahre alt, bevor man sie ersetzen musste. Gleichwohl gibt es heute kaum noch einen Haushalt, der nicht die gezimmerten Hocker besitzt und die älteren fortgegeben hat. Europäische Kunsthändler waren meistens im Hintergrund tätig und arbeiteten über Mittelsmänner. Ein paar wenige zogen jedoch selbst durch das Land und fuhren einen Kombi oder Kleinbus, um die Werke besser transportieren zu können. Auch sie waren für die Senufo ya lɛɛrɛ ca, „Sucht die alten Sachen!“ Ein paar unter ihnen waren weithin bekannt, wie zum Beispiel ein Deutscher, dessen VW-Bus die Senufo schon von Weitem an seinem lauten, luftgekühlten Motor erkannten. Er hatte einen Assistenten, der oben auf der Fahrerkabine saß und laut ya lɛɛrɛ ca rief, wenn sie durch ein Dorf fuhren. Dann hielten sie an und sprachen mit denen, die sich dem Fahrzeug näherten. Sie teilten mit, wann sie wiederkommen würden, meistens eine oder zwei Wochen später. „In der Zeit“, erinnerte sich Kana, „verschwanden die Skulpturen.“ Es waren fast immer junge erwachsene Männer, die sich den Händlern andienten. Sie wussten nicht nur, wo die Objekte aufbewahrt wurden, sie waren auch in einem Alter, in dem sie sich vor dem vermeintlichen rituellen Schutz nicht sonderlich fürchteten. Sie drangen in diese Orte ein, wenn sie die Alten auf den Feldern, zu Hause oder schlafend wussten. Teenager, die noch nicht in die dörflichen Bünde initiiert waren, wagten es dagegen nicht, sich in die Haine zu begeben, wo die wichtigsten Masken und Figuren in einer kleinen Hütte verstaut waren und nur herausgeholt wurden, wenn es dazu einen rituellen Anlass gab. Im Französischen – aber auch in anderen europäischen Sprachen – hätte man einen solchen Akt ein Sakrileg genannt. Aber im Denken der Senufo hat die Dichotomie des Sakralen und Profanen keinen Sinn. Die Gebote und Verbote, die manche, aber auch keineswegs alle dieser Objekte umgeben, sind ohne ideologischen oder religiösen Überbau aus den lebensweltlichen Zusammenhängen hergeleitet. Wenn nun ein ya lɛɛrɛ ca wieder in ein Dorf kam, dann musste er nicht viel tun. Die jungen Männer brachten ihm die Werke, die sie an sich genommen hatten, in der Dunkelheit der Nacht und wurden auch direkt dafür bezahlt. Der Händler saß am längeren Hebel: Sollten die Männer nicht bereit sein, den gebotenen Preis zu akzeptieren, drohte der ya lɛɛrɛ ca wieder zu fahren. Das war doppelt problematisch. Denn einerseits hatte in einem solchen Fall der Verkäufer nichts in der Hand, und das Stück könnte andererseits bei ihm entdeckt werden – bei der Enge der Wohnund Lebensverhältnisse in einem bäuerlichen Dorf eine durchaus nicht
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unwahrscheinliche Perspektive. Es wäre schnell klar, dass er zum Dieb geworden war. Tatsächlich hatte es solche Fälle in der Schnitzerkolonie, der Kana vorstand, schon wiederholt gegeben. Während der Tage, da Kana in seiner Werkstatt saß und mit den jüngeren Schnitzern um ihn herum schwätzte, erzählte er immer wieder, was sich in der Region alles zutrug. Nur noch in einem Dorf, berichtete er kurz vor seinem Tode im Jahr 1992, würden die großen, aufrechtstehenden Figuren anlässlich von Beerdigungen an dem Unterstand aufgestellt, unter dem die jungen Männer des dörflichen Bunds während der langen Nächte wachten. In allen anderen Dörfern würde man auf diese großen Figuren heute verzichten – obwohl sie doch zum Besten gehörten, was sie, die Schnitzer, schaffen könnten. Doch zu oft seien sie gestohlen worden. Als die Diebstähle zunahmen, habe man sie immer noch durch neue ersetzt. Das sei für die Schnitzer in der Region gut gewesen. Sie hatten mehr Aufträge. Doch da die Mittel der Auftraggeber begrenzt waren, suchten diese die Preise immer weiter herunterzuhandeln. Es wurde für die Schnitzer unwirtschaftlich, schließlich war ein solches Figurenpaar gewöhnlich aus hartem Holz geschnitzt – Holz, das man nicht überall fand. Oft mussten dann die jüngeren Schnitzer tief in den unter Naturschutz stehenden Wald weiter westlich eindringen, bevor sie einen geeigneten Baum fanden. Und das Schnitzen war auch mühsam. Ständig musste man die Dechsel nachschärfen, und später die Schnitzmesser auch. Das machte solche Figuren teuer. Schlussendlich waren die Bünde, denen diese Figuren gehörten, nicht mehr in der Lage, die immer wieder entwendeten Figuren zu ersetzen. Man gab sie auf – und damit ein zentrales Element der Künste, die bei Beerdigungen zu sehen waren.
4. Verstrickungen Selten ließen sich die Diebe ausfindig machen. Zwar standen die Figuren für jedermann gut sichtbar vor den Unterständen der Bünde, aber unter und vor diesen hielten die jungen Männer Wache, meistens nur wenige Schritte von den Figuren entfernt. Wie konnte es also sein, dass die Figuren über Nacht verschwanden? Schliefen die Männer, die eigentlich an den Unterständen wachen sollten? Oder waren sie selbst Teil des Problems? Niemand in der Schnitzerkolonie machte sich Illusionen. Schließlich hatte es auch in den eigenen Reihen Männer gegeben, die sich ein gutes zusätzliches Einkommen mit dem Handel seltener Skulpturen verschaffen wollten. In der Schnitzerkolonie lebte ein Mann, inzwischen mittleren Alters, der einen Teil seiner Jugend in der Metropole Abidjan verbracht hatte.
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Von dort war er als Trinker zurückgekehrt, immer auf der Suche nach Geld, um sich den Fusel zu kaufen, den er brauchte. Es gab im Ort zwei Männer, die in der Wildnis, etwas abgelegen vom Dorf, Schnaps brannten. Das war illegal, aber sehr einträglich. So brachte der Trinker alles Geld, dessen er habhaft werden konnte, zu diesen beiden Schnapsbrennern und trug dazu bei, dass diese beiden immer wohlhabender wurden. Als Schnitzer wusste er natürlich genau, wo die Alten inzwischen die Stücke versteckten, die sie sich nicht mehr trauten, in dem Hain ihres Bunds aufzubewahren. Eines Tages in der Regenzeit machte die Nachricht die Runde, dass die wichtigste Maske des Bunds der Schnitzer, die die Öffentlichkeit nur als kɔdali kannte, verschwunden war. Kana und zwei andere angesehene Alte der Schnitzerkolonie machten sich auf die Suche. Zuerst suchten sie zu erfahren, ob die Maske noch im Ort war oder schon auf dem Weg in die Stadt oder den Süden, wo sie sicher bald auf dem Markt für Connaisseurs angeboten werden würde. Der Verdacht lag nahe, dass der alkoholabhängige Schnitzer mit dem Diebstahl zu tun hatte. Also fragte man ihn, wobei man auch noch mit Drohungen und schließlich mit Schlägen nachhalf. Sie hatten Glück. Das Stück wurde gefunden und den Alten zurückgegeben. Doch das war ein reiner Glücksfall. Sehr viel häufiger verlor sich die Spur der entwendeten Objekte, sofort nachdem sie gestohlen wurden. Die ständigen Diebstähle ritueller Objekte waren immer wieder ein Thema des dörflichen Geredes. Doch was sich dort als öffentliche Meinung bildete, war durchaus auch kritisch gegenüber den Schnitzern. Man solle sie, die Schnitzer, nicht bedauern, meinte ein Weber, der ebenfalls von seinem Handwerk lebte. Schließlich seien sie selbst Händler, die alte Stücke in der ganzen Gegend suchten, um sie für viel Geld zu verkaufen. Man solle sich nur einmal anschauen, was in dem alten Häuschen von Korona alles hinter dem Vorhang läge, der den ersten Raum von dem zweiten trennte. Wenn man da suche, werde man sicher auch fündig, was das eine oder andere Stück angehe, das in den letzten Jahren gestohlen worden sei. Der Weber begann sich zu ereifern, als er sagte, dass diese Schnitzer vielleicht die größten Heuchler im Ort seien. Sich erst beklagen, aber selbst mitmachen, wenn man Geld verdienen könne – das gehe gar nicht! 15 Ähnliche Zweifel an der Aufrichtigkeit der Schnitzer waren oft zu hören, wobei die meisten, die sich in diesem Gerede engagierten, deutlich zwischen einzelnen Akteuren im Kunstmarkt unterschieden. Zu meiner Überraschung traf die Hausa-Händler erstaunlich wenig Kritik. Das sei schließlich deren Arbeit, sagte man mir immer wieder – wobei das Wort ‚Arbeit‘ in diesem Zusammenhang einen ambivalenten Sinn hatte, stand
15 Nach dem Gedächtnisprotokoll einer nächtlichen Diskussion am 14. 9. 1996.
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es doch auch dafür, andere durch unlautere Mittel beeinflussen zu wollen. Von denen, den Hausa-Händlern, könne man nichts anderes erwarten. Hingegen sah man die Rolle der Schnitzer und die der Alten ganz allgemein als das eigentliche Problem an. „Diese Leute“, sagte derselbe Weber, „verraten, was sie von ihren Vorfahren geerbt haben. Das ist entwürdigend – entwürdigend für uns alle! Sie verkaufen einfach alles – notfalls noch den Hocker unter dem Hintern ihrer Frauen. Wenn sie nur lange genug darauf gesessen haben.“
Fast alle, die sich zu diesem Thema äußerten, hatten eine klare Meinung: „Was weg ist, ist weg!“, sagte ein Schmied, der selbst auch Figuren schnitzte. Was die Schnitzer taten, war für die meisten Bewohner des Dorfes unmoralisch, aber schlussendlich genauso wenig zu ändern wie der Handel der Hausa. „Das war doch immer so“, sagte einer der Bauern, der sich zu anderer Gelegenheit dazu äußerte. Diese fatalistische Sicht der Dinge konnte man leicht mit der Erfahrung der Machtlosigkeit unter kolonialer wie postkolonialer Herrschaft in Zusammenhang bringen. Tatsächlich hätte der Kunstmarkt in den 1990er-Jahren nicht ohne die Kollaboration lokaler Akteure funktionieren können. Die Schnitzer waren keineswegs die Einzigen, die sich dort engagierten. Auch andere Handwerker machten mit, zum Beispiel Schmiede, Gerber und Seilmacher. Doch der Handel kam fast vollständig zum Erliegen, als Ende der 1990er-Jahre mit dem Putsch vom 24. Dezember 1999 die politisch-militärische Krise in der Côte d’Ivoire einen ersten Höhepunkt erreichte. Sie spaltete von 2002 bis 2011 das Land in zwei Hälften, von denen die nördliche unter der Kontrolle von Rebellen stand. Es war kaum mehr möglich, zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil zu reisen oder zwischen den Schnitzerkolonien dort und den touristischen Zentren entlang der Küste Handel zu betreiben. Das Land, das einst als wirtschaftliches Wunder galt, war ein Kraftund Machtzentrum des Subkontinents. Was immer hier passierte, hatte unmittelbare Folgen für alle Nachbarländer. In den Jahren der Rebellion gab es nur noch ganz wenige Händler, die über Mali oder Burkina Faso in den Norden des Lands einreisten und nur in der größten Stadt der Region nach dem Wenigen suchten, was vielleicht noch zu finden sein mochte. Manche Schnitzerkolonien in Orten, wo die Rebellen eigene administrative Strukturen aufgebaut hatten, verkauften repräsentative Sitze und manchmal Möbel an die neuen Herren. 16 Während der Rebellenherrschaft schrumpfte der Markt zwar deutlich, aber er orientierte sich auch neu im Hinblick auf die Patronage der führenden Offiziere der Rebellen. 16 Förster (Anm. 9), S. 170.
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Das erlaubte es manchen Schnitzern, ihr Handwerk in geringerem Umfang weiter auszuüben – mit neuen Genres und neuen Kunden. Den touristischen Markt gab es seit dem Putsch des „Weihnachtsmanns“ – gemeint war General Robert Gueï, der ihn am 24. Dezember 1999 orchestriert hatte – nicht mehr. Es blieb kaum etwas übrig. Das Wenige, was sich noch verkaufen ließ, wurde nach Mali oder an die Petite Côte im Senegal gebracht. Doch auch dieser Markt brach zusammen, als 2012 islamistische Kämpfer der AQMI, d. h. Al-Qaïda au Maghreb Islamique, beinahe den malischen Staat überrannten und nur durch die Intervention europäischer Truppen aufgehalten werden konnten. Die folgenden Anschläge in Ouagadougou, Burkina Faso und Grand Bassam, Côte d’Ivoire, sowie die durchgehend volatile Lage in einigen Nachbarländern wie Guinea sorgten dafür, dass die ganze Region als durchgehend unsicher eingeschätzt wurde. Die rot eingefärbten Landkarten, die von den Auswärtigen Ämtern in Europa regelmäßig im Netz veröffentlicht werden, um Reisende auf gefährliche Zonen hinzuweisen, umfassten schnell den größten Teil der Sahel- und Sudanzone. Dieser Wandel war tiefgreifend und nachhaltend. Bis heute haben sich die Märkte für die Holzskulpturen aus der Region nicht erholt. Nach dem weitgehenden Zusammenbruch des touristischen Markts gaben viele Schnitzer die Herstellung von Skulpturen auf. Vor allem in den Städten wandten sie sich anderen handwerklichen Tätigkeiten zu, während auf dem Lande viele, die vordem von der Schnitzerei oder auch dem Kunsthandel lebten, sich mehr in der Subsistenzwirtschaft engagierten. Der lokale Markt war durch die sich wandelnden rituellen Gebrauchsmuster, die nicht zuletzt durch die fortlaufenden Diebstähle angestoßen wurden, zu klein, als dass er noch derselben Zahl von Schnitzern hätte Arbeit geben können. Die kɔdali-Masken der Schnitzer treten kaum mehr auf. Es gibt viele junge Schnitzerinnen und Schnitzer, die noch nie in ihrem Leben eine solche Maske haben tanzen sehen – obwohl gerade diese Masken ein Teil ihrer Identität als sozialer Verband sind. Heute, im Jahr 2019, sind schon mehrere alte Schnitzer Kana nachgefolgt. Selbst unter den Älteren gibt es nun manche, die die kɔdali nicht mehr kennen. Damit meinen sie nicht den bloßen Holzkörper, sondern die Maske als Ganzes, d. h. als handelnde Figur, die sich bewegt, tanzt und während einer Beerdigung der Schnitzerkolonie durch das, was sie tut, versichert, dass sie als Einheit, als sozialer Verband trotz des Verlusts eines Mitglieds fortbestehen wird. „Diese alten Sachen sind vergangen“, sagte einer der Schnitzer nach dem Ende der Rebellion. Ein anderer sagt, man habe sie ihnen genommen. 17 Auch dabei bleibt unklar, ob er das Objekt oder die Maskenfigur 17 Persönliche Mitteilung im Rahmen eines Gesprächs, Januar 2012.
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als Ganzes meint. Aber das sei nichts Neues, fügte er noch hinzu. Aus dem, was der Schnitzer sagte, ging nicht hervor, ob er die Maske als materielles Objekt oder die Maske als Akteur meinte. Beides ließ sich nicht trennen. Doch eines schien ihm klar zu sein: Die Chance, die Maske noch einmal zu sehen, waren verschwindend gering.
5. Ist ein Wiedersehen möglich? Viel von der Kunst, die Afrika verlassen hat, ist kriminell außer Landes geschafft worden. In kolonialen wie in postkolonialen Zeiten. Die Strukturen dieses Markts haben sich seit dem Höhepunkt der Kolonialzeit in den 1920er und 1930er-Jahren nicht grundsätzlich verändert. Einige Akteure sind nicht mehr dieselben, aber sie spielen gewissermaßen noch die gleichen, sich ergänzenden Rollen, die in den Jahren, als sich der Markt für afrikanische Kunst formierte, angelegt wurden. Auf der lokalen Ebene zeigt sich mehr Kontinuität, als sich in den transnationalen Debatten über Restitution widerspiegelt. Die Erwartungen der Menschen sind gering. Gleichwohl gibt es einen Wandel. Durch die Verknappung des Angebots sind die Preise, die sich heute mit „authentischer“ afrikanischer Kunst erzielen lassen, in Höhen gestiegen, die jenseits der Vorstellungskraft derjenigen liegen, die solche Werke einmal geschaffen haben. Das hat bis zu der militärischen Krise und der Rebellion das monetäre Volumen des Markts in die Höhe getrieben – aber nicht die Kräfteverhältnisse geändert, die ihm zugrunde liegen. Obwohl die lokalen Akteure als Letzte von den gestiegenen Preisen profitieren – und die meisten von ihnen gar nicht –, sind doch auch sie in diesen Handel verstrickt. Es ist nicht möglich, immer eine klare Trennungslinie zwischen Tätern und Opfern zu ziehen. Vielmehr sind auch diese Rollen nicht eindeutig. Die lokalen Zwischenhändler sind genauso wenig nur Täter wie die Schnitzer Künstler. Die Rollen können innerhalb kurzer Zeit wechseln. Was immer der eine oder andere in diesem Feld tut – es fällt immer ein Schatten darauf. Noch einmal eine Maske zu sehen, würde vermutlich vielen Menschen vor Ort genügen. Ist es möglich, afrikanische Kunst denen zurückzugeben, die sie geschaffen haben? Diese Frage setzt bereits ein bestimmtes, modernes Verständnis von Kunst voraus, welches keineswegs universell ist und welches die internationale Kunstwelt von der vor Ort trennt. Wie sollte zum Beispiel eine Maske restituiert werden, die nicht mehr in die Handlungen eingebettet werden kann, die ihr einst Sinn verliehen? Die Antwort ist ernüchternd. Eine Restitution ist im Grunde unmöglich, denn afrikanische Kunst ist kein Objekt, welches man als solches vom Globalen Norden an Länder im Süden zurückgeben könnte. Afrikanische Kunst
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ist eine Praxis, die sich bestimmter Objekte bedient – sie lässt sich aber nicht auf diese Objekte reduzieren. Das wissen die Menschen. Wohl auch deshalb haben sie wenig Hoffnung, einmal etwas von dem wiederzusehen, was ihnen genommen wurde.
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Restitution and Repatriation of Objects of Colonial Context The Status of Debates in Tanzania, Uganda, and Kenya National Museums
1. Introduction In 2015, some museums and universities in Europe initiated collaborative projects about colonialism. There were countless workshops, conferences, and exhibitions on the subject. For instance, in October 2016, the German Historical Museum in Berlin opened the exhibition that featured former African colonized states including Tanzania and Namibia. The exhibition titled „German Colonialism: Fragments Past and Present“ was closed in May 2017. This exhibition awakened the public on German colonial history. While drawing the public interests and attention, it later stirred debates on German colonialism at the academic and social platforms. Among critical questions raised were the improvement of Europe-Africa collaboration and analysis of imprisoned African cultural heritage in the hands of European museums and institutions for more than 100 years. The underlying question was, and still is how Europe could vigorously collaborate with Africa on the subject of colonialism and restitution of cultural heritage. Amid these debates, the wind changed in November 2017, following President’s Emmanuel Macron’s statement and wishes to return colonial objects to countries of origin. The French President’s speech was heightened with Felwine Sarr’s and Bénédicte Savoy’s report on Restitution of African Cultural Heritage in November 2018. This report marked a new era of restitution and repatriation debates and actions in Europe, particularly in Germany. While it appears that the debates are happening fast and changing according to political statements, still the question was / is how African countries are relating to ongoing restitution and repatriation debates in Europe. It should be further noted
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that some of the European institutions are covering up and somehow preferring a silent response to the wind of restitution debates. This article outlines the structure of restitution debates in East African museums, the challenges that limit the precedent moves and likely a way forward in achieving the long time demands of returning cultural objects back to Africa. In the context of cultural heritage, „restitution“ refers to an act of returning (a) cultural item(s) to the legitimate owners as an attempt to put things back in order and in harmony; it symbolizes justice, recognition and re-balancing towards establishing new cultural and ethical relations. 1 While the description of restitution is more wide / broad, the question lies to who should initiate a restitution process. Is it a party that took heritage items illegally or the party that suffered losses and succumbs to victimization in the process? In reflecting on these questions, this article is therefore based on written literatures as secondary sources and interviews with some museum experts from Uganda, Tanzania, and Kenya as primary sources on tackling the question of restitution debates status in the respective countries. The history of restitution debates is seen to have started before independence in East Africa. However, the historical accounts show that the East African communities / countries back then had somehow debated and raised restitution claims at the community level, whereby most of these claims went unreciprocated. 2 To somehow react on some claims, in the 1960s before Uganda’s independence, the British colonial government returned one human remain from the Museum of Archaeology and Anthropology of Cambridge University. 3 In a similar case to Tanzania, in 1954 the former British governor in Tanganyika, Sir Edward Twining, responded to restitution demands of the Hehe community upon the return of Chief Mkwawa’s skull, which had been chopped during German colonial rule and exported to the Bremen Museum of Anthropology in Germany. 4 These returns prior to independence were characterized by British methods of indirect rule. Since independence, some of the government institutions like National Museums had demanded the restitution of cultural and natural heritages
1 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: The Restitution of African Cultural Heritage. Towards a New Relational Ethics. Paris [November] 2018. 2 Interview conversation with Achilles Bufure, director of the Museum and House of Culture Station, Dar es Salaam, April 8, 2020. 3 Interview conversation with Nelson Abiti, Curator of Uganda National Museum, April 19, 2020. 4 Jesse Bucher: The Skull of Mkwawa and Politics of Indirect Rule in Tanganyika. In: Journal of Eastern African Studies 10 (2016) No. 2, pp. 284–302. Vgl. auch den Beitrag von Bettina Brockmeyer im vorliegenden Band.
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yet had received no responses from the colonizing states. For instances, in 1970 Uganda demanded the return of terracotta figures which had been excavated in the 1930s as archaeological materials in this country and taken to the British Museum. 5 This is a similar case to Tanzania’s claims over the return of the famous Tendaguru dinosaur that is being exhibited at the Berlin Natural History Museum. 6 The United Nations declaration on the right of indigenous people in September 2007 generated a foundation for debates on restoring cultural and intellectual property taken from indigenous people without their consent. 7 Following the UN declaration, African countries initiated various moves on demands for restitution. For instance, Benin aimed at a permanent exhibition consisting of looted objects in 2007, followed by Egyptian demands against the Paris Louvre for five fragments of wall paintings from the Tetaki objects of the 18th Century in 2009. Nigeria demanded the return of 32 art objects looted in 1897 from the city of Boston, United States of America, as well as that of the famous Benin bronzes that are currently in the British Museum, London. 8 The Kenyan case appears interesting insofar as the son of the former British soldier, Richard Meinertzhagen, who had killed King Samoei, is said to have returned three staffs of the King in 2006 out of goodwill. However, still there are missing objects such as King Samoei’s skull, his lion skin cape and headgear. 9 The colonial plundering and illicit trade had taken more of Kenyan cultural heritages including sacred items, e.g. the ones referred to as „Vigango“ from Mombasa. Thousands of Vigango sacred items and many other cultural objects were stolen and somehow smuggled to North American museums and galleries in the past. In July 2019, some Vigango were returned to Mombasa, Kenya, out of goodwill and not due to restitution demands. 10 With the Kenya and Namibia restitution demands, it appears that the majority of African countries seeking for restitution have not yet received a positive feedback, however the custodians (individuals or institutions) of this cultural heritage in Europe sometimes decide the return of few cultural objects out of goodwill. For instance, Namibia has officially demanded
5 See Fn. 3. 6 See Fn. 2. 7 Tristam Hunt: Should Museums Return Their Colonial Artefacts? In: The Observer, June 29, 2019 (https://www.theguardian.com/culture/2019/jun/29/should-museumsreturn-their-colonial-artefacts, accessed July 4, 2019). 8 Ibid. 9 John Kamau: Kenya. Time Is Ripe to Fight for Return of African Artefacts. In: Daily Nation, August 4, 2019, https://allafrica.com/stories/201908040034.html (accessed August 10, 2019). 10 Ibid.
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from Germany restitution and an apology for the brutality of colonial crimes that had led to the genocide of the Nama and Herero people in 1904– 1908. Despite the mentioned initiatives, African restitution demands and efforts appear to be silenced by European institutions, since no official restitution demands by the African side have been covered by the media of this continent. It is worthwhile, therefore, to remind of the fact that Africa is still recovering from colonialism brutality and exploitations in a long-lasting process. Hence issues of economic and social development constitute a priority for the 21st Century.
2. The Structure of Restitution Debates in Museums Uganda, Tanzania, and Kenya national museums are somehow operating in similar scales because they have emerged as products of British colonialism in East Africa. These museums are largely part of colonial projects. The types of collections they hold are similar as they were established under similar interests and ideologies of the British colonial administration in East Africa. The Uganda National Museum, established in 1908, was the first, followed by the Corydon Museum in 1910, which has later on been renamed National Museums of Kenya and Tanganyika (Tanzania) in 1934 in an act of honoring the rule of the British King George VI. After the independence of these countries, Tanganyika (1961), Uganda (1962) and Kenya (1963), the museums had a long way to go and still have a lot to do in transforming the colonial ideologies of collecting and objects’ narratives in such a way that they satisfy local communities’ interests. While museums are custodians of movable cultural and natural heritage, their role in restitution debates is significant in terms of expertise. 11 Restitution debates in East Africa comprise contributions from the national level, from communities and also by Tanzanians living in diaspora. 12 The national structure for these restitution debates should in my opinion include government institutions, bodies such as National Museums, ministries including those of tourism, of antiquities, of foreign policy and cultural relations, also diplomatic relations including embassies, universities and other government institutions. 13 The communities’ levels include groups of indigenous people who view their ancestors as creators of objects 11 Interview conversation with Dr. Noel Lwoga, General Director of the National Museum of Tanzania, April 24, 2020. 12 Ibid. 13 Ibid.
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as well as victims of colonial exploitation or even killings carried out under specific colonial agendas, leading to the shipment of human remains to Europe. As already mentioned, those living in diaspora constitute the third participant group. However, up to now there are still no defined debates and written articles originating from both levels that might enable and foster the discussion of restitutions issues at the government and national levels. The reason for this is that the issue of restitution and its processes is challenged by factors that will be described in the following section of my contribution.
3. Challenges to Sustainable Restitution Debates in East Africa The above described early restitution claims before and after independence by East African countries were not successful. During the interviews I did whilst preparing this article a majority of interviewees expressed their opinions that the most important problem of successful restitution demands had been the lack of networks and the small amount of sustainable discussions at both the national and community levels. In essence, a lot more than achieved could in their opinion have been done and materialized through restitution and repatriation processes. Also debates on restitution have not yet attracted the attention of the wider public. In his assessment of the status of restitution debates in Tanzania, the General Director of the country’s National Museum, Dr. Noel Lwoga, expressed his will to have colonial collections returned, however he evaluates quite critically a prevailing disconnection between national efforts and communities’ initiatives towards restitution goals, which the Director sees as the main obstacle to successful claims. 14 For instance, there have been demands for the returning of human remains and collections belonging to former African Chiefs, but these efforts remain futile since they limit themselves to local communities which for one reason or the other do not seek the support of national government institutions. Besides that, there is limited awareness of the restitution subject at the community level. 15 Having said this, Ugandan communities nonetheless appear to have taken proactive steps and to be quite well informed about matters of restitutions of cultural heritage and human remains, not less than the National Museum of Uganda and related government institutions. 16 For example, representatives of the historical Ugandan Kingdom of Bunyoro have de14 Ibid. 15 Ibid. 16 See Fn. 3.
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manded the return of a throne stool and other cultural heritage looted in 1898–1899 during the British invasion of the Kingdom, in which the Bunyoro King had been exiled and later died on his way back to Uganda in 1903, from the Pitt Rivers Museum in Oxford, Great Britain. 17 This community initiative is, however, futile, since the museum in question claims to have received the throne stool from anthropologist visiting Uganda, in other words, on a peaceful path. The museum however doesn’t bother answering the obvious question how European anthropologist could have been able to get access to the King’s Palace and his throne stool; let alone to donate such a sacred object to the Oxford museum. 18 As communities are moving forward towards or in pursuing restitution claims, they often fail to connect with government and associated institutions like national museums to foster their claims. Possible assistance in clarifying the provenances and movements of the objects in question are not used by the respective communities. Regarding this gap between communities and museums, Dr. Lwoga states that „currently, there is no single voice among communities and government institutions like National Museums. It is mandatory for museums to regulate the restitution practices in terms of expertise and assisting communities by bridging the gap through setting restitution standards at the government level.“ 19
Thus, the National Museum of Tanzania strives at the establishment of a public access database which shall link the Tanzanian collections (from museums and institutions of all disciplines including natural, cultural / ethnographic, art, hominids, human remains, stone tools and others) with research data that can facilitate restitution agendas of any kind. 20 The National Museums of Tanzania and Uganda could follow the successful example of the Kenya National Museum in this respect, which has already begun to develop a website containing an international inventories program and detailed explanations on the issues at stake. For this purpose, the National Museum of Kenya currently accesses the databases of European museums to create a list of those parts of their collections which may or certainly do originate from Kenya. 21 The first phase of the project effort aims at mapping these European collections using existing databases and websites. A second phase will focus on provenance research about those 17 18 19 20 21
Ibid. Ibid. See Fn. 11. Ibid. Interview conversation with Lydia Kitungulu, Curator of the National Museum of Kenya, April 24, 2020.
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collections that during the first phase have been included into the online database. 22 The National Museums of Kenya also serves as a good example for the practice of linking museums and communities in their efforts to facilitate restitution debates and claims. Prior to the COVID-19 pandemic, the Museum has organized a scientific dialogue about the movements of collection items, thus making heard the communities’ voices on restitution agendas and debates. 23 These dialogues are hosted as public programs. The idea behind that is to create a committee that would be able to come up with a resolution that calls the government into action. 24 Despite this wonderful initiative, up to now the National Museum of Kenya is challenged by legal restrictions and the lack of policy guidelines by the government for the initiation of restitution approaches and processes. 25 It appears that the National Museums of Kenya, Tanzania, and Uganda are facing similar challenges in terms of policies and legal frameworks for restitution agendas at the government levels. According to the curator of the Uganda National Museum the laws are still influenced by the colonial period, resulting in considerable difficulties to assess and broadly discuss matters of restitution. Uganda only recently, in 2015/2016, launched an amendment process to the existing law, which is however currently being affected and slowed down by the COVID-19 pandemic. It is yet unclear when the new laws are going to be submitted to the Ugandan parliament. 26 Unlike Europe, the national museums in East Africa are not experiencing much public pressure by activists’ groups and NGOs on the restitution subject. The cultural heritage sector is not yet a matter of debate among the activist stakeholders, since they are focusing on political und educational issues, also on the health sector. 27 Therefore the debates presently awakening in East African museums at this moment stay far below the levels of public attention the restitution issue receives in Europe. The debates yet miss the level of national attribution also because of the above-mentioned challenges and hitherto limited engagement of the public and African governments in restitution matters. They fail to attract media, important political leaders, activist, NGOs, juveniles, and the public at large.
22 23 24 25 26 27
Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. See Fn. 3. Ibid.
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4. Conclusion In my concluding section I would like to make some remarks about possible solutions to the difficulties of achieving restitution goals through a combined effort of the national museums of East African and those communities from where the respective items originate. The East African museums, government and communities should first establish a common position and develop statements in such a way that their voice can be heard as one voice in the restitution agenda. Efforts to come to such terms should be launched at the micro level of communities. In a further step these debates should be opened for the public to draw attention to the initial initiatives. It should become clear that these debates concern everyone and not just the descendants of former Chiefs. The East African citizens should be aware of the importance of restitution debates and related projects. 28 These debates could be advanced from community to local leaders including mayors and chancellors in order to understand both the theoretical and technical aspects of the efforts to regain cultural heritage. In a final stage the agenda should be promoted to the government level. 29 At this stage, government institutions like national museums and relevant ministries, embassies and universities could engage in creating a National Committee for the fostering of debates whose task it would be to develop a responsible and hopefully successful political statement on restitution matters. 30 Politicians, NGOs / civil society organizations, schools, media and activists could stimulate public debates and shape this future national declaration on restitution tasks and claims. The East African community (EAC) and African Union (AU) could later on serve as a forum for the presentation of the national declaration and of demands for the restitution of colonial objects from former colonizing states. The restitution process would have to be reciprocated by the readiness of European institutions hosting colonial collections to open their databases of collections to the African party. In case there is yet no sufficient information about the collections, provenance research should be a collective responsibility of experts of the institutions hosting the collections, also in terms of funding. Since provenance research about the origins and whereabouts of objects is key before and even after the restitution process, the legal framework for museum copyrights should be altered if necessary. The use of generated knowledge and digitized ma28 See Fn. 11. 29 See Fn. 3. 30 See Fn. 11.
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terials should be thoroughly handled by legal officers from both parties even before provenance research has been started. 31 Lastly, the African governments could also contribute their share in the necessary funding. Common projects of European and African partners should not be based on the idea of a linear relationship between Europe and Africa. Instead, collaborative projects between African partners should supplement the common effort of former colonial powers and former colonized countries to come to terms with the colonial past through the restitution of looted objects.
31 See Fn. 3.
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Restitution and Dialogue Towards Collaboration Some Considerations from Samoa
1. Introduction „For many indigenous community members, museums represent places where stolen treasures are displayed in sterile splendour. In this situation some may feel the same, but the circumstances are different from many that demand repatriation. The key difference here is that, unlike many other objects, the ‚ahu‘ula and mahiole were not stolen from the Hawaiian Islands. They were freely given by their owner Kalani’opu’u to travel the world with James Cook, and they would travel much farther than he after his death.“ 1
The restitution debate, as the extract above expresses, continues to draw attention from museum professionals, academics, and multiple communities, due to its complexities and the need to consider associated issues on a case-by-case basis. In reference to the above quote, in 2016, the Te Papa Museum in New Zealand engaged in the return of significant cultural objects to the Bernice Pauahi Bishop Museum in Hawai’i. These objects were associated with Hawaiian Chief Kalani’opu’u who had gifted these to the British Captain James Cook in 1779. They were acquired by the museum in 1912, although the áhu’ula (cloak) and mahiole (helmet) had been returned on a long-term loan basis, since 2020 ownership has now been transferred to the Bernice Pauahi Bishop Museum. While working as a Pacific Curator (2008–2013) at Te Papa, I witnessed the emotive work associated with the repatriation of human remains and significant cultural objects such as those from Hawai’i. For example, I recall an elderly visitor from Hawai’i who had placed a request to view the feathered image of War God Ku¯ ka’ilimoku in the collection’s storeroom. After placing Ku¯ ka’ilimoku on the table, I provided space for his private viewing. While I walked away, I could hear the elderly man chanting with tears flowing. ¯ 1 Shelby Pykare: Review of „He Nae Akea: Bound Together“. In: The Contemporary Pacific 29 (2017) No. 1, pp. 212–214.
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Following his visit, he gratefully acknowledged the opportunity to meet Ku¯ ka’ilimoku before his last days. This experience highlighted the importance of objects as a point of reflection and performance in both tangible and intangible forms. Furthermore, the politics and representation attached to these provide a space for dialogue and collaboration. Considering the current debates on restitution, this chapter discusses the Samoa context in terms of Samoa-German relations. It briefly outlines the historical nature of exhibitions – largely curated by overseas individuals and institutions – and considers collaborative pathways towards meaningful dialogue.
2. Germany in Samoa Prior to formal colonial rule beginning in 1900 (Fig. 1), German-Samoa relations had commenced in the 1850s with the establishment of the J. C. Goddefroy & Sohn firm in 1857. 2 Dictated by companies based in Hamburg, Bremen and Berlin, much of the German focus was on copra and it sought to centralize trading with Samoa and neighbouring islands. 3 „After J. C. Goddefroy & Sohn faced bancruptcy in December 1879, the Deutsche Handels- und Plantagen-Gesellschaft der Südsee-Inseln zu Hamburg (D.H.P.G) of Samoa took over operations and continued to recruit cheap labour from New Guinea, the Bismarck Archipelago and German Solomon Islands.“ 4
By 1890, D.H.P.G. had acquired 8,005 acres of cultivated land for Samoan plantations, a major increase from 4,337 acres eleven years earlier. 5 Prior to the influx of foreign settlement, since the 16th century, warring Samoan families sought to attain the four paramount titles of Tamasoali’i, Gatoaitele, Tui Aana and Tui Atua for overall authority as Tafa’ifa (holder of the four). The death of Malietoa Vainu’upo in 1841, the last Tafa’ifa title holder, brought more conflict than peace since he dispersed the titles on his deathbed. Due to constant civil wars over the paramount titles and political rivalries between the Three Power governments of Germany, Great
2 Malama Meleisea: The Making of Modern Samoa. Traditional Authority and Colonial Administration in the History of Western Samoa. Suva (Fiji) 1987; Peter Hempenstall: Pacific Islanders under German Rule. A Study in the Meaning of Colonial Resistance. Australia 2016; Peter Hempenstall / Paula Tanaka: The Lost Man. Wilhelm Solf in German History. Wiesbaden 2005; John Moses: The Solf Regime in Western Samoa. Ideal and Reality. In: New Zealand Journal of History 6 (1972) No. 1, pp. 42–56. 3 Stewart Firth: German Firms in the Western Pacific Islands, 1857–1914. In: The Journal of Pacific History 8 (1973), pp. 10–28. 4 Clive Moore / Jacqueline Leckie / Doug Munro: Labour in the South Pacific. Townsville 1990. 5 Firth (Fn. 3), p. 16.
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Fig. 1: Hoisting of the German flag on Mulinu’u Peninsula, 1 March 1900, Samoa, by Thomas Andrew. Te Papa (C.001438)
Britain and the United States of America – each backing various Samoan chiefly candidates such as Malietoa Laupepa (d. 1898) and Mata’afa Iosefo (d. 1912) – the Berlin Treaty (1889) signed between the Three Powers was an attempt to organise civil relations over Samoa. Samoan attempts to establish a central government in the 1860s and 1870s to manage relations with foreign settlers ultimately failed. Conflict continued and reached an impasse in 1899 resulting in the Three Powers signing the Tripartite Treaty which demarcated Samoa’s archipelago. Germany, motivated by the plantation economy, annexed the Western islands and the United States acquired the Eastern islands due to its longstanding association with Pago Pago harbour. For Great Britain, Germany negotiated the boundaries in the Solomon Islands and relinquished commercial rights to Tonga. Official German rule commenced with the raising of the flag in March 1900 at the new political centre of Mulinu’u Peninsula. During the 14 years of German rule, Chinese indentured labourers were recruited from 1903 onwards to work the plantations. 6 Samoan resistance emerged, firstly, under the Oloa Company (1905) and secondly, as the 6 James Davidson: Samoa mo Samoa. The Emergence of the Independent State of Western Samoa. Melbourne 1967; Richard Gilson: Samoa 1830–1900. The Politics of a Multicultural Community. Melbourne 1970.
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Mau a Pule (1909) from Savai’i. Samoa’s German Governor Dr. Wilhelm Solf (1862–1936) suppressed the uprisings and banished Mau members to German Saipan. Solf, having been appointed Secretary of the European Municipal Council in the 1890s, would govern Samoa for twelve years until replaced by Governor Dr. Erich Schultz (1870–1935), previously chief magistrate of the Lands and Titles Commission. With the outbreak of the First World War and the arrival of the New Zealand Expeditionary Forces in August 1914, German rule came to an end. However, cultural legacies between Samoa and Germany were deeply embedded through genealogical connections and introduced institutions in the social fabric of society. 7
3. Samoa’s Heritage In 1979, the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organisation (UNESCO) Intergovernmental Committee for Promoting the Return of Cultural Property to its Countries of Origin or its Restitution in Case of Illicit Appropriation commissioned the International Council of Museums (ICOM) committee to conduct case studies „to help those countries which have lost an essential part of their cultural property to build up representative collections of their cultural, artistic and historic heritage.“ 8
Samoa was selected along with Bangladesh and Mali. For Samoa, Albert Wendt, who had completed his Master’s in history in 1965, worked with Dr. Götz Mackensen from the Übersee-Museum in Bremen to review Samoa’s context. In summary, the panel found: „At present, there is no national public collection in Western Samoa. In addition, the number and quality of artifacts still in the country do not sufficiently represent the cultural heritage. This heritage is essentially based on the social organization of Samoan peoples, in particular oratory and ceremonies which are at the core of the social and economic life of the country. A few rare specimens of historical or artistic importance are still in the country, such as mats, small fishing boats still in use, and a few larger fishing boats and fishing implements. The same applies to traditional tools. The gaps are in all fields of cultural material: important objects of historical and traditional interest, examples of decorative arts and archaeological mate7 Malama Meleisea / Penelope Schoeffel. Germany in Samoa. Before and After Colonisation. In: Klaus Mühlhahn (Ed.): The Cultural Legacy of German Colonial Rule. Munich 2017, pp. 143–165. 8 UNESCO: Preliminary Study of Three National Situations in Regard to the Return of Cultural Property to its Country of Origin, CC-79/CONF.206/5, Paris, March 14, 1980, https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000038746?posInSet=162&queryId=58ea8839 – 5e7d-42e3-9790-da9250ecf042 (accessed Febr. 14, 2020), pp. 1–18.
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rial. Some objects for ceremonial use are still produced in villages, [but] they have modern decorations. There is no collection of traditional decorative arts, such as bark cloth or ceremonial costume. Tattooing is still practiced, but there is no collection of [tattoo] designs.“
The most important lacunae are in the non-tangible arts: traditional music and oral history. „In certain cases, there is absolutely no trace of an object in the country itself: archaeological artifacts, ceremonial objects, such as royal bowls; double canoes and boats for the high seas which could carry up to 300 people, proof of the existence of an important maritime commerce before the arrival of Europeans. There is no collection of stone tools which are no longer in use, nor of any ceremonial armour made of wood, shell or stone. There are only two fields in which material is sufficient: traditional houses and contemporary crafts (mats, wooden bowls, etc.). A certain number of pieces still exist now in private collections and will be deposited in a future cultural centre. The only examples of some categories of objects are outside of the country, in particular in Great Britain, the United Sates, New Zealand, Australia, the Federal Republic of Germany and the German Democratic Republic. They are kept in archives, museums, libraries or in private collections. Very few objects from Western Samoa have appeared on the art market. There is no inventory of collections from Western Samoa.“
Having highlighted the situation, the panel outlined the following reasons: „There are many reasons why these islands lost a large part of their cultural heritage. First, the lack of repositories and conservation facilities resulted in exportation of many objects to countries abroad which had museums and conservation specialists. On the other hand, a large number of objects, particularly [arms], became obsolete with the arrival of Europeans and a new way of living. These objects were no longer manufactured and quickly disappeared, accelerated by rapid deterioration under tropical conditions. The only examples of traditional objects from Western Samoa are outside the country. Finally, a large number of objects, particularly woven mats, were taken away by Europeans who had received them as presents during ceremonies. This is contrary to local tradition, according to which all presents received remained in the ceremonial circuit and would later be handed on to someone else by the person who had received it. Appropriating a present as personal property was considered to be a theft by Samoans, who had not foreseen that part of their heritage would leave the country this way. Colonial wars of the 19th century also contributed to the impoverishment of these islands and to the fact that so few objects remain there. The situation brought about by these wars had not improved since the beginning of the century.“ 9
9 Ibid., p. 7.
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The above review provides an important departure point to discuss Samoa’s situation since the 1970s. Samoa ratified the UNESCO „Convention for the Protection of the World Cultural and Natural Heritage“ (1972) in 2001, and, since 2013, has recognized a need to implement cultural preservation legislation. 10 Although various legislation includes cultural heritage such as the „Samoan Antiquities Ordinance“ (1954) and the „National Parks and Reserves Act“ (1974), a national legislative framework will assist in documenting cultural sites as development continues. Thus far, three sites have been included on the World Heritage Committee Tentative List since 2006: The Fagaloa Bay Uafato / Ti’avea Conservation Zone and the Cultural Landscape of the Manono, Apolima and Nu’ulopa islands. 11 In December 2019, Samoa’s highest cultural object, the ’ie toga (finely woven mat) or ’ie Samoa was formally recognized by the UNESCO Intergovernmental Committee for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage at its Colombia meeting and is now included on the Representative List of the Intangible Cultural Heritage of Humanity. In reference to the significance of the ’ie toga, UNESCO states: „The ’Ie Samoa is a special finely hand-woven mat fastened at the hem with two rows of green and red feathers, and a loose fringe on one end. Traditionally woven with fine strippings of the pandanus plant, the final product is silk-like in nature. Its shiny coppery colour adds to its value as it is a testament to its age and the natural bleaching process it undergoes from the sun and seawater. The production process involves a high level of intricacy as each woven strand is as little as one millimeter wide. Producing a single ’Ie Samoa can therefore take up to several months and even years. Nevertheless, the ’Ie Samoa is more than a cultural product involving exceptional skill; its true value lies in its use as an object of exchange in traditional ceremonies and rituals that reaffirm kinship ties and strengthen community wellbeing. The ’Ie Samoa is displayed and exchanged at festive celebrations or on important gatherings such as weddings and funerals, and its exchange contributes profoundly to the maintenance of the social structure. Today, an increasing number of young female weavers are involved, and even male weavers. Women and master weavers have established fine mat committees within their villages, allowing them to exchange ideas about best practice for weaving, and to boost opportunities for strengthening the transmission of the art form.“ 12
10 Government of Samoa: National Heritage Board Report. Samoa 2013. 11 UNESCO, World Heritage Tentative List, Fagaloa Bay – Uafato Tiavea Conservation Zone, http://whc.unesco.org/en/tentativelists/5090; UNESCO, World Heritage Tentative List, Manono, Apolima and Nuulopa Cultural Landscape, http://whc.unesco. org/en/tentativelists/5091 (both accessed Febr. 20, 2020). 12 https://ich.unesco.org/en/RL/-ie-samoa-fine-mat-and-its-cultural-value-01499 (accessed Febr. 20, 2020).
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Fig. 2: German hand-held stamp, circa 1900, maker unknown. Purchased 2010. CC BY-NC-ND 4.0. Te Papa (FE012581)
As a living object, the ’ie toga remains significant in cultural exchanges and ceremonies, including conflict resolution, 13 and is perhaps the most widely circulated Samoan object globally along with siapo (tapa cloth). Thus, its inclusion in the UNESCO Representative List will require the maintenance of weaving groups, and connections with museum institutions abroad to further strengthen knowledge of weaving patterns, designs, and plant material. In connection to German rule in Samoa, the government was active in modifying the culture according to their ideas. Hence, the circulation of ’ie toga was a focus of the government which introduced a grading system using a stamp (Fig. 2) to categorise ’ie toga according to their perceived monetary value. 14
4. Samoa-German Exhibitions For Samoa, legislation requiring the return of human remains or cultural property is non-existent. However, in 2019, the government released the „Human Remains Repatriation Policy“ to manage the return of deceased relatives to Samoa. The restitution debate or the repatriation of objects – term acknowledged as ambiguous – has not been at the forefront of discussions thus far. For example, in the Museum of Medicine in Brussels, a preserved tattooed skin of a Samoan pe’a (male customary tattoo) is housed as part of the collection. These human remains belonged to Atafu 13 Cluny and La’avasa Macpherson: The Ifoga. The Exchange Value of Social Honour in Samoa. In: Journal of the Polynesian Society 114 (2005) No. 2, pp. 109–134; Penelope Schoeffel: Samoan Exchange and ‚Fine Mats‘. An Historical Reconsideration. In: Journal of the Polynesian Society 108 (1999) No. 2, pp. 117–148. 14 Philipp Schorch: German-Samoan Colonial Legacies, German Hand-Held Stamp. In: Te Papa collections, https://collections.tepapa.govt.nz/topic/10138 (accessed Febr. 20, 2020).
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(or Atoafau) who had died while part of a travelling dance troupe in 1890. Anatomist and anthropologist Dr. Emile Houzé (1848–1921), a member of the Brussels Anthropological Society, had Atafau’s remains preserved. In 2004, these remains were displayed as part of the Brussels Royal Museums of Art and History exhibition „Tatu-Tattoo!“ 15 To date, it is unclear whether the community is aware of its presence in the collection. As a highly important custom, it is noted that Governor Schultz was himself tattooed prior to leaving Samoa in 1914. 16 Cultural artefacts such as tattooing have long fascinated Westerners, and the art of tattooing has extended beyond Samoa reaching a wide audience including diaspora communities. 17 Historically, at least in the last 30 years, in the case of Samoa-German exhibitions, many travelling exhibitions to Samoa and elsewhere have been photographic in nature. In 1998 the bilingual Samoan-English exhibition „Va’aomanu: Togimamanu e ata, tala ma fa’atufugaga o le fa’aliga o au measina – and an exhibition celebrating the history and culture of Samoa“ curated by Samoan academic Tupuola Malifa for the New Zealand National Library comprised a German colonial component and was displayed at the National University of Samoa. 18 Similarly, Peter Mesenholler (Museum of Cologne) and Alison Devine Nordstrom, curators of „Picturing Paradise: Colonial Photography of Samoa from 1875 to 1925“, showcased images taken by multiple photographers resident in Samoa from the late 19th century. 19 On reviewing the „Picturing Paradise“ at New York’s Metropolitan Museum of Art, Taylor Holliday (1996) writes: „But what about the Samoans? The period produced no local photographers to provide the Samoan perspective on colonial life. These photographs are all they have. A full copy set of the exhibition will be made for both Western
15 Sébastien Galliot: The Disastrous Fate of the Samoans from Leone, 1889–91. In: Ders./Sean Mallon: A History of Samoan Tattooing. Wellington 2018, p. 78–79; Roslyn Poignant: Professional Savages. Captive Lives and Western Spectacle. New Haven 2004. 16 Misa Telefoni Retzlaff: An Enduring Legacy. The German Influence in Samoan Culture and History. Paper presented at the Conference „Das Deutsche Reich in der Südsee“, Berlin, September 2007 (unpublished). 17 Galliot / Mallon (Fn. 15). 18 This exhibition was gifted to the Centre for Samoan Studies in 2017. For the historical context see Safua Akeli: Samoa „On Show“. Re-Examining Samoa-New Zealand Relations through Display from 1923 to 2007. PhD University of Queensland 2017. 19 Picturing Paradise: Colonial Photography of Samoa, 1875 to 1925. Touring Exhibition Produced by the Southeast Museum of Photography, Daytona Beach Community College, Daytona Beach, Florida, in Collaboration with the Rautenstrauch-Joest-Museum of Ethnology, Cologne, Germany. Mesenholler had also co-curated the exhibition „Talofa! Samoa, Südsee“, in which contributions were made by Samoan artists such as Momoe v. Reiche and Vanya Taule’alo, see Gerda Kroeber-Wolf / Peter Mesenholler (Eds.): Talofa! Samoa, Südsee: Ansichten und Einsichten. Frankfurt on the Main 1998.
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Samoa, an independent country, and American Samoa, a U.S. territory. And another catalog essay by Mamoe Malietoa von Reiche, a resident Samoan artist and poet, gives us a clue as to how the islanders will respond: ‚Although the Samoans were used as subjects for profit making . . . or labourers in the schemes of expansionism, their lives and their faces were nevertheless recorded visually and beautifully, and these photographs tell the story of an era and its passing.‘“ 20
Such was the practice at the time, when photographs were the privilege of the foreign elite, and reproduced and distributed for global markets. 21 In 2005, Herwig and Christiane Niggemann brought to Samoa photographs taken by German resident Otto Tetens (1865–1945) held at the Haus Kemnade Museum in Bochum in the exhibition „Samoa 1905“. 22 In 2014, anthropologist Hilke Thode-Arora curated the exhibition „From Samoa with Love? Samoan Travellers in Germany, 1895–1911“ from the collections of the Munich Ethnological Museum. Although it did not travel to Samoa, it was later produced as a publication. 23 The Auckland War Memorial Museum donated the exhibition „Entangled Islands: Samoa, New Zealand and the First World War“ in 2015 to the museum, it had a strong German colonial history component, including objects formerly belonging to Governor Solf. In the last few years, a German-Samoa photographic exhibition organised by New Zealand-based researcher Tony Brunt was sourced from largely private collections and documented in the book „To Walk Under Palm Trees. The Germans in Samoa: Snapshots from albums – part one“ (2017). Most of these images were sited publicly for the first time. In 2019, photographs taken by Dorothea Heimrod (1873–1966) at the turn of the 20th century were temporarily displayed at the museum, with the support of the Niggemann family. Overall, these examples articulate curated exhibitions emerging from mainly academics and descendants of German residents. However, input from Samoan academics and artists are included in some of the publication and curatorial displays.
20 Taylor Holliday: Review of the art exhibition „Picturing Paradise: Colonial Photography of Samoa, 1875–1925“, at the Metropolitan Museum of Art in New York City through Aug 4, 1996. In: Wall Street Journal, July 3, 1996, https://www.wsj.com/ articles/SB836344185677939000 (accessed Febr. 20, 2020). 21 Max Quanchi: The Imaging of Samoa in Illustrated Magazines and Serial Encyclopaedias in the Early 20th-Century. In: Journal of Pacific History 41 (2006) No. 2, pp. 207– 217. 22 See website: http://www.samoa1905.de/ (accessed Febr. 20, 2020). 23 Hilke Thode-Arora / Peter Hempenstall: From Samoa with Love? Samoan Travellers in Germany 1895–1911. Retracing the Footsteps. Munich 2014.
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5. Digital Archives and Museum Objects While photographs have dominated the Samoa-German relationship, the archival digitisation record was developed in collaboration between Germany and Samoa with Samoa’s newly established National Archives Record Authority (NARA) in 2013. Decades earlier, in 1978, Dr. Wolf Buchmann of the Federal German Bundesarchiv visited Samoa to review the German records. Thus, an agreement between Samoa and the Bundesarchiv in Koblenz was initiated to assist with microfilming the records and training a Samoan public servant in archival work. 24 In considering Samoa’s engagement with Germany, the archival documentation of German records provide an important digital source; however, access remains under the authority of the NARA and the Ministry of Education, Sports and Culture (MESC). 25 Although under the Pacific Regional Branch of the International Council on Archives (PARBICA) umbrella, the NARA has continued to play a significant role in the digitisation work of government ministries. Museums in Aotearoa, New Zealand and hapu¯ communities have been embedded within shifting colonising agendas and have clearly experienced very different immediate and ongoing effects. For Ma¯ ori, objects in museums are „taonga“ – cultural treasures –, yet they are ideologically treated as material culture. 26 Similarly, in contemporary times, the equivalent term for Samoa’s treasured objects is „measina“. The global dispersal of objects beyond Samoa’s shores outnumbers the current national museum collection of about 300 objects. German related objects include a cigarette case and an imperial German flag along with woven textiles, souvenirs, carvings, baskets, and water carriers. Storage for collection items remains a problem as do the conservation conditions and shortage of staff capacity. 27 However, the collection indicates a global narrative depicting an active interchange of cultural materials exchanged for multiple reasons and acquired based on factors such as social relationships, economy, and scientific analysis.
24 D.L. Thomas, Establishment of a National Archive: Western Samoa, Technical Report 1986, https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000068735?posInSet=29&queryId= 9cfa1790-aae2 – 440c-890a-3a1137756f24 (accessed Febr. 14, 2020), pp. 1–14. 25 Archives of German-Samoa Colonial Administration from 1900 to 1914, https:// mowcaparchives.org/items/show/104 (accessed Jan. 22, 2020). 26 Jade Tangiahua Baker: Te Kupenga. Re-Casting Entangled Networks. In: Australian Journal of Anthropology 20 (2009) No. 1, pp. 112–130. 27 Elizabeth Bennett: Challenges to Cultural Heritage Interpretation and Preservation at the Falemata’aga, the Museum of Samoa, 2015, https://digitalcollections.sit.edu/isp_ collection/2219/ (accessed Jan. 22, 2020).
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Currently, the Samoa government, in partnership with China, are close to completing the newly constructed Samoa Arts and Culture Centre whose opening – scheduled for June 2020 – has recently been postponed due to the Corona pandemic. This new facility, about 10,000 square meters in size, will house up to 500 people in the auditorium. 28 While emphasis is on providing a social space, the staffing component will be important in shaping the role of the centre and vision for the future in terms of programming, storage, and community engagement. Given the government’s investment in a national arts and culture centre, the issue of restitution may likely be woven into future planning. However, information-sharing of museum collections abroad requires dialogue to facilitate provenance research and acquisition information. Working with international colleagues to catalogue objects will support exhibition development, research and community consultation. Hence, the co-curation of exhibitions and review of museum collections provide opportunities to enhance collaborative efforts which might otherwise be difficult for a country like Samoa due to constraints on facilities, storage, security, technological infrastructure, and staff capacity. Despite efforts to promote the museum space since its establishment in 1999 as a site for teaching and learning, visitor numbers remain low. However, since the inception of the museum Facebook page in 2013, there have been high visitation numbers and, to date, 11,191 followers. 29 For Samoans, highly valued objects are often found within family collections and remain key reference points for generations. These are often genealogical family trees inscribed in old ledgers, or ’ie toga tucked into wooden chests. Hence, the future of restitution debates within Samoa’s cultural sector may be a likely agenda in the next ten years. With the museum lacking the key infrastructure and staff capacity, the current focus is on storage and exhibition development. Through the postgraduate course on Cultural Heritage Management offered by the National University of Samoa since 2018, students are exposed to key issues including restitution debates and how the State might respond. For many students, objects such as the ’ie sina (cloth garment) made from hibiscus fibre, formerly a significant cultural artefact, has disappeared from recent memory, and museum collections are used to illustrate examples. One student recalled a memorable museum visit which enabled her to view the ’ie sina for the first time. 28 Samoa Arts and Cultural Centre Receives Special Visitor. In: Newsline Samoa, Oct. 22, 2019, https://www.rnz.co.nz/international/pacific-news/357584/building-of-chinese-funded-samoa-arts-centre-underway; https://www.samoaobserver.ws/category/ article/51814 (both accessed Febr. 14, 2020). 29 See https://www.facebook.com/pages/category/Government-Organization/The-Museum-of-Samoa-460537094030463/ (accessed Jan. 22, 2020).
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Similarly, ceremonial gifts were exchanged by German officials. For example, in 1901, a year after raising the German flag in Samoa, Governor Solf presented the newly appointed Paramount Chief Mata’afa Iosefo (d. 1912) with a gift from the German Kaiser Wilhelm II.: „King Mataafa, of Samoa, has just received a unique gift from Emperor William of Germany. It is in the form of a richly-ornamented staff or baton, and is the work of Herr Otto Rohloff, a well-known sculptor and engraver. The staff is made of ebony, which is inlaid with silver, and it is crowned with an abundance of horse hair. The upper end is ornamented with engraved laurel leaves, beneath which is a band or ring composed of jewels and other precious stones. In the centre is the imperial crown and immediately under it is the Emperor’s monogram. The imperial coat of arms is also engraved on the staff, as well as certain symbolical figures. Herr Solf, the German Governor of Samoa, presented this attractive gift to King Mataafa, and the monarch expressed himself as being highly pleased with it.“ 30
During the post-World War One period, several flags captured by New Zealand Expeditionary Forces were donated to New Zealand Museums as war ‚trophies‘: „A valuable addition to the historic collection of war flags at the Auckland War Memorial Museum was made yesterday when the museum was presented with a third German flag from Samoa. This was the German imperial flag that was flown from the administrative building at Samoa. It is about 12 ft. by 9 ft. and is in perfect condition. The German Imperial Eagle and Crown are in the centre. The history of the flag is that soon after the landing of the New Zealand Expeditionary Force at Apia, Corporal Gilbert Matthews Slattery, now in Sydney, unofficially took possession of the trophy.“ 31
However, these objects were sourced from Samoa’s colonial past and are now found in various New Zealand museums. The trajectories of departure for these objects bring to the fore questions of multiple narratives and ownership status.
6. Considering Restitution The archives of German commercial trading firms in Samoa and the wider Pacific are located in German institutions and written mainly in the German language, although scholars such as Stewart Firth and Peter Hempenstall have made these available and accessible in the last five decades. 32 30 Kaiser’s Gift to Samoan Chief. In: Manawatu Times, July 6, 1901. 31 Historic Flag. In: New Zealand Herald, Jan. 14, 1938. 32 Firth (Fn. 3).
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In reviewing the restitution debate since the 1970s, scholar and curator El Hadji Malick Ndiaye (2019) highlights the role of the International Council of Museums (ICOM) and UNESCO in forging discussions, including more recently the impact of French President Emmanuel Macron’s speech to university students in Burkina Faso. Writing on the changes in this second wave of restitution debates, Ndiaye contends: „First, it is no longer a matter of institutions being commissioned to prepare reports on the subject. It is instead a liberation of speech stripped of all institutional or political calculation, free of psychological alienation deriving from any kind of hierarchical relation. Second, it involves people who are not museum professionals and have the advantage of being able to escape the routine of conventional terms and familiar frames of reference. Finally, the analysis of the problems involved has a new intellectual richness conferred by attention to archival evidence and a methodologically sophisticated approach to the major challenges that confront museums today.“ 33
In reference to the quote above, and as aforementioned, Samoa has yet to actively engage in the restitution debate. However, the country appears to focus on areas of collaboration, particularly since the 2019 launch of the „National Culture Framework“ (2018–2028) comprising policies on „National Heritage“, the „National Cultural Industries“ and the „National Culture in Education“, all of which underpin Samoa’s 2030 Agenda for Sustainable Development. These frameworks assist in articulating potential relationships towards cultural areas and objects, both historically and contemporary. Historical knowledge for Samoa is highly valued and contested since the transmission of stories, genealogies and kinship are closely tied to land and chiefly titles. Hence, institutions established in the German colonial period such as the 1903 Land and Titles Commission (later Land and Titles Court) continue to impact on matters pertaining to ideas of Samoan customs. As sociologist George Steinmetz (2007) writes: „The Germans inserted themselves into the very center of Samoan life by creating a new court, the Lands and Titles Commission, to settle disputes over the allocation of chiefly matai titles and related land claims. A Samoan matai bears the title of his ‚aiga, an extended kinship or descent group. Titles were the main markers of power and prestige. The transmission of a matai title from one holder to the next was often a conflictual and unpredictable process whose result could not be deduced from biological lines of descent.“ 34
33 El Hadji Malick Ndiaye: Musee, colonisation, et restitution. In: African Arts 25 (2019) No. 3, pp. 1–6. 34 George Steinmetz: The Devil’s Handwriting. Precoloniality and the German Colonial State in Qingdao, Samoa, and Southwest Africa. Chicago / London 2007, p. 321.
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Safua Akeli Amaama
Fig. 3: Government Courthouse, Apia, probably 1920, Samoa, by Thomas Andrew. Te Papa (PA.000083)
The restitution debate for Samoa might lie more in evidence associated with introduced institutions. Since the new port town of Apia emerged in the 1850s, various German architecture and monuments populate the urban area and the Mulinu’u Peninsula, for example the memorial to the German sailors who died in the 1889 hurricane, the monument commemorating the raising of the German flag in 1900, and the courthouse on Beach Road (Fig. 3). These sites have drawn the attention of local and diasporic communities with some protesting the demolition of the courthouse. These perspectives demonstrate political and economic constraints since within the next few months the almost 120-year-old building will be demolished. At an approximate cost of USD$ 20 million to restore, efforts via UNESCO World Monuments Fund and other options explored by the Courthouse Trust Board and the Samoa International Finance Agency have failed to generate enough financial resources for restoration work. However, the public remain divided: „I would say I feel shattered and quite despairing of what I would see as quite a casual consideration of a heritage building – are there no other ways we can consider preserving some of the past as it was?“ 35 „The fact of the matter is that the building has to be replaced, it cannot be renovated piecemeal because the whole place is about ready to fall down. It’s lucky that it survived the last hurricane.“ 36 „That was a building where New Zealand raised its first flag. Not only that but more importantly, it was where the nine that fell, including the high chief at
35 Tagaloatele P. Fairbairn-Dunlop quoted after Radio New Zealand: Academic‘Shattered’ by Plans for Samoa’s Old Courthouse, June 11, 2018, https:// www.rnz.co.nz/international/pacific-news/359314/academic-shattered-by-plansfor-samoa-s-old-courthouse (accessed Jan. 28, 2020). 36 Tuiasau Tuia Petaia quoted after Radio New Zealand (Fn. 35).
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the time, Tamasese, who was shot there in the corner steps there. So it’s very very significant in terms of history.“ 37
7. Conclusion In his response to Bénédicte Savoy and Felwine Sarr’s (2018) report, UK-based scholar Nicholas Thomas writes: „There are strong and dynamic museums and cultural centres in Oceania, Africa and among native American communities today, but also many nations in which the indifference of governments has resulted in neglected, undervisited and insecure museums. Yet the institutions have much to contribute, for example in support of the UN’s Sustainable Development Goals. They will only engage visitors and be socially effective if there is continuing investment in staff, skills and facilities. Hence, alongside the return of artefacts, European nations need to be open to partnerships that are responsive to local views as to how cultural institutions can support contemporary practitioners, communities, economies and nations.“ 38
Other writers provide multiple perspectives: „African academics with whom I spoke recently at a conference in Lyon pointed to two kinds of reactions in their homelands. On the one hand, they said, the great majority, who had more pressing concerns than the status of museum artefacts, were simply not interested. On another level, however, the spectre of cultural objects being returned to the country fanned the flames of rivalries between ethnic groups, each of which lays claims to particular pieces of the patrimony in question, including the Sengalese sword.“ 39
I would add that restitution also involves a consideration of wider issues surrounding ownership, rights and identity; it has consequences not only in the context of the Western ethnographic museum and its indigenous counterpart, but also in the community within which the indigenous museum and cultural centre resides. 40
37 Lama Tone quoted after Radio New Zealand: In Samoa, a Fight to Save Historic German Courthouse, Nov. 3, 2014, https://www.rnz.co.nz/international/pacific-news/ 258472/in-samoa,-a-fight-to-save-historic-german-courthouse (accessed Jan. 28, 2020). 38 Nicholas Thomas: Whose Art Is It Anyway? In: Financial Times, Dec. 8, 2018. 39 Sally Price: Has the Sarr-Savoy Report Had Any Effect Since It Was First Published? In: Apollo 191 (2020) No. 682, p. 18. 40 Nick Stanley: Introduction: Indigeneity and Museum Practices in the Southwest Pacific. In: Idem (Ed.): The Future of Indigenous Museums. Perspectives from the Southwest Pacific. Oxford / New York 2008, pp. 1–20.
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An important requirement is that indigenous people should be the guardians, protectors and advocates of their own cultures and their own cultural heritages. 41 In light of the Sarr-Savoy report, the French context is not alone and draws both interest and highlights complications for former colonial territories and European museums. 42 In Samoa’s case, inventories and provenance details are largely unknown and the assessment of these will provide space for dialogue towards digitisation using available technologies. Samoa’s engagement at this stage prioritises collaborations since, if objects are returned, where will these reside, and to which communities are they returned? Hence, the long-term vision requires the State to respond, and having a national facility able to manage these discussions will bode well for the future. If the Sarr-Savoy report provides a guideline and framework for consideration, it will serve Samoa well to evaluate key issues and consider future planning for opportunities to engage.
41 Hirini Mead: Editorial Preface, ibid, p. ix. 42 Mathilde Pavis / Andrea Wallace: Response to the 2018 Sarr-Savoy Report. Statement on Intellectual Property Rights and Open Access Relevant to the Digitization and Restitution of African Cultural Heritage and Associated Materials (March 25, 2019). In: Journal of Intellectual Property, Information Technology and E-Commerce Law 10 (2019) No. 2, pp. 115–129, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3378200.
Osarhieme Benson Osadolor
The Benin Sculptures Colonial Injustice and the Restitution Question
1. Introduction The debate on the looting of over four thousand intricate sculptures, including bronze works now known as the Benin bronzes from the King’s palace by the British multinational force during the invasion of Benin in February 1897 raises the question of colonial injustice concerning the looting and, therefore, the need for restitution. The contributions of curators, scholars, and cultural entrepreneurs to the current restitution debate on African art generally have continued to resonate beyond Africa and Europe. Since Nigeria regained independence from Britain in 1960, the Benin Royal Court and the Nigerian Government have consistently demanded a return of the stolen cultural objects. Recently, the response of the Consortium of European Museums to a large extent demonstrated the implicit power relations that still attempt to subordinate the voices from Africa under the imperial voices of the looters of the Benin treasure, and their favorable position towards those whose economy is benefitting from the loot. The Benin art objects have become an important example in the international debate over restitution of Africa’s looted material cultural legacy. Thousands of art objects were looted and taken to Europe by the British forces that invaded Benin in February 1897 during the age of the new imperialism in Africa in the last quarter of the nineteenth century. The technical sophistication and precious materials of the works of art were much admired as many of them were sold and a lot now adorn museums in Europe and the United States. Although the history of the objects has been the area of continuing research and investigations, the restitution debate has led to the emergence of interest groups either advocating for their restitution or working out a new legal framework to hold back the stolen objects. In dealing with the restitution question, the way the objects
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were plundered by British forces cannot be ignored, since it raises issues of colonial injustice. The engagement of the British Empire and imperialism in nineteenth and twentieth century Africa was the basis of the colonial conquest of the Benin Kingdom and Empire in February 1897, which led to the plundering of the treasure trove of Benin bronze and ivory sculptures by the imperial conquistadors. Britain had pursued imperial ventures in the area that is now known as Nigeria through conquest, which led to the establishment of British colonial rule from 1861 to 1960. 1 While the invasion and conquest of Benin was prejudiced by imperialism, 2 the looting and dishonest acquisition of thousands of Benin art objects has been a subject of debate on the colonial injustice and the restitution question. The British idea of imperialism in West Africa originated as a policy of extending its power and influence through colonization. The events which led to the British invasion of Benin in 1897 began with the evolution of British West African policy in 1875, the year which marked the beginning of their need for territorial expansion and which is even regarded as a late development in British imperial policy. 3 The timing of advances and the compromises reached in European diplomatic negotiations in this age of new imperialism derived from complex international considerations beyond Africa. Following the European conference in Berlin in 1884–1885, the coastline of Benin was placed under British protection, but the British could not gain any foothold. British efforts to secure Benin as its sphere of influence were manipulated through the fraudulent treaty of 1892 prepared by the British government and forced on Oba Ovonramwen, the King of Benin, by Henry L. Gallwey, the Deputy Commissioner and ViceConsul, Benin district, Oil Rivers Protectorate on the 26th day of March 1892. Oba Ovonramwen ignored the treaty, so the British accused him of failing to observe his treaty obligations under article VI of the Gallwey Treaty. 4 The British invasion, plundering and burning of the Palace and the City is an ideal starting point for anyone interested in the debate on colonial
1 Osarhieme B. Osadolor: Empire and Imperialism. The Lagos Factor in the Expansion of British Colonial Influence in Colonial Nigeria 1861–1960. Keynote Paper Presented at the 8th Colloquium on the Celebration of Lagos at 50 Held at Freedom Park, Lagos, Nigeria on Saturday, February 25, 2017; Obaro Ikime: The Fall of Nigeria. The British Conquest. London 1977. 2 Osarhieme B. Osadolor / Leo E. Otoide: Benin Kingdom in British Imperial Historiography. In: History in Africa. A Journal of Methods 35 (2008), pp. 401–418. 3 C. W. Newbury: British Policy Towards West Africa. Select Documents 1875–1914. Oxford 1971, p. 157. 4 A. F. C. Ryder: Benin and the Europeans 1485–1897. London 1969, p. 272.
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injustice and the restitution question. The restitution question is answered with reference to the history of the Benin art objects, which is inseparable from their plundering by British troops in February 1897. This essay then explores the implications of removing restitution from the agenda of the Benin Dialogue Group and the legal framework it has proposed, which fails to address the colonial injustice. The conclusion interrogates the nexus of the issues of underlying values and how the museums in Europe are fighting to keep possession of the plundered artifacts.
2. British Invasion: The Plundering and Burning of the City The details of military campaigns which accompanied the British colonial invasion and conquest of Benin demonstrate the economic motives for the aggression. In 1883, Britain had taken a position on European rivalry in the Lower Niger and had also taken steps to prevent French occupation of the Oil Rivers which would damage British West African commerce. The British had expressed interest in Benin and its interior. From 1892, the Foreign Office was inundated with memoranda that the Benin territory is a rich and most important one. In 1895, the Acting Consul, General Ralph Moor, recommended that „at the first opportunity steps should be taken for opening up the country if necessary by force.“ 5 The coming of James Phillips as Deputy Commissioner and Consul-General of the Niger Coast Protectorate who took over duties from Captain Henry Gallwey on 15th October 1896 raised hopes of the representatives of the principal trading firms who had been pressurizing and imploring the vice-consul since April 1896 to take firm action against Oba Ovonramwen whose policy was seen as disruptive of trade and the exploitation of the interior. The issue of colonial injustice has to be addressed in discussing the British expedition of February 1897, which pillaged and looted several thousand art objects. British imperial historiography focuses on what they described as the „Benin Massacre“ of January 1897 as the reason for the punitive expedition. The documents on British policy towards West Africa from 1875 to 1914 however suggest that the British had concluded plans to attack Benin and depose the King before the events of January 1897. On the 16th of November 1896, Consul Philips in a dispatch to the Marquis of Salisbury sought permission to visit Benin City in February 1897 to depose and remove the King of Benin, to establish a Native Council in
5 Osarhieme B. Osadolor: The Military System of Benin Kingdom, c. 1440–1897. PhD Dissertation University of Hamburg 2001, p. 210.
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his place and to take further steps for the opening up of the country as the occasion may require. 6 The Foreign Office agreed to the recommendations of Consul Phillips and arranged the expedition with the War Office. 7 The memorandum of 24th December, 1896 from the War Office asserted strongly the declaration of war against the Oba of Benin, which was planned for February 1897. Macrae Simpson, a British colonial officer in Benin, in his intelligence report in 1936 had said that „Acting Consul Phillips set out on a peaceful unarmed mission.“ 8 But Philip Igbafe argues that „a logical explanation seems to be that Phillips was going on a reconnaissance survey.“ 9 In this case, Phillips’ so-called „peaceful mission“ was a military examination of the Benin territory by a detachment in order to locate possible enemies or ascertain strategic features ahead of the planned attack of February 1897. Consul Phillips had ignored the advice of the Oba, who was observing the Ague festival 10 in January 1897, to postpone the visit for two months on the grounds that he was in a hurry and could not wait because he had so much work to do elsewhere in the Protectorate. 11 Even recently, arguing alongside British imperial historiography, writers such as Barbara Plankensteiner still have pointed out that the reluctance of the British to accept the trading conditions dictated by the Oba of Benin, whose territory was placed under the British sphere of influence at the Berlin Conference of 1885, led to „developments that placed Benin under increasing pressure, and explain the attack on a peaceful British mission in 1897, which wanted to persuade King Ovonramwen to keep to the terms of the trade agreement concluded in 1892.“ 12
As mentioned before, Consul Philip’s dispatch of 16th November 1896 to the Marquis of Salisbury, which was approved by the Foreign Office, led to arrangements with the War Office in London and was communicated to
6 Newbury (Fn. 3), pp. 147–148. 7 Ibid. 8 Macrae Simpson: A Political Intelligence Report on the Benin Division of the Benin Province, April 26, 1936, p. 8. Benin City: Ministry of Local Government and Chieftaincy Affairs Library and Archives. 9 Philip A. Igbafe: The Fall of Benin. A Reassessment. In: Journal of African History 11 (1970) No. 3, p. 396. 10 The Ague festival was a national period of fasting and prayer, performed annually at the beginning of the year, for the well-being of the Oba, his entire subjects, and the land. 11 Ekpo Eyo: Benin. The Sack That Was, cited after Osadolor (Fn. 5), pp. 216–217. 12 Barbara Plankensteiner: Benin Kings and Rituals. Court Arts from Nigeria. Vienna 2007, p. 25.
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the Colonial Office on 24th December 1896, 13 is evidence that the British mission of January 1897 was not a peaceful one. Consul Philip had advocated the use of force to depose the King of Benin, and his plan was approved. The British invasion of Benin was organized under the command of Admiral Sir Harry Rawson, the Commander-in-Chief of the British Naval Squadron at Cape Town. The invading army was made up of an elite force of 1,200 British soldiers brought to the Benin river from up to 4,000 miles away from London, Cape Town and Malta, and teamed up with several hundred African troops, locally recruited from the Niger Coast Protectorate Force, and thousands of African porters brought from the British military base in Sierra Leone. 14 There is evidence that the elite force was some 1,500 soldiers, which included the Mediterranean Squadron and the support of a detachment of the West Indian Regiment. 15 Nine ships of Her Majesty’s naval squadron, namely H. M. S. St. George, Theseus, Phoebe, Forte, Philomel, Barossa, Widgeon, Magpie, and Alecto were used for the attack on Benin. The invasion began on 10th February 1897 in a three-pronged attack through the Ologbo creek, the Jamieson River line to Sakpoba, and through Ughoton (Gwatto) creek. The Benin army put up heroic defense against British invasion and on 18th February 1897, when the British forces entered Benin City, „it met with a tremendous hot fire from both sides“, and „it was during this time that Captain Bryne was hit badly, and died later of his wounds; Dr. R.N. Fyfe was killed, and also several marines.“ 16 The fall of Benin was due to several factors and the outcome of the war was dependent upon the Maxim guns and new weapons acquired by the British. In the aftermath of the invasion, „the naval expedition which captured and destroyed Benin City brought back as booty several thousand art objects and antiquities, which comprised the main cultural achievements of the Edo people.“ 17
British marines set the Oba Palace and several houses ablaze after looting the treasures. Commander Reginald Hugh Bacon has described the heartlessness with which they burned the city. 18 On Sunday, 21 February 1897, the British marines finally set the Palace on fire at 4.00 pm and destroyed a large part of the city. The colonial injustice was beyond looting; in addition 13 Newbury (Fn. 3), pp. 147–148. 14 Richard Gott: The Looting of Benin. In: The Independent (UK), February 22, 1997, p. 3. 15 Ryder (Fn. 4), p. 290. 16 Allan M. Boisragon: The Benin Massacre. London 1897, p. 181. 17 Robert Home: City of Blood Revisited. A New Look at the Benin Expedition of 1897. London 1982, p. ix. 18 Reginald H. Bacon: Benin. The City of Blood. London 1897, pp. 102–105.
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Figure: Captain Charles Carter, a man called „E. P. Hill“ and an unknown man in front of the spoils of the British „punitive action“ inside the Royal Palace of Benin, February 1897. Pitts River Museum, Oxford (Wikimedia Commons)
to the loss of lives and the destruction of property, the British plundered thousands of remarkable historical figures, which recorded the history of the kingdom.
3. The Plundered Sculptures Are Significant Cultural Heritage of Benin The plundered objects were a significant cultural heritage of Benin kingdom. Their looting led to the displacement of the Benin material cultural legacy. Benin was extraordinarily rich in sculptures of diverse materials such as bronze, ivory, iron, wood, and terra cotta. The treasure trove of bronze and ivory sculptures included King heads, Queen Mother heads, leopard, crocodile and fish figurines, bells, and a great number of images sculpted in high relief of warriors, chiefs, titleholders, priests, drummers, flute players, foreign merchants and mercenaries, retainers and attendants. The bronzes were made with a mastery of lost-wax casting technique, considered among the best sculptures in that category. The Benin objects were as stunning as the best art cast of the European Renaissance, and among Westerners, as has been pointed out by Joseph Nevadomsky and Agbonifo Osemweri,
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„it was simply impossible that presumed cognitively deficient Africans could have the finesse and skill to do so on their own without outside supervision.“ 19
They noted that „when Europeans finally got over their stereotypes and Eurocentric hype, and the British and German museums hogged the bulk of the art works brought out from the palace of the King of Benin, a change occurred in the representation of Benin art objects.“ 20
As has been asserted by previous writers, the works of Felix v. Luschan 21 gave the Benin objects a new classification and meaning and gave credence to the fact that these objects were indigenous innovations that owed little, if anything, to outside influence, other than to the general ranges of artistic productions that were endemic in southern and middle Nigeria at the time, roughly a period that spanned from 900 to 1897 or even to the present. 22 The looted bronze reliefs had been produced through over five hundred years, and over two thousands of them exist up to the present day. They were once strategically placed on wooden pilasters in the courtyards of the royal palace. The royal court of Benin contributed substantially to the development of the art objects, as the bronze reliefs have no parallel in African art. Significantly, the bronze and ivory pieces had functions in rituals and courtly art and were placed in ancestral altars and pilasters. The bronze plaques were of various compositions, which documented important battles of the wars of expansion by the warrior kings, and most other objects depicted noble / court dignitaries in splendid ceremonial attire. Foreign merchants and mercenaries, as well as war chiefs and other title holders who played important roles in the economy, politics and society of Benin were recorded in bronze reliefs for posterity. The technical sophistication and precious materials of the works of art were much admired, and following their looting by the British army, they were displaced from Benin and sold in Europe and are now displayed in museums in Europe and the United States. 23 19 Joseph Nevadomsky / Agbonifo Osemweri: Benin Art in the Twentieth Century. In: Plankensteiner (Fn. 12), p. 255. 20 Ibid. 21 Gisela Voelger: Curator, Trader, Benin Scholar. Felix von Luschan – An Austrian in Royal Prussian Museum Service. In: Ibid., pp. 213–225. 22 See Fn. 19. 23 P. Girshick Ben-Amos: Art, Innovation, and Politics in Eighteenth Century Benin. Bloomington 1999; B. W. Blackmun: Icons and Emblems in Ivory. Sacred Art from the Palace of Old Benin. Chicago 1997; Kate Ezra: Royal Art of Benin. The Pearls Collection in the Metropolitan Museum of Art. New York 1992; Harry N. Abrams / P. Girshick Ben-Amos / A. Rubin (Eds.): The Art of Power, the Power of Art. Los Angeles 1983; Flora Kaplan: Images of Power. Art of the Royal Court of Benin. New York 1981.
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Robert Bradbury has pointed out that „the history of Benin art is itself an important aspect of Benin history and it is of further significance in that the bronzes, ivories and wood carvings often purport to depict historical personages and events.“ 24
His emphasis is on the material culture, which is of great importance in the collections of direct accounts of the past in the reconstruction of aspects of Benin history and culture. Since a large part of the collections dates to the era of warrior kings from ca. 1440 to 1606 AD and up to the 18th century, the objects remain significant in records administration as well as court rituals. Hence, Bradbury noted that „the bronzes contain much potentially valuable information about Benin society, culture and history over a long period“,
arguing that „no opportunity should be lost to find out what the Benin people themselves say about them.“ 25 The main objective of the bronze plaques was to glorify the Oba as divine king and record the history of his imperial power or to honor the Queen Mother. The commemorative or bronze heads were reserved for ancestral altars. They were used as a base for carved elephant tusks that were placed in openings of the heads. For the Benin people, the head represents the central point of ceremonies and sacrificial offerings. The head symbolizes life and behavior in this world, the capacity to organize one’s action in such a way that one can survive and prosper. The commemorative head of the Oba served as a vivid reminder of the role of the Oba’s head in guiding the kingdom throughout his reign. The head of the Oba was especially sacred, since the survival, security and prosperity of all Edo people and their families depended on his wisdom. The carved ivory tusks showed distinct scenes of important events or accomplishments from the reign of a deceased Oba. As a prerequisite for royal succession, each new Oba had to install an altar in honor of his predecessor. The Benin sculptures provide an unparalleled visual record of the history of the kingdom as well as the customs and tradition of the royal court. The art objects offer clues on everything from clothing and religious virtues to architecture and warfare in the kingdom. The plaques possessed aesthetic qualities and originality, demonstrating the skills of their makers, and adding to their historical significance. It is pertinent to point out that there are figurative expressions in the bronze and ivory carvings, but the figurative works do not eclipse the recorded history of the
24 R. E. Bradbury: Benin Studies, ed. by Peter Morton-Williams. London 1973, p. 18. 25 Ibid., p. 252.
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kingdom. Researching the Benin bronzes, for example, is an investigation into Benin knowledge of metallurgy and the mastery of lost-wax casting that produced the high quality and incredibly fine, and finely made reliefs. German and Austrian museums were among the earliest to come into the possession of a considerable number of works of art from Benin. The avant-garde artists had the opportunity to appreciate the Benin art objects. The looted Benin sculptures tell the story of a great African kingdom. 26 Of all the pre-colonial African states, Benin is the one most mentioned in contemporary European literature, and the quest for historical knowledge of the Benin past remains fascinating because of its arts. As it were, the kingdom of Benin was an exceptional state in the forest region of West Africa, featuring a centralized political organization, and the hub of one of the most powerful political systems in pre-colonial Africa. The study of the artifacts will continue to attract scholarly attention due to the production quality and artistry or its reception in Europe and the United States. The issue of the trading loot vis-à-vis the European economy or the debate on colonial injustice and the restitution question have also attracted an international engagement of scholars as well as of the owners of the stolen sculptures and European museums. And quite recently, this engagement led to the formation of the Benin Dialogue Group. It is a continuation of the colonial power relations.
4. Restitution Question and the Benin Dialogue Group The most prominent and well-known civil society organization in the forefront of the agitation for the return and restitution of the looted Benin sculptures is the „Benin Artefacts Repatriation Campaign Organization Worldwide“ (BARCO) with its membership in Africa, Europe and the United States. It has been consistent in its campaign to recover looted artefacts. On the other hand, the Benin Dialogue Group, a multi-lateral collaborative working group, has also emerged as a government organization but nothing more than the continuation of colonial power relations. The members are museum directors and delegates from Austria, Germany, the Netherlands, Sweden, and the United Kingdom together with representatives of the Edo State Government, the Royal Court of Benin, and the National Commission for Museum and Monuments.
26 Osarhieme B. Osadolor: Displaced and Displayed. Towards a Postcolonial History of the Benin Bronzes. Paper presented at a Public Discussion of the Universität Hamburg, Arbeitsbereich Globalgeschichte, April 24, 2019.
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The agenda of BARCO is the return and restitution of the looted Benin bronzes, which they interpret as restoring the heritage and pride of the Great Benin Kingdom. But the Benin Dialogue Group assumes that returning the art works has not won unanimous support in Nigeria. Their agenda, therefore, is how to attempt to reunite the Benin art objects dispersed in collections around the world in a display of the objects in a new Royal Museum to be built in Benin City. The problem ist that they do not intend to properly restitute the objects, but only to loan them to the Benin Royal Museum on a rotational basis while still claiming property rights for the European and North American Museums. The debate on restitution not only derives its argument from the viewpoint of restoring the stolen assets to its proper owner and the reparation for colonial injustice, but also attempts to introduce the issue of new cultures of collaboration in the sharing of collection and restitution. This issue of new cultures of collaboration arises from the „Declaration on the Importance and Value of Universal Museums“ signed in 2002 by major museums of Europe and the United States. This Declaration attempts to contest the legitimacy of the demands for reparation and restitution. However, it also deliberately ignores the ways and means of how the objects were acquired and how they ended up in the museums of Europe and the United States. The complexity of the restitution debate is further compounded in legal context, albeit in a struggle by the museums in Europe and the United States to resist restitution and by their determination to keep hold of the stolen artifacts. The new approach to the restitution debate on Benin bronzes began after the 2007 Exhibition on „Benin Kings and Rituals: Court Arts from Nigeria“, which was first displayed in the Vienna Museum für Völkerkunde. 27 This exhibition of the Benin cultural objects was subsequently shown the same year at the Musee du quai Branly, Paris, at the Ethnologische Museum of the Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, and at the Art Institute of Chicago in 2008. The reactions that followed the exhibition led to the initiative to start the Benin Dialogue Group. The initial plan of the Dialogue was to create accessibility of the cultural treasures for the people of Benin and Nigeria and, through periodic meetings, work out the details of this accessibility. The first meeting of the initial plan was hosted by the Vienna Museum of Ethnology in December 2010 under the title „New Cultures of Collaboration. Sharing of Collections and Quests for Restitution.“ While Berlin hosted the second meeting „New Cultures of Collaboration. Sharing of Collections“ in Octo-
27 Plankensteiner (Fn. 12).
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ber 2011, the third meeting held in Benin City in February 2013 was simply called „Meeting of Nigerian Officials and European Museum Representatives over the Benin Bronzes Held in European Museums.“ Following the failure of the British Museum in London to host the fourth meeting of the Benin Dialogue Group in 2014, there was a break in the series of meetings. In October 2018, the Group was hosted by the National Museum of World Cultures in Leiden, The Netherlands. 28 In spite of the years of negotiations between the Consortium of European Museums and Nigerian authorities on the return and restitution of the looted Benin bronzes, major European museums at the meeting in Leiden only agreed to a new proposal to loan some of the stolen art objects to the original owners on rotational basis within a new legal framework. A Royal Museum in Benin City to be constructed within three years will be expected to house a rotating display of artifacts and some of the looted objects. 29 In what appears to be a significant advance compared to previous meetings, a new partnership evolved from the proposals of the Benin Dialogue Group. The partnership provided a framework for the European partners to provide advice in building and exhibition design, while European and Nigerian partners will work collaboratively to develop training, source funding, and legal frameworks to facilitate the permanent display of Benin art works in the new museum. 30 The agreement is that all parties will work for three years in order to deliver a permanent display of the historic arts of Benin, including some of the most iconic pieces. The historical context of the agreement did not imply that Nigerian partners „have waived claims for the eventual return of works of art removed from the Royal Court of Benin, nor have the European museums excluded the possibility of such returns. However, this is not part of the business of the Benin Dialogue Group. Questions of return are bilateral issues and are best addressed with individual museums within their national systems of governance.“ 31
The Leiden proposal has raised fundamental issues of ownership and restitution of the Benin bronzes, their theft and emergence on a world stage, their security and safety, and the idea of conservation practices of museums to preserve and display the manifold cultures of the human race for humanity. While these fundamental issues are of concern to different interest groups, the legitimacy of ownership of the artifacts must be addressed, and it is vital to the engagement and debate on the restitution question. 28 Press Release of October 19, 2018, https://www.volkenkunde.nl (accessed March 23, 2020). 29 Ibid. 30 www.tropenmuseum.nl (accessed March 23, 2020). 31 Ibid.
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The legitimacy issue also raises political issues of power politics which attempt to gain property rights of the stolen art objects kept in museums in Europe and the United States. The evidence from 1897 photographs of the looting shows British soldiers sitting inside the King’s palace surrounded by several bronze and ivory objects, plaques, figures, and carved tusks laid out on the palace ground (see Figure above). The British looters did not have the property rights and their theft cannot confer property rights on the British or whosoever they sold the objects to. Truth is that the Benin sculptures were stolen, and the question of ownership does not arise. Neither is the issue of restitution complicated. On the restitution debate, a new development occurred in November 2018. Felwine Sarr and Bénédicte Savoy released a report titled „The Restitution of African Cultural Heritage. Towards a New Relational Ethics“, which had been prepared for the President of France, Emmanuel Macron. The academic activities that have followed this report have raised issues of locating African art in a global society. There is a widespread notion that restitution cases must be dealt with on individual merit. The Benin bronzes, however, belong to the category of stolen cultural heritage over which exists an elaborate discourse regarding the return of the objects and its restitution. For this reason, the restitution debate in all its complexity is contestation of claims to property rights. The Benin bronzes have been stolen by the British. They must therefore be restituted. This has been become an interesting issue because of their value as part of museum collections in Europe and the United States. The Benin sculptures represent unique objects of pre-colonial African art. Their reception in Britain and Europe in the late 19th and early 20th century has conferred them the status of art objects. Rather, their original meanings were embedded in the cultural and religious practices of Benin. They fulfilled functions in rituals and courtly art and were placed in ancestral altars and pilasters. The Benin concept of art in the production of the sculptures explains both why the bronzes were made with a mastery of lostwax casting technique and the reason why there were other sculptures of diverse materials such as ivory, iron, wood and terra cotta. The sculptures were of historical and particular significance in the royal court of Benin, and they also derived from the cultural practices of the people. Oba Erediauwa, the 39th King of Benin, has said in his introductory note to the Benin Exhibition in Vienna in 2007 that the Benin sculptures are „some of Africa’s most exquisite works.“ 32 According to him,
32 Omo N’Oba Erediauwa CFR, Oba of Benin: Introductory Note. In: Plankensteiner (Fn. 12), p. 13.
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„it is important to note that they were not originally meant to be mere museum pieces simply to be displayed for art lovers to admire. They were objects with religious and archival value to my people.“ 33
They were made only under royal command. Thus, the bronzes were records of events in the absence of photography. Those of the works which were not made for record keeping were made for a religious purpose and kept on altars. Barbara Plankensteiner also noted that the 2007 Exhibition paid tribute to the significance of these important African works of art and tried to illustrate as many facets as possible of their artistic and cultural meaning. The full complexity of the works can be appreciated only through the awareness and consideration of two complimentary cultural perceptions of the art of Benin. The Western appreciation of these objects primarily as works of art differs significantly from their understanding in Benin as historical documents, as mnemonic devices for reconstructing history, or as ritual objects. 34 The looting of the objects by the British is nothing more than colonial injustice, and this explains the reasons for the campaign for return and restitution of the sculptures. Writers who have shown interest in the restitution debate have attempted to discuss it in the context of the placement of Benin sculptures in world art history and have raised questions yet unanswered. 35 An interesting dimension to the restitution debate is the issue of appropriation and exploitation of the cultural heritage of Benin. The Benin Dialogue Group has not addressed this issue. At its meeting in July 2019 in Benin City, the Group issued a vision statement to reiterate its commitment to establishing a new Royal Museum in Benin City. While it acknowledged that there were various initiatives across Europe that are currently seeking to address the questions of return and restitution, it stated emphatically that there are national, international and institutional legal complexities that govern issues of return and restitution particularly as member museums are from different countries and jurisdictions with different laws and regulations. The Group intented to meet again in 2020 at the British Museum, London, and in 2021 at the Museum am Rotherbaum, Kulturen und Kunst der Welt, Hamburg, Germany. The London meeting seems to have been cancelled, however, due to the current Corona pandemic.
33 Ibid. 34 Barbara Plankensteiner: Introduction. In: Idem (Fn. 12), pp. 21–22. 35 Staffan Lunden: Displaying Loot. The Benin Objects and the British Museum. Gothenburg 2016; Paul Wood: Display, Restitution and the World Art History. The Case of Benin Bronzes. In: Journal of Visual Culture in Britain 13 (2012) No. 1, pp. 115– 137.
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While the Benin Dialogue Group is holding its meetings, the question of the ownership of the Benin bronzes and whether they should or should not return to Benin City is one issue that cannot be avoided. As Paul Wood has pointed out, „the question of the restitution of the Benin bronzes is one of those that seem simple at first glance but become very complicated the further one investigates“,
adding that „it is also highly emotive. Our Speaker who favoured the return of the bronzes eloquently linked their theft to imperialism and slavery, which he described as the ‚African Holocaust‘.“ 36
The moral heart of the Benin art objects is how they were displaced from Benin City and displayed in Europe and the United States. 37 In all the conversations of the Benin Dialogue Group it appears that the European partners are engaged in a continuation of colonial power relations. They have ignored the necessity of legal restitution of the looted Benin sculptures to the Royal Court of Benin as the rightful owner, even before there were talks on lending the art objects to the proposed Royal Museum in Benin City on a rotational basis. While they are also concerned about the different laws and regulations in the jurisdiction of member museums, the Europeans are failing to address the British theft of the sculptures. In other words, the Group has not addressed the ways and means of how the Benin sculptures were acquired and ended up in the museums in Europe and the United States. The reason, of course, is that the legal and historical contexts of the return and restitution of the stolen sculptures did not form the basis of the dialogue from the very beginning. Rather, it was a dialogue of cooperation with European institutions that are holding the stolen artefacts. Its shortcomings become obvious if critical questions of colonial injustice and restitution are ignored.
5. Conclusion The Benin sculptures, which convey cultural expressions, are of great significance in the present-day Edo and Nigerian society because of their value as products of an indigenous culture and civilization. The international engagement in addressing the British looting of the cultural heritage
36 Wood (Fn. 35), p. 11. 37 Osadolor (Fn. 26).
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of Benin has responsibility for truth-seeking because the atrocities of the British colonial power are well known. Insightful voices are addressing the key issues related to the colonial injustice and the restitution question. These are issues that will likely determine the extent to which the British will take over responsibility for their colonial injustice and to which they negotiate in order to find a solution to the problem of a return and restitution of the looted sculptures. These issues are the legal, cultural, and political dimensions of the restitution debate, which to a large extent will lead to the development of a postcolonially informed approach in dealing with stolen heritage. The issue of their theft raises the question of the restitution of important cultural property of the Benin people. The case of restitution of the Benin bronzes cannot achieve meaningful results when colonial power relations are continued, as the meetings of the Benin Dialogue Group seem to suggest. It must be analyzed in the context of colonial injustice and how to deal with colonial history, though the international host institutions may be opposed to this demand.
Lukas H. Meyer
Gerechtigkeit in der Zeit Die zukunftsorientierte Begründung der Rückgabe des Padrão von Deutschland an Namibia
1. Einleitung Im Jahre 1893, zu Beginn der deutschen Kolonialherrschaft über das Gebiet, das zu Deutsch-Südwestafrika wurde, entfernten die Deutschen die Säule von Kreuz-Kap. Die Portugies*innen hatten diese Säule (den Padrão) im Jahr 1486 an der Küste des heutigen Namibia errichtet. Seit Namibias Unabhängigkeit am 21. März 1990 bekundete der namibische Staat (vertreten durch seinen Präsidenten, seine Regierung und sein Parlament) mehrmals ein starkes Interesse daran, den sogenannten Padrão (die Säule von Kreuz-Kap) zurückzubekommen. Im Jahr 2017 reichte die namibische Botschaft in Deutschland dann die offizielle Forderung nach Restitution des Padrão beim Auswärtigen Amt ein. Die Säule befand sich im Besitz des Deutschen Historischen Museums in Berlin und war Teil der ständigen Ausstellung. 1 Zur Frage der Restitution des Padrão hat das Museum 2018 eine öffentliche Diskussion unter Beteiligung namibischer und europäischer Wissenschaftler*innen organisiert und dokumentiert. 2 2019 hat die
1 Claudia Buchwald: Statusbericht über die Recherchen im Zusammenhang zur Wappensäule von Cape Cross. Berlin: Deutsches Historisches Museum, 29. 05. 2018 (unveröffentlicht); Hans-Martin Hinz: Spurensuche in Berliner Museen. Die Kreuz-KapSäule. In: Ulrich van der Heyden / Joachim Zeller (Hrsg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche. Berlin 2002, S. 265–268. 2 Die Grundlage für diesen Beitrag ist mein Vortrag auf der Konferenz „Das Steinkreuz von Kreuz-Kap. Koloniale Objekte und Historische Gerechtigkeit“, die am 7. 6. 2018 im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin stattfand. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Bundesregierung noch nicht über die Rückgabe des Padrão entschieden. Eine gekürzte Version des Vortrags wurde im Magazin des DHM veröffentlicht (Gerechtigkeit zur rechten Zeit. Philosophische Betrachtungen zur Rückgabe des Padrão. In: Deutsches Historisches Museum [Hrsg.]: Historische Urteilskraft. Magazin des Deutschen Historischen Museums. München 2019, S. 22–27), eine längere Fassung
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Bundesregierung in Absprache mit dem Museum die Rückgabe der Säule an Namibia beschlossen. Auf Grundlage eines Übergabevertrags ging das Eigentum an der Säule an Namibia über und die Säule wurde im Juli 2019 per Containerschiff nach Namibia überführt. 3 Ich werde die Frage nach der Rückführung des Padrão nach Namibia sowohl im Sinne eines vergangenheitsorientierten Verständnisses kompensatorischer Gerechtigkeit als auch im Sinne eines zukunftsorientierten Verständnisses davon, wie Namibier*innen ihre gerechtigkeitsbasierten legitimen Interessen bezüglich ihrer Geschichte und Kultur realisieren können, diskutieren. Darüber hinaus ziehe ich ein drittes Verständnis in Betracht, dem zufolge die Rückgabe des Padrão heutige Namibier*innen dabei unterstützen kann, Maßnahmen symbolischer Wiedergutmachung zu ergreifen und in diesem Rahmen der verstorbenen Opfer der Kolonialzeit zu gedenken. Der Kontext, in dem die Forderung nach Rückführung des Padrão gestellt wurde, ist der europäische und deutsche Kolonialismus und die noch nicht abgeschlossene Aufgabe der Dekolonisierung. Wird ein historisches Unrecht aus Sicht der kompensatorischen Gerechtigkeit betrachtet, so liegt der Schwerpunkt auf den interaktionalen Aspekten. Beim zukunftsorientierten Ansatz stehen die strukturellen Merkmale eines andauernden Unrechtsregimes im Vordergrund. Die Idee der symbolischen Wiedergutmachung befasst sich mit Pflichten der Nachkommen gegenüber verstorbenen Personen, denen als Individuen oder als Angehörige einer bestimmten Bevölkerungsgruppe Unrecht widerfahren ist. Die drei Ansätze reflektieren unterschiedliche Auffassungen der Frage, wer wem gegenüber für die Wiedergutmachung von begangenem Unrecht verantwortlich gemacht werden kann, sowie verschiedene Begründungen für die Rückgabe.
ist in englischer Sprache u. d. T. Responding to Colonial Injustice. Reflections on the Legitimacy of the Return of the ‚Padrão‘. In: Kunstrecht und Urheberrecht 20 (2018) H. 5, S. 119–126, erschienen. Ich danke Claudia Buchwald vom Deutschen Historischen Museum dafür, dass sie ihre enorm hilfreichen Dokumentationen geteilt hat, und Nike Thurn, ebenfalls vom Deutschen Historischen Museum, für die Bereitstellung der im Artikel verwandten Fotos. Dank geht auch an die studentischen Mitarbeiterinnen Lena Remich für ihre sehr hilfreichen Recherchen und Deborah Biging sowie Gunter Schüssler für ihre Hilfe bei der Erstellung dieses Texts. Diese Arbeit ist dem Projekt „Die Aufhebung historischen Unrechts und veränderte Bedingungen“ zuzuschreiben, das vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) unter der Fördernummer P 30084 finanziert wird. 3 Noch ist der Padrão nicht wieder öffentlich zugänglich. Das Deutsche Historische Museum bereitet eine neue Dauerausstellung vor, innerhalb derer das Thema „Kolonialismus“ neu präsentiert wird und die in einigen Jahren eröffnet werden wird. Mein Dank an Fritz Backhaus, Direktor der Sammlungen des Deutschen Historischen Museums, für die Auskünfte dazu.
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Dem kompensatorischen Prinzip zufolge ist der / die primäre Träger*in von Verantwortung die Person, die das Unrecht begangen hat, und der / die sekundäre die Person, die in einer relevanten Beziehung zum / zur Täter*in steht. Der / die direkte Anspruchsberechtigte ist die Person, der das Unrecht widerfahren ist, der / die indirekte eine Person, die in einer entsprechenden Beziehung zum Opfer steht. Beispielsweise sollten diejenigen, die auf unrechtmäßige Weise einen Gegenstand erhalten haben, diesen an diejenigen zurückgeben, welche die rechtmäßigen Besitzer*innen des Gegenstands sind – oder diejenigen, die heute den unrechtmäßig erlangten Gegenstand besitzen, sollten ihn an diejenigen zurückgeben, die ihn geerbt hätten. Demnach steht eine Person unter der Pflicht, einen Gegenstand einer anderen Person zurückzuerstatten (oder Entschädigung in anderer Form zu leisten), wenn sie den Gegenstand zu Unrecht der anderen Person weggenommen hat (oder auf andere Art die Person hat unrechtmäßig zu Schaden kommen lassen). Diejenigen, die in einer entsprechenden Beziehung zu einer der beiden Parteien stehen, z. B. die Nachfahren derer, die den Gegenstand geerbt haben (oder hätten oder die erwiesenermaßen indirekt begünstigt oder geschädigt wurden), können sich in einer ähnlichen und normativ relevanten Beziehung wiederfinAbb. 1: Die Wappensäule den. vom Kreuzkap. © Im Sinne des zukunftsorientierten Ansatzes Deutsches Historisches können wir fragen, welche Personen wir zur Museum, Berlin / Thomas Verantwortung ziehen können, weil sie zum Bruns Kolonialismus beigetragen haben, wenn dieser als ein Unrechtssystem verstanden wird, im Rahmen dessen das Recht auf Selbstbestimmung der Völker verletzt wurde, die kolonisierten Völker und ihre natürlichen Ressourcen ausgebeutet sowie ihre kulturellen Identitäten untergraben wurden. Die direkten Anspruchsberechtigten sind die kolonisierten Völker in ihrer Bemühung um Wiederherstellung und Wiederbelebung ihrer Kulturen, die durch den Kolonialismus ausgehöhlt wurden. So haben die heutigen Namibier*innen ein Interesse daran, sich auf ihre ei-
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gene Weise auf ihre Geschichte zu beziehen und ihre Kultur zu entwickeln. Die Frage ist dann, was ehemalige Kolonialmächte ehemals kolonisierten Völkern schulden, wenn es darum geht, ihr Projekt der Dekolonisierung zu unterstützen, und ob die Rückgabe des Padrão als eine Maßnahme verstanden werden kann, die auf dieser Grundlage geschuldet wird. Wenn wir uns auf unsere eigene Weise auf unsere Geschichte beziehen, ist ein wichtiger Aspekt, dass wir uns auf angemessene Weise auf unsere Vorfahren beziehen können. Das setzt voraus, dass anerkannt wird, wer sie waren, insbesondere wenn die Vorfahren Opfer von Unrecht waren, deren Forderungen nach Entschädigung während ihres Lebens nicht erfüllt wurden und aufgrund des andauernden Regimes strukturellen Unrechts nicht erfüllt werden konnten. Die heutigen Nachfahren der Opfer (und auch der Täter*innen) stehen unter der, wie man sagen könnte, überlebenden Pflicht gegenüber den verstorbenen Opfern, symbolische Wiedergutmachung zu leisten, mit dem Ziel, öffentlich zu zeigen, dass sie Opfer von Unrecht waren und im Laufe ihres Lebens hätten entschädigt werden sollen. Praktiken des Gedenkens, die als symbolische Wiedergutmachung verstanden werden, können auf historische und kulturelle Gegenstände bezogen sein und sind zumeist auf solche bezogen. Entsprechend können die Nachfahr*innen oder Nachfolger*innen der direkten Opfer des Kolonialismus die Rückgabe historischer und kultureller Gegenstände als ein wichtiges Element in ihren Bemühungen ansehen, an das Unrecht, das an ihren Vorfahren verübt wurde, zu erinnern. Auch die Nachfahren oder Nachfolger der Täter*innen können, wenn sie sich im Besitz des Gegenstands befinden, dessen Rückgabe im Sinne symbolischer Wiedergutmachung verstehen. In diesem Fall möchten die Nachfahren der Täter den Nachfahren der Opfer gegenüber öffentlich zum Ausdruck bringen, dass sie das Unrecht, das von ihren Vorfahren oder in deren Namen verübt wurde, als solches anerkennen. Indem sie dies tun, drücken sie aus, dass sie sich wünschen, dass eine Entschädigung der Opfer möglich wäre und dass sie sich dafür einsetzen, solche Verbrechen in Zukunft zu verhindern – im Sinne eines „Nie wieder“. 4
4 Lukas Meyer: Historische Gerechtigkeit. Berlin 2005; Ders. (Hrsg.): Justice in Time. Responding to Historical Injustice. Baden-Baden 2004; Ders.: Reparations and Symbolic Restitution. In: Journal of Social Philosophy 37 (2006) H. 3, S. 406–422; Kamil Zeidler: Restitution of Cultural Property. Hard Case – Theory of Argumentation – Philosophy of Law. Gdánsk / Warszawa 2016, S. 44.
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2. Kompensatorische Gerechtigkeit 5 Die Forderung Namibias nach Rückgabe des Padrão konnte nicht plausibel im Sinne der Restitution eines kolonialen Kulturgegenstands oder als Entschädigung im Sinne der kompensatorischen Gerechtigkeit aufgefasst werden. In diesem Fall fehlen Merkmale, die typisch sind, wenn solche Forderungen gestellt werden. Zum Ersten kann Namibia Ansprüche wohl kaum aufgrund ursprünglichen Eigentums an der Säule geltend machen. Was die Herkunft des Padrão anbelangt, gibt es keine offenen Fragen: Provenienzforschung belegt (und anscheinend gab es daran nie einen Zweifel), dass der portugiesische Staat der Hersteller und ursprüngliche Eigentümer des Padrão war und dass Diogo Cão im Auftrag des Königs von Portugal, João II., ihn im Jahre 1486 6 an dem Ort aufstellte, den wir heute Kreuz-Kap nennen. Wir können uns auf eine gut belegte Interpretation berufen, weshalb Portugal dort den Padrão aufstellen ließ. Portugal verfolgte damit mehrere Ziele. Zum einen beanspruchte Portugal durch die Aufstellung des Padrão, diese Strecke entlang der Westafrikanischen Küste zuerst entdeckt zu haben. 7 Auf der Grundlage der Ideen von Erstentdeckung und terra nullius erhob Portugal Anspruch auf das Recht, das Land zu besitzen (sollte das Königreich es effektiv in Besitz nehmen). 8 Der Padrão in Form eines Kreuzes belegt auch ein wichtiges unterstützendes Motiv für die europäische Kolonisierung, nämlich die Christianisierung der lokalen Bevölkerungen. Durch die Aufstellung des Padrão sollte signalisiert werden, dass Portugal den ersten Schritt mit Blick auf die Christianisierung der lokalen Bevölkerung gemacht habe. 9 Die Errichtung des Padrão sollte auch einen Nutzwert für diejenigen haben, die in der Region mit dem Boot vorbeikamen, nämlich von weiter her die Küste sichtbar zu machen. 10 Bei dessen Wiederentde-
5 Robert Nozick: Anarchy, State, and Utopia. New York 1974, S. 151 f.; David Lyons: The New Indian Claims and Original Rights to Land. In: Social Theory and Practice 4 (1977) H. 3, S. 249–272; Andrew Valls: The Libertarian Case for Affirmative Action. In: Social Theory and Practice 25 (1999) H. 2, S. 299–323; Ryan Hill / Yerni Katarere: Colonialism and Inequity in Zimbabwe. In: Richard Matthew / Mark Halle / Jason Switzer (Hrsg.): Conserving the Peace: Resources, Livelihoods, and Security. Winnipeg 2002, S. 247–271; Daniel Butt: Rectifying International Injustice: Principles of Compensation and Restitution Between Nations. Oxford 2009. 6 Wilhelm Kalthammer: Die Portugiesenkreuze in Südwestafrika. In: Namibia und Meer. Swakopmund 1978, S. 10. 7 Ebd., S. 8. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Hinz (Anm. 1), S. 265.
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ckung durch die Deutschen über 400 Jahre später war der Padrão gekippt und entsprechend wurde notiert, dass er nicht mehr als Wegweiser fungierte. 11 Eine weitere ursprüngliche Verwendung des steinernen Padrão bestand darin, als Ballast auf den Schiffen zu dienen und die Schiffe zu stabilisieren. 12 Es ist anzunehmen, dass auf der Rückreise andere Güter dessen Platz einnahmen, die vor Ort durch Handel oder auf andere Weise erlangt wurden. Zweitens, als der deutsche Staat den Padrão 1893 in Besitz nahm, fragte offenbar niemand nach der Legitimität oder Zulässigkeit dieser Maßnahme, und niemand hielt diese Aneignung für unrechtmäßig oder falsch. Der portugiesische Staat hatte zu dieser Zeit nichts dagegen einzuwenden, dass die Deutschen den Padrão in Besitz nahmen, obwohl Portugal offensichtlich der rechtmäßige Eigentümer war. Seit 1990 haben zwei verschiedene portugiesische Ämter Nachforschungen bezüglich des Padrão angestellt – zum einen die portugiesische Botschaft, zum anderen die Leitung der staatlichen Münzanstalt (Imprensa Nacional – Casa da Moeda). 13 Ich konnte allerdings keine Hinweise darauf finden, dass offizielle Anfragen nach Rückgabe gestellt wurden oder ein derartiges Interesse ausgedrückt wurde. Wenn wir annehmen, dass Besitzansprüche nicht von Veränderungen in Umständen abhängig sind (oder dass keine relevanten Veränderungen in den Umständen ausgemacht werden können) 14 und dass die Aneignung, Verwahrung und Instandsetzung des Padrão keinen Besitzanspruch der Deutschen am Padrão etabliert hat, dann könnte Portugal weiterhin als der rechtmäßige Eigentümer angesehen werden. Allerdings hat nicht nur Portugal davon abgesehen, die deutsche Aneignung des Padrão zu beanstanden, sondern, soweit wir wissen, hatte auch sonst niemand etwas daran auszusetzen. Anscheinend hatte 1893, abgesehen von den Deutschen, niemand ein Interesse am Padrão. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die örtliche Bevölkerung zum Zeitpunkt seiner Entfernung irgendein Interesse am Padrão hatte. 15 Die Säule hatte wohl keinen erkennbaren Nutzwert für sie. Da der Padrão fast umgestürzt war, diente er nicht mehr als Wegweiser,
11 Kalthammer (Anm. 6), S. 13. 12 Ebd., S. 9. 13 Buchwald (Anm. 1), S. 5: „Seit 1990 wurden durch die Portugiesische Botschaft sowie durch den Direktor der Staatlichen Prägeanstalt in Portugal (Imprensa Nacional – Casa da Moeda) vom DHM allgemeine Auskünfte zur Geschichte der Säule eingeholt. Offizielle portugiesische Rückgabeersuchen sind in den Unterlagen des Hausarchivs (DHM) nicht auffindbar, sodass aktuell nicht mehr darüber bekannt ist.“ 14 Vgl. Anm. 41. 15 Andreas Vogt: National Monuments in Namibia. An Inventory of Proclaimed National Monuments in the Republic of Namibia. Windhoek 2004, S. 45.
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denn man konnte ihn nicht sehen, wenn man mit dem Boot vorbeikam. Tatsächlich haben die Deutschen ihn gar nicht entdeckt, als sie 1884 als Zeichen ihrer Besetzung des Gebiets Holzplatten entlang der Küste aufstellten. 16 Zu der Zeit, als die Deutschen sich den Padrão aneigneten, hatte er historischen und kulturellen Wert, nämlich als der vermutlich einzige Gegenstand, der aus der Zeit der europäischen Erstentdeckung des Gebiets 400 Jahre zuvor durch die Portugiesen erhalten geblieben ist. 17 Deutschland hat diesen Wert erhalten, hat den Padrão aufbewahrt und restauriert (wobei er während des Zweiten Weltkriegs bei einem Bombardement Berlins beinahe vernichtet wurde 18). Es ist zu vermuten, dass der Padrão zerstört oder durch Witterung sehr stark mitgenommen worden wäre, hätten die Deutschen ihn nicht mitgenommen und in einem Museum untergebracht. Die anderen drei Padrões von Diogo Cão werden im Museum der Geografischen Gesellschaft in Lissabon aufbewahrt, befinden sich allerdings in einem sehr viel schlechteren Erhaltungszustand. 19 Die Aneignung des Padrão wurde also zur Zeit des Geschehens offenbar als Maßnahme verstanden, die kein Unrecht beinhaltete. Ich habe keine Hinweise darauf gefunden, dass irgendjemand die Aneignung durch den deutschen Staat als unzulässig oder unrechtmäßig angesehen hat. Dennoch, und ich komme darauf zurück, sollte das Schweigen der damaligen Bevölkerung des Gebiets nicht als Zustimmung gedeutet werden. Es könnte auch auf eine fehlende oder mangelhafte Kommunikation – insbesondere zwischen den Deutschen und der lokalen Bevölkerung – hindeuten und auf fehlende Möglichkeiten der Einheimischen, Einwände zum Ausdruck zu bringen, auf die Unfähigkeit der Deutschen, solche Einwände zu verstehen, so sie doch erhoben wurden, oder aber auf das Versäumnis, diese zu melden. Drittens leistete Deutschland keinen finanziellen Ausgleich für die Inbesitznahme des Padrão, sondern stellte 1895 einen Ersatz auf. 20 Dieser diente ähnlichen Zwecken wie der vorherige, nämlich u. a. dem, den Küstenabschnitt sichtbar zu markieren. Das neue Denkmal wies eindeutige Bezüge zum ursprünglichen portugiesischen Padrão auf. Darüber hinaus war der Ersatz aus Granit besser geeignet, in der Witterung der Küstenregion zu bestehen, als das Original aus Kalkstein. Das deutsche Denkmal kann 16 Kalthammer (Anm. 6), S. 13. 17 Amy Shoeman: Skeleton Coast. Cape Town 3. Aufl. 2000, S. 82. 18 Wilhelm Kalthammer: Die Portugiesenkreuze in Afrika und Indien. Eine umfassende Darstellung aller von den portugiesischen Entdeckern Diogo Cão, Bartolomeo Dias und Vasco da Gama errichteten Steinkreuze (Padrões), deren Geschichte und deren Nachbildungen. Basel 1984, S. 38. 19 Kalthammer (Anm. 6), S. 10. 20 Ebd. S. 82.
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also als eine Art Ausgleich für die Wegnahme des portugiesischen Padrão aufgefasst werden, was seinen Nutzwert als Wegweiser für Seereisende angeht, und erinnert nicht zuletzt durch entsprechenden Text auf dem Denkmal auch an die „Entdeckung“ dieses Gebiets durch die Portugiesen. Viertens hatte Deutschland 1884 offiziell Protektoratsstatus für das als Südwestafrika bekannte Gebiet beansprucht. 21 Der deutsche Staat stellte einen Ersatz für den Originalpadrão auf und behielt das Original nicht nur, sondern stellte es auch öffentlich zunächst in der historischen Sammlung der Kaiserlichen Marine-Akademie in Kiel aus. Diese Staatshandlungen können so verstanden werden, dass Deutschland öffentlich betonte, dass es auf Grundlage der Idee von terra nullius Portugals Nachfolger geworden sei, indem es nun effektiv das Land in Besitz nahm. 22 Portugal hatte dies nicht getan, hatte keine Kolonie eingerichtet. Jedenfalls gilt: Wenn die Inbesitznahme des Padrão im Jahre 1893 und die Errichtung des eigenen Denkmals 1895 den deutschen Anspruch auf „effektive Besetzung“ der Küstenlinie des Lands, das später Deutsch-Südwestafrika wurde, unterstreichen sollte, so ist dies mit Artikel 34 der General-Akte der Berliner Konferenz (auch Kongoakte der Kongokonferenz genannt) vereinbar, in der festgelegt ist, dass die „Inbesitznahme eines Gebiets entlang der Küste des afrikanischen Kontinents außerhalb gegenwärtiger Besitzverhältnisse“ mit einer „Bekanntmachung davon“ einhergehen muss, „die an die anderen unterzeichnenden Kräfte der vorliegenden Abhandlung gerichtet ist, damit sie, sofern nötig, ihre eigenen Ansprüche lautend machen können“. 23
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Überlegungen kompensatorischer Gerechtigkeit allein den Anspruch Namibias nach Rückgabe des Padrão nicht begründen können, wenn man die Herkunft des Padrão (nämlich den Umstand, dass Portugal Hersteller und Eigentümer war) und die Umstände der Entfernung durch die Deutschen (insbesondere die Tatsache, 21 Ellen Ndeshi Namhila: Recordkeeping and Missing. „Native Estate“ Records in Namibia. An Investigation of Colonial Gaps in a Post-Colonial National Archive. Academic Dissertation University of Tampere 2015, online unter https://trepo.tuni.fi/handle/ 10024/97932 (aufgerufen am 11. 2. 2021), S. 27. 22 Das Kreuz wurde im Zeitraum zwischen 1894 und 1901 in Kiel ausgestellt, bevor es dem Institut und Museum für Meereskunde in Berlin überstellt wurde. Große Teile des Museums wurden während des Zweiten Weltkriegs schwer beschädigt. Im Jahre 1953 wurde der Padrão aus den Ruinen des Museums geborgen. Von 1991 bis 2006 wurde er an das Museum für Transport und Technik verliehen. Seit 2006 wird das Kreuz im Deutschen Historischen Museum ausgestellt. 23 Siehe die „Allgemeine Abhandlung der Berliner Konferenz über Westafrika“, Fassung vom 26. 2. 1885, Bekanntmachung 20. 6. 1885, https://de.wikisource.org/wiki/GeneralAkte_der_Berliner_Konferenz_(Kongokonferenz); aufgerufen am 11. 2. 2021), Deutsches Reichsgesetzblatt Bd. 1885, Nr. 23, S. 215–246), Kap. VI, Art. 34.
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dass sie zur damaligen Zeit offenbar von niemandem als unrechtmäßig empfunden wurde) berücksichtigt. Namibia kann nicht behaupten, Eigentumsansprüche am Padrão ererbt zu haben. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die lokale Bevölkerung ihn als ihr eigen empfunden hat. Die Tatsache, dass das Kreuz fast umgestürzt war, scheint ein klares Indiz dafür zu sein, dass die lokale Bevölkerung keinerlei Interesse daran hatte, bevor die Deutschen es an sich nahmen und durch ihr Denkmal ersetzten. Es ist eine interessante Frage, ob Portugal immer noch als der rechtmäßige Eigentümer des Padrão gelten kann. Das scheint jedoch mindestens fragwürdig, wenn wir berücksichtigen, dass Portugal niemals offiziell Rückerstattung oder Entschädigung von den Deutschen dafür beantragt hat, dass sie den Padrão an sich genommen und behalten haben, und auch keine Einrede gegen die Rückführung der Säule nach Namibia gemacht hat. Portugal hatte offenbar zwischenzeitlich selbst Interesse an der Rückgabe des Padrão zum Ausdruck gebracht, dies wohl aber nicht als eine Forderung auf Restitution von Eigentum verstanden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Portugal in den Jahren vor der Übernahme durch die Deutschen, zu der Zeit des Geschehens oder jemals danach ein starkes Interesse am Padrão hatte. Obwohl es keinen Zweifel daran gibt, dass Portugal der Hersteller und ursprüngliche Eigentümer des Padrão war (und soweit ich weiß, Deutschland das auch nie bestritten hat), suggeriert Portugals langjähriger und andauernder Mangel an starkem Interesse am Padrão ein verlorenes Interesse am Besitz dieses historischen und kulturellen Gegenstands. Wenn wir Portugals zwischenzeitlich zum Ausdruck gebrachtes Interesse an der Rückgabe des Padrão ernst nehmen, 24 muss das nicht heißen, dass wir dies als vergangenheitsorientierte Forderung nach Rückerstattung interpretieren. Plausibel wäre, dass Portugals Interesse ein zukunftsbezogenes Verständnis der Bedeutung dieses kulturellen und historischen Gegenstands widerspiegelt, die beispielsweise darin bestehen könnte, dass er den Portugies*innen dabei helfen könnte, mit ihrer Geschichte der „Entdeckung“ und Kolonisierung umzugehen, sie zu verarbeiten und zu akzeptieren. Allerdings kenne ich keine Belege für ein so verstandenes Interesse auf Seiten Portugals. Ich komme darauf zurück.
24 Laut Vogt (Anm. 15), S. 46, hat Portugal Interesse an der Rückgabe des Padrão bekundet. Siehe auch Hinz (Anm. 1), S. 265.
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3. Zukunftsorientierte Rückerstattung 25 Ich wende mich nun einem zukunftsorientierten Verständnis zu und fokussiere auf Namibias Forderung nach Rückgabe des Padrão. Ein zukunftsorientierter Ansatz erfordert keinen Nachweis dafür, dass das Objekt den Vorfahr*innen der heutigen Bewohner*innen Namibias unrechtmäßig weggenommen wurde. Es gibt andere Gründe, warum Namibia als berechtigt gelten kann, den Padrão zurückzuerhalten. Die Rechtfertigung einer solchen zukunftsorientierten Rückerstattung basiert auf der Annahme, dass die Namibier*innen ein legitimes Interesse daran haben, sich auf ihre Weise auf ihre Geschichte zu beziehen und ihre eigene historische und kulturelle Identität zu entwickeln. Um dazu in der Lage zu sein, müssen die Namibier*innen sich auf bedeutsame Weise auf verstorbene Angehörige ihrer Gemeinschaft beziehen können, die zu Opfern der Verbrechen deutscher Kolonialherrschaft wurden. Auf diese Weise können sie an die Umstände strukturellen Unrechts erinnern, unter denen ihre Vorfahr*innen zu Opfern wurden, und auf die andauernden Auswirkungen des Kolonialismus reagieren. 26 Die Namibier*innen können als die rechtmäßigen Anwärter*innen auf Besitz des Padrão gelten (und der namibische Staat als rechtmäßiger Vertreter ihres Anspruchs), wenn die Rückgabe des Padrão die Namibier*innen dabei unterstützt, ihr legitimes Interesse an der Aufarbeitung ihrer Geschichte und der Entwicklung ihrer eigenen kulturellen und historischen Identität zu verfolgen. Wenn wir den namibischen Anspruch auf diese Weise verstehen, dann können wir ihn anhand der folgenden Überlegungen begründen. Erstens ist der Padrão für Namibia ein Objekt von 25 Leif Wenar: Reparations for the Future. In: Journal of Social Philosophy 37 (2006) H. 3, S. 396–405; Thom Brooks: A Two-Tiered Reparations Theory. A Reply to Wenar. In: Ebd. S. 423–440; Kok-Chor Tan: Colonialism, Reparations, and Global Justice. In: Jon Miller / Rahul Kumar (Hrsg.): Reparations. Interdisciplinary Inquiries. Oxford 2007, S. 280–306; Iris M. Young: Justice and the Politics of Difference. Princeton 1990; Dies.: Inclusion and Democracy. Oxford 2000; Dies.: Responsibility and Historical Injustice. Application of a Social Connection Model. In: Annual Meeting of the American Political Science Association. Chicago 2004, S. 1–42; Dies.: Structural Injustice and the Politics of Difference. In: Anthony S. Laden / David Owen (Hrsg.): Multiculturalism and Political Theory. New York 2007 S. 60–88; Dies.: Responsibility for Justice. Oxford 2011; Catherine Lu: Colonialism as Structural Injustice: Historical Responsibility and Contemporary Redress. In: Journal of Political Philosophy 19 (2011) H. 3, S. 261–281; Jeff Spinner-Halev: Enduring Injustice. New York 2012; Barbara Buckinx / Jonathan Trejo-Mathys / Timothy Waligore (Hrsg.): Domination and Global Political Justice: Conceptual, Historical and Institutional Perspectives. New York 2015. 26 Jeremy Silvester / Jan-Bart Gewald (Hrsg.): An Annotated Reprint of the 1918 Blue Book of South-West Africa. Words Cannot Be Found. German Colonial Rule in Namibia’s Administrator’s Office. Report on the Natives of South-West Africa and Their Treatment by Germany. Leiden 2003.
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„kultureller oder historischer Bedeutung, das in der europäischen Kolonialzeit entfernt worden [. . .] oder unfreiwillig in einem von europäischen Kolonialmächten kontrollierten Gebiet verloren gegangen ist [. . .] und danach nicht zurückgegeben wurde.“ 27
Dies trifft zu, auch wenn es keine Hinweise darauf gibt, dass sich die einheimische Bevölkerung in der Zeit, als die Deutschen ihn sich aneigneten, für den Padrão interessierte. Die historische und kulturelle Bedeutung liegt darin, dass der Padrão eines der sehr wenigen erhaltenen Objekte ist, welche die portugiesische „Entdeckung“ dieses Abschnitts der westafrikanischen Küste dokumentieren. Jene war eine Voraussetzung für die Kolonisierung des Gebiets und der dort lebenden Bevölkerung bzw. der erste Akt der Kolonisierung. Die Deutschen entfernten den Padrão unter ungleichen Bedingungen, die eindeutig nicht als normativ unproblematisch bezeichnet werden können. Wir dürfen und müssen annehmen, dass die Deutschen nicht einmal den Versuch unternahmen, herauszufinden, ob die Bevölkerung des Gebiets ein kulturelles oder historisches Interesse an dem Padrão hatte und ob sie der Meinung war, einen Anspruch darauf zu haben. Das mangelnde Interesse der Deutschen, sich diese Informationen zu beschaffen, könnte als Zeichen der allgemeinen Missachtung der individuellen rechtlichen Ansprüche und moralischen Rechte der einheimischen Bevölkerung interpretiert werden. Die Umstände der Übernahme waren allerdings facettenreich. Tatsächlich baten die Deutschen die dort lebenden Menschen nicht um Erlaubnis, den Padrão entfernen zu dürfen, und er wurde weder käuflich erworben noch gegen etwas anderes getauscht. 28 Allerdings ließ der Zustand, in dem die Deutschen den Padrão auffanden, kein Interesse der lokalen Bevölkerung am Objekt vermuten, wie ich schon betont habe. Darüber hinaus vereinbarten deutsche Amtsträger*innen und indigene Bevölkerungsgruppen zur Zeit der Inbesitznahme des Padrão sogenannte Schutzverträge. 29 Das legt nahe, dass die Deutschen eine komplexere Auffassung bezüglich des rechtlichen Status der Bewohner*innen des Gebiets hatten, auch wenn diese Abkommen unter höchst ungleichen Bedingungen geschlossen 27 Jos Van Beurden: Treasures in Trusted Hand. Negotiating the Future of Colonial Objects. o. O. 2016, S. 88, https://research.vu.nl/ws/portalfiles/portal/42164392 (aufgerufen am 11. 2. 2021). 28 Ebd., S. 89. 29 Frank Lahmann: Establishment of effective German Control in South-West and East Africa: 1894–1907. o. O. 2011, https://www.namibiana.de/namibia-information/geschichte-politik-gesellschaft/meldung/frank-lahmann-chapter-2-establishment-ofeffective-german-control-in-south-west-and-east-africa-1894-1907.html (aufgerufen am 11. 2. 2021).
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wurden und wenn man sie im Nachhinein eher als Instrumente der Kolonialmächte verstehen kann, Menschen und ihre Ressourcen möglichst effizient ausbeuten zu können. In diesem Sinne haben die Menschen, die das Gebiet bewohnten, den Padrão unfreiwillig verloren, und das unter Umständen, in denen Deutschland als werdende Kolonialmacht begann, ihr Land ohne ihre Zustimmung zu kontrollieren. Zweitens steht die Inbesitznahme des Padrão am Beginn der Kolonisierung des Gebiets durch die Deutschen und den deutschen Staat sowie am Beginn eines brutalen und ausbeuterischen Regimes, das zum wohl ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts führte, begangen von Deutschen und im Namen des deutschen Staats. 30 Somit kann dieses Ereignis durchaus als bedeutsam betrachtet werden, weil es eng mit der Einführung eines von systematischem und strukturellem Unrecht geprägten Regimes verbunden ist. Aus diesem Grund kann dem Anspruch Namibias nach Rückgabe des Padrão eine gewichtige symbolische Bedeutung zugesprochen werden. Das Gebiet, auf dem der Padrão (und später sein Ersatz) aufgestellt wurden, hat eine bestimmte historische Bedeutung für die Geschichte der Kolonisierung Südwestafrikas. Zur Zeit der Entfernung des Padrão und danach übernahmen deutsche Firmen und Geschäftsleute sowie der deutsche Staat die Kontrolle über die größere Fläche Südwestafrikas, mit dem Ziel, sowohl die hier zu findenden natürlichen Ressourcen als auch die Bewohner*innen auszubeuten. Das betrifft insbesondere das Gebiet, auf dem der Padrão einmal stand. Hier haben britische Unternehmer*innen mit Erlaubnis der Deutschen Kolonialgesellschaft die örtlichen Robbenkolonien und Guano-Lager ausgebeutet. 31 Später hat der deutsche Staat hier eines seiner berüchtigten Konzentrationslager für die überlebenden Opfer des genozidalen Kriegs gegen die Herero und Nama errichtet. Viele der Gefangenen starben in diesen Konzentrationslagern in Kreuz-Kap, nachdem sie brutal als Zwangsarbeiter*innen ausgenutzt worden waren. In den Jahren von 1884 bis 1915 etablierte Deutschland die Kolonie Südwestafrika, in der die systematische und grausame Ausbeutung der örtlichen Bevölkerung, ihres Lands und ihrer Ressourcen zu einer Rebellion
30 Menschenrechtskommission des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen, Unterkommission für den Schutz von Minderheiten, 1985; Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland: Aus der Vergangenheit in die Zukunft: Deutsch-Namibische Vergangenheitsbewältigung, 9. 4. 2018, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ aussenpolitik/regionaleschwerpunkte/afrika/-/1897660 (aufgerufen am 11. 2. 2021). 31 Peter Bridgeford / Marilyn Bridgeford: Cape Cross. Past and Present. Walvis Bay 2002, S. 18–22.
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Abb. 2: „Nach dem Krieg. Gruppe gefangener Hereros“. In: Berliner Illustrierte Zeitung (1907), Nr. 4, S. 52. Illustration, 41 × 30,5 cm. Deutsches Historisches Museum, Berlin (Inv. ZB 395-16.1907) © Deutsches Historisches Museum.
führte, die auf die brutalste Weise militärisch niedergeschlagen wurde. 32 Der Krieg gegen die Herero und Nama ist Gegenstand eines andauernden Rechtsstreits, in dem die Herero und Nama monetäre Entschädigung sowie einen Sitz bei den derzeitigen und andauernden Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland und ein offizielles Bekenntnis der deutschen Regierung zum Genozid fordern. 33 Berücksichtigt man also die historische Entwicklung seit der Entfernung des Padrão, so steht die Entfernung als ein Schlüsselereignis am Beginn der deutschen Kolonisierung Südwestafrikas. Die Aneignung des Padrão durch die Deutschen ist ein Element und ein Ausdruck des systematischen strukturellen Unrechts, welches der einheimischen Bevölkerung widerfahren ist. Dieses Unrecht basierte auf Vorstellungen wie der der vermeintlichen rassischen Überlegenheit des deutschen Volkes und 32 Felix Würkert: „Yes, redressing past wrongs in the present!“, 28. 10. 2015, https:// voelkerrechtsblog.org/yes-redressing-past-wrongs-in-the-present/; Mieke van der Linden: „Redressing colonial wrongs?“, 19. 10. 2015, https://voelkerrechtsblog.org/ redressing-colonial-wrongs/ (beide aufgerufen am 14. 10. 2018); Jörn Axel Kämmerer / Jörg Föh: Das Völkerrecht als Instrument der Wiedergutmachung? – Eine kritische Betrachtung am Beispiel des Herero-Aufstandes. In: Archiv des Völkerrechts 42 (2004) H. 3, S. 294–328. 33 http://genocide - namibia . net / wp - content / uploads / 2017 / 01 / Press - Release - 2 . pdf; http://genocide-namibia.net/wp-content/uploads/2017/01/Class-Action-Complaint. pdf (beide aufgerufen am 14. 10. 2018), ferner Anm. 30 und 43 im vorliegenden Beitrag.
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seiner Kultur. Diese Vorstellungen bilden grundlegende Elemente einer Ideologie, welche die rassistisch motivierte Missachtung und skrupellose Ausbeutung der afrikanischen Bevölkerung legitimierte. 34 Dementsprechend kann Namibias Anspruch auf Rückgabe des Padrão als Ausdruck eines legitimen, auf Gerechtigkeit basierenden Interesses an seiner Geschichte und Kultur aufgefasst werden. Unter anderem haben Namibia und die Namibier*innen ein Interesse daran, von den Nachfahr*innen ihrer Kolonisator*innen und dem Nachfolger des kolonisierenden Staats als Gleichwertige und entsprechend respektvoll behandelt zu werden. Dies gilt insbesondere, nachdem ihre Kolonisierung und rassistisch motivierte schonungslose Diskriminierung andauernde soziale, wirtschaftliche und kulturelle Konsequenzen zeitigt. Darüber hinaus haben derzeitig und zukünftig lebende Namibier*innen ein Interesse daran, ihre koloniale Vergangenheit zu bewältigen und insbesondere nachzuvollziehen, was es für ihre Vorfahr*innen bedeutet hat, kolonisiert zu werden. Diese Deutung des namibischen Anspruchs und der Frage, warum Namibia den Padrão als ein Objekt von kulturellem und historischem Belang ansieht, wird durch die Tatsache gestützt, dass Namibia in das Kapgebiet investiert, um es zu einem Ort der Erinnerung an die Geschichte der Kolonialisierung zu machen. 35 Die Stätte wurde bereits 1968 zu einem nationalen Monument erklärt und wurde seit 1974 umgebaut. 36 Zurzeit werden hier ein Nachbau (aus dem Jahre 1980) des ursprünglichen Padrão von Diogo Cão neben dem deutschen Ersatz und anderen, neueren Gedenktafeln ausgestellt. 37 Diese Beobachtungen und Überlegungen lassen den Schluss zu, dass Namibias Anspruch auf Rückgabe des Padrão das Interesse der Namibier*innen an kultureller Dekolonisierung widerspiegelt. Dieses Interesse hat verschiedene Aspekte. Die Namibier*innen haben das Interesse, die Deutungshoheit über die Geschichte der Kolonisierung und die angestrebte Dekolonisierung zu erlangen. Weitere Aspekte betreffen den Zugang der namibischen Bevölkerung zu historischen und kulturellen Objekten, die sich für eine kritische Reflexion der Geschichte ihrer „Entde-
34 Wolfram Hartmann: Making South West Africa German? Attempting Imperial, Juridical, Colonial, Conjugal and Moral Order. In: Journal of Namibian Studies 2 (2007), S. 51–84, auch online unter https://namibian-studies.com/index.php/JNS/article/ view/107/76 (aufgerufen am 11. 2. 2021). 35 Hinz (Anm. 1), S. 266. 36 Ebd., S. 266 f. 37 Bridgeford / Bridgeford (Anm. 31), S. 18; Claudia Buchwald: Objektgeschichte der Wappensäule von Kreuzkap. Unveröffentlichte Objektgeschichte, Stand Mai 2018. Berlin 2018, S. 2.
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ckung“, Kolonisierung sowie deren Auswirkungen eignen – und für ein Gedenken an die Opfer. Die Bedeutung dieser Interessen kann so verstanden werden, dass die Namibier*innen das „grundlegende Menschenrecht besitzen, ihre kulturellen Artefakte für die Entwicklung ihrer Kultur auf eigene Art und Weise und in eigenem Tempo zu bewahren.“ 38 Die Umsetzung dieses Rechts ist vor allem deshalb von so großer Bedeutung, weil sich Namibia in einem noch nicht abgeschlossenen Prozess der Dekolonisierung befindet, in dem es unter anderem um die Erneuerung und Wiederbelebung seiner vom Kolonialismus erodierten Kulturen geht. Das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung kann so verstanden werden, dass ihm auf Seiten des Deutschen Historischen Museums oder des deutschen Staats die Pflicht entspricht, den Padrão zurückzugeben. Zwar lässt sich wohl kaum zeigen, dass die Rückgabe notwendig dafür ist, dass die namibische Bevölkerung ihr Recht auf kulturelle Selbstbestimmung verwirklichen kann, aber wir haben Grund zu der Annahme, dass die Rückgabe die Verwirklichung dieses Rechts unterstützen würde. Namibia hat ein starkes Interesse an der Rückgabe des Padrão bekundet 39 und, wie erwähnt, in die Umgestaltung des Geländes, auf dem der Padrão gestanden hat, investiert, um daraus einen Ort des Gedenkens zu machen. Die Rückgabe ist für die Deutschen zudem nicht besonders belastend. Der wissenschaftliche und historische Wert des Artefakts wird bereits seit über hundert Jahren erforscht, und in Berlin oder Deutschland scheint nur ein geringes öffentliches und kulturelles Interesse an diesem Objekt zu bestehen. Darüber hinaus kann Deutschland mittels der Rückgabe in einen Prozess eintreten, der die Aufarbeitung seiner Vergangenheit als Kolonialmacht erlaubte. Wenn wir Portugals Interesse an einer Rückführung des Padrão nach Portugal in einer ähnlich zukunftsorientierten Weise deuten könnten, das heißt, als ein Interesse Portugals und der Portugies*innen, ihre Geschichte der „Entdeckung“ und Kolonisierung aufzuarbeiten, dann müssten wir die dann konfligierenden Interessen an einer Restitution des Padrão nach Namibia oder Portugal gegeneinander abwägen. Es wäre mir jedoch nicht bekannt, dass Portugals in jüngster Zeit zum Ausdruck gebrachtes Interesse am Padrão sich auf eine solche zukunftsorientierte Bedeutung seiner Rückführung stützt oder plausibel stützen könnte. Ich kenne keine Belege dafür, dass Portugal und die Portugies*innen ein starkes Interesse an den drei Padrões gezeigt haben, die nach Portugal zurückgeführt wurden, und 38 Kwame Opoku: What Are They Really Celebrating at the Musée du Quai Branley, Paris? In: Modern Ghana, 30. 4. 2016, https://www.modernghana.com/news/689178/ what-are-they-really-celebrating-at-the-muse-du.html (aufgerufen am 11. 2. 2021). 39 Bridgeford / Bridgeford (Anm. 31), S. 16.
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keine Belege dafür, dass sie als Referenzpunkte in einem kritischen Reflexionsprozess der Portugies*innen, der ihre Geschichte als Kolonialmacht zum Gegenstand hat, gedient haben.
4. Abschließende Bemerkungen Begreift man den Padrão als ein erhaltenes kulturelles und historisches Objekt, welches das systematische strukturelle Unrecht der Deutschen und des deutschen Staats bei der Kolonisierung der örtlichen Bevölkerung und der Bevölkerung des späteren Deutsch-Südwestafrikas verkörpert, lässt sich die unterdessen erfüllte Forderung Namibias auf Rückgabe des Padrão zukunftsorientiert begründen. Sie zielt darauf, einen historischen Unrechtszusammenhang zu adressieren, und zwar aus überwiegend zukunftsorientierten Gründen. Einerseits habe ich argumentiert, dass Namibia pro tanto anspruchsberechtigt im Sinne der moralischen Rückgabeforderung ist – denn meiner Meinung nach handelt es sich um eine moralische Forderung –, andererseits habe ich auch erklärt, dass es meiner Ansicht nach keinen nachweislichen Rückgabeanspruch auf Grundlage von Überlegungen der kompensatorischen Gerechtigkeit gibt. Selbst in Fällen, in denen die Entfernung eines historisch und kulturell bedeutsamen Objekts ein historisches Unrecht darstellte, 40 ist die Forderung auf Rückgabe aus kompensatorischen Gründen häufig schwer zu rechtfertigen, weil sich häufig die Umstände normativ bedeutsam geändert haben, nämlich so, dass der kompensatorische Restitutionsanspruch nach Abwägung mit den jetzt geltenden anderen Ansprüchen keine Geltung mehr hat. 41 Idealerweise würde die Rückgabe des Padrão an Namibia Auffassungen widerspiegeln, die beide Seiten – die Nachfahr*innen sowohl der Opfer als auch der Täter*innen – teilen: darunter insbesondere die Anerkennung des systematischen strukturellen Unrechts, die Bereitschaft, sich an einem Prozess mit dem Ziel zu beteiligen, die derzeitigen und zukünftigen Be40 Jeremy Waldron: Superseding Historic Injustice. In: Ethics 103 (1992) H. 1, S. 16– 19; Chris Armstrong: Justice and Attachment to Natural Ressources. In: Journal of Political Philosophy 22 (2013) H. 1, S. 48–65; Anna Stilz: Occupancy Rights and the Wrong of Removal. In: Philosophy and Public Affairs, 41 (2013) H. 4, S. 424-356; Burke A. Hendrix: Ownership, Authority, and Self-Determination. University Park 2008. 41 Jeremy Waldron: Historic Injustice. Its Remembrance and Supersession. In: Graham Oddie / Roy W. Perrett (Hrsg.): Justice, Ethics, and New Zealand Society. Auckland 1992, S. 139–170; Lyons (Anm. 5); Lukas Meyer / Timothy Waligore: Die Aufhebungsthese. Grundlinien einer Theorie des gerechten Umgangs mit historischem Unrecht. In: Frank Dietrich / Johannes Müller-Salo / Reinhold Schmücker (Hrsg.): Zeit – eine normative Ressource? Frankfurt a. M. 2018, S. 215–230.
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ziehungen wechselseitig und fair zu verändern, sowie die Verpflichtung zu einem „Nie wieder!“. Diese auf meinen vorangegangenen Überlegungen aufbauende Schlussfolgerung möchte ich im Folgenden noch qualifizieren. Ob die Rückgabe des Padrão diese Bedeutung erlangen kann, hängt zunächst von den substanziellen Begründungen für den Anspruch auf Rückgabe ab sowie davon, wie diese Begründungen diskutiert werden und wie dann der Anspruch realisiert wird. Wird der Anspruch zukunftsorientiert verstanden und auf den Unrechtszusammenhang bezogen, und soll durch die Realisierung dem Ziel, neue Beziehungen aufzubauen, Rechnung getragen werden, dann hat ein solches gemeinsames Verständnis der Berechtigung der Rückgabeforderung weiterreichende Konsequenzen für das Verständnis anderer Forderungen aus diesem Unrechtszusammenhang. Das gemeinsame Verständnis der Berechtigung der Rückgabeforderung ist bedeutsam sowohl für die Anerkennung der Berechtigung von Wiedergutmachungsforderungen (das heißt von Forderungen nach materiellen und monetären Rückerstattungen sowie Entschädigungen aufgrund historischen Unrechts, das während der Kolonialzeit begangen wurde) als auch für deren zügige Abwicklung. Das scheint eine Frage praktischer Kohärenz zu sein. Den Forderungen nach Reparationen, die den Anspruchsberechtigten aufgrund historischen Unrechts zustehen, nicht in angemessener Weise zu entsprechen ist unvereinbar mit der Bedeutung, die einem Engagement für die Überwindung der von strukturellem Unrecht geprägten Beziehung zukommt. Umgekehrt kann die hiermit zusammenhängende Legitimität solcher Maßnahmen der Entschädigung und Wiedergutmachung politisch Anlass sein, die Berechtigung der Rückgabe des Padrão anzufechten. Wenn wir dieser Forderung nämlich mit zukunftsorientierter Begründung nachkommen, sollte dies Implikationen für den Umgang mit weiteren Forderungen nach Entschädigung für koloniales Unrecht haben – darunter Unrechtstaten, die durch die Deutschen, das deutsche Militär und im Namen des deutschen Staates begangen wurden, einschließlich des Völkermords an den Herero und Nama und der systematischen Misshandlung der überlebenden Opfer dieses Kriegs. In anderen Worten: Es ergibt wenig Sinn, die Diskussion über die Legitimität und moralische Berechtigung der Forderung nach Rückgabe des Padrão von der Bewertung der Kolonialverbrechen zu trennen. Die Anerkennung des Anspruchs auf Rückgabe berücksichtigt richtig verstanden, so mein Argument, sowohl die Bedingungen zur Zeit der Aufstellung des Padrão durch die Portugies*innen und der späteren Entfernung durch die Deutschen als auch die Bedeutung, die dem Padrão und seinem Ersatz in der Kolonialzeit zugekommen ist bzw. in den heutigen Bemühungen der Namibier*innen um Dekolonisierung zukommt. Dekolonisierung kann
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auch als ein Prozess verstanden werden, in dem kulturelle Unabhängigkeit erkämpft wird. In diesem Sinne setzt Dekolonisierung voraus, dass die Namibier*innen ihre Geschichte aufarbeiten und sowohl an die Bedingungen der „Entdeckung“ und Kolonisierung ihres Lands als auch an die Opfer dieses anhaltenden historischen Unrechts und spezifischer Verbrechen erinnern. Zweitens, wenn die Forderung in einem zukunftsorientierten Sinne verstanden wird, indem es nämlich um kulturelle Dekolonisierung geht, dann muss die Frage beantwortet werden, welche Entitäten berechtigt waren, im Namen der Nachfahr*innen der Opfer des deutschen Kolonialismus in Südwestafrika Wiedergutmachungsforderungen zu stellen. Nach traditionellem Verständnis des Völkerrechts gilt der Staat Namibia als legitimer Vertreter, um die Übernahme von Verantwortung für die Dekolonisierung einzufordern, und zwar im Rahmen eines Prozesses, in welchem die heutigen wie die zukünftigen Bürger*innen des Lands kulturelle Unabhängigkeit erlangen und ihr Recht auf Selbstbestimmung verwirklichen können. 42 Allerdings bestreiten einige, die sich als Sprecher*innen der Herero und Nama verstehen, dass ausschließlich der Staat Namibia berechtigt sei, die Interessen der direkten und indirekten Opfer des Völkermords zu vertreten. Nicht der Staat Namibia, sondern Vertreter*innen der Herero und Nama traten als Sammelkläger*innen gegen Deutschland am Southern District Court in New York auf. Sie verlangten nicht nur Entschädigung für die illegale Entwendung von Eigentum, für systematische Misshandlungen und Völkermord, sondern auch die Anerkennung des unabhängigen Status ihrer Gruppen in den laufenden Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland. Die Kläger*innen forderten, dass die Bundesrepublik Deutschland (und der namibische Staat) daran gehindert werden sollen, „weiterhin Kläger / innen und andere rechtmäßige Vertreter / innen der Ovaherero- und Nama-Völker von der Teilnahme an Diskussionen und Verhandlungen auszuschließen, die den Gegenstand dieser Beschwerde bilden, und das in Verletzung der im internationalen Recht festgelegten Rechte der Kläger / innen, einschließlich des in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen festgesetzten Rechts indigener Völker auf Selbstbestimmung und ihres Rechts, für sich selbst zu sprechen, wenn es um die Verluste geht, die sie erleiden mussten.“ 43
42 Vgl. Anm. 25. 43 Sammelklage gegen die Bundesrepublik Deutschland, 5. 1. 2017, http://genocide-namibia.net/wp-content/uploads/2017/01/Class-Action-Complaint.pdf (aufgerufen am 11. 2. 2021), S. 1–2; vgl. Anm. 34. Anfang März 2019 wurde die Klage vom Gericht zurückgewiesen, da Deutschland Immunität beanspruchen könne.
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Allgemeiner ausgedrückt, wenn wir auf dem zukunftsorientierten Verständnis der Erstattungsforderung aufbauen, müssen wir uns fragen, welche Entitäten in der Lage sind, die Interessen der heute in Namibia lebenden Menschen bezüglich der Aufarbeitung ihrer Geschichte zu vertreten. Der Staat Namibia ist womöglich nicht der alleinige Träger des Anspruchs auf Rückgabe des Padrão, weil die wohl wichtigsten Opfergruppen die alleinige Autorität des Staats in dieser Angelegenheit nicht akzeptieren und ihre eigenen Strategien verfolgen. Was ein zukunftsorientierter Umgang mit einem historischen Unrechtszusammenhang verlangt, ist häufig umstritten. Ein Beispiel dafür ist der Konflikt zwischen Japan und Südkorea über den Umgang mit dem Unrecht, das Japan als Kolonialmacht und im Zweiten Weltkrieg in Korea und an Koreaner*innen verübt hat. Dieser Konflikt ist 2018 und 2019 eskaliert. Auch hier sind u. a. Fragen der Identität der Anspruchsträger*innen (und der Pflichtträger*innen) sowie der Kohärenz der Ansprüche zu klären. So wird z. B. mit Blick auf die von Japan zur Prostitution gezwungenen koreanischen „Comfort Women“ von den wenigen überlebenden Opfern und den Nachfahr*innen der Opfer bestritten, dass der Staat Südkorea berechtigt war, deren Ansprüche vertraglich mit Japan im „Grundlagenvertrag zwischen Japan und der Republik Korea“ (1965) abschließend zu regeln. Auch die ehemaligen Zwangsarbeiter*innen weisen diesen Vertrag als ex nunc nichtig zurück. Die Berechtigung der Ansprüche der Comfort Women wird zusammen mit der Berechtigung von Kompensationsansprüchen von Zwangsarbeiter*innen diskutiert. 2018 anerkannte Südkoreas oberstes Gericht individuelle Opfer als Kläger*innen und sprach ehemaligen koreanischen Zwangsarbeiter*innen individuelle Schadenersatzansprüche gegen japanische Firmen zu. 44 Ich habe eine dritte Deutung des namibischen Interesses an der Rückgabe des Padrão eingeführt, nämlich ihr Interesse daran, auf sinnvolle Art und Weise der Opfer der Kolonialzeit zu gedenken, um symbolische Wiedergutmachung zu leisten. Es ist wichtig zu verstehen, und das ist meine dritte Qualifikation, dass dieses Interesse der Namibier*innen seiner eigenen Rationalität folgt. Seine Rechtfertigung ist unabhängig sowohl vom Prinzip der kompensatorischen Gerechtigkeit als auch von dem der Forderung nach kultureller Dekolonisierung. Der Grund hierfür ist, dass, auch wenn allen Ansprüchen auf Entschädigung zur Gänze nachgekommen
44 Alexandra Sakaki: Japan-South Korea Relations – A Downward Spiral. More than ‚Just‘ Historical Issues. SWP Comment 2019/C 35. German Institute for International and Security Affairs. August 2019; Timothy Webster: The Price of Settlement. World War II Reparations in China, Japan and Korea. New York University Journal of International Law & Politics 51 (2019) H. 301, S. 301–384.
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wurde und die Namibier*innen ihr Recht auf kulturelle Selbstbestimmung bestmöglich verwirklicht haben, die Nachfahr*innen sowohl der Opfer als auch der Täter*innen ein Interesse daran haben mögen, zu den damaligen Opfern des Kolonialismus eine Beziehung aufrechtzuerhalten. Meiner Auslegung zufolge haben sie ein Interesse daran, dass das historische Unrecht als solches anerkannt wird, und daran, ihre überlebenden Pflichten gegenüber den verstorbenen Opfern zu erfüllen. Sie haben Gründe dafür, sich dauerhaft verpflichtet zu fühlen, auf die Verbrechen zu reagieren, die an ihren verstorbenen Vorfahr*innen begangen wurden – und zwar auf eine Weise, die deutlich macht, dass ihre Vorfahr*innen Opfer dieses Unrechts waren und einen Anspruch auf Wiedergutmachung und Entschädigung hatten, dieser aber nicht erfüllt wurde. Die Herausforderung, eben diese Idee mit der Rückgabe des Padrão an Namibia zu verbinden, besteht darin, ein plausibles Argument zu liefern, dass ein zurückgegebener Padrão heutige und zukünftige Namibier*innen beträchtlich unterstützen würde, ihren dauerhaften Verpflichtungen im Rahmen einer symbolischen Wiedergutmachung an den verstorbenen Opfern nachzukommen. Abschließend sei noch betont, dass die Portugies*innen und die Deutschen (die als Nachfahr*innen der Täter*innen ebenfalls ethische Pflichten gegenüber den verstorbenen Opfern haben) auch behaupten könnten, ein solches Interesse an der Rückgabe oder dem Behalt des Padrão zu haben. Wenn diese Behauptungen plausibel wären, müssten wir sie auch mit dem dann konkurrierenden Interesse der Namibier*innen an der Rückgabe des Padrão abwägen. Bisher sehe ich jedoch auf Seiten der Portugies*innen und Deutschen wenig Hinweise auf ein solches Interesse am Gedenken der Opfer der Kolonialverbrechen ihrer Vorfahr*innen. Darüber hinaus sehe ich keine Hinweise darauf, dass dem Padrão in Portugal oder Deutschland eine besondere Bedeutung als kulturelles und historisches Objekt zugeschrieben wird, um welches herum man Praktiken des Erinnerns ausrichten könnte.
III. Deutschland postkolonial?
Andreas Eckert
Die „Wiederentdeckung“ des deutschen Kolonialismus 1. „Blinde Flecken der Geschichte“? Ende Januar 2020 verkündete der Berliner Senator für Kultur, Klaus Lederer, die Hauptstadt wolle nun ihre koloniale Vergangenheit umfassend aufarbeiten. Auf einer Pressekonferenz stellte er zusammen mit Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und Paul Spies, dem Direktor des Stadtmuseums, ein umfassendes Projekt vor, das modellhaft deutlich machen soll, „dass Kolonialismus und Rassismus – aber auch der Widerstand dagegen – die Stadtgesellschaften hier und in den ehemaligen Kolonien bis in die Gegenwart prägen“. Hortensia Völkers, deren von ihr vertretene Kulturstiftung des Bundes eine Million Euro zum Vorhaben beisteuern wird, ergänzte: „Der Kolonialismus und seine bis heute wirksamen Hinterlassenschaften gehören zu den blinden Flecken der Geschichte“. In Hamburg, dessen Hafen sich während des Kaiserreichs als wichtigste Drehscheibe des deutschen Kolonialhandels etablierte und auch nach dem Ende des Kolonialreichs massiv von kolonialen Strukturen der Weltwirtschaft profitierte, existiert bereits seit mehreren Jahren eine vom Senat finanzierte Forschungsstelle „Hamburgs (post)koloniales Erbe“ an der Universität Hamburg, die von dem sehr medienpräsenten Historiker Jürgen Zimmerer geleitet wird und an die zahlreiche drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte angedockt sind. 1
1 taz und Süddeutsche Zeitung, 31. 1. 2020. Das Projekt „Dekoloniale Erinnerungskulturen in der Stadt“ hat im Herbst 2020 seine Arbeit aufgenommen; zur Hamburger Einrichtung vgl. www.kolonialismus.uni-hamburg.de (aufgerufen am 4. 5. 2020). In anderen europäischen Städten setzten ähnliche Initiativen vor allem in Bezug auf den Sklavenhandel ein. Nantes etwa, im 18. Jahrhundert der größte Sklavenhandelshafen Frankreichs, begann in den 1990er-Jahren mit einer intensiven Aufarbeitung des Einflusses des Handels mit Menschen auf die Entwicklung der Stadt. Vgl. Olivier Pétré-Grenouilleau: Nantes au temps de la traite des noirs. Paris 1998; Memoire de l’abolition de l’esclavage, www.memorial.nantes.fr (aufgerufen am 4. 5. 2020).
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An Mahnungen, sich nun endlich mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands auseinanderzusetzen, fehlt es in letzter Zeit wahrlich nicht. Ein von zahlreichen Wissenschaftler*innen unterzeichneter, im Dezember 2018 in der ZEIT veröffentlichter Aufruf „Was wir jetzt brauchen. Für Restitutionen und einen neuen Umgang mit der Kolonialgeschichte“ forderte u. a.: 1. Die nachhaltige Unterstützung sowohl von Initiativen zur Aufarbeitung lokaler Kolonialgeschichte als auch von Forscher*innen, die sich mit dem Themenkreis Kolonialismus beschäftigen; 2. Eine stärkere Verankerung des Themas in Schulen und politischen Bildungsinstitutionen; 3. Die Unterstützung der zahlreichen Organisationen und Einrichtungen, die sich sowohl in Deutschland als auch den Herkunftsländern der Provenienzforschung und Fragen der Restitution widmen; und 4., schließlich, eine zentrale Einrichtung in Berlin, welche das bereits angehäufte umfassende einschlägige Wissen bündelt und die zahlreichen Initiativen vernetzt. 2 Nahezu parallel griffen Kulturstaatsministerin Monika Grütters und die für Kultur zuständige Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Michelle Müntefering, gemeinsam zur Feder und mahnten, Deutschland und Europa müssten sich ihrer Kolonialgeschichte stellen. „Über viele Jahrzehnte“, heißt es in ihrem Beitrag „Eine Lücke in unserem Gedächtnis“, „war die Kolonialgeschichte in Europa ein blinder Fleck in der Erinnerungskultur. Viel zu lange wurde das während dieser Zeit geschehene Unrecht vergessen und verdrängt.“ 3
Vorher bereits, im am 12. März 2018 verabschiedeten Koalitionsvertrag zwischen der CDU/CSU und der SPD, war erstmals von Kolonialismus die Rede. „Wir wollen die kulturelle Zusammenarbeit mit Afrika verstärken und einen stärkeren Kulturaustausch befördern, insbesondere durch die Aufarbeitung des Kolonialismus sowie den Aufbau von Museen und Kultureinrichtungen in Afrika.“ 4
2 Die ZEIT, 13. 12. 2018. Aus diesem Aufruf ging eine im Oktober 2020 unter den Auspizien des Auswärtigen Amts organisierte Online-Tagung („Colonialism as Shared History: Past, Present and Future“) hervor. In ihrem Leitvortrag „Derelict Shards & The Roaming of Colonial Phantoms“ (vgl. www.theelephant.info) kritisierte die kenianische Schriftstellerin Yvonne A. Owuor freilich scharf das der Tagung zugrunde liegende Konzept von Kolonialismus als „geteilter Geschichte“. Und Jürgen Zimmerer: Das Auswärtige Amt ist ungeeignet für die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte. In: Der Tagesspiegel, 6.10.2020, bemängelte im Vorfeld, dass der Völkermord an den Herero und Nama auf der Konferenz nicht vorkomme. 3 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 12. 2018. 4 https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf?file=1 (aufgerufen am 22. 11. 2019).
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Am 19. November 2020 schließlich debattierte der Bundestag auf Antrag der Grünen über den Umgang mit dem Kolonialismus. Bis auf Vertreter der AfD-Fraktion versuchte dabei niemand, Kolonialherrschaft schönzureden oder zu rechtfertigen. Die Auffassungen darüber, wie weit die kritische Aufarbeitung bislang gediehen und in welcher Form sie fortzusetzen sei, klafften jedoch weit auseinander. In den Monaten zuvor hatte sich das öffentliche Interesse an der Thematik unter anderem in Auseinandersetzungen um Monumente – etwa um den Umgang mit dem BismarckDenkmal in Hamburg – sowie um die Umbenennung von Straßennamen manifestiert. Überdies führte die Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch Polizisten im Mai 2020 in Minneapolis auch in Deutschland zu Debatten über Rassismus und den langen Schatten kolonialer Strukturen. Die Konjunktur des Themas „Deutscher Kolonialismus“ findet des Weiteren Ausdruck in an ein größeres Publikum gerichteten Themenheften von Zeitungen und Zeitschriften sowie in von Journalisten verfassten Sachbüchern. 5 Die Ausstellung „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“, die vom Oktober 2016 bis Mai 2017 im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigt wurde, musste sich zwar einiges an Kritik anhören, war aber mit mehr als 100.000 Besuchern eine der nachgefragtesten Ausstellungen überhaupt in der Geschichte des Museums. 6 Das bisher nur für Spezialisten relevante Thema Kolonialismus, fasste der Ethnologe Thomas Thiemeyer die Entwicklung zusammen, werde nun „massentauglich“ und „national relevant“. 7 Die Diskussion um das Berliner Humboldt Forum und die Rückgabe von Objekten (und menschlichen Gebeinen), die häufig im Kontext kolonialer Herrschaft aus nicht-europäischen Regionen in die Museen der europäischen Metropolen gelangten, haben die Debatte um den deutschen Kolonialismus ohne Zweifel gefördert. Gelegentlich entsteht angesichts der Verbissenheit der Debatten um das Humboldt Forum freilich der Eindruck, die gesamte koloniale Schuld solle gleichsam an dieser Einrichtung
5 Vgl. etwa ZEIT Geschichte 4/2019: Die Deutschen und ihre Kolonien. Das wilhelminische Weltreich 1884 bis 1918; Mark Terkessides: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hamburg 2019; Moritz Holfelder: Unser Raubgut. Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte. Berlin 2019. 6 Vgl. den Ausstellungskatalog: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart. Darmstadt 2. Aufl. 2017. Zur Kritik etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 10. 2016; taz, 16. 10. 2016. 7 Thomas Thiemeyer: Deutschland postkolonial. Ethnologische und genealogische Erinnerungskultur. In: Merkur 806 (2016), S. 33–45, hier: S. 34 f. Vgl. auch den Beitrag Thiemeyers im vorliegenden Band.
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abgetragen werden. 8 Die Frage bleibt, wie sich das aktuelle, vergleichsweise intensive Interesse am Thema Kolonialismus, das nicht nur in der Wissenschaft, sondern in – Teilen – der Öffentlichkeit und Politik präsent ist, erklären lässt. Nicht zuletzt, so wäre eine erste Antwort, steht es für eine Neujustierung der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur, die sich vom Holocaust zur Globalisierung bewegt, und markiert auf diese Weise die veränderte Rolle der Bundesrepublik im internationalen Kontext. 9 Dass diese Neujustierung jedoch sehr umstritten ist, offenbarte sich im Frühjahr und Sommer 2020 in der sogenannten „Causa Mbembe“. Dem Kameruner, in Südafrika lebenden Historiker Achille Mbembe, der zu den international sichtbarsten Vertretern der postkolonialen Theorie gehört und dank der Übersetzung einiger seiner Werke bei Suhrkamp auch in Deutschland bekannt geworden ist, wurde, angeführt vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, Antisemitismus, Holocaust-Relativierung und „Israel-Hass“ vorgeworfen. Mbembe-Verteidiger hingegen sahen in diesen Vorwürfen Rassismus und McCarthyismus am Werk. Rasch weitete sich die Kontroverse zu einer umfassenden Auseinandersetzung über Erinnerung, Holocaust und „deutsche Identität“ aus. 10 In diesem Zusammenhang artikulierte Felix Klein eine bemerkenswert provinzielle Sicht auf die Problematik. Mbembe habe als „ausländischer Wissenschaftler“ in eine Debatte „eingegriffen“, die gleichsam zur deutschen Identität gehöre, ließ er verlauten. Dabei habe er „auch missverständliche Sätze formuliert, das muss er jetzt klarstellen.“ Denn, so Klein weiter: „Etwas aus deutscher Sicht Falsches wird doch dadurch nicht richtig, dass es von außen kommt.“ 11 Dahinter steht ein höchst problematisches Verständnis, das der Jurist Ralf Michaelis wie folgt beschrieben hat:
8 Vgl. Daniel Morat: Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit. In: Zeithistorische Forschungen 16 (2019) H. 1, S. 140–153. 9 Vgl. zur Erinnerung an den Holocaust aus der Fülle der Literatur: Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung. Göttingen 2003; Margit Frölich u. a. (Hrsg.): Das Unbehagen an der Erinnerung. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust. Frankfurt a. M. 2012; Sybille Steinbacher: Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte. München. 4. Aufl. 2017. Zu den vielfältigen Aspekten des neuen Umgangs mit der Kolonialgeschichte in Deutschland vgl. zuletzt Marianne Bechhaus-Gerst / Joachim Zeller (Hrsg.): Deutschland Postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit. Berlin 2018. 10 Für eine abwägende Darstellung der Kontroverse, die hier nicht in ihren Einzelheiten dargestellt werden kann, vgl. Christina Nord: Einig, uneins zu sein. Zur Debatte um Achille Mbembe. In: Merkur 845 (2020), S. 19–31. 11 Felix Klein: Für eine Entschuldigung sehe ich keinen Anlass. Interview mit Adam Soboczynski. In: Die ZEIT, 20. 5. 2020.
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„Da wir Deutschen für den Holocaust verantwortlich sind, nehmen wir uns nun auch das moralische Recht, anderen vorzuschreiben, was sie dazu zu sagen haben.“ 12
Zugleich steht diese Haltung dafür, nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen und akzeptieren zu können, dass, wie es die Journalistin Charlotte Wiedemann prägnant formuliert hat, viele Menschen in der Welt „nicht unsere Tätergeschichte teilen, einen anderen Blick auf Israel haben“ und ausschließlich des Holocausts zu gedenken als „weißes Privileg“ bewerten. In diesem Zusammenhang bedeutet Bezüge etwa zu den Kolonialverbrechen herzustellen, wie es schwarze Intellektuelle wie W. E. B. Du Bois oder Aimé Césaire getan haben, keineswegs, die Shoah zu relativieren. 13
2. Koloniale Vergangenheit und Erinnerung Häufig handelte es sich um schwarze Menschen in Deutschland oder „People of Colour“, die hierzulande die Debatte um den langen Schatten von Kolonialismus und Rassismus initiiert und beharrlich eingeklagt haben. 14 Koloniale Erinnerungspolitik setzte allerdings bereits unmittelbar nach dem formalen Ende des deutschen Kolonialreichs ein, in Gestalt von Revisionismus, Nostalgie, populärer Kultur und seit den sechziger Jahren sukzessive auch kolonialkritischen Perspektiven. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialismus scheint sich mit größerer zeitlicher Distanz eher noch zu intensivieren. Häufig wird in diesem Zusammenhang das Bild einer lange währenden kollektiven „kolonialen Amnesie“ 12 Ralf Michaelis: Deutschstunde für alle Welt. Denkverbot im Namen der Erinnerungskultur. Die Debatte um Achille Mbembe kommt nicht zur Sache – und zeigt dadurch, wie nötig die Kritik der kolonialen Denkungsart ist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 6. 2020. 13 Charlotte Wiedemann: Deutsche Gedenkkultur. Privileg und Gedenken. In: taz, 13. 5. 2020. Eine ebenso aggressive wie substanzlose Kritik am vermeintlichen Antisemitismus postkolonialer Ansätze bietet Ingo Elbe: Die postkoloniale Schablone. In: taz online, 14. 5. 2020, https://taz.de/Debatte-um-Historiker-Achille-Mbembe/ !5685526/ (aufgerufen am 3. 9. 2020). Für eine differenziertere Perspektive und breite Einordnung jetzt Michael Rothberg: Vergleiche vergleichen. Vom Historikerstreit zur Causa Mbembe. In: Geschichte der Gegenwart, 23. 9. 2020, https://geschichtedergegenwart.ch/vergleiche-vergleichen-vom-historikerstreit-zur-causa-mbembe (aufgerufen am 25. 9. 2020). 14 Eine wichtige Zäsur markierte der Band von May Ayim u. a.: Farbe bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin 1986. Im gleichen Jahr kam es zur Gründung der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD). Vgl. auch Tahir Della / Bebero Lehmann: Afrodeutsche und eine deutsche Afrikapolitik. Zwischen kritischer Aufarbeitung und kolonialen Kontinuitäten. In: Henning Melber (Hrsg.): Deutschland und Afrika. Anatomie eines komplexen Verhältnisses. Frankfurt a. M. 2019, S. 197–208.
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bemüht, die nun langsam zu schwinden scheint. 15 Ist diese aus der Medizin stammende Begrifflichkeit wirklich weiterführend? Nach dem formalen Ende des deutschen Kolonialreichs 1918/19 lassen sich jedenfalls mehrere Phasen des erinnerungspolitischen Interesses an der deutschen Kolonialgeschichte festmachen, die weniger von der Vergangenheit als von der jeweiligen Gegenwart ausgingen. Und immer „ging es nicht nur um die koloniale Vergangenheit selbst, vielmehr wurden jeweils gesellschaftliche Veränderungen sowie Deutschlands Rolle in der Welt mitverhandelt.“ 16
Nach Kolonialrevisionismus in der Weimarer Republik, Plänen für ein erneutes deutsches Kolonialreich in Afrika während des Nationalsozialismus und einer aggressiv-brutalen Siedlungs- und Eroberungspolitik in Osteuropa, die deutlich koloniale Züge trug, markierte das Ende des Zweiten Weltkriegs auch das Ende nahezu aller Vorhaben territorialer Herrschaft und kolonialer Expansion in Deutschland. Koloniale Wahrnehmungsmuster und Vorstellungen wirkten jedoch auf vielfältige Weise weiter und wurden, wie etwa Christiane Bürger hervorhebt, „auch unbewusst, gleichsam als ‚blinde Passagiere‘, durch Sprach- und Erzählkonventionen vermittelt.“ 17 Koloniale Kontexte fanden sich in der Entwicklungspolitik, in der damit verknüpften Systemkonkurrenz zwischen Bundesrepublik und DDR, die etwa auch im nachkolonialen Afrika ausgetragen wurde, aber ebenso im Mythos des „Urwalddoktors“ Albert Schweitzer sowie in den Tierfilmen Bernard Grzimeks. 18 Die sechziger Jahre standen im Zeichen des Aufbruchs und der Dekolonisation. Sie führten in der Bundesrepublik erstmals zu einer kriti15 Das Bild von der kolonialen Amnesie der Deutschen wird etwa von Jürgen Zimmerer gezeichnet: Kolonialismus und koloniale Identität. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. In: Ders. (Hrsg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt a. M./New York 2012, S. 9–38, hier S. 9; aber auch von Reinhart Kößler / Henning Melber: Koloniale Amnesie. Zum Umgang mit der deutschen Kolonialvergangenheit (Rosa Luxemburg Stiftung, Standpunkte 9/2018). Berlin 2018; Reinhart Kößler: Zwischen kolonialer Amnesie und konstruktivem Engagement. Postkoloniale Asymmetrien. In: Melber, Deutschland (Anm. 15), S. 187–196. 16 Sebastian Conrad: Rückkehr des Verdrängten? Die Erinnerung an den Kolonialismus in Deutschland 1919–2019, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2019) H. 40–42. Vgl. Andreas Eckert: The First Postcolonial Nation in Europe? The End of the German Empire. In: Martin Thomas / Andrew S. Thompson (Hrsg.): The Oxford Handbook of the Ends of Empire. Oxford 2018, S. 102–122. 17 Christiane Bürger: Deutsche Kolonialgeschichte(n). Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD. Bielefeld 2017, S. 269. 18 Dazu bereits Andreas Eckert / Albert Wirz: Wir nicht, die anderen auch. Deutschland und der Kolonialismus. In: Sebastian Conrad / Shalini Randeria (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M./New York 2002, S. 372–392.
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schen, am Ende allerdings recht beschränkten Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus. 19 Aufsehen erregte die vom Westdeutschen Rundfunk 1966/67 ausgestrahlte kritische Dokumentation von Ralph Giordano mit dem Titel „Heia Safari – die Legende von der deutschen Kolonialidylle“. Zahlreiche Zuschauer wollten sich – das dokumentiert eine Reihe von Briefen – ihre Vorstellung vom guten deutschen Kolonialismus jedoch nicht nehmen lassen oder beschwerten sich darüber, dass diese vermeintlich längst vergangene Vergangenheit wieder aufgewärmt würde. 20 Die Studentenbewegung jener Jahre, auf welche die Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“ eine gewisse Faszination ausübten, setzte sich zudem, wenngleich in recht begrenzter und oberflächlicher Weise, mit dem Erbe des deutschen Kolonialismus auseinander. 21 Die Universitäten befanden sich im Zentrum der kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit. Freilich waren die meisten Aktivitäten wie das Niederreißen der Denkmäler der beiden deutschen Kolonialadministratoren Hermann v. Wissmann und Hans Dominik an der Universität Hamburg vor allem als Kritik an der vermeintlichen Fortsetzung „faschistischer“ Politik und Universitätsstrukturen formuliert, und weniger als Beitrag zu einer fundierten Debatte über den Kolonialismus. 22 In den siebziger, achtziger und frühen neunziger Jahren stand das Thema Kolonialismus eher abseits der Debatten über die deutsche Geschichte und ihre Folgen bis zur Gegenwart. Nicht zuletzt postkolonialen Perspektiven kam in der Folge dann bei der Beschäftigung mit Deutschlands kolonialer Vergangenheit eine zentrale Rolle als Impulsgeber zu. 19 Die DDR war in dieser Hinsicht Vorreiter, zumal Antiimperialismus zum staatlichen Selbstverständnis gehörte. Kritische Forschung zum deutschen Kolonialismus, begünstigt durch den privilegierten Zugang zu den Akten des Reichskolonialamts, die in Potsdam archiviert waren, ließ sich gegen die „neokoloniale“ Bundesrepublik instrumentalisieren. Gleichwohl legten die empirisch dichten Studien von DDR-Historikern zu den deutschen Kolonien substanzielle Grundlagen und bilden bis heute eine wichtige Referenz für die Historiographie zum deutschen Kolonialismus. Vgl. etwa Helmuth Stoecker (Hrsg.): Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. 2 Bde. Berlin 1960, 1968; Peter Sebald: Togo 1884–1914. Eine Geschichte der deutschen „Musterkolonie“ auf der Grundlage amtlicher Quellen. Berlin 1988. 20 Eckard Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen: die WDR-Dokumentation „Heia Safari“ von 1966/67 über Deutschlands Kolonialvergangenheit. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 56 (2008) H. 3, S. 467–492. 21 Andreas Eckert: „Was geht mich eigentlich Vietnam an“? Internationale Solidarität und „Dritte Welt“ in der Bundesrepublik. In: Axel Schildt (Hrsg.): Von Draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990. Göttingen 2016, S. 191–210. 22 Ingo Cornils: Denkmalsturz. The German Student Movement and German Colonialism. In: Michael Perraudin / Jürgen Zimmerer (Hrsg.): German Colonialism and National Identity. New York 2011, S. 197–212.
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Entsprechende Ansätze, die zunächst vor allem in den nordamerikanischen Kultur- und Literaturwissenschaften entstanden, teilen die Überzeugung, dass der Kolonialismus nicht vorbei sei. Oder anders formuliert: Was ihn ermöglichte, ihn trug und legitimierte, ist noch immer wichtiger Bestandteil der Welt, in der wir leben, auf politischer, kultureller, gesellschaftlicher und nicht zuletzt ökonomischer Ebene. Seit Edward Saids Studie zum „Orientalismus“ ist insbesondere die Wissenschaft Gegenstand postkolonialer Kritik geworden. Said charakterisierte die Beschreibung „anderer Völker“ in wissenschaftlichen Texten nicht als unschuldiges und neutrales Unterfangen, sondern als Konstruktion im Kontext ungleicher, eben kolonialer Machtverhältnisse. Said ist zu Recht vorgeworfen worden, Machtpotenzial und tatsächliche Machtausübung in nahezu essentialistischer Weise bei den Kolonialherren verortet und den Kolonisierten jegliche Handlungskompetenz abgesprochen zu haben. Zugleich hat er mit seinem Werk aber jene grundlegende Einsicht gefördert, dass die diskursive Ordnung der kolonialen Epoche mit dem Ende der Kolonialregierungen nicht automatisch vorbei war. Überdies wandte er sich eindringlich gegen dichotomische „the West and the Rest“-Unterscheidungen, also gegen Perspektiven, die westlichen Entwicklungen von den Konstellationen im Rest der Welt kategorisch abzugrenzen. 23 Der vielleicht wichtigste Anstoß postkolonialer Perspektiven liegt in der Einsicht, dass sich die Verflechtung der Welt seit dem 19. Jahrhundert nicht von den kolonialen Bedingungen trennen lässt, unter denen sie sich vollzog. Für die politische Ordnung der Welt und ihre rechtliche und ideologische Legitimierung war der Kolonialismus zentral, ebenso für Prozesse kultureller Aneignung und gesellschaftliche Transformationen. 24 Postkoloniale Studien haben eine breite Palette von Themen und Fragen auf die Agenda der Geschichtsschreibung zum deutschen Kolonialismus gesetzt und sich zu jenen Studien gesellt, die einen eher konventionellen Zugriff auf das Thema praktizierten. 25 Um nur einige der neuen Aspekte zu nennen: die Geschichte der Schwarzen in Deutschland und der Schwarzen Deutschen, die Konstruktion von „weißen Weiblichkeiten“,
23 Edward Said: Orientalismus. Frankfurt a. M. 2009 (1. Aufl. 1978). Die Studien zum Postkolonialismus türmen sich in den Bibliotheken inzwischen zu Bergen. Einen guten Einstieg bieten weiterhin Ina Kerner: Postkoloniale Theorien zur Einführung. Hamburg 2012; María do Mar Castro Verela / Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 3. Aufl. 2020. 24 Diese wichtige Bedeutung der Postkolonialismusdebatte haben nicht zuletzt Vertreter der Globalgeschichte betont. Vgl. Sebastian Conrad: What is Global History? Princeton 2016. 25 Klassisch für diese Richtung: Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien. Paderborn 7. Aufl. 2018 (1. Aufl. 1985).
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die Visualisierung von Kolonialismus durch Postkarten oder Fragen kolonialer Erinnerungsorte. Nicht nur in Berlin, sondern in vielen anderen Städten wie Hamburg, Freiburg oder Bielefeld setzte die Suche nach kolonialen Spuren ein. Diese Studien vermochten das Bild der kolonialen Erfahrung komplexer zu machen und betonten vor allem die Perspektive auf das „Empire zu Hause“, die Rolle von kolonialen Diskursen und Fragen der Repräsentation. Die Analyse der „imperialen Fantasien“ hat auch für Deutschland eine weit verzweigte Kultur zum Vorschein gebracht, die weit über organisierte Kolonialinteressen in den Alltag hineinwirkte. 26 Besonderen Furor erzeugte schließlich die vor allem von Jürgen Zimmerer anhand des Genozids an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika prononciert vertretene These, dass die Bereitschaft, bestimmte Gruppen von Menschen zu vernichten, als ultimativer Tabubruch angesehen werden müsse, der zuerst in den Kolonien Gestalt angenommen und schließlich im Holocaust seine radikalste Ausprägung gefunden habe. 27 Der von Zimmerer praktizierte Blick „von Windhuk nach Auschwitz“ hatte viele produktive Effekte auf die historische Debatte über die Bedeutung kolonialer Praktiken für Deutschland, ist zugleich aber auch mit einer gewissen Berechtigung als besonders markante Wiederaufstehung der Sonderwegsthese im Kontext der Kolonialgeschichte bezeichnet worden. Denn dieser Blick ist durch eine nationale Zuspitzung charakterisiert und versäumt es weitgehend, Antisemitismus, Rassismus
26 Fatima El-Tayeb: Schwarze Deutsche. Der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890–1933. Frankfurt a. M. 2001; Anette Dietrich: Weiße Weiblichkeiten. Konstruktion von „Rasse“ und Geschlecht im deutschen Kolonialismus. Bielefeld 2007; Robbie Aitken / Eve Rosenhaft: Black Germany. The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960. Cambridge 2013; Sandra Maß: Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964. Köln 2006; Felix Axster: Koloniales Spektakel in 9 x 14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich. Bielefeld 2014; Britta Schilling: Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation. Oxford 2014; Ulrich van der Heyden / Joachim Zeller (Hrsg.): Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche. Erfurt 2007; Felix Brahm / Bettina Brockmeyer (Hrsg.): Koloniale Spurensuche in Bielefeld und Umgebung. Bielefeld 2014; Bernd-Stefan Grewe u. a. (Hrsg.): Freiburg und der Kolonialismus. Vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus. Freiburg i. Br. 2019; Zimmerer (Anm. 15). 27 Die wesentlichen Aufsätze Zimmerers zu dieser Thematik finden sich in: Ders.: Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust. Berlin 2011. Vgl. Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin 2010; Isabell V. Hull: Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany. Ithaca 2005; Matthias Häussler: Der Genozid an den Herero. Krieg, Emotion und extreme Gewalt in Deutsch-Südwestafrika. Osnabrück 2018; Andreas Eckert: Labor der Gewalt? Europäische Imperien und koloniale Kriege. In: Günter Stock u. a. (Hrsg.): Zukunftsort: Europa. Berlin / Boston 2015, S. 31–41.
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und Kolonialismus auch als europäische, transnationale Phänomene zu deuten. 28 Dieser nationale Blickwinkel ist charakteristisch für die Beschäftigung mit dem Kolonialismus in Deutschland. Der Boom der historischen Kolonialismusforschung ist in Deutschland stark auf Studien zum deutschen Fall beschränkt. 29 Das ist zum einen angesichts der langen Vernachlässigung des Themas nachvollziehbar. Zum anderen hingegen verschenkt dieser Fokus stärker vergleichende europäische Perspektiven. Vor allem aber kommen andere neuzeitliche europäische Kolonialreiche – England, Frankreich, Portugal und Spanien – nur äußerst selten in den Blick deutschsprachiger Historiker*innen. Ein solcher Blick würde helfen, den deutschen Fall besser zu kontextualisieren. Hängt diese Verengung damit zusammen, dass in Deutschland immer noch am besten mit auf Deutschland bezogenen Themen Karriere zu machen ist, inzwischen nun eben auch mit einem Schwerpunkt auf den Kolonialismus oder globalen Perspektiven auf die deutsche Geschichte, während die Historie der genannten europäischen Länder, etwa gemessen an den ihnen gewidmeten Professuren, schon immer marginal war? Zwar taucht der Verweis auf Europa regelmäßig auf, aber systematische europäische Perspektiven finden sich hierzulande außer in der Überschrift nur selten in wissenschaftlichen Studien oder politischen Manifesten zum Kolonialismus. Zum anderen ist zu beobachten, dass sich viele Studien zu den deutschen Kolonien einer eher zentrumsorientierten Kolonialgeschichte verschrieben haben, die sich eher wenig für die Gegebenheiten in den Kolonien und die Kolonisierten (außer in ihrer Funktion als Projektionsfläche) interessiert. Dieser Befund gilt nicht zuletzt hinsichtlich Fragen der Erinnerung und Erinnerungspolitik in ehemaligen deutschen Kolonien. 30
28 Diese Kritik findet sich bei Robert Gerwarth / Stephan Malinowski: Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg. In: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439–466. Vgl. Jürgen Kocka: German History before Hitler. The Debate about the German Sonderweg. In: Journal of Contemporary History 23 (1988) H. 1, S. 3–16. 29 Bradley Naranch / Geoff Eley (Hrsg.): German Colonialism in a Global Age. Durham 2014. 30 Eine Ausnahme ist Larissa Förster: Postkoloniale Erinnerungslandschaften. Wie Deutsche und Herero in Namibia des Kriegs von 1904 gedenken. Frankfurt a. M. 2010.
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3. Globalisierung von Erinnerung? Verflechtungen und die Stimmen der „Anderen“ Gleichwohl lassen sich Erinnerungen an die Kolonialzeit häufig nicht mehr in den nationalen Käfig sperren. Das zeigen nicht zuletzt die Auseinandersetzungen über die Reparationsforderungen der Herero und Nama für den an ihnen begangenen Genozid. Vertreter dieser Volksgruppen aus Namibia und der Diaspora hatten – nachdem ein ähnliches, 2001 eingereichtes Gesuch erfolglos geblieben war – im Januar 2017 erneut Klage bei einem US-Bundesgericht in New York eingereicht. Neben der direkten Forderung nach Reparationen ging es hierbei vor allem um das Anliegen, nicht nur von der Regierung ausgewählte Herero und Nama an den seit 2015 laufenden Verhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierung über den Umgang mit dem Völkermord teilnehmen zu lassen, sondern auch andere, etwa im Ausland lebende Repräsentanten dieser Gruppen. Dabei bezogen sich die Kläger auf die 2007 von den Vereinten Nationen verabschiedete „Erklärung der Rechte für indigene Völker“, die ausdrücklich vorsah, dass indigene Minderheiten an allen sie betreffenden Verhandlungen durch selbstgewählte Vertreter*innen beteiligt werden müssen – „Nothing about us without us.“ 31 Zwar wies das New Yorker Gericht im März 2019 die Klage ab, doch der Fall wurde zu einem internationalen Medienereignis, führte zu ausführlichen Berichten in angesehenen Blättern wie etwa Le Monde oder der Washington Post über deutsche Kolonialverbrechen und die fortdauernde Weigerung der Bundesregierung, sich angemessen dafür zu entschuldigen. Und als der Bundestag im Juni 2016 eine Resolution verabschiedete, in der die Ermordung von etwa 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs als Völkermord bezeichnet wurde, reagierte ein äußerst zorniger türkischer Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit dem Verweis, dass Deutschland erst einmal über den Genozid in Namibia Rechenschaft ablegen solle, bevor es sich erdreiste, die Türkei des Völkermords an den Armeniern zu beschuldigen. Der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert musste sichtlich zerknirscht einräumen, dass das Fehlen einer „ähnlich unmissverständlichen Erklärung“ zu Namibia, wie sie nun von deutscher Seite zu Armenien vorliege, „bedauerlich und im Kontext der jüngeren Auseinandersetzungen auch ein bisschen peinlich“ sei. 32 31 Jürgen Zimmerer: Schwierige (post-)koloniale Aussöhnung. Deutschland, Namibia und der Völkermord an den Herero und Nama. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2019) H. 40–42, S. 5. 32 Reinhart Kößler / Henning Melber: Völkermord – und was dann? Die Politik deutschnamibischer Vergangenheitsbewältigung. Frankfurt a. M. 2017, S. 82; Henning Melber
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Freilich spielen die Stimmen aus den ehemaligen deutschen Kolonien oder überhaupt Stimmen aus Afrika in der hiesigen Debatte weiterhin kaum eine Rolle. Dies offenbart sich eindrücklich in den Auseinandersetzungen um die Rückgabe kolonialer Artefakte und Kunstobjekte. Natürlich gibt es Ausnahmen, die diese Regel bestätigen. Der senegalesische Ökonom Felwine Sarr, zusammen mit der in Berlin und Paris lehrenden Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy Autor der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Auftrag gegebenen Studie über die Rückgabe von Objekten aus Afrika, die sich im Besitz französischer Museen befinden, ist ein gesuchter Redner und Gesprächspartner von Presse und Rundfunk. 33 Achille Mbembe kam verstärkt zu Fragen kolonialer Raubkunst zu Wort, mit zuweilen überraschenden Volten. Auf einer Tagung in Hamburg im Mai 2018 verschreckte er die Zuhörer, als er ihr Engagement für die Rücksendung von Objekten an Herkunftsländer mit dem Engagement derer in Verbindung brachte, denen es eher um die Rücksendung von Menschen geht. „Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der jeder und alles wieder nach Hause zurück muss?“ Die Verstrickung der Welt sei jedoch unumkehrbar. Statt Restitutionen anzustreben, sollten wir lieber über Konzepte des Teilens nachdenken, mit dem Ziel, nicht nur die Objekte vom Eigentumsdenken zu befreien, sondern auch die Menschen. 34 Und einige Monate später argumentierte er in seiner Dankesrede zur Verleihung des Gerda-Henkel-Preises in Düsseldorf, dass die Restitution afrikanischer Kunstgegenstände für Europa eine Gelegenheit bieten könnte, sich billig ein gutes Gewissen zu verschaffen. Die Wahrheit sei jedoch, „dass Europa uns Dinge genommen hat, die es uns nie zurückgeben kann.“ 35 Die Kuratorin Flower Manase vom Nationalmuseum von Tansania in Dar es Salaam schlug in einem Gespräch mit der ZEIT kritische Töne an: „Die ganze Debatte, die jetzt über die Rückgabe der afrikanischen Kunstwerke aus Europa tobt, geht doch völlig an uns vorbei. Der Fokus sollte nicht auf den europäischen Museen liegen, sondern auf uns, auf dem, was in Afrika
(Hrsg.): Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart. Frankfurt a. M. 2005; Ders.: Germany and Namibia: Negotiating Genocide. In: Journal of Genocide Research 22 (2020) H. 4, S. 502–514. Im August 2020 lehnte Namibias Präsident Hage Geingob ein Entschädigungsangebot der Bundesregierung zur Wiedergutmachung der Kolonialverbrechen als „nicht akzeptabel“ ab. 33 Felwine Sarr / Benedicte Savoy: Restituer le Patrimoine Africain. Paris 2018. 34 Jörg Häntzschel: Neue Kultur des Teilens. In: Süddeutsche Zeitung, 22. 5. 2018. 35 Achille Mbembe: Restitution ist nicht genug. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.10.2018.
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geschieht. Unsere Wünsche und Interessen spielen aber offenbar keine Rolle. Wer hat eigentlich uns gefragt, was wir Afrikaner wollen?“ 36
Afrikanische Intellektuelle und Museumsleute sehen jedenfalls die europäische Debatte über die Restitution von geraubten Objekten nicht zuletzt als Chance, ihre politischen Klassen dazu zu bewegen, mehr Geld in eine Museumsinfrastruktur zu stecken. „Was unsere Museen und kulturellen Institutionen betrifft, haben wir in Ghana, und dies gilt für die meisten afrikanischen Länder, eine Menge Hausaufgaben zu tun“,
formulierten es die Archäologen Aba Eyifa-Dzidzieno und Samuel Nkumbaan von der Universität Ghana in Legon. Die Repatriierung ghanaischer kultureller Objekte müsse eine nationale Debatte werden, die nicht zuletzt Bildungsinstitutionen auf allen Ebenen einbeziehe. 37 In jedem Fall werden auf dem afrikanischen Kontinent immer mehr Museen gebaut. In Dakar eröffnete der senegalesische Staatspräsident Macky Sall im Dezember 2018 etwa ein mit chinesischen Geldern errichtetes „Museum der schwarzen Zivilisationen“, ein Projekt, das erstmals bereits Mitte der 1960er-Jahre vom ersten Präsidenten des Lands, Léopold Sédar Senghor, lanciert worden war. 38 Inwieweit Museen in Afrika neue und angemessene Formen finden können, gehört zu den zentralen Fragen der künftigen Erinnerungs- und Kulturpolitik. 39
4. Schluss: Was ist Kolonialismus? Der Historiker Jürgen Osterhammel hat Kolonialismus treffend als „Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit“ bezeichnet. 40 Gerade im Kontext der Debatten um koloniale Objekte ist besonders der Gewaltcharakter
36 Zit. nach Holfelder (Anm. 5), S. 135. Vgl. auch den Beitrag von Manase im vorliegenden Band. 37 Aba Eyifa-Dzidzieno / Samuel Nkumbaan: Looted and Illegally Acquired African Objects in European Museums. Issues of Restitution and Repatriation in Ghana. In: Contemporary Journal of African Studies 7 (2020) H. 1, S. 84–96. 38 Hans Belting / Andrea Buddensieg: Ein Afrikaner in Paris. Léopold Sédar Senghor und die Zukunft der Moderne. München 2018; Elizabeth Harney: In Senghor’s Shadow. Art, Politics, and the Avant-Garde in Senegal, 1960–1995. Durham 2004. 39 Zum historischen Kontext: Sarah Van Beurden: Culture, Artefacts, and Independent Africa. The Cultural Politics of Museums and Heritage. In: Martin Shanguhyia / Toyin Falola (Hrsg.): The Palgrave Handbook of African Colonial and Postcolonial History. New York 2018, S. 1193–1212. 40 Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen. München 5. Aufl. 2006, S. 8.
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kolonialer Herrschaftsverhältnisse betont worden. Und dies durchaus zu Recht. Die berühmten Benin-Bronzen sind im Zusammenhang einer britischen Gewalttat geraubt worden und dann auf verschiedenen Wegen in diverse europäische und nordamerikanische Museen und Sammlungen gelangt. 41 Adolf Bastian und sein wohl bekanntester jüngerer Verbündeter, der Archäologe und physische Anthropologe Felix v. Luschan, zwei der zentralen Figuren der deutschen Museums- und Forschungslandschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wussten sich trotz ihrer Ablehnung des verbreiteten Rassismus die kolonialen Infrastrukturen durchaus zunutze zu machen. Bastian profitierte von der politischen Entscheidung, alle von Reisenden und Forscher*innen mit Hilfe der deutschen Regierung in den Kolonien „erworbenen“ ethnologischen Objekte seien ins Berliner Museum zu schicken. Und Luschan sprach sich zwar dezidiert gegen die Gräueltaten in den Kolonien aus, profitierte zugleich jedoch beträchtlich von kolonialer Gewalt. So bat er darum, dass die deutschen Truppen nach jedem Gefecht in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika die Schädel der Besiegten einsammeln sollten. In den Gefangenenlagern für Herero mussten internierte Frauen dann das Fleisch von den Schädeln kratzen, bevor die Gebeine als Forschungsmaterial nach Berlin verschifft wurden. 42 Am Paradigma der Globalisierung ist schon seit geraumer Zeit und mit guten Gründen kritisiert worden, dass es hinter einer Rhetorik von „Verflechtung“ und „Interaktion“ handfeste hierarchische, auf Gewalt basierte Verhältnisse verschleiere. Zugleich hat die jüngere einschlägige Forschung wiederholt betont, dass Kolonialismus eben auch eine Geschichte ebenso vielfältiger wie widersprüchlicher Kooperationen und Auseinandersetzungen war, ohne damit den Gewaltcharakter zu verleugnen oder Gewalt und Rassismus gegen vermeintliche „zivilisatorische“ Leistungen der Europäer*innen aufrechnen zu wollen. 43 Doch fällt auf, dass in Darlegungen zu kolonialen Raubgütern Afrikaner*innen in der Regel entweder als Opfer unwiderstehlicher europäischer Gewalt dargestellt werden oder als Personen, die mit fiesen Tricks übers Ohr gehauen wurden. Weder lokale Vorstellungen von Besitz und Eigentum noch Spielräume, Interessen und 41 Zur historischen und lokalen Bedeutung dieser Objekte vgl. etwa: Paula Ben-Amos Girschick: Omada Arts at the Crossroads of Colonialism. In: Paul S. Landau / Deborah D. Kaspin (Hrsg.): Images and Empires. Visuality in Colonial and Postcolonial Africa. Berkeley 2002, S. 275–293. Zu Kontroversen um die „Benin-Bronzen“ in Großbritannien Paul Wood: Display, Restitution and World Art History. The Case of the ‚Benin Bronzes‘. In: Visual Culture in Britain 13 (2012) H. 1, S. 115–137. Vgl. auch den Beitrag von Osarhieme Osadolor im vorliegenden Band. 42 H. Glenn Penny: Im Schatten Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie. München 2019. 43 Frederick Cooper: Conflict and Connection. Rethinking African Colonial History. In: American Historical Review 99 (1994), S. 1516–1545.
Die „Wiederentdeckung“ des deutschen Kolonialismus
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Möglichkeiten von Afrikaner*innen – so begrenzt sie oft auch gewesen sein mögen – spielen in den Debatten bisher eine substanzielle Rolle. 44 Wird diese Leerstelle nicht gefüllt, und bleibt die „Wiederentdeckung“ des Kolonialismus überdies vor allem auf den metropolitanen Raum beschränkt, wird die derzeit vielbeschworene „gemeinsame Geschichte“ von Europa und Afrika nur schwerlich zu schreiben sein.
44 Auf diese Leerstelle verweist Larissa Förster: Wer fühlte sich beraubt? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 11. 2018.
Thomas Thiemeyer
Deutschland postkolonial Genealogische und kosmopolitische Erinnerungskultur*
1. Einleitung Im März 2013 hatten junge Historiker das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin gehackt. Die Mitglieder der Gruppe „Kolonialismus im Kasten?“ hatten jene Teile der Dauerausstellung neu bespielt, die von der deutschen Kolonialvergangenheit handelten oder ihrer Meinung nach davon handeln sollten. Zunächst waren sie persönlich vorbeigekommen und hatten alternative Museumsführungen organisiert. Dann programmierten sie eine App, mit deren Hilfe die Besucher andere Texte zu den Schaustücken des DHM abrufen können. Diese erinnern an medizinische Testreihen, die Robert Koch an Afrikanern vornahm, oder an die sensationsheischenden Völkerschauen der Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts. 1 Die Guerillaaktion im DHM steht exemplarisch für die jüngste Volte der deutschen Erinnerungskultur mit ihrem exemplarischen Ort, Gegenstand und Schlachtfeld: Berlin, (Post)Kolonialismus und Museum. Seit der Jahrtausendwende hat sich hierzulande zunächst langsam, inzwischen unübersehbar eine postkoloniale Dynamik entwickelt, die sich noch stark an Deutschlands Kolonialvergangenheit und den (ethnologischen) Museen abarbeitet, die mit der nahenden Eröffnung des Humboldt Forums aber weitere Kreise zieht. Ein Thema, das lange nur einige Spezialisten interessierte, wird – zumindest vorübergehend – zu einem öffentlichen Anliegen. Ich denke, dass diese neue Aufmerksamkeit für den Kolonialismus Sym-
* Dieser Text basiert auf zwei Aufsätzen: Thomas Thiemeyer: Deutschland postkolonial. Ethnologische und genealogische Erinnerungskultur. In: Merkur 70 (2016), S. 33–45; Ders.: Cosmopolitanizing Colonial Memories in Germany. In: Critical Inquiry 45 (2019), S. 967–990. 1 www.kolonialismusimkasten.de (aufgerufen am 24. 11. 2020).
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ptom einer Erinnerungskultur ist, die sich von einer nationalstaatlich-genealogischen zu einer kosmopolitischen verändert, wie sie die israelischen Soziologen Daniel Levy und Nathan Sznaider für die Holocausterinnerung schon 2007 skizziert haben. 2 Nun liegen die Tage, in denen „wagemutige Kaufleute“ (so die wagemutige Formulierung in Helmut M. Müllers ‚Schlaglichter der deutschen Geschichte‘) in Südwestafrika einfielen und ihm das Präfix „Deutsch-“ anhefteten, lange zurück. Auch erfolgte das koloniale Sonnenanbeten der Deutschen in vergleichsweise wenigen Regionen und währte nicht besonders lange: gerade einmal 35 Jahre, wenn man die Gründung deutscher Kolonien von 1884 an als Anfangsjahr und den Versailler Vertrag von 1919 als Endpunkt nimmt. 3 Und Bismarck, dessen politischem Urteil die Deutschen bis heute weit mehr vertrauen als dem schwachen Kaiser „Willi Zwo“, hatte für die kaiserlichen Kolonialsehnsüchte nichts übrig. Warum also kümmert die Deutschen ausgerechnet heute ihr imperiales Vorgehen von vorvorgestern? Vier Gründe scheinen mir dafür wichtig zu sein: die Transformation Deutschlands in ein Einwanderungsland; die öffentlichkeitswirksamen Debatten um das Berliner Humboldt Forum; eine sich verändernde deutsche Erinnerungskultur und die Diskussionen um Eigentumsrechte an Kulturbesitz aus Unrechtskontexten, namentlich der NS-Raubkunst und der kolonialzeitlichen Sammlungen.
2. Postkoloniale Theorie und Einwanderungsgesellschaft Kolonialgeschichte ist immer eine Geschichte von ungleicher Macht und Repression. Vielleicht macht sie gerade das für heutige Gesellschaften besonders interessant, deren Interesse an Gewalt hoch ist – insbesondere wenn es sich um Genozide handelt. „Seit der Gründung eigener Kolonien in den Jahren 1884/1885“, schreibt der Historiker Jürgen Zimmerer, „wurden immer wieder koloniale Kriege ausgefochten, da die Schutzgebiete meist mühsam militärisch erobert und lokaler Widerstand gegen die Fremdherrschaft von Anfang an mit militärischer Gewalt gebrochen werden musste. Einen Höhepunkt erreichte der antikoloniale Widerstand nach der Jahrhundertwende, als mit dem Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904–1908) und dem Maji-Maji-Krieg in DeutschOstafrika (1905–1907) die beiden langwierigsten und verlustreichsten Auseinandersetzungen stattfanden. Mit bis zu 300 000 Opfern in Deutsch-Ost-
2 Daniel Levy / Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt a. M. akt. Neuausgabe 2007. 3 Die Frage der Datierung ist freilich umstritten.
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afrika und bis zu 100 000 Toten in Südwestafrika zeugen sie von einer Brutalität und Rücksichtslosigkeit der deutschen Kriegsführung, die mit menschenverachtend wohl noch unzureichend umschrieben ist. Der Konflikt in Südwestafrika ging zudem als erster Genozid des 20. Jahrhunderts in die Geschichte ein.“ 4
Zimmerer gilt der „erste Genozid des 20. Jahrhunderts“ nicht als unterdrückter Aufstand, sondern als Prototyp staatlich organisierten Tötens, als Vorläufer des Holocaust – eine Deutung, die auf Widerspruch stieß. 5 Einhundert Jahre nach dem Massenmord an den Herero und Nama entschuldigte sich Heidemarie Wieczorek-Zeul (2004 Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) in Namibia für die Verbrechen der deutschen Kolonisatoren, nachdem Nachkommen der Herero die Bundesrepublik 2001 in den USA erfolglos auf Entschädigung verklagt hatten. Auch der Bundestag schloss sich damals mit einem unverbindlichen Beschluss dieser Geste der Reue an. 6 Zur selben Zeit entdeckte nicht nur die Politik das Gedenken an deutsches Unrecht aus der Kolonialzeit, sondern es häuften sich – befeuert durch diverse Jahrestage – Tagungen und Publikationen. Bald gründeten sich Gruppen, die den Deutschen ihren Anteil am Kolonialismus bewusst machen wollten: die Guerilleros von „Kolonialismus-im-Kasten?“, der Verein „Berlin postkolonial“, Internetportale wie freiburg / hamburg / dresden/. . .-postkolonial.de oder decolonize-mitte.de oder der Interessenverband „NoHumboldt21“, der sich gegen das Konzept des Humboldt Forums formierte und den zahlreiche Vereine und Initiativen tragen. Solche Gruppen gibt es in der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren. Mitunter konnten sie – wie in Hamburg 1967/68 oder in Bremen 1979 – ihre Anliegen öffentlich platzieren. Aber erst jetzt erreicht das Thema eine überregionale Öffentlichkeit und wird national relevant. Gemeinsam ist diesen Gruppen, dass für sie die Kolonialzeit Symbol einer Ignoranz der westlichen Welt bei grundsätzlichen Fragen der Eigen- und Fremdwahrnehmung ist. In ihr lässt sich jener strukturelle Rassismus auf ein Ereignis und einen Namen verdichten, der unsere Gesellschaft bis heute präge, ohne hinreichend wahrgenommen zu werden. Im Kern geht es um das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu ihren Minderheiten und um die Frage, mithilfe welcher Kategorien sie diese offen oder subtil ausgrenzt. 4 Jürgen Zimmerer: Widerstand und Genozid. Der Krieg des Deutschen Reiches gegen die Herero (1904–1908). In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2014) H. 27, S. 31–38. 5 Ders.: Nationalsozialismus postkolonial. Plädoyer zur Globalisierung der deutschen Gewaltgeschichte. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2009) H. 6, S. 529– 548. Hier antwortet Zimmerer auf die Kritik an seinen Thesen u. a. in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft 33 (2007) H. 3, S. 439–466. 6 Die Bundesregierung hat den Fall seitdem mehrfach neu verhandelt.
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Was hier rumort, ist der öffentliche Widerhall der postkolonialen Diskussionen, die Geistes- und Sozialwissenschaften (allen voran Literaturwissenschaft, Cultural Studies und Ethnologie) seit einem halben Jahrhundert mit Verve führen. Als im Lauf des 20. Jahrhunderts immer mehr europäische Staaten ihre Kolonien verloren, emanzipierten sich die vormals besetzten Länder nicht nur politisch, sondern auch intellektuell von der westlichen Hegemonie. Die Post Colonial Studies versuchten seit den 1960er-Jahren, festgefügte Gegensätze aus der Kolonialzeit zu überwinden, die das Denken blockierten und das alte Machtgefälle fortsetzten. Sie machten bewusst, wie stigmatisierend bestimmte Begriffe waren, die sich in der Umgangssprache festgesetzt hatten (Stichwort Political Correctness), und schickten sich an, die Sprach- und damit Deutungshoheit westlicher Eliten zu brechen. Zu lange hatten diese in ihren eigenen Worten über die „fremden Kulturen“ geredet und sie aus ihrer Perspektive dargestellt. Auf der Strecke geblieben waren die Argumente und Ansichten derjenigen, über die berichtet wurde. Das sprachliche Purgatorium stellte irgendwann den gesamten Kulturbegriff in Frage. Im Lauf des 20. Jahrhunderts verabschiedeten sich immer mehr Ethnologen von dem Anspruch, die Erkenntnisse aus ihren empirischen Fallstudien als repräsentativ für eine vermeintliche Kultur hochrechnen zu können. Die Kritik an der eigenen Arbeit führte in eine Debatte über die Möglichkeiten, Kulturen – „fremde Kulturen“ zumal – überhaupt beschreiben zu können. War nicht jede Art der Beschreibung, so exakt sie sich auch gab, immer von der Perspektive des Schreibenden, seinen Erwartungen und (Vor-)Urteilen abhängig? War Kultur nicht überhaupt vergänglich und wurde permanent verändert durch die Art und Weise, wie Menschen miteinander lebten und sich verhielten? War sie also nicht alles andere als ein fester Bestand an beschreib- und beobachtbaren Fakten, sondern vielmehr ein „Bedeutungsgewebe“ (Clifford Geertz), ein Spiegelbild der Bedeutungen, mit denen Menschen ihre Dinge und Verhaltensweise versahen, um die Welt zu verstehen und ihrem Dasein einen Sinn zu geben? Wie konnten Wissenschaftler*innen dann ihre Rolle beim Herstellen dessen, was sie Kultur nannten, außer Acht lassen? Wie konnten sie überhaupt noch annehmen, dass ihre Texte menschliche Beziehungen, soziale Regeln und Ordnungen wirklichkeitsgetreu abbildeten? Das waren die Fragen, die in den achtziger und neunziger Jahren in die „Krise der Repräsentation“ führten, zu einer generellen Unsicherheit, ob sich soziale Realität und Unterschiede zwischen den Menschen überhaupt in eine Darstellung überführen ließen, die sie adäquat abbildete. 7 7 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 2003; James Clifford / George E. Marcus (Hrsg.): Writing Culture.
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Fragen wie diese, die vordergründig die Methoden kritisierten, mit denen die Wissenschaft ihre Wahrheiten über die Anderen erzeugte, zielten auf die Grundkategorie, nach der westliche Gesellschaften nationale Identität und Loyalität herstellen: Sie problematisierten Kultur als Kategorie, die Menschen nach Herkunft klassifiziert. Diese etablierte sich im 19. Jahrhundert in den neugebildeten Nationalstaaten und ist eng verbunden mit der Entwicklung des Kapitalismus. Ein Kulturbegriff, der Menschen nach Nation, Ethnie oder Religion sortiert (Ethnonationalismus), schreibt Unterschiede zwischen Gruppen fest und unterstellt, dass alle Menschen „einer Kultur“ gleich seien. Er geht davon aus, dass diese Menschen vor allem das sind, was „ihre Kultur“ ihnen vorgibt. Sie können nicht anders. Menschen unterschiedlicher Kulturen – darauf läuft dieses Denken hinaus – können sich nur bedingt einander annähern, weil sie „von Natur aus“ verschieden sind: Der Moslem sei eben fundamental anders als der Christ, der Türke eben kein Deutscher. Dieser Kulturalismus wird als zeitgenössischer Wiedergänger des Rassismus gesehen, weil er Menschen auf Kategorien festlegt, denen sie nicht entkommen können. So wie vormals die Hautfarbe Menschen unhintergehbar trennte, so trennten heute Religion und Herkunft eine „Kultur“ von einer anderen. 8 In der Logik dieses Kulturbegriffs liegt es, dass sich eine Kultur einer anderen anpassen (unterordnen) muss, weil ein harmonisches Miteinander anders nicht möglich erscheint. 9 Das ist gemeint, wenn von „deutscher Leitkultur“ die Rede ist und von „Integration“. Integration ist hierzulande mit der Idee verbunden, die Anderen müssten sich anpassen, während die Mehrheitsgesellschaft sich nicht zu ändern brauche. Die „Anderen“ sind in Deutschland nach wie vor national, ethnisch oder religiös markiert, zum Beispiel als Muslime oder „Deutsche mit Migrationshintergrund“, selbst wenn sie hier geboren wurden und nie woanders gelebt haben. Diese tief verwurzelte nationalstaatlich-genealogische Identitätsgewissheit ist bedroht (und wird deshalb umso stärker mit lautem Populismus verteidigt), seitdem sich Deutschland mit dem Gedanken vertraut macht, Einwanderungsland zu sein. Demografisch ist das längst der Fall: Ein Viertel der deutschen Bevölkerung ist während der letzten drei Generationen eingewandert. Im Bewusstsein der Gesellschaft und politisch ist die Neuorientierung hingegen nicht abgeschlossen, The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley 1986; Lila Abu-Lughod: Gegen Kultur schreiben. In: Ilse Lenz u. a. (Hrsg.): Wechselnde Blicke. Frauenforschung in internationaler Perspektive. Opladen 1996, S. 14–46. 8 Wolfgang Kaschuba: Kulturalismus. Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In: Berliner Journal für Soziologie (1994) H. 2, S. 80–95. 9 Samuel Huntingtons einflussreiche Idee eines „Kampfes der Kulturen“ entspringt einer solchen Perspektive.
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vielleicht hat sie noch nicht einmal wirklich begonnen: Doch die Novelle des Einwanderungsrechts, die im Jahr 2000 in Kraft getreten ist, markiert eine Zäsur. Sie weichte den Grundsatz des ius sanguinis auf, also der über Generationen verbürgten Zugehörigkeit zur deutschen Nation als Voraussetzung für legitimes Deutschsein. Weitere Schritte in diese Richtung sind seitdem gefolgt. Gut erkennen lässt sich das neue Selbstbild als Einwanderungsland bei der Pädagogik, jener Wissenschaft, die den nachfolgenden Generationen beibringt, wie sie die Welt zu sehen haben. Sie verabschiedet sich in ihren avanciertesten Theorien vom Leitbild der Integration und denkt darüber nach, es durch Kategorien wie Diskriminierung zu ersetzen. „Wer von Diskriminierung spricht, untersucht nicht mehr Integrationsdefizite von Minderheiten, sondern konfrontiert sich mit deren Erfahrungen, diskriminiert zu werden. Dann müssen andere Geschichten erzählt werden, Geschichten aus einer Einwanderungsgesellschaft, die sich beharrlich weigert, eine solche zu sein, und in der Eingewanderte vorwiegend hinsichtlich ihrer Hilfsbedürftigkeit oder Bedrohlichkeit wahrgenommen oder als eine Bereicherung angesehen werden.“ 10
Diese von der Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt skizzierte „Migrationspädagogik“ ist an postkolonialer und Kritischer Theorie geschult und kennt die subtilen Mechanismen der Mikrophysik der Macht. Sie ist sensibel für die unscheinbaren Grenzziehungen in Alltagssprache und Alltagshandeln und reagiert empfindlich auf öffentliche Symbole, die alte Wahrnehmungsmuster reproduzieren. Womit wir beim Humboldt Forum sind.
3. Humboldt Forum Das Berliner Humboldt Forum ist ein nationales politisches Projekt. 11 Als Schaufenster eines weltoffenen Deutschland soll es ein „kulturelles Zentrum von nationaler und internationaler Ausstrahlung“ (Hermann Parzinger) sein, das in bester Lage Unter den Linden auf größtmögliche öffentliche Resonanz zählen darf. Derart exponiert, lädt es ein zu Kritik, die regelmäßig über ihm niedergeht. Die Kritik entzündet sich vor allem am Umgang mit den Beständen des Ethnologischen Museums Berlin, das bis vor Kurzem – zusammen mit dem Museum für Asiatische Kunst und dem Museum Europäischer Kulturen – 10 Astrid Messerschmidt: Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte. Frankfurt a. M. 2009, S. 91. 11 www.humboldt-forum.de (aufgerufen am 24. 11. 2020).
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in Dahlem, einem Außenbezirk Berlins, fernab der Touristenrouten untergebracht war. Dieses Museum und das Museum für Asiatische Kunst – bezeichnenderweise nicht aber das Museum Europäischer Kulturen – ziehen nun in die Berliner Stadtmitte um, an einen der am besten besuchten Orte der deutschen Hauptstadt, und zwar in einen Neubau, der in seiner Fassade das in der DDR vollends weggesprengte Schloss der Hohenzollern kopiert. 12 Aktuell gilt die Kritik dem Konzept des Humboldt Forums, insbesondere der Frage, wie man die Bestände des Berliner Völkerkundemuseums ausstellen kann, die einen Teil des Forums besetzen. 13 Kräftig Stimmung gegen das Projekt macht die Initiative „NoHumboldt21“, die seit 2013 einen Stopp der Planungen fordert: „Wir fordern die Aussetzung der Arbeit am Humboldt-Forum im Berliner Schloss und eine breite öffentliche Debatte: Das vorliegende Konzept verletzt die Würde und die Eigentumsrechte von Menschen in allen Teilen der Welt, ist eurozentrisch und restaurativ. Das Humboldt-Forum steht dem Anspruch eines gleichberechtigten Zusammenlebens in der Migrationsgesellschaft entgegen.“ 14
Schon der Bezug auf Alexander v. Humboldt als Namensgeber des Forums gilt den Gegnern als Zumutung, weil er selbst Teil des kolonialen Machtsystems gewesen sei. Für sie „verkörpert Preußens ‚wahrer Entdecker Amerikas‘, der sogar bestattete Menschen raubte und nach Europa verschiffte, koloniale Dominanz“. Gleiches gelte für die Hohenzollern, deren Repräsentationsbau ungebrochen zur Machtdarstellung eingesetzt werde. „Für die Nachfahren der Kolonisierten im In- und Ausland ist es eine besondere Zumutung, dass dies in der wiedererrichteten Residenz der brandenburgisch-preußischen Herrscher geschehen soll. Denn die Hohenzollern waren hauptverantwortlich für die Versklavung Tausender Menschen aus Afrika sowie für Völkermorde und Konzentrationslager in Deutschlands ehemaligen Kolonien.“
Das eigentliche Problem freilich sind in den Augen von „NoHumboldt21“ die Sammlungen aus der Kolonialzeit. Hier erheben sie zwei Vorwürfe, die über den spezifischen Berliner Fall hinausweisen: Erstens behaupten sie, dass Ausstellungen mit diesen Beständen koloniale Präsentationsmuster reproduzieren und die westliche Sicht auf die Anderen fortschreiben. 12 Peter-Klaus Schuster: Zur Entstehung des „Humboldt Forums“ aus dem Geist der Berliner Museen. Eine Vorgeschichte. In: Horst Bredekamp / Peter-Klaus Schuster (Hrsg.): Das Humboldt Forum. Die Wiedergewinnung der Idee. Berlin 2016, S. 37– 92. 13 Vgl. Friedrich v. Bose: Das Humboldt-Forum. Eine Ethnographie seiner Planung. Berlin 2016. 14 Dieses und alle folgenden Zitate: www.no-humboldt21.de / resolution/ (aufgerufen am 24. 11. 2020).
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„Wie schon die Zurschaustellung ‚exotischer Kuriositäten‘ in den ‚Wunderkammern‘ der brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige soll das Berliner Schloss – Humboldt-Forum der Herausbildung einer preußischdeutsch-europäischen Identität dienen. Dieses Anliegen konterkariert das Ziel eines gleichberechtigten Miteinanders in der Migrationsgesellschaft und soll auf Kosten Anderer realisiert werden. Mit Hilfe der oft Jahrhunderte alten Objekte aus aller Welt wird das vermeintlich ‚Fremde‘ und ‚Andere‘ inszeniert und den umfangreichen Sammlungen europäischer Kunst auf der Berliner Museumsinsel zur Seite gestellt. Europa wird dabei als überlegene Norm konstruiert.“
Zweitens stellen sie die Frage nach den Eigentumsrechten an den völkerkundlichen Beständen: Wer darf legitimerweise (was etwas anderes ist als legalerweise) für sich beanspruchen, diese Objekte sein Eigen zu nennen und über sie zu verfügen? Und zu welchem Zweck darf er das tun? „Das Schmücken mit ‚fremden Federn‘ bringt für den Standort Berlin bis heute neben ideellen Vorteilen auch materielle Gewinne ein. Wir fordern die Offenlegung der Erwerbsgeschichte aller Exponate und die Befolgung der unmissverständlichen UN-Beschlüsse zur ‚Rückführung von Kunstwerken in Länder, die Opfer von Enteignung wurden‘. Über den zukünftigen Verbleib von Beutekunst und kolonialem Raubgut muss der Dialog mit den Nachfahren der Schöpfer/-innen und rechtmäßigen Eigentümer/-innen der Exponate gesucht werden. Dies gilt insbesondere für die entführten Überreste von Menschen, die sich im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz befinden.“
Interessant ist, dass „NoHumboldt21“ keine rein deutsche Initiative ist, sondern sich hier internationale Interessengruppen zusammengefunden und ein gemeinsames Protestschreiben unterzeichnet haben: Gruppen wie Afrosvenskarnas riksförbund (the National Association of Afro-Swedes), ArtAfrica aus Portugal, Asamblea Popular del Pueblo Juchiteco aus Oaxaca / México oder AfricAvenir. Hier äußert sich eine international vernetzte und global agierende Gemeinschaft, die Einfluss auf nationale Kulturpolitiken nehmen will. Die Debatten um das Humboldt Forum folgen einer globalen Logik der Anerkennung von Minderheiten, die dank Social Media grenzübergreifend ihre Anliegen platzieren und zu wirkmächtigen Akteuren in vormals rein nationalen Angelegenheiten werden können. Für Deutschland heißt das, dass plötzlich Themen auf die nationale Agenda gesetzt werden, die man bislang bequem ignorieren konnte. Diese Argumente prallten lange Zeit an den Verantwortlichen des Humboldt Forums ab und fanden kaum öffentlichen Widerhall, bis sich im Juli 2017 die Berliner Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy aus dem Wissenschaftlichen Beirat des Humboldt Forums zurückzog, weil dieses sich ihrer Meinung nach nicht hinreichend mit der kolonialen Herkunft der künftigen Sammlungen auseinandersetze. Savoy garnierte diese Geste des
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Protests mit einem Interview in der Süddeutschen Zeitung, in dem sie das Humboldt Forum mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verglich: „300 Jahre Sammlungstätigkeit, mit all den Schweinereien und Hoffnungen, die damit verbunden sind. Das sind wir, das ist Europa. Man könnte sich unendlich viel vorstellen, wenn das Ganze nicht unter dieser Bleidecke begraben wäre wie Atommüll, damit bloß keine Strahlung nach außen dringt. Das Humboldt-Forum ist wie Tschernobyl.“ 15
Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Kontroverse im November 2018, als Savoy zusammen mit dem Publizisten Felwine Sarr aus dem Senegal im Auftrag des französischen Präsidenten neue Regeln für den Umgang mit kolonialzeitlichen Sammlungen in französischen Museen vorschlug und umfassende Restitutionen forderte. 16 Inzwischen steht das gesamte Projekt Humboldt Forum unter Kolonialismusverdacht, obwohl die ethnologischen Sammlungen nur einen Teil des Hauses besetzen. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp – einer der drei Gründungsintendanten des Humboldt Forums neben Neil MacGregor (ehemals Direktor des British Museum) und Hermann Parzinger (Direktor der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) – monierte deshalb in Reaktion auf Savoys Interview, dass die Diskussion zu einseitig verlaufe: „Nicht die Wertschätzung der Exponate fremder Kulturen, sondern die hypostasierte Schuld, diese zu besitzen, steht gegenwärtig im Fokus.“ Dabei würden in Berlin „erstmals [. . .] außereuropäische Kulturen im Herzen einer Nation auf eine prachtvolle Weise erhöht, wie dies an keinem anderen Ort geschehen ist und wohl auch nicht mehr geschehen wird“.
Bedenklich findet Bredekamp, dass das, was er „vorkoloniale Sammlungsgeschichte“ nennt, völlig außer Acht bleibe. Seit Renaissance und Aufklärung habe es ein wissenschaftliches Interesse an fremden Weltgegenden gegeben, das nicht machtpolitisch motiviert gewesen sei: „Die lähmende Ausblendung der kostbaren Kategorie der Wissbegierde, curiositas, als Grundbedingung jeder Empathie dem Fremden gegenüber, unterstellt, zugespitzt, dass jeder, der eine fremde Sprache lernt, kurz davor steht, die Hauptstadt des betreffenden Landes zu besetzen.“ 17
15 Bénédicte Savoy: „Ein unlösbarer Widerspruch.“ Interview mit Jörg Häntzschel. In: Süddeutsche Zeitung, 21. 7. 2017. 16 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: The Restitution of African Cultural Heritage. Towards a New Relational Ethics. Paris (November) 2018, gekürzte deutsche Fassung: Dies.: Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Berlin 2019. 17 Horst Bredekamp: „Ein Ort radikal verstandener Toleranz“. In: Die ZEIT, 31. 7. 2017.
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Bredekamp erinnert in diesem Zusammenhang an die „universalistisch angelegte Ethnologie“, wie sie beispielhaft Han Vermeulen skizziert hat. 18 Und er erwähnt die Chinoiserien des 18. Jahrhunderts in den Berliner Sammlungen, die aus Wertschätzung chinesischer Kunst gegenüber und nicht aus imperialem Geist zusammengetragen worden seien. Diese Lesart legen auch die Untersuchungen des Historikers Glenn Penny zur Sammelpraxis der Berliner Ethnologen im 19. Jahrhundert nahe: Bei Adolf Bastian, Spiritus Rector des Berliner Völkerkundemuseums, und seinem Netzwerk an Auslandsdeutschen, die für ihn sammelten, hätten „weder Kolonialismus noch Kaiserreich das Sammeln angetrieben [. . .] Es war vielmehr die Anziehungskraft von Bastians Vision und seinem humboldtschen Wunsch, die Welt zu verstehen und eine Gesamtgeschichte der Menschheit anzustreben, was viele Deutsche im Ausland teilten.“ 19
Die deutsche Ethnologie gilt Penny im internationalen Vergleich der Zeit als besonders liberal und weltoffen: „Im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen in Europa und den USA benutzten deutsche Ethnologen die Objekte nicht, um Theorien der Menschheitsentwicklung zu bestätigen oder zu illustrieren. Ebenso wenig wollten sie kulturelle oder rassische Hierarchien legitimieren. Vielmehr gingen sie von einer Ablehnung der Rassenkunde aus und der Annahme, dass keine angeborenen geistigen Unterschiede zwischen Menschen existierten. Bastian, Rudolf Virchow und ihre Kollegen glaubten, die Natur habe alle Menschen gleich ausgestattet; keine Gruppe habe angeborene genetische Vor- oder Nachteile. Somit schufen sie ihre Museen als Räume für das Studium menschlicher Kulturen und Geschichten in all ihren Variationen, nicht um politisch nützliche Theorien über menschliche Unterschiede zu unterstützen oder zu illustrieren.“ 20
4. Erinnerungskultur und Kulturbesitz Doch zurück zur Kritik der Aktivisten, an der mit Blick auf die Frage, warum uns die Kolonialgeschichte ausgerechnet heute einholt, dreierlei bemerkenswert ist: Erstens will sie die Koordinaten der deutschen Erin-
18 Han Vermeulen: Before Boas. The Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment. Lincoln 2015. 19 Glenn H. Penny: Im Schatten Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie. München 2019, S. 154. Zuvor schon Ders.: Objects of Culture. Ethnology and Ethnographic Museums in Imperial Germany. Chapel Hill 2002. 20 Penny, Schatten (Anm. 19), S. 18.
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nerungskultur verschieben, für die der Imperialismus allenfalls eine „Fußnote der Geschichte“ war, wie Hans-Ulrich Wehler das mit Blick auf die DDR einmal so schön formuliert hatte. Das markante Symbol Humboldt Forum bietet jetzt die Gelegenheit, das Thema prominenter zu platzieren. Es liegt nahe zu vermuten, dass das erst möglich wurde, als sich die Perspektive auf den Holocaust veränderte. Zur selben Zeit, in der sich die postkoloniale Dynamik hierzulande steigerte – nach der Jahrtausendwende –, begann sich die deutsche Erinnerungskultur zu differenzieren. Zunächst geschah das noch nah am Thema Nationalsozialismus und Judenvernichtung. Seit der Wiedervereinigung erlebte Deutschland eine zweite Welle der Erinnerung, die neben die Täterperspektive mit den Chiffren Auschwitz und Hitler den Opferdiskurs um die Begriffe Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung prominent im kollektiven Gedächtnis zu verorten versuchte. Inzwischen schreibt die historische Forschung auch eine Alltags- und Mentalitätsgeschichte des „Dritten Reichs“, die neben der großen Katastrophe der Judenvernichtung auch die kleineren, alltäglichen Gefälligkeiten der „Wohlfühl-Diktatur“ (Götz Aly) ihren Ariern gegenüber analysiert, und sie widmet sich verstärkt der vergleichenden Genozidforschung. Sie ist stark interdisziplinär und international ausgerichtet und integriert andere Ereignisse. Der Holocaust ist für sie markantestes Exempel der an Beispielen reichen Geschichte staatlich organisierter Massengewalt, wie sie bereits in den Kolonien stattfand. 21 Relevant sind für die so entstehende Erinnerungskultur alle jene seduktiven Mechanismen und Gewaltexzesse, die zwar vergangen, nicht aber vorüber sind. Sie markieren strukturelle Phänomene wie Antisemitismus, Opportunismus, Gewaltbürokratie, Rassismus oder andere Formen der Diskriminierung, die sich in der Vergangenheit besonders gewaltsam gezeigt haben, aber zeitunabhängig eine Gefahr für die Menschen bedeuten. 22 Der vergleichenden Genozidforschung gilt der Holocaust nicht mehr als unvergleichlich. Dennoch bleibt er in Deutschland der Maßstab für jede Form exzessiver Gewaltanwendung: Die erinnerungspolitische Rhetorik, die jetzt beim deutschen Kolonialerbe greift, ist Resultat der intensiven Holocaust-Forschung, die „ein Arsenal an Begriffen und Normen entwickelt“ hat, mit deren Hilfe rückwirkend andere Gewaltkonflikte gedeutet 21 Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt a. M. 2005; Frank Bajohr / Andrea Löw (Hrsg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung. Frankfurt a. M. 2015, hier bes. Sibylle Steinbacher: Sonderweg, Kolonialismus, Genozide, S. 83–101. 22 Einen guten Überblick bieten Sebastian Conrad / Shalini Randeria / Regina Römhild (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichtsund Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2013.
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und moralisch eingeordnet werden können. 23 Hier durchwirken sich die beiden großen „moralischen Narrative“, die Charles Maier als Lehren aus dem 20. Jahrhundert für die Gegenwart kenntlich gemacht hat: das westliche Narrativ von Holocaust und Gulag und das (post)koloniale Narrativ der „observers from outside the Atlantic world“. 24 Diese Argumentation basiert – und das ist mein zweiter Punkt – auf einer universalistischen Rhetorik der Menschenwürde, der es um die Anerkennung von vormals unterdrückten Gruppen geht, wie sie prominent in der Identitätspolitik verhandelt werden. 25 Die daraus entstehende Erinnerungskultur ist nicht mehr allein nationalstaatlich fundiert, sondern folgt internationalen Verständigungsprozessen. Dass nationale Bindungen und Traditionen schwächer werden, „bedeutet keinesfalls das Ende des Nationalstaates, wohl aber das Ende seiner hegemonialen Rolle als sinnstiftendes Organ. Der Staat und nationale Erinnerungen sind zu einer unter mehreren Quellen der kollektiven Erinnerung geworden. Der Staat und die Nation stehen in einem Wechselverhältnis mit anderen kollektiven Ausdrucksformen der Solidarität (z. B. Ethnizität, Geschlecht, Religion).“ 26
Diese Aushandlungsprozesse folgen – drittens – immer auch ökonomischen und politischen Interessen. Sie zielen auf Eigentum und Deutungshoheit. Oft lässt sich nicht genau sagen, wo (und ob) das moralische Anliegen endet und der Eigennutz beginnt. Sicher ist hingegen, dass die Kämpfe um (nationales) Kulturerbe in dem Maß zunahmen, wie dieses mit Eigentumsrechten bewehrt wurde, Regionen touristisch attraktiv machte und in Zeiten zunehmender Geschichtsversessenheit zur historischen Identitätsbildung von Staaten taugte. 27 Eigentumsfragen bei Kulturgut sind gegenwärtig eines der heißesten kulturpolitischen Themen in Deutschland. Der Streit um das Kulturgüterschutzgesetz und die Restitution von Nazikunst,
23 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 15. 24 Charles Maier: Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era. In: American Historical Review 105 (2000) H. 3, S. 807–831, hier S. 826. 25 Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Mit Kommentaren von Amy Gutmann, Steven Rockefeller, Michael Walzer, Susan Wolf und Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 2. Aufl. 2012; Francis Fukuyama: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Hamburg 2019. 26 Levy / Sznaider (Anm. 2), S. 53. 27 Thomas Thiemeyer: Kulturerbe als Shared Heritage? Kolonialzeitliche Sammlungen und die Zukunft einer europäischen Idee. In: Merkur 829 (2018), S. 30–44 und 830 (2018), S. 85–92. Vgl. zum Gesamtkomplex Kulturerbe die Publikationen der Göttinger DFG-Forschungsgruppe 772 Cultural Property unter http://cultural-property. uni-goettingen.de/publikationen/ (aufgerufen am 24. 11. 2020).
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die sich im Namen Gurlitt begegnen, sind offensichtliche Symptome dieser neuen Suche nach Gerechtigkeit vor der Geschichte. Die Debatte um das afrikanische Kulturerbe in deutschen und europäischen Museen stellt nun das gesamte System in Frage: Kann die alte europäische Idee von Eigentum an Kulturgütern aus aller Welt weiterhin Bestand haben? Oder müssen wir in eine neue Phase eintreten, die Eigentumsansprüche an Dingen, die unter moralisch fragwürdigen Umständen in Museen kamen, grundsätzlich neu bewertet? 28 Völkerrechtlich hieße das, das Prinzip der Intertemporalität auszusetzen. Es legt fest, dass Eigentumsansprüche immer auf der Grundlage jener Gesetze beurteilt werden, die zum Zeitpunkt des Erwerbs gegolten haben. Dieses Prinzip wurde bislang nur in Ausnahmefällen außer Kraft gesetzt, z. B. bei Restitutionsforderungen, die die NS-Zeit betrafen. Für die großen Museen hätte eine Ausweitung dieser Ausnahmen gravierende Folgen, weil sie sich ihrer größten Attraktionen nicht mehr sicher sein könnten. Müsste dann die Büste der Nofretete das Neue Museum in Berlin verlassen oder die Benin-Bronzen aus Museen des Globalen Nordens ausziehen (was einige von ihnen gerade tun)? Solche Neuausrichtungen würden Selbstverständnis und tradierte Umgangsweisen mit Kulturgütern in den Museen grundstürzend verändern, wie es Moira Simpson mit Blick auf die amerikanischen Museen und ihre Verhandlungen mit den Native Peoples gezeigt hat: „Curatorial staff are re-examining museological practices and the legitimacy of their possession of materials which previously were held and displayed without question of property rights, authority or wishes of those from whom they were taken. They have to address questions of ownership, care, display, and interpretation.“ 29
Inzwischen hat die Diskussion über den Umgang mit Kulturgut aus Unrechtskontexten mehrere europäische Länder erreicht, maßgeblich vorangetrieben durch die Humboldt Forums-Kontroverse und den Bericht von Sarr and Savoy zum Umgang mit kolonialzeitlichen Objekten in französischen Museen, den sie im November 2018 dem französischen Präsidenten übergeben hatten. In ihm fordern die Autoren die komplette Rückgabe aller Bestände aus Mali, Kamerun, dem Senegal und dem ehemaligen Benin, die sich in öffentlichen französischen Museen befinden (Archive, Bibliotheken und Privatsammlungen gehörten nicht zum Auftrag). Besonders 28 Christina Kreps: Liberating Culture. Cross-Cultural Perspectives on Museums, Curation and Heritage Preservation. London 2003. Der Generalverdacht gegen die Sammlungen bleibt freilich noch zu differenzieren. Vgl. dazu Penny, Schatten (Anm. 19). 29 Moira Simpson: Making Representations. Museums in the Post-Colonial Era. London 1996, S. 171.
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betroffen davon ist das Musée du Quai Branly, in dem laut Sarr und Savoy rund 70.000 der insgesamt 90.000 betroffenen Objekte liegen sollen. Der Bericht bezieht sich nur auf diese Regionen, die französischen Truppen im 19. Jahrhundert formell kolonisiert hatten und in denen sie systematisch Kunst raubten. Der Kunstraub, schreiben Sarr und Savoy, sei hier kein Nebenprodukt der militärischen Eroberung gewesen, sondern einer eigenen Logik gefolgt. Museen beauftragten Militärs bzw. von ihnen entsandte Kunstexperten, bestimmte Dinge für ihre Sammlungen nach Europa zu holen. Militärische Eroberung und kulturelle Aneignung gingen Hand in Hand: „Es gibt unzählige Beispiele, die beweisen, in welchem Maße die aktive Suche nach Kulturgütern und ihr Transfer in die europäischen Hauptstädte im Zentrum – und nicht am Rande – der Kolonialunternehmung standen.“ 30
Die von beiden Autoren angenommene prinzipiell gewaltdurchtränkte Signatur kolonialzeitlicher Erwerbungen in den vier Ländern mündet in der Forderung, solche Bestände kategorial anders zu bewerten: „In diesem Sinne – das legen frühere Debatten nahe – gehört die Annexion von Kulturgütern, weil sie den Einzelnen und die Gruppe in der Grundlage ihres Menschseins (Spiritualität, Kreativität, Weitergabe) betrifft, einer besonderen Kategorie an: der transgressiven Handlung, die kein Rechts-, Verwaltungs-, Kultur- oder Wirtschaftssystem legitimieren könnte.“ 31
Für solche Erwerbungen gebe es keine moralische Rechtfertigung – weder im 19. Jahrhundert noch heute. Sie umgehend (also auch ohne weitere Provenienzrecherche) zurückzugeben, wenn sie ihre Herkunftsgesellschaften zurückfordern, sei die einzig richtige Reaktion. Im Großen läuft das Argument von Sarr und Savoy auf eine neue Idee von Kulturerbe hinaus. Ihr geht es nicht darum, Kulturerbe in nationale Container zurückzusortieren (und damit die Zeit zurückzudrehen), sondern darum, die Dinge tatsächlich universell verfügbar und wirkmächtig zu machen – auch und gerade außerhalb Europas: „Von Dialog, Vielstimmigkeit und Austausch geleitet, darf die Restitution keineswegs als ein unheilvoller Akt von Identitätszuschreibung oder territorialer Festschreibung von Kulturgütern verstanden werden. Sie lädt im Gegenteil dazu ein, die Bedeutungsgebung der Objekte zu öffnen und ‚dem Universellen‘, mit dem sie in Europa so häufig assoziiert werden, die Möglichkeit zu geben, auch anderswo erfahren zu werden.“ 32
30 Sarr / Savoy, Zurückgeben (Anm. 16), S. 32. 31 Ebd., S. 23. 32 Ebd., S. 16.
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Im Kern geht es dabei um zweierlei: Rückgaben als Zeichen dafür, dass Frankreich es ernst meint mit der Aufarbeitung kolonialer Schuld und Verstrickung, und Dialog, um dauerhaft neue, gleichberechtigte Beziehungen aufzubauen. Die Rückgabe der Sammlungen ist nur der erste, aber hoch symbolische Akt einer „neuen relationalen Ethik“: „Kompensation besteht hier in einer Vorgehensweise, die darauf zielt, die Beziehung [relation] zu heilen.“ 33 Die restituierten Dinge sollen Voraussetzungen für neue Kulturkontakte und Verständigungsprozesse schaffen, zu Zeugen einer verflochtenen, hybriden Kultur werden, die französische und afrikanische Akteure und Geschichten ganz neu zusammenspannt. Kultur verstehen die Autoren denn auch „in the dynamic sense of an elaboration and a construction, of cultural mixing and hybridizations.“ 34 Die Objekte erzählten dann eine Verflechtungsgeschichte wechselseitiger Beeinflussung und geteilter Vergangenheit, die ältere Formen des Kulturvergleichs mit seinem Hang zur Hierarchisierung ablösen könnte. Sarr und Savoy sehen im Zugang zu den Relikten afrikanischer Kultur eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Menschen in Afrika einen neuen, eigenständigen Platz in der Welt finden können. Dieser Bericht – der in Frankreich für großes Aufsehen sorgte – elektrisierte auch die deutsche Kulturpolitik und (ethnologischen) Museen. Im Dezember meldeten sich die beiden Kulturstaatsministerinnen der Bundesregierung, Monika Grütters (CDU) und Michelle Müntefering (SPD), in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Wort und fragten: „Wie können es Museen und Sammlungen rechtfertigen, Objekte aus kolonialen Kontexten in ihren Sammlungen zu haben, deren Verbringung nach Deutschland unserem heutigen Wertesystem widerspricht?“ 35
Wichtiger noch: Die neugegründete Konferenz der Kulturminister der Länder – die in der Regel die Eigentümer der Dinge sind, um die es geht – formulierte in einem ersten Eckpunktepapier im März 2019 ihr Ziel, „Voraussetzungen für Rückführungen von menschlichen Überresten . . . und von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten, deren Aneignung in rechtlich und / oder ethisch heute nicht mehr vertretbarer Weise erfolgte“,
33 Ebd., S. 86. 34 Sarr / Savoy, Restitution (Anm. 16), S. 44. 35 Monika Grütters / Michelle Müntefering: Eine Lücke in unserem Gedächtnis. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 12. 2018.
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schaffen zu wollen. 36 Damit verpflichtet sich Deutschland als erstes Land in Europa, kolonialzeitliche Objekte zurückzugeben (wie viele, bleibt abzuwarten) – und zwar auf den politischen Ebenen, die entscheiden können. Allerdings lehnt es das Eckpunktepapier ab, Kolonialismus und NS-Zeit als vergleichbare Unrechtsregime zu bewerten, für die ähnliche Regeln der Restitution zu gelten hätten: „Der Holocaust ist präzedenzlos und unvergleichbar.“ Kurz darauf hat der Deutsche Museumsbund in der zweiten, überarbeiteten Version seines Leitfadens zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten seine Haltung definiert. 37 Er empfiehlt, „dass Museen von Anfang an deutlich machen, dass sie zum Gespräch über Rückgaben bereit sind, aber ebenso bereit und offen dafür sind, über andere Lösungen zu sprechen.“
Die Beweislastumkehr gelte nur für Fälle, bei denen der Erwerb unter Umständen erwiesen sei, die heute klar als Unrecht gelten, d. h. wenn schon den Zeitgenossen klar war, dass sie unrechtmäßig handelten. „Zur Wiedergutmachung dieses Unrechts ist das Kulturgut zu restituieren. Auf die Art und Bedeutung des Kulturguts kommt es dabei nicht an.“ 38
Generell aber sei die koloniale Aneignung der Welt durch Deutschland und Europa so unterschiedlich verlaufen, dass sich pauschale Empfehlungen verböten: „Eine abschließende Festlegung oder Definition der Erwerbungsumstände, die als unrechtmäßig zu betrachten sind und damit zu einer Rückgabe führen können, halten die Autoren wegen der Vielzahl der verschiedenen Fallgestaltungen und auch der sehr verschiedenen Sichtweisen der Herkunftsstaaten und -gesellschaften jedenfalls derzeit nicht für sinnvoll. Aus der Tatsache, dass der Kolonialismus insgesamt ein System von großer struktureller Gewalt darstellt, wird manchmal gefolgert, dass jede Erwerbung während der Kolonialzeit zu Unrecht erfolgt sei. Dieser Sichtweise kann sich die Mehrheit der Arbeitsgruppe nicht anschließen [. . .] Den Herkunftsgesellschaften jede eigene Handlungsmacht abzusprechen und sie pauschal zu Opfern zu erklären halten die Autoren für problematisch [. . .] Letztlich muss jeder Einzelfall in seiner Eigenart betrachtet werden.“ 39 36 Erste Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und der kommunalen Spitzenverbände. https://www.kmk.org/ fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2019/Erste_Eckpunkte_final.pdf (aufgerufen am 24. 11. 2020). 37 Deutscher Museumsbund (Hrsg.): Leitfaden Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. 2. Fassung. Berlin 2019, S. 158. 38 Ebd., S. 159. 39 Ebd., S. 161.
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Der Leitfaden des Museumsbunds argumentiert auf anderer Grundlage als der Bericht zu Frankreich: Er fasst unter Kolonialismus ein umfassendes Denksystem, das sich weder auf das 19. Jahrhundert beschränkt noch allein jene Länder erfasst, bei denen die Fälle vergleichsweise eindeutig sind, da sie „formal“ kolonisiert waren. Folgerichtig redet der Leitfaden allgemeiner von „kolonialen Kontexten“. Das macht die Beurteilung voraussetzungsreicher und ambivalenter, weil damit auch die Vorgeschichte der Kolonialisierungen des 19. Jahrhunderts und Regionen außerhalb Afrikas in den Blick geraten, die nicht immer in einer klaren Täter-Opfer-Dichotomie aufgehen. Es geht nicht um eine historisch klar abgrenzbare Epoche, mit der man ins Reine kommen muss, sondern vor allem um eine epistemische Struktur, die bis heute politisch, ökonomisch und rechtlich wirkt. Diese Struktur entwickelte sich lange vor dem 19. Jahrhundert, und sie hat sich mit dem Ende der Kolonialreiche nicht aufgelöst, sondern prägt nach wie vor in vielem unseren Alltag. Sie zeigt sich in einem Denken, das Menschen nach Hautfarbe oder in „Kulturen“ sortiert, ebenso wie in europäischen Rechtsvorstellungen oder wissenschaftlichen Disziplinen, die aus kolonialem Geist entstanden sind und unseren Blick auf die Welt prägen. 40 Nun ist es nicht so, dass die ethnologischen Museen bislang grundsätzlich ignorant gegenüber diesen Problemen waren und erst jetzt mit der Recherche beginnen. 41 Schon lange betreiben sie Provenienzforschung, um ihre Sammlungen besser zu verstehen und ihnen gerecht werden zu können. Aber erst jetzt, im Kontext der Kontroverse um das Humboldt Forum, der kunsthistorischen Restitutionsdiskussionen und des Sarr / Savoy-Berichts, wird dieses Thema politisch brisant. Jetzt, wo in Berlin, Hamburg oder Stuttgart der öffentliche Druck wächst und Kulturpolitiker Leitlinien wünschen, wie mit den umstrittenen Beständen umzugehen ist, können Museen sich Rückgabeforderungen nicht rundheraus verweigern, wie das etwa in den 1970er-Jahren der Fall war. 42 Jetzt reicht punktuelle 40 Walter Mignolo: The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options. Durham 2011. 41 Zur Diskussion um die deutschen völkerkundlichen Museen vgl. u. a. Iris Edenheiser / Larissa Förster (Hrsg.): Museumsethnologie. Eine Einführung. Theorien – Debatten – Praktiken. Berlin 2019; Friedrich v. Bose / Larissa Förster: Jenseits der Institution. Für eine erweiterte Diskussion ethnologischer Museumspraxis. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften (2015) H. 1, S. 91–93; Deutscher Museumsbund (Hrsg.): Positioning Ethnological Museums in the 21st Century. Sonderheft Museumskunde 1 (2016); Hans Peter Hahn (Hrsg.): Ethnologie und Weltkulturmuseum. Positionen für eine offene Weltsicht. Berlin 2017; Karl-Heinz Kohl u. a. (Hrsg.): Das Humboldt Forum und die Ethnologie. Ein Gespräch zwischen Karl-Heinz Kohl, Fritz Kramer, Johann Michael Möller, Gereon Sievernich, Gisela Völger. Frankfurt a. M. 2019; Penny, Schatten (Anm. 19). 42 Anna Strugalla: „Ein Ding der Unmöglichkeit“. In: taz, 11./12. 5. 2019.
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Provenienzrecherche nicht mehr, sondern es bedarf systematischer Verfahren, große Bestände in toto zu bewerten. Die Beweislast beginnt sich umzukehren (und man wird abwarten müssen, ob das dauerhaft der Fall ist): Galt bislang, dass nur jene Stücke umstritten sind, für die man einen spezifischen Unrechtskontext kennt oder bei denen Restitutionsansprüche gestellt werden, so sollen Völkerkundemuseen nun nachweisen, dass alles, was sie aus der Kolonialzeit besitzen, einwandfrei ist. Das ist bei der Größe der Bestände in den Depots nicht machbar, weil – anders als bei den vom Kunstmarkt gepflegten Meisterwerken – kaum lückenlose Provenienzen bestehen. Ethnologische Sammlungen enthalten nicht nur Kunstwerke und berühmte Heiligtümer, sondern vor allem Schuhe, Hüte, Trachten, Kultobjekte oder Boote, die nur selten einen Marktwert haben, mitunter aber hohen kulturellen Wert besitzen können. Allein, wie kann man die Spur eines Fetischs aus dem 19. Jahrhundert zurückverfolgen, der über einen anonymen Spender oder im Nachlass eines Sammlers in eine völkerkundliche Sammlung kam? Und ist dieser Fetisch prinzipiell ein Objekt, von dem man annehmen muss, dass es Indigenen unter Zwang abgenommen wurde?
4. Genealogische und kosmopolitische Erinnerungskultur Man ahnt die Grundsätzlichkeit der Debatten, die noch zu führen sein werden. Das Museum ist nur ihr exemplarischer Kampfplatz. Gefochten wird in ihm um das Selbst- und Weltbild der deutschen Gesellschaft, das zu einem Gutteil historisch fundiert ist. Allerdings treffen die historischen Narrative nicht mehr auf vermeintlich einheitliche Zuhörer, sondern müssen Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte erreichen, die das, was deutsche Geschichte ist, ganz unterschiedlich auslegen und kennen. Gut möglich, dass deshalb eine kosmopolitische an die Stelle einer genealogischen Erinnerungskultur tritt. Erstere basiert nicht länger auf den Grundideen einer über Generationen verbürgten Blutsverwandtschaft aller Deutschen, die in nationalen Bildungseinrichtungen ähnlich sozialisiert wurden, sondern ist postkolonial grundiert und formuliert ihre Ansprüche an die nationalen Geschichtsnarrative mit Blick auf die ethnische und religiöse Diversität der Gegenwartsgesellschaft. „Kosmopolitische Erinnerung heißt dann auch, die Geschichte (und die Erinnerungen) des ‚Anderen‘ anzuerkennen und in die eigene Geschichte zu integrieren.“ 43 Ihr Ziel ist es nicht, den Holocaust als wichtigstes Erinnerungszeichen zu
43 Levy / Sznaider (Anm. 2), S. 242.
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ersetzen, sondern die nach Auschwitz entwickelte deutsche Erinnerungskultur auf weitere Pfeiler zu stellen und die NS-Zeit anders zu perspektivieren. Ihre Lehren aus der deutschen Geschichte zieht die kosmopolitische Erinnerungskultur nicht mehr allein aus der Judenvernichtung, sondern beispielsweise aus der Frage, wie in der nationalsozialistischen Gesellschaft Diskriminierung zur Norm werden konnte, ohne dass die Mehrheit aufbegehrte, oder wie der Imperialismus Hierarchien zwischen Ethnien schuf und mit Ausgrenzungen arbeitete, die bis heute nachwirken. „Die Umjustierung“, schreiben Dana Giesecke und Harald Welzer, „hätte neben einer größeren Realitätsangemessenheit den Vorteil, dass der Alltag der Ausgrenzung an die lebensweltlichen Erfahrungen und Bezüge auch von Schülerinnen und Schülern aus anderen Kulturen anschlussfähig wäre.“ 44
Eine solche Erinnerungskultur ist tendenziell integrativ statt exklusiv. Sie bezieht auch jene ein, die später dazukamen. Sie lässt neue Narrative zu, die bis vor Kurzem unsagbar waren. In den 1980er-Jahren kristallisierte sich die bundesrepublikanische genealogische Erinnerungskultur an zwei großen nationalen historischen Museen: dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und dem Haus der Geschichte in Bonn. Dreißig Jahre später sind es die ethnologischen Bestände im Humboldt Forum, die der deutschen Erinnerungskultur die Richtung weisen und Themen auf die öffentliche Agenda setzen, die gut zur Selbstfindungsphase eines Einwanderungslands passen. Der Inhalt der Ausstellungen und Sammlungen ist Auslöser für weitreichende Verständigungsprozesse, die auf die Migrationsgesellschaft als Ganze und ihre Erinnerungskultur zielen.
44 Dana Giesecke / Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2012.
David Simo
Formen und Funktionen des Gedächtnisses der Kolonisation Das Humboldt Forum und das postkoloniale Deutschland* 1. Einleitung Die Debatte über die afrikanischen Artefakte, die vor, während und nach der Kolonisation nach Europa gebracht wurden, über ihre Standortverlagerung in der Geschichte, ihren rechtlichen, epistemologischen, relationalen, emotionalen Erinnerungsstatus, ihr Management und ihr Schicksal – diese Debatte hat einen diskursiven Wirbel erzeugt, in dem Episteme und Topoi aufeinanderprallen und Paradigmen aktualisiert werden. Doch dieser Sog taucht nicht zufällig auf. Wenn die Sichtbarkeit dieses diskursiven Strudels und damit auch seine Intensität überhaupt von einer politischen und historischen Konjunktur profitiert, so handelt es sich genau genommen um das Ergebnis langjähriger intellektueller und wissenschaftlicher Arbeit. Dieser diskursive Wirbel ist auch das Ergebnis des konsequenten Aktivismus bestimmter gesellschaftlicher Kräfte. Die politische und historische Situation in Deutschland ist bezüglich dieser Problematik von drei Ereignissen geprägt. 1.
Die Verbindung des Gedenkens an die Jahre 1884 und 1904, d. h. zwischen der Berliner Konferenz, die die Teilung Afrikas unter den kolonisierenden europäischen Mächten einleitete oder beschleunigte, und einem Ereignis aus der kolonialen Zeit, nämlich dem Krieg, der den Widerstand der Bevölkerung des damals als Deutsch-Südwestafrika bekannten Gebiets beendete; ein Ende, dessen Preis viele Historiker als Völkermord betrachten.
* Aus dem Französischen übersetzt von Petra Mertens.
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Die Entscheidung, das Berliner Stadtschloss im historischen Zentrum Berlins wiederaufzubauen, es Humboldt Forum zu nennen und u. a. dem Dialog der Kulturen zu widmen. Der vom französischen Präsidenten während einer Rede an der Universität von Ouagadougou in Burkina Faso am 28. November 2017 geäußerte Wunsch, dass innerhalb von fünf Jahren die Bedingungen für eine vorübergehende oder dauerhafte Rückgabe des in Frankreich zusammengetragenen afrikanischen Kulturerbes an Afrika erfüllt sein sollten. In diesem Sinne beauftragte er im März 2018 zwei Wissenschaftler (Felwine Sarr von der Universität von Saint Louis im Senegal und Bénédicte Savoy vom Collège de France) mit einem Bericht zu dieser Problematik. Letztere legten Präsident Macron am 23. November 2018 einen gründlichen, 78-seitigen Bericht vor, in dem sie die Argumente und Modalitäten für die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes darlegten, das derzeit in französischen Museen ausgestellt oder aufbewahrt wird. 1
2. Der heuristische Stellenwert der Debatte Diese Ereignisse haben es ermöglicht, dass Diskurse, die zuvor auf bestimmte intellektuelle, wissenschaftliche und politische Kreise begrenzt waren, in den Medien eine gewisse Präsenz erhielten und ein breiteres Publikum erreichen. Und diese mediale Resonanz hat spezifische Forschungen und bedeutende Wissensproduktionen in mehreren Fachgebieten und Disziplinen verstärkt oder inspiriert. Die koloniale Problematik hat sich mithin von verschiedenen heuristischen Ansätze inspirieren lassen und diese wiederum inspiriert; dabei handelt es sich um Zugänge aus so unterschiedlichen Themenkreisen wie die Globalisierung, die Erinnerungspolitik, die Konstitution nationaler und transnationaler Vorstellungswelten, die interkulturelle Problematik, die Migrationsproblematik, die literarische und künstlerische Kreativität, die Konstitution und Funktionsweise moderner Gesellschaften, die Analyse und das Management von Konflikten usw. Und es sind Disziplinen oder Studienprogramme entstanden oder sie haben neue Grundlagen erhalten, um Wissensgebiete zu konfigurieren, zu strukturieren und zu fördern. Dies ist der Fall für die Kulturwissenschaften, die Postcolonial Studies, die Gender Studies, die Global Studies 1 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle. Paris (November) 2018, https://bj. ambafrance.org/ (aufgerufen am 6. 2. 2020).
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usw. Die verschiedenen Untersuchungen, die verschiedenen Disziplinen, sind weit davon entfernt, auf denselben Paradigmen zu gründen, doch sie zeugen von einem gewissen Bewusstsein für das Funktionieren der modernen Welt und einer Besorgnis um ihre Zukunft. Man kann sagen, dass sie sich durch eine nominalistische und pragmatische Epistemologie legitimieren. Diese geht von dem Prinzip aus, dass Wissen aus historisch identifizierbaren Perspektiven produziert wird und darauf abzielt, so rigoros wie möglich auf die Fragen und Anliegen von Einzelpersonen und Personengruppen zu antworten. Es ist möglich, mindestens drei Ziele zu identifizieren, die diese unterschiedlichen Ansätze leiten: 1. 2. 3.
Die Dekonstruktion des traditionellen nationalen Narrativs in Europa und die Kritik an den nachfolgenden Erinnerungspraktiken, die Kritik der „kolonialen Bibliothek“, die Neubeurteilung der Bedingungen, unter denen das Zusammenleben in der postkolonialen globalisierten Welt möglich ist.
Ich möchte diese Ansätze im folgenden Beitrag näher erläutern und diskutieren.
3. Dekonstruktion des traditionellen nationalen Narrativs Im Jahr 2013 beschloss eine Gruppe von fünf jungen deutschen Historikerinnen 2, einen alternativen Audioguide für die Dauerausstellung „Deutsche Geschichte vom Mittelalter bis zum Mauerfall“ zu erstellen, die im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigt wurde. Mit diesem Audioguide lenken die Historikerinnen die Aufmerksamkeit der Besucher auf die Verzerrungen dieser Ausstellung, auf Verzerrungen, die den Willen, ob bewusst oder nicht, der ursprünglichen Ausstellungsmacher bezeugen, einen bestimmten Werdegang Deutschlands zu konstruieren, der Logik und innere Kohärenz trotz Brüchen aufweist. Dieses Unterfangen, das darin besteht, wenn schon keine nationale Teleologie, so doch zumindest eine Bestimmung, ein Bestreben, eine konsequente Entwicklung aufzuzeigen, ist genau das, was man eine „nationale Erzählung“ nennt. Auch wenn sich die Historikerinnen für bestimmte Verfälschungen historischer Fakten interessieren, die bei dieser Art von 2 Vgl. https://www.kolonialismusimkasten.de/; Manuela Bauche: Postkolonialer Aktivismus und die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus. Die Forderungen nach Repräsentation und sozialer Gleichstellung als zwei Pole einer neuen postkolonialen Bewegung, https://phase-zwei.org/hefte/artikel/postkolonialer-aktivismusund-die-erinnerung-an-den-deutschen-kolonialismus-134/ (beide aufgerufen am 10. 12. 2019).
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Erzählung unvermeidlich sind, so gilt ihr Hauptinteresse doch viel mehr dem Platz, den die Kolonisation in der Ausstellung einnimmt. Sie stellen nicht nur eine räumliche Marginalisierung fest, die koloniale Elemente unter einen Treppenaufgang verweist, sondern auch eine Marginalisierung, die den narrativen Umgang betrifft, der sie zu Elementen außerhalb Deutschlands macht, zu Elementen, die mit dem deutschen Raum als solchem nichts zu tun haben, gleichgültig ob man diesen Raum nun aus kultureller, sozialer oder politischer Sicht definiert. Die Kolonisation erscheint als eine Realität, die nur jenseits von Deutschland existiert und daher keine tatsächlichen Auswirkungen auf sein Funktionieren und seine Zukunft hat. Als Ergebnis dieser Analyse und sicherlich auch im Anschluss an andere kritische Stimmen nahmen die Ausstellungsmacher einige Änderungen vor, die jedoch in der Summe an der Exterritorialisierung der kolonialen Fakten nicht viel änderten. Dies ist nur ein Beispiel unter vielen, wie das offizielle Deutschland mit der Kolonialproblematik umgeht. Als Reaktion auf diese Marginalisierung beschlossen mehrere Forscher*innen und Intellektuelle, ihre Aufmerksamkeit auf diesen Themenkomplex zu richten, was zu einer Fülle von Forschungsprojekten, Publikationen und zivilgesellschaftlichen Initiativen führte. Die unterschiedlichen Vorstöße gehen davon aus, dass die gedankliche und diskursive Dissoziation von Metropole und Kolonien nicht nur ein Versehen ist, sondern vielmehr der Indikator für und die Auswirkung des kolonialen Denkens, das die Welt in zwei unterschiedliche Sphären teilt, den Westen und de[n] Rest der Welt (The West and the Rest), wie Stuart Hall 3 gezeigt hat. Das postkoloniale Projekt besteht darin, diese mentale Konstruktion zu dekonstruieren und die Metropole und die Kolonie als dialektische Teile derselben analytischen Sphäre zu behandeln. Die Idee einer „gemeinsamen Geschichte“ (shared history) postuliert, dass die nationale Geschichte notwendigerweise die Geschichte der historischen Interaktionen ist, die die verschiedenen Parteien, die am kolonialen Abenteuer teilgenommen haben oder darin involviert waren, geprägt und verändert haben. Die Metropole ist das Produkt kolonialen Handelns und kolonialer Beziehungen, wie die Kolonie auch das Produkt kolonialer Interaktion ist. 4
3 Stuart Hall: Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Hamburg 1994, S. 137–179. 4 Sebastian Conrad / Jürgen Osterhammel (Hrsg.:): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914. Göttingen 2004; Sven Oliver Müller / Cornelius Troy (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen 2009.
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In einer Rede, die er am 30. Juni 2014 zur Eröffnung des Symposiums „Auf dem Weg zum Humboldt-Forum“ hielt, 5 beschrieb der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler die Notwendigkeit und Funktion des Humboldt Forums als Teil eines Paradigmenwechsels in der internationalen Politik. Es sei daran erinnert, dass er, bevor er Präsident der Bundesrepublik Deutschland wurde, Staatssekretär im deutschen Finanzministerium, Leiter der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie Direktor des Internationalen Währungsfonds war. Er ist also ein Finanzökonom, der auf nationaler, europäischer und globaler Ebene gearbeitet hat. Mit seinem Plädoyer konnte er sich folglich auf seine langjährige Erfahrung stützen, wenn er behauptete, dass die Orientierung der internationalen Beziehungen vor allem an finanziellen Erwägungen zum Scheitern verurteilt sei, und einen internationalen Dialog der Kulturen als Voraussetzung oder als Mittel zur Gestaltung der Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten forderte. Das Humboldt Forum sollte auf deutschem Boden als Rahmen für die Organisation und Durchführung eines solchen Dialogs dienen. Ziel sei es, dort „die Multipolarität der Erfahrung und Interpretation der Welt“ sichtbar zu machen. 6 Horst Köhler greift hier Ideen auf, die das internationale Komitee, das zur Reflexion über die Transformation und Nutzung des historischen Zentrums von Berlin eingerichtet worden war, formuliert hatte, und er begründet sie. Trotz der Stärke dieser Rede und der sehr interessanten Ideen, die sie enthält, zeugt bereits ihr Titel von der ganzen Ambivalenz des Projekts, einer Mehrdeutigkeit, die im Mittelpunkt der heftigen Debatte stehen wird, die um das Projekt herum geführt wird. Die Rede von Professor Köhler trägt den Titel: „In Berlin soll jetzt das Weltgespräch beginnen“. Viele Historiker*innen, Intellektuelle und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft, die sich unter dem Label „postkoloniales Deutschland“ zusammengeschlossen haben, rufen in Erinnerung, dass die Debatte nicht erst jetzt begonnen hat, sondern schon seit mehreren Jahrhunderten andauert, und dass das heutige Deutschland bereits ihr Produkt ist. 7 Über Alexander v. Humboldt, dessen Namen das Humboldt Forum trägt, sagt eine Figur aus Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, der 1809 unter dem Titel „Les affinités électives“ ins Französische übersetzt wurde:
5 http://www.preussischer-kulturbesitz.de/news-detail/article/2014/07/04/rede-vonbundespraesident-ad-prof-dr-horst-koehler-zum-humboldt-forum/ ?sword_list% 5B0%5D=o_cache=1=1 (aufgerufen am 20. 7. 2019). 6 Ebd. 7 Mariane Bechhaus-Gerst / Joachim Zeiler: Deutschland Postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit. Berlin 2018.
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„Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiss in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.“ 8
Es ist wichtig, diesen sehr berühmten Ausspruch in seinen Textzusammenhang zu stellen. Ottilie, eine der zentralen Figuren des Werks, das von Leidenschaft und Vernunft, von gefährlichen Spielen zwischen Versuchung und Kontrollverlust, Ordnung und Unordnung handelt, schreibt in ihr Tagebuch: „Manchmal, wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden beneidet, der solche Wunder mit andern Wundern in lebendiger alltäglicher Verbindung sieht. Aber auch er wird ein anderer Mensch.“ 9
Es geht also um den lebendigen Kontakt mit einer anderen Realität als derjenigen, an die man gewöhnt ist, und um Veränderungen, die sich unweigerlich im Menschen vollziehen. Man bleibt nicht derselbe. Die Identität wird zwangsläufig transformiert. In Goethes Roman spricht die Figur nur vom Kontakt mit einer neuen Umgebung und den Veränderungen, die dieser mit sich bringen wird. Es gilt jedoch zu beachten, dass diese Kontakte auch denjenigen, die nicht gereist sind, Bilder und Kategorien liefern, dank derer die lokale und alltägliche Erfahrung neu interpretiert wird und damit eine neue Bedeutung erhält. Die Reisen dieser Entdecker wurden in Europa mit großer Hingabe verfolgt, und sie ermöglichten zugleich den Europäern, ihre Wahrnehmung der Welt zu erweitern und sich in Bezug auf diese Welt neu zu definieren und zu positionieren. Doch der europäische Kontakt mit der tropischen Realität beschränkte sich nicht auf einen Spaziergang unter Palmen. Humboldt und nach ihm viele andere Europäer reisten in jeden Winkel der Welt, sie brachten einen Teil davon nach Europa zurück, und sehr oft folgte ein Teil dieser Welt ihnen gegen ihren Willen nach Europa, so dass ihr eigener Raum den Erfahrungen und dem Erleben ausgesetzt wurde, die zunächst nur Reisenden vergönnt waren. Diese Interaktionen führten zu menschlichen Beziehungen im kolonialen und sklavenähnlichen Kontext. Humboldt war in der Lage, die moralischen und menschlichen Rückschritte, die der koloniale Kontext sowohl bei den Kolonisatoren als auch bei den Kolonisierten hervorrufen konnte, zu beobachten und sich an ihnen zu stören. 10 Eu-
8 Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6. München 10. Aufl. 1981, S. 416. 9 Ebd. 10 Zwei Einträge Humboldts in seinem Reisetagebuch nach Ecuador zeigen deutlich, wie er diese Regression erlebte: „Es ist schwierig für einen Europäer, in diesen Breiten ein anständiger Mensch zu bleiben, wo die Straflosigkeit bis in den Klerus hinein herrscht,
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ropa glaubte, dass es auf die Welt einwirken, sie verändern und vernetzen könne, ohne sich selbst zu verändern. Der postkoloniale Diskurs und die ihm folgende Lektüre der Welt erinnern uns daran, dass dies eine Fiktion ist, die eine Illusion nährt. Der postkoloniale Ansatz stützt und inspiriert ein Paradigma, das sich in den letzten Jahren mehr oder weniger durchgesetzt hat und dem es gelungen ist, die Idee einer kulturellen und identitären Reinheit der Nation oder jeder anderen Gemeinschaft in Frage zu stellen, die sich angeblich nur aus ihren eigenen indigenen Elementen entwickle. Die postkoloniale Problematik führt die Idee einer strukturellen, diskursiven und mentalen Kontinuität zwischen der historischen kolonialen Welt und der aktuellen globalisierten Moderne ein, was nicht bedeutet, dass es keine anderen Kräfte und anderen Logiken gibt, die für ihre Entstehung und Konsolidierung entscheidend waren. Wie bei jeder gegenwärtigen und vergangenen Realität können mehrere konkurrierende Erzählweisen entwickelt werden, um den Werdegang und die Bildung dieser Realität aufzuzeigen. Doch diese Erzählweisen schließen sich nicht unbedingt gegenseitig aus. Betrachtet man Deutschland im Besonderen, so hat die postkoloniale Forschung gezeigt, dass trotz des lang zurückliegenden und kurzen kolonialen Abenteuers die Palimpseste, Schlacken, die Sedimentation und sowohl mentale als auch materielle Spuren so wichtig sind, dass es nicht zulässig ist, sie als marginales Epiphänomen zu behandeln. Wie Freiburg postkolonial.de 11 schreibt, ist es gelungen, Bilder, Reden, Strukturen, politische Praktiken und Gegenstände ans Licht zu fördern, die den Alltag in der Vergangenheit geprägt haben und die auch heute noch existieren, auch wenn sie nicht mehr wahrgenommen, verdrängt oder positiv umgedeutet wurden. 12
dass ich Gott täglich bitte, mich nicht hier sterben zu lassen, denn ohne Zweifel werde ich verdammt sein.“ „Die Idee der Kolonie selbst ist eine unmoralische, diese Idee eines Landes, das einem anderen zu Abgaben verpflichtet ist, eines Landes, in dem man nur zu einem bestimmten Grad an Wohlstand gelangen soll, in welchem der Gewerbefleiß, die Aufklärung sich nur zu einem bestimmten Punkt ausbreiten dürfen.“ Reisetagebuch, Guayaquil (Ecuador), 4.1.-17. 2. 1803, https://humboldt-heute.de/de/geschichten/zitate (aufgerufen am 20. 7. 2019). 11 http://www.freiburg-postkolonial.de/ (aufgerufen am 20. 7. 2019). 12 Shalini Randeria / Regina Römhild: Das postkoloniale Europa. Verflochtene Genealogien der Gegenwart. Einleitung zur erweiterten Neuauflage. In: Dies./Sebastian Conrad (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Frankfurt a. M. 2013, S. 9–31; Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg 1994; Bechhaus-Gerst / Zeiler (Anm. 7); Pascal Blanchard u. a. (Hrsg.): La fracture coloniale, la société française au prisme de l’héritage colonial. Paris 2005; Nicolas Bancel / Pascal Blanchard: Culture post-coloniale1961-2006. Traces mémoires coloniales en France. Paris 2011; Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft. Frankfurt a. M. 2014.
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In mehreren Städten wurden Initiativen organisiert, um die Aufmerksamkeit auf diese Realitäten zu lenken und sie sichtbar zu machen. Unter diesen Realitäten gibt es Orte, die mit Erinnerung belastet sind, weil sie Schauplätze von Aktivitäten waren, die mit der Kolonisation zusammenhängen, wie Handel, Ausbildung für Kolonialaufenthalte, Ausstellungen von Gegenständen, Tieren und Menschen, die aus den Kolonien nach Hause mitgebracht wurden, Ausstellungen, deren Zweck unterhaltend und erzieherisch war und die das Recht der Metropole bezeugen oder beweisen sollten, über Güter und Menschen sowie den kolonialen Raum selbst nach Belieben zu verfügen. Falls diese Orte inzwischen anderen Nutzungen zugeführt worden sind, wird die Umwandlung in Gedenkorte zu einem Mittel der Erinnerung und Verfremdung. Wie wir wissen, ist die distanzierende Wirkung von Erinnerungsorten ein wirksames Mittel, um einer Realität den Schleier ihrer Offensichtlichkeit und Normalität zu nehmen, um sich also die Mittel an die Hand zu geben, sie in Bezug auf ihre historische, moralische und politische Legitimität in Frage zu stellen. Es wird auch möglich, Homologien und semantische Ähnlichkeiten mit anderen aktuellen Realitäten, die als normal erlebt werden, wahrzunehmen, um sie zu kritisieren. 13 Erinnerungsorte, das Erinnern an Orte, vor allem aber Orte des Gedenkens wie Kolonialdenkmäler, Straßen- und Ortsnamen sind Kanäle, durch die die koloniale Idee und die Symbolik der kolonialen Beziehungen weiterhin bewusst oder unbewusst in die nationale Vorstellung einfließen. Aber die Artefakte, die die koloniale Praxis und die kolonialen Beziehungen am stärksten versinnbildlichen, sind diejenigen, die von den sogenannten ethnografischen Museen aufgenommen wurden. Sie setzen sich aus Elementen zusammen, die zwar zusammengewürfelt erscheinen mögen, aber in erster Linie Indikatoren und Zeugen der Idee der Andersartigkeit sind, wie sie sich im Westen vom 16. Jahrhundert bis heute entwickelt hat. Sie sind aber auch Zeugnisse der kolonialen Interaktion. Diese Artefakte sind, woran uns die Museumshistoriker erinnern, reihenweise zu Kuriositätenkabinetten zusammengestellt worden, die unter anderem ein Fremdsein ohne Reisen ermöglichten, als Trophäen, die von der Tapferkeit und dem Erfolg der kolonialen Eroberer zeugten, als ethnografische Museen und Kunstsammlungen. 14 Der französische Anthro-
13 Joachim Zeller: Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewusstsein. Eine Untersuchung der kolonialdeutschen Erinnerungskultur. Frankfurt a. M. 2000. 14 Beatrix Hoffmann: Das Museumobjekt als Tausch- und Handelsgegenstand. Zum Bedeutungswandel musealer Objekte im Kontext der Veräußerungen aus dem Sammlungsbestand des Museums für Völkerkunde Berlin. Münster 2012; Claudia Ramseier / Manuela Meneghini: Das ethnographische Museum im Spannungsfeld von Wis-
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pologe Benoit de L’Estoile zeigt, dass ihre Untersuchung dazu beitragen kann, eine Anthropologie der Art und Weise zu rekonstruieren, in der sich in verschiedenen westlichen Ländern die Vorstellung vom Anderen entwickelt hat, und damit die Art und Weise, wie der Westen seinen eigenen Platz in der Welt versteht. 15 Nachdem diese Artefakte empirische Elemente zur Analyse und Bestimmung des Anderen geliefert haben, ermöglichen sie es heute, den Aufbauprozess dessen zu rekonstruieren, was Stuart Hall, wie erwähnt, „The West and the Rest“ 16 genannt hat, d. h. eine dichotome und hierarchische Wahrnehmung der Welt. Die Artefakte hatten ermöglicht, verschiedene Paradigmen zu modellieren, umzuformen, je nachdem, was aussprechbar und autorisiert war. Der Blick auf die Artefakte wurde daher nicht von ihnen selbst bestimmt, sondern von den Diskursen, die vom europäischen oder westlichen intellektuellen Umfeld ausgingen, aber auch von der Art der objektiven Beziehung, die sich zwischen Europa und seinem imperialen und kolonialen Raum entwickelte. Der evolutionistische Diskurs resultiert also aus der Debatte zwischen Monogenisten und Polygenisten, aber auch zwischen Kreationisten und Naturalisten. Sie verlieh der kolonialen Praxis eine Sendung, die stärker mit der Rhetorik der Aufklärung über den menschlichen Fortschritt übereinstimmte. Die Kolonisation wurde so zur zivilisatorischen Mission, und selbst die Kirche, die gegen die Evolutionsthesen kämpfte, nutzte diese europäische Aufgabe als Argument, um sich selbst eine Rolle im kolonialen Rahmen zu geben, insbesondere um rückständigen Völkern den Zugang zum wahren Glauben zu erleichtern, der dann als ein wichtiges Element der westlichen Kultur betrachtet wurde, in die diese integriert werden müssten. Die ethnologischen Museen lieferten so die empirischen Belege für die Unterstellung einer primitiven, technisch rückständigen Mentalität. Hat die Kolonisation erst einmal Fuß gefasst, wird sich ein historiografischer Diskurs entwickeln, in dem objektive kulturelle Unterschiede nicht mehr Zeichen des Primitivismus, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, sondern Ausdruck einer organischen Differenz der Kulturen sind. Der Andere muss nicht mehr in eine zeitliche Achse der menschlichen Entwicklung eingeordnet werden, sondern in eine faktische Andersartigkeit. senschaft und Publikums-Orientierung. Eine Standortbestimmung der ethnographischen Museen in der Schweiz. Bern 2003; Michael Kraus / Karoline Noack: Völkerkundemuseum? Aktuelle Debatten zu ethnologischen Sammlungen in Museen und Universitäten. Bielefeld 2015. 15 Benoît de L’Estoile: Le goût des Autres. De l’Exposition coloniale aux Arts premiers. Paris 2007. 16 Hall (Anm. 3).
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Die Gleichheit der Verschiedenen wird zur gleichen Zeit verkündet wie die Kolonisation, die darauf abzielt, andere Gesellschaften zu transformieren, indem sie in eine globalisierte Wirtschaft integriert werden, in der ihr Platz von der Metropole bestimmt wird. Der Andere ist also der Gleiche in einer fraktionierten Menschheit, in der tatsächlich eine Hierarchie besteht. Aber der Blick auf ihre Artefakte, zumindest im wissenschaftlichen anthropologischen Diskurs, verändert sich. Ihr Erhalt ist umso dringlicher, als sie aufgrund des „zivilisierenden“ Handelns der kolonialen Beziehung, die sie insbesondere für rituelle Gegenstände delegitimiert oder durch westliche Industriegüter ersetzt, vom Verschwinden bedroht sind. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine neue Sichtweise, darunter insbesondere ein künstlerischer Ansatz. Auf der Suche nach der Erneuerung ihrer Kreativität entdeckte die europäische künstlerische Avantgarde ‚primitive‘ Artefakte und erhob sie in den Rang der Kunst, d. h. sie verlieh ihnen einen Status, der sie, insbesondere seit der Romantik, über alle anderen Artefakte erhoben und zu einem unfassbaren Objekt gemacht hat, vor dem Verehrung die einzig erlaubte Haltung war. Diese erneuerte Sichtweise ist eigentlich nicht neu. Sie ist Teil einer „wiederkehrenden, ständig aktualisierten mythischen Vision, die [. . .] uns dazu bringt, bei Völkern sehnsüchtig nach einem ‚verlorenen Paradies‘ zu suchen, die angeblich ‚primitiv‘ oder ‚ursprünglich‘ sind und vor der Korruption durch westliche Gesellschaft bewahrt worden sind, während sie von der Verwestlichung bedroht sind. Es handelt sich hier also um eine Selbstkritik, die seit Rousseau ein Gegenüber des idealisierten Westens hervorbringt.“ 17
Diese Sichtweise wurde nach der Dekolonisation wieder aufgegriffen, um eine neue Legitimation für ethnologische Museen zu entwickeln, wie sie sich in der Konzeption des Musée des Arts Premiers in Paris oder des Humboldt Forums in Berlin zeigt. Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass es zwar möglich war, die Historizität der verschiedenen Diskurse um diese Museen und den Zeitpunkt ihrer Einrichtung anzugeben, keiner dieser Blicke aber den anderen obsolet gemacht oder zu seinem Verschwinden geführt hat. Sie blieben konkurrierende, aber nie einander ausschließende Konzepte der Organisation und Semantisierung von Artefakten und menschlichen Überresten, die in ethnologischen Museen gesammelt und aufbewahrt wurden.
17 Fabrice Grognet: Du sens perdu de L’autre et du Semblable. In: L’homme (2008) H. 185–186, S. 11.
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4. Kritik der kolonialen Bibliothek Ein anthropologischer Interpretationsansatz für die Idee und das Funktionieren von ethnologischen Museen ist daher Teil einer Kritik an der kolonialen Bibliothek. Mit diesem Begriff bezeichnete der kongolesische Philosoph Mundimbe 1988 die diskursive Produktion über Afrika im Kontext und unter den Bedingungen der Kolonisation. 18 Mit diesem Begriff versucht er, die Bedingungen zu erfassen, unter denen Äußerungen aller Art (wissenschaftliche, politische, literarische, religiöse usw.) möglich sind, durch die Wissen, Ideen und Darstellungen über Afrika und die Afrikaner produziert werden. Aus einer nominalistischen Perspektive spricht er von der Erfindung Afrikas durch diese Diskurse. Er lehnt die Vorstellung ab, dass es eine absolute objektive Realität Afrikas gibt, die durch die verschiedenen Diskurse, insbesondere die wissenschaftlichen, nur in Worte gefasst würde. Ganz im Gegenteil, es sind diese Worte, die eine Vorstellung von demjenigen Afrika schaffen, das die Kolonisation brauchte, um sich zu legitimieren und ihre eigene Praxis zu organisieren. Mundimbe interessiert sich mehr für die epistemologischen, ideologischen und sogar idiosynkratischen Grundlagen dieser Diskurse als für ihre Fähigkeit, die ‚echte‘ Realität zu erfassen. „Ich werde mich mit Diskursen über afrikanische Gesellschaften, Kulturen und Menschen als Zeichen für etwas anderes beschäftigen. Ich möchte ihre Modalitäten, ihre Bedeutung oder ihre Strategien als Mittel zum Verständnis der Art von Wissen befragen, das durch sie vorgetragen wird. Tatsächlich spreche ich nicht die klassischen Fragen der afrikanischen Anthropologie oder Geschichte an, deren Ergebnisse eine objektive afrikanische Realität widerspiegeln mögen oder auch nicht. Vielmehr schaue ich den Ergebnissen voraus. Genau auf das, was sie möglich macht, bevor ich sie als Kommentar zur Offenbarung oder zur Wiedergabe einer afrikanischen Erfahrung akzeptiere.“ 19
Mundimbes Anliegen folgt der Foucault’schen Perspektive einer Archäologie des Wissens. Diese Arbeit erscheint ihm umso wichtiger, als der wesentliche Teil des von Afrikanern über sich selbst produzierten Diskurses epistemologische und semantische Modelle der kolonialen Bibliothek reproduziert. Der postkoloniale Ansatz speist sich aus diesem Anliegen und entwickelt einen kritischen Blick auf das über Afrika produzierte Wissen, indem er die Brüche, aber auch und vor allem die Kontinuitäten jenseits dieser 18 Valetin-Yves Mudimbe: The Invention of African Philosophy and the Order of Knowledge. Bloomington 1988. 19 Ebd., S. 9 f.
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Brüche analysiert. Um die Besonderheit und die Wichtigkeit dieses postkolonialen Blicks vollständig zu verstehen, ist es nützlich zu zeigen, wie er mit einem anderen Diskurs bricht, der ihm nahezustehen scheint, nämlich dem postmodernen Blick. Einer der berühmtesten zeitgenössischen deutschen Denker schreibt: „Zeitgenössische Kulturen sind extern denkbar stark miteinander verbunden und verflochten. Die Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen der Einzelkulturen von einst (der vorgeblichen National-Kulturen), sondern überschreiten diese, finden sich ebenso in anderen Kulturen. Die Lebensform eines Ökonomen, eines Wissenschaftlers oder eines Journalisten ist nicht mehr einfach deutsch oder französisch, sondern – wenn schon – europäisch oder global und intern sind zeitgenössische Kulturen weithin durch Hybridisierung gekennzeichnet [. . .]. Das gilt auf der Ebene der Bevölkerung, der Waren und der Information: Weltweit leben in der Mehrzahl der Länder auch Angehörige aller Länder dieser Erde.“ 20
In diesen Aussagen Welschs zeigt sich das Problematische an der postmodernen Argumentationsweise. Mittels einer gewagten Verallgemeinerung werden aus der Lebensweise einiger sozialer Akteure, nämlich der Ökonomen, der Wissenschaftler, der Journalisten, die Charakteristika zeitgenössischer Kulturen abgeleitet. Im selben Zug, wo eine universelle Wirklichkeit behauptet wird, wird eine partikulare europäische Kultur postuliert. Am Ende schrumpft die globale zeitgenössische Kultur auf die Einstellung und Praxis einer sehr dünnen Schicht der europäischen Gesellschaft zusammen, nämlich jener Schicht, die als kultiviert bezeichnet wird. Die „zeitgenössische Kultur“ ist also die elitäre Kultur der gebildeten kosmopolitischen Europäer. Ähnlich verfährt Welsch, wenn er Beispiele aus der Geschichte oder aus anderen Erdteilen heranzieht. Und diese zeitgenössische Kultur ist nicht selbstkritisch genug, um in ihrer Selbstdarstellung schon vorhandene, im Laufe der Dialektik von Fremdbeschreibung und Selbstbeschreibung konventionalisierte Darstellungsformen zu erkennen und zu hinterfragen. Sie vermag sich zwar von manchen tradierten Kategorien und Diskursen zu emanzipieren – zum Beispiel von der Idee der Kugelform der Kultur 21 –, aber sie reproduziert manchmal unbewusst nomische, also vorfabrizierte
20 Wolfgang Welsch: Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Dorothee Kimmich / Schamma Schahadat (Hrsg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld 2012, S. 25–40, zit. S. 28. 21 Bekanntlich schreibt Johann Gottfried Herder: „Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“ Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774). Frankfurt a. M. 1967, S. 44 f. Diese Vorstellung kritisiert Wolfgang Welsch ausdrücklich: Transkulturalität. Realität – Geschichte – Aufgabe. Wien 2017.
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ordnende Begriffe und Skripte, was ihre Argumentation am Ende problematisch erscheinen lässt. In den Texten von Welsch finden sich weltbürgerliche Attitüden und ein implizites evolutionistisches Denken. Das teleologische Denken ist bei ihm so selbstverständlich, dass er das Bedürfnis unter heutigen Bedingungen nach Nation, nach Einheit, nach „vorgeblicher Reinheit unter Ausschluss des Fremden“ 22, nur phylogenetisch als antiquierte regressive Reflexe beschreiben kann, die einen Rückfall in eine von Menschen überwundene Phase seiner Entwicklung darstellen. Auch wenn er von „Machtdisparitäten“ spricht, die dafür verantwortlich sind, dass die Identitäten „heutiger Menschen – der Armen wie der Reichen – zunehmend transkulturell werden“ 23, so ist der Duktus und die Logik von Hegels Weltgeist und Karl Marx’ Fortschrittsglauben unverkennbar. Marx stellt fest, dass die kapitalistische Eroberung der Welt, wie grausam sie für viele Völker sein mag, ein Moment des unaufhaltsamen Fortschritts der Menschheit darstelle und daher ein Mittel der geschichtlichen Emanzipation dieser Völker sei. 24 Auf jeden Fall erscheint für Welsch die Transkulturalität zunehmend als eine „Realität und nicht bloß ein Wunsch“. 25 Mit diesem Begriff wird ein Zustand postuliert, in dem eine Geisteshaltung der Öffnung und der Akzeptanz von Diversität herrscht. „Denn ein Individuum, in dessen Identität eine ganze Reihe kultureller Muster Eingang gefunden hat, besitzt bezüglich der Vielzahl kultureller Praktiken und Manifestationen, die sich in seiner gesellschaftlichen Umwelt finden, größere Anschlußchancen, als wenn die eigene Identität nur durch ein einziges Muster bestimmt wäre.“ 26
Das Problem ist, dass die gelebte Realität eine völlig andere Sprache spricht. Täglich entstehen politisch und kulturell motivierte Spannungen zwischen Ländern und Personengruppen. Die Wirren in den sogenannten zeitgenössischen transkulturellen Gesellschaften, in denen der Gedanke des Andersseins, der Reinheit und der Fremdenfeindlichkeit die Institutionen beeinträchtigt, beweisen, dass Transkulturalität eher ein performativer Begriff ist, mit dem zukünftige Ideale umrissen werden, und keineswegs eine beschreibende Kategorie darstellt.
22 Ebd., S. 35. 23 Ebd., S. 10. 24 Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei (1848). Köln 2009, S. 34 f. 25 Ebd., S. 10. 26 Ebd., S. 6.
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Postmoderne Denker neigen dazu, vereinfachende Diskurse über die Realität zu produzieren und dabei die Komplexität des Zusammenlebens und des Zusammenwirkens von Menschen, Gesellschaften und Kulturen zu ignorieren. Die Vorstellung von Individuen, die als Weltbürger souverän und aufgeklärt den Gemeinschaftsgeist und den Herdentrieb längst überwunden haben und von Natur aus harmonische, rationale, unvoreingenommene Beziehungen ohne Machtverhältnis untereinander unterhalten, bleibt eine Utopie. Und wenn Utopie mit der Realität verwechselt wird, geht der Realitätssinn verloren und damit auch die Berücksichtigung der Notwendigkeit einer Bildungsarbeit zur Vermittlung ethischer Werte und einer politischen Arbeit, die ein konfliktärmeres Zusammenleben ermöglichen können. Wir brauchen ein Wissen, das Klarheit verschafft, Dynamiken zeigt und Möglichkeiten für Veränderungen sichtbar werden lässt. Kulturen übernehmen von anderen Kulturen, aber sie arbeiten auch daran, sich selbst und den anderen zu definieren und so kulturelle Unterschiede zu schaffen. Dieser Prozess enthält Konfliktfaktoren, die ein idyllisches Zusammenleben von Männern und Frauen nicht begünstigen, egal ob diese am selben Ort oder weit voneinander entfernt leben. Bei der Interaktion von Gruppen werden Darstellungen produziert, die Vorstellungswelten schaffen oder solche aufrechterhalten, die zu Konflikten führen. Das wichtigste Wissen über eine interkulturelle Situation, das benötigt wird, ist das Wissen über diese Vorstellungswelten und die Art und Weise, in der sie zum Ausdruck kommen. Die Theorien über kulturelle Differenz, wie sie von Arjun Appadurai, 27 Homi K. Bhabha, 28 Edward Said, 29 Stuart Hall, Toni Morisson, 30 Ash Amin 31 und vielen anderen formuliert wurden, beschreiben diese konfliktgeladenen Dynamiken besser. Durch ihre Theorien kann man Hypothesen und epistemologische Ziele formulieren, die historische Zusammenhänge, individuelle subjektive Motivationen, bestehende Diskurse und Taxonomien, Ängste, strukturelle Dispositionen, Erinnerungen etc. verständlich machen. Diese Faktoren haben Auswirkungen auf die sozialen und symbolischen Interaktionen und insbesondere auf die interkulturellen Dynamiken. Mit diesen Theorien kann der 27 Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis 1996. 28 Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London / New York 1994. 29 Edward Said: Orientalism. New York 1979. 30 Toni Morrison: Playing in the Dark. Whiteness and the Literary Imagination. Cambridge 1992. 31 Ash Amin: Ethnicity and the Multicultural City. Living with Diversity. In: Environment and Planning 34 (2002) H. 6, S. 959–980.
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Komplexität der Prozesse Rechnung getragen werden. Genau das tut der postkoloniale Blick. Durch die Arbeit an der kolonialen Bibliothek, durch die Archäologie des darin enthaltenen Wissens, entwickelt er eine Sensibilität für ihr Fortbestehen, ihren Wandel und ihre Rolle bei der Produktion von Alterität und Selbstdefinition. Er enthüllt das Unbewusste dieser Wissensordnungen, ein Unbewusstes, das sich, weil es unbewusst ist, selbst bei Versuchen, es zu überwinden, reproduzieren kann.
5. Neubewertung der Bedingungen des Zusammenlebens in einer globalisierten postkolonialen Welt Als Ergebnis einer durch strukturelle, wirtschaftliche und politische Asymmetrie gekennzeichneten Beziehungsgeschichte produziert die globalisierte Welt Kenntnisse und Praktiken, die in hohem Maße konfliktträchtig sind. Es entwickelt sich eine Vielfalt von Diskursen, Praktiken und Agenden, die miteinander konkurrieren und von der Schwierigkeit zeugen, ein harmonisches Zusammenleben in der postkolonialen Welt zu organisieren. 32 1.
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Personen und Institutionen mobilisieren ethno-linguistische, kulturelle, religiöse, historisch konstituierte Markierungen, und zwar aus bestimmten Anlässen und in manchen räumlichen Kontexten, um Diskurse über sich und andere zu produzieren. Gerade bei ethnischen Minoritäten, Migranten und anderen marginalisierten Akteuren werden Werte und Identitäten auf eine bestimmte Art und Weise eingesetzt, um sie dazu zu befähigen, Subjektpositionen zu konstruieren und einzunehmen. Partikulare historische Gedächtnisse und Gedächtnispolitiken werden konstruiert und eingesetzt; sie tragen zu Prozessen von sozialen und räumlichen Differenzierungen und zu ihrer Konsolidierung bei. Migrantengemeinschaften und Gastgesellschaften und ihre jeweiligen Vertreter bemächtigen sich spezifischer symbolischer Räume der Diversität. In interkulturellen Interaktionen und Dialogen tragen die Stilisierung der Alterität und die Belegung von Räumen mit kulturellen Bedeutungen zur Behauptung von Unterschieden und Ausschließungen bei. Tagtägliche diskriminierende Ausschließungs- und Einschließungspraktiken, aber auch Mediationen und Translationen werden in Narrationen dargestellt, aber auch in Institutionen organisiert.
32 Ursula Lehmkuhl u. a. (Hrsg.): Spaces of Differences. Conflicts and Cohabitation. Münster 2016.
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Multikulturelle Räume werden von bestimmten Akteuren bei bestimmten Anlässen problematisiert und in Frage gestellt. 8. Multikulturelle Räume und Diversitäten werden aber auch in bestimmten zeitlichen und räumlichen Begriffen formuliert. 9. Formen, Strategien und Modalitäten der Darstellung und der Reflexivität tragen zur Sedimentierung und Perpetuierung der Differenz oder auch zur Förderung von transkulturellen Räumen und Praktiken bei. 10. Makro- und Mikroverhältnisse bedingen sich oder beeinflussen sich gegenseitig in der Narration vom Selbst und vom Anderen. Selbst der tägliche Kontakt allein garantiert noch keinen Kulturaustausch und -transfer. Vielmehr kann er die Feindseligkeit und Ablehnung des Anderen verstärken, da einige der Praktiken und Bräuche von anderen als inakzeptabel empfunden werden. Eine Pädagogik der gegenseitigen Annäherung und des Austauschs ist daher oft notwendig, ebenso wie die Schaffung von speziellen Räumen und Kanälen, durch die Vorurteile abgebaut und kooperative Dynamiken gefördert werden können. Der postkoloniale Ansatz ist Teil der konflikterzeugenden Dynamik. Indem er sich auf die historischen Prozesse der Konstitution von Asymmetrien, Hierarchien und latenter struktureller Konflikte konzentriert, die oft naturalisiert und trivialisiert werden, initiiert und provoziert er Nervosität, die zu einer Verhärtung und Abwehrhaltung führen kann. Diese Haltung manifestiert sich auf verschiedene Weise: - ein Auftrumpfen von Seiten nationalistischer, ethnozentrischer, rassistischer und damit Differenzen postulierender Positionen auf diskursiver, methodischer und epistemologischer Ebene, - eine verzweifelte Suche nach historischen Details, die die historische Nicht-Wahrhaftigkeit postkolonialer Wissensproduktionen oder zumindest ihre Voreingenommenheit aufzeigen sollen, - die Affirmation eines modernen oder postmodernen Bewusstseins, das sich der intellektuellen Schlacke der imperialen und kolonialen Welt entledigt hat und sich in Kategorien und Paradigmen bewegt, die durch die Vernunft und ein konsequentes ethisches Ansinnen gereinigt und geläutert sind. Der postkoloniale Ansatz ist Teil der konfliktgenerierenden Dynamik, aber aus einer dialektischen Perspektive. Die Kritik an der kolonialen Bibliothek und dem Unbewussten, dessen Ausdruck sie ist, erstrebt ein kathartisches und pädagogisches Ziel der qualitativen Transformation der postkolonialen Realität in eine andere, gerechtere, fairere und der Entfaltung aller Individuen, aller Gruppen und aller Regionen der globalisierten Welt förderlichere Realität.
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Der postkoloniale Ansatz interessiert sich daher für die Phänomene der Hybridisierung als Modell und als Zeichen der Möglichkeit, Zwischenräume zu konstruieren, die eine mögliche Zukunft vorzeichnen, aber marginal bleiben. Der postkoloniale Ansatz arbeitet daran, zu verstehen, warum diese Räume marginal und sogar bedroht bleiben, und er arbeitet daran, die Traditionen, die Kräfte, die Wissensordnungen, die Praktiken, die bewusst oder nicht die dichotome und hierarchische koloniale Vision nähren, explizit zu machen.
6. Perspektiven: nicht vergessen Im vorgenannten Sinne ist auch die Kampagne für die Rückgabe afrikanischer Artefakte zu verstehen, die vor, während und nach der Kolonisation nach Europa gebracht wurden. Sie basiert auf dem Gedanken der Wiedergutmachung durch Schadensersatz. Diese Restitution soll Ausdruck eines Paradigmenwechsels in den Beziehungen zwischen den ehemaligen Kolonialmetropolen und den ehemals unterworfenen Völkern sein. Zumindest soll sie ein Indikator für die Aufnahme neuer Arten von Beziehungen sein. Im Bericht von Savoy und Sarr, der das ausführlichste und systematischste Dokument zu dieser Idee ist, nehmen die Autoren eine Kritik vorweg, die man an ihnen üben könnte, indem sie fragen, ob dies ein Akt sei, der jede frühere moralische Verantwortung auslöschen würde. Lösche der Restitutionsakt nicht die Spuren des vergangenen Verbrechens aus und befördere damit dessen Vergessen? 33 Wenngleich die Autoren eine solche Kritik zurückweisen, bleibt sie relevant. In seiner Antwort auf die Laudatio der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Michelle Müntefering, bei der Verleihung des Gerda-Henkel-Preises, dessen Träger er 2018 war, kam der kamerunische Politologe, Historiker und Philosoph Achille Mbembe auf genau diese Frage zurück. Insbesondere fragte er sich, ob man es dem Westen nicht zu leicht mache, wenn man ihm erlauben würde, Eigentum kolonialer Herkunft zurückzugeben. Er erinnerte daran, dass die Europäer noch nie zuvor irgendeine Schuld gegenüber Afrika anerkannt hätten: „Wir müssen uns fragen, ob wir ihnen ihre Aufgabe zu leicht machen, indem wir auf das Recht auf Erinnerung verzichten. Und wagen wir es, noch weiter zu gehen und das Angebot zur Rückgabe ganz abzulehnen? Dadurch würden die Objekte in den Museen zu einem ewigen Beweis dessen werden, was Europa angerichtet hat, und für was es die Verantwortung nicht übernehmen wollte.
33 Sarr / Savoy (Anm. 1), S. 26.
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Wir würden Europa dazu verdammen, auf ewig mit dem zu leben, was sie geraubt haben – und ihre Kainrolle bis zum bitteren Ende weiter zu spielen. [. . .] Wir werden mit diesem radikalen Verlust leben müssen.“ 34
Die Relevanz von Mbembes Kritik an der Idee der Restitution ist unbestreitbar. Aber es gibt Alternativen zum Status quo. Das Ideal besteht darin, sich eine Verwaltung dieser Güter vorzustellen, die weit davon entfernt ist, die Erinnerungsspuren des ursprünglichen Vergehens zu löschen, sondern genau diese Erinnerung in den Mittelpunkt der Semantisierung der Gegenstände und des Umgangs mit ihnen stellt. Mehrere Modelle sind denkbar, aber dasjenige, das mir am effektivsten erscheint, ist ein Vorgehen in mehreren Schritten. 1.
2.
Der erste Schritt wäre die Eigentumsübertragung an diesen Objekten an eine internationale Organisation mit bekannter und anerkannter moralischer Autorität. Die UNESCO könnte diese Rolle des Eigentümers und Verwalters übernehmen. Aber es könnte auch eine besondere Institution geschaffen werden, die von denjenigen ehemaligen Kolonialmächten finanziert wird, die derzeit Eigentümer dieser Objekte sind. Diese Organisation könnte dann darüber entscheiden, die Artefakte thematisch an einem oder mehreren Orten zu gruppieren oder auch sie in ihrer aktuellen Verfassung zu belassen und für Wanderausstellungen vorzubereiten. Diese Perspektive lässt die anfängliche Dislokation nicht verschwinden, sondern verschiebt symbolisch den Aufbewahrungsort der Artefakte und entzieht sie der Logik der nationalen Aneignung durch die alten oder neuen Metropolen. Indem wir die Objekte internationalisieren oder transnationalisieren, unterbrechen wir die Tradition ihrer Einbettung in eine nationale und koloniale diskursive Logik und machen sie für verschiedene Arten der Kontextualisierung und Interpretation verfügbar. Für jede Ausstellung könnte man, nach dem Vorbild der „documenta“ in Kassel, je nach dem gewählten Programm eine(n) renommierte(n) Intellektuelle(n) oder eine Gruppe von Intellektuellen auswählen, um ihm, ihr oder ihnen die Wahl des Themas der Ausstellung anzuvertrauen, des Erinnerungsaspekts, den er oder sie hervorheben wollen, und so jedes Mal eine persönliche Präsentation ermöglichen, die zur Entwicklung einer Idee mit Bezug auf die aktuellen Ereignisse oder das spezifische Anliegen der Autorinnen und Autoren führt. Dies würde eines der Probleme lösen, vor denen ethnografische Museen
34 https://www.deutschlandfunkkultur.de/achille-mbembe-der-westen-traegt-einen-muehlstein-von-schuld.2165.de.html?dram:article_id=430117 (aufgerufen am 20. 7. 2019).
Formen und Funktionen des Gedächtnisses der Kolonisation
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stehen, nämlich die Legitimität nicht nur ihres Besitzes, sondern auch der Narrative, denen sie als Institutionen unterworfen sind. Was derzeit nur eine Möglichkeit darstellt, von der manche sich fragen, ob sie den ehemals Kolonisierten oder ihren Nachkommen zugestanden werden kann, nämlich ihnen die Möglichkeit zu geben, einen Diskurs über diese Objekte zu entwickeln, die von ihren Vorfahren produziert, aber schließlich in einen anderen Diskurshorizont als ihren eigenen integriert wurden – diese Frage hätte keinen Sinn mehr. Man könnte sich also ein Alternieren oder zumindest eine Variation der Blickwinkel vorstellen. Man könnte sich auch eine kooperative Semantisierung dieser Objekte, ausgehend von unterschiedlichen Biografien, unterschiedlichen Disziplinen und unterschiedlichen Sensibilitäten, vorstellen. Ihre Ausstellung würde eine Gelegenheit bieten, über die Tragödie der Geschichte nachzudenken, sich darüber zu wundern, dass bestimmte Dinge möglich waren, die Bedeutungen und Folgen bestimmter vergangener und gegenwärtiger Handlungen zu verstehen, kurzum: jeden Schleier der vermeintlichen Normalität und Offensichtlichkeit bestimmter historischer und aktueller Praktiken zu lüften.
Es würde sich hier um eine Statusveränderung dieser Objekte handeln, die gleichzeitig ihre Existenz und die Existenz der Kulturen, die sie geschaffen haben, ihre Geschichte und die Bedeutung dieser Geschichte, den Gebrauch, der von ihnen gemacht wurde, die Blicke, die sie geweckt haben, und die Logik dieser Blicke, die Leidenschaften, die sie entfesselt haben, und die Schlachten, die für sie oder um sie herum geschlagen wurden, offenbaren würde. Ihre Ausstellung würde dann eine Gelegenheit zum Lernen, zur Sensibilisierung, zur Erinnerung und zum Gedenken werden. Kulturgüter haben komplexe Geschichten: die Geschichte ihrer Entstehung, die Geschichte ihrer Wirkung, die Geschichte ihrer Interpretation, die Geschichte ihrer Nutzung. Bei den hier besprochenen Gütern haben wir zusätzlich dazu die Geschichte ihrer Deplacierung, die Geschichte ihrer Aneignung, die Geschichte des Streites um sie, die Beziehungsgeschichte, in der sie eingestellt waren, usw. Je nach Perspektive kann eine oder können einige dieser Geschichten in den Mittelpunkt gerückt werden. Sie sind Erinnerungsorte und Mittel der Erinnerung. Auch die ästhetischen Erfahrungen, die sie ermöglichen, entstehen in diesem Zusammenhang. Museale Objekte aus kolonialen Kontexten könnten auf diese Weise zu einem Mahnmal werden, d. h. zu einem Objekt, das dazu dient, etwas in Erinnerung zu behalten, von dem man hofft, dass es – nie wieder geschehen wird.
Viola König
Das Humboldt Forum als Katalysator? Ein Blick in die Geschichte von Sammlungen und Disziplinen, Zuständigkeiten und Haltungen, Kolonialismusdebatte und Restitutionspolitik
1. Das Ethnologische Museum, die Entstehung der Sammlungen und die frühen „Abgaben“ Die ethnologischen Museen, einst als „Rettungsasyl“ gegründet, um „für die Nachwelt zu bewahren, was im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch den globalen Machtanspruch der Europäer zerstört zu werden drohte“,
sind nach 150 Jahren selbst zum Thema geworden. 1 Im Fokus stehen die Sammlungen aus kolonialem Kontext, insbesondere Afrika. Allein in Berlin geht es um 55.000 Objekte, die zwischen 1884 und 1914 aus den ehemaligen deutschen Kolonialgebieten an das Königliche Museum für Völkerkunde, heute Ethnologisches Museum, versandt wurden. Doch der überwiegende Teil der ca. halben Million Objekte stammte aus anderen Kontinenten, weit mehr als ein Drittel aus den Amerikas. Sie sind Zeugen europäischer Wissens-, Aneignungs- und Siedlungsgeschichte. Seit den Reisen Alexander v. Humboldts wurde der Doppelkontinent Amerika als besonders attraktiv für die Erforschung erachtet. Einzelne Sammler brachten jeweils Zehntausende von archäologischen und ethnografischen Sammlungen nach Deutschland, oft halblegal. 2
1 Peter Bolz: Das Ethnologische Museum. Rettungsasyl, Forschungszentrum und Ort der Präsentation. In: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 18 (2019), S. 22–31, hier S. 23. 2 Viola König: (Ein)Sammeln, (Ab)Kaufen, (Aus)Rauben, (Weg)Tauschen – Zeitgeist und Methode ethnographischer Sammlungstätigkeit in Berlin. In: Andrea Bärnreuther / Peter-Klaus Schuster (Hrsg.): Zum Lob der Sammler. Die Staatlichen Museen zu Berlin und ihre Sammler. Berlin 2009, S. 286–306.
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Gründungsdirektor Adolf Bastian (1826–1905) hatte sein Museum in Berlin durch die ideelle und finanzielle Unterstützung des Generaldirektors der Königlichen Museen, des Archäologen Richard Schöne (1880– 1905), gründen können. Doch schon dessen Nachfolger, der Kunsthistoriker Wilhelm Bode (1845–1929), empörte sich in seiner Antrittsrede, dass die „sinnlose Anhäufung von Gegenständen, besonders [. . .] Erwerbungen, die uns aus unseren Kolonien in Afrika und Polynesien durch die meist ganz unvorbereiteten Geschenke der Kolonialbeamten zuflossen, schon damals eine unerträgliche Überfüllung zur Folge gehabt hatte. [. . .] Der Direktor der umfangreichsten und durch jene Übelstände am stärksten betroffenen Sammlung, Professor von Luschan, war unersättlich in Aufstaplung auch der modernsten, schon ganz unter europäischem Einfluss entstandenen Erzeugnisse der Naturvölker.“ 3
Bode wollte einige Highlights der „Naturvölker“ präsentieren, Bastian strebte die Errichtung eines „universalen Archivs der Menschheit“ an. Die beiden Konzepte gingen nicht zusammen. Nach Bastians Tod verfügte der mächtige „General“ Bode, dass die ethnografischen Sammlungen „durch Verkauf, Tausch, oder wenn es nicht anders geht, auch durch einfache Abgabe – von der Last der Dubletten befreit werden“. 4 Zwischen den Weltkriegen litten die ethnologischen Museen unter der Weltwirtschaftskrise, Geldmangel und zunehmender Platznot nach dem Auspacken und Inventarisieren der riesigen Sammlungen. Ohne Skrupel tauschten die Museen ihre Objekte untereinander, verschenkten und verkauften. Zum Beispiel der Ethnologe Edgar Walden, „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ am Berliner Museum für Völkerkunde, der u. a. „Kriegsbeute“ vom Maji-Maji-Krieg in Tansania (1905–1907) aus dem damaligen Deutsch-Ost-Afrika an deutsche Museen „vermittelte“, aber auch an die umstrittenen Händler Vater und Sohn Arthur Speyer, die für ihre intensiven Tauschaktionen in deutschen Museen berüchtigt waren. Walden verkaufte Beninbronzen aus der Berliner Sammlung aus Nigeria an die Speyers sowie das Roemer und Pelizaeus Museum Hildesheim. 5 Die Abgabe von Sammlungsgut war keineswegs immer ein Tabu, wie Gegner von Restitutionen behaupten. 3 Wilhelm von Bode: Mein Leben. Bd. 2, Berlin 1930, S. 173–176, http://www.zeno.org/ nid/20003847470 (aufgerufen am 31. 3. 2020). 4 Sigrid Westphal-Hellbusch: Hundert Jahre Museum für Völkerkunde Berlin. Zur Geschichte des Museums. In: Hundert Jahre Museum für Völkerkunde Berlin (Sonderheft Baessler-Archiv N.F. 22), S. 1–99, hier S. 27. 5 Beatrix Hoffmann: Das Museumsobjekt als Tausch- und Handelsgegenstand. Zum Bedeutungswandel musealer Objekte im Kontext der Veräußerungen aus dem Sammlungsbestand des Museums für Völkerkunde Berlin. Münster 2012, S. 51, 261.
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Abb. 1: Adolf Bastian (1826–1905), erster Direktor des Königlichen Museums für Völkerkunde Berlin im Jahre 1860, und sein Direktor der Afrika- und OzeanienAbteilungen Felix v. Luschan (1854–1924) im Jahre 1878. © Ethnologisches Museum der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.
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Trotz Auslagerungen ab 1939 hatte das Ethnologische Museum nach dem 2. Weltkrieg umfangreiche Kriegsverluste zu beklagen, durch Angriffe der Alliierten, Zerstörungen von Gebäuden während des Krieges und eine umfangreiche Kriegsbeute der russischen Armee. Das Trauma saß tief, der Wiederaufbau der Gebäude und das Zusammenführen der ausgedünnten Bestände aus den Lagern führte ab den Wohlstandsjahren in den 1960ern zu einer Wiederbeschaffungsmentalität, die sich in Neuerwerbungen auch aus dubiosen Quellen niederschlug, z. B. dem einschlägigen Kunsthandel. 6 Bereits 1906, ein Jahr nach Bastians Tod, hatte „General“ Bode in Berlin gegen den ausdrücklichen Willen der Ethnologen eine weitere einschneidende Maßnahme angeordnet: Die Gründung eines Asiatischen Kunstmuseums mit Sammlungen aus dem Völkerkundemuseum, die er dem Bereich „Geschichte-Kunst-Kultur“ zuordnete, im Gegensatz zu „Geschichtslosigkeit-Kunstlosigkeit-Naturvölker“ im Völkerkundemuseum. 1963 wurde ein „Museum für Indische Kunst“ ausgegründet, seit 2006 Teil des Museums für Asiatische Kunst. Sally Price beschreibt den Prozess: „Ethnographische Objekte wurden in dem Moment zu Meisterwerken der Kunst der Welt, als sie ihre ethnologische Kontextualisierung verloren und man sie für fähig hielt, allein nach ihrem ästhetischen Wert beurteilt zu werden.“ 7
Als 1998 Pläne von Bodes Nachfolger, des Kunsthistorikers Wolf-Dieter Dube (1934–2015), bekannt wurden, die Museen für Ostasiatische und Indische Kunst in das Völkerkundemuseum zurückzuführen, schrie die Kunsthistorikerszene auf, „dieser Eingriff“ sei „eine Rückgliederung eigenständiger Hochkulturen in einen kolonialen Zusammenhang. Ein eklatanter Akt der Deklassierung und des schönsten Eurozentrismus [. . .]“. 8
Es gibt Hinweise, dass Dube, der sich für afrikanische Kunst interessierte und Ausstellungen dazu initiierte, afrikanische Werke aus ihrem kolonialen Zusammenhang als eigene Kunstgattung aufwerten wollte. Doch er fügte sich dem Druck und gab den Plan auf.
6 Erst 1990 kamen knapp 50.000 Objekte, die die russische Armee als Kriegsbeute beschlagnahmt und dem Völkerkundemuseum in Leipzig überlassen hatte, nach Berlin zurück. 7 Sally Price: Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1992, S. 131. 8 Petra Kipphoff: Letzte Schlachten am falschen Ort. Generaldirektor Dube will seine Berliner Museen aufmischen. In: Die ZEIT, 8.10.1998, https://www.zeit.de/1998/42/ Letzte_Schlachten_am_falschen_Ort (aufgerufen am 29. 2. 2020).
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2. Die deutsche Kunstgeschichte und ihre Nichtbeziehung zu Kolonialismus und Restitution Die Kunstgeschichte ist innerhalb der Philosophischen Fakultäten bzw. Fachbereiche Geschichts- und Kulturwissenschaften traditionell ein mächtiges Fach, sichtbar in der Öffentlichkeit, einflussreich in der Kulturpolitik. Es hatte eine starke Lobby, war tonangebend in den Gremien, entschied bei der Besetzung wichtiger Posten in der deutschen Kulturlandschaft, darunter Leitungspositionen in den Museen, auch den ethnologischen. Kunstbesitz steigert die Bedeutung von Institutionen sowie Ansehen und Reichtum von Privatsammlern. Sie sind abhängig von der kunsthistorischen Expertise. Noch bis in die 1990er-Jahre war die deutsche Kunstgeschichte auf die nationale, die europäische und die europäisch-nordamerikanische Kunst fokussiert. Wie schon unter Bode wurden einige auserwählte Werke aus den indigenen Kulturen Afrikas, der Amerikas, Asiens und Ozeaniens zu „primitiver Kunst“ erklärt, ohne Rücksicht auf ihren originären Kontext. Werke aus den sogenannten „Hochkulturen“ wie China, Mexiko, Indien u. a. wurden als Kunst erkannt und anders behandelt als Objekte der „Naturvölker“. Die in den Nachbarwissenschaften längst geführte Kolonialismusdebatte war lange kein Thema in der deutschen Kunstgeschichte. 9 Noch bis Ende des 20. Jahrhunderts folgte die Kunstgeschichte den altweltlich-westlich ausgerichteten Kategorien Ägypten, Naher Osten, Ferner Osten, Antike, Frühchristlich, Byzantinisch, Mittelalter, Renaissance, Barock, 18. Jahrhundert Deutschland / Europa, 19. und 20. Jahrhundert / Europa, Zeitgenössische Kunst. In seinem Aufsatz „The Map of Art History“ kommentierte Robert S. Nelson 1997: „By the end of the last century, the West, now including the United States of America, controlled 80 percent of the world, and peoples everywhere outside this culture did indeed lose contact with their pasts in the pressure to modernize and to acquiesce to Western systems of time and history. Peoples were wrenched from the centers of their worlds and positioned at the margins relative to the West by many political and semantic devices, including the continuation of such categories as ‚Near East‘. The West became the most developed, the acme of evolution: The rest, underdeveloped, developing, or copying. World histories and world art histories function within this larger apparatus to incorporate the rest into the West.“ 10
9 Ausstellung „Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit in der Bremer Kunsthalle“, https://www.kunsthalle-bremen.de/de/view/exhibitions/exb-page/der-blinde-fleck (aufgerufen am 16. 3. 2020). 10 Robert S. Nelson: The Map of Art History. In: The Art Bulletin 79 (1997) H. 1, S. 28– 40, hier S. 37, http://www.jstor.org/stable/3046228 (aufgerufen am 24. 3. 2020).
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Erst die von dem in Nigeria geborenen Okwui Envezor kuratierte 11. Documenta im Jahr 2002 in Kassel, eine Großausstellung zeitgenössischer Kunst, brachte auch in der deutschen Kunstgeschichte ein kritisches Umdenken. Sie gilt als die „erste wirklich globale, post-koloniale documenta“, die „die unausgesprochenen Aufmerksamkeitshierarchien des westlichen Ausstellungswesens“ in Frage stellte und dem „exotisierenden Blick des Westens auf ‚das Fremde‘ seine Legitimität absprach“. 11 Doch hatte die Documenta mit ihrer Zuständigkeit für zeitgenössische Kunst keinen Einfluss auf das Machtgefüge der meist auf Lebenszeit besetzten Leitungspositionen im bundesdeutschen Kulturbetrieb, in den Kulturverwaltungen, Generaldirektionen bis in die Kulturpolitik. Hier waren weiterhin in europäischer Kunstgeschichte ausgebildete Fachleute in der Mehrzahl. Vor 20 Jahren begannen zeitgenössische Künstler aus den Herkunftsländern in ethnologischen Museen mit den Sammlungen zu arbeiten, beteiligten sich an der künstlerischen Aufarbeitung des kolonialen Erbes aus eigener Perspektive. Zehn Jahre später entstanden mehrjährige Projekte. 12 Recht spät, aufgrund externen Drucks, zeigte der Hamburger Bahnhof Berlin 2018 die Ausstellung „Hello World. Die Revision einer Sammlung“ mit zahlreichen Werken des Ethnologischen Museums. Auf deren problematische Herkunft angesprochen, befand der Direktor der Nationalgalerie Udo Kittelmann: „Wir sind und bleiben ein Kunstmuseum. Aber die ganze Debatte zum Thema kolonialer Herkunftsgeschichte, die jetzt darüber geführt wird, ist eine längst überfällige, und das geht über museale Institutionen hinaus.“ 13
3. Das Humboldt Forum als Katalysator und die „Wiederentdeckung“ alter Debatten um Restitution Die Ausstellungsplanungen und Kolonialismusdebatte des Humboldt Forums wurden im ersten Jahrzehnt noch von interdisziplinären Beratungs-
11 documenta Retrospektive, https://www . documenta . de / de / retrospective / documenta11 (aufgerufen am 11. 3. 2020). 12 „Humboldt Lab Dahlem“, Berlin 2012–2015; „Grassi invites“, Leipzig 2016; „Weltkulturen Labor“, Frankfurt ab 2011, Berlin Biennale, 2014. 13 Stefanie Dörre: Udo Kittelmann über die Großausstellung „Hello World. Revision einer Sammlung“. In: tip plus Berlin, 20. 4. 2018, https://www.tip-berlin.de/udo-kittelmann-ueber-die-grossausstellung-hello-world-revision-einer-sammlung/ (aufgerufen am 30. 3. 2020).
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gremien begleitet, darunter internationalen Vertretern des Postkolonialismus. 14 Das änderte sich mit der Ernennung des britischen Kunsthistorikers Neil MacGregor, ehemaliger Direktor des Britischen Museums, durch Staatsministerin Monika Grütters im Jahr 2015 zum ‚Primus inter Pares‘ neben den Co-Intendanten, dem Prähistoriker Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), und dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp, Kunsthistoriker an der Humboldt Universität. MacGregor, zuvor Berater im „International Advisory Board“ von 2011, stellte sich ein neues zehnköpfiges „internationales Expertenteam“ zusammen, in dem noch drei Mitglieder aus den vorherigen Gremien vertreten waren. 15 Mit einer Überzahl von nunmehr sechs Kunsthistorikern fehlte in diesem Gremium die notwendige Expertise für das Thema Kolonialismus und ethnologische Sammlungen aus Afrika, Ozeanien, den Amerikas und Asien. Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy war die einzige Vertreterin einer deutschen Institution mit Kenntnissen über Kontext und Struktur des Projekts. Zwei Jahre blieb sie dabei, dann trat sie im Sommer 2017 aus, jedoch nicht lautlos, sondern mit einem Interview in der Süddeutschen Zeitung. Dass mit Bénédicte Savoy ausgerechnet eine Kunsthistorikerin in die Öffentlichkeit ging, um wissen zu wollen, „wie viel Blut von einem Kunstwerk tropft“, und damit eine gewaltige Debatte über den Umgang mit dem kolonialen Erbe entfachte, ist vor dem Hintergrund der ambivalenten Haltung ihres Fachs bemerkenswert. 16 Von nun an, 15 Jahre nach der Entscheidung für das Humboldt Form, wurde in der Öffentlichkeit der Eindruck suggeriert, die Debatte über den Umgang mit dem kolonialen Erbe sei eine Angelegenheit von Kunsthistorikern. Aus dem Berliner Disput zwischen Horst Bredekamp und Bénédicte Savoy leitete die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters, einen „Kunsthistorikerstreit“ ab. 17 14 Viola König / Andrea Scholz (Hrsg.): Humboldt-Forum. Der lange Weg 1999–2012. Sonderband Baessler-Archiv 59 (2012), S. 10, 12, 59. 15 Der kenianische Archäologe George Abungu, die Historikern Lee Chor Lin aus Singapur und der indische Kunsthistoriker Jyotindra Jain: Members of the International Advisory Board 2011. In: The Presentation of the Collections of the Ethnological Museum and the Museum of Asian Art in the Humboldt-Forum, http://www.staatliche-museen.de/smb/ media/news/32950/110408_International_Advisory_Board_engl_kl.pdf (aufgerufen am 30. 3. 2020). Internationales Expertenteam ab 2015: https://www.preussischer-kulturbesitz.de/meldung/article/2015/09/25/internationales-expertenteam-unterstuetzt-intendanz-des-humboldt-forums/ (aufgerufen am 30. 3. 2020). 16 Jörg Häntzschel und Bénédicte Savoy: Interview. In: Süddeutsche Zeitung, 21. 7. 2017, S. 9, https://www.academia.edu/34270358/Interview_Jörg_Häntzschel_mit_Bénédicte_Savoy_Süddeutsche_Zeitung_21.07.2017 (aufgerufen am 29. 3. 2020). 17 Ingo Langner: Es ist ein regelrechter Kunsthistorikerstreit. Wie umgehen mit dem Kreuz, mit der Moderne und mit Objekten aus kolonialen Kontexten? Interview
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Savoy ging es mit ihren Vorwürfen jedoch um eine politische Korrektur auf oberster Ebene, die sie mit einer grundsätzlichen Kritik an der Struktur der SPK verband. Im Vorfeld ihres Austritts hatte sie eine Kontaktaufnahme mit dem Ethnologischen Museum vermieden, klagte jedoch in der ungekürzten Fassung des Interviews, „dass in diesen Sammlungen seit 15 Jahren Wissenschaftler sind, die nicht ernst genommen wurden, deren Pläne hin- und hergeworfen wurden. Wie traurig ist das! Eine ganze Generation von Museumsleuten ist geopfert worden, weil nicht klar war, was passieren soll. Kein Mensch kann in Unklarheit arbeiten, das geht an die Substanz. Die wirkliche Wissenschaft, die dort stattgefunden hat, hat eine lange Tradition, Berlin war im 19. Jahrhundert Spitzenreiter für diese Disziplin. Jetzt erzählt man uns, die Leute in Dahlem hätten keine Ahnung gehabt, [. . .] man kann die Leute nicht demütigen, einsperren, mit Maulkorb versehen.“ 18
Noch 2015, als sie sich in MacGregors Expertenteam hatte wählen lassen, hatte sie die Situation anders eingeschätzt: „Und mit diesen Objekten haben sich Dutzende von Wissenschaftlern sehr intensiv befasst. Sie haben sie in ihren Materialien erforscht, in ihrer Funktion erforscht und versucht, zu kontextualisieren. Das waren auf gar keinen Fall Trophäen.“ 19
Zurecht bemängelte Savoy, dass es keinen politischen Willen dazu gegeben hatte, die Kolonialismus- und Restitutions-Debatten aus den wissenschaftlichen Zirkeln nachhaltig in die öffentliche Debatte zu holen. Dazu bedurfte es der äußerlich sichtbaren Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses in Verbindung mit dem Humboldt Forum als Katalysator. Der Austritt einer honorierten Kunsthistorikerin aus dem Expertenteam der Kulturstaatsministerin erfolgte im rechten Moment. Noch mehr Aufmerksamkeit erweckte ein Jahr darauf der von Savoy und Felwine Sarr erstellte Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter für den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron mit überwiegend positiver Resonanz in den Medien. 20
mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters. In: Die Tagespost, 8. 5. 2019, https:// www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/Es-ist-ein-regelrechter-Kunsthistorikerstreit;art310,198006 (aufgerufen am 14. 3. 2020). 18 E-Mail Häntzschel / König, 24. 7. 2017. 19 Humboldt-Forum. Die Geschichte der Objekte ist absolut wichtig. Bénédicte Savoy im Gespräch mit Henning Hübert. In: Deutschlandfunk Kultur heute, https://www. deutschlandfunk.de/humboldt-forum-die-geschichte-der-objekte-ist-absolut.691.de. html?dram:article_id=328098 (aufgerufen am 15. 3. 2020). 20 Nur wenigen Kritikern fielen oberflächliche Recherche, unkorrekte Zitierweise und einseitige Analyse der Quellen auf, s. Andreas Schlothauer: Afririqua. In: Kunst & Kontext 75, 18. 7. 2019.
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Was Savoy „entdeckte“, war, wie sie später selbst statuierte, so neu nicht, und die Quellen, auf die sie in den Archiven stieß, waren bekannt. Weitere, noch nicht ausgewertete Dokumente in den Museen geben nicht nur Aufschluss über die unterschiedlichen Haltungen der Direktoren von ethnologischen Museen, sondern darüber hinaus den bislang kaum beachteten Einfluss von Kunsthistorikern als maßgeblichen Entscheidungsträgern für die Kulturpolitik der deutschen Nachkriegsgeschichte und deren Prioritätensetzung. Dazu zählten das Ausblenden der Rolle der europäischen Kolonialgeschichte in deutschen Museumssammlungen, die Ablehnung der Restitution von Museumsgut, gepaart mit einer überheblich-abwertenden, ja feindseligen Haltung gegenüber der sog. „Dritten Welt“, wie sie in einem ausführlichen Report „Eingepackt – und ab in den Louvre“ im Magazin „Der Spiegel“ im Jahre 1979 zum Ausdruck kommt. Es sei „unverantwortlich“, warnte Stephan Waetzoldt, Generaldirektor der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin und zugleich oberster Chef des Ethnologischen Museums, „dem Nationalismus der Entwicklungsländer nachzugeben, vielleicht um kurzfristiger politischer Soforterfolge willen“. Die „abendländischen Museen“ seien, so Waetzoldt, „aus Mitteln der Steuerzahler finanzierte Schaufenster der Dritten Welt“. 21 Noch ausführlicher werden seine und andere mächtige Stimmen in dem vielbeachteten Bestseller „Nofretete will nach Hause“ diskutiert, den der Journalist Gert v. Paczensky und der Ethnologe Herbert Ganslmayr, Direktor des Übersee-Museums Bremen, im Jahre 1984 herausbrachten. Sie plädieren darin dezidiert für die Restitution geraubter Museumssammlungen an die Herkunftsländer und beschreiben ausführlich die Widerstände in Kultur und Politik. 22 Dazu zählten Differenzen bei Verständnis und Verwendung des Begriffs „Restitution“: „In der UNESCO haben sich Vertreter der vormaligen Kolonialmächte, mit auffälligem Eifer auch die Bundesrepublik, erfolgreich dagegen gewehrt, neben dem Begriff ‚Return‘ (Rückgabe, Rückkehr) von Kulturgütern unkommentiert auch den der ‚Restitution‘ zu setzen. Dieser bedeutet nämlich im internationalen Juristenjargon die Rückgabe illegal, kriminell erworbenen Gutes. Das zwischenstaatliche Komitee, das diese Fragen behandelt, heißt daher ‚[. . .] für die Förderung der Rückgabe kulturellen Eigentums in seine Herkunftsländer oder seine Restitution im Fall gesetzwidriger Aneignung‘.
21 Eingepackt – und ab in den Louvre. Spiegel-Report über den Streit um Rückgabe fremder Kunstschätze. In: Der Spiegel, 3. 12. 1979, S. 178–197, hier S. 190, https:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-39867543.html (aufgerufen am 31. 3. 2020). 22 Gert v. Paczensky / Herbert Ganslmayr: Nofretete will nach Hause. Europa, Schatzhaus der ‚Dritten Welt‘. München 1984. Darin ausführlich zu Waetzoldt, Kussmaul (Stuttgart) und Haberland (Frankfurt), insbesondere Kapitel 4, S. 45–54.
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Abb. 2: Buchumschlag der Publikation von Gert v. Paczensky und Herbert Ganslmayr: Nofretete will nach Hause. Europa – Schatzhaus der „Dritten Welt“. München 1984
Damit wurde genügend Raum für die Behauptung gelassen, die ‚Aneignung‘ im Kolonialzeitalter sei eben nicht ungesetzlich gewesen, weil durch das Recht des Stärkeren gedeckt“. 23
All das, was Savoy in Archiven „neu“ ausgrub, ist in diesem Buch bereits verarbeitet und an konkreten Beispielen belegt. Sie kam zu dem Schluss, dass die Debatte zu Beginn der 1980er erstickt, verdrängt und schließlich vergessen wurde. 24 Liest man jedoch den Verriss des Buches von Haug v. Kuenheim „Nofretete ist kein Fall. Der müßige Streit um die Kulturschätze aus der Dritten Welt“, kommt man zu einem anderen Ergebnis. Kuenheim kritisierte Paczensky: „Er heize die Diskussion an, so meinen die Museumsleute, die sich gerade versachliche“. „Denn die moderne Betrachtungsweise, historische Tatsachen mit den Maßstäben unserer Zeit zu messen, führt geradewegs in die Irre“. „Es entspricht natürlich dem Zeitgeist, uns ein schlechtes Gewissen einzureden, und der Tag ist abzusehen, an dem die Grünen die Regierung auffordern werden, Nofretete heimzuschicken“. „Unsere Museumsdirektoren sind druckempfindlich. Mit Vehemenz verteidigen sie Rechtspositionen, die sie gar nicht zu verteidigen brauchten. Sie wühlen in alten Akten[,] um zu belegen, dass
23 Ebd., S. 108. 24 Bénédicte Savoy: Die verdrängte Debatte. In: Süddeutsche Zeitung, 7. 3. 2019. https://www.sueddeutsche.de/kultur/europaeische-museen-die-verdraengte-debatte-1.4352929 (aufgerufen am 29. 3. 2020).
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ihre kostbaren Stücke aus Asien, Afrika, Griechenland oder der Türkei legal erworben seien. Dabei hat das Gewohnheitsrecht oder die Verjährung mögliches Unrecht längst geheilt. Die Güter sind ‚ersessen‘ worden, wie der Jurist sagt. Fakten haben längst Normen geschaffen. Zudem sind die Plünderungen der Kolonialzeit Bagatellen gegen das, was heute geschieht.“ 25
Das sind klare Aussagen, die der Haltung in Kulturpolitik und -verwaltungen entsprachen. Restitution an „Dritte-Welt-Länder“ war schlicht nicht gewollt. Bis auf Weiteres blieb es dabei: „manches Stück ist auf dem Wege stiller, diplomatischer Verhandlungen wieder an seinen Ursprungsort zurückgekehrt“. 26
4. Universität contra Museum? Ein kompliziertes Verhältnis Kritik an den Museen und ihrer Politik erfolgt häufig seitens der Universitäten. Sie spiegelt eine jahrzehntelange Kluft zwischen Universität und Museum – nicht nur in Deutschland. Universitätsprofessoren genießen traditionell eine unbestrittene Autorität in Politik und öffentlicher Wahrnehmung. Museumsleitungen mit ihrer Verantwortung für die von Vorgängergenerationen angehäuften Sammlungen sehen sich mit dem Rücken zur Wand, wie im Abschiedsinterview des ehemaligen Direktors des Musée du Quai Branly in Paris, Stéphane Martin, zum Ausdruck kam. Er kommentierte den vom französischen Staatspräsidenten in Auftrag gegebenen Bericht der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und des Ökonomen Felwine Sarr: „Es überrascht, dass dieser Bericht zwei Universitätsakademikern anvertraut wurde“. „Felwine Sarr und Bénédicte Savoy, zwei Personen, die keine Museumsleute sind“. „Dieser Bericht ist ein Schrei des Hasses gegen das Konzept des Museums als Institution an sich, das als westliche Erfindung betrachtet wird, als einen quasi kriminellen Ort, an dem die Objekte gerupft und vollständig entblößt werden, wo ihnen ihre Magie genommen wird“. 27
„Den Objekten ihre Magie nehmen“? Die exotisierende Formulierung zeigt, dass das erst 2006 gegründete „Musée du Quai Branly – Jacques Chirac“ in Paris ausdrücklich ein Kunstmuseum ist, auch wenn seine Bestände
25 Haug v. Kuenheim: Nofretete ist kein Fall. Der müßige Streit um die Kulturschätze aus der Dritten Welt. In: Die ZEIT, 7. 9. 1984, https://www.zeit.de/1984/37/nofreteteist-kein-fall (aufgerufen am 29. 3. 2020). 26 Ebd. 27 Spoliation vs. restitution, l’ancien patron du Quai Branly fustige le rapport Savoy-Sarr, 20. 2. 2020, https://francais.rt.com/france/71431-spoliation-vs-restitution-ancien-patron-quai-branly-fustige-rapport-savoy-sarr (aufgerufen am 25. 3. 2020).
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zu einem großen Teil aus dem Musée de L’Homme rekrutiert wurden. 28 Auch hier kommt die alte Sorge wieder zum Ausdruck: Meisterwerke der Weltkunst mit „magischer“ Ausstrahlung aus ihrer kontrollierten Umgebung in westlichen Museen in eine ungewisse Zukunft ihrer Ursprungsländer z. B. in Afrika zu entlassen. In der Ethnologie vollzog sich die Trennung von Museum und Universität zeitgleich mit der 1968er Bewegung. Bis dahin wurden an den größeren Orten Museumsleitung und Lehrstuhl in Personalunion wahrgenommen. So in Frankfurt am Main bis 1966/67, wo das Museum für Völkerkunde und das Frobenius-Institut in Personalunion geführt wurden, oder in Hamburg bis 1971. Der damalige Direktor des Völkerkundemuseums gab das Amt auf, um ausschließlich den Lehrstuhl des Völkerkundlichen Instituts innezuhaben. Das hatte weitreichende Konsequenzen: Museen und Universitäten unterstanden nun unterschiedlichen administrativen Trägern, zuweilen Regierungsparteien. Universitäts- und Museumsethnologie nahmen unterschiedliche Entwicklungen, das Verhältnis zwischen den Ethnologen an den Universitäten und Museen verschlechterte sich. „Ans Museum geht, wer keine Theorie betreiben möchte; an die Universität, wer sich nicht materiell verunreinigen will“, statuierte der Ethnologe Mark Münzel vor 20 Jahren. 29 Zugleich erinnerte er an die Museen als „klassischen Ort der ethnologischen Wissenschaft“ und Teil des Ursprungs der Ethnologie als Universitätsdisziplin, deren Forschungsthemen nicht „unter dem Diktat der objektfernen Universitätsethnologie zu generieren seien, sondern aus den Gegenständen selbst“. 30 Erst nach 2000 änderte sich die Haltung zu Objekten als wichtigem Quellenmaterial in den Universitäten wieder. Die Leitungen von Wissenschaftssammlungen stellten Anträge für die Aufarbeitung ihrer Bestände durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – und sie wurden bewilligt. Zehn Jahre zuvor noch war ein Sammelantrag aller ethnologischen Museen Deutschlands auf Bearbeitung ihrer umfangreichen, historischen Fotosammlungen von den Gutachtern der DFG mit der Begründung abgelehnt worden, „Standardaufgaben“ der Museen seien nicht förderungswürdig. Die auf Bund, Länder und Gemeinden verteilten Bestände sollten quellengenetisch untereinander abgeglichen und der Inhalt analysiert
28 Mit den Untertiteln „Musée des Arts premiers“ und „Musée des arts et civilisations d’Afrique, d’Asie, d’Océanie et des Amériques“. 29 Mark Münzel in: Michael Kraus / Mark Münzel: Zur Beziehung zwischen Universität und Museum in der Ethnologie. Marburg 2000, S. 106. 30 Ebd., S. 116.
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werden. Die Bedeutung der Aufarbeitung der Fotosammlungen aus der Kolonialzeit war also bekannt, galt aber nicht als förderungswürdig. 31 Seit den 1970er-Jahren vollzog sich an deutschen Universitäten, auch in der expandierenden Ethnologie, ein „stark politisierter Generationenwechsel“. 32 Es folgte eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen der Kolonialzeit, Subalternismus und Dekolonialisierung, doch nur sporadisch schafften es Publikationen in die Tagespresse, ohne einen nachhaltigen Eindruck in der deutschen Öffentlichkeit zu hinterlassen. 33
5. Cuius regio, eius religio – Wes des Land, des der Glaub’ – bzw. die Kulturpolitik: Ethnologische Museen und ihre regionalpolitischen Abhängigkeiten Zu dieser Zeit begannen die Restitutionsdebatten in den deutschen ethnologischen Museen. Ihre Direktoren positionierten sich in Abstimmung mit den Verwaltungen der kulturpolitischen Träger, die sie eingestellt hatten und ggf. Druck ausübten, denn grundsätzlich hatten Museen sich „neutral“, d. h. „unpolitisch“ zu verhalten. 34 Die Restitution radikal ablehnenden, von CDU, teils mit FDP verwalteten Museen in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen sowie der von Bund und Ländern getragenen SPK in West-Berlin galten als „reaktionär-konservativ“; die als „links-progressiv“ geltenden, von der SPD verwalteten Museen in Bremen, Frankfurt, Köln standen Restitutionsforderungen eher positiv gegenüber, in Hamburg war man unentschlossen. Auf den Konferenzen der Direktoren der ethnologischen Museen in dieser Zeit ließen einige Museumsdirektoren durchblicken, dass sie sich an die Vorgaben ihrer Träger halten mussten, nicht unbedingt in Übereinstimmung mit ihrer persönlichen Einschätzung als Ethnologen. Nur im kleinen „roten“ SPD-regierten Stadtstaat Bremen konnte der Museumsdirektor Ganslmayr, selbst SPD-Mitglied, öffentlich Restitutionswillen bekennen. Ähnlich verhielt es sich bei den europäischen Museen. Die skandinavi-
31 Diese Aussagen beruhen auf persönlicher Erinnerung an Protokolle und Teilnahme an Sitzungen. 32 Dieter Haller: Die Suche nach dem Fremden. Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945–1990. Frankfurt a. M. 2012, S. 236–240. 33 Z. B. Deutsche Gesinnung. Rezension der Dissertation Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894 bis 1914 von Helmut Bley. In: Der Spiegel, 31. 3. 1969, S. 121–124, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45763653.html (aufgerufen am 10. 3. 2020). 34 Wie Anm. 31.
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schen Länder und die Niederlande restituierten, Frankreich und Großbritannien waren strikt dagegen, der Rest ambivalent. 35 Ethnologische Museen litten chronisch unter Mangel an Aufmerksamkeit, darunter, in der Öffentlichkeit nicht sichtbar zu sein. Das änderte sich erst, als knapp zwei Jahrzehnte nach der Gründungsidee das Humboldt Forum in Gestalt des rekonstruierten Berliner Stadtschlosses für jedermann sichtbar wurde. „Wahrscheinlich hat erst die Kritik die Aufmerksamkeit auf das politische Kapital gelenkt, das in den Dahlemer Sammlungsbeständen steckt“,
beobachtete der Ethnologe Karl Heinz Kohl. 36 Nicht nur das zu den Staatlichen Museen zu Berlin gehörige Ethnologische Museum, sondern auch die ehemaligen Völkerkundemuseen in Frankfurt, Hamburg, Köln, Leipzig, München, Stuttgart und Bremen, von denen einige ihre Namen geändert hatten, gerieten ins Schussfeld. Seit Gründung waren die Direktoren ethnologischer Museen nicht so häufig interviewt worden und in den Medien präsent wie seit Savoys Austritt aus dem Beratergremium im Sommer 2017. Im Umgang mit den Sammlungen aus kolonialem Kontext wurde ihnen nun eine „koloniale Amnesie“ attestiert, die sich später auch gegen andere Museen mit derartigen Sammlungen richtete, die Naturkunde-, Kunst-, historischen und medizinhistorischen Museen, auch die Universitätssammlungen, die bis dato nicht im Fokus der kritischen Medien gestanden hatten. Doch sind ethnologische Museen und andere Kultureinrichtungen die richtigen Angeklagten in der Debatte um das Erbe des Kolonialismus? „Die deutsche Politik reduziert sie [. . .]auf den Bereich der Kultur“, bemängelt Jürgen Zimmerer. Es gehe „um weit mehr: um postkoloniale Identitäten, die Dekolonisierung der internationalen Ordnung und globale soziale Gerechtigkeit.“ 37 Immerhin wurde im Koalitionsvertrag von SPD, CDU und CSU erstmalig festgehalten: „Ohne Erinnerung keine Zukunft – zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland gehören die Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft und der
35 Ebd. 36 Karlheinz Kohl: „So schnell restituieren die Preußen nicht“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 5. 2018, S. 11, https://www.faz.net/ -gsa-9a7xy (aufgerufen am 29. 3. 2020). 37 Jürgen Zimmerer: Die Politik schweigt – das ist Verdrängung! In: Deutschlandfunk, Politisches Feuilleton, 24. 1. 2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/aufarbeitung-desdeutschen-kolonialismus-die-politik.1005.de.html?dram:article_id=468639 (aufgerufen am 28. 3. 2020).
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SED-Diktatur, der deutschen Kolonialgeschichte, aber auch positive Momente unserer Demokratiegeschichte.“ 38
Ein Satz, der zeigt: „Der Auseinandersetzung um den deutschen Kolonialismus kann sich offenbar auch die Bundespolitik nicht mehr entziehen. Wahlen gewinnt man damit freilich nicht.“ 39
So lässt die Politik weiterhin eine starke nachhaltige Lobby für eine kritische Aufarbeitung des kolonialen Erbes missen. Daran änderte auch die großzügige Finanzierung der Provenienzforschung an ethnologischen Museen bislang nichts.
6. Restitution – tatsächlich nur eine politische Entscheidung? Die Institutionen, die das kulturelle Erbe der Kolonialzeit in ihren Häusern verwalten, betreuen und nutzen, tragen Verantwortung, die sie wahrnehmen müssen. Der gern geäußerte Hinweis von Museumsleitungen, dass sie von der Entscheidung ihrer politischen Träger abhängig seien, klammert die ganz konkreten Möglichkeiten aus, die restitutionswillige Museen auch in der Vergangenheit schon hatten und wahrnahmen. Politiker kennen die Sammlungen nicht. Sie sind auf das Spezialwissen in den Museen angewiesen, auch dann noch, wenn alle Sammlungen und Provenienzdaten erfasst und online zugänglich sind. Kein Ministerium, keine vorgesetzte Behörde und keine Verwaltung verweigern die Durchführung einer Restitution, wenn ein Museum diese gut begründet und ausführlich recherchiert vorlegt. Mehrere unterschiedliche Restitutionsfälle habe ich auf diesem Weg bis zur abschließenden Genehmigung in oberster Instanz bringen können. 40 Nicht immer stießen sie auf die Zustimmung der Kuratoren, denn Restitution heißt Verantwortung übernehmen, sich die Entscheidung nicht
38 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, März 2018, Zeilen 8048 f. 39 Anke Schwarzer: Das verdrängte Verbrechen. Plädoyer für eine Dekolonialisierung der Bundesrepublik. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Juni 2018, https://www.blaetter.de/ausgabe/2018/juni/das-verdraengte-verbrechen (aufgerufen am 26. 3. 2020). 40 Zuvor unüblich, wurde die 2017 genehmigte Restitution nach Alaska mehrfach publiziert, z. B. Moritz Holfelder: Unser Raubgut. Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte. Berlin 2019, S. 85–94; Ilja Labischinski: Past, Present, and Future of the Chugach Collection in the Ethnologisches Museum Berlin. In: Baessler-Archiv 65 (2018/19), S. 135–150.
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Abb. 3: Zwei Masken, eine menschliche Figur und ein Stab wurden mit sechs weiteren Objekten im Ergebnis einer bilateralen Kooperation 2015–2017 vom Ethnologischen Museum an die Chugach Corporation in Alaska restituiert. Sie waren im Jahre 1883 von dem Sammler Adrian Jacobsen aus Bestattungen in Höhlen entwendet worden. © Viola König, Berlin
einfach zu machen. Die Direktorin des Museums „Fünf Kontinente“ in München, Ute Werlich, drückte es so aus: „Aus irgendeinem Grund habe ich unglaubliche Ängste davor, was passiert, wenn ich etwas zurückgebe. [. . .] Sammlungen sind für Museen die wichtigsten Ressourcen. [. . .] Dabei ist das paradox: Es handelt sich ja um Dinge, die mir gar nicht gehören, die ich allenfalls verantwortungsvoll zu verwahren habe. [. . .] Es geht um einen Wandel im Grundverständnis von Museen.“ 41
Es geht nicht nur um Kunstschätze, nicht nur um Rückgaben nach Afrika. Raubgrabungen, Plünderungen sakraler Orte, Aneignen von rituellen Gegenständen unter Anwendung von Druck und Bestechung durch Europäer haben auf allen Kontinenten stattgefunden. Museen und Archive Europas beherbergen Quellen auf Medien wie Bild, Film und Audio. Die darauf gespeicherten Inhalte erschließen sich heute nicht von selbst. Nur in bilateralen Kooperationen von Museen mit Partnern aus den Herkunftsgesellschaften ist es möglich, durch gemeinsames Decodieren altes Wissen wieder zugänglich zu machen. Ulf Erdmann Ziegler resümiert: „Es ist zu verlockend, die Abmachung von Washington als Vorbild zu nehmen und die Ethnologie zu opfern, um Kunstsinnigkeit mit politischer Korrektheit vor den Augen der Welt zu versöhnen. Restituieren auf die Schnelle [. . .]. Reue
41 Ebd.; Holfelder (Anm. 40), S. 118.
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aber ist keine Übung und Wiedergutmachung kein Sport. Erstmal müssen wir lernen, mit der Ethnologie die Kolonialgeschichte zu betrachten. Es sind nämlich die Ethnologen, die sich 100 Jahre darin geschult haben, das Andere zu verstehen. Vielleicht haben wir es nur versäumt, einmal ganz genau hinzusehen.“ 42
Der weitaus größte Teil der Sammlungen aus europäisch-kolonialem Kontext wird nicht zurückgefordert werden. Erfahrungen in den USA zeigen, dass die häufig kontaminierten Objekte weiterhin in den Depots verbleiben, jedoch jederzeit abrufbar und zugänglich für ihre indigenen Eigentümer. 43 Physische und digitale Zugänglichkeit sind aber die Voraussetzung dafür, dass die einstmaligen „Rettungsasylanten“ als Zeugen einer problematischen, bisher monoperspektivisch verfassten Geschichte, konsultiert werden. 44 Diese Geschichte muss endlich neu geschrieben werden, von allen Disziplinen – auch der Kunstgeschichte: „Wir brauchen daher noch eine andere Form der Restitution – eine Restitution von Bedeutsamkeit, die vergessenen oder ignorierten Kunstwerken ihren Platz in der Kunstgeschichte zugesteht. Ein derartiger Prozess mag emotional und ethisch nicht weniger belastend sein. Raum für neue Stimmen und Visionen zu schaffen heißt schließlich, einen geliebten und vertrauten Kanon der Kunst infrage zu stellen.“ 45
42 Ulf Erdmann Ziegler: Über eine Kunst des guten Gewissens in Zeiten der Gier. In: Essay und Diskurs. Bildende Kunst, Deutschlandfunk, 3. 3. 2019, https://www. deutschlandfunk.de/bildende-kunst-ueber-eine-kunst-des-guten-gewissens-in.1184. de.html?dram:article_id=440526 (aufgerufen am 29. 3. 2020). 43 Viola König: Zeigt endlich Alles! Warum nur ein radikales Konzept das Humboldt Forum noch retten kann. In: Die ZEIT, 26. 4. 2018. 44 Ansätze gibt es, z. B. das digitale Publikationsprojekt der Max Weber Stiftung „100 Histories of 100 Worlds in one Object“ mit dem Ziel, „die von MacGregor und seinem Team erarbeiteten Objektbiografien zu hinterfragen und aus der Perspektive des globalen Südens umzuschreiben“, https://www.maxweberstiftung.de/presse/aktuellespresse/einzelansicht-pressemeldungen/detail/News/launch-event-des-publikationsprojekts-100-histories-of-100-worlds-in-one-object.html (aufgerufen am 29. 3. 2020). Vgl. auch den Beitrag von Mirjam Brusius im vorliegenden Band. 45 Julia Pelta Feldman: Restitution ist nicht genug. In: Die ZEIT, 17. 7. 2019, https://www. zeit.de/kultur/kunst/2019-07/kolonialkunst-museen-sammlung-diversitaet-deaccessioning (aufgerufen am 29. 3. 2020).
IV. Rechtsgeschichte und Geschichtskultur
Sheila Heidt
Koloniales Unrecht, Rückgabeforderungen und Provenienzforschung
1. Einleitung Was genau passierte während der Kolonialzeit Deutschlands in Afrika? Wie sind Transfers von Kulturgütern während dieser Zeit zu bewerten? Welche rechtlichen Grundlagen gibt es für die Rückgabe unrechtmäßig erlangter Objekte? Welche Herausforderungen und Probleme sind hiermit verbunden? Welche Rolle spielt dabei die Provenienzforschung? Alle diese Fragen und viele mehr beschäftigen Aktivist*innen, Museen, Ethnolog*innen, Provenienzforscher*innen, Presse und Politik spätestens seit dem Sommer 2017. 1 Dieser Beitrag beschäftigt sich daher mit der Frage danach, in welchem Kontext Translokationen von Objekten während der Kolonialzeit zu sehen sind, und zeigt somit auf, weshalb Rückgabeforderungen, für die die Provenienzforschung eine Grundlage bietet, gestellt werden. Ein kurzer rechtshistorischer Abriss zeichnet zunächst den Verlauf der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika nach. Anschließend werden mögliche rechtliche Grundlagen für Rückgabeforderungen vorgestellt und auf alte und neue politische Entwicklungen wird eingegangen. Wie sich schließlich die Provenienzforschung in die dargestellte Problematik einfügt und worin ihr Potenzial liegt, wird in einem abschließenden Teil kurz diskutiert.
1 Seit dem Austritt Bénédicte Savoys aus dem Expertenbeirat des Humboldt Forums, siehe: Jörg Häntzschel: Bénédicte Savoy über das Humboldt-Forum: „Das HumboldtForum ist wie Tschernobyl“. In: Süddeutsche Zeitung, 20. 7. 2017.
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2. (Rechts-)historische Hintergründe Widmen wir uns zunächst den vordringlichsten Fragen: Warum müssen die während der Kolonialzeit erfolgten Translokationen von Kulturgut von Afrika nach Deutschland in weiten Teilen mindestens als problematisch angesehen werden? Welche historischen Ereignisse und Entwicklungen genau lassen zu einer solchen Einschätzung gelangen? Betrachtet man allein die nachfolgend aufgezeigten gesetzlichen Entwicklungen während der Kolonialzeit Deutschlands in Afrika, werden die während dieser Zeit bestehenden Lebensumstände für die Lokalbevölkerung bereits klar erkennbar. Ausgrenzung, Entrechtung und Gewalt bestimmten den Alltag zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten. Es kam früh zu Aufständen, die mit großer Brutalität niedergeschlagen wurden. In der Konsequenz wurde der Druck von Seiten der Kolonialmacht immer weiter erhöht bis zum Punkt des Genozids von Teilen der Bevölkerung. Den Grundstein aller rechtlichen Festsetzungen in den afrikanischen Kolonien bildete die Aufteilung des afrikanischen Kontinents auf der sogenannten Berliner Konferenz, oder auch Kongo- bzw. WestafrikaKonferenz, durch die Kolonialmächte Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Portugal und Spanien. Die hieraus hervorgegangene „General-Akte der Berliner Konferenz“ 2, die am 8. April 1885 im Deutschen Reich ratifiziert wurde, setzte in ihrem Artikel 34 fest, dass die Neubesetzung von Küstengebieten des afrikanischen Kontinents den übrigen Kolonialmächten stets anzuzeigen ist, „um dieselben in den Stand zu setzen, gegebenenfalls ihre Reklamationen geltend zu machen“. Nach Artikel 35 sollten die Kolonialmächte ihre Besetzung zudem aktiv durch das „Vorhandensein einer Obrigkeit“ ausüben. In der Folge kam es zu dem gemeinhin als „Wettlauf um Afrika“ bekannten „Run“ der Kolonialmächte auf unbesetzte Gebiete. Denn nur wer als Erster seine Gebietsansprüche vor Ort geltend gemacht hatte, kam zum Zuge. Bis 1914 war Afrika, mit Ausnahme von Äthiopien und Liberia, so vollständig unter die Herrschaft europäischer Mächte gestellt worden. 3 Deutschland sicherte sich ab 1884 die Kolonien Deutsch-Südwestafrika (heutiges Namibia), Kamerun, Togo und Deutsch-Ostafrika (heutiges Tansania, Burundi und Ruanda). Die formelle Besetzung der Gebiete wurde
2 General-Akte der Berliner Konferenz. In: Reichsamt des Innern (Hrsg.): Reichs-Gesetzblatt (künftig: RGBl.) 1885, S. 215–246. 3 Albert A. Boahen: Africa and the Colonial Challenge. In: Ders. (Hrsg.): Africa Under Colonial Domination 1880–1935 (UNESCO: International Scientific Committee for the Drafting of a General History of Africa, General History of Africa, Bd. 7). London 1985, S. 1–18, hier S. 1.
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vor allem mittels „Verträgen“ in Gang gesetzt, die entweder als Handelsoder als politische Verträge ausgestaltet waren. Vor allem Letztere waren dabei so ausgestaltet, dass sie der jeweiligen europäischen Macht die vollumfängliche Herrschaft über das in Frage stehende Land gaben. 4 Diese als „Schutzverträge“ bezeichneten Vereinbarungen können aus diesem Grund weder nach heutigen Standards noch nach denjenigen, die während der Kolonialzeit angenommen wurden, als rechtmäßig angesehen werden. 5 Sie erfolgten mindestens unter Ausbeutung der Unerfahrenheit der Lokalbevölkerung in Bezug auf das deutsche Rechtssystem und die Bedeutung des Abschlusses von Verträgen nach diesem. Aus diesem Grunde bestand auch zeitgenössisch Zweifel daran, dass die damaligen „Schutzverträge“ moralisch seien, und kritische Stimmen äußerten, dass sie wohl auch juristisch als sittenwidrig und damit nichtig einzustufen waren. 6 Denn das Deutsche Reich ließ sich Vermögensvorteile gewähren, die den Wert der Gegenleistung in einem solchen Maße überstiegen, dass ein auffälliges Missverhältnis bestand, 7 wurde doch der europäischen Macht eine umfassende Kontrolle über das jeweilige Gebiet im Austausch für „Schutz“ gegeben. In den meisten Fällen ist davon auszugehen, dass das Gegenüber nicht über die Konsequenzen der Unterzeichnung eines solchen Vertrags oder gar dessen vollständigen Inhalt aufgeklärt wurde. Als exemplarisch für eine solche Vereinbarung kann der am 4. Dezember 1884 zwischen dem Sultan Muinin Sagara und Carl Peters als Vertreter der Gesellschaft für deutsche Kolonisation geschlossene Vertrag über das Gebiet Usagara, heutiges Tansania, angesehen werden. 8 Er wurde euphemistisch als „ewige[r] Freundschaftsvertrag“ bezeichnet. Dem Sultan wurden nicht näher definierte Geschenke zugesprochen. Im Austausch für den „Schutz“ der Gesellschaft trat der Sultan das exklusive Recht zur Kolonisierung ab. 9 Ebenfalls wurden das Recht zum Abbau von Bodenschätzen und
4 Vgl. G. N. Uzoigwe: European Partition and Conquest of Africa. An Overview. Ebd., S. 19–44, hier S. 31. 5 Gustav Noske: Kolonialpolitik und Sozialdemokratie. Stuttgart. 1914, S. 16, bezeichnet die benannten Schutzverträge als „höchst anfechtbar“. 6 Ebd.; die Anfechtbarkeit wegen „Sittenwidrigkeit“ nimmt Bezug auf: § 138 Bürgerliches Gesetzbuch i.d.F.d. Bekanntmachung v. 24. 8. 1896 (künftig: BGB). In: RGBl. 1896, S. 195–603. Der Wortlaut des heute geltenden § 138 BGB entspricht diesem. 7 § 138 BGB (Anm. 6). Noske (Anm. 5), S. 17, bezeichnete den Kameruner Schutzvertrag v. 11. 7. 1884 entsprechend als „schändlichen Handel“. 8 In: J. Wagner: Deutsch-Ostafrika. Geschichte der Gesellschaft für deutsche Kolonisation, der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft und der Deutsch-Ostafrikanischen Plantagengesellschaft nach den maßgebenden Quellen. Berlin 2. vermehrte Aufl. 1888, S. 57 f. 9 Formuliert wurde dies als „alleinige[s] und ausschließliche[s] Recht, Kolonisten nach ganz Usagara zu bringen“, ebd., S. 57.
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sonstigen Ressourcen, das Recht zur Erhebung von Zöllen und Steuern sowie zur Einrichtung eines Rechtssystems, einer Verwaltung und eines Militärs übertragen. 10 Die offizielle Schutzzusage und somit die Einverleibung des „ostafrikanischen Schutzgebiets“ erfolgte am 27. Februar 1888 per Schutzbrief des Deutschen Kaisers. 11 Das Deutsche Reich regierte in seinen Kolonien, indem es vor allem unterschiedliche Regelungen für Kolonisierte und Kolonisierer einführte. Ab 1888 wurde gesetzlich festgehalten, dass „Eingeborene“ nicht der Gerichtsbarkeit des Deutschen Reichs unterliegen sollten. 12 Dies bedeutete vor allem, dass der Lokalbevölkerung der kolonisierten Gebiete nicht die gleichen Rechte wie Angehörigen des Deutschen Reichs zugesprochen wurden. Von Seiten des Gesetzgebers wurde also direkt von Anfang an eine Trennung zwischen „Deutschen“ und „Nichtdeutschen“ vorgenommen, was sich in der Praxis z. B. auch darin äußerte, dass die Lokalbevölkerung ihre Interessen nicht vor Gerichten des Deutschen Reichs geltend machen konnte. Der durch die Kolonialherren ausgeübten Gewalt oder Eingriffen in ihr Eigentum stand sie also insofern machtlos gegenüber, als es keine von der Kolonialmacht anerkannte Judikative gab, bei der sie die ihr widerfahrenen Schäden oder Verletzungen hätte geltend machen können. Eine richterliche Überprüfung wurde der kolonisierten Bevölkerung wie selbstverständlich somit insgesamt vorenthalten. Zugelassen wurde lediglich eine gesetzliche Regelung für zwischen lokalen Personen bestehende Konflikte. Für Kamerun wurde 1890 das erste „Eingeborenen-Schiedsgericht“ für Zivilsachen bei den Dualla eingerichtet. 13 Die 1892 erneuerte Fassung der einschlägigen Verordnung legte fest, dass „Streitigkeiten zwischen Ein-
10 Ebd., S. 57 f. 11 Kaiserlicher Schutzbrief für die Gesellschaft für deutsche Kolonisation, 27. 2. 1885. In: Riebow (Hrsg.): Die deutsche Kolonial-Gesetzgebung. Sammlung der auf die deutschen Schutzgebiete bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Erlasse und internationalen Vereinbarungen, mit Anmerkungen und Sachregister. Auf Grund amtlicher Quellen und zum dienstlichen Gebrauch. Berlin 1893, S. 323. 12 § 2 der Verordnung (künftig: VO) betreffend die Rechtsverhältnisse in den Schutzgebieten von Kamerun und Togo. In: RGBl. 1888, S. 211–215, hier S. 211; § 1 Nr. 1 d. Dienstanweisung, betreffend die Ausübung der Gerichtsbarkeit in den Schutzgebieten von Kamerun und Togo, 1888. In: Riebow (Anm. 11), S. 186–198, hier S. 186; § 1 der VO betreffend die Rechtsverhältnisse in dem südwestafrikanischen Schutzgebiete, 1890. In: RGBl. 1890, S. 171–174, hier S. 171; § 1 Nr. 1 der Dienstanweisung betreffend die Ausübung der Gerichtsbarkeit in dem südwestafrikanischen Schutzgebiet, 1890. In: Riebow (Anm. 11), S. 287–298, hier S. 287; § 2 der VO betreffend die Rechtsverhältnisse in Deutsch-Ostafrika, 1891. In: RGBl. 1891, S. 1–5, hier S. 1; § 1 Nr. 1 der Dienstanweisung betreffend die Ausübung der Gerichtsbarkeit in Deutsch-Ostafrika, 1891. In: Riebow (Anm. 11), S. 368–379, hier S. 368. 13 VO wegen Abänderung der VO betreffend die Einführung eines EingeborenenSchiedsgerichts für den Duallastamm, 1892, ebd., S. 251 f.
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geborenen des Duallastammes [. . .] durch den eingeborenen Häuptling des Beklagten zu erledigen“ 14 seien, wobei für „die Rechtsprechung [. . .] die an Ort und Stelle in Übung stehenden Gebräuche und Gewohnheiten“ 15 zu beachten seien. Entsprechende Regelungen wurden zwischen 1893 und 1897 für weitere deutsche Kolonialgebiete erlassen. 16 Sukzessive entwickelte sich so ein Sonderrecht für „Eingeborene“, wobei 1891 jedoch für Deutsch-Ostafrika eine andere Form der Regelung erfolgte, die stärker auf formale Verrechtlichung abstellte. Die Zuständigkeit in Rechtsangelegenheiten für „Farbige“ wurde dem jeweiligen Bezirkshauptmann übertragen. 17 Für die Entscheidungsfindung sollten dabei „die unter gebildeten Völkern geltenden Rechtsgrundsätze, der gesunde Menschenverstand und die landesüblichen Gewohnheiten und Überlieferungen maßgebend“ sein. 18
1896 wurde die Zuständigkeit für die „Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen“ dann insgesamt dem Reichskanzler übertragen. 19 Dieser erließ als erstes eine Verfügung, nach der für „Eingeborene“ zur „Herbeiführung von Geständnissen und Aussagen“ ausschließlich „die in den deutschen Prozeßordnungen zugelassenen Maßnahmen“ genutzt werden durften und die „Verhängung von außerordentlichen Strafen“ verboten wurde. 20 Diese Anordnungen wurden in der Folge in den einzelnen Schutzgebieten wiederholt. 21
14 § 1, ebd., S. 251. 15 § 3, ebd. 16 Vgl. VOen des Kaiserlichen Gouverneurs von Kamerun über die Einführung von Eingeborenen-Schiedsgerichten für folgende Bereiche: Viktoriabezirk, 1893; MangambaStamm, 1894; Dörfer am mittleren Wuri, 1895; Landschaft Bodiman, 1895; Anwohner des Sannaga, 1895; Landschaft Dibombari, 1896; Landschaft Ndokama, 1896; Landschaft Dibamba, 1896; Bakoko-Niederlassungen am unteren Abo, 1896; linkes AboUfer, 1896; Lungasi-Region, 1897. In: Die Deutsche Kolonial-Gesetzgebung. Sammlung der auf die deutschen Schutzgebiete bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Erlasse und internationalen Vereinbarungen, mit Anmerkungen und Sachregister, Bd. 2, hrsg. v. Alfred Zimmermann. Berlin 1898, S. 63 f., 130 f., 177 f., 178 f., 182 f., 218 f., 230 f., 247 f., 262 f., 369 f. 17 Auszug aus der VO des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika betreffend die Gerichtsbarkeit und die Polizeibefugnisse der Bezirkshauptleute, 1891. In: Dass., Bd. 6, hrsg. v. Ernst Schmidt-Dargitz / Otto M. Köbner. Berlin 1903, S. 33 f. 18 Artikel I, Abs. 7 ebd., S. 34. 19 Allerhöchste VO betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den afrikanischen Schutzgebieten, 1896. In: Zimmermann (Anm. 16), S. 213. 20 Verfügung des Reichskanzlers betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den afrikanischen Schutzgebieten, 1896, ebd., S. 213 f. 21 Gouvernementsbefehl betreffend das Gerichtsverfahren gegen Eingeborene in Deutsch-Ostafrika, ebd., S. 215.
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Grund für diese explizite gesetzliche Regelung waren die im selben Jahr im Reichstag diskutierten Vergehen leitender Kolonialbeamter. So war beispielsweise bekannt geworden, dass der Assessor Wehlau in Kamerun „Geständnisse erzwungen habe durch Anwendung der grausamsten Peitschenstrafe und durch unmenschliche Mißhandlungen, daß [. . .] er Gefangene seinen Soldaten zur Hinrichtung übergeben habe, wissend, daß diese Hinrichtung in denkbar grausamster Weise vor sich gehen würde“. 22
Wehlau wurde in der Folge versetzt und zu einer Geldstrafe von 500 Mark verurteilt. 23 Die Zuständigkeit in Straf- und Disziplinarsachen wurde in Ostafrika, Kamerun und Togo anschließend ebenfalls explizit geregelt und auf den jeweiligen Gouverneur übertragen. 24 Es konnten nun offiziell Strafen gegen die lokale Bevölkerung verhängt werden, wobei insbesondere körperliche Züchtigung erlaubt war. 25 Diese wurden jedoch nachträglich für „Eingeborene besseren Standes“ ausgeschlossen. 26 Der Einsatz „körperlicher Züchtigung“ nahm bis 1900 ein so erhebliches Maß an, dass sich die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts zu einem Erlass genötigt sah, in dem dazu ermahnt wurde, darauf zu achten, „auf körperliche Züchtigung [. . .] nur in solchen Fällen [. . .] [zu erkennen], in welchen die Schwere der Vergehung ein solches Vorgehen rechtfertigt.“ 27 Als Begründung für diesen Erlass wurde angegeben, dass sich aus „den letzten Jahresberichten aus den afrikanischen Schutzgebieten [. . .] [ergeben hat], daß die Zahl der gegen Eingeborene erkannten Strafurtheile in den einzelnen Schutzgebieten in einem bedauerlichen Mißverhältnis zu der Anzahl der der Deutschen Herrschaft überhaupt thatsächlich unterworfenen Personen steht. Insbesondere ist in fast allen der bezeichneten Schutzgebiete auf die Strafe der körperlichen Züchtigung in einer so überaus großen Anzahl von Fällen erkannt worden, daß zu befürchten steht, der Reichstag und die öffentliche Meinung werden hieraus ungünstige Schlüsse auf die Erfolge der Deutschen Kulturarbeit in unseren Kolonien ziehen.“ 28
22 Noske (Anm. 5), S. 86 f. 23 Ebd., S. 87. 24 § 1 Satz 1 der Verfügung des Reichskanzlers wegen Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten von Ostafrika, Kamerun und Togo, 1896. In: Zimmermann (Anm. 16), S. 215– 218, hier S. 215. 25 § 2, ebd., S. 216. 26 Änderung der VO betreffend die Strafgerichtsbarkeit der Eingeborenen in Südwestafrika, 1896, ebd., S. 294 f. 27 Runderlass der Kolonial-Abteilung betreffend die Strafurteile gegen Eingeborene, 1900. In: Die Deutsche Kolonial-Gesetzgebung. Sammlung der auf die deutschen Schutzgebiete bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Erlasse und internationalen Vereinbarungen, Bd. 5, hrsg. v. Alfred Zimmermann. Berlin 1901, S. 15. 28 Ebd.
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Die Anweisungen blieben jedoch ungehört, so dass es 1906 für erforderlich erachtet wurde, gesetzlich festzuhalten, wie genau die „körperliche Züchtigung“ erfolgen darf. 29 Explizit wurde verboten, „die Dauer der Züchtigung dadurch hinzuziehen, daß zwischen den einzelnen Schlägen künstliche Pausen gemacht werden“, und es wurde die Verpflichtung ausgesprochen, dass der „Vollzug der Züchtigung [. . .] stets zu unterbrechen [ist], sobald sich Blut zeigt“ 30. Bis 1907 hatte sich an den Zuständen immer noch kaum etwas geändert, so dass ein weiteres Mal auf die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen hingewiesen wurde. 31 In Kamerun wurde 1909 die Prügelstrafe auch für „Häuptlinge“ erlaubt, allerdings sollten sie, entgegen vorheriger Praxis, vorher ihres Amts enthoben werden. 32 Jenseits der Gerichtsbarkeit wurde ebenfalls Anlass für das Aufstellen von Verhaltensregeln gegenüber den „Eingeborenen“ gesehen: So kam es bis 1895 in einem solchen Maß zu Übergriffen von deutschen Teilnehmern von Karawanen auf die lokale Bevölkerung, dass sich der Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, Dr. v. Wissmann, dazu veranlasst sah, per Befehl zu verfügen, diese zu unterbinden bzw. zu verfolgen. 33 Bis 1907 hatten sich zudem Fälle von Übergriffen auf minderjährige Angestellte aus der Lokalbevölkerung so gehäuft, dass von offizieller Seite ein Verbot der „Aufnahme unerwachsener weiblicher Eingeborener, sei es als Dienerinnen, sei es in irgendwelcher anderen Eigenschaft in den Hausstand unverheirateter europäischer Beamter oder sonstiger Gouvernementsangestellter“ 34
ausgesprochen wurde. Als weiteres Instrument zur Beherrschung der Lokalbevölkerung kam es zur Institutionalisierung von Zwangsarbeit, die
29 Verfügung des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika betreffend die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit gegen Eingeborene, 1906. In: Die deutsche Kolonial-Gesetzgebung. Sammlung der auf die deutschen Schutzgebiete bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Erlasse und internationalen Vereinbarungen mit Anmerkungen und Sachregister, Bd. 10, hrsg. v. Otto M. Köbner / Johannes Gerstmeyer. Berlin 1907, S. 274 f. 30 Vgl. §§ 5, 6 dieser Verfügung, ebd., S. 274. 31 Erlass des Staatssekretärs des Reichs-Kolonialamts an die Gouverneure der afrikanischen Schutzgebiete zur Verfügung betreffend die Anwendung körperlicher Züchtigung als Strafmittel, 1907. In: Die deutsche Kolonial-Gesetzgebung. Sammlung der auf die deutschen Schutzgebiete bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Erlasse und internationalen Vereinbarungen mit Anmerkungen und Sachregister, Bd. 11, hrsg. v. Otto M. Köbner / Johannes Gerstmeyer. Berlin 1908, S. 323 f. 32 Runderlass des Gouverneurs von Kamerun, betreffend Verhängung der Prügelstrafe gegen Häuptlinge, 1909. In: Dass., Bd. 13, hrsg. v. Otto M. Köbner / Johannes Gerstmeyer. Berlin 1910, S. 498. 33 Gouvernementsbefehl betreffend das Verhalten der Karawanen in Deutsch-Ostafrika, 1895. In: Zimmermann (Anm. 16), S. 185. 34 Runderlass des Auswärtigen Amts, Kolonial-Abteilung, betreffend Verbot des Haltens unerwachsener weiblicher Eingeborener als Dienerinnen seitens der Gouvernementsangestellten, 1907. In: Köbner / Gerstmeyer (Anm. 31), S. 57 f., hier S. 58.
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durch einen weiteren juristischen Kniff initiiert wurde: Um die Verpflegung des deutschen Personals mit zu finanzieren, wurde zunächst eine „Naturalabgabe“ erhoben. Sie sollte „als eine Art von Schutzgeld“ erhoben werden. 35 1897 kam es dann erstmals zur Erhebung einer „Häuserund Hüttensteuer“, die grundsätzlich geldlich zu zahlen war, aber auch in Arbeitsleistung beglichen werden konnte. 36 Diese alternative Möglichkeit war sehr bewusst gewählt, denn es war beabsichtigt, „die farbige Bevölkerung zur Arbeit zu erziehen.“ 37 Dass es der lokalen Bevölkerung nicht gelingen würde, koloniales Geld zu verdienen und die Steuer auf diese Weise zu begleichen, war hierbei einkalkuliert. Für die Ableistung der Arbeitsleistung kamen folgende Tätigkeiten in Frage: „Arbeitsleistungen auf der Militärstation, Trägerdienst für Dienstlasten, zum Häuser-, Hütten- und Wegebau [. . .] Dienste bei Expeditionen [. . .] Bauausführungen, Neubau“. 38
Es kam jedoch schnell zu einem Missbrauch der Steuereintreibung durch die Erhebung einer Kopf- statt Hüttensteuer sowie der Nichtbeachtung aktueller Umstände, z. B. Hungersnöte etc. 39 Gustav Noske, damaliges Reichstagsmitglied der SPD, gab 1914 in seiner Veröffentlichung „Kolonialpolitik und Sozialdemokratie“ hierzu an: „In den drei Kolonien Ostafrika, Kamerun und Togo besteht noch Sklaverei. Weiße dürfen allerdings nicht Menschen kaufen und verkaufen. Wohl aber sind bis in die neueste Zeit hinein die Eingeborenen von weißen Herrenmenschen, denen die moderne Lohnsklaverei nicht genügt, wie eine Sache behandelt worden.“ 40
Mit der „modernen Lohnsklaverei“ meinte Noske unter anderem die Existenz von Arbeitsverhältnissen, in denen „erst zwei Wochen nach Eintreffen der Arbeiter [. . .] schriftliche Verträge“ geschlossen wurden, und „daß 35 Runderlass des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika betreffend Erhebung einer Naturalabgabe, 1893. In: Zimmermann (Anm. 16), S. 53. 36 § 11 d der VO betreffend die Erhebung einer Häuser- und Hüttensteuer in DeutschOstafrika, 1897, ebd., S. 368 f., hier S. 369. 37 Runderlass des Kaiserlichen Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika an sämtliche Innenstationen betr. die Hüttensteuer, 1899. In: Die Deutsche Kolonial-Gesetzgebung. Sammlung der auf die deutschen Schutzgebiete bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Erlasse und internationalen Vereinbarungen, mit Anmerkungen, Sachregister und einem chronologischen Verzeichnis, Bd. 4, hrsg. v. Alfred Zimmermann. Berlin 1900, S. 94. 38 Punkt 3 b) – d) des Runderlasses des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika betreffend Verrechnung der Häuser- und Hüttensteuer in den Militärbezirken, 1901. In: Schmidt-Dargitz / Köbner (Anm. 17), S. 352 f., hier S. 353. 39 Runderlass des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika betreffend die Erhebung der Häuser- und Hüttensteuer, 1901, ebd., S. 402 f., hier S. 403. 40 Noske (Anm. 5), S. 174.
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dann, wenn die Verträge nicht innegehalten werden, [. . .] Prügelstrafe“ als Disziplinarstrafe angewandt wurde, also ohne dass dies von Seiten eines Gerichts angeordnet wurde. 41 Die Freizügigkeit der „Arbeiter“ wurde gesetzlich beschränkt und sie wurden gezwungen „für den ausgezahlten Lohn ihre Lebensbedürfnisse bei dem Arbeitgeber zu decken, der dann nicht nur an der Arbeit des Eingebornen verdient, sondern den Lohn als Profit beim Verkauf der Waren wieder in die Tasche stecken kann.“ 42
Der „Arbeiter“ konnte sich aus seiner Situation schließlich auch nicht ohne Weiteres befreien, denn er konnte „erst dann entlassen werden, wenn der Unternehmer seine Verpflichtungen gröblich vernachlässigt, und [. . .] wenn grobe Mißhandlungen ihm gegenüber verübt worden sind“, wobei „eine kleine Tracht Prügel [. . .] als Grund zur Lösung des Arbeitsverhältnisses nicht angesehen werden“ konnte. 43
Die Erhebung von Kopfsteuern wurde später gesetzlich erlaubt. 44 Sie wurde schließlich auch für Plantagenarbeiter erhoben. 45 Für Kamerun kam es später zu einer Umbenennung der Kopfsteuer in Wohnungssteuer, die, anders als die Kopfsteuer, nicht ersatzweise in Naturalien, wiederum aber in Arbeitsleistung beglichen werden konnte. 46 Togo erhielt eine ähnliche Regelung, Naturalleistungen waren hier jedoch zulässig. 47 Die zwangsweise Heranziehung der Lokalbevölkerung zu Arbeiten erfolgte auch auf andere Weise. 1905 wurde beispielsweise gesetzlich festgelegt, dass „Eingeborene“ unentgeltlich „öffentliche Arbeiten“, z. B. Stra-
41 Deutscher Reichstag: Zweite Beratung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend die Feststellung des Haushaltsetats für die Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1910. Berlin 1910, Punkte (B) und (C), S. 954. 42 Punkt (D), ebd. 43 Punkt (A), ebd., S. 955. 44 Vgl. VO des Gouverneurs von Kamerun betreffend Erhebung einer Kopfsteuer im Verwaltungsbezirk Duala, 1903. In: Die Deutsche Kolonial-Gesetzgebung. Sammlung der auf die deutschen Schutzgebiete bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Erlasse und internationalen Vereinbarungen, mit Anmerkungen, Sachregister, Bd. 7, hrsg. v. Ernst Schmidt-Dargitz / Otto M. Köbner. Berlin 1904, S. 113 f. 45 § 15 der VO des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika betreffend Erhebung einer Häuser- und Hüttensteuer, 1905. In: Dass., Bd. 9, hrsg. v. Ernst Schmidt-Dargitz / Otto M. Köbner. Berlin 1906, S. 93–96, hier S. 94. 46 Vgl. §§ 9, 11 der VO des Gouverneurs von Kamerun betreffend die Erhebung einer Wohnungssteuer im Schutzgebiet Kamerun, 1907. In: Köbner / Gerstmeyer (Anm. 31), S. 223–225, hier S. 224 f. 47 § 2 der VO des Gouverneurs von Togo betreffend die Heranziehung der Eingeborenen zu Steuerleistungen, 1907, ebd., S. 375 f., hier S. 375.
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ßenbau und -reinigung, zu verrichten hatten. 48 Verpflegung wurde nicht gestellt, die Ableistung der Arbeit konnte bei Verweigerung zwangsweise durchgesetzt werden. 49 Die Heranziehung zu Arbeiten sollte dabei vor allem als Ausgleich für „nicht beitreibbare[n] Hüttensteuerleistungen“ dienen. Wer keine Steuerschulden hatte, war von den Arbeitsleistungen befreit. 50 Die institutionalisierte Zwangsarbeit hatte ökonomische und aufenthaltsrechtliche Folgen. Die Verpflichtung zur Arbeitsleistung erlaubte der Kolonialmacht, die Freizügigkeit der „Eingeborenen“ einzuschränken. Das Deutsche Reich ging dabei so weit, 1889 „Reservate“ in Deutsch-Südwestafrika zu errichten. 51 Eine freie Bewegung oder die freie Wahl des Wohnsitzes war für die Lokalbevölkerung nun nicht mehr möglich. 1907 wurden weitergreifende Regelungen getroffen, die die „Eingeborenen“ zu kontrollieren suchten. Ihre Rechte zum Erwerb von Grundstücken wurden eingeschränkt, die Zahl von Personen, die sich an einer Stelle ansiedeln durften, wurde festgelegt, Siedlungsorte bestimmt, Ausgangssperren verhängt. 52 Es wurde eine Passpflicht eingeführt und geregelt, dass eine Passmarke sichtbar zu tragen und jedem Weißen auf Verlangen vorzuzeigen sei. 53 Erfolgte dies nicht, konnte der „Eingeborene“ von jedem Weißen an die Behörden zwecks Bestrafung übergeben werden. 54 Die Lokalbevölkerung wurde schließlich gezwungen, jegliche Rechtsgeschäfte (z. B. Kauf, Tausch, Schenkung) durch die Kolonialverwaltung beurkunden zu lassen. 55 Nachlässe waren, auch wenn keine Angehörigen vorhanden waren,
48 § 1 der VO des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika betreffend Heranziehung der Eingeborenen zu öffentlichen Arbeiten, 1905. In: Schmidt-Dargitz / Köbner (Anm. 45), S. 106–108, hier S. 106. 49 §§ 7, 9, ebd., S. 107 f. 50 §§ 3, 6, ebd.; Instruktion zur Ausführung der VO betreffend die Heranziehung der Eingeborenen zu öffentlichen Arbeiten, 1905. In: Schmidt-Dargitz / Köbner (Anm. 45), S. 108 f. 51 Allerhöchste VO betreffend die Schaffung von Eingeborenen-Reservaten in dem südwestafrikanischen Schutzgebiete, 1898. In: Zimmermann (Anm. 16), S. 26. 52 §§ 1, 7–8 der VO des Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika betreffend Maßregeln zur Kontrolle der Eingeborenen, 1907. In: Die deutsche Kolonial-Gesetzgebung. Sammlung der auf die deutschen Schutzgebiete bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Erlasse und internationalen Vereinbarungen mit Anmerkungen und Sachregister, Bd. 11, hrsg. v. Otto M. Köbner / Johannes Gerstmeyer. Berlin 1908, S. 345–347, hier S. 346. 53 §§ 2, 10 der VO d. Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika betreffend die Passpflicht der Eingeborenen, 1907, ebd., S. 347–350, hier S. 348. 54 § 16, ebd., S. 349. 55 § 2 des Runderlasses des Gouverneurs betreffend die Errichtung von Rechtsgeschäften Farbiger in Deutsch-Ostafrika, 1893. In: Zimmermann (Anm. 16), S. 39–41, hier S. 40.
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zum Zwecke der auferlegten Erbschaftssteuer zu melden. 56 Die Ermittlung der Erben erfolgte dabei nach den Regelungen der kolonisierten Personen. 57 Vor dem Hintergrund dieser Rechtseingriffe und -beschränkungen, die Unrecht und Unterdrückung generierten, kam es in den Kolonien bereits nach kurzer Zeit zu Gegenwehr. Um Aufbegehren gegen die genannten Umstände begegnen zu können, wurde 1891 eine „Schutztruppe“ in Deutsch-Ostafrika gebildet, deren erklärte Aufgabe es war, für die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ 58 zu sorgen. 1895 kam sie über separates Gesetz dann auch in Deutsch-Südwestafrika und Kamerun zum Einsatz 59, bevor 1896 übergreifende Regelungen für die Schutztruppen in den deutschen Kolonialgebieten getroffen wurden. 60 In den Jahren 1902/1903 kam es in Deutsch-Ostafrika und Kamerun zu mehreren Einsätzen der Schutztruppen, die nach kurzer Zeit nicht mehr nur als „Unruhen“, sondern als Kriegszeiten klassifiziert wurden. 61 In gleicher Weise wurde hinsichtlich der Aufstände in Deutsch-Südwestafrika 1903/1904 verfahren. 62 Am 11. Juni 1904 wurde offiziell erklärt, dass sich Deutsch-Südwestafrika im „Kriegszustand“ befindet. 63 Es wurde dabei bestimmt, dass „[j]eder kommandierende Offizier [. . .] befugt [ist], farbige Landeseinwohner, die bei verräterischen Handlungen gegen deutsche Truppen auf frischer Tat betroffen werden, z. B. alle Rebellen, die unter den Waffen mit kriegerischer Absicht betroffen werden, ohne vorgängiges, gerichtliches Verfahren nach dem bisherigen Kriegsgebrauch erschießen oder erhängen zu lassen.“ 64
56 § 1 Satz 2 der VO betreffend die Erhebung einer Erbschaftssteuer und die Regelung von Nachlässen Farbiger in Deutsch-Ostafrika, 1893, ebd., S. 46 f., hier S. 47. 57 Präambel, ebd., S. 46. 58 § 1 des Gesetzes betreffend die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika, 1891. In: RGBl. 1891, S. 53–57, hier S. 53. 59 Allerhöchste VO betreffend Verwendung von Schutztruppen in Südwestafrika und Kamerun, 1895. In: Zimmermann (Anm. 16), S. 160 f. 60 Gesetz wegen Abänderung des Gesetzes v. 22. 3. 1891 (RGBl. S. 53) betreffend die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika und des Gesetzes v. 9. 6. 1895 (RGBl. S. 258) betreffend die Kaiserlichen Schutztruppen für Südwestafrika und für Kamerun, 1896, ebd., S. 249–251. 61 Allerhöchste Ordre betreffend Anrechnung eines Kriegsjahres, 1904. In: Die Deutsche Kolonial-Gesetzgebung. Sammlung der auf die deutschen Schutzgebiete bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Erlasse und internationalen Vereinbarungen, mit Anmerkungen, Sachregister, Bd. 8, hrsg. v. Ernst Schmidt-Dargitz / Otto M. Köbner. Berlin 1905, S. 216 f. 62 Allerhöchste Ordre betreffend Anrechnung von Kriegsjahren, 1904, ebd., S. 232. 63 Punkt I des Auszugs aus den Kriegszustands-Bestimmungen und Erlassen des Kommandeurs der Schutztruppen für Deutsch-Südwestafrika, ebd., S. 124–131, hier S. 124. 64 Punkt VII., ebd., S. 125.
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Nach der Schlacht am Waterberg im August 1904 wurden die Herero aufgrund des sogenannten „Vernichtungsbefehls“ v. Trothas vom 2. Oktober 1904 verfolgt. Dieser bestimmte: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen.“ 65
Generalleutnant Lothar v. Trotha ordnete hiermit den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts an. Nach Aufhebung des „Vernichtungsbefehls“ kam es zur Errichtung von „Sammelstellen“ für die überlebenden Herero. Sie wurden offiziell zu Kriegsgefangenen erklärt und während ihrer Inhaftierung zur Arbeit herangezogen. 66 Im Dezember 1905 wurde das Vermögen der am Krieg beteiligten Herero offiziell eingezogen. 67 Die „Kriegsgefangenschaft“ der Hereros wurde am 1. April 1908 aufgehoben. 68 Zwischen 1904 und 1907 starben 7.682 Gefangene. 69 Der Völkermord an den Herero wurde erstmals 2015 offiziell als solcher anerkannt. 70
65 In: Michael Behnen: Quellen zur deutschen Außenpolitik im Zeitalter des Imperialismus, 1890–1911 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, Bd. 26). Darmstadt 1977, S. 291. 66 Bericht des Gouverneurs [Friedrich v.] Lindequist über die kriegsgefangenen Eingeborenen. In: Kolonial-Abteilung des Auswärtigen Amts (Hrsg.): Deutsches Kolonialblatt. Amtsblatt für die Schutzgebiete in Afrika und in der Südsee 17 (1906) Nr. 12, S. 402; vgl. Jürgen Zimmerer: Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid. In: Ders./Joachim Zeller (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen. Berlin 2. Aufl. 2004, S. 45–63, hier S. 56. 67 Kaiserliche VO betreffend die Einziehung von Vermögen Eingeborener im südwestafrikanischen Schutzgebiet, 1905. In: Deutsches Kolonialblatt (Anm. 66) Nr. 1, S. 1 f. 68 Auszug aus den Verfügungen des Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika betreffend Aufhebung der Kriegsgefangenschaft der Hereros, 18.1. und 26. 3. 1908. In: Die deutsche Kolonial-Gesetzgebung. Sammlung der auf die deutschen Schutzgebiete bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Erlasse und internationalen Vereinbarungen mit Anmerkungen und Sachregister, Bd. 12, hrsg. v. Otto M. Köbner / Johannes Gerstmeyer. Berlin 1909, S. 38. 69 Zimmerer (Anm. 66), S. 58. 70 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 18/8859: Sachstand der Verhandlungen zum Versöhnungsprozess mit Namibia und zur Aufarbeitung des Völkermordes an den Herero und Nama, 11. 7. 2016, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/091/1809152. pdf (aufgerufen am 14. 10. 2019), S. 2. Eine frühere Anerkennung des Genozids behauptet Silke Seybold: Die Darstellung Afrikas im Museum. Historische Einblicke am Beispiel Bremens. In: Elisabeth Dulko u. a. (Hrsg.): Afrikabilder. Dokumentation einer Tagungsreihe zum Afrika-Diskurs in den Medien und zum Alltagsrassismus in Deutschland. Bremen 2013, S. 14–16, hier S. 15.
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Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurden dem Deutschen Reich im Rahmen des Versailler Vertrags vom 16. Juli 1919 71 seine Kolonien entzogen. Es verzichtete „zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle seine Rechte und Ansprüche bezüglich seiner überseeischen Besitzungen.“ 72 Die deutschen Kolonien wurden sodann mandatierten Staaten anvertraut und es wurde festgelegt, auf welche Weise die Übernahme erfolgen sollte. 73 Deutsch-Ostafrika wurde zwischen Belgien (Burundi und Ruanda), Großbritannien (Tanganjika) und Portugal (Mosambik) aufgeteilt. 74 Deutsch-Südwestafrika wurde fortan von der Südafrikanischen Union verwaltet. 75 Großbritannien und Frankreich teilten Kamerun unter sich auf. Gleiches erfolgte bezüglich Togos. 76
3. Rückgaben: Rechtliche Grundlagen und Herausforderungen Der wiedergegebene rechtshistorische Abriss über die Kolonialherrschaft Deutschlands in Afrika lässt zweifelsfrei erkennen, dass auf die Lokalbevölkerung massiver Druck ausgeübt wurde und gewalttätige Übergriffe zum Alltag gehörten. Die benannten Gesetze und Entwicklungen sind jedoch bei Weitem nicht abschließend dargestellt. Sie ließen sich ohne Weiteres erweitern. Eine systematische Untersuchung der kolonialen Gesetzgebung mit Blick auf die Eskalation der Machtausübung der Kolonialmacht wäre daher ein wichtiger Schritt in Richtung der Auseinandersetzung Deutschlands mit seiner kolonialen Vergangenheit. Vor dem Hintergrund der dargestellten Begebenheiten kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass ein gleichberechtigter und freier Handel mit Kulturgütern während der Kolonialherrschaft in Afrika nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme darstellte. Differenziertere Aussagen zu machen dürfte nach jetzigem Forschungsstand leider kaum möglich sein. Nur in Ausnahmefällen konnten Objektgeschichten bisher lückenlos rekonstruiert werden. Das Paradebeispiel hierfür sind die 1897 aus dem Königreich von Benin entwendeten Bronzearbeiten, deren Raub sogar fotografisch dokumentiert wurde. 77
71 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten (Versailler Vertrag), 1919. In: RGBl. 1919, S. 687–1349. 72 Art. 119, ebd., S. 895. 73 Art. 22, ebd., S. 740 f. 74 Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien. Paderborn 6. Aufl. 2012, S. 192. 75 Ebd., S. 139. 76 Ebd., S. 153. 77 Zwei der bekanntesten Fotografien sind bei Wikimedia Commons unter dem Suchbegriff „Benin 1897“ zu finden und als gemeinfreie Werke nutzbar. Vgl. den Beitrag von Osarhieme Osadolor im vorliegenden Band.
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Über die Ausnahmefälle hinaus kann jedoch lediglich eine Schätzung der Wahrscheinlichkeit eines Besitzwechsels unter gleichen Bedingungen abgegeben werden. Zu deren Durchführung können Faktoren wie die Nähe zu bestimmtem historischen Ereignissen, der Erlass von benachteiligenden Gesetzen oder auch die Beteiligung bestimmter Personen herangezogen werden. Je mehr dieser Faktoren zusammenfallen, desto unwahrscheinlicher erscheint die Weggabe des Kulturguts aus freien Stücken oder im Rahmen einer gleichberechtigten Interaktion. In der Konsequenz wäre bei einem Zusammentreffen bestimmter Faktoren bzw. deren Häufung das Angebot zur Rückgabe des jeweiligen Objekts eigentlich obligatorisch. Ohne die Ereignisse und Umstände der Kolonialzeit wären die betroffenen Objekte nicht nach Europa gelangt. Es besteht hier eine direkte Kausalität, weshalb erhebliche Zweifel an der rechtlichen und ethischen Richtigkeit der Translokationen aus dieser Zeit bestehen. Dies gilt es zu eruieren, da es nicht im Interesse Deutschlands sein kann, während der Kolonialzeit geschaffenes Unrecht weiterhin bestehen zu lassen. Diese logische Denkfolge sollte in einer Zeit selbstverständlich sein, in der ein Bewusstsein für und Anerkennung von historischen Ereignissen bestehen, die zu einem systematischen Unrecht und infolgedessen zu einem systematischen Kunstraub geführt haben. Betroffene (Personen, Bevölkerungsgruppen, Nationen) aus Afrika haben jedoch bis heute keine Möglichkeit, das ihnen verlustig gegangene Kulturgut zurückzufordern und auf diese Weise auch zum einen eine Anerkennung des historischen Unrechts zu erlangen und zum anderen die Aufarbeitung der eigenen Geschichte durchführen zu können. Die Diskussion um Rückgaben von Objekten, die aus anderen Ländern unter fragwürdigen Umständen in Museen gelangten, ist keine Neuheit. Sie wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts geführt. Es kam jedoch zu einer ablehnenden Entscheidung Rückgaben betreffend, da die Ansicht herrschte, dass Objekte, die aus ihrem Ursprung gerissen wurden, sich in diesen nicht mehr einfinden könnten und daher eine Rückgabe nicht sinnvoll erscheine. 78 Hervorgehoben wurde auch, dass außereuropäische Objekte als Botschafter anderer Kulturen anzusehen seien, sie also für diese werben und es daher kontraproduktiv wäre, diesen Zustand zu beenden. 79 Über fünfzig Jahre später kam es zu einem erneuten Diskurs über die Frage von Rückgaben kultureller Objekte aus kolonialen Kontexten. Im Anschluss an die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien wurde das 78 Wilhelm R. Valentiner: Nationales oder internationales Museum? (1919). In: Kristina Kratz-Kessemeier / Andrea Meyer / Bénédicte Savoy (Hrsg.): Museumsgeschichte. Kommentierte Quellentexte, 1750–1950. Berlin 2010, S. 247–251, hier S. 247 f. 79 Ebd., S. 248.
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Thema offiziell auf internationaler Ebene erneut angegangen. Der Generaldirektor der UNESCO, Amadou-Mahtar M’Bow, forderte 1979 in seinem „plea for the return of an irreplaceable cultural heritage to those who created it“ zu Folgendem auf: „I solemnly call upon the governments of the Organization’s Member States to conclude bilateral agreements for the return of cultural property to the countries from which it has been taken; to promote long-term loans, deposits, sales and donations between institutions concerned in order to encourage a fairer international exchange of cultural property [. . .].“ 80
Anfang der 1980er-Jahre wurde zudem festgehalten, welche Erstmaßnahmen anzugehen seien. Primär sollten Inventare erstellt werden, die aufzeigen sollten, welche Objekte sich noch in den Herkunftsländern befinden, welche Objekte sich außerhalb der Herkunftsländer befinden und wie die Infrastruktur der Museen beschaffen ist. 81 Die Forderung nach Inventaren wurde Ende der 1980er-Jahre erneut wiederholt. 82 Es wurde explizit darauf hingewiesen, dass die Inventare auch die im Depot befindlichen Objekte umfassen sollten. 83 Trotzdem initiierten europäische Museen die Inventarisierung ihrer Bestände oder die Rückgabe von Objekten aus kolonialem Kontext nur in sehr geringem Maße. Anfang der 2000er-Jahre waren die UNESCO-Bestrebungen und -Forderungen fast wieder in Vergessenheit geraten. Die Amnesie ging so weit, dass verschiedene internationale Museen die „Erklärung über die Bedeutung und den Wert von Universalmuseen“ (Declaration on the Importance and Value of Universal Museums) 84 unterzeichneten. Kritik an der ablehnenden Haltung bezüglich Rückgaben wurde entgegengehalten, dass es erforderlich sei, die historischen Umstände für die Beurteilung der Besitzwechsel heranzuziehen. Die Heranziehung heute bestehender An-
80 Amadou-Mahtar M’Bow: A Plea for the Return of an Irreplaceable Cultural Heritage to Those Who Created It. In: United Nations Education Scientific and Cultural Organization (UNESCO) (Hrsg): Return and Restitution of Cultural Poperty. In: Museum 31 (1979) H. 1, S. 58. 81 Intergovernmental Committee for Promoting the Return of Cultural Property to its Countries of Origin or its Restitution in Case of Illicit Appropriation. Return and Restitution of Cultural Property – a Brief Resumé (UNESO-Doc CLT/CH/4.82). Paris 1982, S. 4. 82 United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO), General Conference: Report by the Intergovernmental Committee for Promoting the Return of Cultural Property to its Countries of Origin or its Restitution in Case of Illicit Appropriation (UNESCO-Doc. 24 C / 94). Paris 1987, S. 1 der Anlage. 83 Punkt 7 a), ebd., S. 2 der Anlage. 84 Declaration on the Importance and Value of Universal Museums, Dezember 2002. In: ICOM News Magazine 57 (2004) H. 1, S. 4, https://translanth.hypotheses.org/ueber/ universal-museums#Originaltext (aufgerufen am 14. 10. 2019).
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sichten sei nicht sachgerecht. Schließlich wurde deklariert, dass die Dauer des Aufenthalts eines Objekts im Museum es zu einem Teil des kulturellen Erbes der beherbergenden Nationen habe werden lassen. Die Objekte hätten zudem nur aufgrund ihrer musealen Präsentation den heute bestehenden Sonderstatus erhalten. Neben den von den Vertretern der Universalmuseen bereits dargestellten werden zudem gerne folgende Argumente gegen die Durchführung von Rückgaben angeführt 85: Die Objekte seien in den Herkunftsländern nicht umfassend zugänglich. Die Konservierung und die Sicherheit der Objekte seien dort nicht garantiert. Ebenfalls bestehe kein umfassender rechtlicher Schutz für die Objekte. Es sei unklar, wer als eindeutiger Anspruchsberechtigter in Frage komme. Diese immer wieder aufgeworfenen Problemkreise sind jedoch von der Frage der uneingeschränkten Übernahme der Verantwortung für historisches Unrecht durch die Kolonialmächte zu trennen. Und es ist diese Frage, die es primär zu beantworten gilt. Museologische und logistische Probleme im Zusammenhang mit der Rückgabe von Raubkunst befreien hiervon nicht und sind in jedem Fall nachrangig zu behandeln. In allererster Linie ist durch die Museen, ihre Rechtsträger bzw. den Bund zu entscheiden, ob Museen Treuhänder oder Eigentümer der fraglichen Objekte sind. Wer sich als Treuhänder versteht, für den geht es nicht um die Frage des „Ob“ von Rückgaben, sondern nur um das „Wie“. Die Einnahme einer Treuhänderposition ginge einher mit der Anerkennung der Eigentümerstellung eines anderen. Die angeführte Unmöglichkeit der genauen Eigentümerbestimmung als finales Argument dafür, dass nicht zurückgegeben werden kann, ändert hieran nichts. Wer als letzter rechtmäßiger Eigentümer vor der Translokation aus Afrika galt, ist nicht nach westlichem Rechtsverständnis zu beurteilen. Zur Bestimmung derjenigen Person, Personengruppe, Gemeinschaft oder Nation, die zur Geltendmachung eines Anspruchs berechtigt ist, sind die historischen und aktuellen gesetzlichen und gesellschaftlichen Regelungen der ehemaligen Kolonien heranzuziehen. Maßstab darf nicht das westliche Verständnis von Rechtsnachfolge oder Eigentumsrecht sein. Es ist an der in den ehemaligen Kolonien lebenden Bevölkerung, eine Entscheidung darüber zu treffen, wem das Eigentum an dem fraglichen Objekt zusteht. Der in diesem Prozess bestimmte Anspruchsinhaber ist in der Folge uneingeschränkt als Berechtigter anzuerkennen.
85 UNESCO (Anm. 82), S. 3; Viola König: Am rechten Platz? Materielles und immaterielles Kulturerbe aus außereuropäischen Kulturen in europäischen Museen. In: Museumskunde 73 (2008) H. 1, S. 65–73, hier S. 65.
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In jüngster Zeit wurden die benannten angegebenen Befürchtungen im Zusammenhang mit Rückgaben an ehemalige Kolonien ein weiteres Mal hervorgeholt. Die am 5. Juli 2018 in der Großen Anfrage der AfD 86 gestellten Fragen spiegeln diese wider. Mit Blick auf geforderte Änderungen in der Ausrichtung ethnologischer Museen wird zudem vor der Gefahr gewarnt, „dass unter dem Schlagwort ‚Dekolonialisierung der ethnologischen Museen‘ ein Einfallstor für deren ideologische Überformung geschaffen wird, gehen doch in die postkoloniale Theoriebildung vor allem auch marxistische Ansätze ein.“ 87
Auch die Kleine Anfrage der Grünen vom 7. September 2018 88 griff das Streitthema der Rückgabe von Kulturgut an ehemalige Kolonien auf. Konkret wurde auch nach den Plänen der Bundesregierung gefragt, „bestimmte konservatorische Bedingungen in den Herkunftsländern an die Rückgabe von Kulturgütern“ zu knüpfen 89. In ihrer Antwort vom 18. Oktober 2018 90 gab die Bundesregierung hierzu an, dass „[d]ie Entscheidung über eine Rückgabe von Kulturgut aus kolonialen Kontexten und die Ausgestaltung derselben [. . .] bei der jeweiligen Einrichtung, in der sich das Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten befindet, und ihrem Träger“ 91
liege. Für die Durchführung von Rückgaben von Objekten aus kolonialen Kontexten existieren bisher keine allgemein anerkannten Verfahren. Anders als im Bereich der NS-Raubkunst besteht bei Objekten kolonialer Herkunft insbesondere keine auch nur selbst auferlegte, generelle Verpflichtung zur Rückgabe bzw. Findung einer gerechten und fairen Lösung oder zur Verhandlung mit Anspruchsstellern bzw. potenziellen Inhabern von Rückerstattungsansprüchen. Die Entwicklung eines entsprechenden soft laws ist jedoch längst überfällig, denn die theoretisch einschlägigen, in
86 Fraktion der AfD u. a.: Große Anfrage. Aufarbeitung der Provenienzen von Kulturgut aus kolonialem Erbe in Museen und Sammlungen. Berlin 2018. 87 Ebd., S. 1. 88 Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN u. a.: Kleine Anfrage. Kulturpolitische Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit. Berlin 2018. 89 Ebd., S. 5. 90 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Erhard Grundl, Margit Stumpp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drucksache 19/4177: Kulturpolitische Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit, 18. 10. 2018, https://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/19/051/1905130.pdf (aufgerufen am 19. 10. 2019), S. 13. 91 Ebd.
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einer Vielzahl bereits existierenden Regelungen finden keine Anwendung. Die Geschädigten stehen bis heute rechtlos da. Bereits die ersten gesetzlichen Regelungen zum Schutz von Kulturgut beachteten die während der Kolonialzeit erfolgten Translokationen in keiner Weise. Zwar verbietet sowohl die Haager Landkriegsordnung von 1899 92 als auch diejenige von 1907 93 die Plünderung und Beschlagnahmung von Kunst. Sie gilt jedoch nur zwischen den Vertragsparteien, also nicht zwischen der Lokalbevölkerung der Kolonien und den Kolonisatoren. Und dies, obwohl die Einsätze der Schutztruppen offiziell als Kriegszeiten anerkannt wurden. 94 Die gleiche Verfehlung erfolgte auch bei der Entwicklung der Haager Konvention von 1954 95 und deren zweiten Protokolls von 1999. 96 Dieser fehlt zudem eine Rückwirkung, die eine Anwendung auf solche Fälle, die vor der Ratifizierung in den jeweiligen Ländern stattgefunden haben – für Deutschland wäre dies 1967 bzw. 2009 –, ermöglicht hätte. Das Problem einer fehlenden Rückwirkung besteht auch hinsichtlich der UNESCOKonvention von 1970. 97 Von Deutschland gar nicht erst unterzeichnet wurde die UNIDROIT-Konvention von 1995. 98 Der nachgewiesene, ursprüngliche Eigentümer kann zwar nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch 99 einen Herausgabeanspruch geltend machen. Der Anspruch muss jedoch innerhalb von 30 Jahren erhoben werden. Was die deutschen Kolonien angeht, wären alle Ansprüche danach spätestens am 15. Juli 1949 100 verjährt gewesen. Auch freiwillige, nicht bindende Regelungen im Bereich der Restitutionen unrechtmäßig erlangter Kulturgüter in Deutschland kommen nicht in Betracht. Die „Handreichung“ 101 findet ausschließlich Anwen-
92 Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs v. 29. 7. 1899. In: RGBl. 1901, S. 423–454. 93 Dass. v. 18. 10. 1907. In: RGBl. 1910, S. 107–151. 94 Wie Anm. 62, S. 216 f; Anm. 63, S. 232. 95 Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (1954). In: Bundesgesetzblatt (künftig: BGBl.) 1967 II, S. 1235–1315. 96 Zweites Protokoll zur Haager Konvention von 1954 zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (1999). In: BGBl. 2009 II, S. 717–736. 97 Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 14. 11. 1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut. In: BGBl. 2007 II, S. 626–637. 98 International Institute for the Unification of Private Law (UNIDROIT): Convention on Stolen or Illegally Exported Cultural Objects, 24. 6. 1995, https://www.unidroit. org/english/conventions/1995culturalproperty/1995culturalproperty-e.pdf (aufgerufen am 20. 1. 2020). 99 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). In: BGBl. 2002 I, S. 2909; BGBl. 2003 I, S. 783. 100 Also 30 Jahre nach dem Verlust der Kolonien zum 16. 7. 1919. 101 Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) (Hrsg.): Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der
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dung auf Objekte, die zwischen 1933 und 1945 NS-verfolgungsbedingt oder während der sowjetischen Besatzungszeit entzogen wurden. Eine über das „Zwischenstaatliche Komitee zur Förderung der Rückgabe illegal erworbener Kulturgüter in ihre Ursprungsländer“ durchgeführte Mediation 102 bietet zwar eine Alternative auf internationaler Ebene. Das erklärte Ziel dabei ist, „Mittel und Wege zu suchen[,] bilaterale Verhandlungen über Restitutionen oder Rückgaben von Kulturgütern an die Herkunftsländer während ihrer Durchführung zu erleichtern.“ 103
Die Pflicht, den Beweis und die Dokumentation für erhobene Ansprüche zu erbringen, obliegt dabei jedoch der anspruchsstellenden Partei. 104 Der im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy verfasste Bericht 105 macht zwar konkrete Vorschläge zum Umgang mit Objekten aus kolonialen Kontexten bzw. deren Restitution. So wird beispielsweise gefordert, Objekte zu restituieren, die gewaltsam oder unter vermutlich unbilligen Umständen im Rahmen militärischer Maßnahmen, unabhängig davon, ob sie direkt oder über den Kunsthandel in die Museen gelangten, durch Militärpersonal oder Kolonialbeamte, im Rahmen bestimmter Expeditionen vor 1960 erlangt sowie als Leihgabe aus dem Herkunftsland transportiert und nie zurückgegeben wurden. 106 Der Bericht hat jedoch keinerlei Auswirkung auf den Umgang Deutschlands mit solchen Objekten. Deutschland hat nicht verlauten lassen, dass die im Bericht enthaltenen Vorschläge zur Anwendung kommen sollen. Aktuell wird auf politischer Seite statt der konkreten Entwicklung allgemeingültiger Verfahren oder Regelungen ver-
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kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ v. Dezember 1999. Frankfurt a. M. 2019. Rules of Procedure on Mediation and Conciliation in Accordance with Article 4, Paragraph 1, of the Statutes of the Intergovernmental Committee for Promoting the Return of Cultural Property to its Countries of Origin or its Restitution in Case of Illicit Appropriation (UNESCO-Doc CLT-2010/CONF.203/COM.16/7), Oktober 2019, http://unesdoc.unesco.org/images/0019/001925/192534E.pdf (aufgerufen am 20. 2. 2020). Statutes of the Intergovernmental Committee for Promoting the Return of Cultural Property to its Countries of Origin or its Restitution in case of Illicit Appropriation (UNESCO-Doc MISC.2006/CLT/CH/1, CLT/CH/INS-2005/21), 28. 11. 1978, https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000145960 (aufgerufen am 20. 2. 2020), Art. 4, Ziffer 1 (Übersetzung v. d. Vf.). Ebd., Art. 9, Ziffer 1. Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics. Paris (November) 2018, http://restitutionreport2018.com/ sarr_savoy_en.pdf (aufgerufen am 1. 12. 2018). Ebd., S. 61.
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schiedentlich versucht, eine individuelle Lösung für das Problem der fehlenden Grundlage zur Geltendmachung von Rückgabebegehren zu finden. Die seitens der Grünen-Wissenschaftsministerin Theresia Bauer in Baden-Württemberg im Herbst 2018 eingebrachten Vorschläge zur Änderung des Haushaltsrechts zwecks Ermöglichung von Rückgaben von NS-Raubgut und Objekten aus kolonialen Kontexten wurden von dem Koalitionspartner blockiert 107 und schließlich zurückgezogen. 108 In Baden-Württemberg konnte so lediglich eine Einzelfallentscheidung zur Rückgabe zweier Objekte aus dem früheren Besitz von Hendrik Witbooi erreicht werden 109, eine allgemeine Grundlage für zukünftige Fälle gibt es jedoch weiterhin nicht. Auf Bundesebene fragte die Kleine Anfrage der Grünen 110 2018 zwar danach, ob verbindliche rechtliche Regelungen für Rückgaben von Objekten aus kolonialen Kontexten von der Bundesregierung geschaffen würden. 111 Diese antwortete hierauf jedoch: „Die ganz überwiegende Zahl von Kulturgut bewahrenden Einrichtungen steht in Trägerschaft und Zuständigkeit der Länder und Kommunen. Die Voraussetzungen für eine etwaige Rückgabe richten sich für die jeweiligen Einrichtungen nach dem entsprechenden Bundes-, Landes- und Organisationsrecht, insbesondere den Haushaltsordnungen des Bundes, der Länder und der Kommunen.“ 112
Die Provenienzforschung an Objekten aus kolonialen Kontexten wurde unter der neuen Regierung jedoch zum Bundesthema gemacht. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD erklärt nämlich zum Thema Provenienzforschung: „Die Aufarbeitung der Provenienzen von Kulturgut aus kolonialem Erbe in Museen und Sammlungen wollen wir – insbesondere auch über das Deutsche
107 Axel Habermehl: Kolonialismus – Grün-Schwarz streitet um Raubkunst. In: Südwest Presse, 11. 10. 2018; Arnold Rieger: Raubkunst aus Namibia. Rückgabe von geraubter Bibel sorgt für Verstimmung bei Grün-Schwarz. In: Stuttgarter Nachrichten, 23. 10. 2018; Axel Habermehl: Ministerin Bauer zum kolonialen Erbe: „Es ist Zeit für ein Signal“. In: Südwest Presse, 27. 10. 2018. 108 Ders.: Bauer stoppt Plan zur Rückgabe von Raubkunst. Widerstand der CDU war zu stark – Nur Einzelfälle genehmigt. In: Rhein-Neckar-Zeitung, 11. 11. 2018. 109 Susanne Kaufmann: Baden-Württemberg will Restitution vorantreiben. Erste koloniale Güter gehen an Namibia zurück. In: Südwestrundfunk-Kultur Info, 13. 11. 2018, https://www.swr.de/swr2/kunst-und-ausstellung/article-swr-13302.html (aufgerufen am 14. 10. 2019). 110 Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN u. a. (Anm. 88). 111 Frage 43, ebd., S. 7. 112 Antwort der Bundesregierung (Anm. 90), S. 19.
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Zentrum Kulturgutverluste und in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Museumsbund – mit einem eigenen Schwerpunkt fördern.“ 113
Konkrete Ansätze zur Entwicklung einer bundesweiten freiwilligen Verpflichtung im Sinne eines soft laws gibt es bisher also nicht. Zwar wurde im Mai 2018 der „Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ vom Deutschen Museumsbund erstmals veröffentlicht. 114 Nach Angabe der Bundesregierung handelt es sich hierbei jedoch nur um „eine wissenschaftlich unabhängig erarbeitete Hilfestellung des DMB“ 115 und nicht um ein verbindliches Regelwerk für deutsche Museen. Er wurde überarbeitet 116 und steht seitdem „inkl. der [nachträglich eingeholten] internationalen Perspektive“ zur Verfügung. 117 Er beinhaltet, anders als der Bericht von Savoy und Sarr, jedoch keine konkreten Angaben oder Forderungen dazu, wann bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Restitution erfolgen soll. Auch wird, anders als bei der „Handreichung“, keine Orientierungshilfe für die Recherche 118 nach der Herkunft eines Objekts geboten. Das bisher nicht mit kolonialen Kontexten betraute Deutsche Zentrum Kulturgutverluste, kurz DZK, hat zwar eine zum 1. Januar 2019 in Kraft getretene Förderrichtlinie vorgestellt. 119 Sie bezieht sich jedoch ausdrücklich auf den Leitfaden des DMB, 120 geht also nicht über ihn hinaus. Vor allem eine Eingrenzung, wann in zeitlicher Hinsicht von einem Unrechtskontext auszugehen ist, wird, anders als bei der Förderung von Forschung im Bereich NS-verfolgungsbedingter Entzugskontexte, 121 nicht vorgenommen.
113 CDU/CSU/SPD: Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode 2018, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/ 656734/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertragdata.pdf?download=1 (aufgerufen am 1. 4. 2020), S. 169, Z. 8038–8051. 114 Deutscher Museumsbund e. V. (Hrsg.): Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Berlin 2018. 115 Antwort der Bundesregierung (Anm. 90), S. 19. 116 Deutscher Museumsbund e. V. (Hrsg.): Leitfaden Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Berlin 2. Fassung 2019. 117 Antwort der Bundesregierung (Anm. 90), S. 18. 118 Vgl. BKM (Anm. 101), S. 33–42. 119 Deutsches Zentrum Kulturgutverluste: Richtlinie für die Förderung von Projekten zur Provenienzforschung bei Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, Stand 1. 1. 2019, https://www.kulturgutverluste.de/Content/08_Downloads/DE/Projektfoerderung_Koloniale-Kontexte/Foerderrichtlinie_Kulturgueter_koloniale_Kontexte.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (aufgerufen am 19. 3. 2019). 120 Ebd., S. 2. 121 Deutsches Zentrum Kulturgutverluste: Richtlinie für die Förderung der Provenienzforschung (NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut), Stand 22. 1. 2019. https://www.kulturgutverluste.de/Content/08_Downloads/DE/Projektfoerderung
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Ebenfalls vermeidet die Förderrichtlinie die Verwendung des Begriffs des Entzugs. Die Ermittlung von Erben wird zudem gänzlich ausgelassen. An erster Stelle der Förderziele steht die „systematische und nachhaltige Aufarbeitung der Provenienzen“, ohne jedoch eine Zielrichtung vorzunehmen. 122 Potenziell kann so zwar die Erforschung des gesamten Bestands eines Museums gefördert werden, zu einer Priorisierung, z. B. solcher Objekte, die von Militärpersonal in die Museen eingeliefert wurden, wird der Geförderte jedoch nicht angehalten. Die Mitte März 2019 veröffentlichten „Erste[n] Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und der kommunalen Spitzenverbände“ 123
vermieden leider auch jegliche verbindlichen Aussagen. Es ist zwar die Rede vom Willen, „Voraussetzungen [. . .] für Rückführungen von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten, deren Aneignung in rechtlich und / oder ethisch heute nicht mehr vertretbarer Weise erfolgte“, 124
zu schaffen. Ebenfalls wird betont, dass „vielen betroffenen Gesellschaften Kulturgüter [. . .], die für ihre Geschichte und ihre kulturelle Identität“ prägenden Objekte, durch „gewaltsame Aneignung von Kulturgütern im Zuge des europäischen Kolonialismus“ geraubt wurden. 125 Es wird auch erkannt, dass bei „den Kulturgütern [. . .] im Hinblick auf kurz- und mittelfristig durchzuführende Maßnahmen angesichts der hohen Zahl eine Priorisierung notwendig“ ist und „aufgrund ihrer Erwerbungsumstände diejenigen Kulturgüter, die im Rahmen formaler Kolonialherrschaften des Deutschen Reiches aus ihren Gesellschaften entfernt und nach Deutschland verbracht wurden, sowie Kulturgüter aus anderen Kolonialherrschaften, für die Rückgabeersuchen vorliegen“, 126
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/Foerderrichtlinie_NS-Raubgut.pdf?__blob=publicationFile&v=22 (aufgerufen am 19. 3. 2019), S. 1. Wie Anm. 120. Erste Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und der kommunalen Spitzenverbände, Stand 13. 3. 2019, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/973862/1589206/ 3c890df9817f100acf6948d15de63a91/2019-03-13-bkm-anlage-sammlungsgut-data. pdf (aufgerufen am 19. 3. 2019). Ebd., Randnummer 5–8, S. 2. Ebd., Randnummer 12–15, S. 2. Ebd., Randnummer 4–10, S, 5.
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besonders relevant sind. Eine Verpflichtung zur „Rückführung“ wird jedoch nur im Zusammenhang mit menschlichen Überresten auferlegt. 127 Unverbindlich bleibt auch die „Protokollerklärung der Länder Berlin, Hamburg, Thüringen, Brandenburg und Bremen: zu den ‚Ersten Eckpunkten zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten‘“, 128
die unter Punkt 5 erklärt: „Bei Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, dessen Erwerb nach heutiger Kenntnis als unrechtmäßig angesehen werden muss, ist aktiv der Dialog mit den Herkunftsgesellschaften und -staaten zu suchen, um Restitutionen zu ermöglichen, wo sie gewünscht werden.“
Gesetzgeberische Maßnahmen sollen zudem konkret erst nach Durchführung einer „spätestens drei Jahre nach Beschluss der ‚Ersten Eckpunkte‘ durchzuführende Evaluation der bisherigen Restitutionspraxis durch Bund, Länder und Kommunen“ 129 in Angriff genommen werden. Auch die im Mai 2019 herausgegebene „Heidelberger Stellungnahme“ 130 anlässlich der Jahreskonferenz der Direktor / innen der Ethnologischen Museen im deutschsprachigen Raum bleibt unverbindlich. Sie endet zwar mit einem Plädoyer an die Träger der Museen, Mittel zur Verfügung zu stellen, um „Dokumentation, Digitalisierung und Zusammenarbeit mit Urheber / innengesellschaften [. . .] [,] kooperative Provenienzforschung und Klärung von Sammlungsgeschichte [. . .] [,] Partnerschaften mit Institutionen in den Herkunftsgesellschaften [. . .] [sowie] Repatriierung, Restitution und andere Formen einvernehmlicher und respektvoller Einigungen“ 131
zu ermöglichen. Vorschläge, wie diese erfolgen sollen, werden hingegen nicht gemacht.
127 Ebd., Randnummer 4–5, S. 7. 128 Protokollerklärung der Länder Berlin, Hamburg, Thüringen, Brandenburg und Bremen zu den „Ersten Eckpunkten zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“, 13. 3. 2019, https://www.berlin.de/sen/kulteu/aktuelles/pressemitteilungen/2019/protokollerklaerung-zu-ersten-eckpunkten-umgang-mit-sammlungsguetern_20190313.pdf (aufgerufen am 19. 3. 2020). 129 Punkt 6, ebd., S. 2. 130 Dekolonisierung erfordert Dialog, Expertise und Unterstützung (Heidelberger Stellungnahme), 6. 5. 2019, https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/2019/ 05/heidelberger-stellungnahme.pdf (aufgerufen am 20. 5. 2019). 131 Ebd., S. 2.
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4. Provenienzforschung und Rückgaben von Kulturgütern Es ist an der Zeit, dass die ehemaligen Kolonialmächte die Verantwortung für die während der Zeit ihrer Herrschaft verursachten Eingriffe in die Kultur, die Gesellschaft und das kollektive Gedächtnis der Kolonisierten übernehmen. Mit der Übernahme der Verantwortung verbunden ist die Anerkennung der zugefügten Schäden, die „in Charakter und Psyche des afrikanischen Menschen Spuren hinterlassen“ 132 haben und die es zu heilen gilt. Die Einnahme einer solchen Haltung ist primäre Voraussetzung für den in Zusammenarbeit mit den Betroffenen zu erarbeitenden Umgang mit Objekten, die während der Kolonialzeit ohne oder gegen den Willen der ursprünglichen Besitzer / Eigentümer nach Europa verbracht wurden. Zur Option stünde eine ganze Bandbreite an Möglichkeiten. In Frage käme beispielsweise die Entwicklung einer Selbstverpflichtung entsprechend der „Gemeinsamen Erklärung“ 133 und einer entsprechenden Handreichung für deren Umsetzung. Die „Gemeinsame Erklärung“ bzw. Handreichung knüpft als Grundlage für Rückgaben an spezifische historische Zeitpunkte an und definiert, dass bis zum Ende der NS-Herrschaft ab diesen Zeitpunkten auf Seiten der NS-bedingt Verfolgten nicht von einem Besitzverlust aus freien Stücken ausgegangen werden kann. Für die Kolonialherrschaft Deutschlands in Afrika lassen sich ebenfalls spezifische Ereignisse festhalten, die eine Steigerung des Drucks auf die Lokalbevölkerung klar erkennen lassen. Allen voran die Einrichtung militärischer Präsenz in Form der Schutztruppen, deren gewalttätige Einsätze und die militärische Begleitung wissenschaftlicher Expeditionen müssen als Wendepunkt angesehen werden. Die höchste Steigerung der Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse und damit verbundenen Freiheiten der Lokalbevölkerung bildet schließlich die umfassende Enteignung ganzer Gesellschaftsteile. 134 Mit den Betroffenen entwickelte verbindliche Vorgaben zum Umgang mit diesen historischen Fakten und zur Geltendmachung und Durchführung von Rückgabeverfahren würden für Transparenz in der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe Deutschlands sorgen. Neben Rückgaben könnten auch andere Optionen wie Leihgaben, Ankäufe etc. als Ausgang 132 Felwine Sarr: Afrotopia. Berlin 2019, S. 89. 133 Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz (Gemeinsame Erklärung), Dezember 1999, https://www.kulturgutverluste.de/Content/08_Downloads/DE/Grundlagen/Gemeinsame-Erklaerung/Gemeinsame-Erklaerung.pdf?__blob=publicationFile&v=15 (aufgerufen am 20. 3. 2019). 134 Wie Anm. 67.
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der Verfahren festgehalten werden, wenn dies für beide Seiten eine annehmbare Option darstellt. Bund und Ländern steht es grundsätzlich frei, zu entscheiden, ob es klar definierte Regelungen für die Rückgabe von Objekten aus kolonialen Kontexten geben soll, ob daraus resultierende Rückgaben an den Nachweis bestimmter Umstände zu knüpfen sind und wann und mit wem in Verhandlung über die Ausgestaltung der Regelung getreten wird. Es gilt in diesem Zusammenhang den Mut zu fassen, eine Vergangenheitsaufarbeitung aktiv voranzutreiben. Provenienzforschung wird dabei die Basis für die Ermittlung derjenigen Objekte bilden, die aus kolonialen Kontexten stammen. Mit dem durch eine systematische Provenienzforschung gewonnenen Zuwachs an Erkenntnissen über die untersuchten Objekte wird sich zudem deren Wahrnehmung ändern. Insbesondere sollte die Vielzahl der zu einem Objekt jeweils gehörenden Aspekte, also z. B. seine ursprüngliche Bedeutung und der ursprüngliche Kontext oder der Zusammenhang mit der Geschichte des Kolonialismus an sich, die Komplexität eines jeden Objekts erkennbar werden lassen. Letztlich ist die Aufdeckung der Geschichte eines Objekts auch untrennbar mit der Anerkennung der mit ihm in Zusammenhang stehenden historischen Umstände verbunden. Diese Anerkennung wäre dabei auch Teil der bereits existierenden Wiedergutmachungspolitik Deutschlands und somit auch der Erinnerungskultur.
Matthias Goldmann / Beatriz v. Loebenstein
Alles nur geklaut? Zur Rolle juristischer Provenienzforschung bei der Restitution kolonialer Kulturgüter*
1. Restitution und juristische Provenienzforschung Der Vorstoß von Präsident Macron zur umfassenden Restitution kolonialzeitlicher Kulturgüter aus dem Jahr 2017 hat die deutsche Museumslandschaft in Aufruhr versetzt. 1 Nicht zuletzt wegen der anstehenden Eröffnung des Humboldt Forums können auch deutsche Museen nicht länger die seitens mancher Herkunftsländer oder ethnischer Gruppen erhobenen Forderungen nach Rückgabe von Kulturgütern aus ihrem jeweiligen Gebiet beiseite wischen. In der oft mit großer Schärfe geführten Debatte über die Restitution von Kulturgütern entzündete sich Streit über die Relevanz der rechtlichen Provenienz dieser Güter, worunter die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Erwerbs bzw. Besitzes verstanden werden soll. Auf der einen Seite wird dem Recht die Legitimation abgesprochen und die Restitution sämtlicher Objekte gefordert, die in einem kolonialen Kontext nach Europa gekommen seien. Nach Felwine Sarr und Bénédicte Savoy bestehe die Ungerechtigkeit darin, dass Plünderungen im Krieg bis zum Ende des 19. Jahrhunderts völkerrechtlich legal gewesen seien. 2 Sophie Schönberger begnügt sich mit dem pauschalen Hinweis, es beständen eigentlich keine Ansprüche auf Rückgabe von Kulturgütern, die in kolonialer Zeit nach * Eine frühere Fassung des Beitrags erschien online als Working Paper in der MPIL Research Paper Series No. 2020-19. 1 Rede von Präsident Emmanuel Macron an der Universität Ouagadougou, 28. 11. 2017, https://www.jeuneafrique.com/497596/politique/document-le-discours-demmanuel-macron-a-ougadougou/ (aufgerufen am 15. 1. 2020). 2 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics. Paris (November) 2018, https://restitutionreport2018.com/ (aufgerufen am 15. 1. 2020), S. 9.
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Deutschland verbracht worden seien. Der Gesetzgeber müsse dieses völkerrechtliche Unvermögen daher kompensieren. 3 Wie ein politisch auszuhandelnder Kompromiss angesichts des fortbestehenden Machtgefälles zwischen Globalem Norden und Globalem Süden allerdings zum Kristallisationskern einer neuen „relationalen Ethik“ werden soll, 4 die nicht einfach koloniale Abhängigkeitsverhältnisse reproduziert, bleibt abzuwarten. Auf der anderen Seite fordern Stimmen wie Hermann Parzinger, man müsse die Rückgabe an rechtlichen Kriterien ausrichten, unterziehen das damalige Recht sowie die Abhängigkeitsverhältnisse, die einem Erwerb zugrunde liegen mögen, aber keiner kritischen Reflexion. 5 Dies stellt einen Rückschritt dar gegenüber der im Umgang mit NS-Raubkunst geltenden Rechtslage, wonach gem. § 2a Abs. 1 Bundesrückerstattungsgesetz Objekte auch dann zurückzugeben sind, sofern etwa ein Verkauf unter Druck erfolgte oder anderweitig rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entsprach. Erst seit Kurzem hat das bisher mit der Rückgabe von NS-Raubgut betraute Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste einen Förderbereich für „koloniale Kontexte“, der auch Provenienzforschung betreibt. 6 Es steht hier also zu hoffen, dass rechtliche Provenienzforschung an Bedeutung gewinnt. Sie erscheint uns notwendig, um die Regelung von Restitutionen nicht dem freien Spiel der Kräfte eines asymmetrischen politischen Diskurses zu überlassen. Zwar mögen auf allen Seiten beste Intentionen am Werk sein, doch die Geschichte der Bevormundung und Benachteiligung des Globalen Südens ist lang – zu lang, um allein auf politische Lösungen zu vertrauen. Daher ist die bestehende Rechtslage in die Überlegungen miteinzubeziehen. Die Erforschung der rechtlichen Provenienz kann allerdings nur dann zu einer Verständigung auf Augenhöhe führen und einen emanzipato-
3 So z. B. Sophie Schönberger: Die Säule von Cape Cross und das Völkerrecht. In: Historische Urteilskraft 1 (2019), S. 28. Diese Position hat Schönberger bereits am 9. 6. 2018 im Tagesspiegel artikuliert: https://www.tagesspiegel.de/kultur/saeule-voncape-cross-in-diesem-kreuz-steckt-das-ganze-kolonialdrama/22665612.html; ferner am 21. 6. 2018 in der Süddeutschen Zeitung: https://www.sueddeutsche.de/kultur/kolonialismusdebatte-ein-politisches-projekt-1.4025612 (beide aufgerufen am 15. 1. 2020). 4 Sarr / Savoy (Anm. 2), S. 39. 5 „Wir wollen maximale Transparenz“. Interview mit Hermann Parzinger. In: Neues Deutschland, 19. 1. 2019, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1110323.kolonialismus-wir-wollen-maximale-transparenz.html (aufgerufen am 15. 1. 2020). 6 Die Ermittlung der Gegenstände und Ermittlung ihres rechtlichen Status liegt seit Jahren in den Händen des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste, siehe https:// www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Start/Index.html (aufgerufen am 15. 1. 2020). Vgl. auch den Beitrag von Christoph Zuschlag im vorliegenden Band.
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rischen Fortschritt bewirken, wenn sie auf eine naive Annäherung an das Recht des kolonialzeitlichen Imperialismus verzichtet und nicht lediglich rechtlich konsolidierte Unterdrückungsverhältnisse reproduziert. Das Kolonialrecht 7 ist vielmehr aus postkolonialer Perspektive kritisch zu hinterfragen; sowohl hinsichtlich seiner Geltung als auch seiner Anwendung. Selbst soweit eine Rückgabe aus rechtlichen Gründen nicht gefordert werden kann, etwa wegen des Eintritts der Verjährung, kann eine solche kritische Provenienzforschung doch Erkenntnisse über den Grad der Ausgewogenheit der damaligen Rechtslage liefern, die bei einer dann notwendigerweise politischen Entscheidung über die Rückgabe in die Abwägung einfließen können. Im Idealfall ist Recht damit nicht lediglich Instrument kolonialer Unterdrückung, sondern erweist sich zugleich als Schlüssel zu ihrer Überwindung (Abschnitt 2.). 8 Auf dieser methodischen Grundlage untersucht dieses Kapitel die rechtliche Provenienz einiger bekannter Kulturgüter aus deutschen Museen, die von dem eingangs in Bezug genommenen Streit über Restitution befangen sind. Sie stammen zum Teil aus dem Osmanischen Reich (Pergamon-Altar) und seinen Vasallenstaaten (Nofretete), zum Teil aus dem heutigen Namibia (Witbooi-Bibel und -Peitsche; Cape Cross) (Abschnitt 3). Die Fallstudien indizieren, dass die derzeitige, uneinheitliche Rückgabepraxis sich eher nach der kulturellen Bedeutung eines Gegenstands für Deutschland denn an rechtlichen Kriterien orientiert. Mit anderen Worten könnte die kulturelle Vereinnahmung eines Gegenstands durch Deutschland die Chance auf Rückgabe verringern. Dies bestätigt die bereits geäußerten Zweifel, die Restitutionsfrage einzig und allein dem politischen Ermessen zu überantworten (Abschnitt 4). Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass sich dieser Text nicht auf menschliche Überreste bezieht, deren Restitution Fragen völlig anderer Art aufwirft. 9
7 Unter Kolonialrecht verstehen wir in einem umfassenden Sinn das Rechtsregime, welches die Rechtsbeziehungen zwischen Kolonialmächten und Kolonien regelt. Es umschließt völkerrechtliche, staatliche und indigene Normen. Vgl. Luigi Nuzzo: Kolonialrecht. In: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. v. Institut für Europäische Geschichte (IEG). Mainz 2011, http://www.ieg-ego.eu/nuzzol-2011-de (aufgerufen am 15. 1. 2020). 8 Philipp Dann / Felix Hanschmann: Postkoloniale Theorien, Recht und Rechtswissenschaft. Einleitung in den Schwerpunkt. In: Kritische Justiz 45 (2012), S. 127–130. 9 Vgl. Piotr Bienkowski: A Critique of Museum Restitution and Repatriation Practices. In: Sharon Macdonald / Helen Rees Leahy (Hrsg.): The International Handbooks of Museum Studies. Chichester 2015, S. 431–453.
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2. Provenienzforschung und postkoloniale Rechtstheorie Juristische Provenienzforschung kann nur dann einen konstruktiven Beitrag zur Verständigung zwischen ehemaligen Kolonialmächten und den ihrer Dominanz ausgesetzten Bevölkerungsgruppen des globalen Südens leisten, wenn sie sich dem kolonialzeitlichen Recht nicht unreflektiert nähert. Das Grundprinzip des intertemporalen Völkerrechts, wonach ein Vorgang aus der Vergangenheit wie etwa der Erwerb eines Kulturguts nach dem zum damaligen Zeitpunkt anwendbaren Recht zu beurteilen ist, 10 birgt das bekannte Risiko, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit in die Gegenwart zu projizieren und damit zu perpetuieren. Ein eklatantes Beispiel hierfür ist die im 19. Jahrhundert weit verbreitete Auffassung, nur die Herrschaftsordnungen „zivilisierter“ Völker als souveräne Staaten anzuerkennen. 11 Orientiert man sich heute ohne weitere kritische Prüfung an der Aufteilung der Welt in zivilisierte, halbzivilisierte und nichtzivilisierte Gebiete durch die Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts, führt dies dazu, ehemals unter kolonialem Einfluss stehenden Staaten oder Bevölkerungsgruppen des globalen Südens sämtliche in der Vergangenheit begründete, an die Völkerrechtsfähigkeit anknüpfenden Rechte abzusprechen. Die Rechtfertigung für die Marginalisierung der Vergangenheit wird so achselzuckend auf die Gegenwart übertragen. Um den Teufelskreis der intertemporalen Logik zu durchbrechen, bedarf es einer postkolonial reflektierten juristischen Provenienzforschung. Das gebieten nicht nur die gegen das intertemporale Prinzip erhobenen Gerechtigkeitszweifel. Es steht auch rechtstheoretisch auf tönernen Füßen. Dazu genügt es, sich zu vergegenwärtigen, dass es einen direkten Rückgriff auf die Vergangenheit einschließlich ihres Rechts nicht gibt. Aufgrund seiner sprachlichen Vermittlung ist Recht immer unbestimmt; seine Bedeutung ist vom Kontext abhängig. 12 Heutige Rechtsanwender*innen stehen aber auf nicht zu hintergehende Weise in einem anderen Kontext als die historischen Kollegen der Kolonialzeit (Kolleginnen gab es damals keine).
10 Vgl. Award of the Tribunal of Arbitration (of the Leage of Nations) in the Island of Palmas Case (The Netherlands v. United States of America), 4. 4. 1928. In: United Nations (Hrsg.): Reports of International Arbitral Awards 2 (2006) https://legal.un.org/ riaa/cases/vol_II/829 – 871.pdf (aufgerufen am 20. 1. 2020), S. 829–871, hier S. 829, 845. 11 Thomas J. Lawrence: The Principles of International Law. London / New York 1895, S. 57. August W. Heffter unterscheidet zwischen christlichen und nichtchristlichen Völkerstaaten und erkennt nur die Ersteren als Rechtssubjekte an: Das europäische Völkerrecht der Gegenwart auf den bisherigen Grundlagen. Berlin 7. Aufl. 1882, S. 19. 12 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M. 16. Aufl. 2004, § 42.
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Der Versuch, sich in einen vergangenen Kontext einzufühlen, ist zum Scheitern verurteilt: 13 Ein Rückgriff auf die Vergangenheit des Rechts ist immer von gegenwärtigen kognitiven und normativen Rahmen abhängig. 14 Das hat zur Konsequenz, dass heutige Rechtsanwender*innen die Verantwortung für als ungerecht empfundenes Recht nicht vollständig auf die Vergangenheit abwälzen können; das Recht der Vergangenheit ist letztlich das Resultat ihrer eigenen Rekonstruktion. Wie kann man aber der daraus resultierenden Verantwortung gerecht werden, ohne den Vorwurf des Anachronismus auf sich zu ziehen, indem man das damalige Recht einfach korrigiert und den Grundsatz der Intertemporalität damit ad absurdum führt? 15 Dazu bedarf es zweier Schritte. Der erste besteht in der Kontextualisierung des damaligen Rechts in kritischer Absicht. 16 Das bedeutet nicht einfach eine durch außerrechtliche Fakten angereicherte Erzählung der Unterdrückungsmechanismen der Vergangenheit. Das würde aus dem Zirkel der Perpetuierung vergangener Ungerechtigkeiten nicht herausführen. 17 Das bedeutet schlichtweg die kritische Prüfung des Rechts der Vergangenheit an den rechtlichen und faktischen Maßstäben der Vergangenheit. Kontextualisierung in diesem Sinne verspricht einen emanzipatorischen Gewinn; 18 sie überlässt die Rekonstruktion des vergangenen Rechts nicht dem politischen Belieben der Rechtsanwendenden, 19 sondern verweist auf konkrete Maßstäbe, die bereits für die Vergangenheit Wirkung entfalten konnten. Zwei konkrete Maßstäbe der Vergangenheit bieten sich für die kritische Kontextualisierung an: Erstens sind faktische Fehlvorstellungen von Rechtsanwender*innen der Vergangenheit zu korrigieren, z. B. die Einordnung einer Gruppe als „unzivilisiert“ aus Unkenntnis über ihre Orga13 So aber noch Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Berlin 1838. 14 Martti Koskenniemi: Vitoria and Us. Thoughts on Critical Histories of International Law. In: Rechtsgeschichte 22 (2014), S. 119–138, hier S. 122. 15 Andrew Fitzmaurice: Context in the History of International Law. In: Journal of the History of International Law / Revue d’histoire du droit international 20 (2018), S. 5– 30, hier S. 5, 7. 16 Quentin Skinner: Meaning and Understanding in the History of Ideas. In: History and Theory 8 (1969), S. 3–53, hier S. 8 f.; mit Bezug auf das Völkerrecht ähnlich Thomas Kleinlein: International Legal Thought. Creation of a Tradition and the Potential of Disciplinary Self-Reflection. In: Global Community Yearbook of International Law and Jurisprudence 16 (2016), S. 811–827, hier S. 824 f. 17 Auf dieses Risiko weist Koskenniemi (Anm. 14), S. 128, hin. 18 Ebd., S. 129; Anne Orford: International Law and the Limits of History. In: Alexis Galán u. a. (Hrsg.): The Law of International Lawyers. Reading Martti Koskenniemi. Cambridge 2017, S. 297–320, hier S. 304. 19 So aber Fitzmaurice (Anm. 15), S. 13.
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nisation und kulturellen oder technischen Fähigkeiten. 20 Der Grundsatz des intertemporalen Rechts verweist nur auf das Recht der Vergangenheit, nicht auf die ihm zugrunde liegenden faktischen Vorstellungen. Die kritische Kontextualisierung öffnet die Rekonstruktion des Kolonialrechts damit für neuere Erkenntnisse anderer Disziplinen, insbesondere der Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Archäologie und Kunstgeschichte. Zweitens hat die kritische Kontextualisierung ein umfassendes Bild von historischem Recht in aller seiner Heterogenität zu gewinnen und die Fehlvorstellung zu vermeiden, es sei monolithisch und auch nur einen einzigen Grad bestimmter oder unstreitiger gewesen als das heutige Recht. Rekonstruktionen vergangenen Rechts gehen bislang mitunter über die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit der damaligen Staatenpraxis und Lehre hinweg. Angesichts fehlender zentraler Institutionen für die Rechtsetzung und Rechtsanwendung, zahlreicher Konflikte zwischen den Kolonialmächten sowie gesellschaftlicher Konflikte in ihrem Innern wäre aber in höchstem Maße überraschend, wenn sich das Kolonialrecht als homogen erweisen würde. 21 Diese Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit resultiert nicht zuletzt daraus, dass das Kolonialrecht trotz seiner Funktion als Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument die jedem in der europäischen Tradition stehenden Rechtsregime eigene Legitimationsfunktion nicht einfach vollständig untergraben konnte. 22 Man denke etwa an die Schlussakte des Berliner Kongresses, der die blutigen Eroberungszüge, die sie ermöglichte, nicht eingeschrieben sind, sehr wohl aber eine scheinbar humanistische, wenngleich paternalistische Gesinnung gegenüber der einheimischen Bevölkerung. Schließlich standen die Regierungen der Kolonialmächte im In- und Ausland einer mitunter durchaus skeptischen Öffentlichkeit gegenüber, auch und gerade angesichts der Wechselwirkungen zwischen Vorgängen in Europa und in Übersee. 23 Das Kolonialrecht hatte eine komplexe Interessenlage verschiedenster Akteure auf staatlicher und überstaatlicher Ebene zu verarbeiten, was nicht immer ohne Widersprüche möglich war. Einen Eindruck davon vermittelt die Stellungnahme 20 Dazu ausführlich Matthias Goldmann: Anachronismen als Risiko und Chance. Der Fall Rukoro et al. gegen Deutschland. In: Kritische Justiz 52 (2019), S. 92–117. 21 Am Beispiel der Entfernung von Kunstgegenständen aus dem Osmanischen Reich: Fredrik Thomasson: Justifying and Criticizing the Removals of Antiquities in Ottoman Lands. Tracking the Sigeion Inscription. In: International Journal of Cultural Property 17 (2010), S. 493–517. 22 Dazu in Bezug auf das Werk von Vitoria: Antony Anghie: Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law. Cambridge 2005, S. 28. 23 Eindrücklich am Beispiel des Streits um den Gebrauch der Nilpferdpeitsche: Rebekka Habermas: Peitschen im Reichstag oder über den Zusammenhang von materieller und politischer Kultur. Koloniale Debatten um 1900. In: Historische Anthropologie 23 (2015), S. 391–412.
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des Direktors der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, Dr. Stübel, im Reichstag am 18. März 1905: „Wie kommt eine Rechtsnorm unseres Kolonialrechts zustande? Zunächst wird der Gouverneur gefragt, ob eine solche Norm sich mit den Verhältnissen des Schutzgebiets vereinigen läßt. Der Gouverneur hat, seitdem die Gouvernementsräte bestehen, diese zu befragen, und wenn der Gouverneur seinen Bericht erstattet hat, werden innerhalb der Verwaltung in allen juristischen Angelegenheiten das Reichsjustizamt, in allen wirtschaftlichen Dingen die betreffenden Ressortministerien gefragt. Erst nachdem eine Rechtsnorm alle diese Stadien durchlaufen hat, wird daran gedacht, eine Verordnung zu erlassen und zu publizieren. [. . .] Jedenfalls werden Sie mir zugeben, daß die Gesetzgebung in den Kolonien in einem fortwährenden Flusse ist, viel mehr als hier in der Heimat. Wir sind der Wissenschaft ganz außerordentlich dafür dankbar, daß sie sich mit dem Kolonialrecht beschäftigt, daß sie das Kolonialrecht wissenschaftlich durchdringt und ausbildet.“ 24
Diese Kontingenz gilt es bei der Anwendung des historischen Rechts zu ermitteln, nicht zu überdecken. Wer in diesem Sinne den eingetretenen Pfad selektiver Zitiertraditionen verlässt, wird beispielsweise bald feststellen, dass das Kriterium der Zivilisiertheit als Voraussetzung von Souveränität im ausgehenden 19. Jahrhundert weder allseits akzeptiert 25 noch auch nur annähernd konsequent verstanden oder angewendet wurde. So wurden alle möglichen Verträge mit angeblich unzivilisierten Völkern abgeschlossen, sei es mit Bezug auf die Übertragung von Herrschaft oder von Eigentum. 26 Daher greift der Internationale Gerichtshof auf dieses Kriterium heute nicht mehr zurück. 27 Dies leitet bereits über zum zweiten Schritt einer postkolonial reflektierten Rechtswissenschaft. Es ist legitim, die offenen Fragen und Interpretationsspielräume, die das historische Recht lässt, unter Rückgriff auf heutige Maßstäbe zu füllen. Denn schließlich konkretisiert sich Recht immer erst im Moment seiner Anwendung, der sich vom gegenwärtigen Kontext nicht abstrahieren lässt. 28 Recht ist damit immer zukunftsoffen, 24 Reichstagsprotokolle 1903/05, Bd. 7, S. 5376, vgl. Matthias Goldmann: Colonial Law as a Symbolic Order. Property and Sovereignty in German Southwest Africa. In: Journal of the History of International Law 23 (2021), i.E. 25 Vgl. Johann C. Bluntschli: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten als Rechtsbuch dargestellt. Nördlingen 1868, S. 68. 26 Lawrence (Anm. 11), S. 154–155; dazu Mamadou Hébié: Souveraineté territoriale par traité. Genf 2015, S. 327–355, 442–458. 27 Vgl. International Court of Justice: Western Sahara. Advisory Opinion, 16. 10. 1975, http://www.worldcourts.com/icj/eng/decisions/1975.10.16_western_sahara.htm (aufgerufen am 15. 1. 2020), S. 12, 39 f.; s. ferner Ntina Tzouvala: Civilization. In: Jean d’Aspremont / Sahib Singh (Hrsg.): Concepts for International Law. Contributions to Disciplinary Thought. Celtenham / Northampton 2019, S. 83–104, hier S. 90 f. 28 Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. 1992, S. 270 f.
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auch das vergangene Recht. In diesem Sinn befürwortet der Internationale Gerichtshof eine evolutionäre Interpretation des Rechts, welche die zwischenzeitliche Entwicklung des Rechts berücksichtigt. 29 Dies bedeutet nicht, kolonialzeitliches Recht einfach durch moderne Vorstellungen zu ersetzen. Vielmehr sind die offenen Fragen und Widersprüche des kolonialzeitlichen Rechts mit Blick auf das heutige Recht aufzulösen. Steht etwa die Wirksamkeit damaliger Verträge im Zweifel, deren Wirkungen potenziell bis in die Gegenwart reichen, kann das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht als Interpretationshilfe dienen. Ohne einen solchen Gegenwartsbezug lässt sich das Recht der Vergangenheit kaum sinnvoll anwenden. Nur wenn man das Recht als „living instrument“ begreift, 30 gelingt es, seine soziale Funktion über Jahrzehnte, gar Jahrhunderte zu bewahren. Historiker*innen, auch Rechtshistoriker*innen, mögen die Übertragung gegenwärtiger Maßstäbe auf die Vergangenheit kritisch sehen, 31 doch ist es etwas anderes, das Recht der Vergangenheit im Hier und Jetzt anzuwenden, als (nur) darüber zu schreiben. 32 Für staatliche Verfassungen ist diese Fortschreibung im Kontext der Gegenwart übrigens weithin akzeptiert; 33 es leuchtet nicht ein, wieso für die Anwendung des Kolonialrechts gemäß den Grundsätzen des intertemporalen Rechts anderes gelten sollte.
29 Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276. Advisory Opinion, 21. 6. 1971, https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/53/053-19710621ADV-01-00-EN.pdf (aufgerufen am 20. 1. 2020), S. 16, 30 f. 30 Diese Terminologie entstammt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Judgment in the Case Tyrer v. United Kingdom, Appl.-No. 5856/72, 25. 4. 1978, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-57587 (aufgerufen am 20. 1. 2020). 31 Fitzmaurice (Anm. 15), S. 13. 32 Matthew Craven unterscheidet daher „history in international law“ von „international law in history“: Introduction: International Law and its Histories. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Time, History and International Law. Leiden / Boston 2007, S. 1–25, zit. S. 7. 33 Markus Kotzur: Constitutional Amendments and Constitutional Changes in Germany. In: Xenophon Contiades (Hrsg.): Engineering Constitutional Change. A Comparative Perspective on Europe, Canada and the USA. London 2013, S. 135–160; Vicki C. Jackson: Constitutions as „Living Trees“? Comparative Constitutional Law and Interpretive Metaphors. In: Fordham Law Review 75 (2006), S. 921–960, hier S. 921, 925.
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3. Fallstudien Dieser Abschnitt illustriert die Forderung nach einer differenzierten juristischen Auseinandersetzung mit kolonialzeitlichen Artefakten anhand einiger bekannter Beispiele, die von Seiten ihrer Ursprungsländer zurückgefordert und in zwei Fälle auch bereits zurückgegeben wurden. Die Fallbeispiele sind eher als Demonstration der hier vorgeschlagenen Methode denn als definitive Festlegungen hinsichtlich etwaiger Rückgabeansprüche zu verstehen. Letzteres würde weitere Nachforschungen zu einzelnen Aspekten einschließlich der Sichtung von Archivalien erfordern. Das Kulturgutschutzgesetz ist auf sämtliche der nachfolgend besprochenen Gegenstände nicht anwendbar, da sie bereits vor dem Jahr 2007, dem Zeitpunkt des Beitritts der Bundesrepublik zum UNESCO-Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut von 1970, in das Land gelangt sind, vgl. § 52 Kulturgutschutzgesetz. Die UNIDROITKonvention über gestohlene oder illegal exportierte Kulturgüter hat die Bundesrepublik nicht ratifiziert; weitere rechtsverbindliche Ansprüche auf Rückgabe sieht das Völkervertragsrecht nicht vor. 34 Der Mangel an abstrakt-generellen Anspruchsgrundlagen schließt jedoch Rückgabeansprüche im Einzelfall nicht aus – gerade dies ist das Feld der juristischen Provenienzforschung. Ob sich eine Rückgabepflicht unmittelbar aus den Menschenrechten ergibt, sei hier ausdrücklich offengelassen. 35 Insofern ist die als authentische Konkretisierung der Menschenrechte geltende Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker von Bedeutung. 36 In Art. 11 Abs. 2 verpflichtet sie die Staaten, gemeinsam mit indigenen Völkern wirksame Mechanismen der Wiedergutmachung für die Wegnahme religiöser oder spiritueller Gegenstände zu entwickeln, die jenen ohne ihre freiwillige Zustimmung oder unter Verletzung ihrer Rechte, Traditionen und Bräuche entzogen wurden. Dies könne auch die Restitution der Gegenstände einschließen. Allerdings bedeutet dieser Verweis auf noch zu entwi34 Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste: Ausarbeitung: Rückführung von Kulturgütern aus Kolonialgebieten. Rechtsgrundlagen für Ansprüche auf Restitution (BT WD 10-3000-023/18), 4. 5. 2018, https://www.bundestag.de/resource/blob/ 561162/d41c5c7c2312cbd82286e01677c187e8/WD-10-023-18-pdf-data.pdf (aufgerufen am 30. 4. 2020). 35 Zur Emergenz einer menschenrechtlichen Dimension im Kulturgüterschutz vgl. Francesco Francioni: The Human Dimension of International Cultural Heritage Law. An Introduction. In: European Journal of International Law 22 (2011), S. 9–16. 36 United Nations General Assembly: United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples (UN Doc A/Res/61/295), 13. 9. 2007, https://undocs.org/A/RES/61/ 295 (aufgerufen am 29. 4. 2020).
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ckelnde Mechanismen, dass zumindest diese Erklärung keine unmittelbar aus den Menschenrechten hergeleiteten Rückgabeansprüche anerkennen will. Dennoch bilden die Menschenrechte einen wichtigen Gesichtspunkt bei der Auslegung und Anwendung des Rechts sowie der Ausübung politischen Ermessens in Restitutionsfragen, deren Potenzial wohl noch nicht vollständig erschlossen ist.
3.1 Pergamonaltar a) Kontext des Funds
Der Pergamonaltar befand sich in der Nähe der heute türkischen Stadt Bergama, die während der Zeit der Ausgrabungen Teil des Osmanischen Reichs war. Das Osmanische Reich wurde in dem den Krimkrieg beendenden Pariser Frieden von 1856 als Mitglied der „Gemeinschaft des europäischen öffentlichen Rechts“ anerkannt. 37 Ab diesem Moment hatten die europäischen Staaten im Verhältnis zur osmanischen Regierung, der Hohen Pforte, das Völkerrecht zu respektieren; 38 die formale Stellung des Osmanischen Reichs lässt sich damit nicht mit derjenigen von Kolonien vergleichen. Die Organisation des Osmanischen Reichs beruhte auf der Verfassung von 1876, 39 die eine konstitutionelle Monarchie mit einem Zweikammerparlament begründet hatte. Der Sultan hatte maßgeblichen Einfluss auf die Gesetzgebung behalten. So wurden die Mitglieder des Senats vom Sultan ernannt, während die Mitglieder des Abgeordnetenhauses alle vier Jahre gewählt werden sollten. Zwischen dem RussischOsmanischen Krieg 1877-1778 und der Jungtürkischen Revolution 1908 wurde das Parlament allerdings nicht einberufen. Das Interesse der europäischen Staaten an der Ausgrabung und am Erwerb antiker Kulturschätze weckte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auch im Osmanischen Reich ein Bewusstsein für deren Bedeutung. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der osmanische Diplomat und archäologische Autodidakt Osman Hamdi Bey. Er wurde 1881 zum Direktor des Müze-i Hümayun (Kaiserliches Museum) ernannt. Das nach dem Vorbild europäischer Museen in Paris, London und Wien errichtete Kaiserliche Museum wurde von ihm gegründet und 1891 der Öffentlichkeit überge-
37 Heffter (Anm. 11), S. 15. 38 Ebd., S. 20. Auch in Lawrence (Anm. 11), S. 59. 39 Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches; aus dem Osmanisch-Türkischen übersetzt und zusammengestellt von Friedrich v. Kraelitz-Greifenhorst. Leipzig 1909.
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ben. 40 Auf Geheiß des Ministers für Öffentliche Bildung schickten alle Regionen des Reichs antike Artefakte für die Ausstellung des Museums. Das diente dem Osmanischen Reich zur Demonstration seiner Herrschaft über alle Reichsteile. 41 Im späten 19. Jahrhundert begannen auch die sogenannten Salnames, offizielle Jahrbücher über die osmanischen Provinzen, über die Altertümer zu berichten. Durch diesen Verweis auf das historische Erbe stellte das Reich seinen hohen Grad an Zivilisation unter Beweis und erzeugte ein Rechtfertigungsnarrativ für zeitgenössische Reformen, insbesondere in den arabischen Provinzen, durch die an die glorreiche Vergangenheit angeknüpft werden sollte. 42 Die Salnames informierten auch über das ausländische Interesse am antiken Kulturerbe und warnten vor zweifelhaften oder unregelmäßigen Aktivitäten. Bei der Beschreibung der Ausgrabungen versäumten sie nicht, auf die Kontrolle ausländischer Grabungskampagnen durch die osmanischen Behörden hinzuweisen. Zum Beispiel legte das Salname der Provinz Aydin von 1902 Wert darauf, dass die Deutschen ihre Ausgrabungen in Pergamon mit der Genehmigung der Regierung durchführten. 43 Neben den Salnames erschienen in dieser Zeit in Istanbul illustrierte Zeitschriften mit Berichten über archäologische Funde. 44 In diesem Kontext sah sich das Osmanische Reich veranlasst, das Eigentum an den Fundstücken sowie die Fundteilung einer gesetzlichen Regelung zuzuführen. Bereits 1874 wurde ein erstes Altertümergesetz erlassen, das eine klare Regelung der Fundteilung enthielt. Alle Fundstücke gehören grundsätzlich dem Staat. Von den Fundstücken aus staatlich autorisierten Grabungen gehörte ein Drittel dem Entdecker, ein Drittel der Staatskasse und ein Drittel dem Grundbesitzer. 45 Diese Regelung legitimierte durch die Erteilung von Grabungserlaubnissen viele der damals laufenden Ausgrabungen. Allerdings gewährte der Sultan viele Ausnahmen von der Vorschrift über die Fundteilung. 46 Ein neues Altertümergesetz folgte 1884. Danach gehörten alle Gegenstände dem Osmanischen Reich. Fundstücke 40 Alpay Pasinli: Archäologische Museen Istanbuls. Istanbul 1992. 41 Wendy M. K. Shaw: Possessors and Possessed. Museums, Archaeology, and the Visualization of History in the Late Ottoman Empire. Berkeley 2003, S. 87. 42 Zeynep Çelik: Defining Empire’s Patrimony: Late Ottoman Perceptions of Antiquities. In: Zainab Bahrani u. a. (Hrsg.): Scramble for the Past. A Story of Archaeology in the Ottoman Empire, 1753–1914. Istanbul 2011, S. 458. 43 Ebd., S. 459. 44 Ebd., S. 466. Ein Beispiel dafür ist die von 1891 bis 1944 erscheinende Zeitschrift Servet-i Fünun. 45 Shaw (Anm. 41), S. 91. 46 Mesut Dinler: The Knife’s Edge of the Present. Archaeology in Turkey from the Nineteenth Century to the 1940s. In: International Journal of Historical Archaeology 22 (2018), S. 728–745, hier S. 732.
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aus genehmigten Grabungen gehörten dem Kaiserlichen Museum, mit Ausnahme von Zufallsfunden auf privaten Grundstücken, von denen die Hälfte des Funds den Grundbesitzern verblieb. 47 Zusätzlich wurde der Export von Kulturgütern auf die Ausfuhr anpassender Fragmente begrenzt und konnte nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des Kaiserlichen Museums durchgeführt werden. 48 Erst 1906 erließ das Osmanische Reich ein neues Altertümergesetz, welches das Eigentum aller auf öffentlichen und privaten Grundstücken gefundenen Altertümer dem Staat zusprach. 49 Der Pergamonaltar wurde während der Geltungszeit der ersten beiden Gesetze entdeckt und in das Deutsche Reich verbracht. Der deutsche Ingenieur Carl Humann unternahm ab 1871 im antiken Pergamon Explorationen im Auftrag der Kaiserlich Deutschen Museen. Am 9. September 1878 begannen unter seiner Leitung die Ausgrabungen am Burgberg von Pergamon, die sich über drei Kampagnen bis 1886 erstreckten. 50 Nach mehreren Monaten der Verhandlung zwischen dem deutschen Konsul, Humann und dem osmanischen Generalgouverneur wurden mit der Ausgrabungserlaubnis zwei Drittel des Funds Deutschland zugesagt. 51 Ein erstes Fundstück vom Pergamonaltar schickte Humann 1879 nach Berlin, wo Alexander Conze, Direktor der Skulpturensammlung der Königlichen Museen in Berlin, den Altar identifizierte. Weitere Stücke kamen zwischen 1881 und 1886 nach Deutschland. In Verhandlungen zwischen der Hohen Pforte und dem Deutschen Reich im Zeitraum von 1878 bis 1879, an denen sogar Bismarck mitwirkte, wurde erreicht, dass das Osmanische Reich seinen verbleibenden Teil auch noch abtrat gegen Zahlung in Form einer finanziellen Hilfe von etwa 20.000 Goldmark an türkische Flüchtlinge, die der Balkankrieg nach Kleinasien vertrieben hatte. 52 Zu diesem Abkommen trugen sicherlich die Schwäche des zu dieser Zeit insolventen 47 Sibel Özel: Under the Turkish Blanket Legislation. The Recovery of Cultural Property Removed from Turkey. In: International Journal of Legal Information 38 (2010) H. 2, S. 177–184, hier S. 179. 48 Shaw (Anm. 41), S. 113; Ursula Kästner: Carl Humann und die Entdeckung des Pergamonaltares. Vom Privatunternehmen zum Staatsauftrag. In: Charlotte Trümpler (Hrsg.): Das große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860– 1940). Köln 2008, S. 325–335, hier S. 329. 49 Özel (Anm. 47), S. 179. 50 Kästner (Anm. 48), S. 326. 51 Ebd.; Alexander Conze: Geschichte der Untersuchung. In: Königliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Altertümer von Pergamon, Bd. 1: Stadt und Landschaft. Berlin 1912, S. 1–34, hier S. 17, 19. 52 Hans-Joachim Schalles: Der Pergamon-Altar zwischen Bewertung und Verwertbarkeit. Frankfurt a. M. 1988, S. 11; vgl. auch: Wendy M. K. Shaw: From Mausoleum to Museum. Resurrecting Antiquity for Ottoman Modernity. In: Bahrani u. a. (Anm. 42), S. 431; Max Kunze / Volker Kästner: Der Altar von Pergamon, hellenistische und römische Architektur. Berlin 2. Aufl. 1990, S. 30.
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Osmanischen Reichs und Dankbarkeit für die Vermittlerrolle Bismarcks beim Berliner Kongress 1878 bei. 53 Aufgrund dieser Vereinbarungen halten heutige Beobachter*innen die Eigentumsverhältnisse für eindeutig. 54 Weder Griechenland noch die Türkei hätten völkerrechtliche Restitutionsansprüche. 55 Die Verträge sowie die Grabungsgenehmigung seitens der Hohen Pforte werden selbst von türkischen Vertreter*innen mitunter als legal anerkannt. 56 Insbesondere lokale Politiker*innen fordern aber seit Langem die Rückgabe des Altars. b) Ein ungleicher Vertrag?
Ist der Erwerb des Pergamonaltars durch das Deutsche Reich nach dem damals geltenden Recht wirklich einwandfrei? Auch das damalige Völkerrecht setzte voraus, dass zwischenstaatliche Verträge dem Willen der Parteien entsprachen. 57 In Frage stehen die Anforderungen, die damals an die Willensfreiheit gestellt wurden. Galten „ungleiche Verträge“, bei denen eine Partei strukturell benachteiligt war, wirklich als wirksam? In vielen Lehrbüchern lesen sich Formulierungen wie bei Heffter, wonach diese Frage zu bejahen zu sein scheint: „Irrthum, Hinterlist und Zwang haben demnach denselben Einfluß auf den Rechtsbestand der Verträge, wie derselbe schon längst in allen Privatrechten festgestellt ist. Als wahres Hinderniß der Willensfreiheit kann inzwischen nicht jede Art von preßhaften Zuständen gelten, welche die Wahl eines Entschlusses nur erschweren, vielmehr ist ein Zwang erforderlich, wodurch selbst ein kräftiger beharrlicher Muth erschüttert werden kann, welches allemal der Fall sein wird, wo Gefahr für die physische oder moralische Existenz eintritt, mithin die Pflicht der Selbsterhaltung ein Nachgeben gebietet, und nicht etwa das Bestehen der Gefahr durch höhere Pflichten geboten wird. Für einen Staat wird eine solche Gefahr vorhanden sein, wenn seine eigene Existenz als selbständiger Staat auf dem Spiele steht; für den Souverän oder Unterhänd-
53 Gilbert H. Gornig: Wem gehört der Pergamon-Altar? In: Ders. u. a. (Hrsg.): Griechenland in Europa. Frankfurt a. M. 2000, S. 77; siehe auch: Kunze (Anm. 52), S. 30; Schalles (Anm. 52), S. 11; Erik Jayme: Nationales Kunstwerk und Internationales Privatrecht. Vorträge, Aufsätze, Gutachten. Heidelberg 1999, S. 204; Suzanne L. Marchand: Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750– 1970. Princeton 1996, S. 190. 54 Gornig (Anm. 53), S. 94. 55 Ebd., S. 83. 56 Interview mit dem Kultur- und Tourismusminister der Türkei, Ömer Çelik, am 14. 3. 2013, https://www . spiegel . de / international / germany / dispute - heats - up - between-germany-and-turkey-over-contested-artifacts-a-888398.html (aufgerufen am 15. 1. 2020). 57 Carl Bergbohm: Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts. Dorpat 1877, S. 77.
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ler, wenn sein Leben, seine Gesundheit, Ehre oder Freiheit ernstlich bedroht wird, und die Ausführung der Drohung wirklich in der Macht des Drohenden steht.“ 58
Für eine europäische Kolonialmacht wie das Deutsche Reich, die aus dem letzten Krieg gegen Frankreich siegreich hervorgegangen war, brachte eine solche Haltung nicht zu leugnende Vorteile. Allerdings war das Deutsche Reich nicht nur Kolonialmacht, sondern in seinem Innern ein heterogenes Konstrukt, ausgestattet mit einem nicht zuletzt finanziell vergleichsweise schwachen Zentrum und einem unvergleichlich geringeren Grad an demokratischer Legitimation als damalige liberale Staaten wie die USA oder Großbritannien. Diese Eigentümlichkeiten blieben nicht ohne Auswirkung auf die Staatstheorie. So legitimierte sich das Deutsche Reich in den Augen seiner juristischen Erklärer statt über die Volkssouveränität über einen normativ aufgeladenen Staatsbegriff, der zumeist der Hegel’schen Philosophie entnommen wurde. Beispiele für diese Denkweise sind Legion. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze findet sie sich in der staatswissenschaftlichen Lehre Lorenz v. Steins ebenso wie bei Gerber und Laband, deren Rechtspositivismus letztlich auf der Überhöhung des Staats gründet. 59 Georg Jellinek, wohl der maßgeblichste Staatstheoretiker des Reichs, definierte den Staat als „die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen“. 60 Sein Leitbild war ein allmächtiger Staat, der „überall herrscht, nirgends beherrscht wird“ 61 und sein Handeln an vorgegebenen Staatszwecken ausrichtet (statt an demokratischer Selbstbestimmung). 62 Diese Haltung blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Verständnis des Völkerrechts. Ein derart verabsolutierter Staat konnte sich nicht ohne Weiteres vertraglich binden oder gebunden werden. Daraus resultierte eine spezifisch deutsche Variante der „Völkerrechtsleugnung“. Darunter ist die im souveränitätsfokussierten 19. Jahrhundert verbreitete Auffassung zu verstehen, es fehle dem Völkerrecht an Rechtsverbindlichkeit. Diese Auffassung fand mit John Austin einen prominenten Vertreter in Großbritannien, der v. a. auf die fehlende Erzwingbarkeit völkerrechtlicher Nor-
58 Heffter (Anm. 11), S. 152; ähnlich auch Franz v. Liszt: Das Völkerrecht. Berlin 1898, S. 112. 59 Manfred Friedrich: Paul Laband und die Staatsrechtswissenschaft seiner Zeit. In: Archiv des Öffentlichen Rechts 111 (1986), S. 197–218, hier S. 207. 60 Georg Jellinek: Gesetz und Verordnung. Staatsrechtliche Untersuchungen auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage. Freiburg i. Br. 1887, S. 190; Ders.: Allgemeine Staatslehre. Berlin 3. Aufl. 1914, S. 180 f. 61 Ebd., S. 197. 62 Ebd., S. 191.
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men abstellte. 63 Während man diese Argumentation auch in der damaligen deutschen Literatur findet, 64 handelt es sich bei der staatstheoretisch begründeten Völkerrechtsleugnung um eine deutsche Variante, die ohne Hegels Rechtsphilosophie nur schwer erklärbar erscheint. 65 Bergbohms Willenspositivismus, so vertraut er heutigen Rezipienten im Vergleich zur sonstigen völkerrechtlichen Literatur der damaligen Zeit vorkommt, war insofern keineswegs unangefochten. Eine einflussreiche Zwischenposition entwickelte der Staats- und Völkerrechtler Georg Jellinek. Seine Selbstverpflichtungslehre versucht eine der damaligen Staatenpraxis angemessene Rekonstruktion völkerrechtlicher Rechtsbindung. 66 Eine Selbstverpflichtung des Staats komme danach nur zustande, wenn sich der staatliche Wille selbst als gebunden verstehe – und nicht etwa aufgrund entsprechender Erwartungen verstehen müsse. Der Rechtsbindungswille wird damit von der moralischen Disposition des Staats abhängig; 67 er variiert auch mit der jeweiligen Rechtsordnung; im innerstaatlichen Recht ist er stärker als im Völkerrecht. 68 Im Unterschied zu natürlichen Personen ändere sich der staatliche Wille nicht situativ, sondern nur durch einen konträren Willensakt. Die Selbstbindung bleibe aber bestehen, soweit und solange der entsprechende Rechtsakt dem Staatszweck des Rechtssubjekts entspreche. 69 Worin dieser Staatszweck besteht, bleibt unklar. Einerseits bezieht Jellinek den Staatszweck (Singular) auf das Überleben des Staats als Zweck schlechthin, 70 andererseits
63 John Austin: The Province of Jurisprudence Determined, Bd. 2. London 1861, S. 177. 64 Karl V. Fricker: Noch einmal das Problem des Völkerrechts. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 34 (1878), S. 368–405, hier S. 368 f. 65 Vgl. Georg Jellinek: Die rechtliche Natur der Staatenverträge. Ein Beitrag zur juristischen Construction des Völkerrechts. Wien 1880, S. 3; einflussreicher Vertreter dieser Lehre war Albert Zorn: Grundzüge des Völkerrechts. Leipzig 2. Aufl. 1903, S. 5–9. Die philosophische Grundlage findet sich bei Georg W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin 1821, § 333. 66 Während Jellinek die Methoden der Rechtsdogmatik strikt von jenen anderer Disziplinen, insbesondere der Sozialwissenschaften, unterscheidet, war ihm an einer interdisziplinär informierten Rechtsdogmatik gelegen, die nicht im Widerspruch zu den Erkenntnissen anderer Disziplinen steht. Vgl. Georg Jellinek: System der subjektiven öffentlichen Rechte. Freiburg i. Br. 1892, S. 13–20; ders., Staatslehre (Anm. 60), S. 50– 52; dazu Jens Kersten: Georg Jellinek und die klassische Staatslehre. Tübingen 2000, S. 147–150; Kritik an Jellinek bei Christoph Möllers: Staat als Argument. München 2000, S. 14–17. 67 Jellinek (Anm. 65), S. 33, 36 f. 68 Ebd., S. 37; Martti Koskenniemi: The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960. Cambridge 2002, S. 200–206; Jochen v. Bernstorff: Georg Jellinek and the Origins of Liberal Constitutionalism in International Law. In: Goettingen Journal of International Law 4 (2012) H. 3, S. 659–675, hier S. 669–673. 69 Jellinek (Anm. 65) S. 39. 70 Ebd., S. 40.
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spricht er von Staatszwecken als vernünftigen Gründen für die Geltung einer Norm. 71 In jedem Fall könne eine Bindung nur bei unveränderten Bedingungen fortbestehen; 72 eine Sichtweise, die später von Erich Kaufmann in seiner bekannten Schrift zur clausula rebus sic stantibus aufgegriffen wurde. 73 In seinem späteren Werk zum Subjektiven öffentlichen Recht variiert bzw. ergänzt Jellinek diese Ausführungen durch eine stärker rechtsdogmatisch geprägte Herangehensweise. Grundlage der Rechtsverbindlichkeit eines strikt horizontal-koordinierend verstandenen Völkerrechts ist demnach die gegenseitige Anerkennung der Staaten. Nicht nur ihre Rechtsfähigkeit an sich beruhe darauf, sondern auch jeder objektive Rechtssatz, der als gewissermaßen freiwillige Konzession zu verstehen sei. 74 Jellinek buchstabiert die Konsequenzen für völkerrechtliche Transaktionsgeschäfte nicht im Einzelnen aus, verwahrt sich aber auch insofern nochmals gegen Privatrechtsanalogien. 75 Da die Anerkennung als Geltungsgrund des Völkerrechts aber die Gleichheit der Staaten sowie gegenseitige Achtung voraussetze, 76 lassen sich auch hieraus Grenzen der Rechtsbindung ersehen. 77 Schaut man sich die Staatenpraxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts an, so erweist sich Jellineks Rekonstruktion des Völkerrechts mitnichten als weltfremd. Diese Theorie des inhaltlich und zeitlich begrenzten Bindungswillens lag auch durchaus im machtpolitischen Interesse des Deutschen Reichs. Als „Newcomer“ unter den europäischen Industrienationen hatte es wenig zu erwarten von den Regeln des allgemeinen Völkerrechts, welche v. a. die Machtposition der bereits Etablierten zu schützen schienen. Besonders deutlich wurde dies beim Streit um die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit. 78 Stattdessen bevorzugte Bismarck eine situative Bündnispolitik. Wendet man nun diese Grenzen der völkerrechtlichen Bindungswirkung auf die Abtretung des Pergamon-Altars an, so dürften Zweifel an
71 Ebd., S. 41. 72 Ebd., S. 40 f. 73 Erich Kaufmann: Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus. Rechtsphilosophische Studie zum Rechtsstaats- und Vertragsbegriffe. Tübingen 1911. 74 Jellinek (Anm. 66), S. 299–304. 75 Ebd., S. 307. 76 Ebd., S. 302, 305. 77 Bezeichnenderweise wiederholt Jellinek am Anfang dieses Werks, S. 25, eingehend die Zweckorientierung des Staats und seiner Tätigkeit. 78 Philipp Zorn: Das Deutsche Reich und die internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Festrede, gehalten bei Übernahme des Rektorates der Universität Bonn am 18. Oktober 1910 und durch Anmerkungen erweitert. Berlin 1911, S. 22, 25.
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der für eine Verbindlichkeit notwendigen Übereinstimmung dieser Vereinbarung mit einem Staatszweck aufkommen. Zwar könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass das Osmanische Reich sich hierdurch das Wohlwollen des Deutschen Reichs sicherte und auch die Situation türkischer Flüchtlinge linderte. Doch nicht jeder einzelne Vorteil kann schon einem Jellinek’schen Staatszweck entsprechen, denn dann wäre die Verbindlichkeit durch die Vorteilhaftigkeit einer Verpflichtung bestimmt und damit ähnlich moderner Law-and-Economics-Ansätze einzig der Ausfluss staatlichen Kalküls. 79 Für Jellinek hingegen ist der Verpflichtungsgrund moralischer Art; entscheidend hierfür ist die Übereinstimmung mit objektivierten Staatszwecken. Dies erscheint fraglich, sofern das Deutsche Reich bei den in Frage stehenden Vereinbarungen eine strukturelle Unterlegenheit des Osmanischen Reichs ausgenutzt haben sollte. Hierfür bestehen in der Tat gewisse Hinweise. Angesichts der geringen Gegenleistung, die der Abtretung des letzten Drittels des Fundes zugrunde lag, könnte man vermuten, der Sultan bzw. die osmanische Regierung könnte den damaligen Wert des Pergamonaltars nicht gekannt haben. Dieser Wert ließ sich durchaus bestimmen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert gab es bereits einen Kunstmarkt für Altertümer, auf dem verschiedenste Museen sich für ihre Kollektionen eindeckten. 80 Für diesen Markt hatten besonders Ausstellungen wie die Weltausstellung 1874 in Wien oder die International Colonial and Export Exhibition 1883 in Amsterdam Bedeutung erlangt. 81 Die Abtretung des Pergamonaltars fand allerdings vor der Wirkungszeit von Osman Hamdi Bey und der Eröffnung des Kaiserlichen Museums statt. In dieser Phase wurden die gesetzlichen Regeln bezüglich des Umgangs mit Altertümern noch sehr locker gehandhabt. Dies spricht nicht unbedingt für ein Kunstverständnis der osmanischen Seite, welches der identitätskonstituierenden Bedeutung der Antike für den europäischen Imperialismus gewachsen gewesen wäre. 82 Auf der anderen Seite stellten die 20.000 Goldmark nur einen Teil der Gegenleistungen des Deutschen Reichs dar. Auf die in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang stehende diplomatische Hilfe des Deutschen Reichs auf dem Berliner Kongress wurde bereits hingewiesen. Der Frieden von Berlin traf gegenüber dem 1878 mit Russland abgeschlossenen Friedensvertrag von San Stefano eine für das Osmanische Reich deutlich
79 Jack L. Goldsmith / Eric A. Posner: The Limits of International Law. Oxford 2005. 80 H. Glenn Penny: Objects of Culture. Ethnology and Ethnographic Museums in Imperial Germany. Chapel Hill u. a. 2002, S. 57 f. 81 Ebd., S. 60. 82 Dazu eindrücklich Schalles (Anm. 52), S. 13–15; Kästner (Anm. 48), S. 333.
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günstigere Lösung, wenngleich auch diese mit Gebietsverlusten verbunden war. Jedenfalls kann ein solches Geschäft nicht ohne Berücksichtigung der damaligen wirtschaftlichen Lage des Osmanischen Reichs gewürdigt werden. Das Osmanische Reich stand damals vor einem finanziellen Scherbenhaufen. Es hatte ab 1854 im Zuge des Krimkriegs erstmals Auslandsschulden in Form von Krediten vor allem bei französischen und britischen Banken aufgenommen. Als Sicherheit für das erste Darlehen trat das Osmanische Reich die ägyptischen Tributzahlungen ab. 83 Die weiteren Kredite wurden oft von der französischen und der britischen Regierung garantiert. 84 Bereits seit 1855 versuchte eine franko-britische Kommission im Gegenzug die osmanischen Staatsausgaben zu kontrollieren, insbesondere im Hinblick auf die weit verbreitete Ansicht, der Sultan neige zur Verschwendung. 85 In der Folge stiegen die Staatsschulden rasant. Die Gründe dafür sind vielfältig; die politischen und militärischen Probleme des Osmanischen Reichs trugen ebenso dazu bei wie die zu Beginn der Auslandsverschuldung völlig überzogenen Wachstumserwartungen ausländischer Gläubiger, deren Enttäuschung, auch aufgrund von Unregelmäßigkeiten seitens eines französischen Intermediärs, zu einer rapiden Verschlechterung der Refinanzierungsbedingungen führte. 86 Umfangreiche Zollprivilegien für Europäer belasteten zusätzlich die Einnahmesituation. Das Osmanische Reich versuchte schließlich, die fälligen Raten durch neue Kredite zu decken – ein Zeichen eines finanzpolitischen Teufelskreises. 87 Als Ergebnis dieser Entwicklung konnte die Hohe Pforte seit 1875 ihre Schulden nicht mehr bedienen. 88 Dies verschlechterte die politische und wirtschaftliche Lage rapide. Sultan Abdülaziz musste zurücktreten, sein Nachfolger Murad V. hielt sich nur drei Monate auf dem Thron. Dessen Nachfolger Abdülhamit II. versuchte durch die Annahme der Verfassung von 1876 innenpolitisch und außenpolitisch Boden gut zu machen. Er sah sich aber im Folgejahr dem Angriff Russlands ausgesetzt, der die Li83 Olive Anderson: Great Britain and the Beginnings of the Ottoman Public Debt, 1854– 55. In: Historical Journal 7 (1964) H. 1, S. 47–63, hier S. 50. 84 Roger Owen: The Middle East in the World Economy 1800–1914. London u. a. 1981, S. 101. 85 Edhem Eldem: Ottoman Financial Integration with Europe. Foreign Loans, the Ottoman Bank and the Ottoman Public Debt. In: European Review 13 (2005), S. 431–445, hier S. 435. 86 Ebd., S. 436 f. 87 Owen (Anm. 84), S. 105 f.; Refiî S¸ . Suvla: Debts During the Tanzimat Period. In: Charles P. Issawi (Hrsg.): The Economic History of the Middle East 1800–1914. A Book of Readings. Chicago u. a. 1966, S. 101. 88 Christopher Clay: Gold for the Sultan. Western Bankers and Ottoman Finance, 1856– 1881. London / New York 2000.
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quidität des Reichs so sehr verschlechterte, dass es Gehaltszahlungen an seine Beamten und Offiziere schuldig blieb und mit Gelddrucken über die Runden zu kommen versuchte. Dazu drohten ausbleibende Zahlungen an inländische Gläubiger einen Kollaps des heimischen Finanzsektors zu verursachen, was erst 1879 abgewendet werden konnte. 89 1881 schließlich gelang ein Kompromiss mit den Gläubigern, der allerdings seinen Preis hatte. Mit dem Dekret von Muharram wurde mit Unterstützung der vom Ausland kontrollierten Großbanken die Ottoman Public Debt Administration eingerichtet. Im Laufe der Zeit erlangte sie umfangreiche finanzpolitische Kompetenzen und entwickelte sich immer mehr in Richtung einer Kolonialverwaltung. 90 Einem Staat in großen Schwierigkeiten pauschal die völkerrechtliche Vertragsschlussfähigkeit abzusprechen, wäre bestimmt kein aus postkolonialer Sicht begrüßenswerter emanzipatorischer Fortschritt. Doch stand das Osmanische Reich im Zeitpunkt der Vereinbarung über den Pergamonaltar finanziell, politisch und militärisch sprichwörtlich mit dem Rücken zur Wand. Man kann sich daher fragen, welches Maß der freien Willensbetätigung ihm überhaupt noch blieb. Jellineks Rekurs auf Staatszwecke versucht die Beantwortung dieser Frage zu objektivieren und mit Fragen der Moral zu verknüpfen. Ob es demnach zweckgemäß, ja vernünftig oder gar moralisch war, einzigartige Kunstschätze mit für die Herkunftsgesellschaft identitätskonstituierender Funktion 91 für kurzfristige Vorteile hinzugeben, dürfte sich aber kaum einhellig bejahen lassen. Hilfreicher erscheint eine Analogie zum modernen Staatsschuldenrecht. An der „Freiwilligkeit“, mit der sich heutige Schuldnerstaaten gegenüber Geldgebern wie dem Internationalen Währungsfonds zu Reformen verpflichten, um an frisches Geld zu kommen, kann man zweifeln. 92 Bezeichnenderweise handelt es sich bei den entsprechenden Memoranda of Understanding, die die Reformbedingungen festlegen, wozu auch der Verkauf von Staatseigentum zählen kann, nur um soft law. Die im vorhergehenden Abschnitt skizzierte Methodik deckt somit zumindest gewisse Zweifel an der von deutschen Autor*innen nahezu ein89 Eldem (Anm. 85), S. 441. 90 Suvla (Anm. 87), S. 102 f.; Owen (Anm. 84), S. 192 – 200. 91 „Was [. . .] aus mitteleuropäischer Sicht als griechisch-hellenistisch erscheinen mag, wird in der Türkei als Teil einer ägäischen Kunst verstanden, als deren Konstante die wechselseitige Durchdringung verschiedener Kulturen angesehen wird“, Jayme (Anm. 53), S. 205. Insofern kommt eine Rückgabe an Griechenland nicht in Frage. Vgl. aber Gornig (Anm. 53), S. 94. 92 Armin v. Bogdandy / Matthias Goldmann: Die Restrukturierung von Staatsschulden als Ausübung internationaler öffentlicher Gewalt. Zur Möglichkeit der inkrementellen Entwicklung eines Staateninsolvenzrechts. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 73 (2013), S. 61–104.
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hellig behaupteten Eindeutigkeit der Rechtslage zugunsten Deutschlands auf, wenngleich sich ein konkreter Rückgabeanspruch nicht bestätigen lässt. Das damalige Völkerrecht ist weder nach seinem Verpflichtungsgrad noch nach seiner Bestimmtheit mit heutigem (privaten) Vertragsrecht vergleichbar. Das eröffnet Spielraum für Verhandlungen. 93
3.2 Büste der Nofretete a) Kontext des Funds
Ägypten war seit 1517 eine Provinz des Osmanischen Reichs. Im 19. Jahrhundert bemühten sich die ägyptischen Statthalter erfolgreich um größere Autonomie von der Hohen Pforte, welche gegen hohe Tributzahlungen gewährt wurde. 94 Diesen Status behielt es bis 1914. Völkerrechtlich gesehen handelte es sich um ein halbsouveränes (suzeränes) Gebiet, dessen Herrscher, der Khedive, nur eine eingeschränkte äußere Souveränität besaß. 95 Ab 1867 verfügte der aus der Türkei stammende Khedive über eine erbliche Stellung, durfte eine Armee leiten, Darlehen aufnehmen und bestimmte Abkommen mit ausländischen Staaten abschließen. 96 Trotz der formellen Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich gelangte Ägypten de facto im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend unter britische Kontrolle. 97 Dem voraus ging eine erhebliche Staatsverschuldung. Entscheidend dafür waren sowohl die Modernisierungsbestrebungen Ägyptens als auch der kostenintensive Bau des Suezkanals, in dessen Folge Ägypten u. a. hohe Strafzahlungen an den französischen Partner leisten musste. Mit Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 brachen auch noch die Einnahmen aus dem Baumwollexport abrupt ein. 98 In der Folge verschlechterte sich die Finanzsituation rapide, so dass es zwischen 1876 und 1880 nach langwierigen, von französisch-britischen Interessengegensätzen geprägten Verhandlungen zu einer Umschuldung kam. Als Konsequenz daraus verlor 93 Auf Fragen der Verwirkung soll hier nicht eingegangen werden. Eine Verjährung kennt das Völkerrecht nicht, eine Ersitzung ist im Völkerrecht nur bei Gebietsansprüchen anerkannt. 94 Wolfgang J. Mommsen: Imperialismus in Ägypten. Der Aufstieg der ägyptischen nationalen Bewegung 1805–1956. Saarbrücken 1961, S. 9–12. 95 Lawrence (Anm. 11), S. 68; John Bassett Moore. A Digest of International Law. Washington 1906, S. 27; ähnlich Franz v. Holtzendorff: Handbuch des Völkerrechts auf Grundlage europäischer Staatspraxis. Berlin 1887, S. 100. 96 Lawrence (Anm. 11), S. 72; Moore (Anm. 95), S. 28. 97 Ebd. 98 Horst Feldmann: Internationale Umschuldungen im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Analyse ihrer Ursachen, Techniken und Grundprinzipien. Berlin 1991, S. 104–111.
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Ägypten die Kontrolle über einen Großteil seiner Staatseinnahmen und Infrastruktur. 99 Eine steigende Anzahl europäischer Beamter prägten die ägyptische Verwaltung. 100 Mitte 1882 nahm Großbritannien antieuropäische Ausschreitungen zum Anlass, Ägypten militärisch zu besetzen. 101 Seitdem entschied Großbritannien alle wesentlichen Fragen, wenn auch die ägyptische Regierung formal im Amt blieb. 102 Die internationale Kontrolle über seine Finanzen blieb bestehen. 103 Daher stand Ägypten zum Zeitpunkt der Ausgrabung und Fundteilung der Nofretete unter britischer Besatzung. Nach Art. 42 der Haager Landkriegsordnung von 1907 gilt ein Gebiet als besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet. 104 Dies gilt auch für halbsouveräne Gebiete. 105 Auf eine Kriegserklärung kam es bereits damals nicht mehr an. 106 Erst 1914 proklamierte Großbritannien ein ägyptisches Protektorat und ersetzte das Khedivat durch ein Sultanat. 107 1922 erlangte Ägypten die Unabhängigkeit. 108 Die Entdeckung der Büste der Nofretete, der Gattin des Pharaos Echnathon und mutmaßlichen Mitregentin, 109 fällt in die Zeit der Okkupation. Der Berliner Kaufmann und Mäzen der Deutschen Orientgesellschaft, James Simon, erhielt für die Jahre 1911 bis 1914 von der Altertümerverwaltung eine Grabungskonzession für den Bereich von Achet Anon. 110 Am 6. Dezember 1912 entdeckte der deutsche Archäologe Ludwig Borchardt die Büste der Nofretete in Tel el-Amarna, am Ostufer des Nil, etwa 99 100 101 102 103 104
105 106 107
108 109 110
Ebd., S. 111–121. Ebd., S. 133. Mommsen (Anm. 94), S. 76–84. David Gillard u. a.: The Ottoman Empire, Arabia and the Gulf. British Strategic Interests, 1885–1907. Maryland 1984, S. XVIII und passim. Feldmann (Anm. 98), S. 134. Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs. Anlage zum Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs v. 18. 10. 1907, deutsche Fassung unter https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19070034/index.html (aufgerufen am 10. 4. 2020). v. Liszt (Anm. 58), S. 216. Henry Wheaton: Elements of International Law. London / New York 1878, S. 355; v. Liszt (Anm. 58), S. 211; Moore (Anm. 95), S. 275. Proclamation of British Protectorate over Egypt. Message to Prince Hussein Kamel, Reference FO 891/12, vgl. Malcolm McIlwraith: The Declaration of Protectorate in Egypt and Its Legal Effects. In: Journal of the Society of Comparative Legislation 17 (1917), S. 238–259. Albert P. Blaustein / Jay Sigler / Benjamin R. Beede: Independence Documents of the World, Bd. 1. New York 1977, S. 204. Wolfgang Boochs: Streitobjekt Nofretete. Botschafterin oder Gefangene? Aachen 2012, S. 15–40. Ebd., S. 41 f.; John Harry Merryman / Albert E. Elsen / Stephen K. Urice: Law, Ethics and the Visual Arts. Alphen 5. Aufl. 2007, S. 414.
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312 Kilometer südlich von Kairo. Bei der Fundteilung wurde die Büste der Nofretete vom Inspektor der Altertümerverwaltung den Ausgräbern zugesprochen. Simon schenkte sie 1920 dem deutschen Staat. 111 Der Fund wurde erst 1924 der Öffentlichkeit präsentiert und sorgte sogleich für Spannungen mit Frankreich. Heute befindet sich die Nofretetebüste im Neuen Museum in Berlin und wird seit einigen Jahren offiziell von Ägypten zurückgefordert. b) Irrtum oder rechtsgrundloser Erwerb?
Der Erwerb der Büste kann unter zwei Gesichtspunkten in Zweifel gezogen werden. Zum einen hat die Fundteilung im Nachhinein viele Fragen aufgeworfen, zu denen hier keine neuen Erkenntnisse hinzuzufügen sind. Insofern sei im Folgenden lediglich der Stand der Forschung referiert. Das Eigentum an archäologischen Funden in Ägypten wurde bis 1912 durch einen Erlass vom 17. November 1891 geregelt, wonach alle gefundenen Objekte dem Staat gehörten und im Museum von Gizeh aufbewahrt werden sollten (Art. 2). Die Regierung konnte den Ausgräbern in Anbetracht ihrer Ausgaben einen Teil der Fundstücke überlassen (Art. 3). Dafür sollten zwei Teile von gleichem Wert zusammengestellt werden und per Los oder durch gütliche Einigung verteilt werden (Art. 4). 112 Im Vergleich zur Türkei waren die Regeln deutlich günstiger für die Ausgräber. 1912 erließen die britischen Besatzer eine neue Regelung, wonach die Funde stets in zwei genau gleiche Hälften („à moitié exacte“) geteilt werden mussten. 113 Damit sollte der bisherigen großzügigen Praxis ein Riegel vorgeschoben werden. 114 Gemäß dieser Regel fand am 20. Januar 1913 die Fundteilung in Bezug auf die Grabung statt, welche die Nofretete zum Vorschein gebracht hatte. Die Nofretete, damals als „bunter Kopf einer Prinzessin“ bezeichnet, fiel an Berlin, ein Klappaltarbild blieb im Museum in Kairo. 115 Borchardt wird vorgeworfen, er habe dem Inspektor der Altertümerverwaltung, Gustave Levèbfre, den wahren Wert der Nofretete verschleiert, da er Gips statt Kalkstein mit Putz als Material angegeben habe. Außerdem seien die Um-
111 Rolf Krauss: 75 Jahre Büste der NofretEte / Nefert-iti Berlin. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 24 (1987), S. 87–124, hier S. 94. 112 Erlass vom 17. November 1891. In: Bulletin de législation et de jurisprudence égyptienne. Répertoire permanent de législation égyptienne (1944), S. 1. 113 Gesetz Nr. 14 v. 12. 6. 1912, ebd., S. 2. 114 Boochs (Anm. 109), S. 60. 115 Bénédicte Savoy (Hrsg.): Nofretete. Eine deutsch-französische Affäre 1912–1931. Köln / Weimar / Wien 2011, S. 31.
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stände der Fundsichtung durch Levèbfre ungünstig gewesen. 116 In jedem Fall habe die Einigung zwischen Levèbfre und Borchardt nicht dem Geiste der neuen Rechtslage entsprochen. Dagegen wird eingewendet, die deutschen Ausgräber und die Altertümerverwaltung hätten sich im Vorjahr darauf geeinigt, dass die Deutschen alle Rundplastiken erhalten sollten. 117 Solche Freigiebigkeit der Altertümerverwaltung habe System gehabt und durchaus ihrem Eigeninteresse entsprochen, da sie mit jedem nach Europa gelangenden Fundstück die Hoffnung auf weitere Fördergelder verknüpft habe. Außerdem habe Gaston Maspero, der langjährige Leiter der Altertümerverwaltung, bei Fundteilungen dem sammlerischen Interesse, in sich geschlossene Funde möglichst nicht auseinanderzureißen, hohes Gewicht beigemessen. 118 Auch hätten sowohl Maspero als auch die deutschen Ausgräber ein gemeinsames Interesse gehabt, die strengen britischen Regeln zu unterlaufen; Borchardt könnte sein Verhandlungsgeschick in seinen Berichten übertrieben dargestellt haben. 119 Ob man in der Fundteilung einen Verstoß gegen die geltenden anglo-ägyptischen Rechtsvorschriften sieht oder nicht, dürfte mithin angesichts der Datenlage auf absehbare Zeit umstritten bleiben. Es gibt jedoch einen zweiten Grund, der in der derzeitigen Debatte praktisch keine Rolle spielt, aber aus völkerrechtlicher Sicht weitaus größere Zweifel an der Wirksamkeit der Verfügung über die Büste weckt. Die Frage ist, ob Ägypten durch die Altertümerverwaltung überhaupt wirksam vertreten wurde. Angesichts der britischen Besatzung könnte sie als De-facto-Organ Großbritanniens zu betrachten sein; ihre Handlungen wären Ägypten damit nicht zurechenbar. Die Rechtsverhältnisse zwischen Ägypten und der Besatzungsmacht Großbritannien sind im Besatzungsrecht der Jahrhundertwende, das auf kurzzeitige (innereuropäische) Besatzungen und baldige Wiederherstellung der Souveränität des besetzten Lands ausgerichtet war, nicht im Ein-
116 Kurt G. Siehr: The Beautiful One Has Come – To Return. The Return of the Bust of Nefertiti from Berlin to Cairo. In: John H. Merryman (Hrsg.): Imperialism, Art and Restitution. Cambride 2006, S. 114–134, hier S. 118. Im Jahr 2009 wurden Dokumente der Deutschen Orientgesellschaft bekannt, die diese Sicht bestätigen sollen: https://www.spiegel.de/international/world/archaeological-controversy-didgermany-cheat-to-get-bust-of-nefertiti-a-606525.html (aufgerufen am 10. 1. 2020). Für eine genaue Dokumentation der Ereignisse siehe F. Seyfried: Die Büste der Nofretete. Dokumentation des Fundes und der Fundteilung 1912/1913. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 46 (2010), S. 133–202. 117 Susanne Voß/Cornelius v. Pilgrim: Ludwig Borchardt und die deutschen Interessen am Nil. In: Trümpler (Anm. 48), S. 294–305, hier S. 300. 118 Savoy (Anm. 115), S. 19–22. 119 Ebd., S. 32.
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zelnen geregelt. Eine langanhaltende militärische Besetzung war in der Regel durch die wenigen auf den Akt der Okkupation sowie den Umgang mit Kolonien und Schutzgebieten bezogenen Rechtssätze geregelt. Ägypten wurde erst 1914 britisches Protektorat; die Okkupation zum Gebietserwerb bzw. zur Einrichtung eines Schutzgebiets wurde damals bereits deutlich von der Okkupation im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen unterschieden. 120 Ägypten blieb damit formal bis 1914 ein suzeräner, tributpflichtiger Teil des Osmanischen Reichs mit einem hohen Maß an innen- und außenpolitischer Eigenständigkeit. Die Altertümerverwaltung war formal eine ägyptische Behörde. Über die Zurechnung ihrer Maßnahmen, und insbesondere die Auswirkungen des Einflusses der Besatzungsmacht hierauf, traf das damalige Besatzungsrecht keine Bestimmungen. Artikel 43 der Haager Landkriegsordnung verpflichtet die Besatzungsmacht lediglich zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung möglichst unter Beachtung der Landesgesetze. Diese Regelungslücke lässt sich allerdings im Einklang mit der damaligen Rechtslage durch Rekurs auf den einer späteren Epoche entstammenden Begriff des De-facto-Organs füllen. Danach besteht Einigkeit darüber, dass Handlungen eines Staatsorgans demjenigen Land zuzurechnen sind, unter dessen Kontrolle es steht. 121 Nicht restlos geklärt ist das hierfür erforderliche Maß an Kontrolle des Staats, dem die Handlungen zugerechnet werden. 122 Die äußerste Grenze hierfür bildet der dem völkerrechtlichen Deliktsrecht zuzuordnende „effective control“-Standard, den der Internationale Gerichtshof in seiner Nicaragua-Entscheidung entwickelt hat. 123 Im Kontext der damaligen Entscheidung war damit die Frage gemeint, ob die Vereinigten Staaten die Möglichkeit hatten, die Kampfeinsätze der Contras zu steuern. Der Kontext einer mit der Fundteilung beauftragten Altertumsbehörde ist denkbar anders. Palchetti schlägt daher unter Ver-
120 Okkupation als Form der Eingliederung wurde oft als rechtliche Grundlage für die Erwerbung von Kolonien benutzt. „All territory not in the possession of states who are members of the family of nations and subjects of International Law must be considered as technically res nullius and therefore open to occupation. The rights of the natives are moral, not legal. International Law knows nothing of them, though International Morality demands that they be treated with consideration.“ Lawrence (Anm. 11), S. 146. 121 Paolo Palchetti: De facto Organs of a State. In: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.): Max Planck Encyclopedia of Public International Law 2 (2012), S. 1048–1052. 122 Ebd., Randnummer 9. 123 International Court of Justice: Military and Paramilitary Activities in and Against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America). Jurisdiction of the Court and Admissibility of the Application, 26. 11. 1984, https://www.icj-cij.org/public/files/ case-related/70/070-19841126-JUD-01-00-EN.pdf (aufgerufen am 15. 1. 2020), S. 14, Randnummer 115.
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weis auf Art. 4 Abs. 2 der Artikel betreffend die Staatenverantwortlichkeit vor, auf die Rolle einer Behörde im staatlichen Gefüge einzugehen. 124 Er geht dabei davon aus, dass die rechtliche Zuordnung einer Behörde zu Ägypten oder Großbritannien außer Frage steht. Das ist vorliegend aber genau das Problem; entscheidend dürfte insofern eher sein, welches Maß an Kontrolle Großbritannien über die Altertümerverwaltung ausübte bzw. für eine erfolgreiche Zurechnung ausüben musste. Ohne diese Frage hier restlos klären zu können, erscheint es plausibel, die Handlungen der Altertümerverwaltung Großbritannien zuzurechnen, wenn es gleich einer Kolonialmacht die wesentlichen personellen, institutionellen und materiellen Entscheidungen traf. Diese Voraussetzung scheint erfüllt zu sein. Die ägyptische Altertümerverwaltung (Service des Antiquités d’Egypte) wurde auf Initiative einzelner Franzosen 1858 von Ägypten als eine unmittelbar dem Khediven unterstehende Behörde gegründet. 125 Sie befand sich seitdem und noch bis 1952 unter der Leitung von Franzosen im ägyptischen Staatsdienst. 126 Die Krise der ägyptischen Staatsfinanzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festigte den französischen Einfluss auf die Behörde. 127 Seit 1879 teilten sich französische und britische Beamte effektiv die Kontrolle der ägyptischen Verwaltung. Der Antikendienst unterstand seitdem dem Ministère des Travaux Publics, welches wiederum von einem Franzosen geleitet wurde. 128 Diese Verhältnisse wandelten sich allerdings mit dem Beginn der britischen Besatzung, welche den französischen Einfluss auf die ägyptische Regierung mit Ausnahme der Altertümerverwaltung weitgehend zurückdrängte. 129 Doch die Vorgänge in Zusammenhang mit der abermaligen Installation von Maspero als Leiter der Altertümerbehörde im Jahr 1899 stellen den britischen Einfluss unter Beweis. Um die Altertümerbehörde ihrer Kontrolle zu unterwerfen, erwog der britische Generalkonsul Cromer, Ludwig Borchardt zu ihrem Leiter zu ernennen. Nach französischer Intervention bestimmte er zwar Maspero erneut zum Leiter. 130 Jedoch schuldete Maspero in der Folge große Rücksichtnahme auf britische Inter-
124 Palchetti (Anm. 121), Randnummer 10. 125 Elisabeth David: Der Antikendienst vor 1914. In: Trümpler (Anm. 48), S. 495–503, hier S. 497. 126 Savoy (Anm. 115), S. 12. 127 Éric Gady: L’archéologie de l’Égypte antique pendant la période coloniale de l’occupation britannique à la découverte du tombeau de Toutankhamon. In: Les nouvelles de l’archéologie 126 (2011), S. 47–50, Randnummer 3. 128 David (Anm. 125), S. 499. 129 Ebd., S. 500 f. Das britische Interesse an der Ägyptologie war jedoch zunächst vergleichsweise gering. 130 Voss / v. Pilgrim (Anm. 117), S. 296.
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essen. 131 Aus den Berichten von Zeitzeugen geht hervor, dass die Leitung der Altertümerverwaltung effektiv von Cromer kontrolliert wurde; gelegentlich gelang es anderen europäischen Regierungen, durch Interventionen in London die Dinge in ihrem Sinne zu bestimmen. 132 Die Entente cordiale von 1904 garantierte schließlich Frankreich zwar die Leitungsposition der Altertümerverwaltung, 133 doch war es von da an Masperos Aufgabe, ein fragiles Gleichgewicht unter den verschiedenen europäischen Mächten in diesem Bereich aufrecht zu erhalten. Darin soll er als international geschätzter Wissenschaftler durchaus erfolgreich gewesen sein. Die großzügige Befriedigung der Interessen ausländischer Grabungsunternehmungen war insofern auch ein Weg zur Sicherung der französischen Vormachtstellung. 134 Das Ausland zeigte sich erkenntlich und überhäufte Maspero mit Ehrungen. Der zumindest in der Theorie strengere Erlass von 1912 reagierte auf diese nach Ansicht des neuen britischen Generalkonsuls Kitchener zu freigiebige Praxis Masperos. 135 Wie auch immer sich das Kräftemessen zwischen Frankreich und Großbritannien um die Kontrolle der Altertümer dargestellt haben mag, ist eines sicher: Ägypten spielte dabei keine Rolle. Die Konkurrenz europäischer Mächte ließ für ägyptische Interessen keinen Platz. 136 Maspero war nicht daran interessiert, Ägypter in leitender Funktion in die Ausgrabungen einzubeziehen, denen er die erforderliche Kompetenz und das Interesse daran absprach. 137 Als Ägypten seine Unabhängigkeit erlangte, gab es daher nur einen einzigen namhaften ägyptischen Archäologen – und das, obwohl der ägyptische Gouverneur Muhammad Ali Pascha bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erste Maßnahmen zur Sicherung des kulturellen Erbes getroffen hatte. 138
131 Zur französisch-britischen Konkurrenz um die Führerschaft der Altertümerverwaltung vgl. Gady (Anm. 127), Randnummer 9. 132 Vgl. das Tagebuch von George A. Reisner, insbesondere den Eintrag vom 8. 12. 1913 mit einem Bericht über die Bestimmung Borchardts zum Nachfolger von Bissing als Mitglied des Komitees für Archäologie auf Geheiß von London und gegen den Willen von Cromer, http://giza.fas.harvard.edu/diarypages/3316/full/ (aufgerufen am 27. 3. 2021). 133 David (Anm. 125), S. 502. 134 Ebd., S. 500; Savoy (Anm. 115), S. 22 f. 135 Ebd., S. 24. 136 Susanne Voss: Die Geschichte der Abteilung Kairo des DAI im Spannungsfeld deutscher politischer Interessen, Bd. 1: 1881–1929. Rahden 2013; Maximillian Georg: La recherche commune d’une civilisation ancienne. Archéologues allemands, archéologues français et leurs ouvriers indigènes en Égypte, 1899–1914. In: Francia 42 (2015), S. 185–206. 137 Savoy (Anm. 115), S. 17; Gady (Anm. 127), Randnummer 5. 138 Ebd., Randnummer 13.
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Es scheint unter diesen Umständen ausgeschlossen, die Maßnahmen der Altertümerverwaltung Ägypten zuzurechnen. Die Grabungserlaubnis und Fundteilung sind vielmehr Großbritannien als Besatzungsmacht zuzurechnen und nach dem völkerrechtlichen Besatzungsrecht zu beurteilen. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Besatzungsmacht bereits zum Schutz des kulturellen Erbes des besetzten Lands verpflichtet. 139 Das Beuterecht des Siegers, welches noch im frühen 19. Jahrhundert weithin anerkannt gewesen war, war seit der Mitte des Jahrhunderts aufgrund der traumatischen Erfahrungen, welche die von Plünderungen und Konfiskationen durchzogenen Napoleonischen Kriege hinterlassen hatten, nach und nach zurückgedrängt worden. 140 Die nunmehrige Verpflichtung der Besatzungsmacht auf den Erhalt des kulturellen Erbes kann man als Ausfluss des im Entstehen begriffenen Selbstbestimmungsrechts der Völker deuten. 141 Maßgeblich dafür war bereits die auf Initiative des Zaren erfolgte Erklärung der Brüsseler Konferenz von 1874. 142 Zum Zeitpunkt der Entdeckung der Büste galt zudem die im Jahr 1910 in Kraft getretene Haager Landkriegsordnung, zu deren Vertragsstaaten Großbritannien und das Deutsche Reich zählten. 143 Die Ordnung gleicht den Schutz jedweden öffentlichen Eigentums dem bereits gewohnheitsrechtlich geltenden und in den Artikeln 46 und 47 der Landkriegsordnung umfassend kodifizieren Schutz des Privateigentums an. Insofern bestimmt Artikel 55 die Besatzungsmacht lediglich zum „Verwalter und Nutznießer“ des öffentlichen Eigentums und verpflichtet sie dazu, den Bestand des öffentlichen Eigentums zu erhalten. Artikel 56 Abs. 2 der Landkriegsordnung bekräftigt das gewohnheitsrechtliche Verbot der Beschlagnahme oder Zerstörung von geschichtlichen Denkmälern. Aus dem Zusammenspiel dieser Vorschriften lassen sich Regeln für den Umgang mit nicht ausgegrabenen Kulturgütern entnehmen. Während es zum Schutz 139 v. Liszt (Anm. 58), S. 229; auch in: Heffter (Anm. 11), S. 132; Doris A. Graber: The Development of the Law of Belligerent Occupation 1863–1914. A Historical Survey. New York 1949, S. 201. 140 Johann Casper Bluntschli: Das Beuterecht im Krieg und das Seebeuterecht insbesondere. Eine völkerrechtliche Untersuchung. Nördlingen 1878, S. 62–64, 71–76. Siehe auch Gustav Däniker: Der Schutz des feindlichen Privateigentums im Landkrieg. Zürich 1922, S. 32–40; Roger O’Keefe: The Protection of Cultural Property in Armed Conflict. Cambridge 2006, S. 13. 141 Stephan Turner: Die Zuordnung beweglicher Kulturgüter im Völkerrecht. In: Wilfried H. Fiedler (Hrsg.): Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage. Völkerrechtliche Probleme der Auslagerung, Zerstreuung und Rückführung deutscher Kulturgüter nach dem Zweiten Weltkrieg. Berlin 1991, S. 21–106, hier S. 60; Christoff Jenschke: In Kriegen erbeutet. Zur Rückgabe geraubter Kulturgüter im Völkerrecht. In: Osteuropa 56 (2006), S. 361–370. 142 Wayne Sandholtz: Prohibiting Plunder. How Norms Change. Oxford 2007, S. 88 f. 143 Wie Anm. 104.
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des öffentlichen Eigentums geboten erscheint, dass die Besatzungsmacht Grabräubern das Handwerk legt, darf dies nicht darauf hinauslaufen, Ausgrabungen im vermeintlichen Interesse des besetzten Lands so durchzuführen, dass unter Umgehung des Beschlagnahmeverbots die Filetstücke der Grabungsfunde außer Lands gebracht werden. Überhaupt hat nach Artikel 43 der Landkriegsordnung die Besatzungsmacht unter Beachtung lokaler Gesetze die lokalen Behörden zu unterstützen, nicht umgekehrt. Nach Maßgabe dieser Vorschriften erscheint es plausibel, dass Großbritannien seine Pflicht zum Schutz des kulturellen Erbes Ägyptens durch die von dem Besatzungsregime gebilligte Grabungs- und Fundteilungspraxis seitens der Altertümerverwaltung verletzt hat. Etwaige Kompetenzüberschreitungen des formal ägyptischen, de facto aber britischen Beamten Maspero und seiner Behördenvertreter muss sich Großbritannien nach allgemeinen völkerrechtlichen Regeln zurechnen lassen. 144
3.3 Kunst- und Kulturgut aus Südwestafrika a) Rechtlicher Status Südwestafrikas
Die Hintergründe der deutschen Kolonialpolitik sind mittlerweile gut erforscht. Eine Gemengelage an wirtschaftlichen, militärischen und demografischen Faktoren und Interessen führte dazu, dass sich das junge Deutsche Reich ab 1884 auf ein äußerst blutiges koloniales Abenteuer einließ. 145 Südwestafrika war das erste Schutzgebiet, auf das Deutschland ab 1884 Anspruch erhob, indem Bismarck die Landerwerbungen des Bremer Kaufmanns Lüderitz unter den Schutz des Reichs stellte. Weitere Schutzverträge und Landerwerbungen folgten, doch noch bis zur Jahrhundertwende begnügte sich Deutschland mit einer gemessen an den geografischen Dimensionen Südwestafrikas bescheidenen militärischen und administrativen Präsenz, wodurch es vom Wohlwollen der traditionellen Gemeinschaften und ihrer Anführer abhing. 146 Demgegenüber schränkte der Landerwerb von privater und öffentlicher Seite der Kolonialmacht die lokale Bevölkerung zusehends ein. 147 Er bediente sich aller möglichen legalen und illegalen Mittel und vollzog 144 Vgl. heute Artikel 7 der Artikel betreffend die Staatenverantwortlichkeit, United Nations General Assembly Resolution 56/83 vom 12. Dezember 2001. 145 Hans-Ulrich Wehler: Bismarck und der Imperialismus. Köln 1969. 146 Helmut Bley: Namibia under German Rule. Münster 1996, S. 46–49. 147 Vgl. Markus J. Jahnel: Das Bodenrecht in „Neudeutschland über See“. Erwerb, Vergabe und Nutzung von Land in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, 1884–1915. Berlin 2009; Goldmann (Anm. 24).
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sich teils durch Kauf, häufig aus der Not heraus, weil lokale Anführer in eine Schuldenfalle geraten waren, teils durch Deklaration von vermeintlich herrenlosem Land zu „Kronland“, teils durch kriegerische Auseinandersetzungen. Die Verknappung des Lands für die einheimische Bevölkerung bildet einen wesentlichen Faktor für den Ausbruch einer kriegerischen Auseinandersetzung von 1904 bis 1907, in deren Verlauf das Deutsche Reich einen Genozid an indigenen Bevölkerungsgruppen verübte. 148 Dies mündete in die weitgehende Konfiskation des verbliebenen indigenen Lands und bedeutete für die überlebende Bevölkerung zumeist die Gefangenschaft in Konzentrationslagern mit niedriger Überlebenschance. Nach offizieller heutiger deutscher Lesart handelt es sich bei allen Vorgängen ab dem Jahr 1884 um rein innerdeutsche Angelegenheiten. 149 Zwar war Südwestafrika aufgrund der Bestimmungen der Reichsverfassung kein Teil des Reichsgebiets geworden. Dies hatte jedoch nur zur Konsequenz, dass die Verfassung dort nicht galt; es stand fraglos unter der Herrschaft des Reichs. Die völkerrechtliche Legitimation der deutschen Herrschaft wurde in der damaligen Zeit durchaus kontrovers diskutiert. 150 Im Rückblick verschwimmen jedoch diese Differenzen. Es wird nahezu ausnahmslos angenommen, Deutschland habe Südwestafrika durch Okkupation erworben. 151 Nach dieser völkerrechtlichen Doktrin konnten Staaten herrenlose Gebiete besetzen und sich einverleiben. 152 Als „herrenlos“ galt 148 Joachim Zeller / Jürgen Zimmerer (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen. Berlin 2003. 149 Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste: Ausarbeitung: Der Aufstand der Volksgruppen der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904– 1908). Völkerrechtliche Implikationen und haftungsrechtliche Konsequenzen (BT WD 2 3000–112/16), 27. 9. 2016, https://www.bundestag.de/resource/blob/ 478060/28786b58a9c7ae7c6ef358b19ee9f1f0/wd-2-112-16-pdf-data.pdf (aufgerufen am 20. 1. 2020), S. 10, 14. Ausführlich zum Folgenden: Goldmann (Anm. 20). 150 Friedrich Schack: Das deutsche Kolonialrecht in seiner Entwicklung bis zum Weltkriege. Hamburg 1923, S. 87–131; Norbert Berthold Wagner: Die deutschen Schutzgebiete. Erwerb, Organisation und Verlust aus juristischer Sicht. Baden-Baden 2002, S. 104–122. Während sich in der deutschen Völkerrechtsliteratur rein zahlenmäßig eine Präferenz für die Okkupation abzeichnet, setzte die französische Völkerrechtslehre zur selben Zeit auf Gebietserwerb durch Vertrag, vgl. Charles Salomon: L’occupation des territoires sans maître. Etude de droit international (1889), ND Vanves 2012. 151 Jörn A. Kämmerer / Jörg Föh: Das Völkerrecht als Instrument der Wiedergutmachung? Eine kritische Betrachtung am Beispiel des Herero-Aufstandes. In: Archiv des Völkerrechts 42 (2004), S. 294–328, hier S. 306; Steffen Eicker: Der DeutschHerero-Krieg und das Völkerrecht. Frankfurt a. M. 2009; Tania Fabricius: Aufarbeitung von in Kolonialkriegen begangenem Unrecht. Anwendbarkeit und Anwendung internationaler Regeln des bewaffneten Konflikts und nationalen Militärrechts auf Geschehnisse in europäischen Kolonialgebieten in Afrika. Berlin 2017, S. 199 f. 152 Andrew Fitzmaurice: Sovereignty, Property and Empire, 1500–2000. Cambridge 2014, S. 215–216; Jörg Fisch: Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die
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jedes Territorium, das nicht den Jellinek’schen Kriterien der souveränen Staatlichkeit entsprach, also kein geschlossenes Gebiet mit einer unter einheitlicher Herrschaft stehenden Bevölkerung bildete. 153 Wendet man diese Kriterien unvoreingenommen an, kann man selbst ohne eine von postkolonialer Theorie motivierte Interpretation ihrer Bedeutung bezweifeln, dass Südwestafrika damals herrenlos war. Die herrschende deutsche Lesart übersieht den von der Globalisierung des Industriezeitalters und dem Kolonialismus getriebenen, tiefgreifenden Wandel der dortigen gesellschaftlichen Strukturen. Statt nomadischer Clans bildeten sich größere, personell zunehmend konsolidierte Verbände mit zum Teil gewaltigem Viehbestand, stratifizierten Herrschaftsstrukturen mit administrativer Organisation sowie einem durch feste Orte verankerten Territorialbezug, wenngleich die Grenzen ständigen Aushandlungsprozessen unterlagen. 154 Stellvertretend für viele Indizien sei hierfür nur hingewiesen auf die Vita der Anführer der Orlam Jonker Afrikaner (|Hara-mûb), den Gründer Windhoeks, oder Hendrik Witbooi (ǃNanseb |Gabemab), dessen Journale heute eine Quelle von unschätzbarem Wert über das präund frühkoloniale Südwestafrika bilden, 155 oder Maharero Tjamuna, der Paramount Chief der Herero und langjähriger Gegenspieler Jonker Afrikaners. Sie als Nomaden ohne Herrschaft, Volk oder Gebiet abzutun perpetuiert lediglich die Ignoranz der damaligen Kolonist*innen. Ob Staaten zu ihrer völkerrechtlichen Anerkennung auch noch als „zivilisiert“ gelten mussten, ist aus heutiger Sicht irrelevant. 156 Damit muss davon ausgegangen werden, dass die deutsche Herrschaft über Südwestafrika sich lediglich auf Schutzverträge von konstitutiver Bedeutung stützen konnte, die das Reich mit einheimischen Anführern abgeschlossen und an deren inhaltliche Grenzen es gebunden war. Soweit keine Verträge abgeschlossen wurden, war die deutsche Präsenz wahrscheinlich völkerrechtswidrig.
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Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1984, S. 287–290. Jellinek (Anm. 60), S. 173. Dag Henrichsen: Herrschaft und Alltag im vorkolonialen Zentralnamibia. Das Herero- und Damaraland im 19. Jahrhundert. Basel / Windhoek 2011; Reinhart Kößler: Streben nach Heimat und Freiheit. Zur Territorialisierung von Ethnizität in Südund Zentralnamibia. In: Peripherie 27 (2007), S. 393–410; Theo Sundermeier: Die Mbanderu. Studien zu ihrer Geschichte und Kultur. Gütersloh 1977. Hendrik Witbooi / Wolfgang Reinhard (Hrsg.): Afrika den Afrikanern! Aufzeichnungen eines Nama-Häuptlings aus der Zeit der deutschen Eroberung Südwestafrikas 1884 bis 1894. Rostock 1982. S. o. Text vor Anm. 27.
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b) Die Säule von Cape Cross
Auf der Suche nach einer Route nach Indien errichteten portugiesische Eroberer zwischen 1480 und 1520 steinerne Kreuze an strategische Orten entlang der afrikanischen Küste zwischen Kongo und Südafrika. 157 Die Steinkreuze, auch Padrões genannt, dienten als Besitzzeichen, dass die Gebiete Teil des portugiesischen Kaiserreichs waren, als Landmarke für später vorbeifahrende Schiffe und als Symbol des Christentums. 158 Im Jahr 1486 wurde eine Wappensäule mit Kreuz von dem portugiesischen Seefahrer Diogo Cão auf der heute Kreuzkap genannten Stelle in Namibia errichtet. 159 1893 wurde die Säule von deutschen Seefahrern abgebaut und zwei Jahre später durch eine Nachbildung ersetzt. Auf der Nachbildung befinden sich Reproduktionen der originalen lateinischen und portugiesischen Inschriften sowie das portugiesische Wappen. Zusätzlich wurden ein Reichsadler und eine Inschrift auf Deutsch eingemeißelt. 160 Die originale Säule kam 1893 zunächst nach Kiel, gelangte 1901 in das Berliner Museum für Meereskunde und 1952 schließlich ins Museum für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin, das im Deutschen Historischen Museum aufgegangen ist. 161 Die Säule von Cape Cross stellt eines der wenigen erhaltenen Zeichnen frühkolonialer Beziehungen Namibias dar und hat dementsprechend eine besondere historische Bedeutung. 162 Namibia hat schon 1990 eine Rückgabe gefordert. Im Juni 2017 gab es eine weitere offizielle Rückgabeforderung, die die Bundesregierung akzeptierte. Das Museum beschloss im Mai 2019, die Säule an die namibische Regierung zurückzugeben; 163 die Restitution folgte im November 2019. 157 Wilhelm Kalthammer: Die Portugiesenkreuze in Afrika und Indien. Eine umfassende Darstellung aller von den portugiesischen Entdeckern Diogo Cão, Bartolomeo Dias und Vasco da Gama errichteten Steinkreuze (Padrões), deren Geschichte und deren Nachbildungen. Basel 1984, S. 9. Vgl. auch den Beitrag von Lukas Meyer im vorliegenden Band. 158 Dawid W. Krynauw: Das Kreuzkap. Windhoek 1970, S. 13. 159 Ernst G. Jacob: Das portugiesische Kolonialreich. Leipzig 1940, S. 9. 160 Kalthammer (Anm. 157), S. 36. 161 Deutsches Historisches Museum: Die Wappensäule von Cape Cross, https://www.dhm. de/blog/2018/06/06/geschichten-aktuell-die-wappensaeule-von-cape-cross-drei-laender-drei-geschichten-eine-vergangenheit/ (aufgerufen am 15. 2. 2021). 162 Birgit Rieger: Die Säule von Cape Cross geht zurück nach Namibia. In: Tagesspiegel, 17. 5. 2019, https://www.tagesspiegel.de/kultur/rueckgabe-von-kolonialobjekt-diesaeule-von-cape-cross-geht-zurueck-nach-namibia/24355024.html (aufgerufen am 15. 1. 2020). 163 Pressemitteilung des Deutschen Historisches Museums vom 17. 5. 2019, https://www. dhm.de/fileadmin/medien/relaunch/presse/presseinformationen/Pressemeldungen_
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In Zusammenhang mit der letzten Rückgabeforderung 2017 organisierte das Deutsche Historische Museum ein Symposium, das sich mit der Frage der Restitution kolonialer Objekte im Allgemeinen und der Säule im Besonderen beschäftigte. Unter anderem wurde über die Gründe für eine Restitution diskutiert und die Ansicht wiederholt, dass das geltende Recht aufgrund des intertemporalen Prinzips keine Lösungen biete. 164 Daran sind Zweifel angebracht. Die Säule von Cape Cross wurde weder gekauft noch wurde sie von der lokalen Bevölkerung in irgendeiner Weise überlassen. Cape Cross (Kreuzkap) liegt in einem ariden, extrem dünn besiedelten Abschnitt der Skelettküste, der im 19. Jahrhundert jedoch von den Nama genutzt wurde. 165 Das betroffene Territorium wurde in kolonialer Zeit als Eigentum der Deutschen Gesellschaft für Südwestafrika (DGSWA) dargestellt, die insoweit ihre Rechte auf den Vertrag vom 19. Juni 1885 zwischen Lüderitz und dem Nama-Kapitän Cornelius Zwartboy stützte. 166 Danach verkaufte Zwartboy Lüderitz ein riesiges Gebiet an der namibischen Westküste vom Omaruru-Fluss etwas nördlich von Swakopmund bis zum Kunene, dem heutigen Grenzfluss zwischen Namibia und Angola. Dass das verkaufte Territorium nicht unter der Herrschaft bzw. im Eigentum von Zwartboy stand, zeigt sich schon daran, dass sich der TopnaarAnführer Jan Uixamab kurze Zeit später dem Vertrag zwischen Lüderitz und Zwartboy „anschloss“. Auch der Kaiserliche Kommissar Göring meldete Bedenken und wies auf Besitzungen der Herero und Bergdamara hin. Dazu kommen generelle Zweifel an der Gültigkeit solcher Verträge, die auch schon zur Zeit ihres Abschlusses u. a. unter Hinweis auf den für die Einheimischen fremden europäischen Eigentumsbegriff sowie das offensichtliche Missverhältnis zwischen den jeweiligen vertraglichen Leistungen erhoben wurden. 167 Es ist damit davon auszugehen, dass die DGSWA Teile des betroffenen Gebiets nicht wirksam erworben hat, da weder Zwartboy noch Uixamab wirksam darüber verfügen konnten. Darüber hinaus ist der Inhalt und Umfang der vertraglichen Abtretungen lange umstritten. Dies mag mit der Formulierung in dem hier
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2019/190517_PM_Rueckgabe_Die_Saeule_von_Cape_Cross_DHM.pdf (aufgerufen am 15. 1. 2020). Vgl. Schönberger (Anm. 3). Felix Schürmann: Der graue Unterstrom. Walfänger und Küstengesellschaften an den tiefen Stränden Afrikas (1770–1920). Frankfurt a. M. 2017, S. 98 – 103. Hermann Hesse: Die Landfrage und die Frage der Rechtsgültigkeit der Konzessionen in Südwestafrika. Ein Beitrag zur wirtschaftlichen und finanziellen Entwickelung des Schutzgebietes, Bd. 2. Jena 1906, S. 202 f. Vgl. aus Sicht der Kolonisten Herbert Jäckel: Die Landgesellschaften in den deutschen Schutzgebieten. Denkschrift zur Kolonialen Landfrage. Jena 1909, S. 31 – 37.
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interessierenden Vertrag mit Zwartboy zusammenhängen, wonach sich Letzterer „[seine] und seines Volkes Privatrechte“ vorbehielt. 168 Vergleichbare Klauseln finden sich in anderen Verträgen der DGSWA. Sie führen eine Unterscheidung ein, die ambivalent bleibt – entweder wird damit zwischen Privateigentum und Gemeinschaftseigentum, oder aber zwischen Privateigentum und öffentlicher Herrschaft differenziert. Die Reichsregierung ging in einem Schreiben von 1887 anscheinend davon aus, dass Lüderitz bzw. die DGSWA auch hoheitliche Rechte erworben habe 169 – eine Ansicht, die sie 1883 in Bezug auf Lüderitz’ ersten Vertrag mit Joseph Fredericks noch ganz anders beurteilte. 170 Überwiegend wurde zu Kolonialzeiten allerdings davon ausgegangen, dass die DGSWA nur das Privateigentum erwarb, das Reich also unbeschadet der Verträge mit den Anführern traditioneller Gemeinschaften die Gebietsherrschaft durch Okkupation oder Schutzverträge erwerben musste. 171 Ein Schutzvertrag wurde mit Zwartboy oder Uixamab soweit ersichtlich vom Reich aber nicht abgeschlossen. 172 Da die rechtmäßige Okkupation als Erwerbsgrund ausscheidet, ist die deutsche Herrschaft über Cape Cross als völkerrechtswidrig einzustufen. Das Deutsche Reich hatte keine Befugnis, sich die Säule von Cape Cross durch einen wie auch immer gearteten Akt öffentlicher Gewalt einzuverleiben. Dass die Rückgabe der Säule auch ohne Bewusstsein einer rechtlichen Pflicht erfolgte, ist erfreulich, weist dies doch zugleich den Einwand zurück, die Säule stelle kein Kulturgut Namibias dar, weil sie von Portugiesen errichtet worden sei. Denn die Säule hat sehr wohl Bedeutung als Symbol für koloniales Unrecht, das auch in der heutigen namibischen Gesellschaft zum Verständnis der eigenen Geschichte beitragen und insoweit identitätsstiftende Funktion entfalten kann. 173
168 Hesse (Anm. 167). 169 Karl v. Stengel: Die deutschen Schutzgebiete, ihre rechtliche Stellung, Verfassung und Verwaltung. München u. a. 1895, S. 149. 170 Wagner (Anm. 150), S. 70 f. 171 Hesse (Anm. 167), S. 82–85; Jäckel (Anm. 168), S. 32. 172 Hermann Hesse: Die Schutzverträge in Südwestafrika. Ein Beitrag zur rechtsgeschichtlichen und politischen Entwicklung des Schutzgebietes. Jena 1905, S. 9. 173 Lukas Meyer: „Gerechtigkeit in der Zeit. Normative Überlegungen zur Rückforderung von Objekten aus der Kolonialzeit. Vortrag auf dem Symposium „Die Säule von Cape Cross“ im Deutschen Historischen Museum“, 7. 6.2018, https://www.youtube. com/watch?v=RO2Z-VfGnig&list=PLh9k12uREKY30vmNT_BxBeqinHULP4pAQ (aufgerufen am 20. 1. 2020). Vgl. den Beitrag von Meyer im vorliegenden Band.
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c) Witbooi-Bibel und Peitsche
Die Bibel und Peitsche von Hendrik Witbooi wurden 1893 beim Massaker von Hornkranz von deutschen Truppen erbeutet. Einen Schutzvertrag schloss Witbooi mit dem Reich erst im Jahr 1894 ab. 174 1902 erhielt das Stuttgarter Linden-Museum beide Objekte als Schenkung. 2013 hat die namibische Regierung das Land Baden-Württemberg offiziell um Rückgabe ersucht, welche im Februar 2019 auf Beschluss der Landesregierung erfolgte. Obwohl die Restitution schon stattgefunden hat, ist die Frage nach der Rechtslage nicht gelöst und könnte für weitere Objekte Relevanz entfalten. Insofern stellt sich wiederum die Frage, welchem Statut das betroffene Gebiet zum Zeitpunkt des Massakers von Hornkranz unterlag. Sofern man mit dem überwiegenden Teil der Lehre davon ausgeht, dass das Gebiet damals von Deutschland okkupiert war, ist auf das Privatrecht zu rekurrieren. Während das Reich das Eigentum an unbeweglichen Sachen in den Schutzgebieten explizit regelte, 175 blieb der Status beweglicher Sachen ungeregelt. Grundsätzlich galten insofern unterschiedliche Rechtsregime für „Weiße“ und „Nichtweiße“. 176 Für gemischte Rechtsbeziehungen wird vertreten, dass das Recht der einheimischen traditionellen Gemeinschaften (Nichtweißen) als lex rei sitae gelte, solange es nicht explizit derogiert worden sei. Wenn allerdings das deutsche Recht günstiger sei, sei dieses anzuwenden. 177 Der damalige Stand des lokalen Rechts der einheimischen traditionellen Gemeinschaften lässt sich nur schwer ermitteln. Wenn man aber aufgrund der Günstigerprüfung die Geltung deutschen bzw. preußischen Rechts annimmt, war die Wegnahme rechtswidrig. Selbst wenn das Reich aufgrund der Auseinandersetzung Forderungen gegenüber Henrik Witbooi gehabt hätte, hätten die Schutztruppen ihm nach dem Preußischen Allgemeinen Landrecht (§§ 22 ff.) nicht einfach Gegenstände in seinem Eigentum wegnehmen dürfen. Eine formale Enteignung fand nicht statt. Insoweit stellt sich allerdings die Frage der Verjährung, zumindest für den Zeitraum ab der Unabhängigkeit Namibias, die die Geltendmachung solcher Ansprüche überhaupt erst effektiv ermöglichte. Folgt man aber der hier vertretenen Ansicht und lehnt eine Okkupation ab, so war Witbooi bis zum Abschluss des Schutzvertrags als gegnerische
174 175 176 177
Hesse (Anm. 173), S. 48. v. Stengel (Anm. 170), S. 186–188. Jahnel (Anm. 147), S. 90 – 96. Louis Pink / Georg Hirschberg / Johannes Gerstmeyer: Das Liegenschaftsrecht in den deutschen Schutzgebieten, Bd. 1. Berlin 1912, S. 33.
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Streitkraft zu behandeln. Die Haager Landkriegsordnung trat erst 1910 in Kraft, aber es ist zu bezweifeln, ob das völkerrechtliche Beuterecht damals noch gewohnheitsrechtlich galt. Bereits der Lieber Code von 1863 schützte das Privateigentum der Bevölkerung besetzter Gebiete, machte jedoch eine Ausnahme für Eigentum, das zur Bestrafung des Eigentümers weggenommen wurde, welche jedoch nicht grundlos erfolgen durfte. 178 Auch wäre Witbooi als Souverän zu betrachten, der persönlich zusammen mit seiner Familie besonderen Schutz genoss. 179 Der Konventionsentwurf der Brüsseler Konferenz 1874, welcher allerdings nie ratifiziert wurde, verbietet die Plünderung und Konfiskation von Privateigentum. Dementsprechend stellten das preußische und deutsche Recht zur fraglichen Zeit Plünderung unter Strafe. 180 Selbst wenn man das europäische Völkerrecht „provinzialisiert“, seinen universalen Geltungsanspruch in Frage stellt und stattdessen auf die Kriegsbräuche der traditionellen Gemeinschaften abstellt, lässt sich ein Recht auf Wegnahme nicht ohne Weiteres konstruieren. Denn zwar gab es damals eine Praxis, dass der Sieger im Fall einer Niederlage die Briefe des unterlegenen Gegners aus Gründen der Spionage wegnahm; 181 inwiefern diese Praxis aber einer normativen Überzeugung entsprach, ist nicht belegt. In jedem Fall traf der Schutzvertrag keine Regelung über die weggenommenen Gegenstände, welche eine rechtswidrige Wegnahme im Nachhinein gegebenenfalls genehmigt hätte. Somit folgte Baden-Württemberg im Hinblick auf die Rückgabe nicht lediglich einer moralischen, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einer rechtlichen Pflicht.
4. Rückgabepolitik im Spannungsfeld von Eigen- und Fremdzuschreibungen Die vorstehenden Beispiele eint die Ambivalenz der jeweiligen Erwerbstitel. Diese Ambivalenz, die für das deutsche Kolonialrecht charakteristisch ist, 182 spiegelt die Widersprüche in Staat und Gesellschaft des imperialistischen Zeitalters. Seit der Reichsgründung befand sich einerseits ein formeller Begriff der Rechtsstaatlichkeit im Vordringen, der immer 178 179 180 181
Graber (Anm. 139), S. 193. Vgl. ferner oben Text bei Anm. 140. Ebd., S. 195 f. Ebd., S. 198–200. Vgl. Dag Henrichsen: „Iss Worte!“ Anmerkungen zur entstehenden afrikanischen Schriftkultur im vorkolonialen Zentralnamibia. In: Laurence Marfaing / Brigitte Reinwald (Hrsg.): Afrikanische Beziehungen, Netzwerke und Räume. Münster / Hamburg 2001, S. 329–338. 182 Vgl. Goldmann (Anm. 24).
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mehr Bereiche staatlichen Handelns erfasste und sich zum wesentlichen Bestandteil der Legitimation staatlicher Herrschaft entwickelte. Rechtsstaatlichkeit stellte geradezu ein notwendiges Legitimationskonstrukt des Reichs dar, dem keine robusten Strukturen demokratischer Mitbestimmung zur Verfügung standen, um die vielfältigen internen Spannungen, seien sie ökonomischer, sozialer, regionaler oder konfessioneller Art, zu absorbieren. 183 An der traditionalen Verankerung lokaler oder regionaler Gebietsherrschaft fehlte es dem Reich ohnehin. Andererseits bildete das Reich die materielle und ideelle Grundlage für ein wirtschaftliches und kulturelles Expansionsstreben, einschließlich des Erwerbs einer eigenen Geschichte, 184 mit dem sich nicht zuletzt die Hoffnung auf den Abbau der genannten internen Spannungen verband. 185 Rechtsstaatlichkeit und Expansion befanden sich dabei auf Kollisionskurs. Das Kolonialrecht sollte die Expansion legitimieren, zugleich aber einen Ersatz für die auch im kolonialen Kontext zumindest latente Frage der Selbstbestimmung liefern. Das musste auf Ambivalenzen und Paradoxien hinauslaufen. Sie sind nicht nur Zeichen des holprigen Beginns der deutschen Expansion, sondern in der Funktion des deutschen Kolonialrechts angelegt. Der Hinweis auf diese Ambivalenzen und Widersprüche kann in der heutigen Restitutionsdebatte ein gewisses Gegengewicht zu den weiterhin bestehenden Machtungleichgewichten zwischen Besitzland und Herkunftsland schaffen. Er wirkt der Reproduktion alter Rechtfertigungsnarrative entgegen, deren Selektivität der Ambivalenz des Kolonialrechts entspricht. Auf deutscher Seite besteht dringender Bedarf, diese Narrative zu durchbrechen, da sie die Zwecke der Restitutionsbemühungen zu unterminieren drohen, indem sie ein weiteres Mal koloniale Muster bekräftigen. Das zeigt nicht zuletzt der höchst unterschiedliche Umgang mit den vier besprochenen Kulturgütern – zwei aus der Levante, zwei aus Südwestafrika. Während der deutsche Erwerbstitel trotz bestehender Unsicherheiten in allen vier Fällen gravierenden Zweifeln ausgesetzt ist, sind die verantwortlichen Akteur*innen in Deutschland zwar ihren hiernach
183 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3. München 1995, S. 493–503, 700–705, 889–896; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2010, S. 570–586, bes. S. 583; Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt: Globalgeschichte der Europäischen Expansion 1415–2015. München 2016, S. 928–931, 944–949; Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2. München 1992, S. 341–348, 371–376. Zur Absorptionsfunktion des Rechts: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 5. Aufl. 1972, S. 124–126. 184 Osterhammel (Anm. 184), S. 609. 185 Wehler (Anm. 184), S. 980–985.
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anzunehmenden Rückgabepflichten gegenüber Namibia nachgekommen, denken aber nicht daran, den Pergamonaltar oder die Nofretete-Büste zu restituieren. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Ist es nicht möglich oder sogar denkbar, dass die Restitution gerade dann schwerfällt, sofern von deutscher Seite zu einem bestimmten Zeitpunkt eine kulturelle Appropriation stattfand? Und folgte diese kulturelle Appropriation nicht gar einer Praxis des „Othering“, der Selbst- und Fremdzuschreibung, die höchst zweifelhaft ist und dringend überdacht werden sollte? Kulturgüter aus dem Mittelmeergebiet und Nahen Osten werden als Teil der westlichen Kultur wahrgenommen; 186 Gegenstände aus dem südlichen Afrika dagegen bewusst oder unbewusst nicht als Teil der deutschen Identität begriffen. Ein später Reflex der hierarchischen Abstufungen des auch im Völkerrecht verhängnisvollen Zivilisationsbegriffs? 187 Eine aus der Kolonialzeit geerbte kognitive und mentale Verzerrung? Wie sollte sie auch zu vermeiden sein, wenn „exotisches“ Kulturgut eine Sonderbehandlung in eigenen Museen für „Völkerkunde“ erfährt, während Pergamonaltar und Nofretete im Zentrum des Zentrums der Macht stehen? An dieser Stelle hilft keine Verschiebung des Diskurses in Richtung kulturelles Welterbe. Sie könnte nicht nur in Konkurrenz zu den Ansprüchen der Herkunftsgesellschaften treten, 188 sondern vereitelt schlimmstenfalls die Überwindung der Handlungsmuster der Vergangenheit, indem sie ein rechtliches Rahmenwerk wie ehedem das europäische Völkerrecht einseitig universalisiert. Eine Restitutionspolitik mit Weitblick muss daher mit einer intensiven Befragung eingeübter Praktiken einhergehen. 189 Dazu bietet der gegenwärtige Kontext mehr Grund als genug. Der Niedergang des Westens als einigermaßen geschlossen handelnder geopolitischer Einheit und die Verschiebung des wirtschaftlichen Schwergewichts vom Nordatlantik in den asiatischen Raum samt allen gesellschaftlichen Konsequenzen verlangt von den ehemaligen Kolonialstaaten, die eigene Rolle in der Welt zu überdenken. Das schafft Raum für die kritische Reflexion eines Zugriffs auf Kulturgüter, der mindestens so sehr der Begründung und Rechtfertigung imperialer Macht und der Abwehr von Moder-
186 Savoy (Anm. 115), S. 18; Shaw (Anm. 41), S. 38. 187 Vgl. Anm. 156; zu diesen Abstufungen im Kontext des deutschen Kolonialismus George Steinmetz: The Devil’s Handwriting. Precoloniality and the German Colonial State in Qingdao, Samoa, and Southwest Africa. Chicago 2008. 188 Ana F. Vrdoljak: Indigenous Peoples, World Heritage, and Human Rights. In: International Journal of Cultural Property 25 (2018), S. 245–281. 189 Sven Schütze: Ambivalent Futures. On the Restitution of Objects and White Innocence. In: Völkerrechtsblog, 21. 9. 2018, DOI: 10.17176/20180924-095721-0.
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nitätsverunsicherungen der westlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts diente wie den oft bemühten konservatorischen Aspekten. 190 Auch das intertemporale Prinzip stand und steht in der letztgenannten Tradition; es ist gewissermaßen das Pergamonmuseum des Völkerrechts. Recht ist aber chronisch ambivalent und umstritten, damals wie heute. Diese Ambivalenz öffnet das Recht gegenüber neuen gesellschaftlichen Selbstverständigungen. So kann juristische Provenienzforschung nicht nur eine praktische Ausgangsbasis für Restitutionsdebatten liefern. Im besten Fall erweist sie sich als treue Begleiterin der Rumpfgesellschaften ehemaliger Imperien auf dem Weg zu sich selbst.
190 Margarita Díaz-Andreu: A World History of Nineteenth-Century Archaeology. Nationalism, Colonialism and the Past. Oxford 2008, S. 211.
Judith Hackmack / Wolfgang Kaleck
Warum restituieren? Eine rechtliche Begründung
1. Einleitung Als „crime contre l’humanité [. . .] vraie barbarie“, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wahrhafte Barbarei, bezeichnete der französische Staatspräsident Emmanuel Macron den französischen Kolonialismus 2017 in Algier. 1 Diesen Ausgangspunkt verloren viele Beiträge zum Umgang mit „Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ aus den Augen. Während das „koloniale Erbe“ in den Feuilletons deutscher Tageszeitungen weiterhin diskutiert wird, benennen wenige den Unrechts- und Gewaltcharakter der Kolonisierung und den Kausalzusammenhang zwischen Unrecht und Erwerb der jeweiligen Kulturgüter klar genug. Dies gilt in besonderem Maße für die juristischen Debattenbeiträge. Dabei bedeutete Kolonialismus Gewalt und Unrecht – auch und gerade aus rechtlicher Perspektive. Auf Unrecht der hier in Rede stehenden Kategorie halten Rechtsordnungen – auch retrospektiv – Mechanismen zur Sanktionierung und Wiedergutmachung bereit. Warum wird der Unrechtstatbestand des Kolonialismus unterschiedlich behandelt? Mit diesem Beitrag wollen wir die juristischen Aspekte der Aufarbeitung des Kolonialismus im Allgemeinen und die der Restitution von Kunst- und Kulturgütern im Besonderen nicht in den Vordergrund stellen. Allerdings standen Jurist*innen bisher einer Aufarbeitung und einer Rückgabe mit bürokratischen Attitüden zumeist im Wege. Es geht uns daher darum, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Felwine Sarr und Bénédicte Savoy weisen zu Recht darauf hin, dass die Rückgabe von Geraubtem den Verlust nicht ausgleichen kann, da 1 Emmanuel Macron: La colonisation est un crime contre l’humanité. In: Libération, 15. 2. 2017. Für Hintergrundrecherchen für diesen Beitrag danken die Autor*innen Friederike Pöschl und Gwinyai Machona.
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„nicht nur Objekte fortgenommen wurden, sondern ebenso Energiereserven, kreative Ressourcen, Speicher von Potentialen, Kräfte zur Erzeugung von alternativen Gestalten und Formen des Reellen, Agenten kultureller Befruchtung.“ 2
Lösungen, sprich Heilung für Sachverhalte, die „mit einem Reparationsprozess für die vom Verlust ihres Kulturerbes betroffenen Gemeinschaften verknüpft [sind], die nur auf der Anerkennung des zugefügten Unrechts durch den anderen“
beruhen, bleiben „unvollständig“. Es müsse „ein Prozess der Selbst-Rettung“ sein, und zwar in einer Form einer Selbstheilung durch eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte. 3 Natürlich ist es aus vielen Gründen sinnvoll, so unsere Behauptung, die Geschichte von beiden Seiten aufzuarbeiten, also auch in den ehemaligen Kolonialstaaten, und in diese Richtung argumentieren wir nachfolgend, ohne den Anspruch zu behaupten, das materiell wie traumatisch bis in die heutige Generation hineinwirkende Unrecht „zu reparieren“. Ein Grund, warum sich gerade Jurist*innen damit schwertun, liegt darin, dass koloniale Prägungen auch das heutige Recht sehr grundsätzlich betreffen und Ansätze zu einer Dekolonisierung des Rechts gerade in Deutschland erst nach und nach rezipiert werden. 4 Weite Teile der rechtlichen Debatte um die Rückerstattung von Kunst und Kulturgütern blendeten so nicht nur den Unrechtscharakter der kolonialen Situationen aus, sondern setzten auch die aus ihnen resultierenden, heutigen Eigentumsverhältnisse sakrosankt. 5 Rechtsanwält*innen und Museumsjurist*innen können auf dieser Basis scheinbar juristisch neutral begründen, warum das so beschränkte „Recht“ eine Rückgabe ausschließt. Hier sollen demgegenüber Ideen und Denkanstöße zu rechtlichen Grundlagen und Möglichkeiten von Restitutionen entwickelt werden. Ausgangspunkt sind die in rechtlichen Abhandlungen oft übersehenen Rahmenbedingungen. Restitutionen, auch solche von Kunst und Kulturgütern aus kolonialen Kontexten, sind rechtlich, politisch oder moralisch gebotene Reaktion auf vergangene Gewalt und Unrecht sowie Ausgleich für einen fortdauernden Verlust. Sie stehen und erfahren ihre Legitimi2 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Berlin 2019, S. 86. 3 Ebd., S. 88. 4 Karina Theurer / Wolfgang Kaleck: Dekolonisierung des Rechts. Ambivalenzen und Potenzial. In: Dies. (Hrsg.): Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis. Baden-Baden 2020, S. 19–29. 5 Vgl. aber für einen anderen Ansatz den Beitrag von Matthias Goldmann und Beatriz v. Loebenstein im vorliegenden Band.
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tät im Spannungsfeld durch Kolonisierung (mit)geprägter Strukturen und postkolonialer Machtverhältnisse. In diesem Text geht es weniger um das oft umstrittene Endergebnis, wer wie von wem die Herausgabe welcher Güter fordern kann – auch diese konkreten Handlungsanleitungen müssen sicherlich herausgearbeitet werden. Vielmehr muss zunächst die für einen derartigen Leitfaden notwendige Basis entwickelt werden, wir fordern insoweit ein Umdenken, auch bei den Jurist*innen, und eine reflektiertere Anwendung geltenden Rechts. Welche konkreten Ergebnisse die aus der gesamten Debatte folgenden, interkulturellen Aushandlungsprozesse zeitigen, steht dann auf einem anderen Blatt. Für die Legitimität dieser Prozesse wäre die gleichrangige Anwendung der heute geltenden rechtlichen Standards aber ein erster Schritt und, traurig genug, zugleich weitgehend ein Novum.
2. Restitution in Kontexten von historischer Gewalt und Unrecht Das Völkerstrafrecht, das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechte enthalten heute den Kernbestand an Normen für den Umgang mit Massenverbrechen und schwerer oder systematischer Gewalt gegen Individuen und Gemeinschaften. Für unser Thema kolonialer Gewalt und kolonialen Unrechts liefern das Völkerstrafrecht und der Normenfundus der Menschenrechte keine abschließenden Antworten, aber einige hilfreiche Standards. Historisch war, nach nationalen Initiativen wie dem US-amerikanischen Lieber Code, dem Oxford Manual und der nie in Kraft getretenen Brüsseler Erklärung von 1874, das erste internationale Vertragswerk, das Regelungen zum Schutz von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten beinhaltet, die Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1899 und 1907. 6 Einerseits wurde darin über die Marten’sche Klausel die Wahrung der „Grundsätze des Völkerrechts“ sichergestellt, „wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens.“
Andererseits stellte Art. 46 HLKO das Privateigentum unter Schutz und untersagte Art. 47 HLKO Plünderungen, wobei Art. 56 HLKO das Eigentum der Gemeinden und der dem Gottesdienst, der Wohltätigkeit, dem 6 Anlage zur Internationalen Übereinkunft betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, 29. 7. 1899 und 18. 10. 1907, Reichsgesetzblatt 1910, S. 107; Hannes Hartung: Kunstraub in Krieg und Verfolgung. Die Restitution der Beute- und Raubkunst im Kollisions- und Völkerrecht. Berlin 2005, S. 16–20.
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Unterricht, der Kunst und der Wissenschaft gewidmeten Anstalten dem Privateigentum gleichstellte. Die HLKO enthielt allerdings keine strafbewehrten Vorschriften oder Vorgaben zu Rückführungen, sondern regelte den Umgang mit Kulturgut und Privateigentum in bewaffneten Konflikten. Nach der Rechtsauffassung der europäischen Staaten sollte sie auch nur auf die europäischen Staaten Anwendung finden. Dieses seinerzeit von den Kolonialnationen angewendete Völkerrecht war, wie postkoloniale Theoretiker gut herausgearbeitet haben, 7 ein imperialistisches Recht, das Raub- und Vergewaltigungszüge noch für rechtmäßig erklärte. Hier wird man für einen angemessenen Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten nicht fündig werden. Eine andere Frage ist aber die, wie heute mit den historischen Sachverhalten umzugehen ist und welche rechtlichen Standards hierfür gelten. Denn es sollte Konsens der Diskussion sein, dass unser heutiges Handeln nicht unter Berufung auf das Prinzip der Intertemporalität nach historischen Standards zu bewerten ist, wonach das Recht zu gelten hat, das zum Zeitpunkt der zu bewertenden Ereignisse galt. 8 Wir werden nachfolgend das Völkerstrafrecht und den Normenfundus der Menschenrechte zur Erörterung der Frage heranziehen, wie heute mit den historischen Sachverhalten umzugehen ist. Im Jahr 2000 ersuchte der Unterausschuss für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte der Vereinten Nationen das Generalsekretariat, die einzelnen Sachverhalte, in denen Kolonialismus mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit einherging, zu benennen und einen Vorschlag für eine Wiedergutmachung und ein Gedenken an die Opfer zu erarbeiten. 9 Das Vorhaben geriet später in den Hintergrund, wohl auch weil auf der folgenden Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban im Jahr 2001 nur die klare Bezeichnung des Sklavenhandels, nicht aber des Kolonialismus als solchem, als Verbrechen durchgesetzt werden konnte. 10 Der Unterausschuss griff seine Idee 2002 dennoch erneut auf und hielt die Staaten an, ihre historische aus der Kolonisierung folgende Verantwor7 Antony Anghie: Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law. Cambridge 2005, S. 25–27. 8 Vgl. dazu auch den Beitrag von Matthias Goldmann und Beatriz v. Loebenstein im vorliegenden Band. 9 United Nations Sub-Commission on Human Rights: Mass and Flagrant Violations of Human Rights Which Constitute Crimes Against Humanity (UN Doc E/CN.4/SUB.2/DEC / 2000/114), 18. 8. 2000. In: United Nations Digital Library, https://digitallibrary.un.org/record/422869 (aufgerufen am 12. 12. 2020). 10 United Nations World Conference Against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance: Declaration and Programme of Action. New York 2002, https://www.ohchr.org/Documents/Publications/Durban_text_en.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020), S. 99.
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tung anzuerkennen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. 11 „Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ist also ein wiederkehrender Topos, der beispielsweise in einer Resolution des Europäischen Parlaments vom 26. März 2019 zu finden ist. In der – rechtlich allerdings nicht bindenden – Resolution fordert das Parlament die Mitgliedstaaten auf, ihre historische Verantwortung für vergangenes Unrecht und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuerkennen, wie den transatlantischen Sklavenhandel und den europäischen Kolonialismus. 12 Vergleicht man sie mit dem geltenden Völkerstrafrecht, erweist sich diese Verwendung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit als unscharf. Klar ist, dass Kolonialismus oft mit Taten einherging, die nach heutigem Verständnis als Völkermorde, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen die Kerntatbestände des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs erfüllen. 13 Diese schwersten Verbrechen berühren die Gesellschaften der Opfer und der Täter*innen, die sie über Generationen hinweg präg(t)en. 14 Sie berühren, wie die Präambel klarstellt, aber auch „die internationale Gemeinschaft als Ganzes“, weswegen diese auch verpflichtet ist, zu ihrer Aufklärung und Ahndung beizutragen. Klar ist aber auch, dass das Römische Statut auf koloniale Sachverhalte unmittelbar keine Anwendung findet. Denn es zielt auf die individuelle Verantwortlichkeit von Täter*innen, von denen die wenigsten noch leben, 15 und begründet nach dem Willen der unterzeichnenden Staaten keine Zu-
11 United Nations Sub-Commission on Human Rights: Recognition of Responsibility and Reparation for Massive and Flagrant Violations of Human Rights Which Constitute Crimes Against Humanity and Which Took Place During the Period of Slavery, Colonialism and Wars of Conquest (UN Doc E/CN.4/SUB.2/RES/2002/5), 12. 8. 2002, https://ap.ohchr.org/documents/E/SUBCOM/resolutions/E-CN_4-SUB_ 2-RES-2002-5.doc (aufgerufen am 12. 12. 2020), Ziffer 3. 12 European Parliament: Resolution on Fundamental Rights of People of African Descent in Europe (2018/2899[RSP]), 26. 3. 2019, https://www.ardi-ep.eu/resolutionon-fundamental-rights-of-people-of-african-descent-in-europe/ (aufgerufen am 12. 12. 2020), Ziffer 5. 13 Rome Statute of the International Criminal Court, 17. 7. 1998, https://www.icc-cpi. int/resource-library/documents/rs-eng.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020), vgl. Bundesgesetzblatt 2000 II, S. 1394. 14 United Nations General Assembly: Report of the Special Rapporteur on the Promotion of Truth, Justice, Reparation and Guarantees of Non-Recurrence (UN Doc A/69/518), 14. 10. 2014, https://www.ohchr.org/EN/ISSUES/TRUTHJUSTICEREPARATION/Pages/Index.aspx (aufgerufen am 12. 12. 2020), Ziffer 7. 15 Eine Ausnahme ist das noch laufende strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen der Beteiligung belgischer Kolonialbeamter an der Ermordung von Patrice Lumumba in Belgien, dazu: Christophe Marchand / Crépine Uwashema / Christophe Deprez: Possible Impediments to Justice for Colonial Crimes. A Belgian Perspective. In: Morten Bergsmo / Wolfgang Kaleck / Kyaw Yin Hlaing (Hrsg.): Colonial Wrongs and Access to International Law. Brüssel 2020, S. 411–430.
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ständigkeit des Gerichtshofs für Sachverhalte vor dem Inkrafttreten des Römischen Statuts im Jahr 2002. Damit ist aus Perspektive des Völkerstrafrechts und des internationalen Menschenrechtssystems aber längst nicht alles gesagt. So sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord Beispiele für Tatbestände, die in Reaktion auf schweres Unrecht erst entwickelt wurden, um dieses in rechtliche Kategorien fassen zu können. Prominentestes Beispiel ist die Definition des Tatbestands des Völkermords durch den polnischen Juristen Raphael Lemkin angesichts des Holocaust. Die Anerkennung der Apartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat eine ähnliche Entstehungsgeschichte. Dementsprechend war es im Völkerstrafrecht, anders als in anderen Bereichen des Völkerrechts, jedenfalls auch Usus, dass Mechanismen nach dem Willen der Staaten nachträglich für einen bestimmten Kontext geschaffen wurden und insofern bewusst rückwirkend Anwendung fanden. Das trifft nicht nur auf die Nürnberger Prozesse zu, sondern auch auf die später eingesetzten Sondertribunale für Ruanda, Jugoslawien oder Kambodscha sowie verschiedene transitional-justice-Mechanismen. Eine juristisch ausdifferenzierte Norm, die das komplexe Unrecht des Kolonialismus angemessen und umfassend reguliert, fehlt hingegen. Es muss also auf die hier diskutierten geltenden Verbrechenskategorien zurückgegriffen werden, um zumindest Teile des kolonialen Unrechts juristisch zu erfassen. 16 Auch auf nationaler Ebene wurden Möglichkeiten entwickelt, wie die Anwendung von altem Recht, das nach heutigen Standards als Unrecht zu qualifizieren war, vermieden werden konnte. Die Behauptung „Was damals rechtens war [. . .] das kann heute nicht Unrecht sein“ 17 kostete den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der sich dabei auf den Nationalsozialismus bezog, sein Amt. Schon in der Nachkriegszeit hatte der Rechtswissenschaftler Gustav Radbruch die nach ihm benannte Radbruch’sche Formel entwickelt, um die Anwendung nationalsozialistischen Rechts in der Bundesrepublik zu vermeiden. Ihr ursprünglicher Wortlaut ist: „[. . .] wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ 18
16 Wolfgang Kaleck: On Double Standards and Emerging European Custom on Accountability for Colonial Crimes. Ebd., S. 1–40. 17 Affäre Filbinger: „Was rechtens war . . .“ In: Der Spiegel, 15. 5. 1978. 18 Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Süddeutsche Juristen-Zeitung 1 (1946) H. 5, S. 105–108, zit. S. 107.
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‚Unrichtiges‘ Recht in diesem Sinne war anzuwenden, wogegen Radbruch extremes, gegen den Grundsatz der Gleichheit durch gesetzliche Mittel geschaffenes Unrecht als nicht existent und damit auch als nicht anwendbar betrachtete. Deutsche Gerichte folgten Radbruchs Formel bei der rechtlichen Beurteilung einiger nationalsozialistischer Gesetze und in jüngerer Zeit der „Mauerschützen“ an der innerdeutschen Grenze. 19 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum dann eine rechtliche Aufarbeitung kolonialen Unrechts bislang kaum einmal erfolgt ist. Allein an dem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen mag es nicht liegen, wurde doch die formale Dekolonisation in den meisten Staaten in den 1960er und 1970er-Jahren erreicht, dementsprechend könnten durchaus Verfahren gegen noch lebende Tatverdächtige oder Zivilprozesse stattfinden. Praktisch gab es aber so gut wie keine offizielle Sachverhaltsermittlung, strafrechtliche Verfolgung oder sonst ein justizmäßiges Verfahren, ganz zu schweigen von einer Anerkennung, Entschuldigung, Bestrafung oder materiellen Wiedergutmachung gegenüber den Überlebenden oder deren Nachfahr*innen. In den wenigen Ausnahmen von dieser Regel strengten Überlebende die Verfahren an, etwa in den Niederlanden wegen eines Massakers im indonesischen Rawagede oder in Großbritannien wegen des Vorgehens gegen die Mau-Mau in Kenia. 20 Dies gilt nicht nur für Verbrechen vor dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch für diejenigen während der blutigen Befreiungskriege etwa in Algerien, Kenia oder der Demokratischen Republik Kongo in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und den Nürnberger Prozessen. 21 Gewalt und Unrecht der Kolonialzeit sind im kollektiven Gedächtnis vieler postkolonialer Gesellschaften tief verankert. Mit den für Völkerrechtsverbrechen typischen Langzeitfolgen stehen die Nachfahr*innen der Kolonisierten weitgehend allein da. Lange Zeit mag das Ausbleiben einer Aufarbeitung mit der Dichotomie der Erinnerung zu tun gehabt haben, die für massenhafte Gewaltkontexte 19 Sheila Heidt: Restitutionsbegehren bei NS-Raubkunst. Praxisleitfaden zur „Handreichung zur Umsetzung der ‚Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz‘“. Berlin 2017, S. 31–33; Bundesgerichtshof, Urteil v. 3. 11. 1992, 5 StR 370/92; Dass. v. 20. 3. 1995, 5 StR 111/94; Horst Dreier: Gustav Radbruch und die Mauerschützen. In: Juristenzeitung 52 (1997) H. 9, S. 421–472. Vgl. auch den Beitrag von Sheila Heidt im vorliegenden Band. 20 Für einen Überblick: Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste: Sachstand: Gerichtliche und außergerichtliche Möglichkeiten der Aufarbeitung kolonialen und rassistisch motivierten Unrechts (BT WD 2 3000–016/18), 8. 3. 2018, https://www.bundestag. de/resource/blob/551632/65420310d07980f241aa7ebbcefb3b81/WD-2-016-18-pdf-data.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020). 21 Wolfgang Kaleck: Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht. Berlin 2012, S. 32–40.
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typisch ist: Während die Opfer die Verbrechen und ihre Folgen klar erinnern, wollen sich die Täter damit möglichst nicht auseinandersetzen. 22 Dass sie es über Jahrzehnte nicht mussten, hat seinerseits mit postkolonialen Machtgefällen zu tun, wie sie Gayatri Spivak mit dem Begriffspaar der sanctioned ignorance – der geduldeten Unkenntnis – beschrieben hat, 23 der faktischen Möglichkeit also, sich gegenüber außereuropäischen Perspektiven scheinbar folgenlos ignorant zu zeigen. Ein normatives Argument dafür, koloniale Sachverhalte anders zu behandeln, lässt sich aus dieser Beobachtung freilich nicht ableiten. Zumindest verbal hat sich kürzlich einiges geändert. Nicht zuletzt aufgrund des Drucks zivilgesellschaftlicher Initiativen hier wie dort gehört nach Auffassung der Kultusminister*innen des Bunds und der Länder die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte mittlerweile zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland. 24 Welche praktische Bedeutung dies für die Gesellschaften der Kolonisatoren wie Kolonisierten haben wird, ist ein Gegenstand der Aushandlungsprozesse, wie sie beispielsweise auch in diesem Band argumentativ vollzogen werden. Für diese Prozesse hat die rechtliche Einordnung kolonialer Gewalt als Unrecht erneut Bedeutung. Denn neben und unabhängig von der Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung gibt es internationale Standards zur Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen. Sie betreffen insbesondere die Rechte der Opfer und ihrer Angehörigen. Eine Zusammenfassung findet sich in den „Grundprinzipien und Leitlinien betreffend das Recht der Opfer von groben Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen und schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auf Rechtsschutz und Wiedergutmachung“ (Grundprinzipien), 25
22 Wie Anm. 12, Ziffer 50. 23 Gayatri C. Spivak: A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present. Cambridge 1999, S. 2, 164–167. 24 Erste Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und der kommunalen Spitzenverbände, 13. 3. 2019, https://www.kmk.org/fileadmin/ pdf/PresseUndAktuelles/2019/2019-03-25_Erste-Eckpunkte-Sammlungsgut-kolonialeKontexte_final.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020). 25 United Nations General Assembly: Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law Resolution (UN Doc A/Res/60/147), 16. 12. 2005, https://www.ohchr.org/en/professionalinterest/pages/remedyandreparation.aspx (aufgerufen am 12. 12. 2020), angenommen von der UN-Generalversammlung ohne Abstimmung.
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die am 16. Dezember 2005 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen wurden. Diese Prinzipien sind selbst nicht rechtlich bindend, fassen aber verbindliche Standards zusammen, wie sie sich u. a. aus den Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen ergeben, etwa aus Art. 2 des Zivilpakts (ICCPR) 26, Art. 6 der Anti-Rassismus-Konvention (ICERD) 27, Art. 9 V und 14 der Anti-Folter-Konvention (CAT) 28. In einem breiteren Sinne zusammengefasst werden die genannten Standards auch unter dem Schlagwort transitional justice, die das Generalsekretariat der Vereinten Nationen definiert hat als: „[. . .] the full range of processes and mechanisms associated with a society’s attempt to come to terms with a legacy of large-scale past abuses, in order to ensure accountability, serve justice and achieve reconciliation.“ 29
Die Anwendung dieser Standards wird dabei auch für historische Sachverhalte vor dem Inkrafttreten der internationalen Menschenrechtsabkommen diskutiert 30 und ist im Einzelfall, etwa in der Arbeit der mauritischen Wahrheitskommission, auch schon erfolgt. 31
26 International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR), 16. 12. 1966, https:// treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-4&chapter= 4&clang=_en (aufgerufen am 12. 12. 2020), vgl. Bundesgesetzblatt 1973 II, S. 1553. 27 International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (ICERD), 7. 3. 1966, https://treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=IND& mtdsg_no=IV-2&chapter=4&lang=en (aufgerufen am 12. 12. 2020), vgl. Bundesgesetzblatt 1969 II, S. 961. 28 Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CAT), 10. 12. 1984, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src= IND&mtdsg_no=IV-9&chapter=4&lang=en (aufgerufen am 12. 12. 2020), vgl. Bundesgesetzblatt 1990 II, S. 247. 29 Guidance Note of the Secretary-General: United Nations Approach to Transitional Justice, März 2010, https://www.un.org/ruleoflaw/files/TJ_Guidance_Note_March_ 2010FINAL.pdf (aufgerufen am 21. 4. 2020), S. 2. 30 United Nations General Assembly: Report of the Special Rapporteur in the Field of Cultural Rights, Farida Shaheed, Memorialization Processes (UN Doc A/HRC / 25/49), 23. 1. 2014. In: United Nations Digital Library, https://digitallibrary.un.org/ record/766862 (aufgerufen am 12. 12. 2020), Ziffer 83–85; United Nations General Assembly: Report of the Special Rapporteur on the Promotion of Truth, Justice, Reparation and Guarantees of Non-Recurrence, Fabián Salvioli, Memorialisation Processes (UN Doc A/HRC / 45/45), 9. 7. 2020. In: United Nations Digital Library, https:// digitallibrary.un.org/record/3875086?ln=en (aufgerufen am 12. 12. 2020), Ziffer 24; grundlegend Alfred L. Brophy: Some Conceptual and Legal Problems in Reparations for Slavery. In: New York University Annual Survey of American Law 58 (2001– 2003) H. 4, S. 497–556, hier S. 504; Mari J. Matsuda: Looking to the Bottom: Critical Legal Studies and Reparations. In: Harvard Civil Rights-Civil Liberties Law Review 22 (1987) H. 2, S. 323–400. 31 Truth and Justice Commission Act No. 28 of 2008: In: Government Gazette of Mauritius Nr. 84, 28. 8. 2008/1. 2. 2009, https://www.usip.org/sites/default/files/ ROL/Truth%20and%20Justice%20Act%2028%20No_%202008-2.pdf (aufgerufen am
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Restitutionen sind im System dieser Grundprinzipien eine Form der Wiedergutmachung (Reparation), 32 die ein Recht von Opfern von Menschenrechtsverletzungen ist. Wiedergutmachung ist ein Element in einem breiteren System zum Umgang mit schwersten Menschenrechtsverletzungen. Mit dem nationalen zivilrechtlichen Schadensersatz oder Entschädigungen für Aufopferung hat sie erst einmal nichts zu tun. Sie zielt auf andere Sachverhalte, schwere und schwerste Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts, und hat eine andere Zielsetzung, nämlich angemessen auf diese zu reagieren und sie möglichst auszugleichen. 33 Von essentieller Bedeutung ist hier die Rolle der betroffenen Individuen und Gemeinschaften im Sinne eines victim-centered approach. 34 Dieser ist mittlerweile anerkannt als Quelle von Legitimität und als Funktionsvoraussetzung für Maßnahmen zum Umgang mit vergangenem Unrecht. 35 Dieser hängt zusammen mit einer Vielzahl von einzelnen Rechten der Opfer wie dem individuellen und kollektiven Recht auf Wissen und Wahrheit. 36 Die historische Aufarbeitung und Ermittlung der Geschehnisse stellt dabei den ersten Schritt eines Prozesses dar, der umfassender sein muss. So sind Modi zur Realisierung des Rechts auf Wiedergutmachung
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12. 12. 2020); Report of the Truth and Justice Commission, November 2011, https:// www.usip.org/sites/default/files/ROL/TJC_Vol1.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020). Die Arbeit der Wahrheitskommission war eine der Grundlagen für das erfolgreiche Verfahren von Mauritius gegen Großbritannien bezüglich des Chagos-Archipels vor dem Internationalen Gerichtshof, vgl. International Court of Justice: Legal Consequences of the Separation of the Chagos Archipelago from Mauritius in 1965. Advisory Opinion, 25. 2. 2019, https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/169/169-20190225ADV-01-00-EN.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020); siehe außerdem die Bezeichnung der deutschen und belgischen Kolonialherrschaft als „root of the crisis“ des Jahres 1994 zwischen Hutu und Tutsi: International Legal Materials 40 (2001) H. 1, zit. S. 142. Basic Principles (Anm. 25), Principle IX: Reparation for Harm Suffered, Ziffer 18. United Nations High Commissioner for Human Rights: Rule-of-Law Tools for PostConflict States, Reparations Programmes (Un Doc HR/PUB/08/1), 2008, https:// www.refworld.org/docid/47ea6ebf2.html (aufgerufen am 12. 12. 2020), S. 10. United Nations Secretary-General: Report of the Secretary-General: The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies (UN Doc S/2004/616), 23. 8. 2004, https://www.un.org/ruleoflaw/files/2004%20report.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020), Ziffer 16, S. 50; ferner Reparations Programmes (Anm. 33), S. 2. United Nations General Assembly: Report of the Special Rapporteur on the Promotion of Truth, Justice, Reparation and Guarantees of Non-Recurrence, Pablo de Greiff, Participation of Victims in Transitional Justice Measures (UN Doc A/HRC / 34/62), 27. 12. 2016, https://undocs.org/A/HRC/34/62 (aufgerufen am 12. 12. 2020). United Nations Commission on Human Rights: Impunity. Report of the Independent Expert to Update the Set of Principles to Combat Impunity, Diane Orentlicher, Addendum (Un Doc E/CN.4/2005/102/Add.1), 8. 2. 2005. In: United Nations Digital Library, https://digitallibrary.un.org/record/541829 (aufgerufen am 12. 12. 2020), Principles 2–5, S. 7 f.
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neben Restitutionen auch Entschädigungen, Rehabilitation und Genugtuung für die Opfer sowie Garantien der Nicht-Wiederholung. Genugtuung kann verschiedene Maßnahmen umfassen, die zum Teil in engem Verhältnis zu den Ermittlungspflichten der Staaten stehen. Hierzu zählen unter anderem die Verifizierung der Tatsachen und die vollständige und öffentliche Bekanntmachung der Wahrheit, Nachforschungen über den Verbleib verschwundener Personen, Unterstützung, Identifizierung und neuerliche Bestattung der sterblichen Überreste entsprechend dem Wunsch der Opfer oder den Praktiken ihrer Familie und ihres Gemeinwesens, eine offizielle Erklärung oder eine Gerichtsentscheidung, mit der die Würde, der Ruf und die Rechte des Opfers und der mit ihm eng verbundenen Personen wiederhergestellt werden, eine öffentliche Entschuldigung, einschließlich der Anerkennung der Tatsachen und der Übernahme der Verantwortung, sowie Gedenkfeiern und Würdigungen der Opfer oder die Aufnahme einer genauen Darstellung der vorgefallenen Verletzungen oder Verstöße in Schulungsmaßnahmen. 37 Wie weit bisherige Bemühungen zum Umgang mit kolonialem Unrecht diesbezüglich zurückfallen, zeigt ein Blick auf die Erinnerungslandschaft in Berlins Mitte. Nicht nur der deutsche Kolonialismus mit seinen hunderttausenden Toten, sondern auch die mit der von Otto v. Bismarck einberufenen Berliner Afrika-Konferenz von 1884/1885 verbundene europäische Kolonisierung Afrikas sind hier weitgehend unsichtbar, wobei derzeit einiges in Bewegung geraten ist, etwa: eine kleine, privat finanzierte Stele vor dem ehemaligen Reichkanzlerpalais in der Wilhelmstraße mit Hinweis auf die Berliner Afrika-Konferenz, ein Kasten in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums und ein Stolperstein in der Brunnenstraße, der sich auf die Ermordung des in Tansania geborenen Mahjub bin Adam Mohamed im Konzentrationslager Sachsenhausen 1944 und damit schwerpunktmäßig auf die NS-Zeit bezieht. 38 Auch wenn sich kaum ein historisches Beispiel finden wird, in dem der beschriebene Maßnahmenkatalog vollständig abgearbeitet wurde, Perfektion also nicht der Maßstab sein kann, führt umgekehrt die Verweigerung einer umfassenderen Auseinandersetzung mit Gewalt und Unrecht zu einer erneuten Verletzung der Würde der Opfer. Pablo de Greiff, der zuständige Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, hat dies am Beispiel des Unwillens von Staaten, den Begriff Reparationen zu verwenden, ausgeführt:
37 Wie Anm. 27, Ziffer 19–23. 38 Marianne Bechhaus-Gerst: Koloniale Spuren im städtischen Raum. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (2019) H. 40–42, S. 40–45.
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„In some cases [. . .] it is argued that the benefits are given not as a way of satisfying the legal obligations of the State and the rights of the victims but as an expression of ‚solidarity‘ with them [or] the acts that are the subject of redress are declared to be ‚unjust‘ but such a declaration is also said to have no legal consequences [. . .]. Reparation programmes that fail to acknowledge responsibility in effect attempt to do the impossible. Just as an apology is ineffective unless it involves an acknowledgment of responsibility for wrongdoing (an apology depends on such recognition, everything else being an excuse or an expression of regret) reparation programmes that fail to acknowledge responsibility do not provide reparation [. . .]. Experience confirms that victims, quite correctly, do not see the transfers performed through such programmes as reparations, and therefore continue to struggle to have that right satisfied.“ 39
Dadurch also, dass ein Ausgleich geleistet werden soll, ohne sich der grundsätzlicheren Verantwortung zu stellen, hat auch dieser Ausgleich ein Legitimitätsproblem. Im Ergebnis kann er das bisherige, zutreffende Gefühl der Betroffenen, mit ihren Anliegen nicht gesehen und ernst genommen zu werden, sogar noch verstärken. Einige der vergangenen Restitutionen und Repatriierungen nach Namibia passen genau auf die von de Greiff beschriebene Situation: Nach über hundert Jahren ohne eine umfassende Entschuldigung, Anerkennung und Wiedergutmachung für den Völkermord an den Ovaherero und Nama von 1904–1908 werden nun wenige symbolisch wichtige Objekte, wie etwa die Bibel und Peitsche von Hendrik Witbooi, restituiert. Es ist klar, dass sich hieran Wut der Nachfahren entzündet. Es ist auch klar, dass die Nachfahren der Opfer auf einem umfassenderen Recht auf Einbeziehung, Entschuldigung und Reparation beharren. 40 All dies hat gleich mehrfach Relevanz für den Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten. Wie eng deren Provenienz mit historischer Gewalt verbunden ist, machen Sarr und Savoy deutlich, die in ihrem Bericht auf einen der wenigen Museumsbestände verweisen, der annähernd inventarisiert ist und dessen Listen zugleich für die Öffentlichkeit zugänglich sind, das Musée du quai Branly in Paris. Aus dessen sicherlich exemplarischen Listen geht hervor, dass der überwiegende Teil der Sammlung in der Phase der Kolonialeroberung und der etablierten Kolonialherrschaft beschafft wurde. 41
39 Wie Anm. 12, Ziffer 62–63. 40 Reinhart Kößler: Negotiating the Past. Namibia and Germany. Münster 2015, S. 295; Ders.: The Bible and the Whip. Entanglements Surrounding the Restitution of Looted Heirlooms. Freiburg 2019. 41 Sarr / Savoy (Anm. 2), S. 100.
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Nach dem Vorgesagten sollte klar geworden sein, dass Kulturgüter, die im Zusammenhang mit historischer Gewalt nach Deutschland verbracht wurden, die ihrerseits nicht aufgearbeitet wurde, denklogisch und juristisch in diesem Gewaltkontext stehen. Und zwar erst einmal unabhängig davon, ob sie jeweils im Einzelfall durch die konkrete Anwendung von Gewalt nach Deutschland gekommen sind. Auch diese Provenienz spielt für die Beurteilung eine gewichtige Rolle. Es geht aber nicht an, wegen einer gewaltlosen Verbringung im Einzelfall das Ausmaß und den Charakter der jeweiligen historischen Gewalt in den Kolonien auszublenden. Erkennt man diesen Hintergrund an, haben Restitutionen andererseits das Potenzial, eine Form von Wiedergutmachung zu sein und zur Aufarbeitung kolonialen Unrechts beizutragen. Gelingen wird dies als Teil eines umfassenden, als glaubwürdig wahrgenommenen Prozesses gemeinsam mit den Nachfahr*innen der Betroffenen. Solche Aufarbeitungsprozesse verpflichten Staaten und betreffen ganze Gesellschaften, aber gerade Einrichtungen, die Kulturgüter aus kolonialen Kontexten besitzen, können und müssen sich hier glaubwürdig verhalten. Das kann bedeuten, dass zu restituieren ist. Es betrifft aber auch die Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften, den unbürokratischen Zugang zu Informationen sowie Fragen der Erinnerung und des Gedenkens, die mit den genannten Prozessen verbunden sind. Diese Aspekte haben ihre Entsprechung in heutigen Menschenrechten der Betroffenen, etwa in kulturellen und Beteiligungsrechten. 42 Beispiele dafür, wie solche Prozesse im Austausch mit Betroffenen interkulturell sensibel ausgestaltet und die entscheidende Sichtbarkeit ihrer Perspektiven sichergestellt werden kann, finden sich etwa im Bericht zu Erinnerungsund Gedenkprozessen von Farida Shaheed, der Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für Kulturelle Rechte. 43 Es gibt eine Reihe von Hilfestellungen und Instrumenten, 44 und es gibt einzelne Erfahrungswerte, etwa aus innerstaatlichen Prozessen vor allem, aber nicht nur in ehemaligen Siedlerkolonien, 45 oder Aspekte der Arbeit von Wahrheits-
42 Jochen v. Bernstorff / Jakob Schuler: Wer spricht für die Kolonisierten? Eine völkerrechtliche Analyse der Passivlegitimation in Restitutionsverhandlungen. In: Zeitschrift für Ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV)/Heidelberg Journal of International Law (HJIL) 79 (2019) H. 3, S. 553–577. 43 Wie Anm. 34. 44 Wie Anm. 25, siehe auch Salvioli (Anm. 30). 45 Siehe nur die im November 2019 vom Sami-Parlament angenommene „Commission to Investigate the Norwegianisation Policy and Injustice against the Sámi and Kvens / Norwegian Finn“, welche die Assimilierungspolitik gegen diese Gruppen in einem Zeitraum ab etwa 1800 untersucht, https://uit.no/kommisjonen_en (aufgerufen am 12. 12. 2020); ein ähnliches Vorhaben wird in Schweden diskutiert: Sweden to Set Up
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kommissionen, 46 auf die man sich hier beziehen kann. Die Relevanz dieser Instrumente wird aber erst gar nicht gesehen, wenn der Gewalt- und Unrechtscharakter nicht erkannt und benannt wird, der die Kolonisierung prägte.
3. Restitutionen vor dem Hintergrund postkolonialer Machtverhältnisse und durch Kolonisierung geprägter Rechtsstrukturen „[. . .] if the ‚colonial‘ is a process and product of imperial ambitions and rivalry amongst European nations [and] as such also a project of sustained political violence against the non-European others, the postcolonial may scarcely be otherwise.“ 47
Kolonialismus ist nicht auf die damit verbundene physische Gewalt zu reduzieren. Er schuf bis in die Gegenwart wirkende Strukturen. Dies muss auch in der juristischen Aufarbeitung berücksichtigt werden. Es geht deswegen nachfolgend um gegenwärtige Rechte und die Strukturen des Kulturgüterschutzrechts und der Menschenrechte, die Restitutionen fördern, in die sie aber auch eingreifen können. Einen eigenständigen Aspekt stellen dabei die fortdauernden kolonialen Verluste von Kulturgütern durch die „Sammelwut“ europäischer Museen, Institutionen und Forschungseinrichtungen dar. 48 Hierbei ergibt sich ein heterogenes Bild, das auch mit den heutigen, postkolonialen Machtstrukturen des Völkerrechts zu tun hat. Nach der Vorstellung der europäischen Jurist*innen, die sich insbesondere im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte, war (national)staatliche Souveränität eine exklusive Kategorie. Sie sprach den nichteuropäischen Völkern den Status als Völkerrechtsubjekte ab, nur um sie als zu kolonisierendes Objekt, sei es durch wirtschaftlichen Zugriff, Zivilisierung, Missionierung oder Schutz, wieder ins Recht einzuführen.
Truth Commission to Shed Light on Abuse of Tornedalians. In: The Local, Sweden, 13. 2. 2020; außerdem die Arbeit der, allerdings umstrittenen, Royal Commission on Aboriginal Peoples (RCAP) in Kanada sowie die von 1995–1997 durchgeführte National Inquiry into the Separation of Aboriginal and Torres Strait Islander Children from their Families; vgl. Jennifer Balint / Julie Evans / Nesam McMillan: Rethinking Transitional Justice, Redressing Indigenous Harm: A New Conceptual Approach. In: International Journal of Transitional Justice 8 (2014) H. 2, S. 194–216. 46 Wie Anm. 32. 47 Upendra Baxi: Postcolonial Legality. In: Henry Swartz / Sangeeta Ray (Hrsg.): A Companion to Postcolonial Studies. Oxford 2000, S. 540–555; Ders.: Postcolonial Legality. A Postscript from India. In: Verfassung und Recht in Übersee / Law and Politics in Africa, Asia and Latin America 45 (2012) H. 2, S. 178–194, hier S. 179. 48 Wie Anm. 35.
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Nach diesem juristischen Kunstgriff gab es in rechtlicher Hinsicht nur noch Europa. Aus europäischer Sicht konnte das Land der zu Kolonisierenden so als „Niemandsland“ (terra nullius) in Besitz genommen werden. 49 Das europäische Völkerrecht wurde zum universellen Völkerrecht der Welt stilisiert; die außereuropäische Welt wurde zu dem, was rechtliche Regelung aus ihr machte. Zu Subjekten des Völkerrechts wurden die ehemaligen Kolonien nach dieser Ansicht erst nach Befreiungskriegen und Dekolonisierung, die dort lebenden Menschen in gewissem Umfang durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Menschenrechte und die Rechte der indigenen Völker. Diese eurozentristische, essentialistische Differenz zwischen Europa und „den anderen“ prägt nach Anghie das Völkerrecht aber bis heute. 50 Am internationalen Recht des Kulturgüterschutzes und den zur Restitution von Kulturgut nach Konflikten zwischen Staaten getroffenen Regelungen lässt sich beispielhaft nachvollziehen, dass sich vor diesem historischen Hintergrund auch solche Regelungen, die auf dem Prinzip der formalen Gleichheit aufbauen, als Barriere auswirken können. 51 Gleichzeitig stehen im heutigen Rechtssystem den erwähnten Verlusten, und zwar ganz unabhängig von den oben beschriebenen Kontexten von Gewalt, Rechte der Menschen in den Nachfolgestaaten der Kolonien gegenüber sowie Rechte der Gesellschaften und Staaten, in denen sie leben. 52 Dies soll nachfolgend am Beispiel der Rechtsregimes, die Restitutionen zwischen Staaten (unten 4.) beziehungsweise an Individuen (unten 5.) regeln, nachvollzogen werden.
49 Anghie (Anm. 6), S. 91, 100–104, 111–114. 50 Ebd., S. 310. 51 Silvia Rivera Cusicanqui: Pachakuti: Los horizontes históricos del colonialismo interno. In: Dies. (Hrsg.): Violencias (re)encubiertas en Bolivia. Santander 2012, S. 39– 63, hier S. 40. 52 Zur Zweischneidigkeit der Menschenrechte in diesem Zusammenhang: Siehe Baxi (Anm. 47); Makau W. Mutua: Reflecting on the Genocide of the Ovaherero and Nama Peoples 115 years later. In: European Center for Constitutional and Human Rights e. V. (ECCHR) (Hrsg.): Colonial Repercussions: Namibia. Berlin 2019; Tshepo Madlingozi: On Transitional Justice Entrepreneurs and the Production of Victims. In: Journal of Human Rights Practice 2 (2010) H. 2, S. 208–228; Vasuki Nesiah: The Ambitions and Traumas of Transitional Governance. Expelling Colonialism, Replicating Colonialism. In: International Law and Transitional Governance. London 2020, S. 139–152; Theurer / Kaleck (Anm. 4), S. 22–29.
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4. Restitutionen zwischen Staaten Regelungen zum Umgang mit Kulturgütern im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten gibt es seit Langem. So waren auch dem über Jahrhunderte geltenden Beuterecht im Krieg für bestimmte religiöse und kulturelle Güter Grenzen gesetzt. Das erste internationale Vertragswerk, das explizite Regelungen zum Schutz von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten enthielt, ist die eingangs beschriebene Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1899 und 1907. 53 Sie enthält Vorgaben zum Umgang mit Kulturgut und Privateigentum in bewaffneten Konflikten, aber keine Regelungen zu Restitutionen. Solche wurden aber durch Friedensverträge getroffen. 54 Im Einzelfall konnte hier auch ein Bezug zu kolonialen Kontexten bestehen, wie bei der Überführung des Haupts von Mkwavinyika Munyigumba Mwamuyinga (kurz Mkwawa) nach dem Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919. 55 Mkwawa war Anführer der Wahehe im heutigen Tansania. Nach einem mehrjährigen Guerillakampf gegen die deutsche Schutztruppe beging er 1898 Selbstmord, um einer Ergreifung durch die Deutschen vorzukommen. Sein Schädel wurde danach als Trophäe nach Deutschland verbracht. Großbritannien brandmarkte dies als Beispiel für die Grausamkeit der deutschen Kolonialherrschaft, weswegen sich hierzu eine Regelung im Teil VIII des Versailler Friedensvertrags findet. Dieser regelt die von Deutschland zu leistende Wiedergutmachung, darunter in Art. 238 ff. die Restitutionen von Kulturgütern innerhalb Europas. Art. 246 des Vertrags gibt vor: „Binnen sechs Monaten [. . .] ist der Schädel des Sultans Makaua, der aus dem deutschen Schutzgebiet Ostafrika entfernt und nach Deutschland gebracht worden ist, von Deutschland der Regierung Seiner Britischen Majestät zu übergeben. Ort und Bedingungen der Rückgabe werden von den Regierungen bestimmt, an die diese Gegenstände zurückzuerstatten sind.“
Bezeichnenderweise stand Großbritannien, nicht den Nachkommen Mkwawas, dieser Rückgabeanspruch zu. Weder das durch den Versailler Vertrag für die ehemaligen deutschen Kolonien begründete Mandatssystem des Völkerbunds noch das Treuhandsystem der Vereinten Nationen
53 Wie Anm. 6. 54 Kerstin Odendahl: Kulturgüterschutz. Entwicklung, Struktur und Dogmatik eines ebenenübergreifenden Normensystems. Tübingen 2005, S. 11–15, 162. 55 Friedensvertrag zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten, 28. 6. 1919, Reichsgesetzblatt 1919, S. 140, 687–1349; Jeremiah J. Garsha: Expanding Vergangenheitsbewältigung? German Repatriation of Colonial Artefacts and Human Remains. In: Journal of Genocide Research 22 (2020) H. 1, S. 46–61.
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bejahte Rechtsansprüche von Kolonisierten zur Rückführung von in der Kolonialzeit verbrachtem Kulturgut. An diesem Ergebnis änderte sich auch in der Zwischen- und Nachkriegszeit zunächst nichts. Die Zerstörung und Plünderung von Kulturgut im Zuge der NS-Herrschaft wurde vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg als Kriegsverbrechen angeklagt. 56 Die Plünderung zivilen Eigentums in bewaffneten Konflikten ist seit 1949 durch Art. 33 Abs. 2 der 4. Genfer Konvention verboten. 57 Art. 1 Abs. 3 der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954 regelt zudem die Rückgabe von in Gewahrsam genommenem Kulturgut nach Beendigung der Feindseligkeiten. 58 Eine rückwirkende Anwendung der genannten Konventionen auf Sachverhalte vor ihrem Inkrafttreten hätten die Staaten vereinbaren können, sie unterließen dies jedoch. Später verhieß die Teilnahme inzwischen unabhängig gewordener, ehemals kolonisierter Staaten an Verhandlungen über die internationalen Vertragswerke zum Kulturgüterschutz eine Entwicklung in Richtung der Restitution von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten. Die Konvention über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) von 1970 (UNESCO-Konvention) 59 ist bis heute der Kern des so entstandenen internationalen Regelwerks. Einige junge Staaten des Globalen Südens, die relevante Teile ihres Kulturguts in der Kolonialzeit verloren hatten, machten sich im Vorfeld und auch später für eine Rückführung ihres kulturellen Erbes stark. 60 Die Forderung nach einer retroaktiven Anwendung
56 Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 14. 11. 1945-1.10.1946, Bd. 1. Nürnberg 1947, S. 59–65. 57 Convention (IV) Relative to the Protection of Civilian Persons in Time of War, 12. 8. 1949, https://www.un.org/en/genocideprevention/documents/atrocity-crimes/ Doc.33_GC-IV-EN.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020), S. 287; Bundesgesetzblatt 1954 II, S. 917; 1956 II, S. 1586. 58 United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization: Convention for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict, 14. 5. 1954. In: UNESCO Digital Library, https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000082464 (aufgerufen am 12. 12. 2020); Bundesgesetzblatt 1967 II, S. 1233. 59 Dies.: Convention on the Means of Prohibiting and Preventing the Illicit Import, Export and Transfer of Ownership of Cultural Property, 14. 11. 1970. In: ebd., https:// unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000133378 (aufgerufen am 12. 12. 2020); Bundesgesetzblatt 2007 II, S. 627. 60 United Nations General Assembly: Resolution of the Security Council re. Restitution of Works of Art to Countries Victims of Expropriation (UN-Doc A/Res/3187/XXVIII), 18. 12. 1973, http://www.unesco.org/culture/laws/pdf/UNGA_ resolution3187.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020).
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des Abkommens konnte aber nicht durchgesetzt werden, weil Staaten mit großen Kunstsammlungen und -märkten sich ihr widersetzten. Die UNESCO-Konvention schützt daher erst ab ihrem Inkrafttreten das nationale Kulturgut der Vertragsparteien, die jeweils souverän über die Zuordnung von Kulturgütern zu ihrem kulturellen Erbe entscheiden können. 61 Art. 1 der UNESCO-Konvention definiert Kulturgut, „cultural property“, 62 als das „von jedem Staat aus religiösen oder weltlichen Gründen als für Archäologie, Vorgeschichte, Geschichte, Literatur, Kunst oder Wissenschaft besonders wichtig bezeichnete Gut [. . .].“
Der enge Zusammenhang zwischen der staatlichen Souveränität und dem eigenen kulturellen Erbe wurde unabhängig von der UNESCO-Konvention immer wieder betont, etwa vom Internationalen Gerichtshof im Preah-Vihear-Fall, einem Grenzstreit zwischen Kambodscha und Thailand um einen hinduistischen Tempel. 63 Seine Bedeutung für die kulturelle Identität der Herkunftsstaaten und der betroffenen Zivilgesellschaften wird unter anderem in den Bund-Länder-Eckpunkten zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten vom 13. März 2019 explizit anerkannt. 64 Ein Spannungsfeld besteht hier bezüglich solcher Kulturgüter, die nicht durch die Staatsangehörigen des jeweiligen Staats selbst geschaffen wurden. Hier regelt Art. 4 lit. b) bis e) der UNESCO-Konvention zwar, dass zum kulturellen Erbe auch solche Güter gehören, die im eigenen Staatsgebiet gefunden, mit Zustimmung der zuständigen Behörden des Ursprungslands durch Missionen erworben, rechtmäßig gekauft oder sonst als Geschenk oder aufgrund freier Vereinbarung ausgetauscht wurden.
61 Lyndel V. Prott: Strengths and Weaknesses of the 1970 Convention: An Evaluation 40 Years after its Adoption. Background Paper for Participants in the Second Meeting of States Parties to the 1970 Convention, 20.-21. 6. 2012. Paris 2. Aufl. 2012, http://www. unesco.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/CLT/pdf/Prott_2_en.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020). 62 Zu „Kulturgut“ statt „kulturellem Eigentum“ vgl. Anne Splettstößer: Pre-Columbian Heritage in Contestation. The Implementation of the UNESCO 1970 Convention on Trial in Germany. In: Brigitta Hauser-Schäublin / Lyndel V. Prott (Hrsg.): Cultural Property and Contested Ownership. The Trafficking of Artefacts and the Quest for Restitution. Abingdon Oxon / New York 2016, S. 156–177; Bénédicte Savoy: Eigentum und Besitz. Ein paar ideengeschichtliche Gedanken zu einem juristischen Begriffspaar. In: Völkerrechtsblog, 17. 9. 2018, DOI: 10.17176/20180917-112316-0. Vgl. auch die Beiträge von Erhard Schüttpelz und Brigitta Hauser in diesem Band. 63 So v. Bernstorff / Schuler (Anm. 42); International Court of Justice: Temple of Preah Vihear (Cambodia v. Thailand). Judgment v. 15. 6. 1962, https://www.icj-cij.org/public/ files/case-related/45/045-19620615-JUD-01-00-EN.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020), S. 36. 64 Wie Anm. 22.
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Wechselseitige Ansprüche mehrerer Staaten dürfte dies aber weder ausschließen noch klären. Postkoloniale Kontinuitäten spielen auch eine Rolle in der praktischen Anwendung der UNESCO-Konvention. Insbesondere die europäischen Staaten befürchteten von der UNESCO-Konvention zunächst einen negativen Einfluss auf ihren Kunstmarkt. In den ersten Jahrzehnten ratifizierten vor allem die wichtigsten Herkunftsstaaten von Kulturgütern des globalen Südens die Konvention. 65 Die weiterreichende, nun auch Private betreffende Konvention des International Institute for the Unification of Private Law (UNIDROIT) von 1995 wurde bis heute von elf Staaten ratifiziert. 66 Deutschland ratifizierte die UNESCO-Konvention im Jahr 2007, 35 Jahre nach ihrem Inkrafttreten, und die UNIDROIT-Konvention gar nicht. 67 Von 2007 bis 2016 setzte das Kulturgüterrückgabegesetz (KultGüRückG) 68 die UNESCO-Konvention erstmals in deutsches Recht um. Der erste transnationale Fall, der nach dem KultGüRückG entschieden wurde, bezog sich auf die sog. Patterson-Sammlung nach 1970 gehandelter präkolumbianischer Kulturgüter. 69 Mexiko, Guatemala und Costa Rica machten erfolglos Restitutionsansprüche geltend. Sie scheiterten an formalen Anforderungen an Restitutionsbegehren, die den Realitäten der Herkunftsstaaten nicht entsprachen. Denn § 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 KultGüRückG legten als Voraussetzung für Restitutionen fest, dass das Kulturgut vor Verbringung „individuell identifizierbar von einem anderen Vertragsstaat in ein Verzeichnis des bedeutenden öffentlichen und privaten Kulturgutes aufgenommen wurde“,
65 Bei Inkrafttreten 1972: Ecuador, Bulgarien, Nigeria, einen Monat später die Zentralafrikanische Republik, https://treaties.un.org/Pages/showDetails.aspx?objid= 08000002801170ec&clang=_en (aufgerufen am 12. 12. 2020). 66 International Institute for the Unification of Private Law: Convention on stolen or illegally exported cultural objects, 24. 6. 1995, https://www.unidroit.org/english/conventions/1995culturalproperty/1995culturalproperty-e.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020), S. 457. 67 Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste: Ausarbeitung: Rückführung von Kulturgütern aus Kolonialgebieten. Rechtsgrundlagen für Ansprüche auf Restitution (BT WD 10-3000-023/18), 4. 5. 2018, https://www.bundestag.de/resource/blob/ 561162/d41c5c7c2312cbd82286e01677c187e8/WD-10-023-18 sx-pdf-data.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020), S. 7. 68 Gesetz zur Ausführung des UNESCO-Übereinkommens v. 14. 11. 1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut (Kulturgüterrückgabegesetz – KultGüRückG), 18. 5. 2007, Bundesgesetzblatt 2007 I, S. 757. 69 Splettstößer (Anm. 62), S. 161–166.
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das des Weiteren „im Bundesgebiet ohne unzumutbare Hindernisse öffentlich zugänglich“ sein muss. Da das Gesetz in keinem einzigen Fall zu einer Rückgabe führte, wurde es im Ergebnis als gescheitert betrachtet. 70 2016 wurde es vom heute gültigen Gesetz zum Schutz von Kulturgut (KGSG) 71 abgelöst, dessen Ein- und Ausfuhrbestimmungen insbesondere von einigen Kunsthändler*innen als zu weitreichend kritisiert wurden. 72 Verfassungsbeschwerden gegen das KGSG, die Verletzungen des Grundrechts auf Eigentum geltend macht, sind beim Bundesverfassungsgericht anhängig. 73 Im Ergebnis zementiert der auf der UNESCO-Konvention aufbauende Kulturgüterschutz eher den zwischenstaatlichen status quo, als ihn – selbst bei massiven Unrechtssachverhalten – zu überwinden. Die Konvention steht zwar der Restitution von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten nicht entgegen, soweit Empfängerstaaten diese nicht, im Rahmen von Art. 4 der Konvention, als Teil ihres eigenen kulturellen Erbes ausweisen. Der Kulturgüterschutz wird jedoch als Ausfluss der staatlichen Souveränität gesehen, so dass auch diese im Einzelfall beim Entzug von Kulturgütern verletzt sein kann. Aus Sicht vieler Herkunftsstaaten von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten greift der Schutz aber gleich mehrfach zu kurz: Er erfasst nicht den wichtigen Zeitraum des Verlusts von Kulturgütern ab dem 19. Jahrhundert. Er wurde auch für den Zeitraum danach nur zögerlich umgesetzt; Nachfolgestaaten europäischer Kolonien mit schwachen Verwaltungsstrukturen wurden durch die hohen formellen Anforderungen benachteiligt.
70 Bundesregierung: Bericht über die Auswirkungen des Gesetzes zur Ausführung des UNESCO-Übereinkommens v. 14. 11. 1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut (Ausführungsgesetz zum Kulturgutübereinkommen) und den Schutz von Kulturgut vor Abwanderung ins Ausland, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/133/ 1713378.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020), S. 7–10. 71 Gesetz zur Neuregelung des Kulturgutschutzrechts, 31. 7. 2016, Bundesgesetzblatt 2016 I, S. 1914. 72 Statt vieler: Reaktion auf geplantes Kulturgutschutzgesetz. Hasso Plattner erwägt Umzug seiner Kunstsammlung in die USA. In: Der Tagesspiegel, 1. 8. 2015. 73 Bundesverfassungsgericht: Jahresvorausschau 2020: Verfassungsbeschwerden zu der Frage, ob verschiedene Vorschriften des Gesetzes zum Schutz von Kulturgut (Kulturgutschutzgesetz – KGSK) mit dem Grundgesetz vereinbar sind, 1 BvR 1658/17, 1 BvR 1727/17, 1 BvR 1728/17, 1 BvR 1729/17, 1 BvR 1735/17, 1 BvR 1746/17, https://www. bundesverfassungsgericht.de (aufgerufen am 12. 12. 2020).
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5. Restitutionen an Individuen und Menschenrechte Vom beschriebenen völkerrechtlichen Rechtskorpus nicht erfasst sind, auf Seite der Verpflichteten wie der Berechtigten, Akteur*innen jenseits der Staaten. Mit Blick auf koloniale Kontexte ist dies nicht nur insofern problematisch, als dass private Akteur*innen bei der Verbringung von und dem Handel mit Kulturgut eine entscheidende Rolle gespielt haben 74 und auch heute noch spielen, wie in der Debatte um das KGSG von 2016 zu spüren war. Auch für die in der Entwicklung der Menschenrechte aufgewerteten Individuen ist die Geltendmachung von Restitutionsbegehren erschwert, auch wenn sie sich auf bestimmte historische Beispiele und völkerrechtlich geschützte Rechtspositionen berufen können. Die strukturell schwache Stellung von Individuen lässt sich für das deutsche Recht am wohl prominentesten Beispiel der Restitution von Kulturgütern, die in der NS-Zeit geraubt wurden, nachvollziehen. Westdeutsche Gerichte wendeten unter Berufung auf die eingangs beschriebene Radbruch’sche Formel eine Reihe von NS-Gesetzen nicht an, weil sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit zuwiderliefen, darunter das „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ vom 14. Juli 1933, mit dessen Hilfe zahlreichen politisch missliebigen oder antisemitisch verfolgten Bürger*innen ihre Staatsangehörigkeit entzogen wurde. 75 Auf das „Gesetz über Einziehung von Erzeugnissen [sogenannter] entarteter Kunst“ vom 31. Mai 1938 76 wurde die Formel dagegen nicht angewendet. Die diesbezügliche Entscheidung war allerdings auch damals schon umstritten, denn sie führte aus, dass dieses Gesetz alle Bürger*innen gleich betroffen und daher keine Verfolgungsmaßnahme dargestellt habe. 77 Restitutionen von in der NS-Zeit geraubten Kulturgütern aus jüdischem Vorbesitz waren im Übrigen auch bereits nach dem alliierten Besatzungsrecht möglich gewesen. Gemeinsam waren ihm und seinen Folgeregelungen in der jungen Bundesrepublik harte Ausschlussfristen, die in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg ausliefen. 78 Danach waren 74 Matti Koskenniemi: Colonial Laws, Sources, Strategies and Lessons? In: Journal of the History of International Law / Revue d’histoire du droit international (JHIL) 18 (2016) H. 2–3, S. 248–277; grundlegend zu rechtlichen Aspekten der Kolonisierung als „Public-Private-Partnership“ Sundhya Pahuja: Decolonising International Law. Development, Economic Growth, and the Politics of Universality. Cambridge 2011. 75 Reichsgesetzblatt 1933 I, S. 480, vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs v. 28. 2. 1955 (GSZ 4/54), für weitere Nachweise siehe Heidt (Anm. 19), S. 31–34. 76 Reichsgesetzblatt 1938 I, S. 612. 77 Heidt (Anm. 19), S. 33, mit Verweis auf Oberlandesgericht Karlsruhe: Urteil v. 20. 5. 1954 (Rest M 1462 [270]= Sen. 282) und weiteren Nachweisen. 78 Ebd., S. 34–70.
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Restitutionen vom 29. September 1990 bis zum 30. Juni 1993 nach dem „Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen“ (VermG) 79 denkbar, dessen Anwendungsbereich sich auf das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik beschränkte. Unabhängig davon können sich Betroffene auf das Eigentum nach § 985 BGB berufen. Sie müssen aber darlegen, dass sie weiterhin Eigentümer*innen des jeweiligen Kulturguts sind, dieses also nicht von einem Dritten gutgläubig erworben wurde, und sie müssen darauf hoffen, dass die Beklagten nicht Verjährung geltend machen. Weiterreichende Ansprüche gibt es im deutschen Recht nicht. 80 Vor dem Hintergrund dieser engen rechtlichen Vorgaben ist interessant, dass rechtlich nicht unmittelbar bindende Instrumente demgegenüber eine große praktische Bedeutung erlangt haben. So erfolgen Restitutionen heute auf Grundlage der nicht rechtlich bindenden „Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden“ (Washingtoner Prinzipien), die auf der Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust am 3. Dezember 1998 verabschiedet wurden. 81 In Deutschland aufgegriffen wurden sie in der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz“ (Gemeinsame Erklärung) vom 14. Dezember 1999. Am 13. März 2019 verabschiedete die Kultusministerkonferenz die bereits erwähnten „Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“. 82 Auch diese sind rechtlich nicht unmittelbar bindend. Dennoch ist nach dem Vorgesagten in Bezug auf koloniale Kontexte die praktische Bedeutung der Eckpunkte nicht zu unterschätzen. Liest man die Washingtoner Prinzipien und die Eckpunkte nebeneinander, fällt zwar auf, wie klar in den Prinzipien das Identifizieren aller betroffenen Kunstwerke gefordert wird (No. 3). In den Eckpunkten ist von einer Entwicklung ähnlich stark formulierter Standards wie denen der Washingtoner Prinzipien nicht die Rede. Vielmehr fordern Bund und Länder zu Einrichtungen zur Provenienzforschung lediglich auf 83 und wollen diese nur bezüglich
79 Bundesgesetzblatt 1990 II, S. 885, 1159. 80 Zu weitergehenden Ansprüchen im Common Law vgl. James A. R. Nafziger / Robert K. Paterson / Alison D. Renteln (Hrsg.): Cultural Law, International, Comparative, and Indigenous. Cambridge 2010. 81 Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art, Released in Connection with the Washington Conference on Holocaust-Era Assets. Washington, D.C., 3. 12. 1998, https://www.state.gov/washington-conference-principles-on-nazi-confiscated-art/ (aufgerufen am 12. 12. 2020). 82 Wie Anm. 24. 83 Ebd., Ziffer 12–13.
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human remains „nachhaltig unterstützen“ 84. Anderseits stellen die Eckpunkte klar, dass human remains zu restituieren sind und dass auch im Übrigen Restitutionen rechtlich grundsätzlich möglich seien. 85 Institutioneller Ausdruck dieser Bemühungen ist die Schaffung der Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Berlin. Wenn Entscheidungen über Restitutionen von Kulturgütern demnach nach pflichtgemäßem Ermessen der Einrichtungen zu treffen sind, 86 werden dabei die legitimen Interessen der Betroffenen zu ermitteln und zu berücksichtigen sein, wie sie sich auch aus den einschlägigen Menschenrechtsabkommen und soft-law-Instrumenten ergeben. 87 Denn der fortdauernde Verlust von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten berührt verschiedene in den Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen enthaltene Garantien. Zu nennen sind hier das Recht auf kulturelle Teilhabe nach Art. 15 Abs. 1 lit. a) des Sozialpakts (ICESCR) 88 und die nach Art. 15 Abs. 2 ICESCR korrespondierende Staatenpflicht, diese zu gewährleisten. Dieses Recht steht in engem Zusammenhang mit dem Recht auf Bildung nach Art. 13 Abs. 1 ICESCR. Darüber hinaus garantiert beispielsweise Art. 31 der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker vom 3. September 2007 (UNDRIP) 89 das Recht indigener Völker auf die Bewahrung, die Kontrolle, den Schutz und die Weiterentwicklung ihres kulturellen Erbes. Anders als der Sozialpakt ist diese Erklärung zwar nicht rechtlich bindend, aber als soft-law-Standard anerkannt. 90 Konkrete Vorgaben für Restitutionsvorgaben können sich aus den genannten Rechten auch in Verbindung mit Garantien der Nichtdiskriminierung im Bereich des kulturellen Lebens 91 und den Beteiligungsrechten indigener Völker und Minderheiten ergeben. Illustrativ, wenn auch 84 Ebd., Ziffer 14–15. 85 Ebd., Ziffer 6–7, 20–22. 86 Vgl. auch Deutscher Museumsbund: Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, 2. Fassung 2019, https://www.museumsbund.de/publikationen/leitfaden-zum-umgang-mit-sammlungsgut-aus-kolonialen-kontexten/ (aufgerufen am 12. 12. 2020), S. 164. 87 Siehe nur v. Bernstorff / Schuler (Anm. 42), S. 562–570, 572. 88 International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, 16. 12. 1966, https://www . ohchr . org / en / professionalinterest / pages / cescr . aspx (aufgerufen am 12. 12. 2020); Bundesgesetzblatt 1976 II, S. 428. 89 United Nations General Assembly: United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples (UN Doc A/Res/61/295), 13. 9. 2007, https://undocs.org/A/RES/61/ 295 (aufgerufen am 12. 12. 2020). 90 Christian Schliemann Radbruch: Das völkerrechtliche Institut der Autonomie innerstaatlicher Gruppen. Tübingen 2017, S. 305–310. 91 Nichtdiskriminierung explizit in Bezug auf kulturelle Teilhabe und Rechte wird z. B. erwähnt in Art. 1, 3 und 13 lit. c) der Frauenrechtskonvention (CEDAW) sowie in Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2, Art. 5 lit. e (vi) und 7 der Anti-Rassismus-Konvention (ICERD).
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ohne unmittelbaren Bezug zur Restitution von Kulturgütern, ist insoweit, dass die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, Bundesaußenminister Heiko Maas am 2. November 2018 aufforderte, die Vertreter der Ovaherero und Nama in die laufenden Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Namibia über Entschädigungen wegen des Völkermords von 1904–1908 einzubeziehen. 92 So beschreibt UNDRIP auch die Ausgestaltung von Beteiligungsprozessen gemeinsam mit indigenen Völkern. Art. 18 UNDRIP enthält dabei das Recht der indigenen Völker, an Entscheidungsprozessen in Angelegenheiten, die ihre Rechte berühren können, durch von ihnen selbst gemäß ihren eigenen Verfahren gewählte Vertreter*innen mitzuwirken. Staaten sollen mit indigenen Völkern mit dem Ziel kooperieren, diese Zustimmung zu erhalten. Art. 19 UNDRIP beschreibt dafür das Prinzip der freiwilligen und in Kenntnis der Sachlage erteilten vorherigen Zustimmung indigener Völker (free prior informed consent), das auch von den Fachausschüssen der Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen angewendet wird. Wenn man sich ein Stück weit von der objektbehafteten Idee von „Sammlungsgut“ aus kolonialen Kontexten entfernt und nach dem Subjektcharakter der betroffenen Güter fragt, werden weitere Grund- und Menschenrechtsbezüge sichtbar. Dies ist offensichtlich für die Aspekte der menschlichen Würde im Zusammenhang mit human remains. 93 Denkbare weitere Schutzdimensionen können in Bezug auf religiöse Kulturgüter oder den Schutz der Urheberschaft indigener Völker an ihren kulturellen Erzeugnissen bestehen. Im Einzelfall mag aus diesen Instrumenten, im Wege einer Ermessensreduzierung auf null, ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Restitution erwachsen, dann nämlich, wenn jede andere Entscheidung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls unverhältnismäßig wäre.
92 So auch bereits United Nations General Assembly: Report of the Working Group of Experts on People of African Descent on Its Mission to Germany, 15. 8. 2017 (UN Doc A/HRC / 36/60), https://digitallibrary.un.org/record/1304263/files/A_HRC_36_60_ Add-2-EN.pdf (aufgerufen am 12. 12. 2020), S. 4. 93 Adrian Schmidt-Recla: Eine Stimme des Rechts. In: Sandra Mühlenberend / Jakob Fuchs / Vera Maruši´c (Hrsg.): Unmittelbarer Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Universitätssammlungen. Stimmen und Fallbeispiele. Dresden 2018, S. 16–26, hier S. 18.
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6. Zum Umgang mit postkolonialen Machtstrukturen Was folgt aus dem Vorgesagten? In allen untersuchten Bereichen, in der Praxis des Völkerstrafrechts und den internationalen Menschenrechten, dem Recht des Kulturgüterschutzes und in den Rechten indigener Völker, finden sich Rechtsstandards, die für Restitutionsprozesse relevant sind. Als geltendes Recht binden sie Staaten, als soft law leiten sie das Ermessen von Einrichtungen bei der Entscheidung über Restitutionsansprüche. Es sollte aber auch deutlich geworden sein, dass es angesichts der kolonialen Wurzeln des hier beschriebenen Systems nicht ausreichend ist, die genannten Standards für koloniale Kontexte einfach nur zur Anwendung zu bringen. Es muss vielmehr darum gehen, den durch Kolonisierung geschaffenen Strukturen mit ihrer Negierung von Subjektivität und Sichtbarkeit entgegenzuwirken. Makau Mutua beschreibt dies wie folgt: „This is what Third World Approaches to International Law (TWAIL) is about: resisting the abstraction of human suffering into the pain of an inanimate, curious and exotic ‚Other‘.“ 94
Ein glaubwürdiger Ansatz wird die Perspektiven der ehemals kolonisierten Staaten, Gesellschaften und Individuen ernsthaft verstehen wollen und in den Mittelpunkt stellen, um gemeinsam Strukturen zu entwickeln, um die Gesellschaften der Kolonisatoren und der Kolonisierten zu dekolonisieren. Wie oben gezeigt, finden sich im Recht Instrumente, die hierfür fruchtbar gemacht werden können. Einige Rechtsnormen, wie etwa die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker, wurden zu dem ausdrücklichen Zweck entwickelt, die aus der historischen Entrechtung während der Kolonialzeit resultierende Vulnerabilität dieser Gruppen zu adressieren. Denkbar ist hier viel, von verschiedenen Formen von Schiedsverfahren 95 bis zu Programmen für Reparationen 96 oder sonst glaubwürdigen Mechanismen der Beteiligung von Herkunftsstaaten und -gesellschaften. 97 Neue Modi des Umgangs mit Eigentum und Besitz an diasporischen Kulturgütern können entwickelt, 98 Formate für eine Aufarbeitung kolonialen Unrechts können definiert werden. 99
94 Mutua (Anm. 52), S. 20. 95 Andreas Fischer-Lescano: Das Pluriversum des Rechts. In: Merkur 74 (2020) H. 851, S. 22–31, hier S. 28. 96 Matsuda (Anm. 30), S. 392–398. 97 v. Bernstorff / Schuler (Anm. 42), S. 562–570. 98 Savoy (Anm. 62); zur Debatte um die Terminologie von „cultural heritage“ vs. „cultural property“ Splettstößer (Anm. 62), S. 158. 99 Nesiah (Anm. 52).
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„Das Recht“, insbesondere per se übertragbare Eigentumsrechte, stehen dem nicht entgegen. Es kommt vielmehr auf den politischen Willen, vornehmlich in den ehemaligen Kolonialgesellschaften, an – wie die Initiative des französischen Präsidenten mit den nunmehr erfolgten ersten Restitutionen an Benin und Senegal oder der Plan der niederländischen ethnologischen Museen eindringlich belegen. Denn nach den dortigen Leitlinien sollen Werke, die nach heutigem Rechtsempfinden unrechtmäßig erworben wurden, zurückgegeben werden, selbst wenn der Erwerb nicht gegen zeitgenössisch geltendes Recht verstieß. Sogar in Zweifelsfällen wollen die Niederländer Ansprüche anerkennen. Auch knüpfen sie die Rückgabe an keinerlei Bedingungen, wie etwa die Existenz eines Museums, in dem Objekte im Ursprungsland angemessen aufbewahrt werden können. Worauf also wartet Ihr deutschen Museen und Kulturpolitiker*innen?
Bettina Brockmeyer
Ein Zahn, ein Film und eine Geschichte? Überlegungen zur Rolle der Geschichtswissenschaften in den Restitutionsdebatten
1. Einleitung Wie ein Krimi ist die Reportage „Der Zahn des Häuptlings“ aufgebaut, die 2015 in der Reihe „WELTWEIT“ des WDR gezeigt wurde. 1 Schafft es die Protagonistin, eine Nachfahrin des Kolonialisierenden-Ehepaars v. Prince, den entwendeten „Zahn des Häuptlings“, den sie als Familienerbe verwaltet, in Tansania dessen Nachkommen zurückzugeben? Es handelt sich nämlich nicht um irgendeinen Milchzahn aus Kindertagen, den die Eheleute v. Prince da an sich genommen hatten, sondern um einen großen Backenzahn aus dem Kopf des durch sie zu Tode gekommenen Kriegsgegners Mtwa Mkwawa. 2 Entsprechend begleiteten, so wird es in der Reportage geschildert, tansanische Regierungsbeamte die Reisenden aus Deutschland im Sommer 2014, um eine private Übergabe zu verhindern. Am Ende wird alles gut, der Zahn kommt in die Herkunftsfamilie zurück, die Regierung lässt es zu, die Familien sprechen von Versöhnung, alle lächeln mehr oder weniger fröhlich in die Kamera. In dieser halbstündigen Reportage und dem doppelt so langen, um Interviews erweiterten 1 https://programm.ard.de/?sendung=2811115670241268 (aufgerufen am 30. 9. 2019). 2 Zeitgenössisch waren verschiedene Namensschreibweisen gebräuchlich (Qwawa, Kuawa etc.). Heute ist, auch in der Familie, Mkwawa die übliche Schreibweise. Sie gilt als Kurzform für Mkwavinyika. Vgl. dazu Alison Redmayne: Mkwawa and the Hehe Wars. In: Journal of African History 9 (1968) H. 3, S. 409–436, hier S. 409. M(u)twa war ein bei den Hehe gebräuchliches Wort für Häuptling oder Sultan, wie die Deutschen sagten, oder Chief, wie die Briten sagten. Vgl. z. B. Fulgens Malangalila: Mwamuyinga: mtawala wa wahehe. Ndanda u. a. 1987. Vgl. auch das Hehe-Wörterbuch des benediktinischen Missionars Cassian Spiß. Hier nannte er für das deutsche Wort „Häuptling“ die Begriffe: „mutwa, mtemi, mlugu, chota“: Kihehe-WörterSammlung. Kihehe-Deutsch und Deutsch-Kihehe. In: Mittheilungen des Seminars für orientalische Sprachen 3 (1900), S. 115–190, zit. S. 160.
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Bettina Brockmeyer
gleichnamigen Dokumentarfilm werden Kernfragen der aktuellen Restitutionsdebatte angesprochen. Denn zu fragen ist erstens, wer wem was zurückgibt. Die Nachfahrin der Eheleute Prince konfrontierte ihre weit verzweigte Familie mit der geplanten Rückgabe eines als Schmuckstück in Gold eingefassten und mit dem Familienwappen versehenen Zahns, von dem innerhalb der Familie mündlich weitergegeben wurde, dass es sich um einen Zahn Mkwawas handele. Sie traf auf Widerspruch. Sie konnte den Zahn also nicht im Namen der gesamten Familie zurückgeben, sondern nur eines Teils. Die tansanische Regierung sah die Restitution des mutmaßlichen Zahns von Mtwa Mkwawa, eines als Nationalhelden verehrten antikolonialen Widerstandskämpfers, als Staatsangelegenheit an und verstand demnach nicht automatisch den 2014 amtierenden Chief und Urenkel Mkwawas als Adressaten. Die Nachfahr*innen der Familie v. Prince setzten sich über diese Ansicht erfolgreich hinweg, letztlich wurde es eine Restitution eines menschlichen Überrests von Familie zu Familie. Zweitens geht es um die verschiedenen Formen von Öffentlichkeit, die eine Rückgabe von Objekten einschließt. Wie viel Öffentlichkeit braucht eine Restitution? Mag es auch als privates – im Sinne von: in den Familien bleibendes – Vorhaben geplant worden sein, so erschien der Akt der Übergabe den Nachfahr*innen der ehemaligen Kolonialisierenden doch von öffentlichem Interesse und sie veranlassten eine journalistische Begleitung. Außerdem wandten sie sich zuvor an Wissenschaftlerinnen, zunächst an Marianne Bechhaus-Gerst und später dann auch an mich, um die Geschichte besser verstehen zu können und sie gleichzeitig in Büchern und Artikeln zu platzieren. Der Chief gab in der Reportage ein Statement für das deutsche Publikum, in dem er für weitere Rückgaben, für Gesten der Entschuldigung und für Versöhnung warb. Ist eine Restitution daher stets öffentlich bzw. von öffentlichem Interesse? Drittens und damit verbunden schließlich ist die Frage, wie die Restitution erinnert, erzählt, weitergegeben werden soll. Hierfür muss, soweit möglich, die Geschichte erläutert werden, die zu der Notwendigkeit einer Rückgabe geführt hat, es muss die Provenienz geklärt werden; die historischen Kontexte des ‚Erwerbs‘ und des weiteren Umgangs müssen in die Geschichte des Objekts einfließen. Dabei ist es jedoch, das ist die These des Nachfolgenden, entscheidend, wie diese Geschichte erstens erarbeitet und zweitens erzählt wird: Sie ist Ausdruck oder Motor für eine Kultur geschichtswissenschaftlichen Forschens und Schreibens, also für eine Kultur von Praktiken, die im Hinblick auf Kolonialgeschichte endlich überwiegend und nicht mehr nur ausnahmsweise in Kooperation zwischen Forschenden aus den ehemaligen Kolonien und den ehemaligen Kolonialmächten ausgeführt werden sollten.
Ein Zahn, ein Film und eine Geschichte?
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Dieser dritte Punkt betrifft – wie die beiden anderen auch, aber in noch expliziterer Weise – die Darstellungsebene und im umfassenderen Sinne die Rolle der Geschichtswissenschaft, eine Rolle, die für Verständigungsprozesse durch Restitutionen durchaus zukunftsweisend sein kann. Auf alle drei Punkte komme ich im Folgenden zu sprechen, der wichtigste ist mir jedoch der letzte. Vorangeschickt werden soll allerdings noch, dass sämtliche Fragen, die im Folgenden behandelt werden, nicht das „Ob“ einer Restitution berühren. Dass Restitutionen, wenn sie möglich sind, notwendig und geboten sind, ist in diesem Artikel die Voraussetzung aller angesprochenen Gedanken.
2. Recht Für die Frage, wer wem was zurückgibt, können rechtliche Regelungen – so welche vorhanden sind und angewandt werden – relevant werden. Dazu ist ganz grundsätzlich zu sagen, dass rechtsgeschichtliche Forschungen den völkerrechtlichen Unterschied zwischen Krieg und Kolonialismus betonen, wenn es um die Rückgabe von Objekten aus kolonialen Kontexten geht. 3 Ein aussagekräftiges Quellen-Beispiel für diese Unterscheidung zwischen Krieg und Kolonialherrschaft ist der Versailler Friedensvertrag, in dem diverse Paragrafen die Rückgabe europäischer Kriegsbeute regeln, jedoch nur ein Paragraf auf Objekte aus Kolonien verweist. Dieser Paragraf nennt zwei sehr spezielle ‚Gegenstände‘, die zurückgefordert werden, nämlich eine Ausgabe des Koran und einen menschlichen Schädel. 4 Beide Objekte, wobei man freilich bei einem Schädel nicht ohne Weiteres von einem Objekt sprechen kann, aber darum geht es an dieser Stelle nicht, rekurrieren auf britische Kolonialpolitik. So soll der Koran an den „König des Hedschas“ übergeben werden, angeblich habe Kaiser Wilhelm II. ihn in seinem Privatbesitz. Bereits diese Adressierung Hussein ibn Alis (1853–
3 Christoff Jenschke: Der völkerrechtliche Rückgabeanspruch auf in Kriegszeiten widerrechtlich verbrachte Kulturgüter. Berlin 2005, S. 28. 4 Friedensvertrag von Versailles, Teil VIII, Anlage VI, Abschnitt II, Artikel 246, http://www.documentarchiv.de/wr/vv08.html (aufgerufen am 30. 9. 2019), vgl. Bettina Brockmeyer: Menschliche Gebeine als Glaubensobjekte. Koloniale Kriegsbeutenahme, Vergleichspraktiken und Erinnerung seit dem späten 19. Jahrhundert. In: WerkstattGeschichte 77 (2017), S. 47–64. Auf das Ungleichgewicht in Sachen Restitutionen weist auch Jeremiah J. Garsha hin: Expanding Vergangenheitsbewältigung? German Repatriation of Colonial Artefacts and Human Remains. In: Journal of Genocide Research 1 (2019), S. 1–16, DOI: 10.1080/14623528.2019.1633791. Vgl. auch den Beitrag von Judith Hackmack und Wolfgang Kaleck im vorliegenden Band.
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1931) sowie auch die Forderung selbst zeigen die Bestrebungen um eine Neuordnung des Nahen Ostens. 5 Der Schädel Mkwawas (im Vertrag Makaua genannt) – hierbei geht es um den Schädel eben jenes afrikanischen Mtwas, dessen Kopf die Eheleute Prince einen Zahn entnahmen – soll von den Deutschen, von denen damit behauptet wird, dass sie ihn in einem ihrer Museen haben, in britische Hände übergeben werden. Die Briten übernahmen nach dem Ersten Weltkrieg die Mandatsmacht in Ostafrika, mit dieser Forderung machten sie das deutlich. Von Mtwa Mkwawas Familie oder den Hehe, der Bevölkerungsgruppe, 6 zu der er zählte, ist nicht die Rede. Der Paragraf ist also weniger „bizarr“, wie Michael S. Neiberg unlängst schrieb, als ein Ausdruck europäischer Kolonialpolitik. 7 An diesem Vertrag lässt sich anhand der Restitutionsforderungen, die erhoben werden, ein Beleg für die These finden, dass das zeitgenössische Völkerrecht „ein Recht der Kolonisatoren“ war. 8 So sehen es jedoch bei Weitem nicht alle Rechtshistoriker*innen. Strittig sind vielmehr hinsichtlich des Kolonialismus die Fragen nach dem Delikt, der Staatlichkeit und auch nach der Bindekraft der Regelungen der Vereinten Nationen. 9 Nach wie vor werden außerdem rechtliche Hinderungsgründe für Restitutionen gesehen, wie beispielsweise das intertemporale Prinzip des Völkerrechts,
5 Zu den Auseinandersetzungen um den Titel ‚König des Hejaz‘ statt ‚König der Araber‘ und den Hintergründen vgl. Joshua Teitelbaum: The Rise and Fall of the Hashimite Kingdom of Arabia. London 2001, S. 107–115; Randall Baker, King Husain and the Kingdom of Hejaz. Cambridge / New York 1979; Susan Pedersen: The Guardians. The League of Nations and the Crisis of Empire. Oxford 2015, S. 21–22. 6 Die ‚Hehe‘ ist ein bis heute üblicher, aus dem 19. Jahrhundert stammender Terminus, den man mit dem Anthropologen Bryant Mumford, der dies 1934 schrieb, vorsichtig als eine „politische Einheit“ von Menschen bezeichnen kann, die sich gleichzeitig als Hehe bezeichnen und aber auch lokalen Gruppen zugehörig fühlen konnten. Deutsche und später auch Briten adressierten die Hehe als „Stamm“ oder „tribe“. Bryant Mumford: The Hehe-Bena-Sangu Peoples of East Africa. In: American Anthropologist 36 (1934) H. 2, S. 203–222, hier S. 203; John Iliffe: A Modern History of Tanganyika. Cambridge 1979. 7 Michael Neiberg: The Treaty of Versailles. A Concise History. Oxford 2017, S. 61. Anders Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923. München 2018, S. 810. 8 Sophie Schönberger: Die Säule von Cape Cross und das Völkerrecht. In: Historische Urteilskraft. Magazin des Deutschen Historischen Museums 1 (2019), S. 28–31, hier S. 29. 9 Siehe zu den verschiedenen Positionen Christiane Freytag: „‚Cultural Heritage‘: Rückgabeansprüche von Ursprungsländern auf ‚ihr‘ Kulturgut?“ In: Frank Fechner / Thomas Oppermann / Lyndel Prott (Hrsg.): Prinzipien des Kulturgüterschutzes. Ansätze im deutschen, europäischen und internationalen Recht. Berlin 1996, S. 175–200; Dorothee Schulze: Die Restitution von Kunstwerken. Zur völkerrechtlichen Dimension der Restitutionsresolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Bremen 1983.
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das besagt, dass nur das Recht angewandt werden kann, das zum Zeitpunkt der ‚Tat‘ galt. Die Ausführungen zur rechtlichen Situation in den Richtlinien des Deutschen Museumsbunds zeigen diese Gemengelage. Carola Thielecke und Michael Geißdorf heben darin das „intertemporale Privatrecht“ hervor. Außerdem argumentieren sie, dass die kritischen Stimmen zum Völkerrecht nach wie vor eine „Minderheit“ in der Rechtswissenschaft bildeten und außerdem in der „Rechtspraxis“ noch keinen Widerhall gefunden hätten. 10 Sie stellen die Mehrheitsmeinung vor, die da laute, dass „die derzeit geltende Rechtsordnung [. . .] keine Instrumente zur Klärung von Eigentumsfragen rund um Erwerbungen aus kolonialen Kontexten bereit“ halte. 11 So sei auch letztlich die Frage, wer überhaupt etwas zurückgeben dürfe, ob also Institutionen wie Museen befugt seien zu restituieren, nicht umfassend rechtlich geregelt. Die von der Kultusministerkonferenz im März 2019 verabschiedeten „Erste[n] Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ kündigen dringend gebotene Regelungen an, wie Thielecke und Geißdorf schreiben. 12 Die entsprechende Passage im Eckpunktepapier lautet jedoch etwas vage wie folgt: „Die rechtlichen Voraussetzungen für eine mögliche Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten sind abhängig vom jeweils für die Einrichtungen geltenden Bundes-, Landes- und Organisationsrecht, insbesondere den Haushaltsordnungen des Bundes, der Länder und der Kommunen. Danach sind Rückgaben grundsätzlich möglich. Sofern rechtlicher Handlungsbedarf besteht, um die Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu ermöglichen, wird dem nachgekommen.“ 13
Klar formuliert ist hier zwar die grundsätzliche Möglichkeit – und der Wille – zur Rückgabe. Eine Möglichkeit schafft gleichwohl keine Ver-
10 Carola Thielecke / Michael Geißdorf: Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. In: Deutscher Museumsbund (Hrsg.): Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Berlin 2019, S. 105–118, https://www.museumsbund.de/wpcontent/uploads/2019/08/dmb-leitfaden-kolonialismus-2019.pdf (aufgerufen am 4. 9. 2019), hier S. 107. Für diese sog. Minderheit führen sie als Beispiel die Jurist*innen der Vereinigung „Third World Approaches to International Law“ an. 11 Ebd., S. 116. 12 Ebd., S. 116 f. 13 Erste Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und der kommunalen Spitzenverbände. Stand: 13. 03. 2019, https://www.kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/2019/2019-03-25 _ ErsteEckpunkte-Sammlungsgut-koloniale-Kontexte_final.pdf (aufgerufen am 4. 9. 2019), S. 107.
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bindlichkeiten und weitere etwaige Regelungen werden als Zukunftspläne formuliert. Was in allen diesen Ausführungen fehlt und worauf auch Larissa Förster in ihrem kurzen Beitrag im Leitfaden hinweist, ist, dass nach den historischen Rechtsverhältnissen in den jeweiligen „Herkunftsgesellschaften“ gefragt werden muss. 14 Mit dem Blick auf (inter)nationale Regelungen und europäisches Recht im Allgemeinen blendet man lokale Vorstellungen und Konzepte von Bevölkerungen jenseits einer Nation aus. Solche Konzepte haben bislang vor allem ethnologische, anthropologische und rechtshistorische Forschungen herausgearbeitet. 15 Für übergreifende Fragen wäre nun beispielsweise zu diskutieren, ob der seit Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt in unterschiedlichen Disziplinen diskutierte Terminus des „Rechtspluralismus“ hilfreich sein kann, und zwar verstanden als „Koexistenz verschiedener modi von Normativität in demselben sozialen Raum und die damit verbundenen Fragen von Klassifikation, Legitimation und Kollision.“ 16 Thomas Duve, von dem diese Definition stammt, kritisiert an dem Begriff, dass er letztlich zu engführend sei, und schlägt deshalb „Multinormativität“ und eine praxeologische Untersuchungsweise vor. 17 In der Tat bleibt der Begriff „Recht“ mit europäischen Epistemen verbunden, des Weiteren lässt er Vorstellungen und Praktiken außen vor. 18 Welches Wort man auch wählt, es geht darum, Vorstellungen, Normen und
14 Larissa Förster: Zur Frage von Recht aus der Perspektive einer historisch arbeitenden Ethnologie. In: Museumsbund (Anm. 10), S. 118–122. Kritisch zum Begriff der Herkunftsgesellschaft, der essentialisierend wirke, Paola Ivanov / Kristin Weber-Sinn: Shared Research. Zur Notwendigkeit einer kooperativen Provenienzforschung am Beispiel der Tansania-Projekte am Ethnologischen Museum Berlin. In: Larissa Förster u. a. (Hrsg.): Provenienzforschung zu ethnografischen Sammlungen der Kolonialzeit. Positionen in der aktuellen Debatte. Elektronische Publikation zur Tagung „Provenienzforschung in ethnologischen Sammlungen der Kolonialzeit“, Museum Fünf Kontinente, München, 7./8. April 2017, https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/ 18452/19801/13-Ivanov.pdf?sequence=1&isAllowed=y (aufgerufen am 2. 11. 2019), S. 143–156, hier S. 155. 15 Vgl. u. a. Sally Falk Moore: Social Facts and Fabrications. „Customary“ Law on Kilimanjaro, 1880–1980. Cambridge 1986; Dies.: Law as Process. An Anthropological Approach. London / Boston 1978; Martin Chanock: Law, Custom and Social Order. The Colonial Experience in Malawi and Zambia. Cambridge 1985. 16 Vgl. Thomas Duve: Was ist ‚Multinormativität‘? – Einführende Bemerkungen. In: Rechtsgeschichte – Legal History 25 (2017), S. 88–101, https://www.researchgate.net/ publication/319139854_Was_ist_Multinormativitat_ - _Einfuhrende_Bemerkungen (aufgerufen am 4. 9. 2019), S. 90 f. 17 Ebd., S. 91 f., 94. 18 Vgl. die Beiträge von Sheila Heidt, Matthias Goldmann und Beatriz v. Loebenstein im vorliegenden Band.
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Praktiken jenseits von europäischen rechtlichen Regelungen in den Blick zu bekommen. Auch der aus dem römischen Recht entwickelte und an ein Individuum oder ein Kollektiv gekoppelte Eigentumsbegriff stößt mitunter an seine Grenzen, wenn man ihn an „Herkunftsgesellschaften“ heranträgt. 19 Richard Dören argumentiert denn auch, dass man die rechtliche Situation einer Restitutionsforderung nur am Objekt untersuchen könne. Hierfür brauche man ferner eine rekonstruierbare Provenienzgeschichte. Dören und auch Sophie Schöneberger, auf die er sich beruft, kommen zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber auf Bundesebene gefordert ist, rechtliche Bestimmungen neu zu formulieren. 20 Insgesamt möchte ich schlussfolgern, dass es mehr interdisziplinäre Forschung bräuchte, die die verschiedenen zeitgenössischen Regelungen, Praktiken und Eigentumsverständnisse in übergreifender Weise diskutiert. Im Gegensatz zu Dören meine ich, dass zukünftige Arbeiten nicht nur von Objekten geleitet werden, sondern diese vielmehr zum Anlass nehmen sollten, grundsätzlichere Fragen nach Konzepten und deren Wirkmacht zu stellen.
3. Öffentlichkeit Spiegel online verkündet am 28. August 2018, dass Gerhard Ziegenfuß „den Schädel los“ sei. Mit dieser flapsigen Überschrift schließt die Nachrichten-Website ein Kapitel der Berichterstattung ab, die einem pensionierten Englisch- und Biologielehrer und seinem Versuch, einen Schädel nach Namibia zurückzugeben, gefolgt war. 21 Es geht dabei um einen menschlichen Schädel, der durch Alois Ziegenfuß, einen Missionar des katholischen Oblatenordens, in die Familie kam. Er stammte vermutlich aus dem damaligen Deutsch-Südwestafrika, in dem Alois Ziegenfuß als Missionar
19 Larissa Förster: Alles, was Recht ist. Anmerkungen zur Debatte um Provenienz und Rückgabe aus der Perspektive der Sozial- und Kulturanthropologie. In: Blog Wie weiter mit Humboldts Erbe? Ethnographische Sammlungen neu denken, https://blog. uni-koeln.de/gssc-humboldt/alles-was-recht-ist/ (aufgerufen am 4. 12. 2019). 20 Richard Dören: Zwischen Recht und Politik: Die Rechts- und Eigentumsverhältnisse an Kulturgütern der Kolonialzeit nach deutschem Zivilrecht und Völkerrecht, https:// intr2dok.vifa-recht.de/receive/mir_mods_00004068 (aufgerufen am 4. 9. 2019). 21 Christoph Titz: Herr Ziegenfuß ist den Schädel los. In: Spiegel Online, 28. 8. 2018, https://www.spiegel.de/politik/ausland/voelkermord-an-herero-und-nama-herr-ziegenfuss-ist-den-schaedel-los-a-1225412.html, vgl. zuvor auch https://www.deutschlandfunkkultur.de/deutsche-kolonialzeit-ein-schaedel-mit-geschichte.2165.de.html? dram:article_id=420830; https://taz.de/Im-Kolonialismus-geraubte-Koerperteile/ !5479447/ (beides aufgerufen am 17. 9. 2019).
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gearbeitet hatte, und wurde dann um 1913 mit anderen vom Missionar gesammelten Objekten nach Deutschland gebracht. Da sich sowohl die genaueren Umstände der ‚Erwerbung‘ als auch die Herkunft nicht eindeutig klären ließen, blieben die Versuche, den Schädel zurückzugeben, lange erfolglos. Bei der Übergabe von weiteren menschlichen Überresten, die im Zuge der Kolonialherrschaft der Deutschen in Südwestafrika geraubt wurden, an die namibische Regierung wurde nun 2018 auch dieser Schädel übergeben. In dem Artikel des Spiegel wird Gerhard Ziegenfuß mit der Aussage zitiert, dass die Geschichte für ihn nicht abgeschlossen sei. Schließlich müsse Deutschland erst noch die Verantwortung für das im damaligen Deutsch-Südwestafrika begangene Unrecht übernehmen. Der Artikel ist denn auch vor dem Titel mit „Völkermord an den Herero und Nama“ überschrieben, das heißt, der Schädel wird in den Kontext des Genozids gesetzt. Diese Kontextualisierung, die durch Berichte des Missionars über das Kriegsgeschehen zwischen 1904 und 1908 gerechtfertigt scheint, gibt dem Schädel eine andere Aufmerksamkeit, als wenn er ‚nur‘ ein Sammlungsstück unklarer Herkunft geblieben wäre. Gerhard Ziegenfuß hat über seine Geschichte mit dem ihm überlieferten menschlichen Gebein ein Buch geschrieben. Das Buch ist ein Schritt in eine lesende Öffentlichkeit. Es hat den seltsam anmutenden Titel „Ein Schädel aus Namibia. Erhobenen Hauptes nach Afrika.“ 22 Es versammelt Quellenauszüge von Briefen und Berichten des Missionars Alois Ziegenfuß, die Stellungnahme des Anatomen Andreas Winkelmann, der den Schädel mit einem wissenschaftlichen Team untersucht hat, den Versuch, die Missionarsgeschichte zu rekonstruieren, und die Darlegung der Bemühungen des Autors um eine Rückgabe. Außerdem beinhaltet das Buch fast 40 Seiten Fiktion. Die Autoren wollen dem Schädel eine Stimme geben und erzählen seine erfundene Geschichte. Die Publikation soll hier nicht bewertet werden, sondern als Beispiel dafür dienen, welche Formen öffentlichen Umgangs Akteur*innen mit geerbten Gebeinen aus Unrechtskontexten wählen. Ziegenfuß wandte sich an die namibische Botschaft, die Wissenschaft, die Medien, und schrieb schließlich selbst ein Buch. Einen ähnlichen Weg, ohne das Buch, dafür aber mit dem Verein Berlin Postkolonial, also mit Aktivist*innen, die sich für die kulturelle und politische Aufarbeitung des Kolonialismus einsetzen, wählte die Nachfahrin der Eheleute Prince. Dass zahlreiche Privatpersonen noch Objekte aus der Kolonialzeit in ihren Wohnungen oder Häusern hüten, hat die von Oktober 2016 bis 22 Gerhard Ziegenfuß/Helmut Rücker: Ein Schädel aus Namibia. Erhobenen Hauptes zurück nach Afrika. Ahlen 2018.
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Mai 2017 im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigte Ausstellung „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ verdeutlicht. In dieser Ausstellung gab es einen Film und eine Fotowand mit Bildern von Philip Kojo Metz von Menschen, die sich mit geerbten Gegenständen, z. B. handschriftlich verfassten Büchern oder geschnitzten Stühlen, in ihren Privaträumen ablichten ließen. 23 Auf keinem Bild sieht man eine kritische Distanznahme zu diesen Gegenständen, im Gegenteil erscheinen sie manchmal in die Raumdekoration integriert zu sein. Insofern ist das Insistieren der Nachfahren des Missionars und des Ehepaars v. Prince auf Rückgabe und auf Dokumentation bisher eher eine Ausnahme innerhalb des erinnerungskulturellen Felds. 24 Das passt zu einem Befund, zu dem Britta Schilling in ihrer Untersuchung der longue durée deutscher Kolonialerinnerungen kommt. 25 Demnach halten die meisten Familien, die Schilling befragt hat, ihre Vorfahren, die kolonialisierend oder missionierend in den deutschen Kolonien tätig waren, tendenziell in positiver Erinnerung. Davon auszunehmen sei die Familie des Lothar v. Trotha. Aber die Mehrheit gab in den Interviews an, dass ihre Ahnen eher „harmless“ Tätigkeiten nachgegangen und zudem bei den lokalen Bevölkerungen beliebt gewesen seien. 26 Die hier genannten Fälle zeigen zweierlei: Erstens stehen Restitutionen in einer Beziehung zum Thema Öffentlichkeit, und sei es auch, indem sie diese bewusst ausschließen. Denn freilich kann nicht jedes Objekt im Scheinwerferlicht zurückgegeben werden; manche „Herkunftsgesellschaften“ legen Wert auf die Geheimhaltung ihrer für die Öffentlichkeit eigentlich überhaupt nicht vorgesehenen sensiblen und / oder heiligen Objekte. 27
23 Vgl. die Bilder im Ausstellungskatalog Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte. Berlin 2016, S. 228 f. 24 Erinnerungskultur wird dabei mit Christoph Cornelißen verstanden als „Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse [. . .], seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur.“ Christoph Cornelißen: Erinnerungskulturen. In: Frank Bösch / Jürgen Danyel (Hrsg.): Zeitgeschichte – Konzepte und Methoden. Göttingen 2012, S. 166–184, hier S. 166. 25 Britta Schilling: Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation. Oxford 2014. Vgl. auch Jason Jason: The Conundrum of Colonialism in Postwar Germany. Diss. PhD University of Iowa 2010. 26 Schilling (Anm. 25), S. 179. 27 Vgl. z. B. die sogenannten secret sacred Objekte, u. a. aus Australien: Karin Konold / Eva Raabe: Wertkonflikte im Umgang mit kulturell sensiblem Material. Die CarlStrehlow-Sammlung des Weltkulturen-Museums in Frankfurt am Main. In: Anke Ziemer (Hrsg.): Zur Ethik des Bewahrens. Konzepte, Praxis, Perspektiven. Jahrestagung 2013 von ICOM Deutschland, Köln, 17. bis 19. Oktober 2013. Berlin 2014, S. 75– 84; Eva Raabe: Wertkonflikte und Widersprüche. Anmerkungen zur Diskussion. In: Förster u. a. (Anm. 14), S. 193–197.
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Wichtig ist es m. E. beim Ein- wie beim Ausschluss, dass eine kritische Reflexion des Verhältnisses zwischen Restitution und Öffentlichkeit erfolgen sollte. Wünschenswert sind darüber hinaus auch in der Geschichtswissenschaft Forschungen wie die gerade an der Universität Potsdam eingereichte Doktorarbeit des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Yann Le Gall, die nach dem Umgang mit Restitutionen – auch noch nach der Restitution – fragt. Le Gall bietet außerdem eine breitere Öffentlichkeiten adressierende, global abrufbare mediale Präsenz seiner Ergebnisse an. 28 Zweitens haben Restitutionen in der Regel einen längeren Vorlauf, und der sollte beforscht und transparent gemacht werden. Winkelmann schreibt in seiner Stellungnahme in dem erwähnten Buch zum Schädel aus Namibia bedauernd, dass ein Kollege von ihm Ziegenfuß’ Anliegen nicht beachtet habe. 29 Diese Nichtbeachtung kann nur ein Problem werden, wenn die Anfragen an Einzelpersonen kommen, seien es auch renommierte Forschende, die dann jedoch, aus welchen Gründen auch immer, ihre Aufgabe nicht wahrnehmen. Auch Privatpersonen, die etwas zurückzugeben haben, sollten eine Anlaufstelle für ihre Fragen haben. Dasselbe gilt für Menschen, die etwas zurückfordern – zumal Rückforderungen bisher häufiger sind als freiwillige Rückgaben. Mit der Gründung einer Außenstelle des Magdeburger Zentrums für Kulturgutverluste in Berlin, dem Fachbereich Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, ist ein Anfang geschaffen; 30 allerdings nicht für Privatpersonen. Generell sollten weitere Einrichtungen und Förderlinien folgen, die Öffentlichkeitsarbeit, interdisziplinäres und kooperatives Forschen sowie die Begleitung von Restitutionsvorhaben betreiben und gestalten. 31
28 Yann Le Gall: Remembering the Dismembered. African Human Remains and Memory Cultures in and After Repatriation. Diss. phil. Universität Potsdam 2019, vgl. auch Dies.: https://rememberinghumanremains.wordpress.com (aufgerufen am 4. 11. 2019). 29 Ziegenfuß/Rücker (Anm. 22), S. 116. 30 https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Organisation/Team/Index.html (aufgerufen am 4. 11. 2019). 31 Wie kompliziert und unterfinanziert kooperatives Forschen ist und welche Fragen sich dabei auftun, schildern eindrücklich Ivanov / Weber-Sinn (Anm. 14).
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4. Geschichte Die Geschichte(n) der Objekte müssen erzählt werden, da sind sich die meisten Teilnehmenden der aktuellen Debatte wohl einig – aber wie? Und welche? Es reicht m. E. weder, ausschließlich die Provenienz eines Objekts zu erarbeiten, ohne über die Erwerbskontexte und die nachfolgenden Verwertungen der Objekte zu berichten, noch, sie einseitig von dort aus zu erzählen, wo sich die Dinge befinden. Die Objekte sind in eine umfassendere Geschichte von Überlieferung, Erinnerung, Sagbarkeitsregeln und politischen Auseinandersetzungen eingebunden. Ich möchte zur Erläuterung dieser Forderung nach mehr Geschichte wiederum den eingangs erwähnten Zahn und den dazu gehörenden Schädel anführen und zeigen, wo die Lücken in der Geschichte liegen. Der Zahn ist einem Kopf oder eventuell danach dem durch Mazerieren gewonnenen Schädel entnommen. Der Schädel wurde prominent, der Zahn blieb privat. Die Berühmtheit des menschlichen Gebeins geht darauf zurück, dass es Teil des Versailler Friedensvertrags wurde. Frank Edward von der Universität Dar es Salaam, Holger Stoecker von der HumboldtUniversität zu Berlin und ich haben den kollaborativen Versuch unternommen, eine quellenbasierte Geschichte der vielen Trajektorien anscheinend ebenso vieler Schädel zu schreiben. 32 Denn die vermeintliche Geschichte des Schädels wurde oft erzählt und selten kritisch rekonstruiert. Es fängt schon damit an, dass Mtwa Mkwawa (1855–1898) sich 1898 in Uhehe eine Kugel in seinen Körper geschossen hatte, um der Gefangennahme durch die Deutschen nach einem jahrelangen Krieg zu entgehen. Hatte sich Mkwawa in den Kopf geschossen oder in den Bauch? Die Antwort auf diese Frage variiert, je nachdem, ob man deutsche oder britische Quellen zu Rate zieht. Für lokale Geschichten müsste man länger vor Ort forschen und Interviews führen. Einig sind sich aber alle Berichterstattenden und Forschenden in einem: Dem Toten – ob der Tote Mkwawa war, ist letztlich auch ungeklärt – wurde der Kopf abgetrennt und auf die deutsche Militärstation gebracht. 33 Dort stellte ihn der Stationsleiter Tom Prince aus, bevor er vermutlich entfleischt und in eine Kiste verpackt oder den Hehe zurückgegeben wurde. Alles, was nach
32 Bettina Brockmeyer / Frank Edward / Holger Stoecker: The Mkwawa Complex. A Tanzanian-European History about Provenance, Memory, and Politics. In: Journal of Modern European History 18 (2020) H. 2, S. 117–139. 33 Vgl. den Bericht von Merkl in Deutsches Kolonialblatt 9 (1898), S. 645–646; Magdalene Prince: Eine deutsche Frau im Innern Deutsch-Ostafrikas (1905). ND Paderborn 2012, S. 176.
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der öffentlichen Zurschaustellung des Kopfs passierte, bleibt unklar und soll hier auch nicht das Thema sein. 34 Wichtig an dieser Geschichte ist, dass ihre Erzählbarkeit sich deutlich wandelte und dass es eine verborgene Geschichte darin gibt. Letztere lautet, dass dem Schädel ein Zahn entnommen wurde, was sich in keinen mir bekannten Quellen findet. Darüber hat Magdalene Prince in ihrem Tagebuch nichts verlauten lassen, obwohl der Kettenanhänger doch wohl für sie hergestellt worden sein wird – von wem und wo bleibt unklar. Eine Halbschwester von Magdalene Prince hat einer Urenkelin erzählt, dass die Eheleute das Gebiss Mkwawas „geschändet“ hätten, dieser Hinweis ist der einzige mir bekannte Beleg dafür, dass es sich in der Goldeinfassung tatsächlich um Mkwawas Zahn handelt. 35 Nun zur Erzählbarkeit. Forschungen zur Geschichte des Schädels erwähnen gern das Motiv der Rache, das dem Schädel als Trophäe zugrunde lag. 36 Dieses Motiv ist jedoch eine Lesart, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die Geschichtserzählung des Schädels hineinkam. Es geht auf die Eroberungsgeschichte Uhehes zurück. Im Jahr 1891 hatte Mkwawa mit seinen Kämpfern das militärische Expeditionskorps von Emil v. Zelewski besiegt und dabei ca. zehn Europäer (darunter Zelewski) sowie 200 Askaris, d. h. afrikanische Soldaten, getötet. Die „Schutztruppe“, wie sich das deutsche Militär nannte, war durch die Niederlage empfindlich getroffen und plante Vergeltungsmaßnahmen. 37 Als Tom Prince 1894 an der Zerstörung von Mkwawas Festung teilgenommen hatte und sich auf dem Rückweg befand, kam er, so schreibt er in seiner Autobiografie „Gegen Araber und Wahehe“ aus dem Jahr 1914, an dem ehemaligen Schlacht34 Siehe dazu vor allem (Anonym): The Skull of Chief Mkwawa of Uhehe. Dar es Salaam 1954. Die Broschüre ist überliefert in den Dokumenten des Colonel Thomas Leahy, Jahrgang 1908, der von 1953 bis 1955 Private Secretary von Twining war und in dieser Funktion vielleicht auch Autor dieser Broschüre war. Bodleian Library at Weston Library, Special Collections, Mss.Afr.s.1715 (163), Col. Thomas Leahy. Laut Bericht wurde der Kopf „dried“. 35 Gespräch der Verfasserin mit Anuschka Haak, einer Urenkelin der Eheleute Prince, am 10. 8. 2019. 36 Hans Schmiedel: Bwana Sakkarani. Captain Tom von Prince and His Times. In: Tanganyika Notes and Records 52 (1959), S. 35–52; Edgar V. Winans: The Head of the King. Museums and the Path to Resistance. In: Comparative Studies in Society and History 36 (1994) H. 2, S. 221–241, hier S. 233; Jesse Bucher: The Skull of Mkwawa and the Politics of Indirect Rule in Tanganyika. In: Journal of Eastern African Studies 10 (2016) H. 2, S. 284–302, hier S. 288. 37 Michael Pesek: Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880. Frankfurt a. M. 2005, S. 193; zur Rache als Motiv s. auch Michelle R. Moyd: Violent Intermediaries. African Soldiers, Conquest, and Everyday Colonialism in German East Africa. Athens 2014, S. 136; zur Geschichte der Deutschen in Ostafrika siehe grundlegend auch John Iliffe: A Modern History of Tanganyika. Cambridge 1979.
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feld vorbei, wo Emil v. Zelewski und seine Truppe drei Jahre vorher von Mkwawa besiegt worden waren. Angeblich stand dort ein Stecken mit dem aufgepflanzten Schädel Zelewskis. 38 In einer Darstellung von Hans Schmiedel in den „Tanganyika Notes and Records“ aus dem Jahr 1959 steht, dass daraufhin Folgendes passierte: „Prince, holding the skull of his old chief, Zelewski, in his hands, renewed his vow not to rest until Mkwawa had suffered a similar fate.“ 39 Hans Schmiedel war ein Lehrer, der sich der Biografie Tom Princes verschrieben hatte und dafür umfangreiche Recherchen unternahm und mit zahlreichen Familienmitgliedern korrespondierte. In seinem unveröffentlicht gebliebenen Manuskript einer Biografie macht Schmiedel keinen Hehl daraus, dass er Tom Prince bewunderte und eine Art Heldengeschichte verfasste. 40 So basieren seine Ausführungen zwar in der Regel auf reichlich Quellenlektüre, jedoch sind sie vom Bemühen gezeichnet, seinen Protagonisten in gutem Licht zu zeigen. Mit dem Schwur bringt Schmiedel zum Ausdruck, dass die Grausamkeit zunächst von den Hehe ausgegangen sei, und begründet damit, dass diese Grausamkeit gerächt werden würde. Die Kopftrophäe war, dem Autor folgend, also eine Konsequenz aus der gemachten Erfahrung, den Schädel eines getöteten Kollegen in der Hand gehalten zu haben. In Tom Princes Autobiografie findet sich kein solcher dramatischer Schwur auf dem Schlachtfeld. Genereller schreibt Prince zwar, dass „der Tag von Rugaro endgültig gerächt“ gewesen sei, als Mkwawa tot war, aber von einem Schwur mit Schädel erwähnt er nichts. 41 Ihn beschäftigt im Hinblick auf den Schädel nicht die damit verbundene Grausamkeit, sondern er möchte belegen, dass er auch wirklich den Schädel Zelewskis gefunden habe. Deshalb beschreibt er ihn ausführlich. 42 Die Erzählung Princes legt die Deutung nahe, dass er sich damit als rechtmäßiger Nachfolger Zelewskis sah: Er hatte Mkwawas Festung zerstört, dann fand er den Schädel des getöteten Offiziers und danach besiegte er Uhehe (diese gedankliche Fortführung konnte er 1914 beim Publikum voraussetzen).
38 Tom v. Prince: Gegen Araber und Wahehe. Erinnerungen aus meiner ostafrikanischen Leutnantszeit 1890–1895. Berlin 2. Aufl. 1914, S. 303, 308. Den Kopf, schrieb er, habe er an sich genommen, um ihn der Familie zu bringen, sei dann jedoch später bestohlen worden. 39 Schmiedel (Anm. 35), S. 43. Schmiedels Schilderung hat Gewicht, sie wird bis heute aufgegriffen, so in Winans (Anm. 36) S. 233, und Bucher (Anm. 36), S. 288. 40 Bundesarchiv Koblenz, BSG 18, „Bwana Sakkarani (Der trunkene Stürmer). Der Schutztruppenhauptmann Tom von Prince und seine Zeit“, handschriftliches Manuskript, verfasst von Hans Schmiedel. 41 Prince (Anm. 38), S. 308. 42 Ebd., S. 303.
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Der Zelewski-Schädel symbolisiert in der Prince’schen Darlegung eine Herrschaft, für die es eine Nachfolge gibt, nämlich den Finder. 43 Ebenso ein Zeichen für Nachfolge war der Kopf Mkwawas, wie die Ausführungen der Ehefrau Tom Princes zeigen. In einem Eintrag vom 21. Juli 1898 ihres fünf Jahre später erstveröffentlichten Tagebuchs steht Folgendes: „Das Siegeszeichen, welches Feldwebel Merkl heute bei Tom ablieferte, ist freilich gräßlich – und doch gab es keinen anderen Ausweg, den Tod unseres furchtbaren Feindes dergestalt ad oculos zu demonstrieren, daß kein Zweifel mehr an seiner endgültigen Vernichtung bleiben kann: Merkl brachte den Kopf des erschossenen Sultans Quawa mit zur Station!“ 44
Wie wichtig den Eheleuten Prince der Kopf war, zeigt auch die Tatsache, dass sie ihn fotografierten. Dieses Foto existiert noch in einem Familienalbum. 45 Bemerkenswerter Weise taucht an keiner Stelle der Zahn auf. Dem deutschen Lesepublikum des Kaiserreichs war eine solche Schädelgeschichte zuzumuten, davon ging das Ehepaar Prince offensichtlich aus. Und nicht nur zuzumuten war sie. Es gab einen Buchmarkt, auf dem sich afrikanisch und kolonial konnotierte Grausamkeiten seit dem 19. Jahrhundert gut verkauften. 46 Überdies war die Praxis, einen Schädel als Kriegstrophäe an sich zu nehmen, weder auf die Kolonialzeit noch auf den afrikanischen Kontinent beschränkt. 47 Ihre Erzählbarkeit änderte sich jedoch. Die antizipierten Lesewünsche hatten sich nach den deutschen Grausamkeiten im Zweiten Weltkrieg und zunehmender Dekolonialisierung in einzelnen afrikanischen Staaten vermutlich gewandelt. Das wird ein Grund gewesen sein, warum Schmiedels Biografie-Manuskript unveröffentlicht blieb. Außerdem hatte Schmiedel für eine Kurzform seiner biografischen Ausführungen mit den Tanganyika Notes and Records einen Publikationsort gesucht, der ein mindestens internationaleres, mitunter auch kolonialkritischeres Publikum adressierte. 43 Vgl. Bettina Brockmeyer: Menschliche Gebeine als Glaubensobjekte. Koloniale Kriegsbeutenahme, Vergleichspraktiken und Erinnerung seit dem späten 19. Jahrhundert. In: WerkstattGeschichte 77 (2017), S. 47–64. 44 Prince (Anm. 33), S. 176 f. 45 Familienalbum, Privatarchiv der Familie v. Prince. 46 Winfried Speitkamp: Die Ehre der Krieger. Gewaltgemeinschaft im vorkolonialen Afrika. In: Ders. (Hrsg.): Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert. Göttingen 2013, S. 289–315, bes. S. 300–302. 47 Simon Harrison: Dark Trophies. Hunting and Enemy Body in Modern War. New York / Oxford 2012. Bei Harrison dient die nur kurz erwähnte Episode des Mkwawa-Schädels als Hinweis darauf, dass Kolonialsoldaten den Schädel einer führenden feindlichen Persönlichkeit als Machtzuwachs für die eigene Person verstanden, ebd., S. 77. Er bezieht sich dabei auf Edgar Winans (Anm. 35, S. 232), der behauptet, dass die Wahehe Prince als ‚Chief‘ angesehen hätten.
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Abb.: Screenshot aus der WDR-Dokumentation „Der Zahn des Häuptlings“: Chief Abdul Adam Sapi Mkwawa hält den Kettenanhänger mit Zahn in seiner Hand
Die Tanganyika Notes and Records erschienen von 1936 bis 1965, also bis nach der Unabhängigkeit und darüber hinaus noch bis 1985 als Tanzania Notes and Records. Sie wurden von der Tanganyika Society in Dar es Salaam herausgegeben. In dieser Publikation war es vermutlich für einen deutschen Autor nicht mehr möglich, einen Schädel als Trophäe oder Beweis der Bedeutung des ihn in Besitz nehmenden Gegners darzustellen. Deshalb musste ein Racheschwur in die Narration eingebaut werden. Mit dem Zahn stieß man aber offensichtlich auch bereits im Kaiserreich an Grenzen des Sagbaren – auch wenn Zähne in der christlichen Tradition durchaus übliche Erinnerungsobjekte darstellen, beispielsweise als Reliquien. In europäischen Vorstellungen von Sterben und Tod sollten Reliquien im 19. Jahrhundert Kraft und ein Gemeinschaftsgefühl übertragen, sie sollten Glaubende schützen. 48 Reliquien mussten im kirchlichen Verständnis von Heiligen stammen, andere Objekte galten als magisch. 49 In profanen Erinnerungspraktiken spielten jedoch auch Gebeine von bekannten Persönlichkeiten eine Rolle. 50 Die Eheleute Prince konnten entsprechend der zeitgenössischen und um sie herum betriebenen Forschung
48 Isabel Richter: Der phantasierte Tod. Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M./New York 2010, S. 172; Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München 1994, S. 158. 49 Ebd., S. 157. 50 Raphaël Bouvier: Erinnerung an das Ich. Souvenir des Anderen. Prominenz und Andenken seit der Frühen Neuzeit. In: Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (Hrsg.): Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken. Köln 2006, S. 100–117.
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und aus ihrer eigenen Kenntnis der Begräbnispraktiken der Hehe davon ausgehen, dass der menschliche Überrest Mkwawas lokal sehr wichtig war, auch im spirituellen Sinne. 51 Der Kettenanhänger könnte demnach der Trägerin oder dem Träger als Zeichen ihrer / seiner eigenen Bedeutung gedient haben, indem lokale Glaubenspraktiken mit christlicher Symbolik zusammengebracht wurden. Der Zahn ist nun im Besitz der Familie Mkwawas. Chief Abdul Adam, der ihn von der Prince-Nachfahrin entgegengenommen hatte (s. Abb.), ist mittlerweile verstorben. Einige Familienangehörige sagen, dass sein Tod etwas damit zu tun habe, dass oder wie er den Zahn entgegengenommen habe. 52 Schon dieser Hinweis, der einem Interview mit dem in Iringa lebenden Jan Küver entnommen ist, zeigt eine ganze Reihe von Fragen auf, die ich mit meinen Darstellungen nicht beantwortet habe. Was bedeutet der Zahn für die Nachfahr*innen Mtwa Mkwawas? Wie wird der Kettenanhänger gedeutet? Und wenn ich eine Geschichte der Erzählbarkeit schreibe, kann ich diese Geschichte eigentlich nicht länger auf Deutschland bzw. Europa beschränken. Vielmehr ist zu fragen, wie der Schädel in den letzten über 100 Jahren in Tansania und in der Region um Iringa erinnert wurde, wie die Meinungen zum ausgestellten Schädel in Kalenga sind, welche Geschichten erinnert werden an Mtwa Mkwawa und auch an die Deutschen. Erste Antworten auf diese Fragen haben wir versucht, in unserem bereits erwähnten gemeinsamen Artikel zu geben. Das sind aber erst Anfänge. Es braucht weitere und längere Kooperationsprojekte, in denen gleichberechtigt die verschiedenen Geschichten erarbeitet werden, die Gebeine wie ein solcher Schädel haben.
51 Alfons A. Adams: Im Dienste des Kreuzes. Erinnerungen aus meinem Missionsleben in Deutsch-Ostafrika. St. Ottilien 1899, S. 39–43; Ernst Nigmann: Die Wahehe. Ihre Geschichte, Kult-, Rechts-, Kriegs- und Jagd-Gebräuche. Berlin 1908, S. 22–23; Friedrich Fülleborn: Das Deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder. Berlin 1906, S. 216–218; [Jan] Stierling: Die Königsgräber der Wahehe. In: Mittheilungen des Seminars für orientalische Sprachen 2 (1899), S. 257–262. 52 Richard Hölzl: Auf der Suche nach dem kulturellen Erbe von Iringa. Ein Gespräch über antikolonialen Widerstand, Museen und Tourismus mit Jan Küver. In: WerkstattGeschichte 75 (2017), S. 57–69, bes. S. 68.
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5. Schluss Der Historiker Raphael Gross hat im Jahr 2000 angesichts immer zahlreicherer Historiker*innenkommissionen zu Institutionen aus der Geschichte des Nationalsozialismus angemahnt, dass Geschichtswissenschaft keine „Legitimationswissenschaft“ sei und Historiker*innen ihre Rolle zwischen Rechtswissenschaft, Ethik und Politik stets neu definieren müssten. 53 Als Leiter des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin hatte er nun im eigenen Haus ein Objekt aus kolonialem Kontext, das die Republik Namibia zurückforderte. Es fand eine große, von Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen besuchte Tagung zu diesem Objekt, der Säule von Cape Cross, im DHM statt, und im Mai 2019 hat das Kuratorium des Hauses beschlossen, das Objekt zu restituieren. 54 In seinem Vortrag auf dieser Tagung betonte der namibische Historiker Dag Henrichsen, dass der Ort, an dem die Säule stand, der im Kolonialismus Cape Cross genannt wurde, eine eigene afrikanische Geschichte habe, die ganz ohne diese kolonialen Namen und Bedeutungen auskomme. Er kritisierte nachdrücklich, dass lokale Geschichten es noch nicht einmal bis in die Verflechtungsgeschichte geschafft hätten. 55 Diese Geschichten gilt es jetzt zu schreiben, in einer internationalen und kooperativen Forschungsarbeit. Das Wegkreuz, das ursprünglich von den Portugiesen aufgestellt und dann von den Deutschen verschleppt wurde, ist nur eines von unzähligen Objekten, das dazu Anlass bieten kann und sollte. Gross hat seine Rolle als Leiter eines geschichtskulturellen Hauses wie des DHM definiert, indem er die Vertreter*innen, zwischen deren Bereichen er seine eigene Disziplin ihre Positionierung suchen sieht, ins DHM eingeladen hat. Geschichtswissenschaftlich Forschende können sich freilich, gerade bei Qualifizierungsarbeiten, nicht immer ein Haus voller Mitdenkender organisieren. Und doch. Forschungsarbeiten zu Objekten aus der Kolonialzeit sollten in Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen sowie vor allem global erfolgen und zu neuen Narrativen und zur Durchdringung der Komplexität geschichtlicher Wirklichkeiten führen. 56 53 Raphael Gross: Mächtiger als die Gerichte? Geschichte und historische Gerechtigkeit. In: Norbert Frei / Dirk van Laak / Michael Stolleis (Hrsg.): Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. München 2000, S. 164–172, hier S. 164. 54 Vgl. den Beitrag von Lukas Meyer im vorliegenden Band. 55 Dag Henrichsen: Cape Cross? Afrikanische Ortsgeschichte_n, in: Urteilskraft (Anm. 8), S. 40–42. 56 Siehe zur Forderung nach globalem historischem Forschungsaustausch auch Natalie Zemon Davis: Global History. Many Stories. In: Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Weltgeschichte. Stuttgart 2008, S. 91–100.
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Denn die Geschichten hinter den Objekten sind in der Regel kompliziert und häufig sogar verworren. Es gibt in der Geschichtswissenschaft deshalb keine einfachen Antworten, aber genau das macht sie m. E. so wichtig für die Debatte. Denn Lösungen für Restitutionen müssen schneller gefunden werden. Aber Hintergründe und Kontexte zu erforschen, Wissen und Wissenschaft zu dekolonisieren, sind längerfristige Projekte, die ohne Geschichtswissenschaft nicht funktionieren können und in die sich umgekehrt Historiker*innen verstärkt einbringen sollten.
Christoph Zuschlag
Provenienz – Restitution – Geschichtskultur
1. Einleitung Provenienzforschung hat Konjunktur, Restitution ist in aller Munde. Welchen Beitrag aber kann die Provenienzforschung zur gegenwärtigen, kontrovers geführten Restitutionsdebatte leisten, und worin liegen die geschichts- und erinnerungskulturellen Dimensionen dieser Debatte? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden in vier Schritten nachgehen: 2. Historische Provenienzforschung; 3. Aktuelle Provenienzforschung und Restitution im Zusammenhang mit NS-Raubgut; 4. Aktuelle Provenienzforschung und Restitution im Zusammenhang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten; 5. Geschichts- und erinnerungskulturelle Dimensionen der Restitutionsdebatte aus Sicht der Provenienzforschung.
2. Historische Provenienzforschung Zunächst müssen einige grundlegende Aspekte geklärt und weit verbreitete Irrtümer korrigiert werden: So ist Provenienzforschung kein neues Phänomen, vielmehr gehört sie zum Methodenspektrum der Kunstgeschichtswissenschaft, seit sich diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen akademischen Disziplin entwickelte. 1 Provenienzforschung untersucht die Herkunft und (Besitz-)Geschichte von Kul1 Vgl. zum Folgenden Christoph Zuschlag: Vom Iconic Turn zum Provenancial Turn? Ein Beitrag zur Methodendiskussion in der Kunstwissenschaft. In: Maria Effinger u. a. (Hrsg.): Von analogen und digitalen Zugängen zur Kunst. Festschrift für Hubertus Kohle zum 60. Geburtstag. Heidelberg 2019, https://doi.org/10.11588/arthistoricum. 493. Eine gekürzte Version erschien in: Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, Magdeburg (Hrsg.): Provenienzforschung in deutschen Sammlungen. Einblicke in zehn Jahre Projektförderung (Provenire. Schriftenreihe des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, Magdeburg, Bd. 1). Berlin / Boston 2019, S. 347–355; Ders.: Provenienz. Geschichte und Perspektiven eines neuen Paradigmas in den Geistes- und Kulturwissenschaften. In: Matthias Weller u. a. (Hrsg.): Raubkunst und Restitution. Zwischen
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turgütern und Objekten aller Art im jeweiligen historischen Kontext. Sie wurde und wird im Zusammenhang mit der Untersuchung privater und öffentlicher Sammlungen betrieben, ist notwendiger Bestandteil der Museums- und Institutionengeschichte und findet ihren Niederschlag zum Beispiel in Form von Objektbiografien in Bestandskatalogen. Als Quellen dienen Provenienzmerkmale an den Objekten selbst (z. B. Stempel und Aufkleber auf Gemälderückseiten) sowie Inventare und Archivalien aller Art. Seit dem ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit tauchen in Inventaren von Sammlungen und Kunstkammern Provenienzhinweise auf. Der „Erste kunstwissenschaftliche Congress“ vom September 1873 in Wien empfahl bei der Katalogisierung von Kunstwerken die Berücksichtigung von acht Grundsätzen, darunter als Nr. 5: „Notizen über die Herkunft und die Zeit der Erwerbung, den Preis, die frühere Geschichte jedes Bildes einschließlich des Nachweises der vorgenommenen Restaurationen“. 2 Das nach diesem Kongress etablierte standardisierte Katalogisierungsverfahren, demzufolge Provenienzangaben zu den grundlegenden Werkdaten gehören, gilt im Prinzip bis heute. Auch im Hinblick auf den Kunstmarkt, der im engen Zusammenhang mit der Sammlungsgeschichte steht und in jüngerer Zeit verstärkt in das Blickfeld des Fachs Kunstgeschichte rückt, ist Provenienzforschung von großer Bedeutung. Zudem spielt sie bei Fragen der Zuschreibung und der Authentizität eines Kunstwerks eine wichtige Rolle, bei der Erarbeitung eines Verzeichnisses eines künstlerischen Gesamtwerks (Catalogue raisonné) ist sie unerlässlich. Traditionell wurde die Provenienzforschung allerdings eher beiläufig und im Sinne einer Hilfswissenschaft praktiziert, ohne dass ihr ein eigenständiger Wert beigemessen, sie in methodischer Hinsicht besonders reflektiert und ausdifferenziert, sie an den Universitäten gelehrt worden wäre. Auch die Frage nach der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit von Besitz wurde kaum gestellt. Das sollte sich nach 1998 ändern. Die historische, unpolitische Provenienzforschung trat aus dem Schatten eines akademischen Fachs heraus und rückte in den Fokus gesellschaftlicher Diskurse und medialen Interesses. Sie wurde damit aktuell und politisch. In diesem Prozess verschmolz sie in der öffentlichen Wahrnehmung gleichsam mit dem Thema Restitution – ein weiterer Irrtum, zumindest eine fatale Verengung. Denn Kolonialzeit und Washington Principles. Tagungsband des 13. Heidelberger Kunstrechtstags am 18. und 19. Oktober 2019 (Schriften zum Kunst- und Kulturrecht, Bd. 33). Baden-Baden 2020, S. 23–35. 2 Rudolf v. Eitelberger: Die Resultate des ersten internationalen kunstwissenschaftlichen Congresses in Wien. In: Mittheilungen der K. K. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 19 (1874), S. 40–46, hier S. 41 (https:// doi.org/10.11588/diglit.26256.6).
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Provenienzforschung ist, wie oben angedeutet, eine eigene Disziplin mit vielfältigen Erkenntnisdimensionen, sie ist nicht Mittel zum Zweck der Vorbereitung einer Restitution, wenngleich Restitutionen immer auf der Grundlage gründlicher Provenienzrecherchen erfolgen sollten. Wie war es zu dieser Verengung gekommen?
3. Aktuelle Provenienzforschung und Restitution im Zusammenhang mit NS-Raubgut Es hängt vor allem mit der Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zusammen. Diese Entschädigung begann kurz nach Kriegsende. Der Bochumer Historiker Constantin Goschler unterscheidet in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte zwei Phasen der Restitution jüdischen Eigentums: „Eine erste Phase begann bald nach 1945 und zog sich bis in die 1960er Jahre hinein. In diesem Zeitraum wurden in Westdeutschland zunächst die von den drei westlichen Besatzungsmächten zwischen 1947 und 1949 erlassenen Rückerstattungsgesetze durchgeführt, die auf die Rückerstattung des sogenannten wiederauffindbaren Eigentums zielten. Hier ging es vor allem um Häuser, Grundstücke und Firmen, kurz um diejenigen Vermögenswerte, die im Zuge der sogenannten ‚Arisierung‘ in die Hände nichtjüdischer Deutscher gewechselt waren. Hinzu trat seit 1957 das Bundesrückerstattungsgesetz, mit dem die Bundesrepublik zwölf Jahre nach Kriegsende einen Teil der Verantwortung für die geldwerten Vermögenswerte übernahm, welche das Deutsche Reich als der größte Nutznießer der Beraubung der Juden an sich gerissen hatte. Eine zweite Phase setzte 1990 mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein und hält bis in die Gegenwart hinein an. Ging es hier zunächst um eine nachholende Rückerstattung, bei der die Maßstäbe der westlichen Rückerstattungsgesetze mit jahrzehntelanger Verzögerung auf Ostdeutschland übertragen wurden, so traten jüngst neue Forderungen nach der Restitution von Kunstwerken an die Erben der früheren jüdischen Eigentümer hinzu.“ 3
Mit den jüngsten Forderungen bezieht sich Goschler auf die „Washington Conference on Holocaust-Era Assets“ vom Dezember 1998, auf der 42 Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, nicht bindende 3 Constantin Goschler: Zwei Wellen der Restitution. Die Rückgabe jüdischen Eigentums nach 1945 und 1990. In: Inka Bertz / Michael Dorrmann (Hrsg.): Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute. Göttingen 2008, S. 30– 45, hier S. 30. Vgl. zur juristischen Perspektive Harald König: Fragen der Restitution in Deutschland. Rechtliche Grundlagen der Restitution seit 1945. In: Andrea BareselBrand (Bearb.): Verantwortung wahrnehmen. NS-Raubkunst – Eine Herausforderung an Museen, Bibliotheken und Archive (Veröffentlichungen der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Bd. 7). Magdeburg 2009, S. 101–116.
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Grundsätze für die Rückgabe von Vermögenswerten (wie etwa Raubkunst) aus der NS-Zeit festlegten. Im Dezember 1999 unterzeichneten Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände eine gemeinsame Erklärung, in der die Auffindung und Rückgabe „NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ als fortwährende Aufgaben für die öffentlichen Einrichtungen in Deutschland formuliert wurden. 4 Dabei handelt es sich um eine freiwillige Selbstverpflichtung, ein soft law, denn ein Restitutionsgesetz gibt es in Deutschland nicht. Wird Kulturgut als NS-Raubgut identifiziert, so rufen die Washingtoner Prinzipien dazu auf, „gerechte und faire Lösungen“ („just and fair solutions“) mit den rechtmäßigen Eigentümer*innen bzw. deren Nachfahr*innen zu finden. Das können, müssen aber nicht Restitutionen sein, auch andere Formen gütlicher Einigungen mit den rechtmäßigen Eigentümern bzw. deren Erben sind möglich, etwa neuerliche Erwerbungen oder auch Dauerleihgaben der betroffenen Kulturgüter. Die Restitution von Ernst Ludwig Kirchners Gemälde „Berliner Straßenszene“ aus dem Brücke-Museum im August 2006 an die Enkelin des jüdischen Kunstsammlers Alfred Hess war einer der ersten spektakulären Fälle in Deutschland, der international Aufsehen erregte. Es ist bis heute umstritten, ob dieses Werk tatsächlich „NS-verfolgungsbedingt“ entzogen worden war und also eine Restitution angemessen war. 5 Um den Anforderungen der Washingtoner Erklärung gerecht zu werden, richteten Bund und Länder 1998 die Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg ein. Sie initiierte 2001 die Lost-Art-Datenbank mit internationalen Such- und Fundmeldungen zu NS-Raubgut und zu kriegsbedingt verbrachten Kulturgütern (Beutegut). 2008 wurde die Arbeitsstelle für Provenienzrecherche/-forschung beim Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz eingerichtet und mit der Vergabe staatlicher Fördermittel beauftragt. Diese Mittel ermöglichten es Museen, Bibliotheken und Archiven, ihre Bestände nach möglichem NS-Raubgut zu durchforsten.
4 Zur Washingtoner Konferenz und ihrer gesellschafts- und erinnerungspolitischen Bedeutung vgl. Jan Surmann: Shoah. Erinnerung und Restitution. Die US-Geschichtspolitik am Ende des 20. Jahrhunderts (Transatlantische Historische Studien, Bd. 46). Stuttgart 2012, S. 223–232. Vgl. ferner: Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom Dezember 1999, Neufassung 2019, https:// www.kulturgutverluste.de/Content/08_Downloads/DE/Grundlagen/Handreichung/ Handreichung.pdf?__blob=publicationFile&v=5 (aufgerufen am 18. 5. 2020). 5 Vgl. zuletzt Ludwig v. Pufendorf (Hrsg.): Erworben Besessen Vertan: Dokumentation zur Restitution von Ernst Ludwig Kirchners „Berliner Straßenszene“. Bielefeld 2018.
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Die im November 2013 durch die Medien bekannt gemachte staatliche Beschlagnahme des Kunstbesitzes von Cornelius Gurlitt, die auf ein weltweites mediales Echo stieß, schärfte das öffentliche Bewusstsein für die Dimensionen des NS-Kunstraubs und wirkte wie ein Katalysator für den Ausbau der Provenienzforschung in Deutschland. So führte er am 1. Januar 2015 zur Gründung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste mit Sitz in Magdeburg, das ebenfalls Fördermittel vergibt: „Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste ist national und international der zentrale Ansprechpartner zu Fragen unrechtmäßiger Entziehungen von Kulturgut, das sich heute in Sammlungen deutscher kulturgutbewahrender Einrichtungen befindet. Das Hauptaugenmerk des Zentrums gilt hierbei dem im Nationalsozialismus verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgut insbesondere aus jüdischem Besitz (sog. NS-Raubgut).“ 6
Das Zentrum führt die Aufgaben der vormaligen Koordinierungsstelle Magdeburg und der vormaligen Arbeitsstelle für Provenienzforschung fort – mit mittlerweile deutlich erweitertem Aufgabenfeld. Dazu weiter unten mehr. Entscheidend ist somit: Infolge der Washingtoner Konferenz (also auf einen äußeren, politischen Impuls hin) wird seit 1998 in vielen Ländern, vor allem in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und in Österreich, verstärkt Provenienzforschung betrieben, um NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut zu identifizieren. In vielen Fällen kam es im Ergebnis zu Restitutionen. Um hier nur zwei Zahlen zu nennen: Allein die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat seit 1999 über 350 Kunstwerke und mehr als 1.000 Bücher restituiert. 7 In der medialen Berichterstattung und öffentlichen Wahrnehmung werden die komplexen Dimensionen der Provenienzforschung indes häufig auf das Schlagwort Restitution reduziert. Demgegenüber muss jedoch klargestellt werden, dass Provenienzforscher*innen überhaupt keine Restitutionen vornehmen! Vielmehr stellen sie ihre Forschungen den Trägern der jeweiligen Institutionen zur Verfügung, welche dann die Ergebnisse bewerten und auf Grundlage dieser Bewertung letztlich ihre Entscheidungen treffen. Die in meinen Augen fatale Verengung der vielschichtigen Dimensionen der Provenienzforschung auf das Thema Restitution wiederholt sich in jüngerer Zeit im Zusammenhang mit Kulturgütern, die im Zuge eines anderen historischen Unrechtskontextes in westliche Sammlungen gekommen sind.
6 https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Aufgaben/Index.html (aufgerufen am 8. 4. 2020). 7 https://www.preussischer-kulturbesitz.de/newsroom/dossiers-und-nachrichten/dossiers/magazin-ns-raubkunst/fair-und-gerecht.html (aufgerufen am 27. 2. 2020).
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4. Aktuelle Provenienzforschung und Restitution im Zusammenhang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten Dass die Geschichte der Ethnologischen Museen aufs Engste mit der europäischen Kolonialgeschichte verbunden ist und diese ein Gewalt-, Wirtschafts- und Herrschaftssystem war, das es den Europäer*innen ermöglichte, sich über viele Jahre Tausende Kulturgüter der kolonialisierten Gesellschaften anzueignen – das steht außer Frage. So „wird vermutet, dass heute über 90 Prozent des Kulturerbes von Subsahara-Afrika in westlichen Museen liegt.“ 8 Seit einigen Jahren ist nun eine intensive öffentliche Debatte über den Umgang mit diesen Kulturgütern in öffentlichen Sammlungen im Gange. Wieder im Gange, muss man präzisieren, denn auch dies ist nichts grundsätzlich Neues, wie etwa die Geschichte der Nofretete belegt. 9 Die Büste der Nofretete wurde 1912 bei Ausgrabungen der Deutschen OrientGesellschaft unter Leitung des Archäologen Ludwig Borchardt in Tell elAmarna in Ägypten entdeckt. Damals stand Ägypten, trotz der formellen Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich, unter britischer Besatzung, die ägyptische Altertümerverwaltung in Kairo wurde jedoch von Franzosen im ägyptischen Staatsdienst geleitet. 1913 wurde die Büste im Rahmen der Fundteilung mit Genehmigung der ägyptischen Altertümerverwaltung nach Deutschland gebracht. 1920 ging sie durch eine Schenkung des Unternehmers und Mäzens James Simon, der die Ausgrabungen finanziert hatte, an den preußischen Staat, der sie ab 1924 im für die ägyptische Sammlung der Staatlichen Museen zu Berlin errichteten Museum auf der Berliner Museumsinsel öffentlich präsentierte. Bereits 1925 begehrte Ägypten die Büste erstmals zurück. Diese Forderung wurde verschiedentlich wiederholt, zuletzt am 24. Januar 2011. An diesem Tag verlangte Zahi Hawass, Ägyptologe und damaliger Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung, in einem Brief an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz erneut die Rückgabe der Büste. Dies wurde vom damaligen Kulturstaatsminister Bernd Neumann zurückgewiesen. „Und zum 100. Jahrestag des Fundes des Artefakts erklärte Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, noch Ende 2012, dass er eine Rückgabe an Ägypten nach wie vor ausschließe, da Nofretete ‚Teil des 8 https://www.dfg.de/dfg_magazin/veranstaltungen/exkurs/2019/191023_savoy_restitution/index.html (aufgerufen am 20. 7. 2020). 9 Vgl. zum Folgenden Bénédicte Savoy: Nofretete. Eine deutsch-französische Affäre 1912–1931. Köln / Weimar / Wien 2011. Vgl. ferner den Beitrag von Matthias Goldmann und Beatriz v. Loebenstein im vorliegenden Band. Die Autor*innen führen die Begriffe „rechtliche Provenienz“ und „juristische Provenienzforschung“ ein, ohne dies definitorisch weiter auszuführen.
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kulturellen Erbes der Menschheit‘ sei und er eine Rückgabe ‚einfach so aus Großmut‘ grundsätzlich für nicht vertretbar halte.“ 10
1984 erschien das Buch „Nofretete will nach Hause“ von Gert v. Paczensky und Herbert Ganslmayr, ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückgabe kolonialer Kulturgüter. 11 Den Anstoß zu diesem Buch hatte General Mobutu Sese Seko, damaliger Präsident von Zaire (heute Demokratische Republik Kongo), gegeben, der am 4. Oktober 1973 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Debatte über die Rückführung kolonialer Kulturgüter initiiert hatte. Mobutu sagte: „In der Kolonialzeit hatten wir nicht nur unter Kolonialismus, Sklaverei und wirtschaftlicher Ausbeutung zu leiden, sondern wir litten auch und in erster Linie an der barbarischen und systematischen Plünderung all unserer Kunstschätze. Auf diese Weise eigneten sich die reichen Länder das Beste von uns an, unsere einzigartigen Kunstschätze, und wir wurden daher nicht nur im ökonomischen Sinne arm, sondern verarmten auch kulturell. [. . .] Ich bitte diese Generalversammlung um die Annahme einer Resolution, mit der sie die reichen Länder, welche Kunstschätze der armen Länder besitzen, auffordert, einige von ihnen zurück[zu]geben, so daß wir unseren Kindern und Kindeskindern die Geschichte ihrer Länder vermitteln können.“ 12
Erst dreißig Jahre später, 2003, wurde die von Mobutu begehrte Resolution verabschiedet, entfaltete aber keine nennenswerte Wirkung. Im Gegenteil: Die Kolonialgeschichte wurde bis in die jüngste Zeit weitgehend verdrängt, nicht nur in Deutschland. 2015 konstatierte der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer: „Die koloniale Amnesie in Deutschland schwindet allmählich.“ 13 Es sind im Wesentlichen drei Ereignisse, die den Diskurs um koloniale Kulturgüter in jüngerer Zeit befeuert haben: zum Ersten die Kontroverse um das Humboldt Forum im teilweise rekonstruierten Berliner Stadtschloss, in dem u. a. die außereuropäischen Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin untergebracht werden sollen; zum Zweiten die Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron am 28. November 2017 an der
10 Vgl. Beata Arnold: Die schönste Frau der Welt auf dem Heimweg? – Ägyptische Initiative will Nofretete zurück, https://de.sputniknews.com/kultur/20191206326073785nofretete-rueckgabe-forderung/ (aufgerufen am 11. 5. 2020). 11 Gert v. Paczensky / Herbert Ganslmayr: Nofretete will nach Hause. München 1984. 12 Zit. nach Thomas Fitschen: „30 Jahre Rückführung von Kulturgut“. Wie der Generalversammlung ihr Gegenstand abhanden kam. In: Vereinte Nationen (2004) H. 2, S. 46–51, https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/fileadmin/publications/PDFs/ Zeitschrift_VN/VN_2004/HEFT_2_2004/02_Beitrag_Fitschen_VN_2-04.pdf (aufgerufen am 11. 5. 2020), hier S. 46. 13 Jürgen Zimmerer: Kulturgut aus der Kolonialzeit – ein schwieriges Erbe? In: Museumskunde 80 (2015) H. 2, S. 22–25, hier S. 22.
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Universität von Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, in der er ankündigte, binnen fünf Jahren die Voraussetzungen zur zeitweisen oder endgültigen Restitution afrikanischen Kulturerbes an Afrika schaffen zu wollen; und zum Dritten schließlich der von Präsident Macron bei Felwine Sarr und Bénédicte Savoy in Auftrag gegebene und von ihm am 23. November 2018 entgegengenommene Bericht über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes („Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain – Vers une nouvelle éthique relationelle“). 14 In allerjüngster Zeit war es der Fall des bei einem gewaltsamen Polizeieinsatz am 25. Mai 2020 in Minneapolis ums Leben gekommenen Afroamerikaners George Floyd, der in den USA und in anderen Ländern zu Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus führte, in deren Zuge die Debatte um koloniale Objekte in den Museen, aber auch um Ehrungen kolonialer Akteure in Form von Denkmälern und Straßennamen, neu entflammte. Bemerkenswert ist, in welchem Maße die Themen Provenienzforschung und koloniales Erbe mittlerweile auf der politischen Agenda angekommen sind. So heißt es im Koalitionsvertrag zwischen CDU / CSU und SPD vom 14. März 2018: „Wir werden auch künftig mit Nachdruck eine umfassende Provenienzforschung in Deutschland vorantreiben. [. . .] Die Aufarbeitung der Provenienzen von Kulturgut aus kolonialem Erbe in Museen und Sammlungen wollen wir – insbesondere auch über das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste und in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Museumsbund – mit einem eigenen Schwerpunkt fördern.“ 15
So richtete das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste 2019 den Fachbereich „Kulturgüter aus kolonialen Kontexten“ mit einem eigenen Förderbeirat ein. Seither können Museen entsprechende Anträge stellen, wenn sie die Provenienzen ihrer ethnografischen Bestände erforschen möchten. Am 13. März 2019 wurde das Papier „Erste Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturminister*innen der Länder und der kommunalen Spitzenverbände veröffentlicht. Darin heißt es:
14 http://restitutionreport2018.com/sarr_savoy_fr.pdf (aufgerufen am 18. 5. 2020); Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Berlin 2019. Kritisch äußerte sich zu dem Bericht u. a. Patrick Bahners: Französisches Ausleerungsgeschäft. Der „Bericht über die Restitution afrikanischen Kulturerbes“. In: Merkur 73 (2019) H. 838, S. 5–17. 15 https://www.bundesregierung.de/resource/blob/656734/847984/5b8bc23590d4cb2892b 31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1 (aufgerufen am 18. 5. 2020).
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„Wir wollen in engem Austausch mit den Herkunftsstaaten und den betroffenen Herkunftsgesellschaften verantwortungsvoll mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten umgehen. Wir wollen dabei die Voraussetzungen für Rückführungen von menschlichen Überresten schaffen und für Rückführungen von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten, deren Aneignung in rechtlich und / oder ethisch heute nicht mehr vertretbarer Weise erfolgte. Wir werden gemeinsam mit den betroffenen Einrichtungen Rückführungsverfahren mit der erforderlichen Dringlichkeit und Sensibilität behandeln.“ 16
In der Folge wurde am 16. Oktober 2019 die Einrichtung einer „Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland“ bei der Kulturstiftung der Länder beschlossen. Diese „richtet sich insbesondere an Personen und Institutionen aus den Herkunftsstaaten und Herkunftsgesellschaften“ und soll „Information und Beratung zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland und verwandten Themen“ anbieten sowie Personen und Institutionen vernetzen. 17 Sowohl der Passus im Koalitionsvertrag als auch das Papier „Erste Eckpunkte“ sind Absichtserklärungen und Stellungnahmen der Politik. Aber auch die betroffenen Museumsfachleute haben sich mittlerweile erklärt. Anlässlich der Jahreskonferenz 2019 der Direktor*innen der Ethnologischen Museen im deutschsprachigen Raum – das sind mehr als 20 Häuser – in Heidelberg wurde am 6. Mai 2019 die „Heidelberger Stellungnahme“ verabschiedet, in der „Möglichkeiten einer Restitution“ grundsätzlich eingeräumt, aber auch Einschränkungen gemacht werden. Unter der Überschrift „Dekolonisierung erfordert Dialog, Expertise und Unterstützung“ heißt es dort: „Es versteht sich von selbst, dass aufgrund von Unrecht im Moment des Herstellens oder Sammelns in die Museen gelangte Objekte – wenn dies von Vertreter / innen der Urhebergesellschaften gewünscht wird – zurückgegeben werden sollten. Möglichkeiten einer Restitution sollten ferner auch da verhandelbar sein, wo Objekte für die Herkunftsgesellschaften einen hohen Wert haben. Insgesamt bewahren die Museen allerdings Kulturerbe aus hoch differenzierten Erwerbs- und Sammlungsumständen und verkörpern mithin viel mehr als koloniales Erbe. Es versteht sich daher auch, dass die Beziehungen, die mit der Übernahme der Objekte in die Sammlungen eingegangen wurden, zu weit mehr verpflichten als lediglich zur Rückgabe von Objekten.“
Weiterhin führen die Unterzeichner aus, dass sie sich den folgenden Punkten verpflichtet fühlen:
16 https://www.kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/2019/2019-03-25 _ ErsteEckpunkte-Sammlungsgut-koloniale-Kontexte_final.pdf (aufgerufen am 18. 5. 2020). 17 https://www.kulturstiftung.de/kontaktstelle-sammlungsgut-aus-kolonialen-kontexten/ (aufgerufen am 12. 5. 2020).
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„1. dafür Sorge zu tragen, dass alle, die aufgrund ihrer Geschichte und kulturellen Praktiken mit den Sammlungen verbunden sind, wenn irgend möglich von den Aufbewahrungsorten sie betreffender Sammlungen erfahren; 2. das bewahrte Wissen wo immer möglich mit den Urheber / innen und ihren Nachfahr / innen zu teilen, da erst dies die Voraussetzungen für gegenseitiges Vertrauen schafft; 3. laufende Forschungen zu unseren Sammlungsbeständen öffentlich zu machen.“ 18
Zum erstgenannten Punkt erschien am 17. Oktober 2019 in der Wochenzeitung „Die ZEIT“ der Aufruf „Öffnet die Inventare! – Ein Appell, das vorhandene Wissen zu afrikanischen Objekten in deutschen Museen endlich frei zugänglich zu machen“, in dem „Forschende und Kulturschaffende aus verschiedenen afrikanischen und europäischen Ländern [. . .] die schnellstmögliche weltweite Verfügbarmachung der Bestandsverzeichnisse afrikanischer Objekte in den jeweiligen Sammlungen“ verlangen. 19 Mittlerweile gibt es in Deutschland eine ganze Reihe von Forschungsprojekten zu Kulturgütern kolonialer Provenienz, etwa „PAESE – Provenienzforschung in außereuropäischen Sammlungen und der Ethnologie in Niedersachsen“ und das internationale Projekt „DIGITAL BENIN – Zusammenführung der königlichen Kunstschätze“. 20 Auch liegen bereits eine Reihe von einschlägigen Publikationen zum Thema vor. 21 Nicht zuletzt wurden erste Restitutionen aus deutschen Museen vorgenommen.
18 https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/2019/05/heidelberger-stellungnahme.pdf (aufgerufen am 12. 5. 2020). 19 https://www.zeit.de/2019/43/koloniale-vergangenheit-deutschland-afrikanische-objekte-museen#comments (aufgerufen am 12. 5. 2020). 20 https://www.postcolonial-provenance-research.com/ (aufgerufen am 12. 5. 2020); https://markk - hamburg . de / files / media / 2020 / 04 / Digital - Benin _ Pressemappe . pdf (aufgerufen am 12. 5. 2020). 21 Vgl. z. B. Deutscher Museumsbund (Hrsg.): Leitfaden. Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. 2. Fassung Berlin 2019, https://www.museumsbund.de/ wp-content/uploads/2019/08/dmb-leitfaden-kolonialismus-2019.pdf (aufgerufen am 18. 5. 2020); Iris Edenheiser / Larissa Förster (Hrsg.): Museumsethnologie. Eine Einführung. Theorien – Debatten – Praktiken. Berlin 2019; Larissa Förster u. a. (Hrsg.): Provenienzforschung zu ethnografischen Sammlungen der Kolonialzeit: Positionen in der aktuellen Debatte. Berlin 2018, https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/19769 (aufgerufen am 18. 5. 2020); Moritz Holfelder: Unser Raubgut. Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte. Berlin 2019; H. Glenn Penny: Im Schatten Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie. München 2019; Olaf Zimmermann / Theo Geißler (Hrsg.): Kolonialismus-Debatte. Bestandsaufnahme und Konsequenzen. In: Aus Politik & Kultur (2019) H. 17, https://www.kulturrat.de/wp-content/uploads/ 2020/01/AusPolitikUndKultur_Nr17.pdf (aufgerufen am 20. 5. 2020). Vgl. auch: Historische Urteilskraft. Magazin des Deutschen Historischen Museums 1 (2019), Titelthema: „Die Säule von Cape Cross. Koloniale Objekte und historische Gerechtigkeit“. Vgl. zur Rückgabe der (auch Padrão genannten) Säule von Cape Cross den Beitrag von Lukas Meyer in diesem Band.
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Hierfür ein Beispiel: Die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer gab am 28. Februar 2019 in Gideon / Namibia die von deutschen Truppen im Jahr 1893 erbeutete Familienbibel und Peitsche des ehemaligen Nama-Anführers und heutigen Nationalhelden Namibias Hendrik Witbooi, bis dahin im Besitz des Linden-Museums (Staatliches Museum für Völkerkunde) in Stuttgart, an den Staat Namibia zurück. 22 Mit einiger Verspätung, aber umso mehr Wucht scheint der postkoloniale Diskurs, der seit den späten 1970er-Jahren geführt wird, nun in den Museen angekommen zu sein. In den bisweilen hitzigen Debatten wird immer wieder die Forderung nach einer Dekolonialisierung (bzw. Dekolonisierung) der Museen erhoben. 23 Ein Indiz für das Umdenken sind auch die europaweiten Umbenennungen der Völkerkundemuseen: Das Wiener Völkerkundemuseum etwa wurde 2013 in Weltmuseum Wien umbenannt, das Staatliche Museum für Völkerkunde in München 2014 in Museum Fünf Kontinente, das Museum für Völkerkunde Hamburg 2018 in Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK). Auch die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde taufte sich 2017 um und heißt fortan Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie. Im Lichte postkolonialer Kritik erscheint der Begriff Völkerkunde nicht mehr zeitgemäß. Bewusst oder unterbewusst, so lauten die Begründungen, werde „Völkerkunde“ mit einer kolonialen Haltung, teilweise auch mit völkisch-nationalem Gedankengut assoziiert. Es ist festzuhalten, dass die „Restitutionsrevolution“, die Bénédicte Savoy zu Beginn des Jahres 2018 in Reaktion auf die erwähnte Rede von Präsident Macron in Ouagadougou ausrief 24, bislang ausgeblieben ist. Das hängt gewiss auch damit zusammen, dass die ehemals kolonisierten Länder weder nach nationalem noch nach internationalem Recht einen Repa-
22 https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/witbooibibel-und-peitsche-an-namibia-uebergeben/ (aufgerufen am 18. 5. 2020). Vgl. Jochen von Bernstorff / Thomas Thiemeyer: Südwestdeutsch trifft Deutsch-Südwest. Baden-Württemberg gibt zwei kolonialzeitliche Objekte an Namibia zurück. In: Merkur 73 (2019) H. 840, S. 17–29. 23 Vgl. Deutscher Museumsbund (Hrsg.): Bulletin (2019) H. 4: Schwerpunkt Dekolonisierung. Was heißt das für die Museen?, https://www.museumsbund.de/wp-content/ uploads/2019/12/00-bulletin19-4-online.pdf (aufgerufen am 18. 5. 2020). 24 Der Artikel erschien am 12. 1. 2018 parallel in Le Monde und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und am 16. 2. 2018 in The Art Newspaper, https://www.lemonde. fr/idees/article/2018/01/12/restitutions-du-patrimoine-africain-il-faut-y-aller-dansla-joie_5240693_3232.html (aufgerufen am 14. 5. 2020); https://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/kunst/macron-fordert-endgueltige-restitutionen-des-afrikanisches-erbesan-afrika-15388474.html (aufgerufen am 19. 5. 2020); https://www.theartnewspaper. com/comment/the-restitution-revolution-begins (aufgerufen am 14. 5. 2020).
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triierungsanspruch besitzen. 25 Es gibt keinerlei rechtliche Vorgaben, kein Restitutionsgesetz oder Ähnliches hinsichtlich des musealen Umgangs mit Kulturgütern kolonialer Provenienz, auch kein soft law, wie es im Falle von NS-Raubgut die Washingtoner Prinzipien darstellen. Es sind in erster Linie moralisch-ethische und politische Gründe, die für Restitutionen sprechen. Und so mehren sich die Stimmen, die eine internationale Konferenz, eine Art Washington 2.0, fordern, um entsprechende Grundsätze zu erarbeiten. Die weitere Entwicklung scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch völlig offen. Eben darin liegt aber auch eine Chance für einen differenzierten Umgang mit dem Thema. Denn auch in diesem Kontext gilt es, Restitutionen nicht als einzigen Weg zu sehen. Vor allem aber auch nicht als Ausweg, Abschluss oder Endpunkt, wie Felwine Sarr im Interview mit der „Zeit“ vom 25. Juli 2019 in Bezug auf Afrika betont: „Überhaupt ist die Restitution viel komplexer als das, was über sie in manchen Medien berichtet wird. Es geht um viel mehr. Die Rückgabe der Gegenstände ist der geringste Teil. [. . .] Es geht darum, das Verhältnis von Afrika und Europa neu zu bestimmen. Die Frage der Restitution ist nur die erste Stufe der Debatte und nicht die interessanteste. [. . .] Wir sprachen von neuen ethischen Beziehungen und von einer Chance. Denn die Objekte, um die es geht, sind sowohl in Afrika als auch in Europa verankert. Es sind sowohl rituelle Objekte als auch Museumsstücke. Wenn wir diese Kreolisierung ernst nehmen, könnten die Objekte Mediatoren sein, Vermittler, um die Geschichte aufzuarbeiten und Afrika und Europa einander anzunähern. Danach können wir zu einer neuen Ebene von Kooperation und Respekt finden.“ 26
Das Museum am Rothenbaum schreibt auf seiner Website: „Das MARKK befindet sich seit 2017 in einer aktiven Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit und hat einen umfassenden Neupositionierungsprozess eingeleitet. Die enge Zusammenarbeit und der vertrauensvolle Austausch mit den Urhebergesellschaften der Sammlungen nehmen dabei einen hohen Stellenwert ein. Neben möglichen Restitutionen ist das MARKK gesprächsbereit für alternative Lösungen wie z. B. de[n] Austausch von Digitalisaten, [die] Zirkulierung von Objekten und längerfristige[. . .] Kooperationen.“ 27
Auch mir erscheint die Idee des „Shared Heritage“, also des geteilten Kulturerbes, vielversprechend. In einem am 8. März 2018 in der „Zeit“ 25 Vgl. Carola Thielecke / Michael Geißdorf: Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Rechtliche Aspekte. In: Deutscher Museumsbund (Anm. 21), S. 105–118. Vgl. auch den Beitrag von Bettina Brockmeyer im vorliegenden Band. 26 https://www.zeit.de/2019/31/felwine-sarr-raubkunst-kolonialismus-museen-europa (aufgerufen am 18. 5. 2020). 27 https://markk-hamburg.de/category/koloniales_erbe/ (aufgerufen am 14. 5. 2020).
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erschienenen Interview forderte der Politologe und Theoretiker des Postkolonialismus Achille Mbembe: „Aber das Ziel sollte ein grenzenloses Zirkulieren von Kunstgegenständen sein. Und zwar nicht nur der geraubten Objekte aus Afrika, sondern des gesamten Erbes der Menschheit. [. . .] Sie gehören uns allen. Sie wären eine Manifestation des [. . .] geteilten Erbes.“ 28
Was spräche eigentlich dagegen (vorausgesetzt, dies wäre konservatorisch vertretbar), die Nofretete abwechselnd jeweils ein halbes Jahr im Neuen Museum Berlin und im Ägyptischen Museum Kairo zu zeigen? Die „Leerstelle“ am jeweils anderen Ort könnte man einerseits programmatisch in das museale Display einbeziehen, um das Publikum über die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Gegenwart aufzuklären, andererseits könnte sie mit Leihgaben aus dem jeweils anderen Museum flankiert werden – als sichtbares Zeichen der transnationalen Kooperation und Verständigung. Die Aufgaben und Methoden der „ethnologischen Provenienzforschung“ unterscheiden sich nicht grundsätzlich von der „kunsthistorischen Provenienzforschung“, wenngleich es natürlich auch fachspezifische Fragestellungen und Herangehensweisen gibt. 29 Inhaltlich geht es um die Klärung der Herkunft und Geschichte eines Objektes, im Idealfall von der Entstehung über sämtliche Besitzer- und Ortswechsel bis zum aktuellen Aufbewahrungsort im jeweiligen historischen Kontext, darüber hinaus um die Untersuchung von Zuschreibungen und Bedeutungskonstruktionen. Methodisch geht man von Spuren der Provenienz am jeweiligen Objekt selbst aus und erweitert dann die Suche auf Schriftund Bildquellen im Museumsarchiv und andernorts sowie im Falle der „ethnologischen Provenienzforschung“ auch auf mündlich tradiertes Wissen (Oral History). Einem Puzzle nicht unähnlich, werden zuletzt die Einzelteile zusammengefügt, immer in der Hoffnung, ein möglichst vollständiges Bild zu erhalten. Doch häufig, sehr häufig bleiben Lücken oder Unklarheiten. Wie mit unvollständigen oder unklaren Provenienzen umzugehen ist, gehört zu den schwierigsten Fragen im Zusammenhang 28 https://www.zeit.de/2018/11/dekolonisation-achille-mbembe-philosoph (aufgerufen am 20. 5. 2020). Vgl. Achille Mbembe: Of African Objects in Western Museums. Über afrikanische Objekte in westlichen Museen. Gerda Henkel Vorlesung. Münster 2019. Vgl. ferner Thomas Thiemeyer: Kulturerbe als „Shared Heritage“? (I). Kolonialzeitliche Sammlungen und die Zukunft einer europäischen Idee. In: Merkur 72 (2018) H. 829, S. 30–44, bes. S. 37 f., und den Beitrag von Thiemeyer im vorliegenden Band. 29 Jonathan Fine / Hilke Thode-Arora: Provenienzforschung. Forschungsquellen, Methodik, Möglichkeiten. In: Deutscher Museumsbund (Anm. 21), S. 99–105; Larissa Förster: Der Umgang mit der Kolonialzeit. Provenienz und Rückgabe. In: Edenheiser / Förster (Anm. 21), S. 78–103, hier S. 82 f.
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mit der Provenienzforschung – insbesondere dann, wenn die Frage im Raum steht: Restitution, ja oder nein?
5. Geschichts- und erinnerungskulturelle Dimensionen der Restitutionsdebatte aus Sicht der Provenienzforschung Um einen umfassenden Blick auf die Restitutionsdebatte zu erhalten, ist es notwendig, den Begriff der Restitution näher zu beleuchten. Er leitet sich vom lateinischen restitutio ab und meint wörtlich Wiederherstellung, Wiedereinsetzung. Im römischen Recht bezeichnet er eine verfahrensrechtliche Möglichkeit zur Wiederherstellung einer Rechtslage durch Aufhebung einer rechtswidrigen Entscheidung. „Als Terminus des Völkerrechts beschreibt [Restitution] die Wiedergutmachung völkerrechtswidriger Wegnahmen von Gegenständen durch die Besatzungsmacht in einem kriegerisch besetzten Gebiet.“ 30
In unserem Zusammenhang geht es um die Rückerstattung geraubter, enteigneter, entzogener Kulturgüter – in erster Linie bezogen auf NS-Raubgut und in jüngster Zeit verstärkt diskutiert im Kontext von Kulturgütern kolonialer Provenienz. Bei Letzteren ist die Frage des legitimen Adressaten einer Restitution oft äußerst komplex, weil, etwa im Falle Afrikas, die heutigen Staaten in der Regel nicht oder nicht vollständig mit den ursprünglichen Stammesgebieten und Königtümern übereinstimmen und zudem die Herkunftsgesellschaften selbst häufig keine homogene Gruppe darstellen. So war die oben erwähnte Restitution zweier kolonialer Objekte durch das Land Baden-Württemberg an den Staat Namibia in Namibia selbst umstritten: „Kurz vor der geplanten feierlichen Rückgabezeremonie in Namibia focht die Vereinigung der Nama-Stammesältesten die geplante Rückgabe der WitbooiBibel mitsamt Peitsche an den Staat Namibia an. Die Vereinigung, die für sich beansprucht, die Volksgruppe der Nama zu vertreten, stellte einen Eilantrag auf Aussetzung der Rückgabe vor dem Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg. Die Gegenstände seien an sie als legitime Vertreter der Familie Witbooi und nicht an die namibische Regierung zurückzugeben.“ 31 30 Hannes Hartung: Kunstraub in Krieg und Verfolgung. Die Restitution der Beute- und Raubkunst im Kollisions- und Völkerrecht. Berlin 2005, S. 66. Vgl. zur Abgrenzung des Begriffs Restitution von den Begriffen Reparation, Wiedergutmachung und Entschädigung Berthold Unfried: Vergangenes Unrecht. Entschädigung und Restitution in einer globalen Perspektive. Göttingen 2014, S. 39–44. Vgl. dazu auch den Beitrag von Lukas Meyer im vorliegenden Band. 31 Jochen von Bernstorff / Jakob Schuler: Restitution und Kolonialismus: Wem gehört die Witbooi-Bibel?, 4. 3. 2019, https://verfassungsblog.de/restitution-und-kolonialismuswem-gehoert-die-witbooi-bibel/ (aufgerufen am 20. 7. 2020).
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Dass der Raub von Kulturgütern grundsätzlich eine besonders gravierende „historische Kränkung“ darstellt, unterstrichen Hauptmann Walter I. Farmer und andere amerikanische Kunstschutzoffiziere in ihrem „Wiesbadener Manifest“ vom 7. November 1945, in dem sie (erfolglos) gegen die Verbringung von Kunstschätzen aus deutschen Museen in die USA protestierten: „Wir möchten darauf hinweisen, dass unseres Wissens keine historische Kränkung so langlebig ist, so viel gerechtfertigte Verbitterung hervorruft wie die [. . .] Wegnahme eines Teiles des kulturellen Erbes einer Nation.“ 32
Wodurch begründet sich dieser herausragende Status von Kunst- und Kulturgütern? Sie sind eben „mehr als bloße Vermögenswerte: In ihrem Besitz drücken sich gesellschaftliche und kulturelle Werte aus“, 33 es geht bei ihnen „immer auch um Identitätsfragen – auf nationaler, regionaler wie lokaler Ebene.“ 34 Gesellschaftliche und kulturelle Werte, Identitätsfragen, Geschichtsbilder und -konstruktionen, kollektive Erinnerung – all dies grundiert die aktuellen Restitutionsdebatten und macht sie so vielschichtig und komplex. Und nachgerade zu einem Modellfall von Geschichtskultur, wenn wir diese mit Jörn Rüsen definieren als „begriffliche Synthetisierung“ von „mannigfaltigen Aktivitäten, Institutionen und Funktionen des erinnernden Umgangs mit der Vergangenheit“ und „als praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft.“ 35 Da jedoch der Begriff Geschichtsbewusstsein „auch ablenken [kann] von den Dimensionen und Bereichen menschlicher Mentalität, die nicht in der Zielgerichtetheit und Reflexivität von Bewußtsein aufgehen“, empfehle es sich laut Rüsen, „die eigentümliche kulturelle Aktivität und ihre Ausprägungen, die der Terminus ‚Geschichtskultur‘ kategorial erschließen soll, noch anders zu beschreiben als mit den Prozeduren und Ausprägungen des Geschichtsbewußtseins. Da-
32 Zit. nach Herbert Güttler: Beutekunst? Kritische Betrachtungen zur Kulturpolitik. Bonn 2010, S. 10. Vgl. zum militärischen Kunstschutz in der amerikanischen Besatzungszone und Walter I. Farmer: Iris Lauterbach: Der Central Collecting Point in München. Kunstschutz, Restitution, Neubeginn (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, Bd. 34). Berlin / München 2015, S. 26–30. 33 Inka Bertz / Michael Dorrmann: Einleitung. In: Raub und Restitution (Anm. 3), S. 8– 13, hier S. 10. 34 Goschler (Anm. 3), S. 44. In diesem Sinne auch Elazar Barkan: Völker klagen an. Eine neue internationale Moral. Düsseldorf 2002, S. 31. 35 Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füßmann / Heinrich Theodor Grütter / Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln / Weimar / Wien 1994, S. 3–26, hier S. 4 f.
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für bietet sich der Ausdruck ‚historische Erinnerung‘ an. Daß der Umgang mit Geschichte und ihrer Rolle im Leben der Menschen ein Vollzug einer bestimmten Art der Erinnerung, nämlich der historischen, ist, dürfte kaum bestritten werden können.“ 36
Als der Text Jörn Rüsens, dem diese Passagen entnommen sind, 1994 erschien, spielte Restitution in den gesellschaftlichen Diskursen keine nennenswerte Rolle 37, sonst hätte der Autor dies vermutlich aufgegriffen. Aber in der aktuellen Restitutionsdebatte wird immer wieder auf den engen Zusammenhang von Restitution und historischer Erinnerung hingewiesen. Der Historiker Dan Diner spricht sogar von der „gleichsam anthropologischen Verknüpfung von Gedächtnis und Restitution“. 38 Restitution setzt die Einsicht in vergangenes Unrecht und den Willen zur Wiedergutmachung voraus. Restitution – dies sei nochmals betont – ist kein Bestandteil von Provenienzforschung. Diese „stellt Grundlagen für die Bildung eines historischen Urteils dar, das höchst unterschiedlich ausfallen kann, je nach Perspektive und Sprecherposition und den Geschichten, die über museale Objekte erzählt werden, aber ein historisches Urteil geht in solchen Befunden nicht auf.“ 39
Beides, die Erforschung von Objektbiografien im Zuge der Provenienzforschung und die unter Umständen als Konsequenz daraus folgende Restitution, bilden einen wesentlichen und integralen Bestandteil der Geschichtsund Erinnerungskulturen einer Gesellschaft. Es erscheint mir methodisch vielversprechend, im Detail zu untersuchen, wie das Konzept des „Erinnerungsorts“ (lieu de mémoire) von Pierre Nora sowie die Forschungen von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis und jene von Aleida und Jan Assmann zum kulturellen Gedächtnis sowohl für die Provenienz-
36 Ebd., S. 5. 37 Obwohl es just in diesem Jahr zu einer bemerkenswerten Restitution kam: Am Rande des 63. Deutsch-Französischen Gipfels übergab Bundeskanzler Helmut Kohl am 30. Mai 1994 im elsässischen Mulhouse 28 im Zweiten Weltkrieg verschleppte französische Gemälde an den französischen Präsidenten François Mitterrand. Vgl. François Mitterand: Allocution sur la restitution à la France d’une collection de tableaux (1994), kommentiert von Moira Barrett. In: Translocations. Anthologie. Eine Sammlung kommentierter Quellentexte zu Kulturgutverlagerungen seit der Antike, https://translanth.hypotheses.org/ueber/mitterand (aufgerufen am 24. 5. 2020). Vgl. auch Bénédicte Savoy: Museen. Eine Kindheitserinnerung und ihre Folgen. Köln 2019, S. 12–17. 38 Dan Diner: Restitution. Über die Suche des Eigentums nach seinem Eigentümer. In: Raub und Restitution (Anm. 3), S. 16–28, hier S. 21; Ders.: Gedächtnis und Restitution. In: Volkhard Knigge / Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002, S. 299–305. 39 Thomas Sandkühler: Restitution und historische Urteilskraft. In: Public History Weekly 7 (2019) H. 9 (DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2019-13510).
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forschung als auch für die Restitutionsdebatten fruchtbar gemacht werden können. Wie funktioniert zum Beispiel das kollektive Gedächtnis? Das war das Lebensthema von Maurice Halbwachs. Im Nachlass des am 16. März 1945 im KZ Buchenwald ermordeten französischen Soziologen und Schülers Émile Durkheims tauchte ein unvollendetes Manuskript auf, das 1950 unter dem Titel „La Mémoire collective“ und 1967 in deutscher Übersetzung erschien. Darin finden sich die für das Thema historische Erinnerung und also auch für das Thema Restitution grundsätzlich bedenkenswerten Sätze: „Wir haben es oft wiederholt: die Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorgegangen ist.“ 40
Und weiter: „Zweifellos rekonstruieren wir, aber dies Rekonstruieren vollzieht sich in von unseren übrigen Erinnerungen und den Erinnerungen der anderen schon vorgezeichneten Bahnen.“ 41 Unsere Erinnerung an die Verbrechen während des Kolonialismus, sie ist nicht trennbar von unseren Erinnerungen an die Verbrechen während des Nationalsozialismus. Im Zusammenhang mit der Rückerstattung jüdischen Eigentums ist auf die Dilemmata und Grenzen von Restitutionen hingewiesen worden: „Die Rückerstattung steht im Zeichen eines Dilemmas: Restitutionen, Entschädigung, Reparationen zielen per definitionem auf die Beilegung eines historischen Unrechts, das aber vor dem Hintergrund der NS-Verbrechen bestenfalls gelindert werden kann.“ 42
Keine Restitution kann die Opfer des Holocaust wieder zum Leben erwecken. Zudem: „Der kulturelle Zusammenhang, das ‚kulturelle Kapital‘, das mit der Enteignung vernichtet wurde, ist nicht restituierbar. Die Wiederherstellung von Eigentum bedeutet nicht die Wiederherstellung von Kultur und Lebenswelt – wohl aber eine Anerkennung, dass ihr Verlust ein Unrecht war.“ 43
40 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1985, S. 55 f. Vgl. das Kapitel „Welche erinnerungspolitischen Voraussetzungen?“ bei Unfried (Anm. 30), S. 236–281, zu Halbwachs ebd., S. 245. 41 Halbwachs (Anm. 40), S. 63. 42 Constantin Goschler / Philipp Ther: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Raub und Restitution. „Arisierung“ und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa. Frankfurt a. M. 2003, S. 9–25, hier S. 19. 43 Wie Anm. 33.
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Hierzu der israelisch-amerikanische Historiker Elazar Barkan: „Die Anerkennung des vergangenen Unrechts bildet häufig durch das Erweisen von Respekt gegenüber der Erinnerung der Opfer den Kern der Entschädigung. Es ist eine Anerkennung, die das Trauma der Unterdrückung in einen Prozeß der Trauer verwandelt und einen Neubeginn ermöglicht.“ 44
Abschließend nochmals die Frage: Welchen Beitrag kann die Provenienzforschung zur Restitutionsdebatte leisten? Dass sie die Grundlage einer jeden Restitutionsentscheidung ist, ohne darauf reduziert werden zu dürfen, wurde bereits betont. Entscheidend ist darüber hinaus, dass Objektbiografien stets im historischen Kontext erforscht werden, also den historischen Prozess beleuchten, innerhalb dessen Besitz- und Ortsveränderungen von Kulturgütern stattfinden, und dass sie immer in Verbindung mit den Schicksalen der beteiligten Menschen gesehen werden. Bezogen auf Unrechtskontexte bietet die Objektgeschichte somit auch einen Zugang zur Opfergeschichte. Indes hat Provenienzforschung viele Dimensionen (ebenso wie den Objekten unterschiedlichste Bedeutungen eingeschrieben), sie erschöpfen sich nicht in der Beantwortung der Frage nach rechtmäßigem oder unrechtmäßigem Besitz und mithin auch nicht in der Frage: Restitution – ja oder nein. Ebenso wenig in der bloßen positivistischen Anhäufung von Fakten und Daten zum einzelnen Objekt – wenngleich diese Recherchen natürlich die Grundlage für alle weitergehenden Interpretationen bilden. Provenienzforschung liefert neue Erkenntnisse über die Geschichte und Erwerbungsstrategie der betreffenden Institution und sie wirft ein neues Licht auf das einzelne Kunstwerk, indem sie es an der Schnittstelle von Objekt- und Sammlungsbiografie verortet. Denn die Provenienz eines Objekts hat unmittelbare Auswirkungen auf seine Wahrnehmung. Wer die Biografie eines Kulturguts kennt, sieht es mit anderen Augen und erhält einen neuen Zugang zu seinem Verständnis. Meine These ist, dass Provenienzforschung anschlussfähig an zahlreiche kultur- und geisteswissenschaftliche Fächer, Disziplinen und Diskurse ist. Neben der Kunst- und Kulturgeschichte sind auch andere sammelnde Disziplinen wie eben die Ethnologie mit der Frage der Herkunft ihrer Objekte und der Legitimität des Besitzes konfrontiert. Historiker beschäftigen sich mit den historischen Kontexten von Objektbiografien, Ökonomen mit der Preisbildung auf dem Kunstmarkt, Soziologen beispielsweise mit der Netzwerkanalyse von am NS-Kunstraub beteiligten Protagonisten, Kultursoziologen und Sozialpsychologen mit der identitätsstiftenden Rolle einzelner Kulturgüter, Historiker, Politologen, Juristen und Philosophen 44 Barkan (Anm. 34), S. 366.
Provenienz – Restitution – Geschichtskultur
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aus ihrer jeweiligen Perspektive mit der komplexen Restitutionsthematik, Linguisten und Medienwissenschaftler mit der sprach- und medienwissenschaftlichen Analyse etwa der Presseberichterstattung. Damit hat Provenienz das Potenzial, ein neues Paradigma in den Kultur- und Geisteswissenschaften zu werden – und den Prozess einzuleiten, für den ich den Begriff „provenancial turn“ vorgeschlagen habe. 45
45 Vgl. Zuschlag (Anm. 1).
Danksagung
Am Ende dieses Bands wollen wir den Autorinnen und Autoren herzlich dafür danken, dass sie ihre Überlegungen für die Buchpublikation zur Verfügung gestellt und wiederholte Verzögerungen des Projekts geduldig ertragen haben. Benet Lehmann und Joram Witte, studentische Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, haben die editorische Aufbereitung der Manuskripte unterstützt und die Vitae der Autor*innen zusammengestellt. Kirsti Doepner und Julia Beenken vom Böhlau-Verlag haben das Manuskript des Buchs gewohnt professionell betreut und zum Druck befördert. Die FONTE-Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses hat die Publikation des Buchs durch einen namhaften Zuschuss unterstützt. Den Stiftungsgremien und Frau Professor Renate Kroll, Berlin, gilt unser besonderer Dank für ihre Wertschätzung des fachlichen Meinungsstreits. Berlin / Bielefeld / Hamburg, im Dezember 2020 Die Herausgeber
Verzeichnis der Autor*innen Safua Akeli Amaama, Leiterin der Abteilung für neuseeländische Geschichte und pazifische Kulturen am Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa. Publikationen: Missing in Action. Women’s Under-Representation and Decolonizing the Archival Experience. In: Cambridge History of the Pacific Ocean, hrsg. v. Anne Hattori / Jane Sanson. Cambridge 2020; (mit Ramona Boodoosingh / Penelope Schoeffel): A Perfect Storm. The Social and Institutional Contexts of Samoa’s 2019–2020 Measles Epidemic and the Lessons Learned for the COVID-19 Pandemic. In: Journal of Samoan Studies 10 (2020), S. 5–29. Bettina Brockmeyer, Historikerin, z. Zt. Gastwissenschaftlerin an der Universität Hamburg. Publikationen: Menschliche Gebeine als Glaubensobjekte. Koloniale Kriegsbeutenahme, Vergleichspraktiken und Erinnerung seit dem späten 19. Jahrhundert. In: Werkstatt Geschichte 26 (2017) H. 3, S. 47–64; (mit Frank Edward / Holger Stoecker): The Mkwawa Complex. A Tanzanian-European History about Provenance, Memory, and Politics. In: Journal of Modern European History 18 (2020) H. 2, S. 117– 139; Geteilte Geschichte, geraubte Geschichte. Koloniale Biografien in Ostafrika (1880–1950) (i. E.). Mirjam Brusius, Research Fellow für Kolonial- und Globalgeschichte am Deutschen Historischen Institut London. Publikationen: (mit Kavitha Singh): Museum Storage and Meaning. Tales from the Crypt. London 2019; History is Located Inside, not Outside Racial Biases – Can Historians in Germany Break the Silence after Black Lives Matter? In: Race, History, and Academia. German Historical Institute Blog (2020); On Connecting the Ancient and the Modern Middle East in Museums and Public Space. In: Islam and Heritage in Europe, hrsg. v. Sharon McDonald / Katarzyna Puzon / Mirjam Shatanawi. London 2021. Hartmut Dorgerloh, Generalintendant des Humboldt Forums. Publikationen: Das Neue Museum. Ort und Ordnung der Weltkunst. In: Neues Museum. Architektur Sammlung Geschichte. Berlin 2009, S. 66–75; Unvollständige Überlegungen zur Rekonstruktion der Fassaden des Berliner Schlosses. In: Stiftung Berliner Schloss – Humboldtforum. Rekonstruktion am Beispiel Berliner Schloss aus kunsthistorischer Sicht, hrsg. v. Manfred Rettig. Stuttgart 2011, S. 133–135; Das Berliner Schloss. Stellenwert
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und Bedeutungswandel in der brandenburgisch-preußischen Residenzlandschaft. In: Kulturgeschichte Preußens, Colloquien 5 (2017). Andreas Eckert, Professor für die Geschichte Afrikas an der HumboldtUniversität zu Berlin und Direktor des Käte Hamburger Kollegs „Arbeit und Lebenslauf in globalhistorischer Perspektive“ (re:work). Publikationen: (mit Stefano Bellucci): General Labour History of Africa. Workers, Employers and Governments, 20th and 21st Centuries. Oxford 2019; (mit Felicitas Henschke): Corona and Work Around the Globe. Berlin / Boston 2020; Geschichte der Sklaverei. Von der Antike bis zum 21. Jahrhundert. München 2021. Angelika Epple, Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung des 19. und 20. Jahrhunderts und derzeitige VizeRektorin für Internationales und Diversität der Universität Bielefeld. Publikationen: (Hrsg. mit Walter Erhart und Johannes Grave): Practices of Comparing. Towards a New Understanding of a Fundamental Human Practice. Bielefeld 2020; Periodization in Global History. The productive power of comparing. In: What in the World? Understanding Global Social Change, hrsg. v. Mathias Albert / Tobias Werron. Bristol 2020; Globalization / s. In: The Routledge Companion to History and Theory, hrsg. v. Chiel Akker. New York 2021 (i. E.). Till Förster, Inhaber des Lehrstuhls für Ethnologie und Gründungsdirektor des Zentrums für Afrikaforschung an der Universität Basel. Publikationen: Zerrissene Entfaltung. Alltag, Ritual und künstlerische Ausdrucksformen im Norden der Elfenbeinküste. Köln 1997; (Hrsg. mit Sidney L. Kasfir): African Art and Agency in the Workshop. Indiana 2013; (Hrsg. mit Lucy Koechlin): The Politics of Governance. London 2015. Matthias Goldmann, Juniorprofessor für Internationales Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Finanzrecht. Publikationen: Contesting Austerity. Genealogies of Human Rights Discourse. Max Planck Institute for Comparative Public Law & International Law (MPIL) Research Paper No. 2020-09; „Ich bin Ihr Freund und Kapitän“. Die deutsch-namibische Entschädigungsfrage im Spiegel intertemporaler und interkultureller Völkerrechtskonzepte. In: (Post-)Koloniale Rechtswissenschaft, hrsg. v. Jochen v. Bernstorff / Philipp Dann / Isabel Feichtner (i. E.). Rebekka Habermas, Professorin für Neuere Geschichte an der GeorgAugust-Universität Göttingen, Gastprofessuren in Paris, Oxford, Montréal und New York. Publikationen: Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft. Frankfurt a. M. 2016; Restitutionsdebatten, koloniale
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Aphasie und die Frage, was Europa ausmacht. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (2019) H. 40–42, S. 17–22; Die Suche nach Ethnographica und die kunstsinnigen Kannibalen der Südsee. Oder: Was die koloniale Nostalgie im Kaiserreich mit der kolonialen Aphasie heute zu tun hat. In: Historische Zeitschrift 311 (2020), S. 351–386. Judith Hackmack, Legal Advisor im European Center for Constitutional and Human Rights e. V. (ECCHR) in Berlin. Publikationen: (mit Arite Keller): Colonial Repercussions. Namibia. 115 Years after the Genocide of the Ovaherero and Nama. Berlin o. J.; Die verdrängten Erinnerungen. Zur politischen und rechtlichen Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen an den Ovaherero und Nama im heutigen Namibia. In: Südlink 188 (2019), S. 26 f. Brigitta Hauser-Schäublin, emeritierte Professorin für Ethnologie an der Universität Göttingen und Publizistin. Publikationen: Entangled in Artefacts. Governing Diverging Claims and Rights to Cultural Objects at UNESCO. In: Birgit Müller (Hrsg.): The Gloss of Harmony. The Politics of Policy-Making in Multilateral Organisations. London 2013, S. 154–174; (mit Lyndel V. Prott): Cultural Property and Contested Ownership. The Trafficking of Artefacts and the Quest for Restitution. London 2017; Heritage Making – Aid for Whom? The Genealogy of Expert Reports in the Hands of Politics and Their Impact in the Case of Preah Vihear. In: Heritage as Aid and Diplomacy in Asia, hrsg. v. Philippe Peycam. Singapore 2020, S. 52–77. Sheila Heidt, Juristin und Kunsthistorikerin, befasst sich unter anderem mit Fragestellungen zur Provenienzforschung, zu Objekten aus kolonialen Kontexten, zur Restitution nach der „Handreichung“ sowie zum Urheber-, Medien-, Kunst- und Lizenzrecht. Publikation: Praxisleitfaden Restitutionsbegehren bei NS-Raubkunst. Berlin 2017. Wolfgang Kaleck, Jurist und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights e. V. (ECCHR) in Berlin. Publikationen: Mit Zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht. Berlin 2012; (mit Karina Theurer): Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis. BadenBaden 2020. Viola König, Professorin für Altamerikanistik und Kulturanthropologie am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Sie war Direktorin des Ethnologischen Museums Berlin (2001–2017), Direktorin des Übersee-Museums Bremen (1992–2001), lehrte an der Tulane University New Orleans sowie den Universitäten Bremen und Hamburg. Publikationen: (mit Peter Bolz): Native American Modernism. Art from North America. Petersberg 2012; (mit Andrea Scholz): Der lange Weg zum Hum-
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boldt-Forum. Der Prozess 1999–2012. Berlin 2012; (Hrsg.): On the Mount of Intertwined Serpents. The Pictorial History of Power, Rule, and Land on Lienzo Seler II. Petersberg 2017. Beatriz v. Loebenstein, studentische Hilfskraft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Publikationen: Rezension zu Benedict Kingsbury / Richard B. Stewart: The Emergence of Global Administrative Law. In: Revista de Derecho Público Universidad de Chile (2016) H. 84, S. 179– 183; Empresas públicas [en Chile]. Sus características, naturaleza jurídica, marco normativo, régimen jurídico y su vinculación con la Administración del Estado. Santiago de Chile 2018. Flower Manase, Kuratorin für Geschichte am Nationalmuseum von Tanzania, Dar es Salaam. Mitwirkung an Ausstellungs- und Publikationsprojekten zum deutschen Kolonialismus in Ostafrika, darunter ReMIX. Africa in Translation. Eine fünfteilige Doku-Serie aus den ehemaligen deutschen Kolonien (Universität Bayreuth / Bundeszentrale für politische Bildung 2016/17) und der Ausstellungskatalog Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart / German Colonialism. Fragments of Its Past and Present. Berlin (Deutsches Historisches Museum) 2016. Lukas H. Meyer, Professor für Philosophie an der Universität Graz, Leiter des Arbeitsbereichs Praktische Philosophie und Co-Sprecher des interfakultären Profilbildenden Bereichs Climate Change Graz. Publikationen: Historische Gerechtigkeit. Berlin 2005; (Hrsg.): Legitimacy, Justice and Public International Law. Cambridge 2009; Intergenerational Justice. Oxford 2012; (Hrsg.): Climate Change and Historical Emissions. Cambridge 2017. Benno Nietzel, Privatdozent an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Publikationen: Die internationalen Holocaust-Konferenzen 1997–2009. Von der Londoner Goldkonferenz zur Theresienstädter Erklärung. In: Die Globalisierung der Wiedergutmachung. Politik, Moral, Moralpolitik, hrsg. v. José Brunner / Constantin Goschler / Norbert Frei. Göttingen 2013, S. 149–174; Wiedergutmachung für historisches Unrecht, Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 27. 8. 2013; Jüdisches Eigentum im Nationalsozialismus. „Arisierung“, Enteignung, Zerstörung. In: Eigentumsregime und Eigentumskonflikte im 20. Jahrhundert. Deutschland und die Tschechoslowakei im internationalen Kontext, hrsg. v. Dieter Gosewinkel / Roman Holec / Milos Rezník. Essen 2018, S. 231–252. Osarhieme Benson Osadolor, Professor und Leiter der Abteilung für Geschichte und Internationale Studien an der Universität von Benin, Nigeria. Publikationen: (mit Leo E. Otoide): The Benin Kingdom in British
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Imperial Historiography. In: History in Africa. A Journal of Methods 35 (2008), S. 401–418; The Benin Royalist Movement and Its Political Opponents. Controversy over Restoration of the Monarchy, 1897–1914. In: International Journal of African Historical Studies 44 (2011) H. 1, S. 45– 59; Nations and National Security. The Historical Context of Security Sector Reform in Contemporary West Africa. 217th Inaugural Lecture of the University of Benin held on 13th June. Benin City 2019. Hermann Parzinger, Prähistoriker, Präsident der Stiftung Preußischer ˇ Kulturbesitz. Publikationen: (mit Konstantin Cugunov / Anatoli Nagler): Der Goldschatz von Aržan. Ein Fürstengrab der Skythenzeit in der südsibirischen Steppe. München 2006; Die frühen Völker Eurasiens. Von der Jungsteinzeit bis zum Frühmittelalter. München 2006 (2. Aufl. 2011); Das Humboldt-Forum im Berliner Schloss: Anspruch und Chance. In: Das Humboldt-Forum im Berliner Schloss. Planungen – Prozesse – Perspektiven. München 2013; Verdammt und vernichtet. Kulturzerstörungen vom Alten Orient bis zur Gegenwart (i.E.). Thomas Sandkühler, Professor für Geschichtsdidaktik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Publikationen: (Hrsg. mit Horst Walter Blanke): Historisierung der Historik. Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag. Köln / Weimar / Wien 2018; (Hrsg. mit Markus Bernhardt): Sprache(n) des Geschichtsunterrichts. Sprachliche Vielfalt und Historisches Lernen. Göttingen 2020; Das Fußvolk der „Endlösung“. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. Darmstadt 2020. Erhard Schüttpelz, Professor für Medientheorie an der Universität Siegen. Publikationen: Figuren der Rede. Berlin 1996; Die Moderne im Spiegel des Primitiven. München 2005, zahleiche Blogbeiträge. David Simo, Professor für deutsche und vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft und Leiter des Deutsch-Afrikanischen Wissenschaftszentrums an der Université de Yaoundé 1 in Kamerun. Publikationen: (mit Michel Espagne / Pascale Rabault-Fuerhahn): Afrikanische Deutschland-Studien und deutsche Afrikanistik. Ein Spiegelbild. Würzburg 2014; Writing World History in Afrika. Conditions, Stakes and Challenges. In: Global History, Globally. Research and Practice Around the World, hrsg. v. Sven Beckert / Dominic Sachsenmaier. London u. a. 2018; World Literature and Space Constructions. In: The Routledge Handbook of Transregional Studies, hrsg. v. Matthias Middell. London / New York 2019, S. 513–524. Thomas Thiemeyer, Professor für Museumswissenschaft am LudwigUhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Abteilung für Historische und Kulturelle Anthropologie an der Universität Tübingen mit einem Schwerpunkt in der Museumsforschung. Publikationen: Das De-
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pot als Versprechen. Warum unsere Museen die Lagerräume ihrer Dinge wiederentdecken. Köln u. a. 2018; Geschichte im Museum. Theorie – Praxis – Berufsfelder. Tübingen 2018; Cosmpolitainizing Colonial Memories in Germany. In: Critical Inquiry 45 (2019) H. 4, S. 967–990. Jürgen Zimmerer, Professor für Globalgeschichte mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Hamburg und Leiter des Projetverbunds „Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe“. Publikationen: Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia. Münster 3. Auflage 2004 (englische Übersetzung 2021); Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust. Münster 2011 (englische Übersetzung 2021); (Hrsg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt a. M. 2013. Christoph Zuschlag, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Professor für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart mit Schwerpunkt Provenienzforschung / Geschichte des Sammelns am Kunsthistorischen Institut der Universität Bonn. Publikationen: Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus. Eine Forschungsbilanz der letzten 20 Jahre. In: Unbewältigt? Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunst, Kunsthandel, Ausstellungspraxis, hrsg. v. Meike Hoffmann / Dieter Scholz. Berlin 2020, S. 14–35; Provenienz. Geschichte und Perspektiven eines neuen Paradigmas in den Geistes- und Kulturwissenschaften. In: Raubkunst und Restitution. Zwischen Kolonialzeit und Washington Principles. Tagungsband des 13. Heidelberger Kunstrechtstags am 18. und 19. Oktober 2019, hrsg. v. Matthias Weller u. a. Baden-Baden 2020, S. 23–35.