Geschichte erzählen: Repräsentation von Vergangenheit in deutschen und niederländischen Texten der Gegenwart 9783110422313, 9783110419634

The theoretical field of fictional and factual narrative has become ubiquitous in recent years. This study offers a crit

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German Pages 366 Year 2016

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Inhalt
1 Einleitung
1.1 Forschungsinteresse und Fragestellung
1.2 Forschungskontext
1.3 Auau der Arbeit
Teil I: Geschichte erzählen
2 Vorbemerkung
3 „Fakt ist ...“: Geschichtserzählungen und faktuales Erzählen
3.1 Die Entdeckung des faktualen Erzählens
3.1.1 Faktualität und Fiktionalität
3.1.2 Sprachpragmatische Bestimmung
3.1.3 Signalisierung faktualen Erzählens
3.2 Historisches Erzählen als Prototyp faktualen Erzählens
3.2.1 Historisches Erzählen bei Aristoteles
3.2.2 Historisches Erzählen bei Roland Barthes und Hayden White
3.3 Historisches Erzählen als Sonderfall faktualen Erzählens
3.3.1 Abwesenheit (De Certeau)
3.3.2 Ernsthaftigkeit (Ricoeur)
3.3.3 Erzählerische Sinngebung (Huizinga)
4 „Es war einmal ...“: Geschichtserzählungen und ktionales Erzählen
4.1 Geschichte in der Literatur?
4.1.1 Autonomismus und Kompositionalismus
4.1.2 Wirklichkeitsbezug in ktionalen Erzählungen
4.2 Beleben statt belegen: Geschichte als Ereignis
4.2.1 Wirklichkeitseekte in Roland Barthes’ Die helle Kammer
4.2.2 Repräsentation und Präsentation
4.3 Geschichtserzählungen zwischen Annäherung und Distanzierung
4.3.1 Illusion und Illusionsstörung zwischen Erlebnis und Referenz
4.3.2 Immersion und Emersion im ktionalen und faktualen Erzählen
4.3.3 Die Dynamik des historischen Erzählens
5 Annäherungs- und Distanzierungsdynamik zwischen Immersion und Emersion
5.1 Hinführung
5.2 Annäherung
5.2.1 Immersion intensiviert Emersion
5.2.2 Emersion intensiviert Immersion
5.3 Distanzierung
5.3.1 Immersion stört Emersion
5.3.2 Emersion stört Immersion
Teil II: Geschichte erzählen in aktueller deutsch- und niederländischsprachiger Literatur
6 Wi(e)der die Aufklärung: Erzählungen vom Ende des langen achtzehnten Jahrhunderts
6.1 Hinführung: Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt und Atte Jongstras De avonturen van Henry II Fix
6.2 Distanzierung
6.2.1 Fakten spüren? Paratext und Faktualität
6.2.2 Imitation und Subversion des ‚klassischen‘ historischen Erzählens
6.2.3 Verzeichnung: Forscherungetüme als Karikaturen
6.3 Annäherung
6.3.1 Essensmetaphorik: Einverleibung der Geschichte
6.3.2 Ordnungsstrukturen I: ‚Verlebendigung‘ durch lose Strukturen
6.3.3 Ordnungsstrukturen II: ‚Oberflächliche‘ Ordnung
6.4 Zusammenfassung
7 Besetztes Gebiet: Koloniale Vergangenheit erzählen
7.1 Hinführung: Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet und Louis Ferrons Tinpest
7.2 Distanzierung
7.2.1 Unvereinbare Positionen: Kampf
7.2.2 Unerreichbarkeit: Oberfläche
7.2.3 Metaktion und historiograsche Reflexion
7.3 Annäherung
7.3.1 Verkörperte Geschichte
7.3.2 Fantastische Geschichte
7.3.3 Zirkuläre Geschichte
7.4 Zusammenfassung
8 Jahrhundertwenden: Faktuales Erzählen zwischen Immersion und Reflexion
8.1 Hinführung: Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent und Geert Maks In Europa
8.2 Distanzierung
8.2.1 Momentaufnahme: Geschichte in isolierten Szenen
8.2.2 Eine ‚ozielle Darstellung‘?
8.2.3 Deutungskämpfe: Diskursivierung von Geschichte
8.3 Annäherung
8.3.1 Ein Jahrhundert bereisen: Geschichte als erfahrbarer Raum
8.3.2 Vergangenheit und Gegenwart: Retrospektive versus Parallelisierung
8.3.3 Speaking with the (nearly) dead: Zeugen der Geschichte
8.4 Zusammenfassung
9 Die sublime historische Erfahrung: Historisches Erzählen jenseits der Geschichte
9.1 Hinführung: Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten und Peter Verhelsts Zwerm
9.2 Distanzierung
9.2.1 Kontrafaktische Geschichtsschreibung
9.2.2 Tabula rasa: Zerstörung und Referenzbegehren
9.2.3 ‚Ein Film aus Buchstaben‘: Filmisches Erzählen
9.3 Annäherung
9.3.1 Schmerzhafter Kontakt: Wunde/Trauma
9.3.2 Geschichte als Mutation: Die Poetik des Virus
9.3.3 Jenseits der Geschichte: Endzeit
9.4 Zusammenfassung
10 Fazit
Literaturverzeichnis
Sachregister
Personenregister
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Geschichte erzählen: Repräsentation von Vergangenheit in deutschen und niederländischen Texten der Gegenwart
 9783110422313, 9783110419634

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Beatrix van Dam Geschichte erzählen

Studien zur deutschen Literatur

Herausgegeben von Georg Braungart, Eva Geulen, Steffen Martus und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 211

Beatrix van Dam

Geschichte erzählen

Repräsentation von Vergangenheit in deutschen und niederländischen Texten der Gegenwart

Dissertation Münster 2014

ISBN 978-3-11-041963-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042231-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042237-5 ISSN 0081-7236 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt 1 1.1 1.2 1.3

Einleitung | 1 Forschungsinteresse und Fragestellung | 1 Forschungskontext | 6 Aufbau der Arbeit | 14

Teil I: Geschichte erzählen 2

Vorbemerkung | 25

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3

„Fakt ist ...“: Geschichtserzählungen und faktuales Erzählen | 28 Die Entdeckung des faktualen Erzählens | 28 Faktualität und Fiktionalität | 28 Sprachpragmatische Bestimmung | 31 Signalisierung faktualen Erzählens | 34 Historisches Erzählen als Prototyp faktualen Erzählens | 40 Historisches Erzählen bei Aristoteles | 40 Historisches Erzählen bei Roland Barthes und Hayden White | 42 Historisches Erzählen als Sonderfall faktualen Erzählens | 47 Abwesenheit (De Certeau) | 47 Ernsthaftigkeit (Ricœur) | 50 Erzählerische Sinngebung (Huizinga) | 55

4

„Es war einmal ...“: Geschichtserzählungen und fiktionales Erzählen | 59 Geschichte in der Literatur? | 59 Autonomismus und Kompositionalismus | 59 Wirklichkeitsbezug in fiktionalen Erzählungen | 63 Beleben statt belegen: Geschichte als Ereignis | 66 Wirklichkeitseffekte in Roland Barthes’ Die helle Kammer | 66 Repräsentation und Präsentation | 71 Geschichtserzählungen zwischen Annäherung und Distanzierung | 74 Illusion und Illusionsstörung zwischen Erlebnis und Referenz | 74 Immersion und Emersion im fiktionalen und faktualen Erzählen | 77 Die Dynamik des historischen Erzählens | 82

4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3

VI

5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2

|

Inhalt

Annäherungs- und Distanzierungsdynamik zwischen Immersion und Emersion | 89 Hinführung | 89 Annäherung | 92 Immersion intensiviert Emersion | 92 Emersion intensiviert Immersion | 97 Distanzierung | 100 Immersion stört Emersion | 100 Emersion stört Immersion | 104

Teil II: Geschichte erzählen in aktueller deutsch- und niederländischsprachiger Literatur 6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.4 7 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3 7.3.1

Wi(e)der die Aufklärung: Erzählungen vom Ende des langen achtzehnten Jahrhunderts | 109 Hinführung: Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt und Atte Jongstras De avonturen van Henry II Fix | 109 Distanzierung | 114 Fakten spüren? Paratext und Faktualität | 114 Imitation und Subversion des ‚klassischen‘ historischen Erzählens | 124 Verzeichnung: Forscherungetüme als Karikaturen | 131 Annäherung | 139 Essensmetaphorik: Einverleibung der Geschichte | 139 Ordnungsstrukturen I: ‚Verlebendigung‘ durch lose Strukturen | 144 Ordnungsstrukturen II: ‚Oberflächliche‘ Ordnung | 151 Zusammenfassung | 162 Besetztes Gebiet: Koloniale Vergangenheit erzählen | 166 Hinführung: Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet und Louis Ferrons Tinpest | 166 Distanzierung | 173 Unvereinbare Positionen: Kampf | 173 Unerreichbarkeit: Oberfläche | 179 Metafiktion und historiografische Reflexion | 185 Annäherung | 192 Verkörperte Geschichte | 192

Inhalt

7.3.2 7.3.3 7.4 8 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.4 9

| VII

Fantastische Geschichte | 200 Zirkuläre Geschichte | 210 Zusammenfassung | 218 Jahrhundertwenden: Faktuales Erzählen zwischen Immersion und Reflexion | 221 Hinführung: Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent und Geert Maks In Europa | 221 Distanzierung | 227 Momentaufnahme: Geschichte in isolierten Szenen | 227 Eine ‚offizielle Darstellung‘? | 232 Deutungskämpfe: Diskursivierung von Geschichte | 238 Annäherung | 244 Ein Jahrhundert bereisen: Geschichte als erfahrbarer Raum | 244 Vergangenheit und Gegenwart: Retrospektive versus Parallelisierung | 251 Speaking with the (nearly) dead: Zeugen der Geschichte | 257 Zusammenfassung | 264

9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.4

Die sublime historische Erfahrung: Historisches Erzählen jenseits der Geschichte | 268 Hinführung: Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten und Peter Verhelsts Zwerm | 268 Distanzierung | 278 Kontrafaktische Geschichtsschreibung | 278 Tabula rasa: Zerstörung und Referenzbegehren | 284 ‚Ein Film aus Buchstaben‘: Filmisches Erzählen | 291 Annäherung | 300 Schmerzhafter Kontakt: Wunde/Trauma | 300 Geschichte als Mutation: Die Poetik des Virus | 308 Jenseits der Geschichte: Endzeit | 317 Zusammenfassung | 323

10

Fazit | 327

9.1

Literaturverzeichnis | 337 Sachregister | 353 Personenregister | 357

1 Einleitung 1.1 Forschungsinteresse und Fragestellung Wer in den Zehnerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts über den Prinzipalmarkt in Münster radelt, kann sich in einer anderen Zeit wähnen: Das Kopfsteinpflaster schüttelt das Rad heftig durch, zur West- und Ostseite erheben sich die Häuserfronten reicher Patrizierfamilien der Frühen Neuzeit und bisweilen holpert eine Kutsche über Münsters bekanntesten Straßenzug. Erst auf den zweiten Blick erhält das stimmige Bild eines vermeintlich historischen Ortes Risse: Die geisterhafte Art, in der sich die Kutschen geräuschlos fortbewegen, lässt auf einen elektrischen Antrieb schließen und die Gleichförmigkeit der Häuser nährt den Verdacht, dass hier nur die Fassade stimmt. Tatsächlich handelt es sich bei den Gebäuden auf dem Prinzipalmarkt um Nachbildungen. Der Wiederaufbau des Prinzipalmarktes nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Versuch, das zerstörte Stadtbild erneut zu erzeugen. Die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erbauten Häuserreihen beziehen sich also, ähnlich wie die elektrisch betriebene Kutsche, auf eine Vergangenheit, ohne selbst Teil dieser Vergangenheit zu sein.¹ Dennoch können sie das Gefühl hervorrufen, dass man sich an einem vergangenen Ort befinde. Als begehbarer Raum kombiniert der Markt den notwendigerweise indirekten Verweis auf die Vergangenheit mit dem Eindruck eines unmittelbaren Zugangs: Das Abstraktum einer unerreichbar vergangenen Zeit erscheint plötzlich fühlbar präsent. Die stadtsemiotische Betrachtung von Münsters Prinzipalmarkt bettet das Anliegen der vorliegenden Studie kulturwissenschaftlich ein: Ausgangspunkt ist hier nicht die städtebauliche, sondern die textuelle Repräsentation von Vergangenheit. Am Beispiel des Münsteraner Prinzipalmarkts lässt sich jedoch nachvollziehen, dass Geschichtserzählungen in einen breiten kulturellen Rahmen der Evokation von Vergangenheit eingeordnet werden können. Das Streben nach einem „period rush“²-Effekt, dem Sichversetztfühlen in eine vergangene

1 Dieser auf Analogie beruhende Bezug kann stadtsemiotisch als metaphorisch eingeordnet werden, während ein historisch erhaltenes Gebäude als Teil der Vergangenheit einen metonymischen Bezug herstellt. 2 Der Begriff stammt aus der amerikanischen ‚Reenactment‘-Bewegung, die Tony Horwitz beschreibt. Mit dem auch als „timetravel high“ bezeichneten „period rush“, zu Deutsch ungefähr zu übersetzen mit ‚Geschichtsrausch‘, bezeichnen die „hardcores“ der ‚Reenacter‘ das Gefühl, durch äußerst akkurate und detailgetreue Nachstellung mit der nachgestellten Vergangenheit eins zu werden: Tony Horwitz, Confederates in the Attic. Dispatches from the Unfinished Civil War, New York 1998, S. 7.

2 | 1 Einleitung

Zeit durch Nachahmung, kann einerseits als ein Phänomen unserer Zeit gesehen werden. Nicht nur die Inszenierung historischer Ereignisse im ‚Reenactment‘, sondern etwa auch neue Institutionen wie Stadtmarketingabteilungen versuchen, Vergangenheit erlebbar oder zumindest zu einem Erlebnis zu machen.³ Die Vergangenheit als ‚Event‘ im Hier und Jetzt erfahren zu wollen, entspricht der postmodernen Infragestellung des modernen Zeitregimes, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sauber getrennt wurden. In seiner kanonisch gewordenen Beschreibung des modernen Geschichtsbewusstseins, dem sich das postmoderne Zeitregime widersetzt, erläutert Reinhart Koselleck, wie Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein neuer „Erfahrungsraum“ entstanden sei, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kein Kontinuum mehr darstellten. Er skizziert ein in diesem Jahrhundert neu entstandenes Konzept von Vergangenheit, das sie durch ihre Andersartigkeit interessant machte: Die Geschichtsschreibung lieferte nicht mehr unmittelbar auf die Gegenwart transferierbare lehrreiche Exempel, sondern versuchte – aus einem sicheren Abstand – die Vergangenheit beobachtbar zu machen, welche sich einem direkten Zugriff entzog.⁴ Demgegenüber schien die Zukunft im Rahmen rationaler Zukunftsprognostik und einer Philosophie des Fortschritts leichter zugänglich.⁵ Theoretiker wie François Hartog arbeiteten die Entwicklung des Zeitverständnisses in einer Abfolge von „Historizitätsregimen“ aus. Das westliche Denken über Geschichte teilt Hartog in drei solcher Regime ein: den dominanten Vergangenheitsbezug bis zur Französischen Revolution, die von Koselleck angedeutete Zukunftsorientierung bis in die Achtzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts und den „Präsentismus“, die Gegenwartsbezogenheit, in der Zeit danach.⁶ Gerade für die mit dem Begriff der ‚Postmoderne‘ belegte Zeit ab den Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts wird zunehmend betont, dass die Idee der Trennbarkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihre Wirkkraft verliere. Die

3 Laut städtischem Marketing ist etwa Münster eine „Stadt, die ihre Geschichte lebendig hält“ und so zur „Kulisse“ wird, „die jeden Münster-Besuch zum Erlebnis macht“, Münster ist sehenswert. Altstadt. In: münster.de (münster.de/stadt/tourismus), Münster Marketing, Web, 24. Februar 2014. 4 Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2013, [1979], S. 38–66. 5 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit. In: Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2013, [1979], S. 28–37. 6 François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003.

1.1 Forschungsinteresse und Fragestellung | 3

Vergangenheit soll in Praktiken des ‚Reenactment‘ , aber auch in der Erinnerungskultur in die Gegenwart hineingeholt,⁷ in ihr ‚präsent‘ werden.⁸ Die Evokation von Vergangenheit, also ein Verweis auf Vergangenheit, der über sich selbst hinauszugehen scheint, ist andererseits nicht nur ein zeitgenössisches Phänomen, sondern wird schon lange und in vielen Medien praktiziert. Laut Münsteraner Stadtmarketing „erzählen“ die „Häuser, Kirchen und Plätze in der restaurierten Altstadt [...] Geschichten aus verschiedenen Jahrhunderten“.⁹ Dieses „Erzählen“ deutet auf die Hauptvermittlungsform von Vergangenheit hin: Durch narrative Verarbeitung wird Vergangenheit als Geschichtserzählung repräsentiert. Sowohl bei erzählerischer als auch bei architektonischer Repräsentation von Vergangenheit taucht immer wieder die Frage nach der ‚Präsenz‘ der Vergangenheit in den Symbolen, die auf sie verweisen, auf – unabhängig davon, ob sie sich Wörtern oder Bauelementen als Zeichenvorrat bedient. Besonders eindringlich formuliert Stephen Greenblatt diese Frage in seinem berühmtem „desire to speak with the dead“, mit dem er seine Auseinandersetzung mit Shakespeares Texten motiviert.¹⁰ Immer geht es um das Bedürfnis, in Repräsentationen Spuren des Repräsentierten, der repräsentierten Wirklichkeit, wiederzufinden. Im Falle der Vergangenheit als Bezugspunkt sprachlicher Repräsentation formuliert sich dieses Bedürfnis im Versuch der ‚Verlebendigung‘ der Vergangenheit durch das Erzählen, die besonders in Bezug auf den historischen Roman schon lange vor der Postmoderne diskutiert wird. In dem Bedürfnis nach Verlebendigung von Vergangenheit wird den Zeichen ihre Stellvertreterfunktion abgesprochen: Häuser und Kutschen auf dem Prinzipalmarkt scheinen durch ihre Ähnlichkeit mit der Vergangenheit, auf die sie verweisen, zusammenzufallen. Da sie eben nicht völlig übereinstimmen, verweisen sie jedoch zugleich auf ihre

7 Die Relevanz und Dynamik etwa der deutschen Erinnerungskultur sorgt für immer neue Diskussionen um die Art, wie Vergangenheit erinnert und damit präsent gemacht wird, zuletzt in einem „Unbehagen an der Erinnerungskultur“, Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013. 8 „When the future collapses, the past rushes in“ – der Versuch der Vermischung von Gegenwart und Vergangenheit untergräbt das Konzept des Fortschritts und kann so auch auf einen Mangel von Konzepten für die Zukunft bezogen werden: Berber Bevernage und Chris Lorenz, Breaking Up Time – Negotiating the Borders between Present, Past and Future. An Introduction. In: Negotiating the Borders between Present, Past and Future, hg. von Berber Bevernage und Chris Lorenz, Göttingen 2013, S. 16. Bevernage und Lorenz zitieren John Torpey: Making Whole What Has Been Smashed, Cambridge/MA 2006, S. 23–24. 9 Münster ist sehenswert. Altstadt. In: münster.de (münster.de/stadt/tourismus), Münster Marketing, Web, 24. Februar 2014. 10 Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford 1988, S. 1.

4 | 1 Einleitung

Zeichenhaftigkeit und markieren so die Nichtübereinstimmung mit dem, worauf sie sich beziehen. Das Gleiche gilt für Geschichtserzählungen: Sie versuchen mit narrativen Mitteln eine vergangene Zeit so überzeugend darzustellen, dass das Erzählte mit der Vergangenheit zusammenzufallen scheint. Gleichzeitig wird diese ‚Stimmigkeit‘ nie zur Übereinstimmung. Die Sprache als Repräsentationsmedium der Erzählung verweist, auch bei einer perfekt inszenierten Erzählwelt, auf sich selbst als Zeichen, das dem, was es bezeichnet, nahezukommen versucht, aber nicht mit ihm identisch sein kann. Es ist diese Spannung zwischen Stimmigkeit und Übereinstimmung, welche die folgende Studie zum Ausgangspunkt nimmt. Sie widmet sich dem historischen Erzählen und zwar hinsichtlich der Frage, wie die erzählerische Konstruktion von Geschichte zugleich Nähe und Distanz zur Vergangenheit signalisiert. Das zum beliebten Forschungsgegenstand avancierte historische Erzählen unter diesem Blickwinkel erneut zu fokussieren, reagiert auf die Tendenz insbesondere der literaturwissenschaftlichen Betrachtung des historischen Erzählens im fiktionalen Zusammenhang, vor allem Verfremdungs- und Distanzierungsstrategien des Erzählens von Geschichte in den Mittelpunkt zu rücken. Diese Vorgehensweise impliziert eine höhere Relevanz der selbstreferentiellen und illusionsstörenden Dimension des historischen Erzählens und wird oft an das Innovationspotential von literarischen Texten gekoppelt. Die Fokussierung auf Selbstreferentialität und Verfremdung erzeugt einen merkwürdigen Kontrast zu den vielfältigen Praktiken von Vergangenheitsevokation und Erinnerungskultur in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen wie Politik, Tourismus und Bildungswesen, welche die ersten Jahrzehnte des einundzwanzigsten Jahrhunderts prägen.¹¹ Einer der in dieser Studie analysierten Romane quittiert die theoretische Vorliebe für Sprachverfremdung und -reflexion mit der eindringlichen Klage eines verzweifelten Protagonisten: „Niemand glaubt mir.“¹² Diese Worte eines Erzählers, der gehört werden will, konfrontieren die Einsicht in die Komplexität und Zwiespältigkeit sprachlicher Kommunikation mit einem unbedingten Kommunikationsbedürfnis. Diese Untersuchung reagiert

11 Ein Beispiel für staatlich initiierte Vergangenheitsevokation in den Niederlanden sind die Aktivitäten des zur Organisation der 200-Jahr-Feier des Königreichs der Niederlande einberufenen „Nationalen Komitees“. Als Teil der Festlichkeiten wurde die Landung Prinz Willem Frederiks in Scheveningen 1813 im Jahr 2013 unter großem öffentlichen Interesse nachgespielt. Programma start viering 200 jaar Koninkrijk – zaterdag 30 november 2013: Landing Prins Willem Frederik – Scheveningen. In: 200jaarkoninkrijk.nl, Het Nationaal Comité 200 jaar Koninkrijk, Web, 24. Februar 2014. 12 Peter Verhelst, Zwerm. Geschiedenis van de wereld [„Schwarm: Geschichte der Welt“], Amsterdam 2005, S. 620, vgl. Kapitel 9.

1.1 Forschungsinteresse und Fragestellung | 5

auf die beobachtete Diskrepanz zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis, wenn sie neben den distanzierenden die annähernden Aspekte historischen Erzählens betont. Dabei soll die These vertreten werden, dass historisches Erzählen nur unter Betrachtung des Zusammenwirkens beider Aspekte adäquat beschrieben werden kann, da es sich in der Dynamik zwischen Annäherung und Distanzierung konstituiert. Die Akzentuierung dieses Zusammengehens von selbstbezüglicher Präsentation und wirklichkeitsbezogener Repräsentation, von Inferenz und Referenz,¹³ soll der Diskussion um das historische Erzählen den Bezug zu einer Gegenwart zurückerstatten, die durch eine Verbindung von Eigenbezüglichkeit und Außenbezug geprägt ist. Wenn die Parodierung von Selbstinszenierung Teil einer Selbstinszenierung wird, wenn Travestie Geschlechterrollen zugleich unterläuft und bestätigt, wenn Protestformen durch Selbstironie nicht wirkungslos werden, so zeichnet sich hier ein Trend nicht nur aktueller Literatur ab: Die Reflexion beziehungsweise (ironisierende) Ausstellung eines Vorgangs verhindert nicht zwangsläufig dessen Wirksamkeit. Im Gegenteil, durch distanzierende, selbstreflexive Verfahren kann keine Praxis aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem sie steht und ihre Wirkung entfaltet, herausgehoben werden: Die Reflexion eines Diskurses bedeutet nicht, dass man sich aus diesem Diskurs herausbegeben kann. Zugespitzt auf die im Zuge des Poststrukturalismus geäußerten Zweifel an der Zuverlässigkeit von Sprache heißt dies, dass bei der Erkenntnis der Unzuverlässigkeit von Sprache die Kommunikation nicht endet. Dementsprechend soll hier die These vertreten werden, dass sich das historische Erzählen in einen zeitgenössischen Trend des (Sprach-)Handelns trotz Krisenbewusstseins einordnen lässt. Insofern gibt die vorliegende Arbeit Einblick in eine wichtige Strömung der Gegenwartsliteratur: Sie zeigt, dass Literatur der Gegenwart nicht mehr versuchen muss, die Binarität zwischen Erzählen und Reflexion auf die Möglichkeiten des Erzählens in eine der beiden Richtungen aufzulösen.¹⁴ Die analysierten Geschichtserzählungen verknüpfen diese Verfahrensweise mit der Konstruktion von 13 Albrecht Koschorke arbeitet mit dem Begriffspaar „Inferenz“/„Referenz“: Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main 2012, S. 332–333. Koschorke bezieht sich dabei auf Ludwig Jäger: Indexikalität und Evidenz. Skizze zum Verhältnis von referentieller und inferentieller Bezugnahme. In: Deixis und Evidenz, hg. von Horst Wenzel und Ludwig Jäger, Freiburg 2008, S. 289–315. 14 Dieser Trend der Gegenwartsliteratur wird in der Literaturwissenschaft verschiedentlich konstatiert, so etwa von Martina Wagner-Egelhaaf hinsichtlich der Autobiografie, wenn sie in Bezug auf Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei festhält, dass dieser Text „die Authentizität des Lebens weder einfordert noch ausschließt“, so dass ihm also weder ein naives Vertrauen auf die eigenen Erzählmöglichkeiten, noch ihre Zurückweisung durch Reflexion

6 | 1 Einleitung

Geschichtsbildern, welche die Geschichte des westlichen Kulturkreises vor dem Hintergrund der Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts in ihrer zwiespältigen Ambivalenz zeigen und gleichzeitig Identifikationspotentiale suchen.

1.2 Forschungskontext Die vorliegende Studie versucht, der Dynamik zwischen Annäherung und Distanzierung im historischen Erzählen auf die Spur zu kommen, indem sie das historische Erzählen im Spannungsfeld zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen ansiedelt. In der Literaturwissenschaft wurde die faktual-fiktionale Spannung des historischen Erzählens vor allem im Rahmen der gattungstypologischen und gattungshistorischen Diskussion um den historischen Roman thematisiert. Der historische Roman hat längst seine eigene Geschichte, deren stete Umschreibung im Laufe der literaturwissenschaftlichen Diskussion ihren Konstruktionscharakter sinnfällig vor Augen führt. Sich verändernde Forschungstendenzen schlagen sich direkt in immer neuen alternativen Geschichtsschreibungen der Gattung nieder. Auch eine Forschungsgeschichte des historischen Romans hängt vom entsprechenden Erzählinteresse ab. Nach Maßgabe der hier in Anschlag gebrachten Fragestellung lässt sich die Forschungsgeschichte des historischen Romans in Schlaglichtern auf das Zusammenspiel von narrativer Annäherung an und Distanzierung von Vergangenheit hinschreiben. Als Ausgangspunkt fungiert dabei Georg Lukács’ Studie Der historische Roman,¹⁵ die für die moderne Beschreibung des historischen Romans unverzichtbar geworden ist. Sie setzt ihrerseits die historischen Romane Sir Walter Scotts als Zäsur in der Geschichte der Gattung an. Diese „kanonische Entscheidung“¹⁶ bestimmt die internationale wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem historischen Roman bis ins einundzwanzigste Jahrhundert. In der niederländischen Literaturwissenschaft geht etwa Serge Heirbrants Studie von Scott als progressivem Beginn des historischen Romans aus und beschreibt ihn als Prototyp der Gattung des historischen Romans.¹⁷ In der deutschen Rezeption von Lukács lässt

und Dekonstruktion zugeschrieben werden kann, vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Autofiktion – Theorie und Praxis des autobiographischen Schreibens. In: Schreiben im Kontext von Schule, Universität, Beruf und Lebensalltag, hg. von Johannes Berning, Nicola Keßler, Helmut K. Koch, Münster 2006, S. 100. 15 Georg Lukács, Der historische Roman, Berlin 1965, [1955]. 16 Hugo Aust, Der historische Roman, Stuttgart 1994, S. 41. 17 Serge Heirbrant, Componenten en compositie van de historische roman. Een comparatistische en genologische benadering, Literatuur in veelvoud 7, Leuven/Apeldoorn 1995. Heirbrants Studie

1.2 Forschungskontext | 7

sich Hans Vilmar Gepperts Studie Der „andere“ historische Roman¹⁸ als Versuch einer alternativen Geschichtsschreibung des historischen Romans identifizieren. Der Hinweis auf den „anderen“ historischen Roman als bisher vernachlässigte Variante der Gattung regt die kritische Revision von Scotts Romanen als Modell für den historischen Roman an. So sind Scotts The Waverley Novels bei Geppert nur ein Beispiel unter vielen für den „anderen“ historischen Roman. In der Positionierung Gepperts gegenüber Lukács wird die Relevanz der Differenzierung zwischen annähernden und distanzierenden Verfahren des historischen Erzählens für die Beschreibung der Gattung des historischen Romans deutlich. Scotts Romane haben bei Lukács eine Vorbildrolle für den historischen Roman. Er stellt heraus, wie es Scott gelinge, den Lesenden die Vergangenheit – in diesem Falle marxistisch definiert als gesellschaftliche Wirklichkeit – ‚nahe‘ zu bringen: Scotts „nicht mehr übertroffene Vollendung“ liege in der Art, wie seine „mittelmäßigen Helden [...] die menschlich anständigen und anziehenden [...] Züge der englischen ‚Mittelklasse‘ unübertrefflich real zum Ausdruck bringen“.¹⁹ Zugrunde liegendes Beurteilungskriterium ist hier das erfolgreich umgesetzte „Bestreben, die historische Wirklichkeit so, wie sie wirklich war, menschlich echt und doch für den späteren Leser nacherlebbar zu gestalten“.²⁰ Dieses paradoxale „historische ‚Hier und Jetzt‘“²¹ konstituiere „jene unvergleichlich echte historische Atmosphäre in jedem Roman Scotts, mit der er eine Periode nicht nur historisch-sozial, inhaltlich, sondern menschlich-gefühlsmäßig, mit ihrem besonderen Duft und Klang zum Leben erweckt“,²² denn „[d]urch diese Art der menschlich-historischen Gestaltung verlebendigt Scott die Geschichte“.²³ In Lukács’ Sicht auf den historischen Roman ist es also erwünscht, dass sich in der erzählerischen „Verlebendigung“ der Geschichte die Zeichen im Verweisen zugunsten der Unmittelbarkeit möglichst vergessen machen. Gegen diese Befürwortung des ‚unmittelbaren‘ Erzählens im historischen Roman wendet sich Geppert und verweist auf Erzählstrategien zur Problematisierung der eigenen

unternimmt anhand eines breit angelegten Korpusses aus englischen, französischen, deutschen, russischen und niederländischen Texten vom neunzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert eine Typologisierung des historischen Romans hinsichtlich seiner Fabel- und Sujetbildung zwischen historisch vorgegebenen Narrativen und fiktiven Elementen. Zu Scott als progressivem Beginn und Prototyp des historischen Romans: S. 33–56/S. 111–129. 18 Hans Vilmar Geppert, Der „andere“ historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung, Tübingen 1976. 19 G. Lukács, S. 42. 20 G. Lukács, S. 49. 21 G. Lukács, S. 49. 22 G. Lukács, S. 58. 23 G. Lukács, S. 64.

8 | 1 Einleitung

Darstellungsmöglichkeiten im historischen Roman, die zur Problematisierung der Darstellungsmöglichkeiten des historischen Erzählens allgemein beitragen können.²⁴ Im Herausstreichen des „Hiatus zwischen Fiktion und Historie“ macht Geppert darauf aufmerksam, dass historisches Erzählen im fiktionalen Zusammenhang grundsätzlich zwei widersprüchliche Funktionen vereine, nämlich den Verweis auf die vergangene Wirklichkeit in einem eben diesen Wirklichkeitsbezug zurückweisenden fiktionalen Kontext. Erzählungen können, wie Geppert betont, diesen „Hiatus“ verdecken oder offenlegen.²⁵ Geppert wendet sich den Erzählungen zu, die den „Hiatus“ nicht Lukács’ Poetik entsprechend kaschieren, sondern ihn ausstellen. Während zuvor vor allem die Art und Weise der Annäherung an die Vergangenheit im historischen Roman zur Debatte stand, wird hier Annäherung an Vergangenheit als Gütekriterium für den historischen Roman zweifelhaft. Die Fokussierung auf Annäherungsverfahren erzeugte in der Herausstellung favorisierter Modelle wie der Romane Scotts immer auch weniger anerkannte Annäherungsformen, die den Hang des historischen Romans zum Trivialen forcierten und den Vorwurf, dass er als „schlechte Ästhetik [...] nur für die Unterhaltungsindustrie tauge“,²⁶ bestätigten. In der Hinwendung zu Distanzierungsverfahren und ihrer Ausdifferenzierung verschiebt sich der Trivialitätsverdacht auf jegliche Arten der (unreflektierten) Annäherung, gleich auf welche Weise sie verfolgt wird. Geppert betont rückblickend, das Ziel seiner Studie des „anderen“ historischen Romans sei gewesen, die Monopolisierung einer bestimmten Gattungsform als Vorbild für den historischen Roman zugunsten einer Betonung der Vielzahl an möglichen Gattungsformen in Frage zu stellen.²⁷ Letztlich wurde seine Studie in der Herausstellung des „anderen“ historischen Romans jedoch Teil einer Forschungsströmung, in welcher das distanzierende historische Erzählen in ähnlicher Weise wie zuvor das annähernde Erzählen zum Kriterium für ein neues Gattungsmodell wurde, das in den Fokus der Betrachtung und Klassifizierung historischer Romane rückte. Das Interesse an metafiktionalen Verfahren im Rahmen postmoderner Theoriebildung verstärkte einerseits die Aufmerksamkeit für

24 Geppert verdeutlicht diesen Zusammenhang anhand F. G. Droysens Kritik ästhetischer Geschichte: H.V. Geppert, Der „andere“ historische Roman, S. 173. 25 H.V. Geppert, Der „andere“ historische Roman, S. 34-37. 26 H. Aust, S. 1. 27 Hans Vilmar Geppert, Der historische Roman. Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart, Tübingen 2009, S. 8–9.

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distanzierende Erzählverfahren im historischen Erzählen und führte andererseits dazu, diese vor allem im postmodernen historischen Roman zu verorten.²⁸ Zwei Studien der Neunzigerjahre sind repräsentativ für diese neue Strömung der Erforschung des historischen Romans. Elisabeth Wesseling zeichnet in Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovations of the Historical Novel²⁹ die Entwicklung der Gattung des historischen Romans von Scott bis in die Achtzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts anhand von literarischen Beispielen nordamerikanischer, englischer, deutscher und niederländischer Literatur nach. Ansgar Nünnings Publikation Von historischer Fiktion zu historiografischer Metafiktion³⁰ bezieht sich auf den englischen historischen Roman nach 1945 und enthält einen ausführlichen systematischen Teil, der den historischen Roman literaturtheoretisch einordnet und typologisiert. Während Wesseling vor allen Dingen eine diachrone Perspektive auf Gattungen verteidigt und deren Kontinuität trotz der Instabilität von generischen Modellen betont, legt Nünning Wert auf eine aktualisierte Definition der Gattung des historischen Romans angesichts der neuen Eigenschaften des postmodernen historischen Romans und unternimmt eine Typologie der neu definierten Gattung anhand des englischen Romans nach 1945.³¹ Sowohl Wesseling als auch Nünning begreifen die Gattung des historischen Romans entsprechend der Entwicklung der Gattungstheorie als „soziale Institution“.³² Eigenschaften des historischen Romans werden somit zu wandelbaren Produktions- und Rezeptionskonventionen. Für Wesseling dient die so definierte Gattung vor allem als Baustein für die Rekonstruktion einer Entwicklungslinie des historischen Romans. Sie beschreibt drei wechselseitig aufeinander bezogene Phasen in der Entwicklung des historischen Romans. Ihr geht es um die Frage, wie die Struktur der Gattung

28 So bezieht etwa Linda Hutcheon die historiografische Metafiktion explizit in die Poetik des postmodernen Romans mit ein: Linda Hutcheon, A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction, New York/London 1988, S. 105–123. 29 Elisabeth Wesseling, Writing History as a Prophet. Postmodernist Innovations of the Historical Novel, Utrecht Publications in General and Comparative Literature 26, Amsterdam/Philadelphia 1991. 30 Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 2 Bde. (Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans/Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen des historischen Romans in England seit 1950), Trier 1995. 31 Nünning unterscheidet den realistischen historischen Roman, den dokumentarischen historischen Roman, den revisionistischen historischen Roman, den metahistorischen Roman und die historiographische Metafiktion. 32 E. Wesseling, S. 17. A. Nünning, S. 47–48 in Bezug auf Wilhelm Voßkamp, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. In: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, hg. von Walter Hinck, Heidelberg 1977, S. 27.

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des historischen Romans in der Rezeption durch die Strömung der Postmoderne abgewandelt wird.³³ Den Ausgangspunkt für die triadische Entwicklung des historischen Romans bilden dabei wiederum die von Lukács als Prototyp der Gattung etablierten Romane Sir Walter Scotts, im Besonderen The Waverley Novels. Während der historische Roman im neunzehnten Jahrhundert eine komplementäre Stellung gegenüber der Geschichtsschreibung einnehme und sie durch sein imaginatives und erzählerisches Potential didaktisiere und zu verlebendigen suche, werde dieses unproblematische Verhältnis zum nicht weiter hinterfragten historischen Wissen im Zuge epistemologischer Fragestellungen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts angezweifelt.³⁴ In der modernen Ästhetik nehme der historische Roman eine untergeordnete Stellung ein und werde nur punktuell, etwa in der psychologisierenden Frage, wie die Konfrontation mit der Vergangenheit das Bewusstsein forme, an die epistemologische Ausrichtung moderner Romane angepasst.³⁵ In der Postmoderne schließlich avanciere der historische Roman wieder zum ästhetischen Vorreiter, der ganz im Gegensatz zu seiner generischen Grundlage im neunzehnten Jahrhundert als kritischer Kommentar auf die Geschichtsschreibung fungiere: Postmodernist writers do not consider it their task to propagate historical knowledge, but to inquire into the very possibility, nature, and use of historical knowledge from an epistemological or a political perspective. In the first case, novelists reflect upon the intelligibility of history, the polyinterpretability of the historical record, and other such issues that relate to the retrieval of the past. In the second case, they expose the partisan nature of historical knowledge by foregrounding the intimate connection between versions of history and the legitimation of political power.³⁶

Die dem historischen Roman zugeschriebene Funktion verschiebt sich also wesentlich von der Repräsentation von Geschichte zur Problematisierung dieser Repräsentation in ihrer theoretischen, aber auch in ihrer politischen Dimension. Diese veränderte Einordnung des historischen Romans führt Wesseling auf eine „generische Hybridisierung“ zurück, bei der zuvor getrennte Gattungskonventionen zusammengeführt wurden. Der selbstreflexive historische Roman wird als eine „Kreuzung“ aus dem klassischen historischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts und dem Detektivroman näher bestimmt.³⁷

33 34 35 36 37

E. Wesseling, S. 17–25 („Some Theoretical Deliberations About Genre“). E. Wesseling, S. 73. E. Wesseling, S. 74–79. E. Wesseling, S. 73–74. E. Wesseling, S. 194.

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Auch Nünning unternimmt eine ausführliche Modifikation der Definition des historischen Romans, um die gattungstheoretischen Probleme zu lösen, mit denen der postmoderne historische Roman in seinen „Entgrenzungstendenzen“³⁸ die Gattungskonventionen konfrontiere. Um diesem Problem entgegenzutreten, ordnet Nünning den historischen Roman in die Literaturtheorie nach dem Linguistic Turn ein. Postmoderner Literaturauffassung entsprechend hebt Nünning den Konstruktionscharakter auch historischer Romane hervor und entbindet sie damit von der Verpflichtung zur wirklichkeitsgetreuen Abbildung.³⁹ Dementsprechend verschieben sich auch die Kriterien für die Kategorisierung einer Erzählung als historischer Roman. Konstituierend für den historischen Roman sei sein doppelter Zeitbezug, durch den Vergangenheit von der Gegenwart her bestimmt werde. Historisches Erzählen in der Literatur wird hier vor allem als „Sinnbildung über Zeiterfahrung“⁴⁰ begriffen.⁴¹ Der historische Roman, verstanden als „ein fiktionales Medium narrativer Sinnbildung über Zeiterfahrung“ und als eine „Sonderform des historischen Erzählens“,⁴² rücke die gegenwärtige Dimension von Geschichte in den Mittelpunkt, indem er Möglichkeiten der Geschichtsschreibung reflektiere und Geschichtsbilder konstruiere. Damit werden auch die Vermittlungsformen historischen Erzählens in der Literatur wichtig, da gerade sie die Formung der Geschichte in der Gegenwart an Hand von Erzähltechniken sichtbar machen. Gegenüber den alten Definitionen des historischen Romans, die vor allem auf die paradigmatische Achse der Selektion ausgerichtet seien, wird die syntagmatische Achse der Konfiguration hervorgehoben.⁴³ Nünning differenziert den Apparat zur narratologischen Beschreibung historischer Romane hinsichtlich Diegese und vor allem Diegesis daher aus.⁴⁴ In der neueren Auseinandersetzung mit dem ‚postmodernen‘ historischen Roman verbindet sich die Betrachtung distanzierender Erzählverfahren mit dem Konzept der sublimen historischen Erfahrung. Beispielhaft für den englischsprachigen Raum ist hier Amy J. Elias’ Studie Sublime Desire.⁴⁵ Im niederländischspra-

38 A. Nünning, S. 4. 39 A. Nünning, S. 49–57 (1.1 „Poiesis statt Mimesis“). 40 A. Nünning, S. 108. Nünning zitiert Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I – Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 51. 41 A. Nünning, S. 106–110 (1.4.1 „Die ‚Rhetorik des Damals-und-Heute‘“). 42 A. Nünning, S. 109. 43 A. Nünning, S. 110–116 (1.4.2 „Geschichte als Ereignis, Erzählung, Wissenschaft und Inhalt des Geschichtsbewusstseins“). 44 A. Nünning, S. 116–124 (1.4.3 „Erzählte, fokalisierte und indirekt vermittelte Geschichte“). 45 Amy J. Elias, Sublime Desire. History and Post-1960s Fiction, Baltimore 2001.

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chigen Raum arbeitet Bart Vervaeck mit dem Konzept der sublimen historischen Erfahrung und greift dabei auf den niederländischen Geschichtstheoretiker Frank Ankersmit zurück.⁴⁶ Wie Elias formuliert, drückt sich in der sublimen historischen Erfahrung das Bedürfnis nach Überschreitung der immer bewussten Grenze zur Vergangenheit aus, welches besonders im selbstreflexiven historischen Erzählen der Postmoderne zum Ausdruck komme: My thesis is that the late-twentieth-century, postmodernist consciousness models itself as a post-traumatic consciousness that redefines positivist or stadialist history as the historical sublime, a desired horizon that can never be reached but only approached in attempts to understand human origins and the meaning of lived existence.⁴⁷

In der postmodernen Aktualisierung des Konzepts des Sublimen schlägt die Betonung distanzierender Verfahren wieder in eine Sensibilität für erzählerische Annäherungsverfahren um: „[T]his desire for History [...] leads postmodern narrative fiction to new representations of the historical past.“⁴⁸ Elias beschreibt diese neuen Repräsentationsformen als Sprachzweifel und Vergangenheitsbegehren vereinende „metahistorical romances“. Sie diskutiert Erzählverfahren der ‚Verräumlichung‘ von Geschichte und weist auf die postmoderne Aktualisierung der Aufklärungskritik als neues Erzählinteresse postmoderner historischer Romane hin. Zudem hebt sie die Rolle postkolonialer Reflexionen für die literarische und nichtliterarische Geschichtsschreibung hervor.⁴⁹ Elias schließt wiederum an Scott an, um die Zweipoligkeit zwischen „realism“ und „romance“ als Konstante des historischen Erzählens bis in die Postmoderne herauszustellen: „Inhereting the dialectic between realism and romance inherent in Scott’s novels, writers of metahistorical romances seem to hang suspended between these poles and captive to pendulum motion, unable to break free to a real access to History.“⁵⁰ In der Betrachtung des historischen Romans von Lukács bis Elias kann demnach eine Dialektik beobachtet werden. Die Konzentration auf (unterschiedlich bewertete) Annäherungsformen an die Vergangenheit geht in ein Interesse an Verfahren über, die eben diese erzählerische Annäherung an die Vergangenheit

46 Vervaecks Übertragung von Ankersmits Konzept der sublimen historischen Erfahrung auf die literarische Erzählung wird unter 9.1 und 9.3.1 dargelegt. 47 A.J. Elias, S. xviii. 48 A.J. Elias, S. xviii. 49 Entsprechend teilt sich Elias’ Studie in die drei Kapitel „Cracking the Mirror: Spatializing History in Metahistorical Romances“, „Metamodernity: The Postmodern Turn on the Enlightenment“ und „Western Modernity versus Postcolonial Metahistory“ auf: A.J. Elias, S. 103–148, S. 149–180, S. 181–221. 50 A.J. Elias, S. xviii.

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problematisieren. Diese Perspektive verschiebt sich schließlich dahingehend, dass die Dynamik dieser beiden Bewegungen in den Blick genommen wird. Im deutschsprachigen Raum ist diese Entwicklung besonders an Gepperts zweiter großer Publikation zum historischen Roman, Der historische Roman, abzulesen. Geppert untersucht in dieser breit angelegten Studie einerseits eine ausgewählte Anzahl internationaler historischer Romane chronologisch vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bis in die Gegenwart vor allen Dingen auf ihre erzählerische Verfasstheit hin. Andererseits positioniert er sich in einem systematischen Kapitel theoretisch gegenüber dem historischen Erzählen in der Literatur. Auf seine Dissertation von 1976 folgt diese Studie in zeitlich großem Abstand 2009. Schon die Titel der beiden Publikationen deuten eine Akzentverschiebung an: Während 1976 Der „andere“ historische Roman noch einen deutlich differenzierenden Titel trägt, fällt 2009 in der Benennung Der historische Roman eine stärker integrierende Perspektive auf. Zwar schließt Geppert konzeptuell an seine Dissertation an, indem er die Pluriformität des historischen Erzählens in der Literatur hervorhebt. Dies geschieht jedoch mit deutlicherem Nachdruck darauf, dass keine bestimmte Form des historischen Erzählens distinguiert werden soll. Der in Bezug auf den „anderen“ historischen Roman betonte „Hiatus“ zwischen Fiktion und Historie wird dementsprechend zur „produktive[n] Differenz von historischem und fiktionalem Diskurs“⁵¹ – eine Formulierung, die das Annäherungswie Distanzierungspotential dieser Spannung hervorhebt. Geppert betont immer wieder, dass diese Spannung sowohl konventionellen als auch experimentellen historischen Romanen zugrunde liege. Scotts The Waverley Novels gelten wie bei Elias als Ursprung beider Traditionen und auch der (Post-)Moderne wird keine besondere Rolle in der Ausgestaltung dieser Spannung zugesprochen: „Die Moderne und Postmoderne äußern sich in der Gattung des historischen Romans nicht so revolutionär, die Tradition des neunzehnten Jahrhunderts ist längst nicht so überholt, wie es auf den ersten Blick aussieht und wie es immer wieder behauptet wird.“⁵² Der „szenische Vordergrund“ und die „historischen Hinweise“ prallen Geppert zufolge in historischen Romanen aller literaturgeschichtlichen Epochen aufeinander, sodass ein „Zusammenspiel von Fiktion und Historie“⁵³ entstehe. „Die Freiheit fiktionalen Erzählens nutzt die Historie zum Zweck narrativer Erkenntnis“ – unabhängig davon, ob diese „im Spiel, im Experiment, ja in der Negation von Sinn“ oder „in der Einsicht, dass es [...] Le-

51 H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 3. 52 H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 150. 53 H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 157.

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severgnügen verspricht“, bestehe.⁵⁴ In dieser ‚inklusiven‘ Sichtweise widerspricht Geppert seiner Studie Der „andere“ historische Roman explizit: Man könnte annehmen (so ich selbst 1976): Je differenzierter, um so „anspruchsvoller“, je einheitlicher, um so trivialer ist der historische Roman. Aber so ist es längst nicht mehr. Es gibt bewusst plural erzählte, gleichwohl eindeutig für den Massen- und Verkaufserfolg geschriebene, damit aber noch keineswegs „schlechte“ historische Romane. [...] Es gibt [...] bewusst artistische Geschichtserzählungen, die historische Integration mit ästhetischen Negationen verbinden und so durchaus eine Spielart der produktiven Differenz von Fiktion und Historie ausformen. [...] [D]ie [...] Differenzierung der Diskurse [des fiktionalen und des historischen, BvD] bedeutet in allen Dimensionen und auf allen Ebenen des Erzählens nicht deren Trennung, sondern ermöglicht erst ihre produktive Wechselwirkung. Differenzierungen und Konstruktionen sind aufeinander angewiesen.⁵⁵

Dieser programmatischen Betonung der Interdependenz von Differenzierungen und Konstruktionen innerhalb der spannungsvollen Dynamik fiktionalhistorischen Erzählens entspricht Gepperts Studie, indem sie neben den „Differenzierungen“ und den „Reflexionen“ eben auch die „Konstruktionen“ in der Poetik des historischen Romans hervorhebt und ausarbeitet.⁵⁶

1.3 Aufbau der Arbeit Die vorliegende Studie nimmt ihren Ausgang bei der Akzentuierung des Zusammenspiels von Konstruktion und Differenzierung in der Poetik des historischen Romans und reformuliert die Frage nach dem Gegensatz von Fiktion und Historie dadurch, dass sie ihn als im Erzählen angelegte Grundproblematik fasst. Indem sie eine dem Erzählen als speziellem Modus sprachlicher Wissensorganisation generell eingeschriebene Dynamik zwischen Inferenz und Referenz voraussetzt, rückt sie das historische Erzählen im fiktionalen Diskurs als eine diese Dynamik ausstellende Erzählform in den Fokus. Historisches Erzählen in der Literatur macht, so die These, sowohl die Elemente sichtbar, die den faktualen und fiktionalen Diskurs trennen, als auch diejenigen, die sie verbinden. Das historische Erzählen in der Literatur in den Kontext der Unterscheidung faktualen und

54 H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 167. 55 H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 168. 56 H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 167–202. Wird die Interdependenz von Differenzierung und Konstruktion betont, so fällt die zur Bestimmung des postmodernen historischen Romans wichtige Trennung zwischen Selbstreflexion und Rückkehr zum Erzählen, wie sie etwa Erik Schilling betont, weniger ins Gewicht. Vgl. Erik Schilling, Der historische Roman seit der Postmoderne. Umberto Eco und die deutsche Literatur, Heidelberg 2012.

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fiktionalen Erzählens einzubetten, scheint nötig, um zu zeigen, wie im historischen Roman mit dem Wirklichkeitsbezug historischen Erzählens verfahren wird. Historisches Erzählen in der Literatur schöpft, wie ausgearbeitet werden soll, das im fiktionalen Erzählen immer schon angelegte Potential des ‚Andockens‘ an den Bezug zur Wirklichkeit aus. Die Arbeit setzt sich damit weniger die Bearbeitung gattungstypologischer Fragen in Bezug auf den historischen Roman zum Ziel, als die Bestimmung von Verfahren des historischen Erzählens im fiktionalen wie im faktualen Kontext. In einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Unterscheidung des faktualen und des fiktionalen Erzählens ordnet diese Studie das historische Erzählen in einem ersten Argumentationsschritt als faktuale Erzählform ein, um dann in einem zweiten Schritt das historische Erzählen im fiktionalen Kontext zu verorten. Es wird gezeigt, wie im fiktionalen Erzählen durch die Simulation des Geschehens von Geschichte eine ‚Annäherung‘ an ebendiese erreicht wird (Präsentation beziehungsweise Immersion). Dieses Verfahren steht im dynamischen Verhältnis zur ‚Annäherung‘ an die Geschichte im faktualen Erzählen, die vorrangig über den Eindruck einer Übereinstimmung des Erzählten mit der Wirklichkeit erreicht wird (Repräsentation beziehungsweise Emersion). Schließlich führen vier Analysen vor, wie Immersion und Emersion zu einer Dynamik von Annäherung und Distanzierung sowohl in faktualen als auch in fiktionalen Geschichtserzählungen führen, durch welche die Erzählungen die westliche Geschichte einer kritischen Prüfung unterziehen. Indem die vorliegende Arbeit die Untrennbarkeit von Inferenz und Referenz in der sprachlichen Wissensorganisation des Erzählens zugrunde legt, macht sie die Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen keineswegs überflüssig. Vielmehr soll im ersten Teil der Studie dargelegt werden, wie die Unterscheidung von Faktualität und Fiktionalität die Relevanz von Inferenz und Referenz für die Produktion und Rezeption von Erzählungen unterstreicht. Dabei tritt in der ersten theoretischen Auseinandersetzung (Kapitel 3), mit der Unterscheidung des fiktionalen und des faktualen Erzählens, das faktuale Erzählen als eine lange nur in Form einer Negativfolie zum fiktionalen Erzählen wahrgenommene Erzählform in den Vordergrund. Es soll nachgezeichnet werden, wie die Erkenntnis der Notwendigkeit der erzählerischen Konstruktion auch von ‚Fakten‘ dazu führte, von einer Unterscheidung faktualer und fiktionaler Erzählungen aufgrund ihres Wirklichkeitsbezugs über die Nivellierung jeglichen Unterschiedes zu einer sprachpragmatischen Unterscheidung fiktionalen und faktualen Erzählens zu gelangen. In der Annahme, dass auch eine sprachpragmatische Unterscheidung von Faktualität und Fiktionalität von konventionalisierten Signalen beider Erzählformen auf paratextueller, textueller und thematischer Ebene ausgeht,

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werden lange wenig beachtete Merkmale faktualen Erzählens inventarisiert (vgl. 3.1). Auf die Ausführungen zum faktualen Erzählen aufbauend, soll sodann das historische Erzählen als faktuales Erzählen diskutiert werden. Anhand der klassischen Definition nach Aristoteles, aber auch in Bezug auf die (post-)strukturalistische Auseinandersetzung mit dem historischen Erzählen bei Roland Barthes und Hayden White, vollzieht diese Arbeit nach, wie am Beispiel des historischen Erzählens die Rolle der inferentiellen Ebene erzählerischer Konstruktion auch für das Erzählen mit Wirklichkeitsbezug herausgestrichen wurde. In diesem Zusammenhang wird erörtert, inwiefern die Hervorhebung der erzählerischen Konstruiertheit auch der faktualen Erzählung ihre Fiktionalität impliziert (vgl. 3.2). Schließlich soll die vorliegende Studie aufzeigen, dass das historische Erzählen neben seinen für das faktuale Erzählen verallgemeinerbaren Eigenschaften auch spezifische Merkmale als faktuale Erzählform aufweist: Die Implikationen eines Erzählens, das sich auf eine vergangene, von Menschen geprägte Wirklichkeit bezieht, sollen unter Bezugnahme auf Paul Ricœurs Konzept der „Repräsentanzfunktion“ von Geschichte und Johan Huizingas Geschichtsdefinition ausgelotet werden (vgl. 3.3). Die zweite theoretische Auseinandersetzung im ersten Teil der Studie (Kapitel 4) widmet sich der Frage, wie historisches Erzählen in fiktionale Erzählungen eingeordnet werden kann. Dazu gilt es anhand der Positionen des ‚Autonomismus‘ und des ‚Kompositionalismus‘ zu erörtern, inwiefern fiktionales Erzählen den für das historische Erzählen konstitutiven Bezug auf die Wirklichkeit integrieren kann. In diesem Zusammenhang werden verschiedene Möglichkeiten der Etablierung historischen Erzählens im fiktionalen Erzählen aufgezeigt (vgl. 4.1). In einem zweiten Schritt erarbeitet die vorliegende Studie anhand einer Analyse von Roland Barthes Die helle Kammer, wie die Verbindung von historischem und fiktionalem Erzählen weniger seinen Wirklichkeitsbezug betont (Repräsentation) als seinen Geschehenscharakter (Präsentation). Diese Verfahrensweise soll an Paul Ricœurs „Signifikanzfunktion“ des literarischen Erzählens gekoppelt und mit der „Repräsentanzfunktion“ des historischen Erzählens im faktualen Kontext kontrastiert werden (vgl. 4.2). Schließlich werden im letzten Schritt der theoretischen Auseinandersetzungen die Konzepte der Präsentation und der Repräsentation als ‚Immersion‘ (Erlebnisillusion) und ‚Emersion‘ (Referenzillusion)⁵⁷ spezifiziert, welche als inferentielle und referentielle Dimensionen sowohl fiktionales als auch faktuales 57 Die Begriffe „Erlebnisillusion“ und „Referenzillusion“ gehen auf Werner Wolf und Ernst H. Gombrich zurück: Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen,

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Erzählen prägen. Dabei soll aufgezeigt werden, dass der diesen Erzählmodi zugrunde liegende Illusionscharakter im ästhetischen Kontext der Literatur stärker ausgeprägt ist, was sich in der unterschiedlichen Wirkung von Illusionsstörungen in Bezug auf Emersion und Immersion im faktualen und fiktionalen Erzählen zeigt. Schließlich wird herausgearbeitet, wie das Zusammenspiel von Immersion und Emersion eine Dynamik von Annäherung und Distanzierung erzeugt, in der die immersive und die emersive Glaubwürdigkeit des Erzählten konfligieren (vgl. 4.3). In Bezug auf diese Dynamik zwischen Annäherung und Distanzierung ist zwischen die theoretischen Auseinandersetzungen und die Analysen ein kurzes Kapitel geschaltet, das als Übergang dienen soll (Kapitel 5). Es ordnet die Ergebnisse der Analysen schematisch in die theoretisch entwickelten Grundrichtungen des Zusammenspiels von Immersion und Emersion ein, die einander stören und intensivieren können. Diese Grundrichtungen werden aufgegliedert in die Bereiche der immersiven Intensivierung von Emersion und der emersiven Intensivierung von Immersion als ‚Annäherung‘ einerseits sowie andererseits in die Bereiche der immersiven Störung der Emersion und der emersiven Störung der Immersion als ‚Distanzierung‘. Im zweiten Teil untersucht die Studie das komplexe Verhältnis der theoretisch eingeführten Annäherungs- und Distanzierungsbewegungen zwischen Immersion und Emersion in vier Analysen aktueller fiktionaler und faktualer Geschichtserzählungen. Einer schon bei Lukács angelegten und auch für die Gegenwart eingeforderten „transnationalen, vergleichenden Perspektive“⁵⁸ auf den historischen Roman und damit auf das historische Erzählen entspricht die vorliegende Arbeit insofern, als dass Geschichtserzählungen zweier europäischer Sprachräume herangezogen werden: Die vier Analysekapitel kombinieren jeweils die Analyse eines deutschsprachigen mit der Analyse eines niederländischsprachigen Textes und erweitern so den nationalphilologischen Blickwinkel um eine internationale Perspektive.⁵⁹ Der formalen Fragestellung dieser Ar-

Tübingen 1993, S. 56–57 in Bezug auf Ernst H. Gombrich, Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation, New York 1960, S. 284. 58 H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 4. 59 Nur die faktuale Geschichtserzählung niederländischer Sprache, Geert Maks In Europa, lag dabei in deutscher Übersetzung vor. Alle Übersetzungen aus den behandelten niederländischsprachigen Romanen stammen von mir. Soweit einzelne Satzteile und Wörter zitiert werden, wird die deutsche Übersetzung in den Fließtext eingefügt und der niederländische Originaltext in der Fußnote dazu gereicht. Sobald auf einen vollständigen Satz oder eine längere Passage verwiesen wird, steht im Fließtext das niederländische Original, während die deutsche Übersetzung in den Fußnoten eingesehen werden kann.

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beit entsprechend geht es dabei nicht um einen Vergleich der Literatur beider Sprachräume, sondern um eine Vergrößerung der Stichprobe zur Beschreibung der Eigenschaften historischen Erzählens. Die Analysen setzen eine Verankerung der niederländisch- und deutschsprachigen Literatur und Geschichtsschreibung innerhalb eines westlichen Geschichtsdiskurses voraus. Dies impliziert eine ähnliche Ausgangsposition, was die Verfahren historischen Erzählens betrifft. Relevant ist also nicht die national spezifische Verhandlung bestimmter geschichtlicher Ereignisse in der Geschichtsschreibung (etwa die Verhandlung des Zweiten Weltkriegs in niederländischer und deutscher Literatur), sondern die Formen des historischen Erzählens zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts im deutsch- und niederländischen Sprachraum. Die Verschränkung zweier Texte in einer Analyse führt dabei zur Vervielfältigung der Perspektiven auf den einzelnen Text, da leicht identifizierbare Verfahren einer Erzählung ähnliche, aber weniger offensichtliche Verfahren in der jeweils anderen Erzählung sichtbar machen können. In der Auswahl und Anordnung der selektierten deutsch- und niederländischsprachigen Geschichtserzählungen überschneiden sich mehrere Raster. Zunächst einmal sind die Erzählungen nach dem Kriterium ausgewählt, Grundzüge des Spektrums historischen Erzählens in Literatur und populärer Geschichtsschreibung zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts aufzuzeigen. Dieses Kriterium ist so notwendig wie schwierig. Die vorliegende Studie erhebt nicht den Anspruch, sämtliche deutsch- und niederländischsprachige faktuale und fiktionale Texte des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts auf Formen des historischen Erzählens hin gesichtet zu haben, um anhand der repräsentativsten Texte das historische Erzählen in diesem Zeitraum erschöpfend zu beschreiben. In der Unmöglichkeit eines solchen Anspruches, eine (in diesem Fall textuelle) Wirklichkeit umfassend und adäquat wiederzugeben, spiegelt sich eine Eigenschaft des Forschungsgegenstands des historischen Erzählens auf Beobachtungsebene wider. Michel de Certeau bemerkt zu diesem Phänomen bezüglich der Geschichtsschreibung: „Indem ich die Fiktion einer das Ganze vereinheitlichenden Metasprache ablehne, mache ich die Beziehung zwischen begrenzten wissenschaftlichen Verfahren und dem deutlich, was ihnen von der ‚Wirklichkeit‘, die sie behandeln, entgeht.“⁶⁰ Im Bewusstsein um die Begrenztheit auch literaturwissenschaftlicher Verfahren beruht die vorliegende Studie auf Kanonisierungsprozessen, die ihrerseits keineswegs objektiv und zwingend repräsentativ sind. Gewählt wurden Texte, deren wissenschaftliche und

60 Michel de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, aus dem Französischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff, Historische Studien 4, Frankfurt am Main/New York 1991, [1975], S. 9.

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nicht wissenschaftliche Rezeption ihre Art des historischen Erzählens besonders hervorhebt. Die nicht wissenschaftliche Rezeption wird jeweils zu Beginn des Kapitels in Bezug auf die Kommentierung des historischen Erzählens für jeden der beiden besprochenen Texte kurz zusammengefasst. Die Analysen widmen sich nicht nur fiktionalen Erzählungen, sondern beziehen explizit auch ‚faktuale‘ Erzählungen ein (vgl. Kapitel 8). Dabei geht es insbesondere um die Frage, inwiefern die für das fiktionale historische Erzählen angenommenen Eigenschaften auch für faktuales Erzählen der Gegenwart zutreffen und inwiefern sich die Annäherungs- beziehungsweise Dynamisierungseffekt in faktualen Erzählungen anders gestaltet als in fiktionalen. Um eben dieser Dynamik auf die Spur zu kommen, die sich sowohl im fiktionalen als auch im faktualen Erzählen gerade im Wechselspiel von Distanzierung und Annäherung ergibt, werden in allen Kapiteln – heuristisch – jeweils drei Aspekte der Distanzierung und drei Aspekte der Annäherung im historischen Erzählen der analysierten Texte nebeneinandergestellt. Diese Vorgehensweise soll keinesfalls unterstellen, dass sich jene Aspekte in der Lektüre des Textes tatsächlich so trennen lassen. Vielmehr existieren die besprochenen Aspekte in den Texten nicht nur gleichzeitig, sondern sind in ihrer Zuordnung zu Annäherung und Distanzierung oft ambivalent beziehungsweise dynamisch: Die Distanzierung von einem historischen Gegenstand, etwa in der Karikierung von historischen Personen, kann eine Distanzierungsbewegung in Gang setzen, die in eine Annäherungsbewegung kippt, wenn die Karikierung die Personen so vereinfacht, dass diese leichter zugänglich werden. In den Analysen muss die dynamische Bewegung daher an bestimmten Punkten angehalten werden, um sie in einzelnen Schritten nachzuvollziehen. Da historisches Erzählen nie auf seine Form reduziert werden kann, konstruiert die vorliegende Studie in der Anordnung der Analysen selbst eine Geschichte und ist damit ihrerseits eine „der Fiktion einer Linearität der Zeit erliegende chronologische Rekonstruktion“.⁶¹ Die Fragestellung der formalen Betrachtung überträgt sich dabei auf die thematisch-chronologische Anordnung der Analysen: Die Bewegung der Annäherung und Distanzierung zeigt sich nicht nur in Bezug auf die Möglichkeit des Erzählens von Geschichte, sondern auch als Positionierung gegenüber der erzählten Geschichte selbst. Die vorliegende Studie liest Vergangenheit als das von der Gegenwart getrennte, das ‚Andere‘. Damit wird es zur Herausforderung für die Geschichtsschreibung, „Dokumente [zu] interpretieren, die an einen unüberwindbaren Tod geknüpft sind, d. h. an einen anderen Zeitabschnitt und an eine andere ‚unsagbare‘ Erfahrung, die immer von

61 M. de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, S. 9.

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außen beurteilt wird“.⁶² Wenn niederländisch- und deutschsprachige Texte jedoch von westlicher Geschichte als ihrer ‚eigenen‘ Geschichte erzählen, schwingt neben dieser Distanz immer auch die als Annäherung begreifbare Frage mit, inwiefern die erzählte ‚andere‘ Zeit noch als prägend und damit als mit der Gegenwart verbundene Zeit betrachtet werden kann. Die analysierten Texte sind so selektiert, dass sie aufzeigen, wie in der aktuellen literarischen und nichtliterarischen Geschichtsschreibung westliche Geschichte vor der traumatischen Zäsur des Zweiten Weltkriegs einer kritischen Prüfung unterzogen wird. Die ersten beiden Analysen greifen Elias’ Konzept der „metahistorical novel“ auf, wenn sie sich mit literarischen Erzählungen auseinandersetzen, welche ehemals als Höhepunkte westlicher Geschichte erfahrene historische Epochen kritisch beleuchten: „Wi(e)der die Aufklärung: Erzählungen vom Ende des langen achtzehnten Jahrhunderts“ (Kapitel 6) diskutiert die Verhandlung der Aufklärung in niederländisch- und deutschsprachiger Literatur. Im Fokus stehen dabei die Romane De avonturen van Henry II Fix von Atte Jongstra und Die Vermessung der Welt von Daniel Kehlmann. Mit dem Kolonialismus rückt im postkolonialen Erzählen das Kapitel „Besetztes Gebiet: Koloniale Vergangenheit erzählen“ (Kapitel 7) eine – im Nachhinein – als äußerst zwielichtig empfundene Epoche und deren literarische Repräsentation in den Fokus. Diese Analyse widmet sich Louis Ferrons Tinpest und Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet. Das Kapitel „Jahrhundertwenden: Faktuales Erzählen zwischen Immersion und Reflexion“ (Kapitel 8) wertet Erzählungen über Krisenerfahrungen zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aus. Dazu werden zwei nichtfiktionale Erzählungen, Geert Maks In Europa und Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent analysiert. Die abschließende Analyse „Die sublime historische Erfahrung: Historisches Erzählen jenseits der Geschichte“ (Kapitel 9) geht vom Zweiten Weltkrieg als traumatischer Zäsur in der westlichen Geschichtsschreibung aus, welche die Betrachtung der westlichen Geschichte wesentlich bestimmt. Der eingangs erwähnte Münsteraner Prinzipalmarkt führt dies vor, wenn er als historische Repräsentation das Vorkriegsbild der Stadt Münster wiederzugeben versucht, dabei jedoch indirekt auf die Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges hinweist. Die zwei in der letzten Analyse besprochenen literarischen Texte, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von Christian Kracht und Zwerm von Peter Verhelst, widersetzen sich einer Verortung der Schrecken des Zweiten Weltkriegs in einer abgeschlossenen Vergangenheit. Sie rücken die Vergangenheit in einer traumatischen Erfahrung an die Gegenwart heran. Indem sie die Annäherung als bedrohlichen Prozess inszenieren, geben sie der für das historische Erzählen typischen Annäherungs-

62 M. de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, S. 172.

1.3 Aufbau der Arbeit |

21

und Distanzierungsbewegung eine neue Form. Solche und andere Innovationen und Tendenzen in aktuellen faktualen und fiktionalen Geschichtserzählungen sollen in einer abschließenden Betrachtung zusammengefasst werden.⁶³

63 Was hier in abgeschlossener Form präsentiert wird, verdankt sich einem jahrelangen Prozess der Entwicklung und des Austausches, an dem eine Vielzahl von Menschen beteiligt waren. Die Arbeit entstand im Rahmen der Graduate School „Practices of Literature“ in Münster. Meine Betreuerinnen und Betreuer Prof. Lut Missinne, Prof. Martina Wagner-Egelhaaf und Prof. Bart Vervaeck waren immer offen für meine Fragen. Von den ersten Ideen bis zum Abschluss der Arbeit konnte ich vor allem mit Peter van Dam und Constanze Bartsch immer wieder Gedanken entwickeln. Judith Altenau, Constanze Bartsch, Katharina Grabbe, Christoph Meyer, Benina Knothe, Elisabeth Weydt, Kai Gerwin und vor allem Detlef Gumula halfen mir bei der Textredaktion. Claudia Kämpfe, Ronja Dortelmann und Christoph Terrahe unterstützten mich bei der Literaturverwaltung. Mein Mann und meine Eltern hielten mir den Rücken frei für meine Arbeit. Allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

| Teil I: Geschichte erzählen

2 Vorbemerkung Die vorliegende Studie nähert sich dem großen Thema von ‚Geschichte‘ und ‚Literatur‘ , indem sie das historische Erzählen in der Literatur zunächst in Bezug zu aktuellen Definitionen faktualen und fiktionalen Erzählens setzt. Damit steht weniger eine gattungstypologische Textsortenbestimmung in der Kategorie des historischen Romans im Mittelpunkt, als eine Verortung historischen Erzählens in Produktions- und Rezeptionserwartungen an Faktualität beziehungsweise Fiktionalität. Erzählen wird als grundlegender sprachlicher Vorgang der Wissensorganisation und -vermittlung verstanden, der durch die Zuschreibungen von Faktualität und Fiktionalität zwar kommunikativ eingeordnet, aber nicht in zwei grundsätzlich unterschiedliche Erzählvorgänge gespalten wird. Vielmehr werden durch die Zuordnung von Faktualität und Fiktionalität bestimmte Funktionen des Erzählens – Weltbezug und Selbstbezug – hervorgehoben, was sich in der Gestaltung der Erzählungen niederschlägt. Der Umstand, dass faktuale und fiktionale Erzählungen, was den zugrundeliegenden Erzählvorgang betrifft, nicht grundsätzlich unterschiedlich funktionieren, sondern vielmehr andere Akzente setzen, bedeutet nicht, dass die Unterscheidung von Erzählungen in faktual beziehungsweise fiktional nicht eine der grundlegendsten und für die Kommunikationsprozesse, in denen Erzählungen produziert und rezipiert werden, wesentlichsten Unterscheidungen ist. Dennoch ist das Verhältnis von Faktualität und Fiktionalität noch nicht zufriedenstellend bestimmt. Albrecht Koschorke bemerkt, dass die Erzähltheorie mit der Ausweitung ihres nicht mehr nur auf fiktionale Erzählungen beschränkten Forschungsgegenstandes überfordert sei: „Insbesondere ist das Begriffspaar von faktualem und fiktionalem Erzählen nicht hinreichend nuanciert, um Differenz und Ineinanderwirken, Trennungsgeschichte und immer wieder erneuerte Synergien zwischen faktographischen und fiktionalen Darstellungsverfahren nachvollziehbar zu machen.“¹ Die vorliegende Studie nimmt das historische Erzählen in der Literatur zum Ausgangspunkt, um die Dynamik fiktionalen und faktualen Erzählens in den Blick zu nehmen. Dazu wird das historische Erzählen zunächst als faktuale Erzählform eingeordnet, um es dann im fiktionalen Kontext näher zu bestimmen. Mit dem ‚historischen Erzählen‘ werden eine Reihe schillernde Begriffe aufgerufen, die dem schwer greifbaren Status einer Erzählform, die sich auf eine nicht mehr anwesende Wirklichkeit bezieht, Rechnung tragen. Reinhart Koselleck zeichnet nach, wie Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Begriff der ‚Geschich-

1 A. Koschorke, S. 330.

26 | 2 Vorbemerkung

te‘ sich erweitert. Zunächst bezeichnet er die auf einem bestimmten Zusammenhang bezogene Ereignisfolge in der Vergangenheit einer Kultur. Dann wird er zu einem „Reflexionsbegriff, der die Bedingung der Möglichkeit definiert“ (in diesem Falle die Bedingung der Möglichkeit von historischen Ereignisfolgen als Ausdruck menschlicher Kultur im Gegensatz zur Natur). In dieser neuen Ausformung ersetzt der Begriff der ‚Geschichte‘ im Deutschen die bis dahin übliche Bezeichnung ‚Historie‘ für Erzählungen über Geschichte und „kontaminiert“ damit „Geschichte als Erzählung (historia) und die Geschichte als Ereigniszusammenhang“.² Im Bestreben, die vergangene Wirklichkeit sprachlich wieder zu erzeugen, erweist sich der Begriff der ‚Geschichte‘ seither als angenehm vage, lässt er doch in der Schwebe, ob mit ihm eine Erzählung, die ihr zugrunde liegenden selektierten und kombinierten Ereignisse oder gar der erzählerische Bezugspunkt der vergangenen Wirklichkeit selbst gemeint ist. Die vorliegende Studie versucht diese verwirrende Terminologie wie folgt zu ordnen. ‚Geschichtserzählung‘ ‚, historische Erzählung‘ und ‚Historie‘ bezeichnen als Synonyme das ‚historische Erzählen‘ , welches sich durch einen bestimmten Erzählgegenstand definiert, nämlich die ‚Geschichte‘, die es narrativ vermittelt. ‚Geschichte‘ meint eine bestimmte Selektion und Kombination von Ereignissen, die ‚historisch belegt‘ sind, also der ‚Vergangenheit‘ einer bestimmten Kultur zugewiesen werden. Sie ist damit eine allen historischen Vermittlungsformen zugrunde liegende Tiefenstruktur, die selbst konstruiert und veränderbar ist: Ereignisse können immer neu selektiert und zusammengestellt werden, die Definition eines historischen Ereignisses selbst stellt einen Konstruktionsprozess dar. ‚Historisches Erzählen‘ vermittelt also ‚Geschichte‘ als eine auf die ‚Vergangenheit‘ bezogenene Konstruktion von Ereignisfolgen. ‚Geschichte‘ fällt damit keinesfalls zusammen mit der ‚Vergangenheit‘, definiert sich jedoch durch ihren Bezug auf Vergangenheit als unterstellte referentielle Größe einer vergangenen Wirklichkeit, die nur indirekt über Erinnerungen oder Quellen erfasst werden kann. ‚Bezug‘ ist hier nicht als tatsächliche Verbindung mit der vergangenen Wirklichkeit zu verstehen, sondern als Anspruch, Analogien zu eben dieser Wirklichkeit herzustellen. Der vom historischen Erzählen beanspruchte Verweis auf

2 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2006, S. 80. Eine ausführliche Begriffsgeschichte der Begriffe ‚Geschichte‘ und ‚Historie‘ liefert Koselleck in den Geschichtlichen Grundbegriffen: Reinhart Koselleck, Geschichte. Historie. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 2004. In diesem Zusammenhang besonders relevant ist das Kapitel V „Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs“, speziell Unterpunkt 1 a) und b): „Die Entstehung des Kollektivsingulars“ und „Die Kontamination von ‚Geschichte‘ und ‚Historie‘“.

2 Vorbemerkung |

27

eine vergangene Wirklichkeit wird im fiktionalen und im faktualen Erzählen jeweils unterschiedlich kontextualisiert.

3 „Fakt ist ...“: Geschichtserzählungen und faktuales Erzählen 3.1 Die Entdeckung des faktualen Erzählens 3.1.1 Faktualität und Fiktionalität ‚Die Fakten sprechen für sich.‘ Was sich in dieser Redensart formuliert, spielt in der Unterscheidung von faktualem und fiktionalem Erzählen implizit oft eine Rolle. Fakten scheinen keiner Vermittlung zu bedürfen. Dementsprechend sei dieser Auffassung zufolge eine Erzählung über real Gegebenes, wirklich Geschehenes, kurz über ‚Fakten,‘ derart durch diesen Gegenstand bestimmt, dass eine erzählerische Vermittlung nicht oder kaum vonnöten sei: Sie verweise mehr oder weniger direkt auf die Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu müsse eine Erzählung, die sich dem Ersonnenem, Erdachten, kurz der ‚Fiktion‘, widme, eine erzählerische Anstrengung unternehmen, um die Fiktion überhaupt erst hervorzubringen, wobei schon dieser Erzählaufwand die Distanz zur Wirklichkeit andeute. Fakten kommunizieren sich selbst, Fiktion muss erzählt werden.¹ Diese Art der Unterscheidung von faktualem und fiktionalem Erzählen geht von der grundsätzlichen Trennbarkeit zweier wesentlicher Verweisfunktionen aus, die das Erzählen als sprachliches Zeichensystem kennzeichnen: der ‚Referenz‘,² also dem Bezug eines Zeichens zur Wirklichkeit, und der ‚Inferenz‘,³ dem Bezug eines Zeichens zu anderen Zeichen innerhalb des Zeichensystems. Der oben beschriebenen Unterscheidung zufolge beschränken sich faktuale Erzählungen auf die Referenz und somit auf die Verweisfunktion der Zeichen in Bezug auf eine – spezifische – außersprachliche Wirklichkeit.⁴ Dabei werden die Zeichen derart auf diese Funktion reduziert, dass sie in Bezug auf das, worauf

1 Die Begriffe ‚Fakten‘ und ‚Fiktion‘ deuten diese unterstellte Unterscheidung an: Während ‚Fiktion‘ in der Endung ‚-ion‘ einen Prozess des Zustandekommens noch vage andeutet, präsentiert sich der ‚Fakt‘ endungslos als ‚gegeben.‘ 2 Vgl. zum Begriff der ‚Referenz:‘ Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 2, Berlin 2001, S. 69-76. Die Begriffe ‚Referentialität‘ und ‚Referenz‘ werden hier im engeren Sinne nicht als beliebig hergestellte Bezüge, sondern als Bezüge, die zur außersprachlichen Realität hergestellt werden, definiert. Zum „Problem der Referenz“ vergleiche F. Zipfel, S. 50–56. 3 Zum Begriff der ‚Inferenz‘ vgl. A. Koschorke, S. 232–235. 4 Der Verweis auf eine ‚spezifische‘ Wirklichkeit meint spezifische Konzepte wie bestimmte Personen oder Ereignisse. Wolf spricht von „Einzelreferenz (die unabhängig ist von einer wohl immer

3.1 Die Entdeckung des faktualen Erzählens |

29

sie verweisen, in ihrer Zeichenhaftigkeit geradezu in Vergessenheit geraten: Sie scheinen mit der Wirklichkeit, auf die sie verweisen, zusammenzufallen. In fiktionalen Erzählungen hingegen werden der obigen Unterscheidung zufolge gerade die Zeichen und ihre Verweisstrukturen untereinander relevant, während ihr Bezug auf eine außersprachliche Wirklichkeit eine untergeordnete Funktion erhält: Der hier hervorgehobene Vorgang des Erzählens deutet das Inbezugsetzen und Organisieren von Zeichen an, das eine Erzählung erzeugt. Ob die Notwendigkeit einer erzählerischen Organisation der Zeichen untereinander anerkannt wird, gibt in diesem Zusammenhang an, ob Inferenz akzeptiert (fiktionales Erzählen) oder ausgeblendet wird (faktuales Erzählen). Das faktuale Erzählen bezüglich seiner Inferenzstruktur, seiner erzählerischen Binnenorganisation also, zu analysieren, erscheint im Rahmen einer solchen Reduzierung des faktualen Erzählens auf seinen Wirklichkeitsbezug nicht angezeigt. Schon die narratologische Begriffsbildung zeigt die Unbestimmtheit des faktualen Erzählens gegenüber dem fiktionalen, dessen erzählerische Struktur lange als eben ‚nichtfiktional‘ keine erzähltheoretische Aufmerksamkeit erhielt.⁵ Auch wenn die genauen terminologischen Definitionen nicht immer deutlich sind, haben sich hinsichtlich des fiktionalen Erzählens Begriffe ausdifferenziert, für die sich nicht selbstverständlich Äquivalente in Bezug auf das faktuale Erzählen finden lassen. Was das fiktionale Erzählen betrifft, soll mit den Definitionen nach Frank Zipfel gearbeitet werden: Die Begriffe ‚fiktiv‘ und ‚Fiktivität‘ (in gewisser Weise auch der Begriff ‚Fiktion,‘ der jedoch auch im breiteren Sinne verwendet wird) beziehen sich auf die „Nicht-Wirklichkeit des Dargestellten“ und sind damit auf der Ebene des Erzählten angesiedelt, während die Begriffe ‚fiktional‘ und ‚Fiktionalität‘ sich auf Medien (in diesem Falle Erzählungen) beziehen, in denen Fiktives dargestellt wird.⁶ Als äquivalente Begriffe in Bezug auf das faktuale Erzählen können, was die Ebene des Erzählens betrifft, die Begriffe ‚faktual‘ und ‚Faktualität‘ verwendet werden, um Erzählungen anzudeuten, für deren Erzählgegenstand ein Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit beansprucht wird. Was die Bestimmung der vom faktualen Erzählen geschaffenen Erzählwelt betrifft, verwundert es nicht, dass eine Begriffsbestimmung schwieriger ausfällt, unterstellt doch das faktuale Erzählen, dass das von ihm Erzählte der Wirklichkeit, auf die

gegebenen, da erst das Verständnis garantierenden Allgemeinreferenz der verwendeten Konzepte auf Generalia)“, W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 39. 5 Zur Notwendigkeit der Unbestimmtheit des faktualen Erzählens als der ‚Fakt‘-Seite zugeordneter Domäne der fact/fiction-Unterscheidung siehe Gabriele Schabacher, Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion ‚Gattung‘ und Roland Barthes’ Über mich selbst, Studien zur Kulturpoetik 7, Diss., Würzburg 2007, S. 18–19 sowie S. 63ff. 6 F. Zipfel, S. 19. Zipfel geht von den „Duden-Definitionen“ der Begriffe aus.

30 | 3 „Fakt ist ...“: Geschichtserzählungen und faktuales Erzählen

es sich bezieht, entspricht. In der vorliegenden Arbeit sollen die Begriffe ‚faktisch‘ und ‚Faktizität‘ verwendet werden, um die „Wirklichkeit, Tatsächlichkeit, Gegebenheit“⁷ des Dargestellten anzudeuten. Das Begriffspaar ‚Fakt und Fiktion‘⁸ weist zusammenfassend auf die Bereiche der Faktualität/Faktivität beziehungsweise Fiktionalität/Fiktivität hin. Die selbstverständliche Unterscheidung von faktualem und fiktionalem Erzählen aufgrund des Erzählgegenstandes wurde besonders im zwanzigsten Jahrhundert im Zuge des Linguistic Turn in Frage gestellt. In kritischen Analysen des Verhältnisses von Faktualität und erzählerischer Konstruktion spielt das historische Erzählen als eine Art Prototyp faktualen Erzählens eine besondere Rolle. Roland Barthes etwa wies darauf hin, welche Anstrengungen gerade im historischen Erzählen unternommen werden, um den (labilen) Konstruktionscharakter der eigenen Erzählung möglichst nicht auffallen zu lassen (vgl. 3.2.2).⁹ Das Herausstreichen des Konstruktionscharakters auch von faktualen Erzählungen stellt insofern eine ‚Entdeckung des faktualen Erzählens‘ dar, als dass ihm erst im Anerkennen seiner Konstruiertheit auch Inferenz im Sinne eines Zeichen organisierenden Erzählvorgangs zugesprochen wurde. Faktuales Erzählen erschöpft sich demnach nicht im Verweis auf die Wirklichkeit (Referenz), sondern organisiert seine Zeichen in Form einer Erzählung (Inferenz). Relevant wird hier die Frage, ob eine solche Konstruiertheit des Erzählgegenstandes auch in der historischen Erzählung, wie sie Hayden White in seiner berühmten Studie Metahistory besonders im Hinblick auf die sprachliche Vorstrukturiertheit des Erzählten noch einmal eindringlich nachgewiesen hat,¹⁰ mit der Fiktivität des Erzählgegenstandes gleichgesetzt werden kann. Geschieht dies, geht man, wie in Bezug auf Hayden White ausgeführt (vgl. 3.2.2), von der gleichen Grundprämisse aus wie in der eingangs beschriebenen Trennung faktualer und fiktonaler Erzählungen aufgrund ihres Erzählgegenstandes: Die Notwendigkeit,

7 Faktizität. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 6. Ausg, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2007. 8 Dabei wird an die im englischen Sprachgebrauch übliche Terminologie der „fact/fictiondistinction“ angeschlossen, die der „domain of narrative“ voraus geht und aus philosophischer Perspektive die Unterscheidbarkeit von Tatsächlichem (Fakten) und Erdachtem (Fiktion) reflektiert, die aus narratologischer Sicht, etwa was die Ebene des discours und des histoire betrifft, undifferenziert ist. Vgl. zur Verwendung dieser globalen Unterscheidung im narratologischen Zusammenhang: Jean-Marie Schaeffer, Fictional vs. Factual Narration. In: The living handbook of narratology, Universität Hamburg, Web, 10. März 2014. 9 Roland Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, übersetzt von Erika Höhnisch. In: Alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion 11, 1968, [1967], S. 171–180. 10 Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/London 1973.

3.1 Die Entdeckung des faktualen Erzählens | 31

etwas innerhalb vorgegebener sprachlicher Strukturen zu erzählen, wird damit gleichgesetzt, es zu erfinden. Erzählerische Konstruktion ist dieser Auffassung nach gleichbedeutend mit Fiktion, gleichgültig ob dies zur Trennung von faktualen und fiktionalen Erzählungen oder eben zur Gleichsetzung beider Erzählformen mit dem fiktionalen Erzählen führt.¹¹

3.1.2 Sprachpragmatische Bestimmung Kritische Auseinandersetzungen mit der poststrukturalistischen Nivellierung der traditionellen Unterscheidung von ‚Fakt und Fiktion‘ kennzeichnen die Gleichsetzung von erzählerischer Konstruktion und Fiktion wie Peter Blumes Studie als „Panfiktionalismus“.¹² Dabei verlagert sich eine aktualisierte Unterscheidung von ‚Fakt und Fiktion‘ von der Unterscheidung aufgrund eines konkreten Wirklichkeitsbezuges der Erzählungen hin zu einer Position, die die Unterscheidung von Erzählungen in fiktional und faktual davon abhängig macht, ob sie als (nicht) auf ‚die Wirklichkeit‘ bezogen eingeordnet werden. Auch wenn ‚Wirklichkeit‘ hier lediglich als Bezugsrahmen fungiert, der erkenntnistheoretisch nicht näher zu definieren ist,¹³ setzt eine solche Unterscheidung die Möglichkeit von Referenz verstanden als Bezug von Sprache auf eine nichtsprachliche Wirklichkeit voraus. Nicht zufällig treten in Texten zum faktualen Erzählen Begriffe auf, die auf den poststrukturalistischen Index gehörten beziehungsweise auf einer „ontologischen Müllhalde“¹⁴ entsorgt schienen. Die „konkrete Wirklichkeit“,¹⁵ die „konkrete außersprachliche Realität“¹⁶ oder schlicht „unsere Wirklichkeit“¹⁷ bezeichnen im Kontext der Analyse faktualer Erzählungen einen nichtsprachlichen, schwierig bestimmbaren Bezugspunkt.

11 Sowohl Studien des faktualen als auch des fiktionalen Erzählens weisen die Gleichsetzung von Narration und Fiktion zurück, so Christian Klein und Matías Martínez in Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Weimar 2009, S. 2 und F. Zipfel, S. 176–179. 12 Vgl. Peter Blume, Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur, Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 8, Berlin 2004, S. 12-16. Nünning spricht von der „Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Fiktion“, vgl. A. Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, Band I, Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, S. 134 (S. 132–144). 13 C. Klein und M. Martínez, S. 2. 14 F. Zipfel, S. 69. 15 C. Klein und M. Martínez, S. 1. 16 C. Klein und M. Martínez, S. 1. 17 C. Klein und M. Martínez, S. 3.

32 | 3 „Fakt ist ...“: Geschichtserzählungen und faktuales Erzählen

Wenn so wieder auf die „referentielle Leistung sprachlicher Kommunikation“¹⁸ gepocht wird, sind damit nicht die für sich selbst sprechenden Fakten gemeint, die einen direkten Bezug zwischen Erzählung und Wirklichkeit herstellen.¹⁹ Anstatt bei der Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Erzählungen vom Erzählgegenstand auszugehen, wird mit der Einordnung als faktual oder fiktional die Erzählung sprachpragmatisch als Teil einer Kommunikationssituation betrachtet: Innerhalb dieser Kommunikationssituation wird im faktualen Erzählen die Referenzfunktion dominant gesetzt, während für das fiktionale Erzählen die Inferenz hervorgehoben wird. Während also sowohl dem faktualen als auch dem fiktionalen Erzählen als Zeichengebilden die Grundfunktionen der Referenz und Inferenz zugesprochen werden, bestimmt die pragmatische Unterscheidung von faktual und fiktional, welche der beiden Funktionen für eine Erzählung im jeweiligen sprachpragmatischen Kontext wichtig ist. Damit rezipiert die neu aufgelegte Unterscheidung zwischen ‚Fakt und Fiktion‘ insofern die poststrukturalistische Kritik dieser Trennung, als dass sie nicht unterstellt, dass es zwischen faktualen und fiktionalen Erzählungen in sich Unterschiede gebe, etwa was ihren Wirklichkeitsbezug oder ihre erzählerischen Möglichkeiten angeht.²⁰ Eine als faktual eingeordnete Erzählung steht als „Zeichengebilde“²¹ der außersprachlichen Wirklichkeit nicht näher als eine fiktionale und jede Erzählung kann prinzipiell als faktual oder fiktional eingeordnet werden. Gerade diese Ununterscheidbarkeit des faktualen und des fiktionalen Erzählens in Bezug auf die Notwendigkeit der erzählerischen Konstruktion jedoch macht eine Unterscheidung auf pragmatischer Ebene um so wichtiger. Eine Einordnung als faktual verändert zwar nicht die so eingeordnete Erzählung in ihren erzählerischen Grundfunktionen, sehr wohl jedoch ihren Umgang mit ihr.

18 C. Klein und M. Martínez, S. 1. 19 Frank Zipfel spricht in Bezug auf C. Prendergast von „sprachphilosophisch-pragmatischen Ansätzen“ der Definition von Referenz als einem Weg, welcher die „obstinate Weigerung des Poststrukturalismus, Probleme der Referenz in ihren Sprach- und Texttheorien auch nur zu berühren“, revidiert, ohne dabei in naive Versionen von Referenz zurückzufallen, vgl. F. Zipfel, S. 55. Zipfel verweist auf Prendergast: „[A] relationship of language to world is maintained without relapse into those naive versions of reference on which semiological ciriticm has arguably expended so much wasted energy“, C. Prendergast, The Order of Mimesis. Balzac, Stendhal, Nerval, Flaubert, Cambridge/New York 1986, S. 72. 20 So wendet sich Richard Walsh von referentiellen und textuellen Kriterien für Fiktionalität ab und plädiert für einen kontextuellen Zugang zu Fiktionalität, die er pragmatisch als rhetorische Strategie definiert: Richard Walsh, The Rhetoric of Fictionality. Narrative Theory and the Idea of Fiction, Columbus 2007. 21 A. Koschorke, S. 332.

3.1 Die Entdeckung des faktualen Erzählens |

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Eine sprachpragmatische Unterscheidung von ‚Fakt und Fiktion‘ betont demnach, dass ein Zeichen (oder ein Zeichenkomplex wie eine Erzählung) immer in einen kommunikativen Kontext eingeordnet werden muss. Als Teil einer Kommunikation wird das sprachliche Zeichen in Bezug zu einer Produktionsseite und zu einer Rezeptionsseite gesetzt: Jemand produziert ein Zeichen und jemand rezipiert dieses Zeichen. Innerhalb dieses kommunikativen Kontextes kann etwa eine Erzählung als faktual oder als fiktional eingeordnet werden. Dies gilt für die Produktions- wie für die Rezeptionsseite, wobei keine Seite der anderen vorgeschaltet werden muss. Eine Erzählung kann unabhängig davon als fiktional oder faktual rezipiert werden, welche Signale von der Produktionsseite über Faktualität oder Fiktionalität der Erzählung gesendet werden. Dennoch wird die Rezeption eines sprachlichen Zeichens von der Einordnung auf der Produktionsseite beeinflusst, sofern diese aus dem Kommunikationskontext heraus erkenntlich ist. Die sprachpragmatische Definition der Bereiche ‚Fakt und Fiktion‘ betont damit, dass die Bedeutung eines Zeichens oder Zeichenkomplexes in eine (Meta-)Kommunikation eingebunden ist, in welcher die Kontextualisierungsmöglichkeiten des Zeichens diskutiert werden. Beansprucht etwa die Autorin einer Erzählung, mit dieser eine korrekte Aussage über die außersprachliche Wirklichkeit zu machen, so ist dies für die Rezeption von kommunikativem Wert, ganz abgesehen von der Frage, ob diese vorgeschlagene faktuale Lesart in der Rezeption übernommen wird. Dennoch kann auch eine solche als faktual postulierte Erzählung immer fiktional, das heißt: unabhängig von der Referenz auf eine außersprachliche Wirklichkeit, gelesen werden. In einer faktualen Lesart ist eine tatsächliche Überprüfung der Richtigkeit der als faktual angenommen Aussage nicht zwingend nötig und in vielen Kommunikationssituationen auch nicht direkt möglich. Einige Aussagen können auf Rezeptionsseite direkt an Erfahrungen in der Alltagswirklichkeit geprüft werden. In der Rezeption werden jedoch auch Aussagen als faktual akzeptiert, die nicht aus eigener Erfahrung nachvollzogen werden können. Diese werden im Vertrauen auf ein textuell verbürgtes Expertenwissen als faktual angenommen, von dem vorausgesetzt wird, dass in ihm die Korrektheit der Aussage nachvollzogen werden könnte (vgl. 4.1.2).²² Eine so definierte Faktualität von Erzählungen bezieht sich demnach auf eine Kommunikationssituation, in der von der Verifizierbarkeit des Erzählten ausgegangen wird. Eine als faktual eingordnete Erzählung wird innerhalb eines geteilten Alltags- oder Expertenwissens über Wirklichkeit rezipiert oder produziert, während die Einordnung einer Erzählung als fiktional nicht be-

22 Zu Alltagswirklichkeit und Expertenwissen als Möglichkeiten, den Bezugspunkt „Wirklichkeit“ im sprachpragmatischen Zusammenhang zu definieren, siehe F. Zipfel, S. 69-76.

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ansprucht, eine bereits durch Erfahrungen oder gespeichertes Wissen bekannte Wirklichkeit darzustellen. Für den Argumentationszusammenhang dieser Arbeit ist es wichtig festzuhalten, dass die Entscheidung, eine Erzählung als faktual oder als fiktional einzuordnen, von sehr unterschiedlichen Kriterien ausgehen kann. Wird eine Erzählung aufgrund ihres Gegenstandes als faktual oder fiktional bestimmt, definiert sich faktuales Erzählen durch seinen Bezug zur Wirklichkeit (Referenz) während sich fiktionales Erzählen seinen Gegenstand erst durch den Erzählvorgang erschaffen muss (Inferenz). Die Feststellung, dass auch das faktuale Erzählen auf die Konstruktion seines Gegenstandes durch den Erzählvorgang angewiesen ist, kann dazu führen, ihm die Referenzfunktion abzusprechen und es wie das fiktionale Erzählen auf inferentielle Bezüge zu beschränken. Es kann jedoch auch davon ausgegangen werden, dass sich das faktuale wie das fiktionale Erzählen als sprachliche Zeichengebilde nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden. Referenz und Inferenz schließen sich dann nicht aus: Ihr Zusammenspiel prägt sowohl faktuales als auch fiktionales Erzählen. Im sprachpragmatischen Kontext wird jedoch gerade deswegen eine Unterscheidung von Faktualität und Fiktionalität um so wichtiger: In der Einordnung einer Erzählung als faktual tritt – innerhalb der Kommunikationssituation – ihre referentielle Funktion in den Vordergrund, während die Einordnung als fiktional die inferentielle Funktion betont.

3.1.3 Signalisierung faktualen Erzählens Eine sprachpragmatische Kontextualisierung macht ‚Fakt und Fiktion‘ zu relativen Größen, die im jeweiligen Kommunikationskontext gültig sind. Es gibt keine absoluten Eigenschaften, aufgrund derer sich eine Erzählung als faktual oder fiktional einordnen ließe. Daraus folgt, dass Faktualität oder Fiktionalität einer Erzählung immer zur Diskussion stehen: Der faktuale oder fiktionale Status einer Erzählung ist verhandelbar. Nichtsdestotrotz spielen bei der Verortung einer Erzählung als faktual oder fiktional bestimmte mehr oder weniger konventionalisierte Signale eine Rolle, die keine eindeutigen Hinweise auf Faktualität oder Fiktionalität einer Erzählung sind, die Einordnung aber in eine bestimme Richtung lenken können. Dabei geht es um Hinweise in der und um die Erzählung herum, die produktionsseitig nach bestimmten, historisch schwankenden Konventionen die faktuale Lesart einer Erzählung nahelegen sollen, ohne dass dies die Faktualität der Erzählung festlegen oder eine faktuale Lesart erzwingen

3.1 Die Entdeckung des faktualen Erzählens |

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könnte.²³ Diese Hinweise und unterschiedlichen Möglichkeiten, einer Erzählung Gestalt zu geben, ändern nichts am Zusammenspiel von Referenz und Inferenz als Grundlage ihrer Struktur (vgl. 3.1.2). Sie können jedoch eine auf Referenz oder auf Inferenz gerichtete Lektüre begünstigen. Als Pionier in der Beschreibung des faktualen Erzählens kritisiert Gérard Genette in seiner Studie Fiktion und Diktion, dass der Forschungszweig der Narratologie sich des faktualen Erzählens nicht ausführlich genug angenommen habe.²⁴ Auch wenn sich Fiktion und Diktion schwerpunktmäßig die Bestimmung von Literarität zum Ziel setzt und Fiktionalität dabei als ein Kriterium einsetzt, wird eine der Studien den narratologischen Unterschieden zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen gewidmet.²⁵ Die Inventarisierung des faktualen Erzählens geschieht bei Genette mit dem wichtigen Hinweis darauf, dass die Fiktionalität oder Faktualität einer Erzählung sich nicht allein aufgrund von spezifischen Eigenschaften der Erzählung bestimmen lasse.²⁶ Als zusätzliche bestimmende Faktoren nennt er die paratextuellen und thematischen Elemente. Letztlich bezieht er die Bestimmung als faktual oder fiktional somit auf die Ebene des Erzählens (erzählerische Spezifika), das Erzählte (thematische Elemente) und den Kontext der Erzählung (paratextuelle Elemente).²⁷ Ein thematisch auf Fiktivität verweisendes Element wäre eine unwahrscheinliche Aussage. Genette führt als Beispiel die Aussage „Die Eiche sagte eines Tages zum Schilfrohr“ an.²⁸ Bei der Einordnung dieser Aussage als fiktional kommt die Konzeptualisierung der Alltagswirklichkeit als Bezugspunkt, der über das Erfahrungswissen des Lesers oder der Leserin gesteuert wird, zum Tragen (vgl. 4.1.2).

23 An dieser Stelle geht die hier vertretene sprachpragmatische Perspektive in eine Unterscheidung von Fiktionalität und Faktualität aufgrund textueller Eigenschaften über. Obwohl die Einbindung der Texte in eine Kommunikationssituation die Veränderbarkeit textueller Signale betont, sind diese (und nicht etwa die Produktions- oder Rezeptionssituation der besprochenen Texte) für die Analysen dieser Studie ausschlaggebend. Empirische Rezeptionsforschungen müssten die tatsächliche Wirksamkeit solcher Signale bei heutigen Leserinnen und Lesern, aber auch bei Autorinnen und Autoren, weiter erforschen. Die vorliegende Studie beansprucht in dieser Hinsicht keine Repräsentativität: Die Analysen stellen als an textuellen Eigenschaften orientierte ‚close readings‘ letztlich lediglich eine Lektüre unter vielen möglichen dar, die etwa in Bezug auf Illusionsbildung und -störung immer nur Hypothesen über die Wirkung textueller Signale bildet und keinen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen bestimmten Textstrukturen und bestimmten rezeptionsästhetischen Wirkungen einfordert. 24 Gérard Genette, Fiktion und Diktion, übersetzt von Heinz Jatho, München 1992, S. 65–68. 25 G. Genette, Fiktion und Diktion, S. 41–64. 26 G. Genette, Fiktion und Diktion, S. 92. 27 Hier ist im engeren Sinne der Peritext gemeint, vgl. 6.2.1. 28 G. Genette, Fiktion und Diktion, S. 89–90.

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Umgekehrt lässt sich von der Ebene des Erzählten auf das faktuale Erzählen nicht ebenso leicht schließen, da fiktionale Erzählungen nicht per se unsere Wirklichkeitsvorstellungen fundamental in Frage stellen müssen. Beim fiktionalen Erzählen ist also davon auszugehen, dass es wahrscheinliche und unwahrscheinliche Elemente enthalten kann. Doch auch beim faktualen Erzählen kann es sein, dass die Erwartung, dass es wahrscheinliche Elemente enthält, dadurch unterlaufen wird, dass auch völlige unwahrscheinliche Sachverhalte Faktizität beanspruchen können (vgl. 7.3.2).²⁹ Thematische Hinweise auf die Fiktionalität oder Faktualität einer Erzählung sind stark kontextgebunden und hängen vom jeweiligen Alltagsund Expertenwissen einer Produktions- und Rezeptionssituation ab. Als Gradmesser für Faktualität beziehungsweise Fiktionalität sind sie also weniger gut operationalisierbar. Im Folgenden sollen daher vor allem textuelle (in diesem Falle narrative) und paratextuelle Merkmale typischer faktualer Erzählungen beschrieben werden, die auch Christian Klein und Matías Martínez als wesentlich für die Bestimmung von „Wirklichkeitserzählungen“ nennen.³⁰ Einige Signale für faktuales Erzählen sind entweder auf der textuellen oder auf der peritextuellen Ebene angesiedelt, andere verbinden beide Ebenen miteinander. Im Paratext, speziell im Peritext (zum Beispiel dem Titelblatt eines Romans),³¹ wird die Kommunikationssituation etabliert, von der aus eine Erzählung eingeordnet wird. Im Umfeld der als Text vorliegenden Erzählung können Hinweise auf die Textsorte (zum Beispiel ‚Reportage‘) oder auf die Erzählinhalte (so kann etwa der Hinweis in einer Fußnote, dass Namen geändert wurden, implizit darauf verweisen, dass die Personen, über welche erzählt wird, unter ‚echtem‘ Namen real existieren) auf den unterstellten Realitätsbezug einer Erzählung verweisen. Ein Text und Paratext verbindendes Element ist der Autorname. Bezeichnet er im Peritext den Urheber des Textes und ist gleichzeitig der Name des Erzählers in der Erzählung selbst, deutet diese Übereinstimmung der Namen darauf hin, dass die Erzählung „Teil einer realen Kommunikation [ist] und [...] aus Sätzen [besteht], die vom Leser als wahrheitsheischende Behauptun-

29 So könnte, um ein Beispiel zu nennen, der thematische Hinweis auf „Flügelanzüge“, die es Menschen möglich machen, zu fliegen, schnell als fiktives Element verstanden werden und zur Klassifizierung einer Erzählung als fiktional führen. Wingsuitdiving ist indes eine aktuell bestehende Trendsportart und somit ein faktisches Element – den Erzählgepflogenheiten faktualen Erzählens entsprechend soll auch an dieser Stelle die Faktizität des Wingsuitdiving durch den Verweis auf eine Quelle belegt werden: Wingsuit Skydiving Team. In: flylikebrick.com, Web, 10. März 2014. 30 C. Klein und M. Martínez, S. 3. 31 Zu den Begrifflichkeiten in Bezug auf den Paratext vgl. Genettes Definitionen in 6.2.1.

3.1 Die Entdeckung des faktualen Erzählens |

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gen des Autors [...] verstanden werden“.³² In Bezug auf Lejeune könnte hier von einem „faktualen Pakt“ gesprochen werden.³³ Durch die Namensübereinstimmung zwischen Erzähler im Text und Autor im Peritext wird der Abstand des Textes gegenüber seinem Urheber möglichst klein gehalten. Auch ohne Namensübereinstimmung wird das faktuale Erzählen oft so aufgefasst, dass der Autor der Erzähler des Textes ist. Der Autor entzieht sich nicht wie in der Fiktion seiner Verantwortung für das Ausgesagte beziehungsweise Erzählte, indem er einen Erzähler imaginiert und dessen Worte lediglich „zitiert“ wie in der Fiktion.³⁴ Es ist für eine Erzählung, die beansprucht, Nichterfundenes zu berichten, nicht konsequent, die Erzählinstanz, welche diese nachprüfbaren Wirlichkeitsaussagen hervorbringt, zu erfinden, da dies den Wirklichkeitsgrad der Aussage kompromittiert. Hier lässt sich ein wesentlicher Unterschied in der Einordnung faktualer und fiktioner Erzählungen in Bezug auf ihre erzählerische Gestaltung festhalten: In einer den Konventionen entsprechenden Produktionsund Rezeptionssituation wird fiktionalen Erzählungen unterstellt, erzählerisch „komplexer“ zu sein als faktuale Erzählungen, weil sie „außer der realen auch noch eine zweite, imaginäre Kommunikationssituation gestalten. In dieser zweiten Situation kommt ein erfundener Erzähler zu Wort“.³⁵ Umgekehrt lässt sich in Bezug auf das faktuale Erzählen schließen, dass eine erfundene extradiegetische Erzählinstanz als eine Art Ausschlusskriterium in der Einordnung einer Erzählung als faktual gelten kann. Die Durchlässigkeit auch dieser Unterscheidung wird darin deutlich, dass nach geltenden Konventionen eine faktuale Erzählung nicht von einer erfundenen Erzählinstanz ausgeht, jedoch eine fiktionale Erzählung nicht unbedingt eine erfundene Erzählinstanz aufweisen muss und sich auch ‚unkomplexer‘ Erzählstrategien bedienen kann. Die Namensübereinstimung von Autor und Erzähler demonstriert eine Art, für die ‚Niedrigschwelligkeit‘ einer Erzählung zu sorgen. Durch sie wird die Hürde, die genommen werden muss, um die Erzählung zu lesen, klein gehalten: Es handelt sich um eine „einfache“ Kommunikationssituation, nicht um eine komplexe Konstruktion, bei der die Lesenden Worten folgen, die der Autor jemand anderem, der noch dazu fiktiv ist, zuschreibt (eine „kommunizierte Kommunikation“).³⁶ Unabhängig davon, ob Ich-Zeichen in der Erzählung auftauchen (so ist etwa in bestimmten wissenschaftlichen Diskursen das Auftauchen von Verweisen auf den Erzähler/Autor verpönt), vereinfacht es die Einordnung einer Erzäh-

32 33 34 35 36

C. Klein und M. Martínez, S. 2. C. Klein und M. Martínez, S. 3. C. Klein und M. Martínez, S. 2. C. Klein und M. Martínez, S. 2. C. Klein und M. Martínez, S. 2.

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lung als faktual, wenn sie einem Autor beziehungsweise einer Autorin möglichst direkt zugeschrieben werden kann. Gerade durch diese Rückbindung an Autor beziehungsweise Autorin wird eine Überprüfbarkeit des Gesagten garantiert, da der Autor Teil der Erfahrungs- und Wissensgemeinschaft ist und die ihm zugeschriebenen Aussagen in diesem Erfahrungs- und Wissensfeld verankert werden können. Auch durch Verweise auf Quellen und Literatur innerhalb der Erzählung wird auf die Verankerung des Erzählten im intersubjektiv geteilten Erfahrungsund Wissensvorrat verwiesen, wobei wieder in den meisten Fällen Namen für die Glaubwürdigkeit des Realitätsbezuges einstehen müssen. In Roland Barthes Beschreibung (traditionellen) historischen Erzählens charakterisiert er eine Erzählform, in der alle Verweise auf eine Erzählinstanz getilgt werden, um so den Eindruck zu erwecken, die beschriebene Wirklichkeit teile sich unmittelbar selbst mit, ohne auf das Hindernis eines vermittelnden Erzählers zu stoßen (vgl. 3.2.2). Dieses scheinbare Ausschalten einer Erzählinstanz markiert eine extreme Form der Inszenierung von Niedrigschwelligkeit, die über die Simulation einer direkten Kommunikation mit dem Autor hinausgeht: In dieser Inszenierung kommuniziert die Wirklichkeit sich selbst, ohne den ‚Umweg‘ über den Autor. Das historische Erzählen in Barthes Darstellung inszeniert sich also als eine Erzählung, die sich selbst vergessen machen will, um ihren Wirklichkeitsbezug herauszustellen. Weitere Faktualitätssignale innerhalb von Erzählungen zielen ebenfalls auf die Inszenierung einer gewöhnlichen Sprachhandlung. Genette durchläuft die verschiedenen Kategorien seines erzähltheoretischen Apparates und findet in Bezug auf Ordnung, Schnelligkeit und Frequenz (zeitliche Strukturierung der Erzählung) keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem faktualen und dem fiktionalen Erzählen.³⁷ Dafür identifiziert er im Bereich des Modus wesentliche Unterschiede zwischen dem faktualen und dem fiktionalen Erzählen: Für ihn definiert sich die faktuale Erzählung dadurch, dass sie sich ein wesentlich niedrigeres Maß an Subjektivierungsstrategien, vor allem ablesbar am Gebrauch der internen Fokalisierung von Figuren, erlaube.³⁸ Die faktuale Erzählung neige also eher zur externen Fokalisierung, auch wenn interne Fokalisierung in dem Maße möglich sei, in dem die beschriebenen Gedanken und Gefühle einer Figur nachweisbar seien.³⁹ Wie Klein und Martínez ausführen, eigne sich die faktuale Erzählung nicht für den traditionellen „allwissenden“ Erzähler (Genette spricht von Nullfokalisierung), da dieses Maß an Allwissendheit für einen mit einer rea-

37 G. Genette, Fiktion und Diktion, S. 69–75. 38 G. Genette, Fiktion und Diktion, S. 75–79. 39 G. Genette, Fiktion und Diktion, S. 77.

3.1 Die Entdeckung des faktualen Erzählens |

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len Person identifizierten Erzähler unrealistisch sei.⁴⁰ Die Selbstbeschränkung in der Fokalisierung kann also als Mittel der faktualen Erzählung gewertet werden, eine Verbindung zwischen Erzählinstanz der Erzählung und Autor und damit Glaubwürdigkeit herzustellen. Eine ‚illegitime Nähe‘ zum Erzählten kommt auch im szenischen Erzählen zum Tragen, das in dieser Arbeit dementsprechend als ein eher dem fiktionalen Erzählen zuneigender Modus präsentiert wird (vgl. 4.2). Im Bereich der „Stimme“ nach Genettes Erzähltheorie macht sich der Anspruch der faktualen Erzählung, eine natürliche Erzählsituation zu kreieren, besonders bemerkbar. Genette wertet das intradiegetische Erzählen immer als ein „plausibles Fiktionalitätsindiz“, weil es in seiner Verschachtelung der Erzählsituation von der natürlichen Kommunikation abweiche. Die faktuale, speziell die historische Erzählung verbiete „einen allzu massiven Gebrauch der Narration zweiten Grades: Ein Historiker [...], der es einer seiner ‚Personen‘ überließe, einen wichtigen Teil der Erzählung vorzutragen, ist schwer vorstellbar“.⁴¹ Ob intradiegetisches Erzählen als Fiktionalitätsindikator gelten kann, bleibt zumindest in Hinblick auf das historische Erzählen fraglich: Wie diese Studie in der Analyse von populären Geschichtserzählungen aufzeigt, wird im historischen Erzählen gerade durch das Zitieren von Augenzeugen und Quellen höhere Glaubwürdigkeit erzeugt (vgl. 8.3.3). In der Inventarisierung von (para-)textuellen Eigenschaften des faktualen Erzählens wird deutlich, dass faktuales Erzählen nicht länger als die neutrale Nullposition des Erzählens betrachtet werden kann, von der das fiktionale Erzählen abweicht. Das faktuale Erzählen ist auch keine Unterform des fiktionalen Erzählens, sondern ein eigener Erzählstil mit eigenen Verfahren. Als Haupteigenschaft von Faktualität als narrativer Strategie im klassischen Sinn lässt sich ein niedrigschwelliges Erzählen identifizieren. Dies bedeutet, dass die faktuale Erzählung die Sicht der Lesenden möglichst wenig darauf lenkt, dass und wie erzählt wird. Das faktuale Erzählen inszeniert sich als ‚natürlich‘ und als im Gegensatz zum fiktionalen Erzählen ‚ungekünstelt‘. Die faktuale Erzählung soll nicht durch einen komplexen erzählerischen Aufbau davon ablenken, dass der Text als Teil einer möglichst direkten Kommunikation zwischen Autor beziehungsweise Autorin und Lesepublikum der Übermittlung von überprüfbaren Informationen dient. Dennoch bedeutet dies nicht, dass es narratologisch über dieses ‚Erzählen auf kleiner Flamme‘ nichts zu sagen gebe. In einer Umkehrung von Käte Hamburgers Dichtungsdefinition kann zusammenfassend sowohl in Bezug auf den Text als auch auf den Peritext festgehalten werden, dass faktuales Erzählen eben nicht

40 C. Klein und M. Martínez, S. 3. 41 G. Genette, Fiktion und Diktion, S. 79.

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mit den gewöhnlichen Verfahren der Sprache bricht, sondern gerade „Wirklichkeitsaussagen“,⁴² authentische Sprechakte, hervorbringen will, die auf eine reale und bestimmte Ich-Origo verweisen.

3.2 Historisches Erzählen als Prototyp faktualen Erzählens 3.2.1 Historisches Erzählen bei Aristoteles In der Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeitsanspruch von Erzählungen fällt auf, dass dem historischen Erzählen oft eine beispielhafte Funktion zukommt. Es scheint, dass die dem historischen Erzählen immer wieder attestierte ‚Abwesenheit ‘ des Referenten (vgl. 3.3.1), der, salopp gesagt, in der Vergangenheit abhanden gekommen ist, es in besonderer Weise qualifiziert, faktuales Erzählen zu repräsentieren. Das beispielhafte Heranziehen des historischen Erzählens gilt dabei ebenso für kritische Perspektiven auf faktuales Erzählen, wie für Positionen, die bedenkenlos vom faktualen Erzählen ausgehen. So spielt in Aristoteles’ berühmten Diktum, nach dem „der Geschichtsschreiber und der Dichter [sich dadurch] unterscheiden [...] , daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte“,⁴³ die Problematisierung der Geschichtsschreibung beziehungsweise wirklichkeitsbezogenen Erzählens keine Rolle. Aristoteles geht es nicht um die Geschichtsschreibung, diese dient ihm viel mehr als Kontrastfolie, um die Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung als Hervorhebung des Möglichen und Allgemeinen zu profilieren. Die Möglichkeit wirklichkeitsbezogenen, faktualen Erzählens wird also selbstverständlich voraus- und die Geschichtsschreibung als ein besonders einleuchtendes Beispiel für diese Erzählform pars pro toto eingesetzt. Bei der Gleichsetzung des historischen mit dem faktualen Erzählen schlechthin spielt die unterstellte Abwesenheit der vergangenen Wirklichkeit als Bezugspunkt historischen Erzählens eine wesentliche Rolle: Erst durch diese ‚Abwesenheit‘ kann im Rahmen einer traditionellen Auffassung der ‚für sich selbst sprechenden Fakten‘ die Notwendigkeit, im faktualen Zusammenhang erzählen zu müssen, überhaupt erst anerkannt werden. Im historischen Erzählen wird also plausibel, was eigentlich für das faktuale Erzählen insgesamt gilt: Der Erzählgegenstand ist eben auch im faktualen Erzählen nur in Form der Erzählung und nicht ‚wirklich‘ anwesend. Dies leuchtet beim

42 Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, 4. Aufl., Stuttgart 1994, [1957], S. 43–52. 43 Aristoteles, Poetik, 9. Abschnitt (1451a–1451b), zitiert nach Aristoteles, Poetik: Griechisch/Deutsch, hg. von Manfred Fuhrmann, übersetzt von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, S. 29.

3.2 Historisches Erzählen als Prototyp faktualen Erzählens |

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historischen Erzählen in besonderer Weise ein, weil sich die ‚Vergangenheit‘, etwa im Gegensatz zu Krankheitssymptomen in Patientenberichten,⁴⁴ dadurch auszeichnet, zum Zeitpunkt des Erzählens schon nicht mehr anwesend zu sein. Insofern beruht die Exemplifizierung des faktualen Erzählens durch das historische Erzählen auf einem Missverständnis, ist doch im historischen Erzählen das unterstellte wirkliche Äquivalent zum Erzählgegenstand nicht abwesender als in anderen Formen des faktualen Erzählens. Dadurch aber, dass der Geschichtsschreibung die Notwendigkeit, zu erzählen, ‚trotz‘ ihres Wirklichkeitsbezugs zuerkannt wird, kann sie erst dem ‚literarischen‘, fiktionalen Erzählen als Gegenstück dienen: Beide teilen laut Aristoteles Geschehen mit, was außerhalb der Darstellungsform der Erzählung sprachlich kaum möglich ist, aber entlang der Trennlinie des Wirklichen und Möglichen. Geschichtsschreibung und Literatur ähneln sich also in diesem Vergleich überhaupt erst genug, um eine Differenzierung etablieren zu können. In der Unterscheidung wirklich/möglich wird die Referenz auf die außersprachliche Wirklichkeit zum entscheidenden Kriterium, formale Eigenschaften der Erzählungen sind demgegenüber bei Aristoteles belanglos: „Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse.“⁴⁵ Wenn Aristoteles die Dichtung trotz oder gerade wegen ihrer ‚fehlenden‘ Referenz als ernst zu nehmende Darstellung rehabilitiert, dann geschieht dies im Verweis auf ihren ‚experimentellen‘ Charakter: „Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“⁴⁶ Während sich das Mitteilen des Besonderen in der Geschichtsschreibung auf ein geradezu banales Beschreiben beschränkt („Das Besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder was ist ihm zugestoßen“⁴⁷), wird die Mitteilung des Allgemeinen in der Dichtung anspruchsvoll durch den Aufbau einer Versuchsanordnung nach „Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“.⁴⁸ Im ‚einfachen‘ Nachzeichnen wirklicher Gegebenheiten hebt Aristoteles die referentielle Dimension der Ge-

44 Brigitte Boothe, Erzählen im medizinischen und psychotherapeutischen Diskurs. In: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Weimar 2009, S. 51–80. 45 Aristoteles, 9. Abschnitt (1451a–1451b). 46 Aristoteles, 9. Abschnitt (1451a–1451b). 47 Aristoteles, 9. Abschnitt (1451b). 48 Aristoteles, 9. Abschnitt (1451a–1451b).

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schichtsschreibung hervor, während sich die nach eigenen Regeln konstruierende Dichtung mehr durch inferentielle Bezüge definiert. Diese Charakterisierung der Geschichtsschreibung als ‚bloßes‘ Verfolgen des wirklich Geschehenen handhabt eine derart selbstverständliche Auffassung vom Übergehen der Wirklichkeit in Erzählungen, dass sie nicht ohne Widerspruch blieb. Allerdings führte der nachdrückliche Hinweis auf die Erzählleistung der Geschichtsschreibung nicht zu ihrer Aufwertung, sondern musste ihr Neutralität und Unmittelbarkeit als Grunderwartungen an Faktualität entziehen. Auch in den kritischen Auseinandersetzungen mit dem historischen Erzählen dient diese Erzählform als Beispiel für das faktuale Erzählen insgesamt. Auch hier ist es der abwesende Referent, der das Augenmerk auf die Geschichtsschreibung als Erzählung lenkt. Allerdings dient Geschichtsschreibung nun nicht mehr als vorausgesetzte Kontrastfolie zum fiktionalen Erzählen, sondern wird ihm einverleibt, indem die Unterscheidbarkeit von fiktionalem und faktualen Erzählen aufgrund von Referenz angezweifelt wird. Wo Aristoteles durch die Unterscheidung des Erzählens von Möglichem und Wirklichem dem fiktionalen Erzählen der Literatur überhaupt erst eine Position neben dem faktualen Erzählen einräumt, wird diese Unterscheidung im zwanzigsten Jahrhundert wieder aufgehoben, dieses Mal jedoch nicht wie zuvor zugunsten des faktualen, sondern des fiktionalen Erzählens.

3.2.2 Historisches Erzählen bei Roland Barthes und Hayden White 1967 verfasste Roland Barthes mit „Die Historie und ihr Diskurs“ eine kleine Studie des historischen Erzählens. Darin legt er die eigentümliche Dynamik historischen Erzählens offen: Er beschreibt die historische Erzählung als ein so komplexes wie fragiles Konstrukt, das an Schizophrenie grenzende Anstrengungen unternimmt, den Eindruck von Einfachheit und Sicherheit zu produzieren. Barthes vergleicht diese Disposition der historischen Erzählung mit literarischen Texten des Realismus (und vollzieht damit die Gleichsetzung von faktualem mit fiktionalem Erzählen). Schon der Titel des Aufsatzes, der mit den narratologischen Begriffen der „histoire“ und des „dicours“ spielt, verweist auf die Hauptthese Barthes’, nach der das „Was?“ der Geschichte trotz eines diesen Umstand verleugnenden Diskurses durch das „Wie?“ gesteuert wird, dass Geschichte also erst dort entsteht, wo „[d]er Historiker [...] Fakten als Be-deutendes sammelt und wiedergibt, d.h. [...] mit dem Ziel ordnet, einen positiven Sinn herzustel-

3.2 Historisches Erzählen als Prototyp faktualen Erzählens |

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len“.⁴⁹ Barthes streicht die inferentielle Funktion des historischen Erzählens vor seiner referentiellen Funktion heraus. Dementsprechend schlussfolgert Barthes, dass es sich beim historischen Diskurs um einen verfälschten performativen Diskurs handele, der sich auf den „Effekt des Realen“ stütze. Wie in der Fotografie verdränge der Gestus des „Das ist geschehen“ das Bedeutete und scheine sich direkt auf das Bezugsobjekt zu beziehen.⁵⁰ In seiner Offenlegung des historischen Erzählverfahrens deckt Barthes zugleich eine komplexe Struktur der Bedeutungszuweisung, der Produktion von Ideologie beziehungsweise Imaginärem auf, die diesem scheinbar einfachen und wahrhaftigen Erzählen zugrunde liege. Mit der erzählerischen Strukturierung des historischen Materials setze sofort die Reibung zwischen der „Papierzeit“ der Entstehung der Erzählung und der historischen Zeit, die sie behandelt, ein. Ihr werde mit „Umschaltelementen“ begegnet, die zwischen beiden Zeiten vermitteln (etwa den Abstand zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit durch Raffung des Erzählten kompensieren).⁵¹ Eine besondere Eigenschaft der historischen Erzählung laut Barthes ist zudem, dass explizite Absenderzeichen getilgt werden, also „der Aussagende sich aus seinem Diskurs ‚heraushalten‘ will und [...] folglich ein systematischer Mangel an Zeichen auftritt, die auf den Absender der historischen Botschaft (message) zurückverweisen könnten“.⁵² Das auf diese Weise konstruierte „objektive Subjekt“ erzeuge also die „Referenzillusion, [...] da der Historiker hier vorgibt, das Bezugsobjekt (référent) ganz allein sprechen zu lassen“.⁵³ Durch den Mangel an Zeichen, die auf einen Absender hinweisen, solle „die Historie sich selbst erzählen“.⁵⁴ Der bei Barthes gebrauchte Begriff der „Referenzillusion“ wird im Kontext dieser Studie noch weiter ausgeformt. Die bei Barthes angelegte Definition der Referenzillusion als Erzählverfahren, das möglichst wenig auf den Erzählvorgang selbst verweist und dadurch seinen Wirklichkeitsbezug betont, bleibt dabei Ausgangspunkt. Auch auf der Ebene des Erzählten scheint das Referenzobjekt Barthes zufolge die Erzählung zwingend zu steuern: Die erzählten historischen Inhalte genießen ein „Privileg des Seins“: „Man erzählt, was gewesen ist; nicht, was nicht oder was zweifelhaft gewesen ist.“⁵⁵ Die historische Erzählung versucht also den ihr zugrunde liegenden Selektionsvorgang zu verbergen.

49 R. Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, S. 179. 50 R. Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, S. 180. 51 R. Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, S. 172–175. 52 R. Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, S. 174–175. 53 R. Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, S. 175. 54 R. Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, S. 175. 55 R. Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, S. 177.

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Hayden White betont die inferentielle Dimension des historischen Erzählens noch stärker. Er beschreibt, dass auch im historischen Erzählen das Kombinieren und Strukturieren des Erzählten in der Erzählung nicht an die repräsentierte Wirklichkeit, sondern an in der Sprache gegebene Strukturen gebunden sei. In seinem Werk Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, der wohl einflussreichsten Studie des zwanzigsten Jahrhunderts zum historischen Erzählen, verdeutlicht er dies so: „I will consider the historical work as what it most manifestly is – that is to say, a verbal structure in the form of a narrative prose discourse that purports to be a model, or icon, of past structures and processes in the interest of explaining what they were by representing them.“⁵⁶ White weist nach, dass es auch im historischen Erzählen keine neutrale Form der Repräsentation gibt, sondern jegliche narrative Repräsentation immer schon mit einer Positionierung gegenüber dem Repräsentierten einhergeht und dabei an sprachliche Strukturen gebunden ist. Auch für Whites Ansatz ist der bei Barthes angeklungene anachronistische Charakter der Geschichtsschreibung wichtig. Schon durch den Umstand, dass Vergangenheit ein Objekt der Betrachtung wird, schleiche sich laut White ein erster Anachronismus in die Geschichtsschreibung ein: Vergangene Ereignisse würden von einer gegenwärtigen Warte aus gesehen, die – etwa in der verwendeten Begrifflichkeit – immer schon ein der erzählten Zeit nicht eigenes Wissen in die Erzählung transportiert. Durch dieses Vorwissen ist es Historikerinnen und Historikern also niemals möglich, die neutrale Position unwissender Teilnehmender einzunehmen.⁵⁷ White fokussiert zudem den Argumentationszusammenhang einer Erzählung. Auch hier gilt: Weil die historischen ‚Fakten‘ sowohl konstruiert als auch in den Argumentationszusammenhang einer Erzählung gestellt werden müssen, sind sie letztlich Teil eines gegenwärtigen Diskurses. So wird ein direkter Bezug zur Vergangenheit unmöglich, da vergangene Ereignisse nicht unabhängig von der Sprache beschrieben werden können. Die der Sprache beziehungsweise der Erzählung inhärente Tiefenstruktur, eine Art Poetik historischer Stile, bestimmt also immer das Bild, welches von der Vergangenheit gezeichnet wird. White leitet daraus unter anderem ab, dass auch der Geschichtsschreibung eine begrenzte Anzahl von Formen für die erzählte historische ‚Handlung‘ zur

56 H. White, Metahistory, S. 2. Teile der Skizzierung von Whites Theorien zum historischen Erzählen sind meinem Artikel „Zeichne die Veränderung der Dinge“ entnommen, vgl. Beatrix van Dam, ‚Teken de wisseling der dingen‘. Textuelle Verarbeitung von Vergangenheit in Geert Maks Het Stadspaleis. In: An der Schwelle. ‚Eigen‘ und ‚Fremd‘ in der niederländischen Literatur, hg. von Herbert van Uffelen, Wien 2010, S. 163–177. 57 Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, übersetzt von Annegret Böttner, Beiträge zur Geschichtskultur 13, Köln 1997, S. 364.

3.2 Historisches Erzählen als Prototyp faktualen Erzählens |

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Verfügung stehe. Er beschreibt historische Erzählungen mit den literaturwissenschaftlichen Kategorien von Northrop Frye und suggeriert damit, dass sie ganz ähnlich wie literarische Erzählungen funktionieren, auch wenn sie andere Inhalte behandeln. Die Erzählmöglichkeiten historischer Erzählungen sind mit Whites Analyseinstrumentarium sehr festgelegt. So lässt sich laut White bei jeder historischen Erzählung bestimmen, welcher „poetische Akt“ der Geschichte zugrunde liege. Unter dem „poetischen Akt“ versteht White das „linguistische Protokoll“ der Erzählung – die erzählerische Grundstruktur, die das historische Feld vorstrukturiert und so den Bereich absteckt, auf dem eine Erklärung für das entwickelt werden kann, was nach Ranke ‚eigentlich geschehen‘ ist.⁵⁸ Dafür stehen laut White vier bekannte Tropen zur Verfügung: Synekdoche, Metapher, Metonymie und Ironie. Aus der Tatsache, dass eine dieser Tropen jede historische Erzählung vorstrukturiert, ergeben sich weitere Konsequenzen für die Ausgestaltung der jeweiligen Erzählung, für die White drei zusätzliche Kategorien vorsieht. Die im historischen Datenmaterial vorgefundenen Ereignisse können auf vier verschiedene Weisen (Romanze, Tragödie, Komödie oder Satire) miteinander verknüpft werden („emplotment“). Die Kategorie „formal argument“ (formativistisch, mechanistisch, organizistisch oder kontextualistisch) gibt an, wie die Geschichte interpretiert wird, und die Kategorie „ideological implication“ (anarchistisch, radikal, konservativ und liberal) schließlich verdeutlicht, wie die Ergebnisse der historischen Beweisführung an die Gegenwart gekoppelt werden. Whites Kategorien können hier nicht erschöpfend ausgeführt werden, allerdings leistet einer der im Rahmen dieser Arbeit besprochenen literarischen Texte eine Diskussion der Auswirkungen, welche die verschiedenen Möglichkeiten des Bezugs vom Teil zum Ganzen im „formal argument“ auf eine Erzählung haben können (vgl. 6.3.2). Mit White ist der Nachweis geführt, dass auch im historischen Erzählen – und dieses wird hier wiederum als exemplarisch für faktuales Erzählen verstanden – das Erzählen keine neutrale Repräsentationsform, sondern ein Deutungsmuster darstellt, in dem Deutungsstrukturen schon angelegt sind. Für das Erzählen als komplexe Form des Zeichengebrauchs gilt demnach, was für Zeichensysteme allgemein gilt: Sie funktionieren nach inneren Gesetzmäßigkeiten, „ohne dass jeder sprachlichen Operation ein Korrelat in der außersprachlichen Wirklichkeit zukommt“.⁵⁹ Ob die inneren Gesetzmäßigkeiten der Erzählung derart festgelegt und überschaubar sind, wie von White in Bezug auf Frye behauptet, bleibt kontrovers. Frank Ankersmit etwa wendet sich gegen die Annahme, dass der Ge-

58 H. White, Metahistory, S. x. 59 A. Koschorke, S. 332.

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schichtsschreibung nur eine begrenzte Formauswahl für die Beschreibung der Vergangenheit zur Verfügung stehe. Vielmehr schaffe jede historische Erzählung ihren eigenen Formalismus, indem zum Beispiel ein bestimmter Renaissancebegriff ausschließlich durch den jeweiligen Inhalt definiert wird, und jeder andere Inhalt eine neue Form in einem anderen Renaissancebegriff hervorrufen würde. Ihm zufolge sei die „‚Haut der Form‘ [...] unendlich dünn“.⁶⁰ Auch in Koschorkes Erzähltheorie ist das Erzählen „eine in hohem Maß formlose Tätigkeit“.⁶¹ Unabhängig von dem Grad der formalen (Vor-)Bestimmtheit der Erzählung ist es das Verdienst der Kritik am historischen Erzählen als unverfälschter Referenz, dass sie auf das Medium der Erzählung mit seinen medialen Beschränkungen und Eigenschaften hinweist, denen sich auch das historische Erzählen fügt. Wie aus Barthes Darlegungen deutlich wurde, können in einigen Formen historischen Erzählens geradezu ‚illegitime‘ (weil täuschende) Verfahren nachgewiesen werden, welche diese (Vor-)Strukturiertheit leugnen, um sich so als die Wirklichkeit selbst zu präsentieren. Anhand des Beispiels des historischen Erzählen wurde somit überzeugend die Rolle aufgezeigt, welche Inferenz auch im faktualen Erzählen spielt. Daraus folgte die Schlussfolgerung, dass das Vorhandensein von Inferenz Referenz ausschließe. Die Grundlage der theoretischen Überlegungen dieser Studie ist hingegen, dass Inferenz Referenz ganz im Gegenteil erst ermöglicht: „Nicht nur schließen sich Inferenz (das heißt: interne Bezüglichkeiten zwischen den Zeichen) und Referenz (Bezugnahme auf außersprachlich Bezeichnetes) wechselseitig nicht aus; sie bedingen einander sogar“,⁶² hält etwa Koschorke diesbezüglich fest. Dies wird im historischen Erzählen besonders deutlich. Barthes’ und Whites kritische Analysen des historischen Erzählens machen es durch den Hinweis auf seine erzählerische Eigendynamik nicht zu einem fiktionalen Erzählen. Handlungsfolgen werden zwar nicht einfach in der Wirklichkeit vorgefunden. Die Selektion und Konstruktion von Befunden aus den Quellen der Vergangenheit orientiert sich an bereits vorhandenen Schemata. Dennoch, so betont etwa Zipfel, bedeutet „die Tatsache, daß eine Geschichte gemacht ist, [...] noch nicht, daß sie erfunden ist“.⁶³ Zipfel bemängelt, dass White das „Machen“ einer narrativen Historiografie mit dem „Erfinden“ der erzählten Ge-

60 Frank R. Ankersmit, Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie. In: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp, Berlin/New York 2002, S. 34. 61 A. Koschorke, S. 11. 62 So müsse etwa das Zeichensystem Sprache einen gewissen Grad der Abstraktion und Verallgemeinerung (ein Begriff „Stuhl“ für alle verschiedenen, in der Realität auftauchenden Varianten des Stuhls) aufweisen, um überhaupt kommunizierbar zu sein, vgl. A. Koschorke, S. 333. 63 F. Zipfel, S. 177.

3.3 Historisches Erzählen als Sonderfall faktualen Erzählens |

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schichten gleichsetze. Whites Konzept gehöre damit zu Ansätzen, die den im Englischen kleinen Schritt von „made“ zu „made up“ vollzögen.⁶⁴ Es kann also festgehalten werden, dass die Tatsache, dass eine faktuale Erzählung ganz wie eine fiktionale Erzählung eben nicht natürlich gegeben, sondern gemacht, konstruiert, erzählt ist, hier nicht damit gleichgesetzt werden soll, dass sie erfunden und somit nicht mehr faktual, sondern fiktional sei. Im Gegensatz zu den klassischen Geschichtserzählungen im eher traditionellen Stil, die Barthes und White kritisch analysieren, deutet die Formvielfalt neuer historischer Erzählstile an, dass der Konstruktionscharakter der Geschichtsschreibung in neueren Geschichtserzählungen weniger verdrängt wird, ohne dass dadurch der Anspruch auf Wirklichkeitsbezug aufgehoben würde.⁶⁵ Wie im Folgenden dargelegt, zeichnen sich nicht erst die neueren Formen des historischen Erzählens durch eine Akzentuierung des Zusammenspiels von Inferenz und Referenz aus. Nachdem hier anhand von Barthes und White nachgezeichnet wurde, wie im historischen Erzählen der Konstruktionscharakter des faktualen Erzählens beispielhaft deutlich wird, soll nun hervorgehoben werden, dass historisches Erzählen nicht nur als Musterbeispiel faktualen Erzählens eingesetzt werden kann. Vielmehr zeigt sich das historische Erzählen, wenn auch sein Konstruktionscharakter lange verkannt wurde, im Gegensatz zu anderen Formen faktualen Erzählens in besonderer Weise beeinflusst durch seine außergewöhnliche Form des Wirklichkeitsbezugs. Dies macht es zu einer speziellen Form des faktualen Erzählens, das zwar nicht von vornherein vom Bewusstsein seines Konstruktionscharakters geprägt ist, in seinen Erzählverfahren jedoch von der Verknüpfung von Inferenz und Referenz ausgeht.

3.3 Historisches Erzählen als Sonderfall faktualen Erzählens 3.3.1 Abwesenheit (De Certeau) Wie in Bezug auf Barthes und White ausgeführt (vgl. 3.2.2), spielte das historische Erzählen innerhalb (post-)strukturalistischer Theoriebildung eine Schlüsselrolle, da an ihm als Beispiel für das faktuale Erzählen die Selbstverständlichkeit erzählerischen Wirklichkeitsbezugs in Frage gestellt werden konnte. Dabei wurde festgehalten, dass die dem historischen Erzählen zugesprochene besondere

64 F. Zipfel, S. 177. 65 Zu neuen Formen der Geschichtserzählung vgl. Stephan Jaeger, Erzählen im historiographischen Diskurs. In: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, hg. von. Christian Klein und Matías Marínez, Weimar 2009, S. 125.

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Eigenschaft der Abwesenheit dessen, worüber erzählt wird, konstitutiv für jegliches, auch faktuales, Erzählen sei. Während der Erzählgegenstand als Bezeichnetes innerhalb der Erzählung anwesend ist, egal ob es sich um eine fiktionale oder faktuale Erzählung handelt, ist die Wirklichkeit als Bezugspunkt faktualen Erzählens abwesend in dem Sinne, dass der genaue Bezug zwischen Erzählung und nichtsprachlicher Wirklichkeit immer zweifelhaft bleibt. Das ‚Erzählsystem‘ historischen Erzählens illustriert dies insofern besonders deutlich, als dass der Bezugspunkt Vergangenheit einen generellen Mechanismus von Wirklichkeit als Bezugspunkt des Erzählens explizit macht: „Vom System in seiner Totalität aus gesprochen, ist der Referent das Vergangene [...] Der semiotische Prozeß wandelt Referenz in Vergangenheit um.“⁶⁶ Anders formuliert rückt „Referenz [...] in den Modus der Vorgeschichte[...] – als etwas, das der selbstreferentiellen Schließung des jeweiligen Systems vorausgeht“.⁶⁷ Was hier für jegliches Zeichensystem und somit auch für die Erzählung gilt, wird im historischen Erzählen offenkundig, in dem sich die Vergangenheit als Referent ohnehin immer schon dadurch definiert, nicht (mehr) vorhanden zu sein. Doch auch wenn historisches Erzählen hier ein besonders einleuchtendes Beispiel für das Problem jeglichen, besonders faktualen Erzählens, ist, lohnt es sich, diese Erzählform nicht nur auf eine Art Paradebeispiel für die Problematisierung erzählerischen Wirklichkeitsbezugs zu beschränken. Zwar gilt für jegliches faktuales Erzählen die ‚Abwesenheit‘ dessen, worüber erzählt wird, insofern, als dass der allgemeinen Problematik von Erzählungen entsprechend das Erzählte nicht eindeutig auf die Wirklichkeit zu beziehen ist. Dennoch wird das historische Erzählen in besonderer Weise durch diese Abwesenheit bestimmt. Ganz der oben erläuterten sprachpragmatischen Einordnung von ‚Fakt und Fiktion‘ entsprechend, spielt hierbei nicht ein wie auch immer gearteter Bezug zur Wirklichkeit oder dessen Unmöglichkeit eine Rolle, sondern die Wahrnehmung des historischen Erzählens als einer Erzählform, die von etwas spricht, das nicht (mehr) anwesend ist. Anders gesagt ist für das historische Erzählen die Abwesenheit dessen, wovon erzählt wird, (schon während der Produktion der Erzählung) so maßgebend, dass sich das historische Erzählen in besonderer Form durch diese Abwesenheit konstituiert: „Jene Abwesenheit ist es, die den historischen Diskurs begründet“, hält Michel de Certeau fest.⁶⁸ Wiederum wird Wirklichkeitsbezug hier

66 A. Koschorke, S. 392–393. 67 A. Koschorke, S. 392. 68 Michel de Certeau, Histoire et structure. In: Recherches et Débats 68, 1970, S. 168, übersetzt von Eva Füssel, zitiert nach François Dosse, Michel de Certeau und das Schreiben der Geschichte. In: Michel de Certeau. Geschichte – Kultur – Religion, hg. von Marian Füssel, Konstanz 2007, S. 48.

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nicht aufgrund der Uneindeutigkeit des Bezuges der Erzählung zur Wirklichkeit zu einer unwichtigen Größe, sondern erhält in einem sprachpragmatischen Kontext, hier als eine spezielle Grunderwartung an das historische Erzählen, einen zentralen Stellenwert. Das historische Erzählen kann damit als eine Erzählform gelten, welche die Unterscheidung von ‚wirklich‘ und ‚nicht wirklich‘ auch unter erschwerten Bedingungen als kulturell konstitutiv, anthropologisch gesehen als eine Art menschliches Grundbedürfnis in den Vordergrund stellt. Der Bezug von kulturellen Produkten zur Wirklichkeit ist nie eindeutig zu klären, dennoch bleibt die Markierung bestimmter Erzählungen als ‚wirklichkeitsbezogen‘ unerlässlich zur kulturellen Orientierung. Die Markierung wirklich/unwirklich wird damit gerade wegen ihres relativen Charakters um so wichtiger. Im oben skizzierten sprachpragmatischen Kontext ist es grundlegend für das historische Erzählen, dass seinem Erzählgegenstand ein Wirklichkeitswert zugesprochen wird. Es lässt sich also vor allem in Anbetracht der Aussageabsicht vom fiktionalen Erzählen trennen.⁶⁹ Die Erzählsituation im historischen Erzählen spezifiziert sich jedoch weiterhin dadurch, dass die Wirklichkeit, die es erzählen soll, vergangen ist. Obwohl das Erzählen von vergangenen Ereignissen die narrative Grundsituation konstituiert,⁷⁰ zeichnet sich das historische Erzählen in besonderer Weise durch die Vergangenheit des von ihm Erzählten aus: Diese Erzählform entzieht sich der Vorstellung, dass der Wirklichkeitsbezug des Erzählten vom (mit dem Autor gleichgesetzten, vgl. 3.1.3) Erzähler aus seiner eigenen Erfahrung heraus bezeugt werden könnte. Während etwa im juristischen oder psychotherapeutischen Diskurs das Erzählen noch auf Erfahrungen und Erlebnisse zurückgreifen kann,⁷¹ charakterisiert sich das historische Erzählen dadurch, dass solche Zugänge zum Erzählten nur aus zweiter oder dritter Hand möglich sind. Die Wirklichkeit als Bezugspunkt historischen Erzählens erscheint also in besonderer Weise weggerückt im Vergleich zu anderen Formen des faktualen Erzählens. Jaeger merkt an, dass die Geschichtsschreibung eine „Wirklichkeitserzählung zweiter Ordnung“ sei, die sich nicht wie Wirklichkeitserzählungen erster Ordnung „direkt auf Ereignisse und Handlungen in einer Wirklichkeit“ bezie-

69 S. Jaeger, S. 110. 70 F. Zipfel, S. 123. 71 Vgl. zum Beispiel die Äußerungen vor Gericht, in denen „[d]em sich Äußernden [...] ein Forum geboten [wird], seine Sicht der Dinge vorzutragen“, Andreas von Arnauld, Was war, was ist – und was sein soll. Erzählen im juristischen Diskurs. In: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, hg. von Christian Klein und Matías Martínez, Weimar 2009, S. 18. Auch der Patient, der von seiner Krankheit berichtet, beruft sich (auch) auf seine eigene Erfahrung, vgl. B. Boothe, S. 51–56.

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he, sondern nur vermittelt über Quellen.⁷² Die Verweisstruktur im historischen Erzählen unterscheidet sich also von anderen Arten des faktualen Erzählens in der Form, als dass nie, wie etwa in einer Zeugenaussage im juristischen Diskurs, auf eine direkte Erfahrung, sondern immer auf schriftliche und nichtschriftliche Quellen verwiesen wird. Die Geschichte als Gegenstand der historischen Erzählung basiert also immer auf der Abwesenheit dessen, worauf sie sich bezieht.

3.3.2 Ernsthaftigkeit (Ricœur) Die Abwesenheit des Referenten, die das historische Erzählen von Beginn an konstituiert, hat es immer wieder in die Nähe fiktionalen Erzählens gerückt. Diese die Faktualität des historischen Erzählens gefährdende Nähe zum fiktionalen Erzählen führt zu der Warnung, die Geschichtsschreibung nicht aufgrund der Tatsache, dass sie aus zweiter oder dritter Hand stamme, leichtfertig mit fiktionalen Erzählungen gleichzusetzen.⁷³ In diesem Zusammenhang wird die Frage interessant, aufgrund welchen Kriteriums das historische Erzählen als faktuales Erzählen vom fiktionalen Erzählen abgegrenzt werden kann, da es doch genau wie das fiktionale Erzählen erzählerisch konstruiert ist (vgl. 3.2) und noch dazu mit der Vergangenheit einen besonders zweifelhaften Wirklichkeitsbezug beansprucht. Als ein Kriterium werden Unterschiede in der Entstehung historischer Erzählungen im Gegensatz zu fiktionalen Erzählungen angeführt. Die Geschichtsschreibung müsse ihren Erzählgegenstand aus Quellen erzeugen, also bestimmte Themen und Ereignisse aus einem Vorrat an bereits vorhandenem Material selektieren. Hier liege ein wesentlicher Unterschied zur Entstehung fiktionaler Erzählungen. Zipfel verweist auf Dorrit Cohn, die herausstellt, dass in fiktionalen Erzählungen der Vorgang der Selektion eine weit weniger ausgeprägte Technik ist als in historischen: „A novel can be said to be plotted out but not emplotted.“⁷⁴ Der Pool der Ereignisse, aus dem in der Geschichtsschreibung geschöpft werden kann, ist somit definierter und zugleich beschränkter als im fiktionalen Erzählen, in dem eine Auswahl nicht begründet werden muss. Es soll hier nicht diskutiert werden, wie graduell dieser Unterschied zwischen faktualem Finden und fiktionalem Erfinden ist. Fest steht, dass sich das historische Erzählen in der Auswahl des Erzählten zwar an vorliegenden Quellen

72 S. Jaeger, S. 132. 73 Vgl. zum Beispiel P. Blume, S. 81. 74 Dorrit Cohn, Signposts of Fictionality. A Narratological Perspective. In: Poetics Today, 11, 1990, S. 781, zitiert nach F. Zipfel, S. 177.

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orientiert und damit sein Erzählen an einen bestimmten Zeichenvorrat bindet, der erzählerischen Deutung dieses Materials aber kaum Grenzen gesetzt sind. De Certeau spricht in Bezug auf das Verhältnis des historischen Erzählens zu der nur in Quellen zugänglichen vergangenen Wirklichkeit davon, dass sich „[p]aradoxerweise [...] Überlieferung also als ein Feld von Möglichem an[bietet]“.⁷⁵ In einer Umkehrung von Aristoteles’ Definition wird hier der Gegenstand der Geschichtsschreibung als „Feld des Möglichen“ zu dem „was geschehen könnte“⁷⁶ – beziehungsweise genauer: ‚was geschehen sein könnte – anstatt wie bei Aristoteles „das wirklich Geschehene“⁷⁷ zu sein. Ein weiteres, mögliches Kriterium zur Abgrenzung des historischen Erzählens vom fiktionalen Erzählen ist die Einschränkung des historischen Erzählens durch das berühmte „Vetorecht“⁷⁸ der Quellen. Dieses Kriterium lässt sich in eine Tradition von Argumentationen einordnen, die den ‚Wirklichkeitswert‘ des historischen Erzählens trotz der Abwesenheit dessen, wovon es erzählt, dadurch stützen, dass dem historischen Erzählen durch seinen speziellen Anspruch des ‚Findens‘ eine bestimmte Haltung gegenüber seinem Erzählgegenstand zugesprochen wird. In der modernen Ausformung dieser Argumentation legitimiert sich das historische Erzählen durch seine Wissenschaftlichkeit, wie im Verweis auf die Quellen deutlich wird. Zu Beginn der Ausdifferenzierung von faktualem (in diesem Falle historischen) und fiktionalem (in diesem Falle literarischen) Erzählen, in der sich die Geschichtsschreibung gegenüber dem Mythos emanzipiert, funktioniert die Argumentation nur scheinbar anders. In Aristoteles’ Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Literatur spielt nicht eine bestimmte Methodik, sondern eine Erzählhaltung die entscheidende Rolle: Indem er der Dichtung in Absetzung von der platonischen Tradition attestiert, etwas „Ernsthafteres“⁷⁹ zu sein als die Geschichtsschreibung, bestätigt er „Ernsthaftigkeit“ als einen Maßstab an Erzählungen, der traditionell eher durch die Geschichtsschreibung als durch

75 Michel de Certeau, Le christianisme éclaté, Paris 1974, S. 46, übersetzt von Eva Füssel, zitiert nach F. Dosse, S. 63. 76 Aristoteles, 9. Abschnitt (1451a–1451b). 77 Aristoteles, 9. Abschnitt (1451a–1451b). 78 „Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können“: Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt. In: Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2013, [1979], S. 206. 79 Aristoteles, 9. Abschnitt (1451a–1451b).

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die Dichtung erfüllt wird. Mit der ‚Ernsthaftigkeit‘ ist hier eine Kategorie vorgegeben, die wiederum nicht auf den Erzählgegenstand, sondern auf die Haltung gegenüber dem Erzählen zielt. Ernsthaftigkeit spielt nach wie vor eine tragende Rolle, um die Glaubwürdigkeit des historischen Erzählens zu garantieren. Auch der Bezug der Geschichtsschreibung auf Wissenschaftlichkeit seit dem achtzehnten Jahrhundert ist ein (neues) Argument, die erzählerische Unbestimmtheit des Wirklichkeitsbezugs durch Ernsthaftigkeit zu kompensieren. Der Zusammenhang zwischen der Verpflichtung auf Quellen und der Ernsthaftigkeit der Historikerin beziehungsweise des Historikers wird bei Paul Ricœur besonders deutlich. Er spricht in seiner Studie zum Verhältnis von Zeit und Erzählung von der „Repräsentanzfunktion“ des historischen Erzählens. Diese Repräsentanzfunktion des historischen Erzählens bestehe eben in dem Anspruch, dass das, was erzählt werde, „wirklich“ gewesen sei.⁸⁰ Dieser Anspruch ergebe sich durch die Art des Zustandekommens des historischen Erzählens, nämlich in Bezug auf Quellen. Auch wenn dieser Bezug alles andere als neutral sei, zeige sich in der Art, wie sich die Geschichtsschreibung an Quellen binde, eine besondere Form von „Schuld“: Der Historiker ist in diesem Punkt von einer unerschütterlichen Überzeugung erfüllt: was auch immer man über den selektiven Charakter des Zusammentragens, Aufbewahrens und Heranziehens der Dokumente sagen mag, über das Verhältnis, in dem sie zu den Fragen stehen, die der Historiker an sie richtet, und selbst über die ideologischen Implikationen, die all diese Operationen aufweisen – der Rekurs auf die Dokumente macht eine Trennlinie zwischen Geschichte und Fiktion sichtbar: im Unterschied zum Roman wollen die Konstruktionen der Geschichte Rekonstruktionen der Vergangenheit sein. Mit dem Dokument und dem dokumentarischen Beweis unterwirft sich der Historiker dem, was einmal war. Er hat eine Schuld gegenüber der Vergangenheit abzutragen, ist also den Toten etwas schuldig, was ihn zu einem zahlungsunfähigen Schuldner werden läßt.⁸¹

Ricœur nimmt hier die „Überzeugung“ des „Historiker[s]“, also seine Haltung dem Erzählgegenstand über, zum Ausgangspunkt. Es sei diese „Überzeugung“, welche die Konstruktion einer Geschichtsschreibung zu einer Rekonstruktion mache. Sichtbar werde diese Überzeugung durch den (auch im Text ausgestellten) Bezug auf Dokumente als historische Quellen. Die Quellen erzeugen also nicht den Wirklichkeitsbezug, sondern symbolisieren ihn. In seiner Selbstverpflichtung auf diese Dokumente „unterwirft“ sich der „Historiker“ in einer symbolischen Geste „dem, was einmal war“, also der Vergangenheit als besiegelt und anerkannt

80 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. III (Die erzählte Zeit), übersetzt von Andreas Knop, Übergänge 18, München 1991, S. 222. 81 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 222–223.

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unerreichbarer Wirklichkeit. Die so entstandene „Schuld“ gegenüber der Vergangenheit, welche die Richtschnur für das historische Erzählen sein soll, wird noch einmal dramatisch von einem abstrakten Verhältnis zu einer ‚zwischenmenschlichen‘ Beziehung konkretisiert: in eine Schuld gegenüber „den Toten“. Die Toten als Nicht-mehr-Lebende verweisen als verstummtes Gegenüber ex negativo auf das menschliche Leben, dem der „Historiker“ in seiner Geschichte nahe kommen will. Es ist in diesem Zusammenhang wesentlich für das historische Erzählen, dass der „Historiker“ diesen Toten gegenüber ein „zahlungsunfähige[r] Schuldner“ ist, wie Ricœur es ausdrückt. Dies bedeutet, dass die „Schuld gegenüber der Vergangenheit“, die darin besteht, eine Erzählung zu konstruieren, die der vergangenen Wirklichkeit – dem Leben der Toten – entspricht, nie (voll) eingelöst werden kann. Diese Selbstverpflichtung, die den Intensitätsgrad einer „Schuld“ erreicht, bestimmt in ihrer Aussichtslosigkeit die Geschichtsschreibung, die Ricœur bewusst auf die Produktionsseite verkürzt, während das literarische fiktionale Erzählen auf die Rezeptionsseite hin untersucht wird. (Ricœur kennzeichnet diese Trennung jedoch als künstlich und hebt damit die auch im Rahmen dieser Studie grundlegende Annahme hervor, dass sich der sprachpragmatische Kontext von Erzählungen durch ein Zusammenwirken der Produktions- und der Rezeptionsseite konstituiert (vgl. 3.1.2).⁸²) Die Schuld den Toten beziehungsweise einer vergangenen, unerreichbaren Wirklichkeit gegenüber macht den Ernst des Erzählens zu einer ethischen Verpflichtung, die den erzählerischen Wirklichkeitsbezug immer schon in besonderer Weise prekär werden lässt. Sie macht es zu einem faktualen Erzählen, das insofern von vornherein von einer (schuldbewussten) Referenzillusion geprägt ist, als dass es nie einen stabilen und direkten Wirklichkeitsbezug auch nur unterstellen kann. Diese instabile Erzählsituation lässt sich nur durch die im Schuldbewusstsein implizierte Ernsthaftigkeit kompensieren, welche die Geschichtsschreibenden jedoch in Widerspruch zu den eigenen Erzählmöglichkeiten bringt. Denn der Erzählung selbst ist eine solche Ernsthaftigkeit nicht inhärent. Der ‚unernste‘ Umgang mit dem Erzählten und dessen Wirklichkeitsimplikationen innerhalb der Erzählung wird oft mit dem Spielbegriff angedeutet. Koschorke spricht in Bezug auf Erzählungen allgemein vom „‚Spiel‘ in zweiter Potenz zwischen den beiden Haltungen von Ernst und Unernst“.⁸³ So seien nicht nur fiktionale, sondern Erzählungen allgemein, von einer „ontologischen Indifferenz“⁸⁴

82 Ricœur spricht damit der Rezeptionsseite ebenso großen Einfluss beim Umgang mit historischen wie mit literarischen Erzählungen zu, vgl. P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 294–295. 83 A. Koschorke, S. 15. 84 A. Koschorke, S. 16-19.

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geprägt, die der Ernsthaftigkeit des Erzählanspruchs im historischen Erzählen in ihrem Spielcharakter entgegen steht. Setzt man den Spielcharakter des Wirklichkeitsbezugs von Erzählen voraus, erklärt sich der Widerspruch, in dem die Erzählhaltung der Ernsthaftigkeit zu den Möglichkeiten des eigenen Mediums steht. Die Gegenüberstellung von Ernst und Spiel kristallisiert sich in der Geschichtsdefinition des Historikers Johan Huizinga, der mit Homo Ludens⁸⁵ einerseits eine Kulturgeschichte des Spiels schrieb und andererseits in seiner Definition der Geschichte der Ernsthaftigkeit einen zentralen Stellenwert einräumt: De geestelijke occupatie, die aan de vorm geschiedenis ten grondslag ligt, is die, dat men de zin wil verstaan van wat vroeger gebeurd is. [...] Het gewicht en de betekenis van die geestelijke drang en van zijn produkt de historie ligt in de volmaakte ernst, die hem kenmerkt. Het is een volstrekte behoefte, om tot echte kennis van het waar gebeurde door te dringen, ook al weet men die middelen daartoe nog zo gebrekkig. De scherpe scheiding tussen geschiedenis en literatuur ligt hierin, dat de eerste het spelelement geheel mist, dat de literatuur van het begin tot het einde doortrekt.⁸⁶

Bei Huizinga tritt die Trennung der Bereiche besonders deutlich zu tage: Die Geschichte wird klar vom zwischen Ernst und Unernst schwankenden Spiel der Literatur distanziert, auch wenn beide über die gleichen ‚mangelhaften Mittel‘ verfügen. Die Geschichte zeichnet sich also – und das ist hier grundlegend – nicht durch ihren Wirklichkeitsbezug aus, sondern durch den Ernst, mit dem sie diesen Wirklichkeitsbezug verfolgt, gerade weil sie keinen direkten Wirklichkeitsbezug unterstellen kann.

85 Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, übersetzt von H. Nachod, Reinbek 1956. 86 „Die geistige Bemühung, die der Form Geschichte zugrunde liegt, ist die, daß man den Sinn des früher Geschehenen verstehen will. [...] Die Wucht und der Wert dieses geistigen Dranges und seines Produkts, der Historie, liegt in dem vollkommenen Ernst, der ihn kennzeichnet. Es ist ein absolutes Bedürfnis zu der echten Erkenntnis des wahrhaft Geschehenen hindurchzudringen, auch falls man sich der Mangelhaftigkeit der Mittel dazu bewußt ist. Die scharfe Scheidung zwischen Geschichte und Literatur liegt darin, daß der ersteren das Spielelement beinahe vollkommen fehlt, das der Literatur von Anfang bis zum Ende zugrunde liegt.“ Johan Huizinga, Über eine Definition des Begriffs Geschichte, übersetzt von Werner Kaegi und Kurt Köster. In: Huizinga, Geschichte und Kultur. Gesammelte Aufsätze, hg. von Kurt Köster, Stuttgart 1954, S. 9. Niederländisches Original in: Johan Huizinga, Over een definitie van het begrip geschiedenis. In: De taak der cultuurgeschiedenis, hg. von W.E. Krul, Groningen 1995, [1929], S. 63–64.

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3.3.3 Erzählerische Sinngebung (Huizinga) Gleichzeitig wird bei Huizinga deutlich, warum das ‚mangelhafte Mittel‘ der Erzählung dennoch für das historische Erzählen besonders geeignet ist. Denn die Erzählung als Repräsentationsform entspricht, obgleich sie in ihrem unsicheren Wirklichkeitsbezug für die Geschichtsschreibung unbefriedigend ist, in anderer Hinsicht einem Anliegen des historischen Erzählens. Sie eignet sich um so besser für das, was der ernsthafte Umgang mit Geschichte als Erzählgegenstand bezweckt, nämlich dem Vergangenen Sinn zu verleihen. Dies zeigt wiederum Huizingas Geschichtsdefinition, welche die Geschichte eben nicht in Bezug auf ihren Wirklichkeitsbezug, sondern in ihrem kulturellen Kontext betrachtet. Huizinga setzt sich bei seiner Definition von Geschichte zum Ziel, „nach einer Umschreibung des Begriffes zu suchen, welche ohne die Scheidung zwischen historischer Wissenschaft und Geschichtsschreibung auskommt, und welche imstande ist, auch die älteren Phasen der Geschichte mit zu umfassen und in ihrem vollen Wert anzuerkennen“. Er will also explizit keine wissenschaftliche von einer vorwissenschaftlichen Geschichtsschreibung trennen. Bei einer solchen Definition von „Geschichte als Kulturerscheinung“ müsse man sich „ von dem naiven historischen Realismus frei machen“: „In der Regel stellt man sich vor, die Geschichte strebe darnach, die Erzählung der Vergangenheit zu geben [...]. In Wirklichkeit gibt sie nicht mehr als eine gewisse Vorstellung einer gewissen Vergangenheit, ein verständliches Bild eines Stückes Vergangenheit. Sie ist nie Rekonstruktion oder Reproduktion einer gegebenen Vergangenheit. Eine Vergangenheit ist nie gegeben.“ Huizinga geht also immer schon und lange vor dem Linguistic Turn von einer erzählerischen Konstruktion von Vergangenheit, die keine Rekonstruktion ist, aus.⁸⁷ Huizinga sieht dabei in dem Umstand, dass die Geschichte eben keine Erzählung mit direktem Wirklichkeitsbezug gibt, kein Manko, sondern gerade das Wesen der Geschichtsschreibung: „Würde uns die Überlieferung an irgendeinem Punkt die totale Wirklichkeit der Vorzeit zugänglich machen, so ergäbe sich daraus noch keine Geschichte, oder lieber, dann am allerwenigsten.“ Bei Huizinga erhält die Geschichte eben dadurch ihren Sinn, dass sie nicht die vergangene Wirklichkeit ist, sondern dieser ungreifbaren Vergangenheit einen Sinn verleiht: „Erst in der Frage nach bestimmten Zusammenhängen, deren Wesen durch den Wert bestimmt wird, den man ihnen zuerkennt, entsteht das Bild der Geschichte. Dies alles bleibt sich vollkommen gleich, ob man an nach streng kritischer Methode erforschte Geschichte denke oder an historische Lieder und Epen aus früheren 87 Alle Zitate dieses Absatzes beziehen sich auf J. Huizinga, Über eine Definition des Begriffs Geschichte, S. 7–8 (J. Huizinga, Over een definitie van het begrip geschiedenis, S. 62–63).

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Kulturphasen.“ Unabhängig von Methodik und Form ist Geschichte damit eine aus der Gegenwart bestimmte Sinnzuschreibung. Die Grenze zum literarischen fiktionalen Erzählen wird hier sehr dünn und zieht sich auf die von Huizinga um so mehr betonte An- oder Abwesenheit von Ernst zurück.⁸⁸ Huizinga hebt hervor, dass diese Sinnzuschreibung an eine bestimmte (narrative) Form gebunden ist: „Geschichte ist der Vergangenheit gegenüber immer eine Formgebung und kann nicht prätendieren, mehr zu sein. Es ist immer ein Erfassen und Deuten eines Sinnes, den man in der Vergangenheit sucht. Auch das bloße Erzählen ist bereits Mitteilung eines Sinnes und das In-sich-aufnehmen dieses Sinnes kann halb ästhetischer Art sein.“ Huizinga erfasst also die Geschichte im Deutungsmuster der Erzählung, das immer auch ästhetische Qualitäten aufweist. Geschichtsschreibung wird zu einem Modus (einer „Form“), Wirklichkeit zu begreifen: „Die geistige Bemühung, die der Form Geschichte zugrunde liegt, ist die, daß man den Sinn des früher Geschehenen verstehen will.“ Die Vergangenheit kann nur zur Geschichte werden, insofern sie verständlich ist (vgl. 4.3.3). Die Geschichtsschreibung als Sinngebungsprozess nutzt das Medium der Erzählung, um dem „Chaos“ der Vergangenheit eine Form zu geben.⁸⁹ Es ist wichtig festzuhalten, dass die von Huizinga betonte (Erzähl-)Form der Geschichte den ‚schuldbeladenen‘ Historiker einerseits, wie von Barthes und White hervorgehoben, mit ihren Strukturen nicht nur konfrontiert, sondern auch einschränkt. Gleichzeitig muss jedoch andererseits unterstrichen werden, dass die Form der Erzählung dem Sinngebungsinteresse des historischen Erzählens in besonderer Weise entgegenkommt, was es wiederum zu einer besonderen Form faktualen Erzählens macht. Geschichtsschreibung als wissenschaftliche Disziplin gehorcht, wie Jonathan Culler anmerkt, „nicht der Logik wissenschaftlicher Kausalität [...], sondern der Logik von Geschichten: Die Französische Revolution zu verstehen bedeutet, eine Geschichte zu begreifen, die zeigt, wie ein Ereignis zum anderen geführt hat“.⁹⁰ Dies hängt mit ihrem Gegenstand, einer – bei Ricœur durch die Toten bereits indirekt angedeutet – menschlich definierten Vergangen-

88 Die Zitate dieses Absatzes beziehen sich auf J. Huizinga, Über eine Definition des Begriffs Geschichte, S. 8 (J. Huizinga, Over een definitie van het begrip geschiedenis, S. 63). 89 Alle Zitate dieses Absatzes beziehen sich auf J. Huizinga, Über eine Definition des Begriffs Geschichte, S. 8–12 (J. Huizinga, Over een definitie van het begrip geschiedenis, S. 63–64). 90 Jonathan Culler, Erzählen. In: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, übersetzt von Andreas Mahler, Stuttgart 2002, S. 121. Gleichzeitig macht der narrative turn deutlich, dass die alte Unterscheidung zwischen Erzähllogik und wissenschaftlicher Logik revidiert werden muss, da auch Wissenschaften, deren Methodik sich nicht auf Erzählungen stützt, narrativ konstituiert sind, vgl. etwa A. Koschorke, S. 329ff. Dennoch kann nicht abgestritten werden, dass sich etwa die Geschichts- und die Naturwissenschaft in der Form, in der sie auf Erzählungen basieren, zumindest graduell unterscheiden.

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heit, zusammen: In der Geschichtsschreibung als „Wissenschaft vom Menschen [...] in der Zeit“⁹¹ wird Vergangenheit zumeist anhand von menschlichem Handeln nachvollzogen, das sich schwer logischen Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlicher Erklärungen unterwerfen lässt.⁹² Die narrative Logik bezieht sich dabei weniger auf die Vergangenheit, als auf unser Verstehen derselben in Form einer Erzählung, das sich auf ein menschliches Handeln bezieht. Wie hier hervorgehoben werden soll, ist die Erzählung eine Sinngebungsform, die Wirklichkeit in menschlichen Handlungsdimensionen erklärt und die sich deshalb (und nicht aufgrund ihres notorisch unzuverlässigen Wirklichkeitsbezugs) eignet, die Vergangenheit ‚ernst‘ zu nehmen. Die Verknüpfung der Geschichtserzählung mit dem ‚Handeln‘ klingt in der Geschichtstheorie Michel de Certeaus an, der die Geschichtsschreibung in einem Spannungsfeld zwischen „Sagen und Tun“⁹³ ansiedelt. In Bezug auf ein Diktum Marx’, nach dem „die Wirklichkeit [...] als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis“ gefasst werden müsse,⁹⁴ wird Wirklichkeit bei De Certeau zu einem ungreifbaren Prozess menschlicher Praktiken. Auch die Geschichtsschreibung ist eine Praktik, die ihrerseits versucht, Praktiken der Vergangenheit in Erzählungen zu fassen: „Die Geschichte bezieht sich schließlich auf ein ‚Machen‘ oder ‚Tun‘, das nicht nur ihr eigenes [...], sondern auch das der Gesellschaft ist [...] Diese Beziehung des Diskurses zu einem Tun ist dem Gegenstand des Diskurses innerlich, denn auf die eine oder andere Weise spricht die Geschichte immer von Spannungen, Konfliktverhältnissen oder Kräftespielen.“⁹⁵ Im historischen Erzählen werden Tatsachen zurückgeführt auf „das, was sie möglich machte“, also in einen Handlungskontext eingebunden.⁹⁶ Die Erzählung bildet die vergangene Wirklichkeit also nicht besonders adäquat ab, kann sie jedoch gerade dadurch verständlich machen, indem sie sie in den Rahmen einer Erzähllogik einschreibt. Je stringenter diese Erzählung organisiert ist, desto stärker steht sie im Widerspruch zu dem Chaos der Vergangenheit, das sie erklären möchte. Wie Ricœur in Die erzählte Zeit nachweist, strukturiert die Erzählung in einer Weise, die sie in einen Widerspruch zu dem bringt, was

91 Marc Bloch, Apologie pour l’histoire ou Métier d’historie, Paris 1997, S. 52. 92 Inwiefern Naturgeschichtsschreibung, etwa die Geschichte der Erde, anderen Erzähllogiken unterliegt oder analog zu den Gesetzmäßigkeiten ‚menschlicher‘ Geschichte erzählt wird, wäre eine weitere interessante Forschungsfrage. 93 M. de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, S. 69. 94 Karl Marx, Thesen ad Feuerbach. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III, Berlin 1998, S. 19– 21. 95 M. de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, S. 69. 96 M. de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, S. 24.

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sie darstellen möchte (vgl. 4.3.3). Die Übersetzung von ‚Chaos‘ in etwas, das dem menschlichen Vorstellungsvermögen zugänglich ist, stellt jedoch die einzige Form eines Zuganges dar. Hier entsteht eine Verbindung zum fiktionalen Erzählen in der Literatur, dem nicht nur Ricœur eine spezielle Affinität zum menschlichen Vorstellungsvermögen zuspricht. Im ersten Teil der theoretischen Auseinandersetzungen verortete diese Studie das historische Erzählen im faktualen Erzählen. Sowohl die Trennung zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen als auch ihre Zurückweisung im Zuge des Poststrukturalismus setzt nicht vorhandenen Wirklichkeitsbezug mit der Fiktionalität einer Erzählung gleich (vgl. 3.1.1). Wird von einer Verzahnung von Selbstund Wirklichkeitsbezug (Inferenz und Referenz) in jeglicher Erzählung ausgegangen, lässt sich faktuales Erzählen sprachpragmatisch definieren und vom fiktionalen Erzählen abgrenzen: Die Klassifizierung einer Erzählung als faktual oder fiktional hängt davon ab, ob sie im Kommunikationskontext als (nicht) vorrangig auf die Wirklichkeit bezogen eingeordnet wird (vgl. 3.1.2). Dabei spielen konventionalisierte Signale faktualen Erzählens eine Rolle, die in dieser Studie skizziert wurden (vgl. 3.1.3). Um das historische Erzählen als faktuale Erzählform zu bestimmen, wurden seine für das faktuale Erzählen typischen Eigenschaften (vgl. 3.2) und seine spezifischen, es als besonderes faktuales Erzählen definierenden Merkmale herausgearbeitet (vgl. 3.3): Das historische Erzählen wurde dem fiktionalen Erzählen gegenübergestellt, weil es mit der vergangenen Wirklichkeit einen Erzählgegenstand hat, der in seiner Abwesenheit die erzählerische Konstruktion auch im faktualen Kontext erst akzeptabel machte und somit eine Basis zum Vergleich mit dem fiktionalen Erzählen schuf (vgl. 3.3.1). Da das historische Erzählen Vergangenheit als (menschliches) Handeln konzipiert, kommt es fiktionalen Erzählverfahren sehr nahe (vgl. 3.3.3), so dass die Trennlinie zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen auf die Erzählhaltung – nach Huizinga ernst oder spielerisch – reduziert wurde (vgl. 3.3.2). Im Folgenden wird die Frage sein, inwiefern das historische Erzählen in den ‚spielerischen‘ Kontext fiktionaler Erzählungen integriert werden kann.

4 „Es war einmal ...“: Geschichtserzählungen und fiktionales Erzählen 4.1 Geschichte in der Literatur? 4.1.1 Autonomismus und Kompositionalismus Aus der sprachpragmatischen Verortung des historischen Erzählens innerhalb des faktualen Erzählens wurden bereits indirekt Eigenschaften deutlich, die dem fiktionalen Erzählen zugeschrieben werden können. ‚Fiktionales Erzählen‘ meint im Zusammenhang dieser Studie das fiktionale Erzählen in der Literatur, obwohl auch außerhalb der Literatur Formen des fiktionalen Erzählens auftreten (etwa, wenn vor Gericht ein möglicher Tathergang skizziert wird). Das ‚fiktionale Erzählen‘ist dabei nur ein Bereich literarischer Sprachkunst, die alle Formen des kunstvollen Umgangs mit Sprache umfasst.¹ Faktuales und fiktionales Erzählen scheinen als Grundmodi die wichtigste Unterscheidung in der Einordnung von Erzählungen abzudecken, nämlich die ihres ‚Wirklichkeitswerts:‘ Entspricht das, was dargestellt wird, ‚der‘ Wirklichkeit, ist es also zumindest theoretisch über eigene Erfahrung oder das Nachschlagen in Expertenwissen nachvollziehbar? Das fiktionale Erzählen weist dieses grundlegende Wirklichkeitsbedürfnis in Bezug auf Erzählungen (teilweise) zurück. Es kann also als ein Erzählen definiert werden, in dem ein Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit (Referenz) nicht im Vordergrund steht. Stattdessen wird die Dimension der Selbstbezüglichkeit (Inferenz) wichtig, welche im fiktionalen Erzählen eine spezielle Ausformung erhält:² Inferenz bezieht sich hier auf die Selbstbezüglichkeit des Erzählten, welches in dem Sinne ‚erfunden‘ ist, als dass es sich aus Eigenschaften, Vorgängen und Elementen aufbaut, die nicht unbedingt Äquivalenzen in der außersprachlichen Wirklichkeit beanspruchen und somit im besonderen Maße durch den Erzählkontext Bedeutung erhalten. Grundsätzlich kann jede Erzählung auf Produktions- wie Rezeptionsseite als fiktional, das heißt unabhängig von ihrem Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit, eingeordnet werden. Jedoch gibt es auch im Umgang mit dem fiktionalen Erzählen konventionalisierte ‚Marker‘, welche die Einordnung als fiktional nahelegen. Neben paratextuellen Elementen wie etwa der Bezeichnung ‚Märchen‘

1 Zum Verhältnis von fiktionalem und literarischen Erzählen siehe F. Zipfel, S. 20. 2 Inferenz kann auf unterschiedliche Weise hervorgehoben werden, so wären Klangexperimente in der Lyrik eine auf die Form gerichtet Art, die Selbstbezüglichkeit der Zeichen in den Vordergrund zu stellen.

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spielt hier auch die Erzählsituation eine Rolle, die, wiederum im Gegensatz zu den oben definierten Signalen faktualen Erzählens, den konventionalisierten Erwartungen zufolge eben nicht ‚natürlich‘ und niedrigschwellig ist (vgl. 3.1.3), sondern sich durch eine komplexe Erzählsituation mit erfundener Erzählinstanz auszeichnen kann (aber nicht muss). Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung wird im Zusammenhang mit dem historischen Erzählen in der Literatur die Frage interessant, ob die Unterscheidung in faktuale und fiktionale Erzählungen ausschließlich ist oder ob es ‚Mischformen‘ faktualer und fiktionaler Erzählungen gibt. Diese Frage betrifft direkt die Texte, die in dieser Studie im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen: ‚Fiktionalisieren‘ literarische Erzählungen das historische Erzählen und bleiben damit fiktional oder werden sie durch die Integration des historischen Erzählens zu einer zugleich fiktionalen und faktualen Erzählung? Einerseits kann die Frage nach der Möglichkeit der ‚Mischung‘ von faktualen und fiktionalen Erzählungen dadurch umgangen werden, dass die Trennung zwischen fiktional oder faktual überhaupt angezweifelt wird. Dazu kann der ‚Wirklichkeitswert‘ des Erzählens in den Vordergrund gestellt werden, so dass fiktionale Erzählungen zu einer defizitären Form faktualer Erzählungen werden, da sie den Wirklichkeitsbezug nicht verlässlich herstellen.³ Kombinationsformen faktualer und fiktionaler Erzählungen wären hier nicht nötig, da sich Erzählungen in eine Skala mehr oder weniger defizitären faktualen Erzählens aufteilten. Im Zuge des Linguistic Turn dreht man die Auffassung von fiktionalen Erzählungen als defizitären faktualen Erzählungen um, wenn man faktuale Erzählungen als kaschierte und dadurch ‚unehrliche‘ fiktionale Erzählungen darstellt. Da alles Erzählen als fiktionales definiert wird, erübrigt sich auch in dieser Definition die Frage nach faktualen und fiktionalen Mischformen. Innerhalb der Ansätze, die von einer Trennbarkeit fiktionalen und faktualen Erzählens ausgehen, gibt es Positionen, die eine Kombination von faktualen und fiktionalen Erzählungen ausschließen. Genettes Position ist in dieser Hinsicht deutlich: „Der Fiktionstext ist [...] intransitiv [...] wegen des fiktionalen Charakters seines Gegenstandes, mit dem eine paradoxe Funktion der Pseudo-Referenz oder eine Denotation ohne Denotatum einhergeht. [...] Der Fiktionstext führt zu keiner außertextuellen Realität, denn alle seine (ständig) bei der Realität gemachten Anleihen [...] verwandeln sich in Elemente der Fiktion, wie Napoleon in Krieg und Frieden oder Rouen in Madame Bovary.“⁴ Genette bezieht hier eine dem

3 Bekanntestes Beispiel ist Platons Abwertung der Dichtung als lügenhaft, vgl. Platon, Der Staat, übersetzt von Otto Apelt, Hamburg 1979, S. 76–131 (377a–416c)/385–403 (595a–607a). 4 G. Genette, Fiktion und Diktion, S. 36–37.

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„Panfiktionalismus“ (vgl. 3.1) gegenübergestellte Position, die Peter Blume als „Autonomismus“ bezeichnet, da sie fiktionale Erzählungen prinzipiell von nichtfiktionalen Erzählungen trennt und aus nichtpragmatischer Perspektive einen grundsätzlichen Unterschied in der Verwendung von Sprache in fiktionalen Erzählungen gegenüber der in nichtfiktionalen Texten annimmt.⁵ Dieser Position zufolge ist das fiktionale historische Erzählen kein faktuales Erzählen mehr, der historische Roman ist also eine rein fiktionale Gattung.⁶ Dieser autonomistischen Position steht die „kompositionalistische“ gegenüber, die unterstellt, dass sich ‚Fakt und Fiktion‘ kombinieren lassen und dass fiktionale Erzählungen grundsätzlich „Mischungen (Komposita) aus fiktionalen und nichtfiktionalen Elementen“ sind.⁷ Konkret diskutiert die Gegenüberstellung von kompositionalistischen und autonomistischen Ansätzen die Frage, ob die Figur Napoleon – um ein in der Debatte beliebtes Beispiel zu nennen – in fiktionalen Erzählungen nun ein fiktives oder ein faktisches Element sei.⁸ Da Napoleon etwa in einem Roman mitunter in fiktionale, das heißt unverbürgte Zusammenhänge gestellt wird, kann der Napoleon eines solchen Romans nicht mit dem Konzept des ‚wirklichen‘ Napoleon übereinstimmen. Aufgrund dessen wird von autonomistischer Seite dahingehend argumentiert, dass Napoleon in einem Roman zu einem fiktiven Element werde. Eine solche Auffassung ignoriert jedoch, dass eine fiktionale Erzählung durch das Aufrufen von faktischen Elementen eine Beziehbarkeit auf ‚die‘ Wirklichkeit zumindest suggeriert. Napoleon ist damit keine erfundene Figur, sondern eine Figur mit faktischen Ursprüngen. Eine Leserin etwa, die Napoleon aus einem faktualen Kontext kennt, wird eine so benannte Figur in einem fiktionalen Kontext anders rezipieren als eine Figur, zu der sie keine solchen wirklichkeitsbezogenen Assoziationen hat. Napoleon ist damit nicht zwangläufig ‚wirklicher‘ als eine andere Figur im Roman, die Figur Napoleon ist jedoch potentiell als schon aus faktualem Kontext bekannt identifizierbar. Der Napoleon eines Romans ist somit sozusagen eine Figur ‚mit Migrationshintergrund‘, da sie, wie Zipfel in Bezug auf die „immigrant objects“ in Erzählungen ausführt, nicht nur im fiktionalen Erzählzusammenhang existiert, sondern auch in faktualen Kontexten außerhalb der Erzählung.⁹ Im Rezeptionsaber auch im Produktionskontext ist die Figur Napoleon somit nicht mit anderen

5 P. Blume, S. 16–23. 6 So hält Nünning fest, dass sich für die Geschichte keine Entsprechung im Roman finde im Gegensatz zur Geschichtsschreibung, wohl aber für einzelne in die Geschichte eingebundene Elemente, A. Nünning, S. 147–149. 7 P. Blume, S. 23–34. 8 Zipfel zeichnet diese Argumentation nach: F. Zipfel, S. 92–95. 9 F. Zipfel, S. 92.

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fiktiven Elementen einer fiktionalen Erzählung gleichzusetzen, da sie aufgrund von Vorwissen anders identifiziert und eingeordnet wird. In der Gegenüberstellung autonomistischer und kompositionalistischer Positionen geht es also um die Frage, ob als faktisch bekannte ‚Elemente‘ diesen faktualen Bezug verlieren, sobald sie in einer fiktiven Erzählwelt auftauchen. Die Inferenzdimension fiktionalen Erzählens wäre damit in der Neutralisierung von Referenz absolut gesetzt. Für das historische Erzählen in der Literatur würde dies bedeuten, dass es in der Literatur keinen Wirklichkeitsbezug beansprucht. Wenn im theoretischen Rahmen dieser Studie entgegen dieser Annahme sehr wohl von einem gültigen Wirklichkeitsbezug des historischen Erzählens auch im fiktionalen Kontext ausgegangen wird, stimmt dieser Ausgangspunkt dennoch nicht mit der kompositionalistischen Position überein. Dies impliziert, dass die beiden Positionen des Autonomismus beziehungsweise des Kompositionalismus nicht so weit voneinander entfernt sind, wie ihre Unterscheidung vermuten lässt. Eine kompositionalistische Position lässt sich insofern mit einer autonomistischen Position vereinbaren, als die Tatsache, dass auch fiktionale Erzählungen auf die Wirklichkeit verweisen, ihre Fiktionalität nicht antasten muss. „Fiktionalität bedeutet demnach keinesfalls Referenzlosigkeit“,¹⁰ bemerkt etwa Lut Missinne in einer Studie zur Autobiografie, deren Status zwischen Fiktionalität und Faktualität noch unklarer ist als der des historischen Romans. Wirklichkeitsbezug werde demnach nicht verneint, sondern „aufgeschoben“.¹¹ Auch in fiktionalen Erzählungen ist demnach, wie am historischen Erzählen in der Literatur besonders deutlich wird, Wirklichkeitsbezug vorhanden – Napoleon ist demnach keine fiktive, sondern eine faktische Figur und kann dennoch als solche in einer fiktionalen Erzählung auftauchen. Die Unterscheidung von fiktiver und fiktionaler Ebene wird hier besonders wichtig: „Fiktiv bedeutet erfunden, eingebildet, nicht echt, während fiktional auf die besondere Verfassung der Welt in einem Kunstwerk verweist.“¹² Im Zusammenhang mit dem historischen Erzählen in der Literatur ist es wichtig festzuhalten, dass diese „besondere Verfassung“ der literarischen fiktionalen Erzählung die Fiktivität des Erzählten nahelegt, dadurch aber faktische Elemente nicht ausschließt. Es geht um den fiktionalen Zusammenhang, in den auch die faktischen

10 „Fictionaliteit betekent bijgevolg geenszins referentieloosheid“, Lut Missinne, Oprecht gelogen. Autobiografische romans en autofictie in de Nederlandse literatuur na 1984, Nijmegen 2013, S. 136. 11 L. Missinne, S. 136 in Bezug auf Dorrit Cohn, The Distinction of Fiction, Baltimore/London 1999, S. 14. 12 „Fictief betekent verzonnen, verbeeld, niet echt, terwijl fictioneel wijst op het bijzondere statuut van de wereld in een kunstwerk“: L. Missinne, S. 135.

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Elemente in der fiktionalen Erzählung gebracht werden: Die „besondere Verfassung“ dieses fiktionalen Zusammenhangs, der Wirklichkeitsbezug „aufschiebt“, ihn also für den Moment des Erzählens als nicht vorrangig einordnet, ist im Verständnis dieser Studie der ‚Unernst‘, durch welchen sich das fiktionale Erzählen im Gegensatz zum historischen Erzählen als faktualem Erzählen auszeichnet. Wenn Zipfel betont, dass das Vorkommen realer Objekte in fiktionalen Texten nicht bedeute, „daß alle Aussagen über diese realen Objekte in fiktionalen Texten als ernstzunehmende [Hervorhebung BvD] Aussagen über diese Objekte in der Welt zu verstehen sind“,¹³ tritt die im Zusammenhang mit dem historischen Erzählen herausgearbeitete Kategorie der ‚Ernsthaftigkeit‘ also wieder in den Vordergrund (vgl. 3.3.2). Wird das historische Erzählen in fiktionale Erzählungen integriert, geht ihm demnach nicht der Wirklichkeitsbezug verloren, sondern der ‚ernsthafte‘ Umgang mit ihm im ‚unernsten‘ Kontext des fiktionalen Erzählens. Der bloße Umstand, dass im fiktionalen Erzählen erkennbar faktische Elemente neben Elemente gestellt werden, deren Wirklichkeitsstatus schwer bestimmbar ist oder auch zurückgewiesen werden kann, kennzeichnet eine ‚Unernsthaftigkeit‘, die im historischen Erzählen als faktualem Erzählen nicht möglich wäre. Historisches Erzählen im fiktionalen Erzählen ist also ein Erzählen mit Wirklichkeitsbezug im spielerischen Kontext, der Bezugnahme zur Wirklichkeit nicht ausschließt, aber auch nicht stringent verfolgt und demnach zwar auf die Wirklichkeit verweisen kann, nicht aber das Kriterium faktualen Erzählens erfüllt, die Erzählung dieser Wirklichkeit entsprechen lassen zu wollen.

4.1.2 Wirklichkeitsbezug in fiktionalen Erzählungen Wenn von einem Wirklichkeitsbezug auch im fiktionalen Erzählen die Rede ist, muss dieser im sprachpragmatischen Kontext näher bestimmt werden. Wiederum beruht die Definition der referentiellen Bezüge in einer fiktionalen Erzählung nicht auf einem ontologischen Status gegenüber ‚der Wirklichkeit‘. Blume ordnet die Klassifizierung der fiktiven und faktischen Elemente in einer Erzählung eher produktionsorientiert auf der Seite des Autors beziehungsweise der Autorin ein,¹⁴ Zipfel verortet die Klassifizierung eher rezeptionsorientiert auf der Seite der Lesenden.¹⁵ Sowohl in produktions- als auch in rezeptionsorientierter Theorie

13 F. Zipfel, S. 93. 14 P. Blume, S. 78–91. 15 Vgl. Zipfels kritsche Auseinandersetzung mit produktionsorientierten Theorien zur Fiktionalität, F. Zipfel, S. 182–228. Zur rezeptionsorientierten Theorien zur Fiktionalität siehe F. Zipfel, S. 229–278.

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geschieht die Einordnung von erzählten Elementen als faktisch aufgrund eines Bezuges nicht zur Wirklichkeit, sondern zum Wissen über diese Wirklichkeit. Blume spricht von „in der mentalen Enzyklopädie [...] bereitliegende[n] Konzepte[n]“,¹⁶ Zipfel in Bezug auf Nelson Goodman vom Wissen darum, was „als wirklich oder real gilt“.¹⁷ Dieses Wirklichkeitswissen setzt sich, wie Blume in Bezug auf Hilary Putnam und Zipfel in Bezug auf Umberto Eco ausarbeitet,¹⁸ aus Erfahrungswissen (also mehr oder weniger „direkter“ alltäglicher Lebenserfahrung) und „Expertenwissen“, der Enzyklopädie (also Wissen aus zweiter Hand, bei dem wir auf die Glaubwürdigkeit von Experten vertrauen) zusammen. Lesende entscheiden also in der Lektüre einer fiktionalen Erzählung aufgrund von eigenem Erfahrungswissen oder aufgrund von Vertrauen in das Expertenwissen anderer, ob sie ein Element als faktisch oder fiktiv einordnen. In der hier gehandhabten Definition faktualen und fiktionalen Erzählens kann eine fiktionale Erzählung als faktisch und als fiktiv eingeordnete Elemente enthalten, ohne dadurch ihre Fiktionalität einzubüßen. Was die Kombination faktischer und fiktiver Elemente im faktualen und fiktionalen Erzählen betrifft, fällt jedoch ein Ungleichgewicht auf: Wird eine Erzählung als faktual rezipiert, gibt es eine geringe Toleranz gegenüber fiktiven Elementen, die in einem als faktual markierten Text als ‚Lüge‘ gelten müssen.¹⁹ Umgekehrt ist jedoch hervorzuheben, dass eine als fiktional eingeordnete Erzählung zwar keinen Anspruch auf den Bezug auf eine nichtsprachliche Wirklichkeit erhebt, diesen jedoch auch nicht ausschließt. Faktische Elemente stören somit den fiktionalen Text nicht, während fiktive Elemente im faktualen Text dessen Glaubwürdigkeit unterlaufen. Eine fiktionale Erzählung ‚funktioniert‘ auch ohne konkreten Wirklichkeitsbezug, kann diese Ebene jedoch nach Belieben ‚hinzufügen‘. Dabei lässt sich eine Beziehbarkeit des Erzählten auf die Wirklichkeit verschieden signalisieren. Im faktualen Erzählen ist eher als im fiktionalen Erzählen der Verweis auf Quellen oder Sekundärliteratur üblich, um die Faktizität des Erzählten zu unterstreichen. Zudem wird oft mit expliziten Signalen, wie den

16 P. Blume, S. 80. 17 F. Zipfel, S. 75 in Bezug auf Nelson Goodman, Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978. 18 P. Blume, S. 82 in Bezug auf Hilary Putnam, Sprache und Wirklichkeit. In: Putnam, Von einem realistischen Standpunkt. Schriften zu Sprache und Wirklichkeit, übersetzt von Vincent C. Müller, Reinbek 1993, S. 52–77. F. Zipfel, S. 75–76 in Bezug auf Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, Harvard-Vorlesungen (Norton Lectures 1992-93), übersetzt von Burkhart Kroeber, München/Wien 1994. 19 Ein faktualer Erzählstil, bei dem dies sehr deutlich wird, ist das „Erzählen im juristischen Diskurs“, das die Wahrheit des Erzählten in besonderer Weise einfordert, vgl. Andreas von Arnauld, S. 14–50.

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Jahreszahlen im historischen Zusammenhang, gearbeitet. Im fiktionalen Erzählen sind solche expliziten Verweise ebenso möglich, es wird jedoch in großem Umfang die für das historische Erzählen im faktualen Zusammenhang unübliche Form des impliziten Verweises verwendet.²⁰ In Bezug auf historisches Erzählen in der Literatur werden beim impliziten Verweis keine expliziten und konventionalisierten Signale wie Jahreszahlen, Namen oder wichtige Ereignisse genannt. Vielmehr wird eine Erzählwelt entworfen, die in ihrer Ausgestaltung implizit auf eine andere Zeit verweist (zur impliziten und expliziten Etablierung eines Wirklichkeitsbezugs in Erzählungen vgl. 5.2.2). Der implizite Verweis auf eine andere historische Zeit muss dabei genau so, wenn nicht noch stärker als der explizite Verweis, mit einer konventionalisierten, wenn nicht gar stererotypen Semantik arbeiten, um den Bezug zur vergangenen Wirklichkeit zu kommunizieren. Weniger an erkennbare semantische Signale gebunden ist ein weiterer Weg, in einer fiktionalen Erzählung einen Wirklichkeitsbezug zu evozieren: Neben dem Andocken an faktual verbürgtes Wissen in der Gestaltung der Erzählwelt lassen sich auch als faktual konventionalisierte Erzählstrategien selbst – wie Berichte, Quellenzitate, Quellenverweise und so weiter – in die Erzählung integrieren.²¹ Die wichtigsten Strategien, mit denen fiktionale Erzählungen Wirklichkeitsbezug evozieren können, sind demnach der explizite oder implizite Verweis auf faktuale Zusammenhänge (wie eine bestimmte geschichtliche Epoche) oder die Integration von faktualen Erzählstrategien in das eigene Erzählen. Das so gestaltete Zuschalten eines faktualen Kontextes durch faktische Elemente oder faktuale Erzählstrategien macht die fiktionale Erzählung nicht zu einer faktualen, etabliert aber einen Wirklichkeitsbezug in einer Erzählung, die diesen nicht zwingend braucht. Während die ernsthafte Erzählhaltung im faktualen Erzählen die Integration fiktiver Elemente nicht duldet, kann jedoch umgekehrt im Kontext der Fiktion sogar davon gesprochen werden, dass ein in die Erzählung integrierter spezifischer Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit nicht nur nicht stört, sondern die Eigenwirklichkeit der fiktionalen Erzählung in-

20 Blume differenziert in Bezug auf Bernd Lenz verschiedene Formen, in denen Weltwissen als referentieller Verweis in fiktionalen Texten vorkommen kann: Es kann sehr spezifisch oder allgemein verarbeitet sein. Es kann explizit oder implizit kommuniziert werden. Es kann einen hohen oder einen niedrigen Konventionalisierungsgrad haben und referierend oder szenisch wiedergegeben werden. Zudem kann es im Zusammenhang der Erzählung motiviert auftauchen oder scheinbar unmotiviert sein. Vgl. P. Blume, S. 92–137 in Bezug auf Bernd Lenz, Factifiction – Agentenspiele wie in der Realität. Wirklichkeitsanspruch und Wirklichkeitsgehalt des Agentenromans, Heidelberg 1987. 21 Ein in dieser Arbeit analysierter literarischer Text, der sehr ausgiebig von dieser Strategie Gebrauch macht, ist Atte Jongstras De avonturen van Henry II Fix, vgl. 5.2.2 sowie 6.2.1 und 6.3.1.

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tensiviert. Die fiktionale Erzählung kann den Verweis auf die Wirklichkeit gerade dazu nutzen, ihr Erzähluniversum noch dichter und überzeugender zu gestalten, wie Korschorke festhält: „Deshalb bestehen erfolgreiche Erzählstrategien weniger darin, die Evidenz des Faktischen abzuwehren, als sie zu absorbieren. Fiktionen sind daraufhin angelegt, sich in Richtung auf eine angenommene oder vorgespiegelte Faktizität hin zu überschreiten.“²² Lut Missinne spricht gar von einer „Art Ansteckungswirkung“ des „Echtheitseffekts“, den faktische Elemente in einer fiktionalen Welt bewerkstelligen können.²³ Nachdem sowohl für fiktionale als auch für faktuale Erzählungen Möglichkeiten, einen Wirklichkeitsbezug der Erzählung zu etablieren, skizziert wurden, bleibt zu spezifizieren, mit welchen Erzählstrategien dieser Wirklichkeitsbezug im Kontext des historischen Erzählens in der Literatur „absorbiert“ wird. Dabei geht es auch um die Frage, auf welche Weise ein solcher Wirklichkeitsbezug im ‚unernsten‘ Zusammenhang des fiktionalen Erzählens anders funktioniert als im faktualen Erzählen. Unter Aufrechterhaltung der These, dass sich das fiktionale und das faktuale Erzählen in ihrer grundsätzlichen Dynamik der Inferenz und der Referenz nicht prinzipiell unterscheiden, soll untersucht werden, wie diese Dynamik im Rahmen konventionalisierter Erwartungen an das faktuale und das fiktionale Erzählen dennoch unterschiedliche Formen annimmt.

4.2 Beleben statt belegen: Geschichte als Ereignis 4.2.1 Wirklichkeitseffekte in Roland Barthes’ Die helle Kammer In seinen Reflexionen zur Fotografie, Die helle Kammer,²⁴ beschäftigt sich Roland Barthes ähnlich wie in „Die Historie und ihr Diskurs“ mit realistischen Darstellungverfahren, die einen direkten Zugriff auf die Wirklichkeit suggerieren. Anstatt auf in Texten verschriftliche Erzählungen bezieht er diese Darstellungsverfahren allerdings hier auf ein anderes Medium, die Fotografie, deren „Evidenz so mächtig ist [...] im Gegensatz zum Text oder anderen Wahrnehmungsformen, die mir das Objekt in undeutlicher, anfechtbarer Weise darbieten und mich dadurch auffordern, dem zu mißtrauen, was ich zu sehen glaube“.²⁵ Die Fotografie könne gegenüber anderen Medien in besonderem Maße beanspruchen, dass ihr Darstel-

22 A. Koschorke, S. 334. 23 L. Missinne, S. 139. 24 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt am Main 1989, [1980]. 25 R. Barthes, Die helle Kammer, S. 117.

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lungsgegenstand ein außersprachliches Äquivalent habe, das real gewesen sei. Diese besondere Form der Referentialität verbindet Barthes mit der auch für die Verarbeitung von Geschichte in Literatur relevanten „perversen Verschränkung zweier Begriffe: des REALEN und des LEBENDIGEN: indem sie [die Fotografie] bezeugt, daß der Gegenstand real gewesen sei, suggeriert sie insgeheim, er sei lebendig [...] Daher sollte man eher sagen, daß das Unnachahmliche der PHOTOGRAPHIE (ihr Noema) darin besteht, daß jemand den Referenten leibhaftig oder gar in persona gesehen hat [...]“²⁶ Bei Barthes mischen sich in dieser Verschränkung von Realem und Lebendigem demnach in die Beschreibung der Referentialität von Fotos Aspekte wie „Beseelung“, „Affekt“, „Sehnsucht nach Vergangenem“, „Lebensnähe“, „Tod“, „Vergegenwärtigung“ und „Präsenz“.²⁷ Die sprachphilosophische Frage nach der Repräsentierbarkeit von Wirklichkeit wird dadurch mit anthropologischen Fragen nach dem Verhältnis des Menschen zur Vergänglichkeit verknüpft. Dadurch dass der „Referent de[r] ersehnte[] Gegenstand, die geliebte Gestalt“,²⁸ in Barthes Fall letztlich „die Mutter“ ist, verbindet sich die theoretische Frage nach der Referentialität mit der sehr persönlichen Frage um menschliche Beziehungen, Leben und Tod. Der als real und lebendig erfahrene Gegenstand deutet eine gewisse Unfähigkeit der Betrachtenden an, den fotografischen Bildinhalt, der im Moment des Betrachtens im Hier und Jetzt anwesend ist, von seinem Referenten zu trennen, der unwiederbringlich in der Vergangenheit liegt. Die Fotografie macht dies besonders schwierig, da die Betrachtenden mit dem (technischen) Wissen konfrontiert sind, dass der Referent des Fotos existiert haben muss und vom Fotografen auch sinnlich erfahren wurde (im Gegensatz etwa zum Referenten des Erzählgegenstandes Geschichte).²⁹ Was Barthes beschreibt, ist eine Art Zeitverschmelzung im Augenblick des Betrachtens, in dem die Betrachtenden die Präsenz des Darstellungsgegenstandes in der Darstellung (ungerechtfertigt) gleichsetzen mit der Präsenz dessen, worauf er verweist und so eine „‚Lebensnähe‘ herzustellen such[en]“, die laut Barthes nur eine „mythische Verleugnung eines Unbehagens gegenüber dem Tod sein“³⁰ kann.

26 R. Barthes, Die helle Kammer, S. 89. 27 R. Barthes, Die helle Kammer: „Beseelung“, S. 29; „Affekt“, S. 30; „Sehnsucht nach Vergangenem“, S. 30; „Lebensnähe“, „Tod“, S. 41; „Vergegenwärtigung“, S. 77; „Präsenz“, S. 97. 28 R. Barthes, Die helle Kammer, S. 15. 29 Natürlich sind von Beginn der Fotografie bis zu ihrer Entwicklung im digitalen Zeitalter täuschend echte Fälschungen möglich, jedoch bestätigen gerade diese Täuschungsversuche die Wirkmacht des Wissens um die Entstehungssituation eines Fotos. 30 R. Barthes, Die helle Kammer, S. 41.

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Barthes entwirft ein Konzept, das dem Bedürfnis nach Vergegenwärtigung des Referenten entgegen kommt. Ähnlich wie die sublime historische Erfahrung (vgl. 9.1 und 9.3.1) ermöglicht das punctum die Wahrnehmung von etwas eigentlich Abwesendem: Während im studium eine fotografische Darstellung in kulturelles Kontextwissen eingeordnet wird, zeichnet sich das punctum als ein bestechendes Detail auf einem Foto gerade dadurch aus, dass es sich nicht einordnen lässt. Es eröffnet ein „blindes Feld“,³¹ in dem es gerade auf etwas Abwesendes – die Wirklichkeit als ein „Abseits“³² – verweist, in dem sich „ein ganzes Leben“³³ befinden kann, das jedoch in keiner Weise durch Quellen beglaubigt ist. Mit dem Konzept des punctum lässt sich Barthes in zeitgenössische ‚posthermeneutische‘ Strömungen einordnen, in denen, wie etwa in der Studie Posthermeneutik von Dieter Mersch,³⁴ die „Unmöglichkeit des Sagens von Alterität – oder Präsenz“ nicht völlig akzeptiert, sondern in die „Rhetorik des Andeutens, Anspielens oder Hinweisens“ verlagert wird.³⁵ Das punctum wäre ein Beispiel für die von Mersch so benannte „passive Präsenz“, bei der etwas des Medialen bedarf, um sich zu zeigen, deswegen jedoch von der Medialität „weder [...] beherrscht noch konstituiert wird“.³⁶ Die passive Präsenz lässt sich, etwa im narrativen Text, nicht ausdrücken, sondern zeigt sich beiläufig und unkontrollierbar wie das punctum, das von einer „Absenz in die Präsenz der Absenz umkippt“.³⁷ Das Foto kann etwas vergegenwärtigen, das eigentlich unerreichbar ist: Es weist auf das Abwesende hin. Barthes beansprucht das Moment des punctum deutlich für die Fotografie und räumt damit ähnlich wie Johan Huizinga dem Bild ein größeres Potential ein, den Verweis auf die Wirklichkeit in einen Kontakt mit der Wirklichkeit zu transformieren.³⁸ Dennoch spielt die in Texten festgehaltene Erzählung auch für das punctum eine Rolle. Dies wird deutlich, wenn Barthes auf der Suche nach Fotos seiner verstorbenen Mutter schließlich ein Foto findet, auf dem er sie „entdeckt[e]“³⁹ in dem Sinne, dass er sich in einem punctum-Moment mit seiner Mutter und nicht mit

31 R. Barthes, Die helle Kammer, S. 66. 32 R. Barthes, Die helle Kammer, S. 68. 33 R. Barthes, Die helle Kammer, S. 66. 34 Dieter Mersch, Posthermeneutik (Deutsche Zeitschrift für Philosophie: Sonderband 26), Berlin 2010. 35 D. Mersch, S. 122. 36 D. Mersch, S. 107. 37 D. Mersch, S. 107. 38 Vgl. Johan Huizinga, De kunst der van Eyck’s in het leven van hun tijd. In: Huizinga, Verzamelde werken 3, Haarlem 1949, S. 436. 39 R. Barthes, Die helle Kammer, S. 77.

4.2 Beleben statt belegen: Geschichte als Ereignis |

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einer Darstellung seiner Mutter konfrontiert sieht. Wichtig ist an dieser Stelle, dass Barthes etwas zutiefst Implizites wie das punctum nun zu explizieren beginnt. An den unterschiedlichen Arten seiner erzählerischen Darstellung lassen sich unterschiedliche Verfahrensweisen identifizieren, die (immer innerhalb konventionalisierter Erwartungen) eher dem faktualen beziehungsweise eher dem fiktionalen Erzählen zugeordnet werden können. Einerseits wird das Foto zur historischen Quelle, die in Form einer Beschreibung dargestellt wird: „Die Photographie war schon sehr alt. Auf Karton aufgezogen, die Ecken abgestoßen, in einem verblaßten Sepiaton, ließ sie gerade noch zwei Kinder erkennen, die nebeneinander am Ende einer kleinen Holzbrücke in einem Wintergarten mit verglasten Dach standen.“⁴⁰ Die Beschreibung des Fotos unterstreicht die Referentialität des Dargestellten in dem Sinne, als dass sie nur direkt Wahrnehmbares beziehungsweise Verbürgtes wiedergibt. Als ein Effekt dieser Darstellungsweise entsteht eine intermediale Beziehung zwischen Text und Bild, in welcher der Text mit dem darstellerischen Mittel der Beschreibung ein Foto wiederzugeben versucht.⁴¹ Danach wird das Foto dem studium entsprechend kontextualisiert, also mit einer Jahreszahl (1898) und dem Lebensalter der beiden Geschwister in Verbindung gebracht. So wird zunächst das Material, dann der Bildinhalt und schließlich der Kontext des Fotos als eine Art historische Quelle beschrieben, ohne eine neutrale Beschreibungsebene zu verlassen. Wenn sich das historische Erzählen im faktualen Diskurs nicht auf einzelne Verfahren festlegen lässt, so entsprechen die von Barthes verwendeten deshalb den Erwartungen an faktuales Erzählen, weil sie die Darstellung eng an die beschriebene Quelle zu binden versuchen. Durch diese starke Orientierung auf die Quelle hin wird Referenz suggeriert, die Quelle als Zeugnis außerhalb des Textes bürgt für einen verlässlichen Bezug zur Vergangenheit. Im folgenden Satz jedoch kippt der Text in einen anderen Darstellungsmodus, der sich nicht mehr durch Beobachtungen oder Quellen legitimieren kann: Er [der Bruder der Mutter, BvD] lehnte mit dem Rücken am Brückengeländer [...]; sie, weiter weg, kleiner, stand mit dem Gesicht zur Kamera; man merkte, daß der Photograph zu ihr gesagt hatte: „Komm ein bißchen näher, damit man dich sieht.“⁴²

40 R. Barthes, Die helle Kammer, S. 77. 41 ‚Beschreibung‘ deutet ein Darstellungsverfahren an, das, meist durch die Aufzählung von Eigenschaften, stark darauf gerichtet ist, Referentialität herzustellen und einen (außersprachlichen) Gegenstand zu identifizieren, vgl. Werner Wolf, Description as a Transmedial Mode of Representation. General Features and Possibilities of Realization in Painting, Fiction and Music. In: Description in Literature and Other Media, hg. von Werner Wolf und Walter Bernhart, Studies in Intermediality 2, New York 2007, S. 12. 42 R. Barthes, Die helle Kammer, S. 77.

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Fast unmerklich geht hier die Beschreibung des Fotos in die Imaginierung der Entstehungssituation des Fotos in Form einer Miniaturerzählung über. Mit der Wendung „man merkte“ wird die neutrale Beschreibungsebene verlassen, jedoch ohne sich deutlich vom vorherigen ‚faktualen‘ Erzählen zu distanzieren. Im Gegensatz zu anderen möglichen Übergängen wie zum Beispiel der Konjunktion ‚als ob‘, die den spekulativen Charakter des Erzählten in einer „irrealen vergleichenden Aussage“⁴³ direkt signalisieren würden, folgt die Wendung „man merkte“ dem Gestus der Beschreibung, der Dinge als objektiv gegeben darstellt. Dennoch ist der Inhalt des so eingeleiteten Nebensatzes nicht auf nachvollziehbare Recherchen, sondern auf die Intuition und Einfühlung eines Betrachters begründet. Dieser schwenkt innerhalb dieses Satzes in die Position eines Erzählers, der eine kleine Szene wiedergibt. Das Erzählte ist dabei wiederum in keiner Weise als angenommen und somit eventuell erdacht gekennzeichnet, denn der Fotograf „hatte“ etwas zur Mutter des Erzählers gesagt: Der Indikativ lässt daran keinen Zweifel aufkommen. So modelliert sich in diesem Satz beiläufig eine fiktionale Miniepisode, welche ihren illusionären Charakter sorgfältig mit dem starken Anspruch auf Referentialität der vorhergehenden Beschreibung verknüpft. Dies könnte als eine Art fiktionales historisches Erzählen in a nutshell bezeichnet werden, das seine Illusionsbildung auf der Referenzillusion einer anderen Erzählform aufbaut und stärkt (vgl. 4.3.2). Obwohl in diesem Satz etwas „gemerkt“ wird, bricht die Darstellung hier unmerklich mit dem vorherigen Darstellungsmodus. Der (kaschierte) Verlust der referentiellen Glaubwürdigkeit wird dadurch ausgeglichen, dass er eine Nähe zum Geschehen ermöglicht. Die kleine Sequenz bedient sich einer szenischen Darstellung, in welcher die Worte des Fotografen direkt und zeitgleich wiedergegeben werden, wodurch sowohl der Fotograf als auch die angesprochene Mutter im Kindesalter plötzlich und für einen kleinen Moment zu Figuren aktiviert werden, denen eine (nicht verbürgte) Handlung zugeschrieben wird. Durch die kleine Szene befinden sich die Lesenden plötzlich da, wo es geschieht – die Oberfläche des Fotos wird somit (rein erzählerisch) durchstoßen: Es wird nicht nur der Bildinhalt beschrieben, sondern der (verloren gegangene) Referent des Bildes evoziert. Diese Aktivierung ist natürlich eine Simulation, die etwas unbelegtes, implizites (das punctum) expliziert und dadurch dessen Wirklichkeitswert verliert: Die Wirkung des punctum kann als eine latente Erzählung bezeichnet werden, die aber gerade von ihrer Latenz abhängt. Wird sie expliziert, verliert sie ihren Wirklichkeitseffekt. Diesen Verlust kompensiert die Erzählung dadurch, dass sie den

43 „(als) ob“, Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl., Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2007.

4.2 Beleben statt belegen: Geschichte als Ereignis | 71

Ereignischarakter des Erzählten jenseits von jeder Referentialität in den Vordergrund stellt und damit ihre Eigenwirklichkeit steigert. In diesem Kontext ist die Aussage des Fotografen „Komm ein bißchen näher, damit man dich sieht“ geradezu selbstreferentiell: Sie drückt die Sehnsucht des Betrachters aus, die sich in der Erzählung niederschlägt – Wirklichkeitsbezug und Persönliches verbinden sich: Das Abgebildete soll näher kommen, soll sichtbar und präsent werden. Als Bindeglied auf der Ebene des Dargestellten fungiert die Kamera des Fotografen, die einen Bezug zur Darstellung (das Foto) sowie zum Referenten der Darstellung herstellt, da sie für die Entstehung des Fotos unerlässlich war.

4.2.2 Repräsentation und Präsentation Durch die Explizierung von etwas Implizitem in Form einer Erzählung geht einerseits die Glaubwürdigkeit im Sinne des belegbaren Wirklichkeitbezugs verloren, auch wenn dies wie bei Barthes kaschiert wird. Andererseits ‚geschieht‘ hier plötzlich, was sich vorher nur andeutete. Diese spezielle Form der ‚Verhandlung‘ von Geschichte kehrt damit einen Aspekt in den Vordergrund, der nicht auf ihre Verbürgtheit und ihren Wahrheitswert zielt, sondern vielmehr auf ihren Geschehenscharakter, so wie ganz wörtlich genommen der ‚Fakt‘ als ‚Gemachtes‘ oder die ‚Tatsache‘ auf ein Tun verweisen.⁴⁴ Im fiktionalen historischen Erzählen wird also dieser Ereignischarakter des Faktischen hervorgehoben. Weniger das fertige, verbürgte Produkt als sein Zustandekommen in Handlungen stehen im Fokus. So wird Faktualität in den Rahmen menschlichen Handelns eingeordnet, was – und hier deutet sich eine Überschneidung an – auch dem Erzählinteresse des historischen Erzählens im faktualen Kontext entspricht (vgl. 3.3.3).⁴⁵ Eine solche Definition des fiktionalen Erzählens als Erzählen, das Geschehen simuliert, schließt an textuelle Performanztheorien an, nach denen Texte zwar selbst nicht im engeren Sinne performativ sind, jedoch gerade deswegen in ihren textuellen Strategien eine „strukturelle Performativität“ anstreben, die der „Simulation, Suggestion oder Beschwörung von Präsenz [...], Körperlichkeit und

44 Gabriele Schabacher fasst die Entwicklung des Begriffs „Tatsache“ zusammen und hebt auch hervor, dass mit dem Begriff „nicht nur das Wirkliche, sondern stets auch das via Handlung Verwirklichte“ gemeint sei, vgl. Schabacher, S. 85 (81–89). 45 Nicht zufällig sind die von Barthes in Die helle Kammer besprochenen Bilder beinahe auschließlich Abbildungen von Menschen oder, wenn einmal kein Mensch im Vordergrund steht, von stark durch menschliches Handeln geprägten Orten. Das punctum ist an Leben und Tod, an Menschen und ihre Kultur gebunden, die auch Thema der Geschichtsschreibung sind, welche die Vergangenheit klassischerweise an Menschen bindet (vgl. 3.3.3 und 4.3.3).

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Ereignishaftigkeit im Medium des Textes“ dient.⁴⁶ Es geht also um eine Simulation zum Beispiel eines Ereignisses, nicht um das Zustandebringen des Ereignisses selbst. Der fiktional historisch erzählende Text stellt also die inszenierte Präsentation der historischen Ereignisse in den Vordergrund, während historisches Erzählen im faktualen Kontext die Wirklichkeitsbezüge betonende Repräsentation – wie in Barthes Beschreibung des Fotos (vgl. 4.2.1) – unterstreicht.⁴⁷ Das fiktionale Erzählen ist geprägt von „textuellen Strategien des In-Szene-Setzens, des Präsentierens und Vorführens“:⁴⁸ Im fiktionalen Erzählen wird das historische Erzählen ‚wie‘ es eigentlich gewesen zu einem Erzählen ‚als ob‘ es so gewesen sei. „[U]nter dem Signum des Als Ob“ findet eine „temporäre Wirklichkeitsstiftung“ statt.⁴⁹ Die Präsentation des fiktionalen Erzählens schließt dabei an die Repräsentation des faktualen historischen Erzählens an, auch wenn sie sich nur lose andockt.⁵⁰ Um einen Begriff aus der postmodernen Literaturbeschreibung zu gebrauchen, ‚surft‘ das fiktionale Erzählen hier auf der Welle der Referentialität, die durch Dargestelltes oder Darstellungsstrategien des faktualen Erzählens zustande kommt.⁵¹ Die in der Erzählung konstruierte Präsentation, durch die sich etwas ereignet, entfaltet unabhängig von ihrem Wirklichkeitsbezug eine eigene Logik (Inferenz). Von diesem Moment an überzeugt der Text nicht mehr durch seine Verifizierbarkeit, sondern durch die Stimmigkeit seiner Präsentation. Ricœur sieht in diesem Verfahren die zentrale Strategie zur Herstellung von Glaubwürdigkeit im literarischen Diskurs gegeben, die er von der Glaubwürdigkeitsstrategie historischen Erzählens abgrenzt. Er benennt sie englisch mit „reliability“, als „das fiktionale Gegenstück zum dokumentarischen Beweis in der Geschichtsschreibung. Denn weil der Romanschriftsteller keinen materiellen Beweis liefern kann, verlangt er vom Leser, ihm nicht nur das Recht zuzugestehen zu wissen,

46 Bernd Häsner, Henning S. Hufnagel, Irmgard Maassen und Anita Traninger, Text und Performativität. In: Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, hg. Klaus W. Hempfer und Jörg Volbers, Bielefeld 2011, S. 83. 47 Zur Unterscheidung der präsentativen und der repräsentativ-konstativen Funktion von Texten vgl. Häsner et al., S. 80. 48 Häsner et al., S. 80. 49 Häsner et al., S. 78. 50 Zur Literatur als performativen und konstativen Sprachgebrauch produktiv mischendem Medium vgl. Jonathan Culler, Philosophy and Literature. The Fortunes of the Performative. In: Poetics Today, 21/3, 2000, S. 512. 51 Steven Connor vergleicht das Verhältnis postmoderner Literatur zur Wirklichkeit wie folgt: „Rather than pitting its resources against a resistant world, postmodernist fiction attempts to outdo the world in the way the surfer does, staying audaciously just ahead of the wave from which all his impetus derives“, Steven Connor, Postmodernism and literature. In: The Cambridge Companion to Postmodernism, hg. von Steven Connor, Cambridge 2004, S. 71.

4.2 Beleben statt belegen: Geschichte als Ereignis | 73

was er erzählt oder darstellt, sondern auch, eine bestimmte Einschätzung oder Wertung seiner Hauptfiguren nahezulegen“.⁵² Dies ist die „Signifikanzfunktion“ des (literarischen) fiktionalen Erzählens, die er der „Repräsentanzfunktion“ des historischen Erzählens (vgl. 3.3.2) gegenüberstellt. Ricouer schreibt dabei dem fiktionalen Erzählen in der Signifikanzfunktion eine ebenso große Gebundenheit beziehungsweise Einschränkung wie dem historischen Erzählen in der Repräsentanzfunktion zu. Die spezielle „Schuld“ des fiktionalen Erzählens im Gegensatz zu der „Schuld“ des faktualen Erzählens (vgl. 3.3.2) definiert er in Bezug auf die Lesenden, die eine überzeugende Darstellung erwarten (vgl. 4.3.3). Ähnlich wie im oben umschriebenen sprachpragmatischen Ansatz zur Bestimmung von fiktionalen und faktualen Erzählungen spricht Ricœur von einem Lektürepakt, dem eine rhetorische Überzeugungsstrategie zugrunde liege.⁵³ Der Lektürepakt sei von einem „Vertrauen“ getragen, „das die Gewalt mildert, die in jeder Überzeugungsstrategie verborgen liegt“.⁵⁴ Im Miniaturbeispiel von Barthes wird das Vertrauensmoment zwischen Text und Leser in der Wendung „man merkte“⁵⁵ hergestellt: In ihr wird eine eigene Beobachtung durch das unpersönliche Pronomen „man“ verallgemeinert und so als auch für die Lesenden adäquat und nachvollziehbar dargestellt, obwohl natürlich die „Gewalt“ der Überzeugungsstrategie vorliegt, die diese Verallgemeinerung ohne jeden Grund setzt und die Einschätzung und Wertung des Erzählers verabsolutiert. Wenn Ricœur die Signifikanzfunktion als fiktionale Glaubwürdigkeitsstrategie in den Kontext rhetorischer Überzeugungsstrategien einordnet, deutet sich hier bereits eine Lockerung der einseitigen Zuordnung des Präsentationsverfahrens zur fiktionalen Erzählung an. Denn in der antiken Rhetorik wird das ‚Zei-

52 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 261. 53 „Denn nur durch die Vermittlung der Lektüre erhält das literarische Werk seine vollständige Signifikanz, die für die Fiktion dieselbe Bedeutung haben soll wie die Repräsentanz für die Geschichte“: P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 255. Ricœur nimmt dabei Bezug auf sein dreifaches Mimesiskonzept, nach dem der Mimesis als dichterischem Schöpfungsvorgang (Mimesis II) einerseits eine dichterische Kompositionsarbeit (Mimesis I) vorgeschaltet ist und der andererseits immer eine aktivierende Lektüre folgen muss (Mimesis III): Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. I (Zeit und historische Erzählung), übersetzt von Rainer Rochlitz, Übergänge 18, München 1988, S. 78. Die Mimesis III „bezeichnet den Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der des Hörers oder Lesers [...]. Die Signifikanz des fiktionalen Werks ist eine Folge dieser Überschneidung“: P. Ricœur, Die erzählte Zeit. S. 255. 54 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 222–223. 55 Es handelt sich um das unter 4.2.1 aufgeführte Zitat „Er [der Bruder der Mutter, BvD] lehnte mit dem Rücken am Brückengeländer [...]; sie, weiter weg, kleiner, stand mit dem Gesicht zur Kamera; man merkte, daß der Photograph zu ihr gesagt hatte: „Komm ein bißchen näher, damit man dich sieht.“ R. Barthes, Die helle Kammer, S. 77.

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gen‘ explizit mit dem Beweisen eines Sachverhalts verknüpft und damit in den Rahmen faktualen Erzählens gestellt. Die evidentia⁵⁶ definiert Evidenz nicht als bloßes Hervorbringen von in sich überzeugenden „Beweisen“, sondern als Kunst ihrer Veranschaulichung durch Verlebendigung und detaillierte Beschreibung.⁵⁷ Indem die evidentia-Konzepte in der Veranschaulichung von etwas, das zu beweisen ist, die Präsentation auch im nichtfiktionalen Zusammenhang legitimieren, zeigt sich, dass die Zuordnung der Präsentation zum fiktionalen Erzählen variabel ist. Wie im folgenden ausgeführt werden soll, sind denn auch sowohl fiktionales als auch faktuales historisches Erzählen von der Dynamik von Präsentation und Repräsentation geprägt, obwohl diese Verfahren eine unterschiedliche Legitimität in beiden Diskursformen besitzen. Hier soll zunächst die Rolle der Präsentation im fiktionalen Erzählen beleuchtet werden (4.3.1), um dann ihre Funktion auch im faktualen Erzählen zu diskutieren (4.3.2 und 4.3.3).

4.3 Geschichtserzählungen zwischen Annäherung und Distanzierung 4.3.1 Illusion und Illusionsstörung zwischen Erlebnis und Referenz In Bezug auf die fiktionale Glaubwürdigkeitsstrategie der Präsentation (vgl. 4.2.2.) fällt auf, dass diese durch selbstreflexive Elemente nicht geschmälert, sondern gerade im Gegenteil verstärkt wird. Ricœur betont in Bezug auf die Signifikanzfunktion des fiktionalen Erzählens explizit, dass zum Beispiel das unzuverlässige Erzählen nicht störend für die Vertrauensgrundlage des Lektürepakts sei, sondern den Lesenden mehr Verantwortlichkeit zuschreibe, die zu mehr Distanz gegenüber der Erzählung angehalten würden. Der Lektürepakt schließe also auch das unzuverlässige Erzählen mit ein, da es die Glaubwürdigkeit zwar unterlaufe, sie aber dadurch zugleich in besonderer Weise thematisiere.⁵⁸ Es ist also keineswegs

56 Vgl. zu diesem und den folgenden rhetorischen Konzepten Ansgar Kemmann, Evidentia. Evidenz. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. III, Tübingen 1996, S. 33–47. 57 Mit dem rhetorischen Mittel der energeia wird, ausgehend von Aristoteles, auf die ‚Verlebendigung‘ verwiesen. Energeia kann evidentia durch Vergegenwärtigung von Abwesendem erzeugen, indem sie es lebendig darstellt. Auf Quintilian geht das Verfahren der enargeia zurück, auf das auch Häsner et al. im Zusammenhang mit der textuellen Performativität verweisen. In der enargeia wird das detaillierte Ausmalen von Gegebenheiten, das „Vor-Augen-Stellen von Geschehenszusammenhängen“ (Häsner et al., S. 83.) angestrebt: „Es ist nicht, als ob die Dinge erzählt, sondern als ob sie aufgeführt würden“ (Quintilian, Quint. Insti. orat., IX 2, S. 43). 58 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 261–265.

4.3 Geschichtserzählungen zwischen Annäherung und Distanzierung | 75

so, dass die Inszenierung von Geschichte im fiktionalen Erzählen eine perfekte Illusion impliziert, die nur funktioniert, so lange eine künstliche Nähe zum Erzählten aufrecht erhalten wird. Wie Werner Wolf bemerkt, muss eine erzählerisch erzeugte Illusion nicht einmal gestört werden, um eine gewisse Distanz zum Erzählten immer mitzuenthalten, da es ein „charakteristische[s] Moment der Distanz“ gebe, „das ästhetische Illusion immer auszeichnet“.⁵⁹ Gerade darin unterscheide sich die (ästhetische) Ilusion von der Halluzination, in welcher es keinerlei Distanz mehr zum Vorgestellten gebe. Die ästhetische Illusion, zu der auch die szenisch inszenierte Geschichte zählt, wird dadurch ein „offenbar ambivalentes Phänomen“.⁶⁰ Einerseits wirke ästhetische Illusion immer als „Schein des Erlebens von Wirklichkeit“,⁶¹ „in die sich der Rezipient hineinversetzt fühlen kann“.⁶² Andererseits gebe es auf der Rezeptionsseite neben dieser teilnehmenden Funktion auch eine betrachtende Funktion, die einen gewissen Abstand zum Geschehen impliziert: Ästhetische Illusion beruht damit immer auf einer produktiven Unvollständigkeit.⁶³ Zipfel spricht in Bezug auf Kendall Walton von „Mitspielen und Beobachten“ beziehungsweise von „Partizipation und Distanz“.⁶⁴ Dies wirft insofern ein anderes Licht auf die Forschung zum fiktionalen historischen Erzählen, als dass die im postmodernen Forschungskontext relevanten ‚metafiktionalen‘ und ‚metahistoriografischen‘ Verfahren in den Worten Wolfs „gar nichts so Sensationelles“ sind, aktualisieren sie doch „nur jene Distanz in besonderer Weise, die im Kontext der ästhetischen Kunst [...] immer schon wenigstens latent gegeben ist“.⁶⁵ Wolf macht somit auf die Interdependenz zwischen Illusionsbildung und Illusionsstörung aufmerksam, nach der in der ästhetischen Illusion schon so viel Distanz enthalten sei, dass „Illusionsdurchbrechungen [...] innerhalb des Systems [bleiben] und [...] auf seine ästhetische Qualität hin[weisen]“.⁶⁶ Er führt nota bene den historischen Roman The French Lieutenant’s Woman von John Fowles als Beispiel dafür an, dass innerhalb einer ästhetischen Illusion der Bruch – in diesem Fall durch das berühmte dreizehnte Kapitel, das mit dem Satz „This story I am telling is all imagination“ die Illusion

59 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 33. 60 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 33. 61 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 31. 62 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 34. 63 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 32–33. 64 F. Zipfel, S. 257–261 in Bezug auf Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambrigde(Mass.)/London 1990. 65 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 34. 66 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 34.

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empfindlich stört – nicht tiefgehend sei, da er letztlich das „System“ nicht störe.⁶⁷ Im Gegensatz dazu wäre ein ähnlicher Satz im Rahmen des (faktualen) historischen Erzählens in der Geschichtsschreibung eine erhebliche Störung, weil er den – auf Wirklichkeitsbezug beruhenden – Lektürepakt im Ganzen in Frage stellen würde. Im Rahmen der Literatur als sprachlichem Kunstwerk muss letztlich die Konstruktivität auch der destruktiven Elemente beachtet werden, welche die Konzeption einer Erzählung bestärken, die sich auf Illusion stützt. Laut Wolf baut sich die ästhetische Illusion immer aus der „Doppelpoligkeit“ der „sie konstituierenden Synthese aus Distanz und Illusion“ auf.⁶⁸ Die Kluft zwischen „historischer Fiktion“ und „historiografischer Metafiktion“⁶⁹ ist demnach nicht so groß, Illusion und Distanz können vielmehr als in jedem fiktional (historisch) erzählenden Text anwesende Elemente betrachtet werden, die nicht ganz zugunsten einer Seite reduziert werden können. Hans Vilmar Geppert betont in seiner zweiten großen Publikation zum historischen Roman denn auch neben den „Differenzierungen“ die „Konstruktionen“. Einerseits wird Historie demnach im historischen Roman differenziert, andererseits muss sie jedoch auch konstruiert werden, so dass ein Abhängigkeitsverhältnis entsteht.⁷⁰ Geppert widerspricht in diesem Punkt selbst den Auffassungen seiner Dissertationsschrift, nach denen der historische Roman „je einheitlicher, um so trivialer“⁷¹ sei. Einheitlichkeit, beziehungsweise kohärente Illusionsbildung und erzählerische Pluralität, die eine einheitliche Illusionsbildung störe, seien damit auch in Bezug auf die qualitative Bewertung eines literarischen Textes nicht voneinander zu trennen. Die vorliegende Studie behandelt nicht Illusionsbildung und -störung im (literarischen) fiktionalen Erzählen allgemein, sondern wendet sich mit dem historischen Erzählen in fiktionalen Erzählungen einem speziellen Bereich zu, der die inferentielle Ebene der Präsentation explizit mit der referentiellen Ebene der Repräsentation verbindet. Um der Situation des fiktionalen historischen Erzählens gerecht zu werden, muss daher der Illusionsbegriff weiter differenziert werden. Geppert bemüht die Meeresbiologie, um den speziellen Status dieses Erzählens zu verdeutlichen:

67 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 34. 68 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 33. 69 Vgl. den gleichnamigen Band von Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. 70 H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 168. 71 H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 168.

4.3 Geschichtserzählungen zwischen Annäherung und Distanzierung | 77

Der Versuch, eine Poetik des historischen Romans zu skizzieren, gleicht der Aufgabe [...] wesentliche Lebensformen zum Beispiel „im Wasser lebende Säugetiere“ zu beschreiben. Gewiss müssen diese Tiere, wie alle Säugetiere, atmen, ihre Körpertemperatur erhalten, sich paaren, gebären und so fort. Aber alldies geschieht unter den Bedingungen des Lebens im Wasser. [....] Anders gesagt: Die poetischen Möglichkeiten des historischen Romans sind zunächst die des Romans allgemein; es gibt da nichts Wesentliches, was es nur hier gäbe. Entscheidend ist die weitergehende, nämlich funktionale Frage: Wie gehen die Formen des Romans um mit Historie?

Bezogen auf die Frage von Illusionsbildung und -störung innerhalb der ästhetischen Illusion stellt sich hier speziell die Frage, inwiefern diese in einem Historie verhandelnden Roman modifiziert sind. Zur Klärung dieser Frage müsste etwa in Bezug auf Wolfs Beispiel der Illusionsstörung in The French Lieutenant’s Woman durch den Satz „This story I am telling is all imagination“ differenziert werden, welche Illusion hier (primär) gestört wird.

4.3.2 Immersion und Emersion im fiktionalen und faktualen Erzählen Werner Wolf verweist zur Differenzierung der Illusionsformen auf Ernst Gombrichs Unterscheidung zwischen der „illusion of life“ und der „illusion of reality“⁷² und übersetzt diese Konzepte in die deutschen Begriffe „Erlebnisillusion“ und „Referenzillusion“.⁷³ Bei der „Erlebnisillusion“ gehe es darum, „die Kunstwelt als eine, nicht jedoch als die Wirklichkeit mitzuerleben“.⁷⁴ Bei der „Referenzillusion“ hingegen drehe es sich um „den Schein einer Beziehbarkeit auf konkrete und spezifische Elemente der Lebenswelt, also die Illusion einer Einzel- oder Realreferenz“.⁷⁵ Sowohl Erlebnis- als auch Referenzillusion sind dabei von der Erzählung simulierte Vorgänge, die etwas vorspiegeln, das nicht ‚wirklich‘ möglich ist. Dennoch unterscheidet sich die simulierte Wirklichkeit stark: In der Erlebnisillusion soll nicht vorrangig etwas als „wirklich“ im Sinne des faktualen Paktes dargestellt werden, vielmehr geht es um die quasi sinnlich erfahrbare beziehungsweise ‚erlebbare‘ Anwesendheit des Erzählten, unabhängig davon, ob, wie in der Referenzillusion beansprucht wird, dieses Erzählte ein Äquivalent in der außersprachlichen Wirklichkeit besitzt. Anhand von Gombrichs Differenzierung kann Wolf in Bezug auf den Satz „This story I am telling is all imagination“

72 E.H. Gombrich, S. 284. 73 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 57. Ansgar Nünning verweist in Bezug auf diese Illusionstypen im historischen Roman auf Wolf: A. Nünning, S. 249-250. 74 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 56. 75 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 57.

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aus The French Lieutenant’s Woman bestimmen, dass es hier um den Wirklichkeitsbezug des Erzählten – also die Referenzillusion – geht, welche plötzlich nicht nur verunsichert, sondern suspendiert wird. In diesen beiden Illusionsformen tauchen die oben behandelten Dimensionen der Präsentation und der Repräsentation wieder auf: Diese werden in Hinblick auf die Illusionsbildung innerhalb von Erzählungen spezifiziert. Die ‚Erlebnisillusion‘ bezieht sich auf die Präsentation, indem sie die Intensität der geschaffenen Erzählwelt betont, während die Referenzillusion Repräsentation dadurch verfolgt, dass sie den Bezug des Erzählten zur außersprachlichen Wirklichkeit in den Vordergrund stellt. Die ‚Erlebnisillusion‘ hebt also die Selbstbezüglichkeit der Zeichen (Inferenz) hervor. Die ‚Referenzillusion‘ versucht, die Zeichen in Hinblick auf das, worauf sie verweisen, in den Hintergrund zu rücken (Referenz). Ergänzend zu Wolfs Begriff der ‚Erlebnisillusion‘ sollen im Folgenden die Begriffe ‚Immersion‘ beziehungsweise ‚immersiv‘ verwendet werden, um ein Erzählen anzudeuten, das die eigene Erzählwirklichkeit so zu steigern sucht, das Lesende sich in sie als eine ‚begehbare‘ Wirklichkeit hineinversetzt fühlen können.⁷⁶ Wörtlich bezeichnet die ‚Immersion‘ das ‚Eintauchen‘ in die Zeichenwelt einer Erzählung.⁷⁷ Dieser ‚Immersion‘ beziehungsweise ‚Erlebnisillusion‘ werden neben Wolfs Begriff der ‚Referenzillusion‘ im Rahmen dieser Studie die Begriffe ‚Emersion‘ beziehungsweise ‚emersiv‘ gegenüberstellt, die im Gegensatz zur ‚Immersion‘ das ‚Auftauchen‘ aus einer Zeichenwelt im Sinne des Herstellens von Bezügen auf die außersprachliche Wirklichkeit bezeichnen.⁷⁸ Diese Begriffe lösen in Bezug auf die Textanalysen die bisher gebrauchten Begriffe der Präsentation und Repräsentation ab. Im Rahmen der vorliegenden Studie soll der Begriff der Referenzillusion in einem breiteren Sinne verwendet werden als bei Wolf: Wolf spricht von einer Referenzillusion im ästhetischen Kontext, in dem eine Erzählung trotz ihrer Einordnung als fiktional einen Wirklichkeitsbezug suggeriert.⁷⁹ Dies impliziert eine autonomistische Position (vgl. 4.1.1), die davon ausgeht, dass der ästhetisch-

76 Koschorke spricht von „Immersion“ in diesem Zusammenhang: A. Koschorke, S. 333. 77 Der Begriff der „Immersion“ wird in der Medienwissenschaft verwendet und bezieht sich hier vor allem auf Computerspiele, die das „Eintauchen in eine virtuelle Umgebung“ stimulieren. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Astronomie, wo er „den Eintritt eines Himmelskörpers in den Schatten eines anderen“ (etwa eine Mondfinsternis) bezeichnet. Vgl. Immersion. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl., Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2007. 78 Der Begriff der „Emersion“ bildet in der Astronomie ein Begriffspaar mit dem Begriff der „Immersion“ und bezeichnet das „Heraustreten eines Mondes aus dem Schatten eines Planeten: Emersion. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl., Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2007. 79 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 56.

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fiktionale Rahmen der Literatur Referenz in Referenzillusion wandelt (also die Suggestion einer Entsprechung mit der Wirklichkeit, die aber nicht eingehalten wird). Hier soll davon ausgegangen werden, dass der Anspruch einer Erzählung, das von ihr Erzählte entspreche der Wirklichkeit, immer und auch im Kontext faktualen Erzählens auf einer Form von Illusion beruht in dem Sinne, als dass diese Entsprechung stets eine angenommene ist (vgl. Barthes Konzept der „Referenzillusion“ in 3.2.2). Der Begriff der Referenzillusion bezieht sich also nicht auf den Wirklichkeitsbezug einer Erzählung, denn dass Zeichen auf ‚die‘ Wirklichkeit verweisen können, ist sprachpragmatisch gesehen gegeben. Der Anspruch der Übereinstimmung mit dieser Wirklichkeit beinhaltet jedoch immer zu einem gewissen Grad die Gefahr der Täuschung. Im Kontext fiktionalen Erzählens wird insofern ‚unernst‘ mit dem Wirklichkeitsbezug umgegangen, als dass der etablierte Wirklichkeitsbezug nicht zwingend zu einer Entsprechung der Erzählung mit der Wirklichkeit führen muss. Indem Wirklichkeitsbezug im fiktionalen Erzählen in diesen ‚unernsten‘ Zusammenhang gerückt wird, führt das fiktionale Erzählen die im Anspruch auf Entsprechung mit der Wirklichkeit enthaltene Unsicherheit vor. Im Kontext ästhetischen Illusions- und Distanzbewusstseins wird also der Illusionscharakter von Referenz hervorgehoben. Auch in einer faktualen Lesart gibt es eine gewisse Distanz zum Erzählten in dem Sinne, als die Übereinstimmung des Erzählten mit der Wirklichkeit nie ganz vorausgesetzt werden kann. Referenzillusion prägt also faktuale wie fiktionale Erzählungen, allerdings wird ihr Illusionscharakter im fiktionalen Erzählen besonders offensichtlich. Die Identifizierung der beiden Illusionsformen Immersion und Emersion hilft, fiktionale und faktuale Texte, die historisch erzählen, differenzierter in den Blick zu nehmen. Denn zwischen beiden Illusionsformen besteht ein komplexes Wechselverhältnis. Zunächst einmal ist die Erlebnisillusion unabhängig von der Verifizierung beziehungsweise dem Wirklichkeitsbezug des von ihr Erzählten. Immersion, die nicht auf Wirklichkeitsbezug basiert, ist also nicht weniger überzeugend als Immersion, die sich mit dem Bezug auf ‚die‘ Wirklichkeit verknüpft:⁸⁰ In die Welt eines Fantasyromans kann man sich genau so gut ‚einleben‘ wie in die Referentialität beanspruchende Welt eines historischen Romans. Wie jedoch von verschiedenen Seiten hervorgehoben wird, kann Wirklichkeitsbezug geradezu ‚instrumentalisiert‘ werden, um die Immersion in eine Erzählwelt zu begünstigen.⁸¹ „Weil die Sogkraft einer Geschichte sich in dem Maß steigert, in dem sie ihre Eigenwirklichkeit intensiviert und dazu einlädt, sich in die erzählte Welt zu ver-

80 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 58. 81 Die Verdichtung von Immersion durch Wirklichkeitsbezug wurde anhand des Beispiels aus Barthes’ Die helle Kammer vorgeführt (vgl. 4.2.1).

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lieren (Immersion), bringt das Erzählen einen Realismus eigener Art mit sich, der vielfach von Effekten der Mimikry an eine extradiegetische Wirklichkeit zehrt“, resümiert etwa Koschorke.⁸² „Die Freiheit fiktionalen Erzählens nutzt“, in den Worten Gepperts, „die Historie zum Zweck narrativer Erkenntnis“.⁸³ Wolf spricht von der „‚abfärbenden‘ Wirkung“ des scheinbar der Wirklichkeit Entsprechenden: „[D]enn von vermeintlich Wahrem läßt man sich lieber fesseln als von bloß Erfundenem. Der Schein des Wahren kann zwar keine (Erlebnis-)Illusion erzeugen, aber doch begünstigen.“⁸⁴ Der Hinweis auf die immersionstechnisch günstige Wirkung von Wirklichkeitsbezug findet sich schon bei Aristoteles: „[N]un glauben wir von dem, was nicht wirklich geschehen ist, nicht ohne weiteres, daß es möglich sei, während im Falle des wirklich Geschehen offenkundig ist, daß es möglich ist – es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre.“⁸⁵ Umgekehrt betont Wolf, dass die Rolle der Referenzillusion in Bezug auf die Illusionsstörung sich anders gestalte: Referenzillusionsstörungen wirken sich nicht optional, sondern in jedem Fall auf die Erlebnisillusion aus. Wiederum führt er das Beispiel der Illusionsbrechung in The French Lieutenant’s Woman an, mit der er zu belegen sucht, dass die Störung der Referenzillusion immer mit einer empfindlichen Störung der Erlebnisillusion einhergehe. Er begründet dies dadurch, dass die Referenzillusion nicht Teil des ästhetischen Kunstwerks sei, wodurch in Bezug auf die Referenzillusion nicht von der gleichen Distanz ausgegangen werden könne. Ein Brechen der Referenzillusion gehöre also nicht in gleicher Weise zum ‚Spiel‘ zwischen Nähe und Distanz innerhalb der ästhetischen Illusion und störe diese damit in besonderer Form.⁸⁶ Umgekehrt müsse eine Störung der Erlebnisillusion die Referenzillusion nicht notwendig tangieren.⁸⁷ Diese „chiastische Struktur der Hierarchie von Erlebnis- und Referenzillusion“⁸⁸ deutet bereits an, dass das dynamische Wechselverhältnis von Immersion und Emersion nicht nur den ästhetischen Rahmen betrifft. In Bezug auf das historische Erzählen ist es wichtig, das Verhältnis der beiden Illusionsformen auch außerhalb der ästhetischen Sphäre literarischen Erzählens zu bestimmen. Bei Wolf gewinnt die Erlebnisillusion stärker Kontur als die Referenzillusion. Für ihn ist die Erlebnisillusion die zentrale Form der Illusion, während die Referenzillusion

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A. Koschorke, S. 333–334. H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 167. W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 60. Aristoteles, Abschnitt (1451b). W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 248. W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 61–62. W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 61.

4.3 Geschichtserzählungen zwischen Annäherung und Distanzierung |

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eher „an der Peripherie der Illusion“⁸⁹ liege. Die Zentrum/Peripherie-Einordnung überträgt sich auch auf die Analyse des Verhältnisses der beiden Illusionen: Die Referenzillusion liefert den „‚wahren‘ Hintergrund“ für die „fiktionale story im Zentrum“.⁹⁰ Wolfs eindeutige Rangordnung der Illusionen ergibt sich aus seinem Fokus auf die ästhetische Illusion, denn die Erlebnisillusion ist „das eigentliche Wesen ästhetischer Illusion“.⁹¹ Die Referenzillusion hingegen „überschreitet [...] die Grenze zwischen ästhetischer und nichtästhetischer Illusion“.⁹² Im Rahmen dieser Studie wird die Referenzillusion als ein Erzählen, das der Wirklichkeit entsprechen will, in den nichtästhetischen Rahmen faktualen Erzählens eingeordnet. ‚Illusion‘ bezeichnet hier keinen beanspruchten Wirklichkeitsbezug, der sich als Täuschung entpuppt. Referenzillusion wird so aufgefasst, dass das Erzählen mit dem Anspruch, der Wirklichkeit zu entsprechen, ein Wahrheitsversprechen darstellt, das nicht selbstverständlich eingehalten werden kann. Das historische Erzählen ist ein plakatives Beispiel dafür, dass die von faktualen Erzählungen beanspruchte Referenz keine sichere Grundlage hat, da der Referent in der Vergangenheit liegt (was den pragmatischen Wert der Kommunikation nicht mindert, vgl. 3.3.2). Das Vorliegen einer Illusion bedeutet also nicht, dass ‚vorsätzlich getäuscht‘ und die Entsprechung der Erzählung mit der Wirklichkeit nicht ernsthaft verfolgt würde. Dennoch kann eine Entsprechung nie garantiert werden, was etwa von der Leserin eines faktualen Textes verlangt, ihn im Vertrauen darauf zu lesen, dass das Erzählte mit der Wirklichkeit übereinstimme. Die Tatsache, dass dieses Vertrauen immer auch die Möglichkeit einer (teilweisen) Nichteinlösung dieses Anspruches beinhaltet, konstituiert auch im faktualen Erzählen einen Illusionscharakter, ein ‚Glauben schenken‘ unter Aussetzung von Zweifeln. Während jedoch im Rahmen faktualen Erzählens das Illusions- und Distanzbewusstsein weniger stark ausgeprägt ist, rückt eine Integration der Referenzillusion in fiktionale Erzählungen durch die Distanzbetonung der ästhetischen Illusion eben diesen Illusionscharakter der Referenz in den Vordergrund. Durch das ästhetische Distanzbewusstsein ist die Störung einer Referenzillusion im fiktionalen Erzählen weniger absolut als im faktualen Erzählen, das sich selbst die wichtigste Vertrauensgrundlage entzieht, wenn es den Anspruch einer Entsprechung des Erzählten mit der Wirklichkeit unterläuft.

89 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 58. 90 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 60. 91 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 58. 92 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 59.

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4.3.3 Die Dynamik des historischen Erzählens Gerade anhand des historischen Erzählens wurde vielfach gezeigt, dass auch in faktualen, nicht (direkt) ästhetischen Erzählformen die Erlebnisillusion dennoch eine Rolle spielt, dass faktuale Erzählformen also mit diesen ästhetischen Illusionsbildungen des fiktionalen Erzählens operieren, jedoch ohne den Anspruch auf adäquaten Wirklichkeitsbezug aufzugeben. Referenzillusion und Erlebnisillusion wirken demnach, wie hier unterstellt wird, sowohl im faktualen als auch im fiktionalen Erzählen zusammen, werden jedoch mit den jeweiligen Erzählkonventionen faktualen und fiktionalen Erzählens konfrontiert (vgl. Kapitel 5). Besonders differenziert beschreibt Paul Ricœur die Verbindung von Emersion und Immersion im historischen Erzählen, indem er die Ausrichtung einer Erzählung auf ‚die‘ Wirklichkeit mit ihrer Ausrichtung auf die Lesenden verbindet. So entsteht eine Dynamik zwischen den für diese Studie grundlegenden, als Distanzierung und Annäherung bezeichneten Parametern, die sich auch auf die Referenzillusion überträgt. Dabei geht es Ricœur gerade darum, wie innerhalb des historischen Erzählens die Immersion in den Dienst der Emersion gestellt wird, wodurch sich jedoch die Annäherungs- und Distanzierungsbewegungen innerhalb der Referenz- und der Erlebnisillusion so verschränken, dass die Nähe bezüglich der Erlebnisillusion in Distanz in Bezug auf die Referenzillusion umschlagen kann. Ricœur arbeitet mit dem Begriff der Spur, die „sofern sie von der Vergangenheit hinterlassen wurde“ eben dieser Vergangenheit gegenüber eine „Repräsentanzfunktion“ erfüllt.⁹³ Wie sich dies auf das historische Erzählen auswirkt, deutet sich schon darin an, dass das Repräsentieren nicht nur als „vertreten“, sondern auch als „sich vorstellen“ begriffen wird, wodurch dem historischen Arbeiten ein imaginativer Anteil zukommt. Die Spur als Stellvertreter oder Vorstellung von Vergangenheit ist wesentlich für das „Schuldgefühl“⁹⁴ der Historikerinnen und Historiker gegenüber der Vergangenheit (vgl. 3.3.2), die sie beschreiben möchten, auch wenn sie hierfür auf ihre Vorstellungskraft zurückgreifen müssen. Hier wird wiederum deutlich, wo sich die Erzählsituation des faktual eingeordneten historischen und des fiktionalen Erzählens trotz der geteilten imaginativen Anteile unterscheidet: Die Imagination verbindet sich mit der Schuld, der Ernsthaftigkeit, mit der sich das historische Erzählen gegenüber seinem Gegenstand zu verpflichten versucht. Im Widerstreit zwischen Imagination und Schuld attestiert Ricœur dem historischen Erzählen eine Spannung zwischen Identität und Alterität, die es in die Nähe der ästhetischen Illusionsbildung in der fiktionalen Erzählung rückt, 93 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 223. 94 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 225.

4.3 Geschichtserzählungen zwischen Annäherung und Distanzierung |

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dieser jedoch eine eigene Ambivalenz zufügt: Die immersiv-emersive Dynamik wird vom ‚unernsten‘ Zusammenhang der Literatur in den ‚ernsten‘ Kontext des faktualen Erzählens transferiert. Ricœur zufolge kann die Vergangenheit als „Gegenüber“ der historiografischen Repräsentation im „Zeichen des Selben, des Anderen und des Analogen“⁹⁵ gedacht werden. Begreift man die Vergangenheit als das Selbe, identifiziert man sich mit dem, was war und versucht so, die zeitliche Distanz aufzuheben. In dieser Auffassung wird betont, dass die Spur der Vergangenheit in Form von Quellen und Zeugnissen gegenwärtig ist und dass es möglich sei, „die vergangenen Ereignisse, zu denen sie führt, in die Zeit ihrer eigenen Spur zu holen“⁹⁶ Die Vergangenheit wird als „fortdauernd in der Gegenwart“⁹⁷ begriffen, so dass „wir [...] als Leser der Geschichte [...] zu Zeitgenossen der vergangenen Ereignisse gemacht“⁹⁸ werden können. Letztlich soll dadurch, wie bei Collingwood ausgearbeitet, die Einbildungskraft einen Nachvollzug (reenactment) der Vergangenheit ermöglichen.⁹⁹ Versteht man die Vergangenheit im Zeichen des Anderen, wird die zeitliche Distanz, die die ‚Vergangenheit als das Selbe‘ aufzuheben bestrebt ist, wiederhergestellt. Dies geschieht im Rahmen einer gedanklichen Bewegung, die Vergangenheit bewusst als das Andere begreifen will und auch in das Extrem des Exotismus umschwenken kann:¹⁰⁰ „Im Gegenzug zu jedem Wunsch einer Vertrautmachung des Unvertrauten [...] kann sie sogar geradezu darauf aus sein, einen Fremdheitseffekt zu erzielen.“¹⁰¹ Historisches Verstehen wird mit dem Fremdverstehen analogisiert (vgl. dazu auch 7.1).¹⁰² Ricœur nennt Michel de Certeaus Geschichtstheorie als Beispiel für eine Geschichtsauffassung, die davon ausgeht, dass das Schreiben von Geschichte mit dem Versuch, das Andere zu beherrschen (sich zum Herr über seine Bedeutung zu machen), gleichkommt. Geschichtsschreibung erreicht also die Geschichte nicht, sondern ist Ausdruck gegenwärtiger Ideologie. So ist „Vergangenheit das, was fehlt“.¹⁰³ Im dialektischen Dreischritt präsentiert Ricœur zuletzt die Vergangenheit „im Zeichen des Analogen“ als eines Zugangs, der das Selbe mit dem Anderen verbindet. Dabei wird Vergangenheit weder völlig identifiziert noch distanziert, sondern

95 Ricœur in Bezug auf Platons Gattungen im Sophistes, P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 225. 96 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 225. 97 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 225. 98 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 225. 99 Ricœur im Verweis auf Collingwoods The Idea of History, P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 226. 100 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 233. 101 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 234. 102 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 234. 103 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 240.

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es wird versucht, Ähnlichkeit beziehungsweise Analogie zur Vergangenheit im Sinne der „Ähnlichkeit [eher] zwischen Relationen als zwischen einfachen Gliedern“ herzustellen.¹⁰⁴ Geschichte soll erzählt werden „so wie“ es gewesen ist, oder nach Rankes berühmten Diktum „wie es eigentlich gewesen“ (die Betonung liegt hier auf dem „wie“).¹⁰⁵ Sprachliches Ausdruckmittel solcher Ähnlichkeitsbeziehungen sind die Tropen, das uneigentliche Sprechen, deren Bedeutung für das historische Erzählen Hayden White herausstellte, da sie keine vollständige Identifikation mit dem Erzählten suggerieren, aber eine Ähnlichkeit beanspruchen (vgl. 3.2.2). Mit Hilfe dieser tropologischen Mittel wird aus der narrativen Struktur ein „Modell“ der Vergangenheit gemacht.¹⁰⁶ Diesem Konzept liegt die von Hayden White formulierte Vorstellung zugrunde, dass wir „das Tatsächliche nur erkennen, wenn wir es mit dem Vorstellbaren konstrastieren oder vergleichen“.¹⁰⁷ Es ist diese Vorstellung der Vergangenheit als Analogem, in der ist eine nicht auflösbare Spannung zwischen Annäherung und Distanzierung enthalten ist: Die Analogie macht sich nicht im Alleingang auf die Jagd nach der Gewesenheit, sondern in Verbindung mit der Identität und Alterität. Zunächst ist die Vergangenheit durchaus das, was in identitärer Weise nachzuvollziehen ist: dies aber nur in dem Maße, wie sie zugleich das Abwesende in all unseren Konstruktionen ist. Das Analoge nun ist genau das, was die Kraft des Nachvollzugs und der Distanznahme in sich vereint, sofern Sein-wie soviel heißt wie sein oder doch wieder nicht zu sein.¹⁰⁸

Im uneigentlichen Sprechen liegt also eine Dynamik zwischen Identität und Alterität, die nicht auflösbar, aber auch nicht auf einen der beiden Pole reduzierbar ist. In den Konzepten dieser Studie zeigt sich genau in diesem Prozess die Referenzillusion: Sie legt eine Analogie zur vergangenen Wirklichkeit nahe, ohne mit ihr übereinstimmen zu können. Ricœur vergleicht diese Dialektik in der Repräsentanz historischen Erzählens mit der Lektüredialektik in Bezug auf eine literarische Erzählung, die zwischen dem Selben (Identifikation mit dem Erzählten) und dem Anderen (Distanzierung vom Erzählten) schwankt, also eine ästhetische Illusion aufbaut. Es ist wesentlich für Ricœurs Argumentation, dass hier eine Interdependenz zwischen der Repräsentanz der historischen Erzählung gegenüber der repräsentierten vergangenen

104 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 241. 105 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 241. 106 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 243 in Bezug auf H. White, Metahistory, S. 2. 107 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 248 in Bezug auf Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, übersetzt von Brigitte Brinkmann-Siepmann, Stuttgart 1991, S. 120. 108 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 250.

4.3 Geschichtserzählungen zwischen Annäherung und Distanzierung |

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Wirklichkeit und der Signifikanz der fiktionalen Erzählung in Bezug auf die Lektüre herausgestrichen wird. Wo Ricœur Fiktion und Historiografie zuvor trennte, führt er sie in diesem Punkt wieder zusammen, so dass es zu einer „Überkreuzung von Historie und Fiktion“¹⁰⁹ kommt. Grundlage für diese Überkreuzung ist der Umstand, dass die Lektüre nicht nur in Bezug auf literarische Erzählungen von Belang ist, sondern auch für die Geschichtsschreibung: „In einer solchen erweiterten Theorie der Lektüre schlägt die Divergenz von historischer Erzählung und Fiktionserzählung um in Konvergenz.“¹¹⁰ Diese Konvergenz berührt eines der Hauptanliegen in Ricœurs Studie zum Verhältnis von Zeit und Erzählung, die zeigt, wie innerhalb der Erzählung ein Gegenstand vorstellbar und damit kommunizierbar gemacht wird, wie Zeit zu erlebter Zeit wird. Es kommt zu einer Überkreuzung zwischen Fiktion und Geschichtsschreibung, da beide aufeinander zurückgreifen müssen, um Zeit zu erzählter Zeit zu refigurieren. Ricœur zufolge ist die historische Erzählung bestrebt, die Zeit der Erzählung in die Zeit des Universums einzuschreiben. Er vergleicht diesen Prozess mit einer Sonnenuhr (Zeit der Erzählung), welche sich auf das Universum bezieht (Zeit des Universums). Die historische Erzählung brauche aber Bindeglieder, „die die historische Zeit denkbar und handhabbar machen“.¹¹¹ Letztlich muss sie die abstrakte Zeit des Universums in die menschliche Vorstellungswelt übersetzen und ist damit auf die „Phantasievariationen“ angewiesen. Es braucht also Fantasie, um eine Spur der Vergangenheit aufzuzeigen: „Das Aufbewahren, Auswählen und Sammeln, schließlich das lesende Aufarbeiten der Dokumente in den Archiven schematisieren die Spur, machen sie zu einer Vermittlungsinstanz und damit, wenn man so sagen darf, zur Grundvoraussetzung für die Wiedereinschreibung der erlebten Zeit (mit Gegenwart) in die Zeit als bloße Jetztfolge (ohne Gegenwart).“¹¹² Ricœur zufolge werden die „gedanklichen Bemühungen, die mit der Interpretation eines Überbleibsels [...] einhergehen [...] zu einer Spur, das heißt zu einer Wirkung und einem Zeichen zumal, [...] nur, wenn man sich den Lebenszusammenhang vorstellt“.¹¹³ Ricœur beschreibt hier die paradoxale Verquickung der Repräsentanzabsicht des historischen Erzählens und der Fantasie als Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Die Fantasie ist damit „in jeder Etappe dieses logischen Spiels [...] der unerläßliche Diener der Repräsentanz und nähert sich dabei erneut der Operation des „sich vorstellen, daß“.¹¹⁴ In Bezug auf White,

109 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 294. 110 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 295. 111 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 296. 112 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 299. 113 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 299. 114 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 299–300.

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dessen Analysen Ricœur mit der Repräsentanzfunktion des historischen Erzählens zu verbinden sucht, führt Ricœur die Tropologie als „Phantasieelement der Repräsentanz“,¹¹⁵ hier begriffen als Referenzillusion, an. Wichtig ist, dass die rhetorischen Mittel die Repräsentanzabsichten der Geschichtsschreibung nicht vermindern:¹¹⁶ „Die Vergangenheit ist das, was ich gesehen hätte, dessen Augenzeuge ich gewesen wäre, wäre ich dabeigewesen.“¹¹⁷ Sie helfen beim Schreiben der Geschichte, die Dinge ‚anschaulich‘ zu machen, sie also „vor Augen zu führen und so sichtbar zu machen“.¹¹⁸ An dieser Stelle verweist Ricœur explizit auf die Kraft der Illusion, die eine Annäherung mit einer Distanzierung verbindet und reklamiert damit diese dem Ästhetischen zugesprochene Dynamik für die Geschichtsschreibung: Die ‚Redeweise‘ oder die ‚Diktion‘ hat der Rhetorik zufolge die Macht, ‚vor Augen zu führen‘ und so ‚sichtbar zu machen‘. Das ist der erforderliche Schritt über das einfache „Sehen-als“ hinaus, so daß der Verbindung der Metapher, die assimiliert, mit der Ironie, die distanziert, nun nichts mehr im Wege steht. Damit haben wir das Gelände der Illusion betreten, die das „Sehen-als“ mit einem „zu-sehen-Glauben“ konfundiert. Das „Für-wahr-halten“, daß [sic] den Glauben definiert, erliegt hier einer halluzinierten Präsenz.¹¹⁹

An diesem Punkt verwischt die Grenze zwischen für wahr gehaltenem und simuliertem Sehen, zwischen Emersion und Immersion. Ricœur hebt den Vorteil dieser Grenzverwischung für die Geschichtsschreibung gar hervor, wenn er auf das „Vermögen der Fiktion, eine Illusion von Präsenz hervorzurufen, die freilich kontrolliert bleibt durch die kritische Distanzierung“¹²⁰ verweist. In der Überkreuzung von Fiktion und Historie zwischen Immersion und Emersion entspringt in dieser Konzeption die menschliche Zeit, in der sich die Repräsentanz der Vergangenheit durch die Geschichte mit den Phantasievariationen der Fiktion verbindet.¹²¹ Wesentlich im Kontext der auf Repräsentanz ausgerichteten Geschichtsschreibung ist dabei, dass die (Erlebnis-)Illusion zwischen Nähe und Distanz in ein neues Spannungfeld integriert ist. Denn sie „gerät unabwendbar in Konflikt mit der kritischen Wachsamkeit, die der Historiker ansonsten für seine Zwecke übt [...] Aber manchmal stellt sich zwischen dieser Wachsamkeit und dem Nachlassen der Ungläubigkeit eine merkwürdige Komplizenschaft her, woraus dann ästhe-

115 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 300. 116 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 301. 117 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 300. 118 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 302. 119 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 302. 120 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 304. 121 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 311.

4.3 Geschichtserzählungen zwischen Annäherung und Distanzierung |

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tischerseits die Illusion entsteht“.¹²² Die „Phantasievariationen“ scheinen eine Nähe zur erzählten Wirklichkeit der Vergangenheit zu simulieren, die im Konflikt mit der „Schuld“ der Geschichtsschreibung gegenüber ihrem Bezugsobjekt steht. Hier ist eine wesentliche Dynamik angesprochen, welche die (Erlebnis-)Illusion im Erzählen mit Wirklichkeitsanspruch (Referenzillusion) auslöst: „Man wird feststellen, daß der Phantasieanteil um so größer wird, je enger die Annäherung ausfällt.“¹²³ Dies beinhaltet die Paradoxie, dass die Geschichte, je realistischer sie sein möchte, um so mehr Fantasie benötigt beziehungsweise dass eine Annäherung in Bezug auf die Vorstellungswelt der Lesenden eine Distanzierung im Sinne des Eindrucks der adäquaten Wiedergabe von Wirklichkeit bedeuten kann. Im Kontext des faktualen Erzählens der Geschichtsschreibung wird die immersive Annäherung somit zur emersiven Distanzierung. Es ist demnach möglich, dass Immersion mit dem Anspruch des faktualen Erzählens in Konflikt gerät. Es kann also festgehalten werden, dass sich zwischen Immersion und Emersion eine Dynamik entfaltet, die auf der Unterschiedlichkeit der Glaubwürdigkeitsstrategien beider Illusionsformen beruht. Während immersive Glaubwürdigkeit sich daran bemisst, inwiefern das Erzählte als präsent und wirklich erfahren wird, beruht emersive Glaubwürdigkeit darauf, davon zu überzeugen, dass das Erzählte der Wirklichkeit entspricht. Gerade darin, dass Immersion die von der Erzählung geschaffene Eigenwirklichkeit betont, rückt der Vermittlungscharakter der Erzählung in Bezug auf die Wirklichkeit in den Hintergrund. Die Intensivierung der Erzählwelt bedeutet demnach Annäherung des Erzählten an die Vorstellungswelt der Lesenden, die sich in sie hineinversetzt fühlen können. Dies geht aber mit einer Distanzierung von dem, worauf die Erzählung im Sinne emersiver Glaubwürdigkeit verweist, einher. Umgekehrt bedeutet eine Erzählung, die sich stark an emersiver Glaubwürdigkeit ausrichtet, dass der Eindruck immersiver Eigenwirklichkeit abnimmt, da die Erzählung nicht vorrangig auf das Schaffen einer in sich stimmigen Erzählwelt gerichtet ist. Eine emersive Annäherung an das Erzählte geht hier mit einer immersiven Distanzierung vom Erzählten einher. Bezugspunkt sind letztlich immer die Lesenden. Sie können in Bezug auf Emersion oder Immersion ‚überzeugt‘ sein und sich somit dem Erzählten (immersiv oder emersiv) annähern. Andererseits können sie die Erzählung emersiv oder immersiv nicht überzeugend finden und sich so in Bezug auf die jeweilige Glaubwürdigkeitsstrategie vom Erzählten distanzieren. Diese Bewegungen sind komplementär, so dass etwa eine immersive Annäherung mit einer emersiven Distanzierung einhergehen kann. Die Dynamik zwischen Immersion und Emersion bleibt aber auszuloten,

122 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 302. 123 P. Ricœur, Die erzählte Zeit, S. 296.

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denn Erlebnisillusion und Referenzillusion können einander verstärken, wenn sie ein gewisses Gleichgewicht herstellen (vgl. 5.2). Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die Dynamik von Immersion und Emersion sich in faktualen und fiktionalen Erzählungen unterscheidet, da im faktualen Erzählen Emersion die Immersion reguliert, während im fiktionalen Erzählen Immersion der Emersion grundsätzlich vorgeordnet ist, diese jedoch so in das eigene Verfahren einbauen kann, dass eine Abhängigkeit entsteht.

5 Annäherungs- und Distanzierungsdynamik zwischen Immersion und Emersion 5.1 Hinführung Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, dass faktuale Erzählungen mehr auf referentielle (weltbezügliche) und fiktionale Erzählungen mehr auf inferentielle (eigenbezügliche) Bezüge hin gelesen werden (vgl 3.1.2). Zugleich wurde jedoch deutlich, dass Erzählungen immer auf ein Mischverhältnis beider Verweisarten angewiesen sind. Weltbezug ohne Selbstbezug bleibt unzugänglich, da die referentiellen Zeichen in ein in sich stimmiges System gebracht werden müssen, um verstanden werden zu können. Inferenz ohne Referenz muss unverständlich bleiben, da die systeminternen Zeichen ohne Referenz auf keinerlei bekannte Größe, sei sie selbst erfahren oder sekundär vermittelt, zurückgeführt werden können. Stimmigkeit und Übereinstimmung bedingen einander gegenseitig. Albrecht Koschorke spricht von einer „Koproduktion“ von Faktualität (Geschichtsschreibung) und Fiktionalität (Dichtung): „Beide Verfahren sind gleichzeitig in Anwendung, sowohl die Frage nach empirisch beweisbaren Fakten als auch die andere, ergänzende beziehungsweise abkürzende Frage nach Plausibilität und (inferentieller) Konsistenz.“¹ Auch wenn alle Erzählungen damit vom Zusammengehen inferentieller und referentieller Erzählstrategien geprägt sind, wird im Rahmen dieser Studie an einer Trennung von fiktionalem und faktualem Erzählen als einer Operation, welche die Einordnung von Erzählungen steuert, festgehalten. Die Einordnung einer Erzählung als fiktional oder faktual bestimmt in der Dominantsetzung von Referenz und Inferenz für die Kommunikation den Rahmen, in dem die Dynamik zwischen Inferenz und Referenz sich entfaltet. In der Erlebnisillusion beziehungsweise Immersion findet Inferenz im ästhetischen Kontext eine besondere Akzentuierung. Einerseits wird die Eigenweltlichkeit der Erzählung so verstärkt, dass sie beansprucht, eine eigene (nicht ‚die‘) Wirklichkeit zu sein. Andererseits ist immer – implizit oder explizit – deutlich, dass dieser Anspruch eine Illusion ist, denn die ästhetische Illusion vereint im Gegensatz zur Halluzination immer die Illusion mit einem distanzierenden Bewusstsein der Illusion (vgl. 4.3.1).² Die fiktionale Erzählung kann explizit konkrete Wirklichkeitsbezüge verarbeiten, um ihre Eigenwirklichkeit zu intensivieren. Allerdings werden diese referentiellen Bezüge in den ästhetischen Kontext der

1 A. Koschorke, S. 335. 2 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 33.

90 | 5 Annäherungs- und Distanzierungsdynamik zwischen Immersion und Emersion

Illusion hineingeholt: In der (literarischen) fiktionalen Erzählung wird Referenz als Referenzillusion ausgestellt, da das literarische Erzählen den referentiellen Anspruch wie den Anspruch, eine eigene Wirklichkeit zu produzieren, immer in den Kontext (bewusster) ästhetischer Illusion rückt. Insofern lässt sich ein Unterschied zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen im Grad der impliziten oder expliziten Herausstellung des Illusionscharakters von Immersion und Emersion identifizieren. Der Grad der Selbstreflexivität in Bezug auf die eigenen Verfahrensweisen ist im ästhetischen Kontext der Literatur höher. Diese Unterscheidung bleibt jedoch ebenfalls kontextabhängig, da auch in faktualen Erzählungen die eigenen Erzählverfahren reflektiert werden, wenn auch weniger auf ihren Illusionscharakter hin (vgl. Kapitel 8). Die Analysen im zweiten Teil dieser Arbeit verfolgen die Dynamik zwischen Distanzierung und Annäherung durch das Zusammenspiel von Immersion und Emersion im fiktionalen (Kapitel 6, 7 und 9) und faktualen Erzählen (Kapitel 8). Die Studie schließt damit an die von Hans-Vilmar Geppert betonte Dynamik der Differenz von Fiktion und Historie an und differenziert sie in Bezug auf die von Wolf definierte Erlebnis- und Referenzillusion (vgl. 4.3.1) – auch bezogen auf faktuales Erzählen – aus. Um einen Übergang von den theoretischen Auseinandersetzungen des ersten Teils dieser Studie zur Beschäftigung mit konkreten fiktionalen und faktualen Geschichtserzählungen im zweiten Teil dieser Studie zu gestalten, soll im Folgenden eine Übersicht der Grundfunktionsweisen des Zusammenwirkens von Immersion/Erlebnisillusion und Emersion/Referenzillusion gegeben werden. Analog zum Aufbau der Analysen werden diese Funktionsweisen in die groben Richtungen der Annäherung und Distanzierung aufgeteilt, wobei diese Unterscheidung das komplexe Zusammenspiel von Immersion und Emersion bereits beinhaltet (vgl. 4.3.3). In der Konzeption dieser Studie bezeichnet Annäherung im weitesten Sinne den Grad, in dem eine Erzählung Glaubwürdigkeit und somit Annäherung zum Erzählten erzeugt (vgl. 4.3.3). Diese Glaubwürdigkeit bezieht sich jedoch sowohl auf Inferenz als auch auf Referenz und damit auf verschiedene Arten der Erzeugung von Glaubwürdigkeit. Inferentielle Glaubwürdigkeit bezeichnet den Grad, in dem die Erzählung sich selbst als schlüssiges Ganzes präsentiert. Bezogen auf die Immersion spielt dabei die Frage eine Rolle, inwiefern die Erzählung eine erlebbare Eigenwirklichkeit glaubwürdig macht. Emersive Glaubwürdigkeit entsteht in dem Maße, in dem eine Erzählung davon überzeugt, dass sie der Wirklichkeit entspricht. Ebenso lässt sich Distanzierung als Rücknahme der Glaubwürdigkeit einer Erzählung einerseits inferentiell als Störung des Eindrucks von Eigenwirklichkeit definieren. Andererseits bezieht sich Distanzierung auch auf die emersive Dimension einer Erzählung, wenn der Eindruck gestört wird, die Lesenden könnten gleichsam durch das Medium der Erzählung hindurch auf die Wirklichkeit

5.1 Hinführung | 91

blicken. Aus dem Zusammenspiel von Immersion und Emersion ergibt sich die Annäherung (Glaubwürdigkeit) beziehungsweise Distanzierung (Unglaubwürdigkeit) innerhalb einer Erzählung (vgl. 4.3.3). Es gilt also, unter den Nennern der Annäherung und Distanzierung basierend auf den Analysen ein übersichtartiges Grundraster der Dynamik zwischen Immersion und Emersion auszudifferenzieren. Die Annäherung wird hier der Distanzierung vorgeordnet, obwohl annähernde Verfahren nicht immer Voraussetzung von distanzierenden Verfahren sind. Dass die Analysen mit den distanzierenden Verfahren beginnen, hebt die Dynamik zwischen Annäherung und Distanzierung hervor, die immer nur künstlich an bestimmten Punkten angehalten werden kann. Wesentlich für die Dynamik von Immersion und Emersion ist auch die Wirkung von Störungen der beiden Illusionsformen, die sich unterschiedlich auf die Glaubwürdigkeit (Annäherung) beziehungsweise Unglaubwürdigkeit einer Erzählung (Distanzierung) auswirken. Zudem tritt in den literarischen Erzählungen verstärkt die Ebene der Selbstreflexivität des Erzählens zutage, die im Folgenden in die Bewegung der Annäherung und Distanzierung mit einbezogen wird.³ In der folgenden Übersicht wird unter dem Nenner der Annäherung erfasst, inwiefern Immersion und Emersion einander verstärken können. Dabei werden heuristisch Fälle unterschieden, in denen die Erlebnisillusion die Referenzillusion intensiviert und umgekehrt Fälle, in denen die Referenzillusion die Erlebnisillusion verstärkt. Diese Intensivierung der einen Illusion durch die andere bedeutet nicht zwangsläufig, dass beide Illusionen intakt bleiben: Die Referenzillusion kann auch durch die Störung der Erlebnisillusion intensiviert werden. Gleiches gilt auch für die Dynamik von Immersion und Emersion in der Distanzierung, welche ebenfalls in die Fälle „Erlebnisillusion stört Referenzillusion“ und „Referenzillusion stört Erlebnisillusion“ unterteilt werden: Eine starke Erlebnisillusion kann die Referenzillusion stören. Innerhalb der einzelnen Kategorien wird nach Möglichkeit verwiesen auf die narratologische Verortung der jeweiligen Intensivierung oder Störung auf den drei Erzählebenen der Geschichte, der Erzählung und der Narration.⁴

3 In der Unterscheidung zwischen Annäherung und Distanzierung finden sich Gepperts „Konstruktionen“ und „Differenzierungen“ wieder, wobei die von Geppert weiterhin unterschiedenen „Reflexionen“ in die Dynamik zwischen Annäherung und Distanzierung gefasst werden: H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 167–202. 4 Vgl. zu den narratologischen Begrifflichkeiten Gérard Genette, Die Erzählung, übersetzt von Andreas Knopp, 2. Aufl., München 1998, S. 16. Die Erzählebenen bezeichnenden Begriffe werden kursiviert geschrieben, um vor allen Dingen für die Geschichte und die Erzählung die Verwendung der Begriffe in Bezug auf eine spezifische Erzählebene und nicht die allgemeinere Verwendung

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5.2 Annäherung 5.2.1 Immersion intensiviert Emersion Unter den Nenner der die Referenzillusion intensivierenden Erlebnisillusion fallen zunächst einmal alle Formen der Erzeugung von Erlebnisillusion, die den Wirklichkeitsbezug einer Erzählung glaubhaft mit ihrer Eigenwirklichkeit verbinden, also gleichsam den Eindruck wecken, die von der Erzählung erzeugte Eigenwirklichkeit sei die außersprachliche Wirklichkeit, auf welche die Erzählung verweist. Auf der Ebene der Geschichte vielfach vorausgesetzt, aber doch nennenswert in Hinblick auf die Verstärkung von Emersion durch Immersion ist, was Hella Haasse die „Romanverfahrensweise“⁵ nennt. Gemeint ist damit – unabhängig vom fiktiven oder faktischen Status des Erzählten – eine erzählerische Vorgehensweise, nämlich die Zuschneidung von Ereignisfolgen auf einen Handlungszusammenhang, der auf einige wenige anthropomorphe Handlungsträger fokussiert ist.⁶ Die Rollen der Aktanten werden also stärker als in emersionsbetonten Erzählungen von konkreten Figuren übernommen anstatt von abstrakten Größen wie etwa gesellschaftlichen Bewegungen oder Ideen.⁷ Diese Figuren sind

in Bezug auf ‚Geschichte‘/‚Geschichten‘ und ‚Erzählungen‘ anzudeuten. Vgl. auch Bart Vervaeck, Vertelduivels. Handboek verhaalanalyse, 3. Aufl., Brüssel/Nijmegen 2005, S. 47-106. Wolf Schmid benennt die Ebene der Narration als „Präsentation der Erzählung“: Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin/New York 2005, S. 243. 5 Nl. „roman-aanpak“ – Die niederländische Schriftstellerin äußert sich in einem „Rechenschaftsbericht“ („verantwoording“) dazu, warum ihr Roman Heren van de thee (dt. Die Teebarone) zwar „ein Roman“ sei, „aber keine ‚Fiktion‘“ („een roman [is], maar geen ‚fictie‘“): „Der Stoff ist [...] nicht erfunden, wohl aber so ausgewählt und arrangiert, dass er den Anforderungen entspricht, die eine Romanverfahrensweise stellt.“ („De stof is [...] niet verzonnen, maar wél geselecteerd en gearrangeerd volgens de eisen die een roman-aanpak stelt.“) Hella Haasse, Heren van de thee, 48. Aufl., Amsterdam 2002, [1992], S. 297. Haasses Einordnung ihres Romans zeigt, wie die Erzählkonventionen fiktionalen und faktualen Erzählens unterlaufen werden können: Sie beansprucht Faktualität für eine gemeinhin mit Fiktionalität assoziierte Erzählform. 6 Aufschlussreich in Bezug auf verschiedenen Formen, in denen Geschichte in diesem „Romanverfahren“ verhandelt werden kann, ist in diesem Zusammenhang Heirbrants Studie des historischen Romans, obwohl sie romanhaftes Vorgehen im Sinne der Anthropomorphisierung der Handlung mit Fiktionalisierung vermischt: S. Heirbrant, S. 131–184. Auch Geppert beschreibt, wie die Fabelbildung der „freiere[n], romanhafte[n] Geschichtserzählung“ sich auf unterschiedliche Weise mit der Historie verbindet und greift dabei auf Whites präfigurative Grundtropen – Synecdoche, Metonymie und Metapher (in die er die vierte Trope der Ironie integriert)– zurück: H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 170–175; S. 175–178. 7 Greimas unterscheidet sechs Aktanten beziehungsweise Rollen, welche die Handlung auf verschiedene Weise beeinflussen. Für eine kurze, zusammenfassende Einführung in Greimas’ Aktantenmodell vgl. B. Vervaeck, Vertelduivels, S. 57–61 (in niederländischer Sprache).

5.2 Annäherung |

93

– unabhängig davon, wie tiefgehend oder oberflächlich diese auf der Ebene der Erzählung dargestellt werden – auch im verstärkten Maße konstante Handlungsträger in dem Sinne, als dass zumindest ein fester Kern von Anfang bis zum Ende der Erzählung eine tragende Rolle spielt. Konkret veranschaulichen lässt sich dies an jedem einzelnen der in dieser Studie besprochenen fiktionalen Texte: Anstatt einer ‚Geschichte der Aufklärung‘, in der einzelne Ideen die Rolle von Aktanten übernehmen könnten, treten in De avonturen van Henry II Fix⁸ und Die Vermessung der Welt die Figuren ‚Fix‘, ‚Gauß‘ und ‚Humboldt‘ auf und geben mit ihren Lebensläufen eine Mikrohandlung der Geschichte vor, die mit den verschiedenen Ereignisfolgen des geschichtlichen Kontextes (und anderen nichtfigürlichen Aktanten) verknüpft werden können (vgl. Kapitel 6). Ebenso präsentieren die Romane Tinpest und Schutzgebiet keine ‚Geschichte der kolonialen Bewegung‘, in der gesellschaftliche Gruppen streckenweise abstrakte Handlungsträger der Geschichte sind, sondern eine auf ‚Henry‘ beziehungsweise ‚Lauersperg‘ und ihre Leidensgenossen zugespitzte Entwicklung der Handlung (vgl. Kapitel 7). Während auch in Ich werde hier sein eine menschliche Figur zentraler Handlungsträger ist, konfrontiert Zwerm die Lesenden mit einer ins Unüberschaubare neigenden Anzahl von Figuren. Dies nimmt einerseits Immersionsmöglichkeiten zurück, andererseits weisen die Figuren trotz ihrer großen Zahl in Bezug auf ihr Auftreten eine relativ hohe Konstanz auf (vgl. Kapitel 9). Wie ‚romanhaft‘ die Erzählung Zwerm trotz ihrer Unübersichtlichkeit organisiert ist, zeigt sich, wenn man das immersionsfördernde Kriterium der auf den Roman zugeschnittenen Handlung auf die beiden im Rahmen dieser Studie besprochenen faktualen Geschichtserzählungen anwendet (vgl. Kapitel 8): Bis auf den Erzähler, der in In Europa zu einer präsenten Erzählerfigur wird (vgl. 8.3.1), tauchen keine Figuren auf, die von Beginn bis Ende relevant für die Geschichte sind. Während Figuren, die Menschen nachempfunden sind, nur episodenhaft Handlungen bestimmen, übernehmen hier verstärkt abstrakte Größen wie das statische versus das dynamische Frankreich Aktantenrollen (vgl. 8.2.2). Es zeigt sich also, dass die Zuschneidung von auf eine (vergangene) Wirklichkeit bezogenen Ereignisfolgen auf eine reduzierte Gruppe von Figuren, die Menschen nachempfunden sind und als konstante Handlungsträger auftreten, eine immersive Verstärkung von Emersion ist, die besonders im fiktionalen Erzählen auftritt. Dies deutet an, dass eine solche Organisation der Geschichte einen ersten Umschlagpunkt von Annäherung zu Distanzierung zwischen Emersion und

8 In dieser Übersicht wird nur auf die Titel der analysierten Werke verwiesen, bibliografische Angabe finden sich in den jeweiligen Analysekapiteln.

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Immersion markiert: Ist die ganze Ebene der Geschichte nach der Romanverfahrensweise strukturiert und nicht nur einzelne Handlungsabläufe, signalisiert dies eine innere Stimmigkeit des Aufbaus, die Emersion im Sinne der Ausrichtung der Geschichte auf die Wirklichkeit zurücknimmt. Auf der Ebene der Narration intensiviert die Erlebnisillusion die Referenzillusion vor allen Dingen durch die Betonung des ‚Zeigens‘ gegenüber dem ‚Erzählen‘, der Mimesis gegenüber der Diegesis (vgl. 4.2.2): Immersives Erzählen lässt die (in der Romanverfahrensweise stärker selektierten) Figuren verstärkt in der Erzählung ‚auftreten‘, indem es szenisch inszeniert. Ein gutes Beispiel ist die Eröffnung der faktualen Geschichtserzählung Der taumelnde Kontinent mit einer Szene, die das Ereignis eines Autorennens aus nächster Nähe beschreibt (vgl. 8.2.1/8.3.2): Die Nähe zum Geschehen wird hier auf Ebene der Erzählung vor allem durch die zeitliche Dauer (Erzählzeit und erzählte Zeit fallen zu einem hohen Grad zusammen) und die Wahrnehmung des Geschehens (Beschreibung von Elementen, die sinnlich wahrgenommen werden können)⁹ erreicht. Die Verwendung des szenischen Erzählens bei Blom zeigt, wo dieses Erzählen mit dem Wirklichkeitsbezug historischen Erzählens kollidiert: Eine starke szenische Gestaltung greift in die Perspektivierung einer Erzählung ein. So wird bei Blom die Nähe zum Geschehen ‚erkauft‘ durch die Zurückweisung einer übersichtverschaffenden retrospektiven Erzählperspektive.¹⁰ Die retrospektive Erzählperspektive ist im historischen Erzählen ein emersives Signal, die einen (analytischen) Abstand zum Erzählten erzeugt, dadurch aber gerade die Glaubwürdigkeit der Referenzillusion erhöht. Hier deutet sich ein weiterer Umschlagpunkt der immersiven Verstärkung von Emersion im faktualen Kontext an: Das Verhältnis zwischen Zeigen und Erzählen muss im faktualen Erzählen so ausbalanciert sein, dass die Szenen in ein emersiv überzeugendes Erzählen mit einem gewissen analytischen Abstand eingebettet sind.¹¹ Szenisches Erzählen beeinflusst auch die zeitliche Strukturierung auf der Ebene der Erzählung: Ein rein emersiven Ansprüchen genügendes chronologi-

9 In der Eröffnungsszene von Der taumelnde Kontinent wird diese Nähe zum Geschehen auch durch interne Fokalisierung einer Figur erreicht. Die interne Fokalisierung einer Figur ist jedoch keine Voraussetzung für Nähe durch wahrnehmungsbetontes Erzählen – sie kann auch durch eine extradiegetische, nicht als Figur in Erscheinung tretende Erzählinstanz erreicht werden. 10 Zur doppelten Zeitperspektive des Erzählens zwischen Retrospektive und Nachvollzug: Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 7. Aufl., München 2007, S. 119–123. 11 In Der taumelnde Kontinent wird der szenische Einstieg direkt Anlass für eine metahistoriografische Reflexion. Auch wenn hier das Erzählen für eine Reflexion ausgesetzt wird, zeigt das Verfahren, dass immersive Erzählstrategien ihre Glaubwürdigkeit besonders im faktualen Erzählen nur dann auf die Emersion übertragen, wenn sie nicht überhand nehmen.

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sches Erzählen kann dadurch immersionsfördernd gelockert werden. Zwischen den Szenen treten oft Ellipsen auf – wie in Der taumelnde Kontinent wo die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Erzählzeitpunkt in der Gegenwart ausgeblendet wird (vgl. 8.3.2). Andersherum werden Szenen oft über Prolepsen oder Analepsen in die Erzählung eingefügt. Analepsen finden sich in Die Vermessung der Welt etwa zur Inszenesetzung der Kindheit von Gauß beziehungsweise Humboldt. Sowohl Tinpest als auch Schutzgebiet beginnen mit einer Prolepse, indem sie ihre Schlussszene auch an den Anfang der Erzählung setzen (vgl. 7.3.3). De avonturen van Henry II Fix demonstriert, dass ein zu sehr auf Episoden und einzelne Szenen gerichtetes Erzählen auch die Kohärenz so schwächen kann, dass die emersionsfördernde Immersion wieder zurückgenommen wird (vgl. auch die Isolierung von Szenen in Der taumelnde Kontinent in 8.2.1). Auf einem abstrakten Niveau kann eine Erzählung durch eine solche Strukturschwäche jedoch wieder Emersion beanspruchen, indem sie Analogien zwischen dieser Darstellungsweise und der repräsentierten komplexen Wirklichkeit herstellt (vgl. 6.3.2). Eine weitere wichtige immersive Erzählstrategie auf der Ebene der Erzählung ist die interne Fokalisierung, die in Bezug auf die Intensivierung von Referenzillusion eine besonders deutlich skizzierbare Dynamik entfaltet, da in ihr die Annäherungsbewegungen der immersiven und der emersiven Glaubwürdigkeit offensichtlich in Konflikt geraten: Interne Fokalisierung fördert das Erleben einer Erzählung, allerdings geht dies zwangsläufig auf Kosten der Referenzillusion, da das Erleben einer Figur selten so erzählt werden kann, dass adäquate Wirklichkeitswiedergabe glaubwürdig gemacht werden kann. Für die immersive Dimension der internen Fokalisierung gilt also – im faktualen Erzählkontext – im Besonderen die Maßgabe, dass Immersion nur dann Emersion fördert, wenn sie in deutlich reduzierter Form auftritt. Im fiktionalen Kontext schlägt die Intensivierung der Referenzillusion durch interne Fokalisierung oft um in eine Verstärkung der Erlebnisillusion durch ihre Einbettung in einen schwächer ausgeprägten emersiven Kontext.¹² Es lässt sich also hier festhalten, dass je nach Restriktion der Immersionsmöglichkeiten die Referenzillusion zum Hintergrund der Immersion wird oder von einer schwächer ausgeprägten Immersion als Stütze der Referenzillusion ausgegangen werden kann. Die Verschränkung von Immersion und Emersion im fiktionalen Erzählen zeichnet sich daher durch einen weitaus ungezwungeneren Umgang mit interner Fokalisierung aus, wie der Roman Die Vermessung der Welt in seiner Vorführung klassischer ‚Verlebendigung‘ (im Sin-

12 Dies gilt allerdings nicht immer. So wird im eingangs erwähnten Roman Heren van de thee auch die im Roman umfangreich praktizierte Erzählstrategie der internen Fokalisierung ganz wie im faktualen Kontext im „Rechenschaftsbericht“ als faktisch legitimiert dargestellt: H. Haasse, S. 297.

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ne der Immersion) historischen Erzählens in der Literatur vorführt (vgl. 6.2.2). In den faktualen Geschichtserzählungen In Europa und Der taumelnde Kontinent geschieht die interne Fokalisierung sehr viel vorsichtiger und wird in Der taumelnde Kontinent zudem explizit faktisch legitimiert (vgl. 8.3.3). Eine ähnlich Dynamik zeigt sich auf der Ebene der Erzählung in der Ausgestaltung beziehungsweise Charakterisierung der Figuren. Eine immersive Erzählstrategie ist die psychologisch differenzierte Ausgestaltung von Figuren, die aus ähnlichen Gründen wie die interne Fokalisierung schnell der Referenzillusion abträglich ist. Besonders in den aktuellen literarischen Erzählungen, die in dieser Studie analysiert wurden, zeigt sich jedoch der Trend, Figuren und Erzählwelt demonstrativ ‚oberflächlich‘ zu gestalten (vgl. 6.2.3, 7.2.2). Es ist die Frage, inwiefern dadurch Immersion zurückgenommen wird. Gerade eine stereotype Gestaltung kann Erzählelemente leichter zugänglich machen (vgl. 6.3.3). Eine auf diese Weise gestaltete Erlebnisillusion nimmt zunächst einmal Referenzillusion zurück, da stark überzeichnete Figuren wenig glaubwürdig machen, über Äquivalente in der Wirklichkeit zu verfügen. Nur über den intellektuell anspruchsvollen Umweg, der eine explizit oberflächliche Figurenzeichnung als analytische Distanz wertet, kann emersive Glaubwürdigkeit wieder hergestellt werden. Narratologisch lange unterbelichtet waren Textualisierungsstrategien der Raumrepräsentation, welche – etwa in der ‚bottom-up‘-Gestaltung durch die dynamische Raumerschließung als „route“ – Referenzillusion immersiv stärken können, ohne dabei zwangsläufig emersiv unglaubwürdig zu werden. Der Raum tritt hier aus der Rolle eines bloßen ‚settings‘ heraus und kann dazu beitragen, faktisch Verbürgtes durch Immersion zu ‚verorten‘ (vgl. 8.3.1). Auf der Ebene der Narration fördern Formen der direkten Bewusstseins- und Redewiedergabe Immersion wiederum auf emersiv kritische Weise, in der zu große immersive Nähe zu emersiver Distanz führt. Insofern kann das Zurücknehmen direkter Rede in Die Vermessung der Welt (vgl. 6.2.2) auch als Herstellen emersiver Glaubswürdigkeit durch den Hinweis auf die Unverbürgtheit der Repräsentation gelesen werden. Eine Störung der Immersion kann hier also durchaus neutral oder gar förderlich im Hinblick auf die Referenzillusion sein.¹³ Was den Zeitpunkt des Erzählens betrifft, erhöht gleichzeitiges Erzählen – das Erzählen im Präsenz – die Immersion, nimmt jedoch, wie in der Eröffnungsszene von Der taumelnde Kontinent beschrieben (vgl. 8.2.1) wieder analytische Distanz zurück. Hinsichtlich der Beteiligung des Erzählers am Erzählten können in faktualen Geschichtserzählungen Erzählgriffe wie der der Zeitreise (vgl. 8.3.1) homodiegetisches Erzählen bezüglich der Geschichte simulieren, das in der Ge-

13 Vgl. hierzu Wolf: W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 61–62.

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schichtsschreibung eigentlich unmöglich ist: Der mit der Autorinstanz assoziierte Erzähler kann nicht an den erzählten vergangenen Ereignissen der Geschichte teilgenommen haben. Normalerweise muss im faktualen Kontext homodiegetisches Erzählen als Zeugenbericht deklariert sein, um die Immersion eigenen Erlebens mit der Aufrechterhaltung von Referenzillusion zu verbinden. Die Stellung des Erzählers gegenüber dem Erzählten kann insofern zur Immersionsförderung beitragen, als intradiegetische Erzähler, die als Figuren eingeführt wurden, die Rolle von Zeugen übernehmen können, aber auch durch den Bezug auf ihre Person eine Erzählung anschaulich machen können („Sekundärillusion“, vgl. 5.3.1). Das Auftretenlassen von Zeugen, die ‚ihre‘ Geschichte erzählen, kann durchaus auch im faktualen Erzählen eingesetzt werden. Intradiegetisches Erzählen muss damit nicht immer ein emersionsstörendes Künstlichkeitssignal sein (vgl. 8.3.3). Im Rahmen fiktionalen Erzählens wird die sinnliche Erfahrbarkeit von Sprache in der Narration als immersive Dimension allen Erzählens, auch dem mit Wirklichkeitsanspruch, herausgestrichen (vgl. die Essensmetaphorik in 6.3.1). Im negativen Sinne kann die immersive Wirkung des direkten Kontakts mit schriftlichen Äußerungen auch als ‚Infektion‘ stilisiert werden (vgl. die ‚Poetik des Virus‘ in 9.3.2).

5.2.2 Emersion intensiviert Immersion Was die Verstärkung der Erlebnisillusion durch die Referenzillusion betrifft, geht es in den meisten Fällen um eine emersive Verortung des Erzählten. Beansprucht eine Erzählung, dass das von ihr immersiv Erzählte ‚wirklich so geschehen ist‘, erhöht sie die Bereitschaft zur Immersion in die Erzählung (vgl. 4.3.2).¹⁴ Der ‚period rush‘, wie er in der Reenactmentbewegung gesucht wird,¹⁵ weist auf ein Verfahren hin, bei dem Erlebnisillusion nicht nur emersiv verstärkt, sondern durch Referenzillusion hergestellt wird: Je detailgetreuer eine Repräsentation der (vergangenen) außersprachlichen Wirklichkeit zu entsprechen scheint, desto größer der Effekt, sich durch diese Repräsentation in die repräsentierte Wirklichkeit immersiv hereinversetzt zu fühlen. Je stärker die vermeintliche Übereinstimmung mit der repräsentierten Wirklichkeit, so die Erwartung an dieses immersionserzeugende Verfahren, desto größer die Stimmigkeit der erzeugten Welt in sich.

14 Vgl. hierzu A. Koschorke, S. 333–334. Auch Wolf weist auf diesen Effekt der Verstärkung der Erlebnisillusion durch die Referenzillusion hin: Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung 60. 15 T. Horwitz, S. 7.

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Die terminologische Verwirrung um ‚die‘ Geschichte als ‚Formgebung‘ der Vergangenheit einer Kultur (vgl. 3.3.2 und 3.3.3), ‚eine‘ Geschichte als alltagssprachlichem Sammelbegriff für Erzählungen und Geschichte als Erzählebene im narratologischen Sinne deutet es bereit an: ‚Die‘ Geschichte ist ein reichhaltiger Vorrat für die Ebene der Geschichte in Erzählungen. Einerseits bietet sie für die räumliche Dimension der Geschichte ein umfangreiches Arsenal historisch verbürgter settings. Afrika als historisches Kolonialgebiet in Schutzgebiet wäre hierfür ein Beispiel, auch wenn der Roman eine fiktive Kolonie in diesem setting verortet (vgl. Kapitel 7). Charakteristisch für die emersive Anreicherung der Erzählwelt durch ‚die‘ Geschichte ist jedoch die unermessliche Zahl chronologisch geordneter Ereignisse, die in verschiedene Zusammenhänge gebracht und somit auch immersiven Zielen entsprechend verknüpft werden können. Bereits etablierte historische Ereignisfolgen können ebenfalls Basis immersiver Erzählwelten werden. Auf der Ebene der Narration werden Ereignisse explizit oder implizit im System der Jahreszahlen verortet. Durch das System der Jahreszahlen wird sowohl die Referenzillusion geschaffen als auch die Stringenz einer Erzählung gestärkt. Die Positionierung der Erzählwelt innerhalb der Jahreszahlen unseres Kalendersystems hat „in der Regel die Funktion, die fiktive Welt im Verhältnis zur realen Welt zu situieren, oder anders formuliert, die Auffüllung der fiktiven Welt mit Ereignissen oder Komponenten der realen Welt zu steuern“.¹⁶ Jahreszahlen sind also eine auf Wirklichkeitsrepräsentation bezogene Ordnungsstruktur, die in fiktionalen Erzählungen (zum Teil) übernommen wird. Durch Verbindung von Ereignissen mit Jahreszahlen ‚zapft‘ eine Erzählung also einen bestimmten emersiven Erzählkosmos an, dessen chronologische Organisation sie auf sich überträgt. Der Verweis auf eine Datierung innerhalb des – zumindest in dem hier behandelten Kulturkreis – geltenden Kalendersystems in einer Erzählung hat zwangsläufig emersive Konsequenzen, denn innerhalb dieses Systems gibt es kein Datum, das nicht (potentiell) auf die Wirklichkeit bezogen wäre.¹⁷ Die Geschichte wird so innerhalb einer faktualen Zeitrechnung verortet. Weiterhin nähert das Einfügen emersiver Erzählstrategien auf Ebene der Erzählung und der Ebene der Narration die Immersion dem dokumentarischen Verfahren an. De avonturen van Henry II Fix arbeitet mit emersiven Erzählstrategien, wie sie verstärkt im faktualen Erzählen auftreten, etwa dem Endnotenapparat, der Bibliografie und dem Rechenschaftsbericht (vgl. 6.2.1). Während sich die-

16 F. Zipfel, S. 91. 17 Vgl. Bernd W. Seiler, Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert, Sprache und Geschichte 6, Stuttgart 1983, S. 118– 119.

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se Erzählstrategien auf der Ebene der Narration bewegen, demonstriert etwa das Nachwort zu De avonturen van Henry II Fix, wie in der abschließenden Besprechung der Figur Henry II Fix faktuale Erzählstrategien auf der Ebene der Erzählung wie die beschränkte interne Fokalisierung angewendet werden (vgl. AHF 333-337, 6.2.1). Allerdings gilt hier wie umgekehrt für die Stärkung der Referenz durch die Erlebnisillusion: Die emersiven Elemente müssen so beschränkt werden, dass sie zwar die Immersion stärken, diese aber nicht durch verstärktes Auftreten wieder zurücknehmen: Zu stark emersionsbetontes Erzählen stört die Immersion. Auf Ebene der Narration kann Emersion implizit oder explizit mit Immersion verknüpft werden (vgl. 4.1.2). Die Verankerung einer Erzählung in einen Wirklichkeitsbezug geschieht meist als „Überwindung der Distanzschwelle“ gleich zu Anfang, auch in paratextuellen Elementen wie dem Vorwort (in Henry II Fix als ironisches Unterlaufen der Manuskriptfiktion, vgl. 6.2.1/6.3.1).¹⁸ Geppert führt dies eindruckvoll in der Verquickung von „Fiktion“ und „Historie“ in Satzanfängen historischer Romane vor.¹⁹ Die oben genannten Jahreszahlen als Elemente einer chronologischen Tiefenstruktur fungieren an der Textoberfläche als explizite Signalisierung eines wirklichkeitsbezogenen Kontextes. Die Vermessung der Welt demonstriert eine solche explizite Verortung der Erzählwelt durch die Nennung der Jahreszahl „1828“ (vgl. 6.2.2). Auch in De avonturen van Henry II Fix wird eine spezifische Jahreszahl zu Beginn der Binnenerzählung genannt (vgl. 6.2.3). Weitere explizite Verweismöglichkeiten sind Namen (etwa bekannter historischer Personen wie Gauß und Humboldt in Die Vermessung der Welt) oder Orte (wie der Michaelerplatz in In Europa und Der taumelnde Kontinent, vgl. 8.2.2). Beispiele für implizite Verknüpfungen sind sowohl Tinpest als auch Schutzgebiet. Beide Romane ordnen ihre Handlung zunächst nicht explizit historisch ein. In ihren als Kampfszenen gestalteten szenischen Einstiegen wird jedoch durch implizite Signale in der Ausgestaltung von Figuren und setting eine vage Verortung der Handlung in einem geschichtlichen Kontext angedeutet (vgl. 7.2.1). Eine besondere Form des expliziten Verweises ist das Zitat. Das Zitieren historischer Quellen in der Geschichtserzählung im Kontext der Referenzillusion ist einerseits eine Beglaubigungsstrategie (vgl. etwa das Zitieren von Chomels Haushaltswörterbuch in De avonturen van Henry II Fix, 6.3.2, aber auch das Zitieren von Augenzeugen und Quellen in Der taumelnde Kontinent und In Europa, vgl. 8.3.3). Ein wichtiger Aspekt des Zitierens von Quellen ist jedoch auch die Verstärkung von Immersion durch die Möglichkeit, sich in Sprache und Sprachduktus

18 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 60. 19 H.V. Geppert, Der historische Roman, S. 1–3.

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der Zeit hineinversetzen zu können. Dies gilt gleichermaßen für Chomels Wörterbuch in De avonturen van Henry II Fix (vgl. 6.3.2) wie für die Zeitungsschlagzeilen, die etwa in Der taumelnde Kontinent zitiert werden (vgl. 8.2.3). Dabei ist es für die Erlebnisillusion weniger wichtig, ob diese Sprachlichkeit fingiert ist wie die zum Teil nur scheinbar zeitgenössischen Endnotenverweise in De avonturen van Henry II Fix (vgl. 5.2.1). Wichtig ist die durch die Referenzillusion geschaffene immersive Atmosphäre des ‚direkten‘ Sprachkontakts, wie sie in De avonturen van Henry II Fix explizit reflektiert wird (vgl. 6.2.1). Die nachempfundene historische Form korrespondiert mit der von Genette für intertextuelle Verweise charakterisierten direkten beziehungsweise indirekten Transformation. Eine direkte Transformation bezieht sich dabei auf die Thematik eines Werkes, eine indirekte Transformation auf den Stil einer Erzählung. Die Anmerkungen in De avonturen van Henry II Fix ahmen den Stil einer historischen Epoche nach und stellen somit eine indirekte Transformation eines historischen Kontextes dar, während die Verhandlung von zeittypischen Diskursen einer historischen Epoche (etwa von Tradition und Moderne, vgl. 8.2.2) als direkte Transformation gesehen werden kann.²⁰

5.3 Distanzierung 5.3.1 Immersion stört Emersion Die Störung der Referenzillusion durch die Erlebnisillusion lässt sich grob in zwei Kategorien aufteilen. Einerseits wäre die Störung der Referenzillusion durch eine intakte Erlebnisillusion zu nennen. Ein Beispiel hierfür ist das Spielzeugluftschiff das in Tinpest mit aller Selbstverständlichkeit durch ein offenes Fenster schwebt und verschwindet (vgl. 7.3.2). Während die Beschreibung dieses Vorgangs im Rahmen der Erlebnisillusion legitim ist, stört sie die Referenzillusion durch ihre Unwahrscheinlichkeit (diese Störung kann wieder eine Rückkopplung auf die Erlebnisillusion auslösen, sofern diese sich auf der Referenzillusion aufbaut). Zudem fallen die unter 5.2.1 geschilderten Fälle der zu starken immersiven Annäherung, die auf Kosten der Emersion geht, in diese Kategorie. Andererseits wären die Störungen der Erlebnisillusion zu nennen, welche auch auf die Referenzillusion übertragen werden können, wie im Folgenden für die einzelnen Erzählebenen aufgeschlüsselt werden soll. Auf Ebene der Geschichte lassen sich als Emersion störende Immersion alle Elemente wie settings und Figuren aufführen, die eine hohe immersive Zugäng20 Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1993, S. 15–17.

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lichkeit haben, jedoch nicht den Erfahrungen und Erwartungen an eine Wirklichkeit, auf die sich emersives Erzählen beziehen lässt, entsprechen: Gemeint sind unwahrscheinliche Elemente wie Afrika als paradiesischer Fluchtpunkt in Ich werde hier sein (vgl. 9.3.3) oder der „Drachenbaum“ auf Teneriffa in Die Vermessung der Welt (vgl. 6.3.3). Allerdings sind solche Elemente immer ambivalent, ist doch ihr Status immer nur relativ zu einer Wirklichkeitserwartung zu bestimmen. Enggeführt wird diese Problematik in fiktionalen Erzählungen, die herausstellen, wie ‚unwahrscheinliches Erzählen‘ , zu dem auch das Aussetzen emersiver Glaubwürdigkeit in der Immersion zählt, dennoch Wirklichkeitbezug erzeugen kann: Tinpest und Schutzgebiet versetzen die Lesenden in eine Welt mit scheinbar fantastischen Elementen, die sich teilweise als historische Wirklichkeit entpuppen (vgl. 7.3.2). Auch bekannte Topoi können, wenn sie die Geschichte zu deutlich bestimmen, die Referenzillusion stören, auch wenn sie immersiv kohärent sind. Dies zeigt sich in Der taumelnde Kontinent und In Europa, wenn die Geschichtserzählungen sich an bekannten Erzählstrukturen ausrichten (vgl. 8.2.2). Auf der Ebene der Erzählung spielen Phänomene der Überstrukturierung einer Erzählwelt (vgl. 6.3.3) oder ihrer Unterstrukturierung (vgl. 6.3.2) eine Rolle bei der Störung der Referenzillusion durch die Erlebnisillusion. Es wäre diskutabel, inwiefern eine Überstrukturierung wie in Die Vermessung der Welt die Referenzillusion eher stört als die Erlebnisillusion. So könnte argumentiert werden, dass der unwahrscheinliche Ordnungsüberschuss der Erzählung schneller mit der Referenzillusion konfligiert als mit der Erlebnisillusion. Umgekehrt entsteht der Eindruck, dass lose Strukturen emersiv eher akzeptiert werden als immersiv, sofern lose Strukturierung durch ihren Wirklichkeitsbezug begründet wird (etwa ein lückenhaftes Tagebuch als historische Quelle wie De avonturen van Henry II Fix). Die Einbeziehung von Eigenschaften des Dargestellten in die Darstellung kann also besonders im Kontext fiktionalen historischen Erzählens, nach der Störung der Referenzillusion auf den zweiten Blick wiederum eine Referenzillusion auf Metaebene erreichen, so etwa in der oberflächlichen Darstellung von Oberflächlichkeit (vgl. 6.2.3). Sowohl in die Ebene der Geschichte, der Erzählung als auch der Narration hinein spielen metareflexive Elemente, die an dieser Stelle differenziert werden müssen in Metareflexion in fiktionalen Erzählungen (Metafiktion) und faktualen (historischen) Erzählungen (in diesem Fall Metahistoriografie).²¹ Das Konzept der Metahistoriografie stammt aus einem Kontext, in welchem im Zuge postmoderner Vermischung von Fiktionalität und Faktualität Metahistoriografie und

21 Für metareflexive Elemente in anderen faktualen Erzählungen als den historischen wäre der Begriff ‚metafaktual‘ angezeigt.

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Metafiktion unter dem Nenner „historiografische Metafiktion“²² zusammengefasst wurden. Dies unterstellt die Möglichkeit, dass in einer fiktionalen Erzählung Metareflexionen zum faktualen, in diesem Falle historischen, Erzählen angestellt werden können. Da hier jedoch von sprachpragmatisch unterschiedenen Aussagemodi ausgegangen wird, die auf – wenn auch konventionalisierten und dadurch flexiblen – spezifischen Zusammenstellungen von Erzählverfahren (wie der unterschiedlichen Gewichtung von immersiven und emersiven Erzählstrategien) beruhen, kann ein fiktionaler Text streng genommen eine faktuale Geschichtserzählung zwar reflektieren, diese Reflexion aber nicht als Selbstreflexion darstellen.²³ Wenn also Der taumelnde Kontinent sein eigenes Erzählverfahren reflektiert (8.2.1), ist dies Metahistoriografie. Wenn Tinpest die Hervorbringung von Nationen wie Österreich-Ungarn durch (Geschichts-)Erzählungen beschreibt, liegt hier ein Fall von historiografischer Reflexion, nicht jedoch von metahistoriografischer Reflexion, vor (vgl. 7.2.3). Sowohl Metafiktion, Metahistoriografie und historiografische Reflexion können in impliziter wie expliziter Form auftreten.²⁴ Implizite Formen lassen sich nicht anhand einer isolierbaren Rede (wie zum Beispiel anhand eines Kommentars) konkretisieren. Die (Meta-)Reflexion auf Verfahrensweisen des Erzählens wird dabei eher inszeniert beziehungsweise gezeigt als direkt angesprochen. Explizite Formen finden im Modus des ‚telling‘ statt und kommentieren direkt das Erzählverfahren oder das sprachliche Medium.²⁵ (Meta-)Reflexionen müssen sich nicht störend auf Immersion oder Emersion auswirken.²⁶ Den metahistoriografischen Passagen in In Europa und Der taumelnde Kontinent (vgl. etwa die Aussagen zur individuellen Geschichtsschreibung in In Europa, 8.2.2) ist eigen, dass sie weder eine Störung der Erlebnis- noch der Referenzillusion hervorrufen. Die metahistoriografische Reflexion in der Einführung zu Der taumelnde Kontinent thematisiert und reflektiert explizit das Erzählverfahren, aber ohne es in Frage zu stellen (vgl. 8.2.1). In In Europa entsteht durch das reisende Ich, das sich und sein Schreiben immer wieder implizit und explizit reflektiert, eine starke Sekundärillusion, die sich geradezu positiv auf die Erleb-

22 Linda Hutcheon, Beginning to Theorize Postmodernism. In: Textual Practice, 1, 1987, S. 10–31. 23 In Bezug auf die Metafiktion betont Wolf die „Autoreferentialität“, nach der ein „Meta[...]diskurs [...] eine ‚Objektsprache‘ [...] zum logischen Gegenstand seiner Aussagen hat, gleichwohl sich derselben [...] Sprache und Form bedient und daher autoreferentiell ist“: W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 222. 24 Vgl. Wolf in Bezug auf Metafiktion: W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 226–239. 25 Vgl. Wolf in Bezug auf Metafiktion: W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 226. 26 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 224.

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nisillusion auswirkt (vgl. 5.2.1), weil die Erzählerfigur zu einer konstanten Figur wird, in die sich die Lesenden einleben können (vgl. 8.2.3).²⁷ Eine Form der impliziten Metahistoriografie, die weniger die Erlebnis- als die Referenzillusion stört, ist die Offenlegung der eigenen Selektionsprinzipien in Der taumelnde Kontinent (vgl. 8.2.3). Ein Sonderfall sind die historiografischen Reflexionen in fiktionalen Texten. Ein Beispiel ist die implizite und explizite Thematisierung der ‚Körpergeschichte‘, also der Einschreibung von Geschichte auf dem menschlichen Körper als spezielles historiografisches Verfahren in Tinpest und Schutzgebiet (vgl. 7.3.1). Die Erlebnisillusion wird hier nicht gestört, da die historiografische Reflexion in sie eingeschlossen ist. Höchstens die Referenzillusion nimmt Schaden an dieser etwas unwahrscheinlichen Form der Geschichtsschreibung. Anders liegt der Fall in Die Vermessung der Welt, wenn in der Person eines Biografen Humboldts ein Geschichtsschreiber auftritt und der Roman (faktisch unbelegt) vorführt, wie wenig Kontakt der Biograf zu der Person (Humboldt) hat, über die er schreibt (ähnlich wird Humboldts Berichterstattung über seine Reisen selbst fragwürdig gemacht, vgl. 6.2.3). Diesem Verfahren vergleichbar ist das Vorführen der vergeblichen Versuche der Romanfiguren in Schutzgebiet und Tinpest Oberflächen zu durchbrechen, während die Erzählung sich selbst als oberflächliche Geschichtserzählung präsentiert (vgl. 7.2.2). Hier wirkt sich historiografische Reflexion innerhalb einer Erzählwelt so aus, dass das wirklichkeitsbezogene Erzählen, auf dem die Erzählung ihre Immersion basiert, grundsätzlich zweifelhaft wird und auf diese Weise sowohl die Emersion als auch die auf ihr beruhende Immersion stört (vgl. 5.3.2). Die fiktionale Erzählung macht hier das Aufrufen einer Referenzillusion auch im faktualen Erzählen zweifelhaft, da sie innerhalb ihrer eigenen Erzählwelt die Verschönerungen, Erfindungen und Täuschungen betont, die unter diesem Nenner auftreten. Diese generalisierende Infragestellung der Referenzillusion entzieht der eigenen Erzählung die Basis für die Beanspruchung einer Referenzillusion: Die immersive Erzählwelt macht ihre eigene emersive Grundlage fragwürdig und destabilisiert sich dadurch selbst. Je nachdem, wie generalisierend die Referenzillusion in Frage gestellt wird, kann sich die nicht emersiv abgesicherte Erlebnisillusion hier auch rehabilitieren, da sie Referenzillusion als Glaubwürdigkeitsstrategie allgemein diskreditiert (vgl. 6.2.3). Hier liegt insofern eine Störung der Referenzillusion über die Erlebnisillusion vor, als dass die historiografische Reflexion in die Erlebnisillusion eingebettet ist (wir erleben etwa, wie Humboldt auf seinen Biografen trifft). Ein ähnlicher Fall tritt ein,

27 Zur „Sekundärillusion“ die nach dem Grad entsteht, in dem „der Erzähler [...] als Figur vorstellbar wird“ vgl. W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 233–234.

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wenn ein Roman wie Zwerm einerseits filmische Erzählverfahren imitiert, andererseits jedoch gerade die hohe immersive Glaubwürdigkeit filmischen Erzählens als Gefahr und ihren scheinbaren Realismus als Illusion ausstellt (vgl. 9.2.3). Eine weitere Form, in der historiografische Reflexionen in fiktionalen Erzählungen die Referenzillusion stören können, ist die der Zuschneidung der Erzählwelt auf geschichtstheoretische Thematiken. Wenn etwa der Eindruck entsteht, die Schilderung von Vermessungstätigkeiten der Figuren Gauß und Humboldt in Die Vermessung der Welt seien eher einer historiografisch relevanten Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen von Wirklichkeitsrepräsentation geschuldet als dem Interesse am ‚wirklichen‘ Schaffen der Forscher, so wird dadurch Referenzillusion zurückgenommen (zur poetischen Funktion der Raumvermessung beziehungsweise -berechnung vgl. 6.3.3). Gleiches gilt für die Vorführung kolonialer Aneignungsprozesse in Tinpest und Schutzgebiet (vgl. 7.2.1) oder für das zirkuläre, mythische Erzählen in den beiden genannten Romanen sowie Ich werde hier sein und Zwerm (vgl. 7.3.3 und 9.3.3): Sie richten die Erzählung an der Reflexion von Aneignungsprozessen beziehungsweise von Zeitkonzepten aus und schwächen dadurch die Referenzillusion in Bezug auf eine konkrete historische Wirklichkeit. Auch in historiografischen Erzählungen tritt dieser Verfremdungseffekt auf, sofern sich ein explizt geäußertes Erzählinteresse auf Inhalte der Darstellung überträgt (vgl. 8.2.2). Was die Störung der Erlebnisillusion durch Metafiktion betrifft, kann sie auch die Referenzillusion stören, wenn sie den Konstruktionscharakter des Erzählens offenlegt. Wenn Gauß sich selbst als konstruierte Figur wahrnimmt und damit nicht nur implizite Metafiktion, sondern auch eine Erzählebenenüberscheitung auslöst (vgl. 6.2.2), stört dies nicht nur das Erleben der Erzählwirklichkeit, sondern auch die Idee, dass Gauß der historischen Person entsprechen könnte.

5.3.2 Emersion stört Immersion Die Störung der Erlebnisillusion durch die Referenzillusion lässt sich ebenfalls in diejenigen Fälle trennen, in denen eine intakte Referenzillusion die Erlebnisillusion stört und in diejenigen, in denen die Störung einer Referenzillusion sich auf die Erlebnisillusion überträgt. Der erste Fall lässt sich durch eine generelle Dynamik zwischen Immersion und Emersion begründen, die dadurch verursacht wird, dass für die emersive Glaubwürdigkeit eine gewisse Distanz zuträglich ist, die der Immersion schadet (vgl. 4.3.3). Die Fälle der Störung der Erlebnisillusion durch die Störung der Referenzillusion setzen voraus, dass die immersiv gestaltete Erzählwelt einigermaßen stark in der Referenzillusion verankert ist. Denn ein wichtiges Charakteristikum der Verstärkung von Immersion durch Emersion ist, dass eine

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einmal emersiv gestützte immersive Erzählwelt durch Störungen der Referenzillusion (im Gegensatz zu Störungen der Immersion, welche die Referenzillusion stärken können, vgl. 6.2.1), soweit es hier festgestellt werden konnte, nicht nur nicht intensiviert, sondern oft gestört wird. Die Erlebnisillusion wird in gewisser Weise abhängig von der Referenzillusion, wenn sie sich einmal an sie ‚angedockt‘ hat,²⁸ so optional und nicht verpflichtend dieses ‚Andocken‘ auch ist. Dennoch kann auch in diesen Fällen die Störung der Referenzillusion unterschiedliche Intensitäten haben: Sie kann sich auf einzelne Details oder auf die Grundlage der ganzen Erzählung beziehen. De avonturen van Henry II Fix demonstriert den ersten Fall: Nirgendwo im Text wird der Annahme, Henry II Fix sei eine historische Person, explizit widersprochen, so dass emersive Zweifel immer wieder durch immersives Einleben ausgeglichen werden.²⁹ Während die Störung der Referenzillusion, die Wolf in The French Lieutenant’s Woman anführt – „This story I am telling is all imagination“ – in einem expliziten Erzählerkommentar der Erzählung ihre emersive Grundlage entzieht (vgl. 4.3.1), kann in De avonturen van Henry II Fix von einer langsamen Erosion, die nie zur völligen Auflösung führt, gesprochen werden. Auf Ebene der Geschichte ist das kontrafaktische Erzählen als Stören der Referenzillusion, die sich auf die Erlebnisillusion ausweitet, zu nennen. Das kontrafaktische Erzählen etabliert einen historischen Kontext, weicht dann jedoch von ihm ab (vgl. 9.2.1). Durch diesen Bezug auf historisch verbürgte Ereignisfolgen, der dann relativiert wird, ist auch das Einleben in die Erzählwelt, das an die Erwartung des Wirklichkeitsbezugs geknüpft wurde, beeinträchtigt. Auch hier schwankt die Intensität der Störung: Ich werde hier sein demonstriert, dass eine

28 Vgl. hierzu Wolfs Ausführungen zur chiastischen Struktur der Hierarchie von Erlebnis- und Referenzillusion in Bezug auf Illusionsstörungen, der sie vor allem auf die nicht ästhetischen Eigenschaften der Referenzillusion zurückführt: W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 61–62. 29 Ebenso gibt es Fälle, in denen der Hinweis auf emersive Zweifelhaftigkeit nach dem Prinzip der Hervorbringung durch Negation Immersion nicht verhindert, wie hier an einem kurzen, eingängigen Beispiel eines nicht in dieser Studie behandelten Romans gezeigt werden soll. In Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis findet sich gleich auf der ersten Seite des Romans der Satz: „Es war ein heller, windiger Märztag des Jahres 1872 an der adriatischen Küste. Vielleicht standen auch damals die Möwen wie filigrane Papierdrachen im Wind über den Kais, und durch das Blau des Himmels glitten die weißen Fetzen einer in den Turbulenzen der Jahreszeit zerrissenen Wolkenfront – ich weiß es nicht.“ Die emersive Verunsicherung des „Vielleicht/Ich weiß es nicht“ kann hier die anschaulich und detailliert beschriebenen Möwen und Wolken nicht wieder ungeschehen machen – sie sind gerade durch die Negation der emersiven Grundlage (wenn auch eingeschränkt) immersiv installiert: Christoph Ransmayr, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Frankfurt am Main 1994, [1984], S. 11.

106 | 5 Annäherungs- und Distanzierungsdynamik zwischen Immersion und Emersion

in sich kohärente kontrafaktuale Erzählwelt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut werden kann, die sich nicht in der Störung der bekannten historischen Abläufe erschöpft, sondern auf der Grundlage der Störung der Referenzillusion eine immersive Erzählwelt aufbaut, die zwar zunächst Irritationen hervorruft, letztlich jedoch die Erlebnisillusion aufrechterhält. Insgesamt zählen alle Formen des Prekärwerdens einer etablierten Referenzillusion in die Kategorie einer Störung von Immersion durch gestörte Emersion, da sie zu einem Bestandteil der Erlebnisillusion geworden sind, dessen Störung diese beeinträchtigt. Eine intakte Referenzillusion stört auf der Ebene der Erzählung die Erlebnisillusion, wenn zum Beispiel in In Europa die erzählte Geschichte retrospektiv eingeordnet wird (vgl. 8.3.2). Dies strukturiert die historische Erzählung, kann jedoch gleichzeitig die Erlebnisillusion stören, weil die Einordnung in historische Entwicklungsverläufe auf den Abstand zum Erzählten hinweist, der von einer gegenwärtigen Perspektive aus geordnet wird.³⁰ Auch andere emersive Erzählverfahren, wie abstrakte und nicht durchgehende Aktantenrollen auf der Ebene der Geschichte (vgl. 5.2.1) – also nicht an der ‚Romanverfahrensweise‘ orientierte Erzählverfahren – behindern die Immersion, obwohl die Referenzillusion intakt bleibt (vgl. die unter 3.1.3 aufgeführten Verfahren faktualen Erzählens für weitere Beispiele emersiven Erzählens, die Immersion zur Signalisierung von Faktualität zurücknehmen).

30 Vgl. zu Retrospektive gegenüber Nachvollzug in Erzählungen M. Martínez und M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 119–123.

| Teil II: Geschichte erzählen in aktueller deutschund niederländischsprachiger Literatur

6 Wi(e)der die Aufklärung: Erzählungen vom Ende des langen achtzehnten Jahrhunderts 6.1 Hinführung: Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt und Atte Jongstras De avonturen van Henry II Fix Die Literatur greift zeitgenössische politische Debatten auf, wenn sie sich einem Thema zuwendet, dessen Historizität selbst eine Prinzipienfrage ist: die schon zur Zeit ihrer Entstehung so benannte ‚Aufklärung‘ (nl. ‚verlichting‘). Ein Blick in Feuilletondebatten im niederländisch- und deutschsprachigen Raum zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts zeigt, dass dieses Thema mitnichten an Aktualität eingebüßt hat. In den Niederlanden fällt dem Begriff der ‚verlichting‘ zum Beispiel in den hochbrisanten Debatten um Interkulturalität, vor allem um die Rolle des Islams in den Niederlanden, eine besondere Bedeutung zu. Ein plakatives Beispiel ist die niederländische Politikerin und Publizistin somalischer Herkunft, Ayaan Hirsi Ali. Sie stellt dem als „religiöse Ideologie“ mit „Mangel an nüchternem Verstand“¹ bezeichneten Islam ein Modell der Aufklärung gegenüber, das einen Prozess des Erwachsenwerdens im kritischen Denken bedeute. Diesem müsse der Islam sich öffnen.² Aufklärung ist in den hier angerissenen Debatten keine historische, abgeschlossene Epoche, sondern ein brandaktuelles Thema, das oft dazu gebraucht wird, die vergangenen zweihundertfünfzig Jahre als geistesgeschichtliches Kontinuum zu denken und sie mit der Welt eines ‚unaufgeklärten‘ Islams zu kontrastieren. Wie Amy J. Elias unter dem Nenner „Metamodernität“³ andeutet, wird dieses Kontinuitätsdenken im literarischen Diskurs brüchig und fordert damit ein Erzählen, das der Gegensätzlichkeit eines genau so aktuellen wie historischen Begriffes gerecht wird. Die literarischen Texte stehen einerseits in einer aufkläreri-

1 Vgl. Ayaan Hirsi Ali, Laat ons niet in de steek. Gun ons een Voltaire. In: Hirsi Ali, De zoontjesfabriek. Over vrouwen, islam en integratie, 4. Aufl., Amsterdam/Antwerpen 2004, [2002] „religieuze ideologie“, S. 32/“gebrek aan nuchter verstand“, S. 34. Deutsche Übersetzung: Ayaan Hirsi Ali, Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen, übersetzt von Anna Berger und Jonathan Krämer, 5. Aufl., München 2005. 2 Ayaan Hirsi Ali, De opening van het moslimdenken, een verlichtingsproject. In: Hirsi Ali, Nomade, Amsterdam 2010, S. 237–252. 3 Amy J. Elias unterscheidet drei Arten des postmodernen Erzählens über die Aufklärung: die Kritik an der Moderne und das Heraufbeschwören einer vormodernen Zeit, die Rechtfertigung der Moderne und eine in dieser Analyse zum Tragen kommende Kritik, die von innen her Grundkonzepte der Moderne in Frage stellt. A.J. Elias, S. 149–150.

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schen Tradition und versuchen sich andererseits aus ihr herauszuschreiben.⁴ Bart Vervaeck spricht in Bezug auf Elias von der Aufklärung als Ausgangspunkt und als Zielscheibe.⁵ Damit hat die Thematisierung der Aufklärung, wie sie zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts in vielen historischen Romanen deutscher und niederländischer Sprache auf unterschiedliche Weise geschieht,⁶ mit einem besonderen Spannungsverhältnis zu tun. Vordergründig bezieht sich dieses Erzählen auf einen bestimmten Zeitraum, grob gefasst die Zeit vom Ende des siebzehten Jahrhunderts bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, das ‚lange achtzehnte Jahrhundert‘ also. Was dem historischen Erzählen über die Aufklärung eine besondere Spannung verleiht, ist der Umstand, dass es sich bei diesem Thema im Sinne Lyotards um eine große Erzählung schlechthin handelt.⁷ Ihrem eigenen Anspruch nach ist die Erzählung der Aufklärung nicht abgeschlossen, ihr Geltungsbereich ist nicht auf eine bestimmte Epoche beschränkt, sondern umfasst den kompletten Zeitraum von der Entstehung des Konzepts der Aufklärung bis zu jedem beliebigen Punkt ihrer weiteren Entwicklung. Schon der niederländische Begriff der ‚verlichting‘ deutet dies in der für das achtzehnte Jahrhundert typischen Lichtmetaphorik an: Mit der Aufklärung wurde sozusagen an einem bestimmten Punkt der Entwicklung der Menschheit das Licht angeknipst, was den weiteren Fortgang der Geschichte unweigerlich verändern musste.⁸ Das schon in der Antike erreichte goldene Zeitalter kann dem Aufklärungsanspruch nach damit auch der modernen Menschheit in einem allmählichen Prozess ermöglicht werden. Dieser in die Zukunft gerichtete, beinahe prophetische Anspruch gibt dem Begriff der Aufklärung eine charakteristische Doppelbödigkeit, die sich vor allem

4 Vgl. A.J. Elias, S. 150. 5 Vgl. Bart Vervaeck, Werken aan de toekomst. De historische roman van onze tijd. In: Nederlandse letterkunde, 14/1, 2009, S. 30. 6 Vgl. zum Beispiel im deutschen Sprachraum etwa Alois Brandstetter, Cant lässt grüßen, Wien 2009 und Ralf Bönt, Die Entdeckung des Lichts, Köln 2009. Im niederländischen Sprachraum galt das achtzehnte Jahrhundert lange als uninteressante ‚Pruikentijd‘ (‚Perückenzeit‘) und wurde besonders in den Niederlanden als Niedergang nach der Blüte im siebzehnten Jahrhundert wahrgenommen. Zur steigenden Beliebtheit der Epoche im historischen Roman: Jo Tollebeek, Ballingen in de eigen tijd. De hedendaagse historische roman en de 18de eeuw. In: Spiegel Historiae, 31, 1996, S. 461–467. Niederländische Beispiele für historische Romane über die Aufklärung sind etwa P.F. Thomése, Het zesde bedrijf, Amsterdam 2001 und Arthur Japin, Een schitterend gebrek, Amsterdam 2003. 7 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, übersetzt von Otto Pfersmann, hg. von Peter Engelmann, 6. Aufl., Wien 2009 [1979], S. 24. 8 Zur Lichtmetaphorik: Theodor Mahlmann, Aufklärung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. I, hg. von Joachim Ritter, Darmstadt 1971, S. 621.

6.1 Hinführung |

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aus der historischen, also im Nachhinein auf die Aufklärung gerichteten Perspektive ergibt. ‚Aufklärung‘ beziehungsweise ‚verlichting‘ als zukunftsgerichtete Begriffe historisch zu betrachten, füllt sie damit mit gegensätzlichen Polen. Mit anderen Worten kann von einem geschichtlichen Anspruch der Aufklärung ausgegangen werden, der auch das einundzwanzigste Jahrhundert umfasst, jedoch in eben diesem einundzwanzigsten Jahrhundert zurückgewiesen werden kann. Deswegen reiben sich literarische Geschichtserzählungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts gerade an der Frage, ob die Aufklärung ‚Geschichte‘ ist beziehungsweise ob das, was als die geistesgeschichtliche Epoche der Aufklärung bezeichnet wurde, noch für die eigene Gegenwart relevant ist oder als zu Unrecht geprägtes großes Gründungsmärchen der Moderne von ihr abgegrenzt werden muss.⁹ Historisches Erzählen von der Aufklärung schwankt in besonderem Maß zwischen dem für das historische Erzählen grundlegenden retrospektiven Charakter und der dem Erzählen eigenen Fähigkeit, etwas das „abgeschlossen und vergangen“ ist, gleichzeitig als „offen und gegenwärtig“ darzustellen.¹⁰ Es hängt von der erzählerischen Realisierung der Darstellung ab, wie ‚vergangen‘ die Aufklärung präsentiert wird. Die folgende Analyse untersucht genau jene erzählerischen Darstellungmöglichkeiten von Vergangenheit im Sinne der Dynamik zwischen distanzierender Repräsentation von abgeschlossener, unzugänglicher Geschichte und der erzählerischen Erzeugung von Geschichte als Gegenwart. Sie geht dieser erzählerischen Inszenierung von Geschichte anhand zweier Beispiele von literarischen Geschichtserzählungen über die Aufklärung nach. Mit Atte Jongstras De avonturen van Henry II Fix¹¹ und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt¹² werden zwei Romane der Gegenwartsliteratur verglichen, die sich unterschiedlicher Erzählverfahren zur Annäherung beziehungsweise Distanzierung bedienen. In der Kombination immersiven und emersiven Erzählens wird die ideologische aufgeladene Problematik der (in diesem Falle erzählerisch inszenierten) ‚Historizität‘ der Aufklärung greifbar. Jongstra, in akademischen Kreisen aufgrund der Kompatibilität seiner Texte mit postmoderner Theoriebildung besonders beliebt, experimentiert in vielen seiner Werke mit dem historischen Erzählen, so etwa in Het huis M., das die rheto-

9 Amy J. Elias spricht in diesem Zusammenhang von einer Konfrontation der Postmoderne mit dem Lacan’schen Gesetz des Vaters beziehungsweise von der einfachen Frage „whether the Enlightenment was a good thing“. A.J. Elias, S. 153. 10 M. Martínez und M. Scheffel, S. 119. 11 „Die Abenteuer des Henry II Fix“: Atte Jongstra, De avonturen van Henry II Fix, Amsterdam/Antwerpen 2007. Im Folgenden zitiert unter dem Kürzel „AHF“. 12 Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, Reinbek 2005. Im Folgenden zitiert als „VdW“.

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rischen Erinnerungsstrategien der Memoria verhandelt.¹³ Auch De avonturen van Henry II Fix wurde als experimentelle und innovative Verhandlung von Geschichte und Geschichtserzählung gelobt, aber auch für historische Ungenauigkeit getadelt. Durch einen der Veröffentlichung des Buches vorausgehenden Aufenthalt Jongstras als Gastarchivar in Zwolle und eine die Bucherscheinung begleitende Ausstellung wurde die Diskussion um die Faktualiltät oder Fiktionalität des Textes angeheizt.¹⁴ In De avonturen van Henry II Fix werden das lebenserinnernde Erzählen Henry II Fix’ und das historische Erzählen über diese Autobiografie als geschichtliches Zeugnis miteinander verschränkt. Damit greift der fiktionale Text faktuale Erzählformen auf und lässt dabei offen, ob das Erzählte stellenweise der Wirklichkeit

13 Atte Jongstra, Het huis M. Memoires van een spreker, Amsterdam 1993. 14 Zum Erscheinen und zur Rezeption von De avonturen van Henry II Fix vgl. Bart Vervaeck, Atte Jongstra. De avonturen van Henry II Fix. In: Lexicon van literaire werken, 2012. Die Diskussion darum, inwiefern De avonturen van Henry II Fix als faktualer oder als fiktionaler Text zu verorten sei – ob er also ‚wirklich‘ historisch erzählt – bestimmte einen großen Teil der Rezensionen. Max Pam bezeichnet den Roman als „einen Roman in der Form einer nicht-fiktionalen Erzählung“ („een roman in de vorm van een non-fictieverhaal“, vgl. Max Pam, Een man van zijn tijd. In: HP/De Tijd, 16. Februar 2007, LexisNexis, Web, 2. Dezember 2013. Jan Ruyters zufolge grenze es an Blasphemie, nachzuschlagen, inwiefern das in De avonturen van Henry II Fix Erzählte faktisch verbürgt sei, vgl. Jan Ruyters, Henry II Fix, ontrukt aan de vergetelheid. In: Trouw, 10. Februar 2007, LexisNexis, Web, 2. Dezember 2013. Die Historikerin Arianne Baggerman irritiert der freizügige Umgang mit historischen Dokumenten, vgl. Knippen & plakken. Over de Zwolse avonturen van Atte Jongstra. In: Hollands Maandblad, 49, 2007, S. 4–9. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt ist der Zugang zur Geschichte in Form einer fiktionalen (Auto-)Biografie. Ed Schilders zufolge handelt es sich bei Henry II Fix „um den originellsten Niederländer in Romanform“ („de meest originele Nederlander die in romanvorm“), vgl. Ed Schilders, Kisten vol tijdsbeelden en curiosa. In: De Volkskrant, 2. Februar 2007, LexisNexis, Web, 2. Dezember 2013. Hans Renders vergleicht den Roman mit Julian Barnes’ experimenteller Biografie von Gustave Flaubert, vgl. Hans Renders, Encyclopedist te Zwolle. In: Vrij Nederland, 24 Februar 2007, LexisNexis, Web, 2. Dezember 2013. Stefan Kuiper hebt hervor, dass die autobiografische Form eine erfrischende Perspektive auf die Geschichte bietet, vgl. Stefan Kuiper, Wast u niet! In: De Groene Amsterdammer, 14. September 2007, LexisNexis, Web, 13. Dezember 2013. Schließlich gibt es eine Gruppe Rezensionen, welche die postmoderne Verarbeitung von Geschichte in De avonturen van Henry II Fix hervorhebt. Arie Storm unterstreicht, wie im Roman die verschiedenen Zeiten durcheinander laufen, vgl. Arie Storm, Atte Jongstra is weer bezig. In: Het Parool, 15. Februar 2007, LexisNexis, Web, 2. Dezember 2013. Munda de la Marra sieht in dem Roman eine „subtile [...] Kritik auf die Verflachung unserer Zeit“ („subtiele [...] kritiek op de vervlakking van onze tijd“), vgl. Munda de la Marre, De avonturen van Henry II Fix. In: De Tijd. 7. April 2007, LexisNexis, Web, 2 Dezember 2013. Das enzyklopädische Schreiben in De avonturen van Henry II Fix klingt bei Sofie Gielis und Jaap Goedegebuure an, vgl. Sofie Gielis, Heerlijke oplichter. In: De Standaard, 16. März 2007, LexisNexis, Web, 2. Dezember 2013 und Jaap Goedegebuure, Wanhopig hengelen naar een kern. In: Brabants Dagblad, 10. Februar 2007, LexisNexis, Web, 2. Dezember 2013.

6.1 Hinführung |

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entspricht. Die Erzählung dreht sich um ‚Henry II Fix‘, Spross einer Schweizer Familie, die im siebzehnten Jahrhundert – in den Niederlanden als ‚Goldenes Jahrhundert‘ bekannt – durch Tulpenhandel reich geworden und im niederländischen Zwolle sesshaft geworden ist. Henry gibt in tagebuchartigen Einträgen einen Eindruck von seinem Leben. Das Raritätenkabinett seines Vaters ist für ihn als Kind genau so prägend wie der Reinlichkeitstick seiner Mutter. Henry steht im Schatten seines Bruders Louis, seinem vom Vater vorgezogenen Zwillingsbruder. Henrys Mutter versucht dies auszugleichen, indem sie den Jungen den rohen Spielen seines Bruders entzieht und ihn zum breiten Studium aller von ihr als sinnvoll erachteten Werke zwingt. Henry wird Zeit seines Lebens den Wissenschaften nachgehen, wenn auch alle seine Versuche, damit an die Öffentlichkeit zu treten, scheitern. Auch seine Liebe zu der Witwe Wilders veranlasst ihn nie zum Heiratsantrag, so dass der gealterte Henry unvollendeter Dinge sterben muss. Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt ist ein internationaler Bestseller von Mitte der Nullerjahre,¹⁵ den die Literaturkritik aufgrund seines nonchalanten Tons unterschiedlich aufnahm.¹⁶ Erzählt wird von den bekannten deutschen

15 Für eine literatursoziologische Untersuchung zum Erfolg des Romans vgl. Wilhelm Haefs, ‚Deutschlands literarischer Superstar?‘ Daniel Kehlmann und sein Erfolgsroman ‚Die Vermessung der Welt‘ im literarischen Feld. In: Mediale Erregungen. Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, hg. von Markus Joch, Tübingen 2009, S. 233–251. 16 Hubert Winkels etwa wünscht sich mehr Tiefgang in der Schilderung historisch gewordener wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse, vgl. Hubert Winkels, Als die Geister müde wurden. Daniel Kehlmanns ‚Vermessung der Welt‘. In: Die Zeit, 42, 2005, 13. Oktober 2005. Martin Krumbholz hingegen lobt Kehlmanns „Erzählkunst“ und findet, dass der Roman den historischen Persönlichkeiten Gauß und Humboldt genügend Respekt zollt, vgl. Martin Krumbholz, Das Glück – ein Rechenfehler. Daniel Kehlmanns Roman ‚Die Vermessung der Welt‘. In: Neue Zürcher Zeitung, 28. Oktober 2005. Für Ijoma Mangold gelingt es Kehlmann gerade durch seinen lakonischen und komischen Erzählstil, zu schildern, wie Wissenschaft ins Metaphysische umkippen kann, vgl. Ijoma Mangold, Da lacht der Preuße und der Franzose staunt. Unglaublich, was der junge Mann so alles kann, Daniel Kehlmanns heiterer Roman von der ‚Vermessung der Welt‘. In: Süddeutsche Zeitung, 24. September 2005. Sebastian Domsch zufolge betreibt der Roman keine Heldenverehrung, sondern kann sich durch seinen ironischen Stil den beiden Wissenschaftlern kritisch nähern, vgl. Sebastian Domsch, Der Raum im Geist. In: TAZ, 24. September 2005, Web, 15. März 2010. Adam Soboczynski lobt rückblickend die Leichtigkeit des des Erzählens in Die Vermessung der Welt, die Gauß und Humboldt zu Karikaturen mache und damit die Zerbrechlichkeit des menschlichen Gestaltungswillens vorführe, vgl. Adam Soboczynski, Die Vermessung der Welt. Bei Daniel Kehlmann wird der Geist zu einer komischen Angelegenheit. In: Die Zeit, 23. August 2012, Web, 2. Dezember 2013. Für Hubert Spiegel ist der Roman zu gut organisiert und dadurch oberflächlich, vgl. Hubert Spiegel, Der Schrecken lässt sich messen, aber nicht bannen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. März 2008, Web, 2. Dezember 2013. Auch in der niederländischen Rezeption wird die zu starre Struktur des Romans getadelt, vgl. Anneriek de Jong, Duitse genieën in de knoop. In: NRC Handelsblad, 3. März 2006. Dem Roman wird aufgrund seiner Über-

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Wissenschaftlern Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt. Ausgehend von einem Treffen der beiden Geistesgrößen in Berlin (Kapitel 1) werden ihre Lebenswege in jeweils abwechselnden Kapiteln erzählt (Kapitel 2-10), bis schließlich wieder ihr Treffen in Berlin im Zentrum steht (Kapitel 11-14) und von dort aus ihre Altersaktivitäten zum Ende ihres jeweiligen Lebens hin thematisiert werden (Kapitel 15). Der Roman schließt mit einem Kapitel über Gauß’ Sohn Eugen, der zwangsweise nach Amerika emigriert (Kapitel 16). Während der weltfremde Humboldt durch ausgedehnte Vermessungsreisen die Welt zu erklären versucht, vertieft sich der kauzige Gauß in die Welt der Zahl und betreibt Vermessung nur widerwillig im Nebenberuf. Der Roman streift bekannte deutsche Referenzpunkte der Weimarer Klassik wie Goethe, der Aufklärungsphilosophie wie Kant und internationale technische Entwicklungen wie die (leicht verfrüht angesetzte) Erfindung der Fotografie durch Daguerre. Gleich De avonturen van Henry II Fix verschränkt Die Vermessung der Welt das Zeitalter der Aufklärung (achtzehntes Jahrhundert) mit dem beginnenden neunzehnten Jahrhundert, so dass aufklärerisches Denken mit fortschreitender Technik und der romantischen Entdeckung des Ichs konfrontiert wird.

6.2 Distanzierung 6.2.1 Fakten spüren? Paratext und Faktualität De avonturen van Henry II Fix beschränkt sich nicht auf die Wiedergabe von Henry II Fix’ „Autobiografie“ (AHF 337). Vielmehr dreht sich ein Großteil des Textes um die Frage, wie Fix’ autobiografisches Erzählen einzuordnen sei, inwiefern es also retrospektiv positioniert werden muss. Im Nachwort, das sich als faktualer Kommentar zu einer Quelle gestaltet, wird die Figur Fix positioniert: Er fungiert als Repräsentant des aufgeklärten achtzehnten Jahrhunderts (vgl. AHF 333), das „im Geiste Henry II Fix [...] nie ganz vorbei“¹⁷ ist. Daher wird mit der Frage, wie sein Erzählen einzuordnen sei, zugleich die Frage verhandelt, wie über das aufgeklärte achtzehnte Jahrhundert erzählt werden soll: Können die Leserinnen und Leser

konstruiertheit kein wirkliches Interesse an den erzählten historischen Personen zugeschrieben, vgl. Jaap Grave, Clowns van de toekomst. In: De tijd, 10. Oktober 2006. In einigen niederländischsprachigen Rezensionen wird, analog zur Besprechung von De avonturen van Henry II Fix, hervorgehoben, dass Die Vermessung der Welt freizügig mit Fakten umspringe, vgl. z.B. Antoine Verbij, Een Duitser zit nooit met een kromme rug. In: Vrij Nederland, 4. Dezember 2006. 17 „in de geest van Henry II Fix [...] nooit helemaal af (AHF 333).

6.2 Distanzierung |

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der Innenperspektive aus Henry II Fix’ Autobiografie vertrauen? Oder müssen sie einen kritischen Abstand zum Erzählten wahren? Der Roman etabliert sich dabei als ein Text, der im Rahmen des fiktionalen Erzählens faktuale Erzählstrategien aufgreift und vorführt (vgl. 3.1.3). Besonders auffällig ist dies in der paratextuellen Umgebung des Textes. De avonturen van Henry II Fix stellt aus, wie der Paratext im faktualen Erzählen genutzt wird, um das Erzählte glaubwürdig zu machen. Der Roman greift genau diese paratextuellen Strategien auf und inszeniert sie dadurch als Medien der Erzeugung von Faktualität.¹⁸ Von beiden Seiten, also vor und nach der „Autobiografie“, ist der Text paratextuell eingeschlossen in Historizitätssignale, er ist sozusagen in mehreren Lagen historisch verpackt. Dabei wird die selbstverständliche Rolle, die der Paratext im faktualen Erzählen bei der Einordnung etwa von editierten Egodokumenten spielt, zweifelhaft. De avonturen van Henry II Fix macht deutlich, wie paratextuelle Einordnungen, die etwa eine Quelle zugänglicher machen sollen, zugleich die Fragilität eines historischen Zeugnisses, das dieser Einordnung zu bedürfen scheint, unterstreichen. Stellenweise entsteht der Eindruck, dass Fix’ Autobiografie als Kern des Buches so fragil ist, dass sie einer mehrfachen paratextuellen Rahmung bedarf, um bestehen zu können. Dabei bleibt von der ersten bis zur letzten Seite unklar, ob es sich bei dem Text letztlich um eine ‚Mogelpackung‘ handelt.¹⁹

18 Bart Vervaeck spricht von einer „realistischen Rahmenerzählung“ („realistisch kaderverhaal“): B. Vervaeck, Atte Jongstra: De avonturen van Henry II Fix, S. 4. 19 Die Rezeption des Romans ist was die Frage der Faktualität betrifft sehr heterogen. Während der faktuale Status des Romans in nichtliteraturwissenschaftlichen Rezensionen stark diskussionswürdig ist (vgl. die Zusammenfassung der Rezensionen unter 6.1), wird er in der Forschungsliteratur sogleich als Kommentar auf das faktuale Erzählen eingeordnet: Sven Vitse, Een Zwollenaar met vaart. Over goedgekozen woorden en historisch bewustzijn in Jongstra’s Henry II Fix. In: Dietsche warande en Belfort, 152, 2007, S. 703. Atte Jongstra selbst hält die Diskussion um Faktizität und Fiktivität von Henry II Fix instand, wenn er sich auch nach dem Erscheinen des Romans als Sprachrohr einer historischen Person Fix inszeniert: Atte Jongstra, Door mij onthouden volksgeluk. Twee ongepubliceerde gedichten van Henry II Fix (1774-1844), ingeleid, hertaald en van enkele luxe noten voorzien, eveneens uit de Fix-nalatenschap opgedoken: drie in schetsmatige aantekening vervatte ideeën omtrent natuur en levenskracht: met tekst! In: Geluk in de negentiende eeuw. Eenentwintig auteurs op zoek naar geluk voor Marita Mathijsen, ter gelegenheid van haar afscheid als hoogleraar moderne Nederlandse letterkunde van de Universiteit van Amsterdam, hg. von Lotte Jensen und Lisa Kuitert, Amsterdam 2009, S. 96–105. Ninke Smit hebt die Verwirrung um Faktualität und Fiktionalität in der Rezeption von De avonturen van Henry II Fix hervor: Nienke Smit, Fix en Feith. Atte Jongstra bezocht Flanor. Erica van Boven bereidde ons voor op de komst van de ‚grootste literaire leugen van de eenentwintigste eeuw‘. In: Literatief, 24, 2009, S. 13–15.

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Die paratextuellen Elemente in De avonturen van Henry II Fix stützen nicht nur in üblicher Weise die Kernerzählung des Buches, sondern verselbstständigen sich so, dass sich die Aufmerksamkeit auf den Paratext selbst richtet, anstatt ihm wie üblich als Sprungbrett in den Text nur eine sekundäre Funktion zuzugestehen. In diesem Prozess wird deutlich, dass der Paratext zwar zunächst einmal als eine Annäherung an den ‚eigentlichen Text‘ gesehen werden kann. Er kann den Text bezüglich der Frage einordnen, ob er als fiktionaler oder faktualer Text zu lesen sei. Und er kann in einen Text einführen, indem er ihm hilfreiche Informationen in einem Vorwort vorausschickt. Gleichzeitig signalisiert aber etwa der Umstand, dass Informationen angereicht werden, dass der Text erklärungsbedürftig ist. In diesem Sinne stellt gerade eine paratextuelle Annäherung auch eine Distanzierung dem Text gegenüber dar. Sehr konkret bedeutet jedes paratextuelle Element einen weiteren Abstand zum Text, da es die Lektüre des ‚eigentlichen‘ ersten Satzes hinauszögert. Letztlich zählt auch der Hinweis auf eine faktuale oder fiktionale Lesart zur Erklärungsbedürftigkeit des Textes, der augenscheinlich nicht durch die Lektüre selbst eingeordnet werden kann oder soll. De avonturen van Henry II Fix führt vor, dass alle paratextuellen Formen der Vermittlung, Absicherung, Belegbarkeit und Legitimierung des Textes paradoxerweise auch einen Abstand zu dem schaffen, was sie näherbringen sollen. Sie halten die Lesenden davon ab, ohne eine vorherige Erklärung und Bewertung ‚einfach‘ los zu lesen. Obwohl der Paratext einerseits dafür sorgt, dass die Leserinnen und Leser erwarten, im eingerahmten Haupttext mit einer (quasi-)historischen Stimme konfrontiert zu werden (vgl. die Rolle des Vorwortes in 6.3.1), schafft er gerade durch diese behutsame Vorbereitung einen Abstand zum Erzählten, das so fremd und unnatürlich geworden zu sein scheint, dass es mit einer paratextuellen Schutzschicht umgeben werden muss. Die gestiegene Bedeutung des mit Genette als „Schwelle“²⁰ zum Text begriffenen Paratexts für die Verortung von fiktionalem und faktualem Erzählen ist nicht zufällig, sondern geht mit der ‚pragmatischen Wende‘ in der Bestimmung faktualen und fiktionalen Erzählens einher (vgl. 3.1.2). So betont Genette vor allem den „funktionalen Charakter des Paratextes“.²¹ Dieser äußert sich etwa im pragmatischen Status des Paratextes als Teil einer Kommunikation zwischen „Adressant“ (der nicht automatisch mit Autorin oder Autor des Buches gleichzusetzen ist) und Adressat des Buches.²² Genette hebt seine „illokutorische Wirkung“, also seine Mitteilungsabsicht, hervor: Im Paratext kann eine auktoriale und/oder

20 Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt am Main 2001, S. 10. 21 G. Genette, Paratexte, S. 18. 22 Vgl. G. Genette, Paratexte, S. 15–17.

6.2 Distanzierung |

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verlegerische Interpretation angereicht werden, wie zum Beispiel den in der Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ enthaltenen Vorschlag, die Erzählung als fiktional zu lesen (was laut Genette nicht einer Definition des Textes als ‚Roman‘ gleichkommt).²³ Auf der Schwelle zum Buch wird sozusagen sein Status diskutiert. In De avonturen van Henry II Fix besteht diese von Genette im engeren Sinne als „Peritext“²⁴ verstandene Schwelle neben der äußeren Hülle des Buchdeckels aus einem inneren Fächer aus Textelementen, die der eigentlichen Erzählung vorangehen beziehungsweise ihr folgen. Der Erzählung vorgeschaltet sind ein Frontispiz, das Titelblatt, das Impressum, ein Motto, das Inhaltsverzeichnis und eine Art Vorwort. Der Erzählung angeschlossen sind ein Nachwort, ein Anmerkungsapparat und (für die Integration des historischen Diskurses in die Literatur besonders wichtig) eine Art Rechenschaftsbericht mit ‚Quellenverzeichnis‘. Schon auf der äußersten Hülle des Textes, dem Einband, beginnt der Deutungskampf um den Text, in dem die Stimme des Autors nur eine unter anderen (wie zum Beispiel der des Verfassers des Klappentextes) ist. Auf Vorderdeckel und Buchrücken ordnet die „Gattungsangabe“²⁵ ‚Roman‘ den Text als fiktional ein und vermeldet unmissverständlich, dass es sich bei dem Autor des mit dem Titel De avonturen van Henry II Fix versehenen Buches um Atte Jongstra (und nicht etwa um den nur im Titel erwähnten Henry II Fix) handelt. Über den Gegensatz finden/erfinden wird jedoch zugleich eine gegenläufige Interpretationsmöglichkeit des Peritexts etabliert. Im peritextuellen Element des Klappentextes nämlich wird Jongstra als Finder der Autobiografie des Henry II Fix beschrieben, Henry avanciert zum eigentlichen ‚Romancier‘ der Autobiografie: „Fix schrijft, dicht, tekent, componeert, theoretiseert, doet uitvindingen en visionaire voorstellen [...]“²⁶ Jongstra und Fix scheinen hier in Bezug auf die Autorschaft des Textes konkurrierend Stellung zu beziehen und geben der peritextuellen Einordnung einen zweifelhaften Status: Es ist unklar ob die durch Fix selbst erzählten Erlebnisse und Erfahrungen durch Wirklichkeitsbezug beglaubigt werden können. Wie die Erzählung selbst nutzt auch der Peritext Bild-Text-Beziehungen. So korrespondiert das auf dem Vorderdeckel des Buches abgedruckte Gemälde Caspar David Friedrichs, Wanderer über dem Nebelmeer, mit der Schwellensituation, die auch für die Situation der Lesenden auf der (peritextuellen) Schwelle zum Text

23 Vgl. G. Genette, Paratexte, S. 17–18. 24 Genette fasst unter die Oberkategorie „Paratext“ die beiden Unterkategorien „Peritext“ und „Epitext“, wobei erstere das direkte Umfeld des Textes im Buch, letztere das äußere Umfeld im Sinne von Äußerungen über das Buch umfasst (G. Genette, Paratexte, S. 12). 25 Vgl. G. Genette, Paratexte, S. 60. 26 „Fix schreibt, dichtet, zeichnet, komponiert, theoretisiert, macht Erfindungen und hat visionäre Ansichten [...]“, Klappentext von AHF.

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charakteristisch ist.²⁷ Der Leser oder die Leserin schaut gewissermaßen auf sich selbst am Anfang einer Konfrontation mit etwas, das dem im Titel Die Abenteuer des Henry II Fix²⁸ gebrauchten Wort „Abenteuer“ nach „sonderbar“²⁹ ist. Die demonstrativ in die Landschaft hineingezeichnete Figur lädt zur Immersion in Form des Versuches ein, die Landschaft durch die Augen der Figur zu sehen. Egal ob dieser Blick in die Vergangenheit oder in die Zukunft gerichtet ist (es ist nicht klar, ob der Wanderer ein bereits durchwandertes Gebiet überblickt oder im Begriff ist die Landschaft zu durchwandern), er ist von Nebeln getrübt und ruht auf einer Landschaft, die genau so gut erträumt wie real sein kann. Insofern bereitet das Gemälde die Lesenden gut auf einen Text vor, zu dessen Schilderung der Vergangenheit auch (vergangene) Zukunftsvisionen gehören und dessen Status zwischen erträumt und gefunden nie deutlich wird. In einem solchen Kontext wird ein Blick in die Vergangenheit genau so unsicher wie ein Blick in die Zukunft.³⁰ In der nächsten Schicht der den Binnentext umgebenden historischen „Verpackung“, der Titelei, ist die Bild-Text-Korrespondenz wiederum wichtig. Dem Titelblatt ist ein Frontispiz gegenübergestellt, das die nicht weiter kommentierte Fotografie eines altertümlich gekleideten Mannes zeigt. Von Roland Barthes als Präzedenzfall der Effekte des Realen etabliert, beansprucht das Foto beweisen zu können, dass etwas real existiert hat (vgl. 4.2.1). Die schwarz-weißen Farben, die Unschärfe, die starre Position des Fotografierten und die Gestelltheit der ganzen Szene verweisen auf die auch in Kehlmanns Die Vermessung der Welt aufgegriffene frühe Fotografie und damit auf den großen zeitlichen Abstand zwischen der aktuell vorhandenen Darstellung und dem auf ihr Dargestellten. Sie machen die Fotografie „historisch“ und thematisieren dadurch die Möglichkeit von Wiedergabe von Vergangenheit (vgl. VdW 15ff). Ohne Text bleibt das Foto jedoch im luftleeren Raum. Es strahlt zwar belegte Vergangenheit aus, versagt aber die emersive Einordnung des Repräsentierten. Das Foto wird unabhängig von seiner emersiven Dimension eher wichtig als Thematisierung der Selbstinszenierung

27 Das Gemälde zeigt das bekannte romantische Motiv des Wanderers, der, auf seinen Wanderstock gelehnt und in voller Statur von hinten gezeigt, eine geheimnisvolle, nebelverhangene Landschaft überblickt. 28 Zu den Funktionen des Titels im Peritext (Identifikation des Werkes, Bezeichnung des Inhalts, Werbung) vgl. G. Genette, Paratexte, S. 77–80. 29 avontuur. [...] 1 iets ongewoons, onverwachts, zonderlings dat iem. overkomt [etwas Ungewöhnliches, Unerwartetes, Sonderbares, das jemandem zustößt. In: Groot woordenboek van de Nederlandse taal, hg. von Ton den Boon und Dirk Geeraerts, 14. Aufl., Utrecht/Antwerpen 2008. 30 Vgl. zur zeitlichen Mehrdimensionalität des historischen Erzählens in De avonturen van Henry II Fix B. Vervaeck, Werken aan de toekomst, S. 34–39.

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eines Autors und funktioniert damit als Metakommentar auf die Frage nach dem wahren Urheber des vorliegenden Textes, die dadurch keinesfalls gelöst, sondern – in der übertriebenen Inszenierung eines Buches als des eigenen – lediglich ironisch angerissen wird. Ebenso ironisch weist das auf die Titelei folgende Motto eine wichtige Funktion zurück, die Genette dem Motto als peritextuellem Element zuschreibt: Der Autorname Abraham Louis Barbaz gehört zwar einem historisch bezeugten Dichter-Übersetzer aus der im Roman verhandelten Zeit, er verleiht dem Motto jedoch nicht die Autorität eines kanonischen Dichters, der sofort eingeordnet werden könnte.³¹ Die Verwirrung setzt sich im rätselhaften Motto selbst fort, denn Barbaz wird keine originelle Aussage, sondern ein bekanntes zeitgenössisches Sprichwort zugeschrieben: „Men dient slechts een vinger in de aarde te steken om te rieken op wat voor grond men is.“³² (AHF 5) So einfach ist die ‚Erdung‘ des vorliegenden Textes jedoch nicht. Wo das Sprichwort einfache und greifbare Hilfsmittel zur Orientierung empfiehlt, bietet das Buch keine feste Ebene, von der aus der Text beurteilt werden könnte. Schon in der Kulturgeschichte dieser kleinen Bauernweisheit wird ihre falsche Sicherheit hervorgehoben, etwa von Søren Kierkegaard, der gerade an diesem Sprichwort die existentielle Verunsicherung des Menschen festmacht: „Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Land man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. [...] Wer hat mich durch seine Tricks in die ganze Sache hereingezogen und läßt mich nun damit allein? [...] Gibt es keinen Diskussionsleiter?“³³ Die hier angesprochene Suche des Subjekts nach Identität und Orientierung, welche dem scheinbar mühelosen Überblick im Sprichwort demonstrativ entgegengesetzt wird, lässt sich direkt auf die Situation der Lesenden übertragen, deren lose Eindrücke von keinem ‚Diskussionsleiter‘, von keiner verlässlich als erfunden oder gefunden eingeordneten Erzählinstanz, gesteuert werden. Wo der Peritext eigentlich gerade zur Orientierung dienen soll, müssen sie sich mit dem Motto fragen, ob sie sich auf dieses Abenteuer einlassen wollen. Mit der im Peritext ungeklärten Frage, ob es sich bei Fix als Erzähler seines Lebens um eine vom Autor Atte Jongstra erfundene Figur oder um eine gefundene historische Person handelt, wird Emersion nicht zur Verstärkung der Immersion eingesetzt, sondern vielmehr zu ihrer Störung. Störung der Emersion ruft hier

31 Vgl. die „Bürgschaft“ über den Text als eine mögliche Funktion des Autors, der das Motto geschrieben hat. G. Genette, Paratexte, S. 154. 32 Sprichwort, dessen deutsches Äquivalent ungefähr lautet: „Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Land man ist.“ 33 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung, hg. von Hans Rochol, übersetzt von Hans Rochol, Philosophische Bibliothek 515, Hamburg 2000, [1843], S. 69.

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die Störung der Immersion hervor (vgl. 5.3.2): Dadurch dass der referentielle Status des Erzählers nicht geklärt wird, ist ebenfalls unklar, in welcher Form eine Annäherung an die Erzählwelt Fix’ geschehen soll, in eine komplett fantasierte oder in eine ganz oder teilweise durch Wirklichkeitsbezug beglaubigte Welt. Es ist eine charakteristische Eigenschaft des vorliegenden Textes, dass das Motto Emersion und Immersion gleichzeitig stört und intensiviert. Denn auch wenn das zitierte Sprichwort in ironischem Widerspruch zur Konzeption des Buches steht, handelt es sich um ein zeitgenössisches Zitat, das in Sprachduktus und Wortwahl der beschriebenen Zeit einführt. Das Motto selbst ist emersiv auf die vergangene Wirklichkeit bezogen und schlägt, unabhängig von der nicht geleisteten emersiven Einordnung der Fix-Erzählung, ein ‚Erleben‘ der historischen Zeit über die Sprache vor. Obwohl der referentielle Status des Erzählten also immer unsicher bleibt und damit die Immersion in die Erzählwelt erschwert, lädt der Text über die Form des Erzählten zur Immersion ein. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Inhaltsverzeichnis, das mit der letzten Schicht des Peritextes, dem Anmerkungsapparat und dem Rechenschaftsbericht mit Quellenverzeichnis am Ende des Buches, korrespondiert. Denn diese Textelemente öffnen gewisserweise das Fix’sche Universum, nicht indem sie direkt in die Darstellung der historischen Figur übergehen, sondern indem sie die beschriebene Zeit indirekt zitieren (vgl. 5.2.2). Zum verwendeten Verfahren äußert sich der Autor, der seinen Roman nicht nur im Nachwort bereitwillig kommentiert, sondern seinem Quellenverzeichnis noch einen Rechenschaftbericht voranstellt und darin auch seinen Anmerkungsapparat einordnet: Met de ruim vijfhonderd noten heb ik geen wetenschappelijke basis aan Fix’ geschriften willen geven. Ik ben geen wetenschapper, maar geloof dat Fix dat evenmin was. Wat de lezer in mijn noten zelf vindt, is sfeer, context. Alleen al het doorbladeren van de noten zelf verplaatst de lezer in dezelfde sfeer van onderzoek en gevoel, geest en natuur, als die waarin Fix groot werd en was.³⁴

Der Autor führt hier selbst aus, wie die Wechselwirkung von Emersion und Immersion in dem hier vorliegenden Text funktionieren soll: nicht vorrangig über Fix’ Erzählung, sondern über die Kontextualisierung des Textes über die Form, vor allem im Peritext. Der Anmerkungsapparat ist eine formale Annäherung an

34 „Mit den rund fünfhundert Anmerkungen wollte ich den Schriften Fix’ keine wissenschaftliche Grundlage geben. Ich bin kein Wissenschaftler, glaube aber, dass auch Fix das nicht war. Was der Leser in meinen Anmerkungen selbst findet, ist Atmosphäre, Kontext. Allein schon das Durchblättern der Anmerkungen selbst versetzt den Leser in dieselbe Atmosphäre von Wissenschaft und Gefühl, Geist und Natur, wie die, in der Fix groß wurde und war.“ (AHF 374)

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die beschriebene Zeit. Die durch ihn hervorgerufene Immersion beansprucht durchaus emersiven Wirklichkeitsbezug und entspricht damit dem bekannten Muster des fiktionalen historischen Erzählens. Allerdings betrifft dieser Wirklichkeitsbezug lediglich die Form des Erzählten, was einerseits der in faktualen Texten vorausgesetzten Glaubwürdigkeit zuwiderläuft. Andererseits wird auf eine wesentliche immersive Dimension hingewiesen, von der auch historisches Erzählen als faktuale Erzählform geprägt ist. Scheinbar spielt bei der Wiedergabe von Quellen im historischen Erzählen vor allem die sachliche Funktion der in der Quelle vermittelten Information eine Rolle. Es wird jedoch gleichzeitig immer ein Kontakt mit der Vergangenheit mitinszeniert, der über die sprachliche Form des Dokuments eine Atmosphäre der wiedergegebenen Zeit vermittelt, in die durch die Lektüre eingetreten werden kann. Indem De avonturen van Henry II Fix den wissenschaftlichen Verweis nur der Form nach imitiert, führt der Roman wiederum einen Funktionsmechanismus faktualen Erzählens vor: Schon allein die Anwesenheit von Fuß- oder Endnoten suggeriert Sachlichkeit.³⁵ Die Form, welche hier spielerisch übernommen wird, ist die der Enzyklopädie im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie Andreas Kilcher in seinem Übersichtwerk mathesis und poiesis: Die Enzyklopädik der Literatur 1600-2000 beschreibt. Er betrachtet die Enzyklopädie nicht als Stoff, sondern literaturwissenschaftlich als Wissens- und Schreibform, deren literarische Ordnungen und Formationen er von der Neuzeit bis in die Gegenwart untersucht.³⁶ Er unterscheidet dabei die „Litteratur“ als „mit Wissen enzyklopädisch aufgeladene und geformte“³⁷ und daher den Systematiken von Wissenschaft gehorchende Literatur zwischen 1600 und 1800, das „Alphabet“ als Literatur, die selbst enzyklopädische Formen entwirft und dabei in der alphabetischen Ordnung ab 1700 alte Wissensformationen entsystematisiert, und die „Textur“, in der ab Ende des achtzehnten Jahrhunderts nicht nur die Form des Wissens, sondern das Wissen selbst in dysfunktionalen Strukturen arbitrarisiert wird.³⁸ Gerade dieser letzten enzyklopädischen Schreibform der Literatur, die Kilcher auch als romantische „Problematisierung der pragmatischen Wissensordnung der Aufklärung“³⁹ beschreibt, kommt die Verweisstruktur von Jongstras Anmerkungen in einem „of-

35 Johan Velter betont den Verweis als Legitimationsprozess in De avonturen van Henry II Fix: Johan Velter, De avonturen van Henry II Fix. In: De leeswolf, 1. April 2007,: LexisNexis, Web, 2. Dezember 2013. 36 Andreas B. Kilcher, mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003. 37 A.B. Kilcher, S. 20. 38 Vgl. zur Unterscheidung dieser drei Formen A.B. Kilcher, S. 11–29. 39 A.B. Kilcher, S. 22.

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fenen System der Verweise“⁴⁰ nahe. Denn laut Kilcher ist „Textur als Enzyklopädie weder System noch Nachschlagewerk, sondern Netzwerk“.⁴¹ Die Netzwerkstruktur als Kompositionsprinzip durchzieht auch die 507 Anmerkungen nach der Erzählung, deren Zusammenhang so willkürlich und vage ist wie der Bezug zwischen Empfängnis und Himmelsrichtung, den Fix herzustellen versucht (vgl. AHF 21 ff.). Sie legen ein Netz von Verweisen über den Text, das keiner systematischen oder logischen Struktur folgt. Dieses Netz reicht schließlich in ‚das‘ Netz im Sinne des Internets hinein und entspricht der „Poesie des Unerfüllten“,⁴² welche Fix konsequent verfolgt, da die Liebe zu seiner Muse, der mit dem internetaffinen Kürzel „www“ bezeichneten „Werten Witwe Wilders“,⁴³ ohne Konsequenzen bleibt. Wie selbstverständlich taucht auch die moderne Internetenzyklopädie Wikipedia unter den Anmerkungen auf (vgl. AHF Anmerkung 143/348). Die Nummern der Anmerkungen wirken wie in den Text gestreut und zerstreuen auch seine Bedeutung, etwa in der Fußnote 10, die zu dem im Text genannten Jahr 1638 (AHF 27) willkürlich verschiedene Ereignisse und Geburtsdaten aufreiht (AHF 338). Oft liefern die Anmerkungen Originalzitate aus der Zeit zu einem im Text genannten Wort, wie zum Beispiel die Anmerkung 15 (AHF 339) das Zitat des bekannten niederländischen Dichters Ten Kate zu dem Wort „Archiv“ (AHF 33). Wie dieses Beispiel zeigt, ist der Inhalt der Anmerkungen jedoch insofern nicht ganz zufällig, als hier mit dem Archiv oder an anderer Stelle im Verweis auf den berühmten Botaniker Linnaeus (Anmerkung 6, AHF 338) auf Verfahren der Selektion und Kombination angespielt wird. So werden innerhalb der Immersion durch Emersion über die Form indirekt Funktionsweisen der historischen Kontextualisierung und damit von emersiven Erzählstrategien reflektiert (vgl. 6.3.2). Als weiteren Schritt in den Text bietet das peritextuelle Ordnungselement des Inhaltsverzeichnisses nur scheinbar Orientierung: In De avonturen van Henry II Fix konfrontiert es die Lesenden mit einem Kontextualisierungsprozess, der letztlich ins Leere läuft. Das Inhaltsverzeichnis weist damit auf ein wesentliches Thema des Romans hin, der sich mit dem Funktionieren von Strukturierungsund Ordnungsprozessen auseinandersetzt (vgl. 6.3.2). Die Kapitelüberschriften machen den Eindruck, einem umgestürzten Zettelkasten voller Notizen zu

40 A.B. Kilcher, S. 20. 41 A.B. Kilcher, S. 323. Den enzyklopädischen Aufbau des Buches beschreiben Bart Vervaeck und Sven Vitse: Bart Vervaeck, Een kwestie van doorverwijzen. Encyclopedische monsters in het werk van Atte Jongstra. In: De experimentele encyclopedische roman. Tussen archief en autofictie, hg. von Gunther Martens, Gent 2009, S. 23–26. S. Vitse, „Een Zwollenaar met vaart“, S. 705–707. 42 „poëzie van ’t onvervulde“, AHF 329. 43 „Waarde Weduwe Wilders“, vgl. AHF 126-127

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entstammen. Wie viele ihrer Zeitgenossen versucht auch die Hauptfigur der eingeschachtelten Autobiografie, ihr Wissen in einer endlosen Zahl von Notizen zu fassen. Immer wieder ruft Fix sich mit dem Befehl „notieren!“ (nl.: „aantekenen!“) zum Festhalten seiner Eindrücke und Gedanken auf. Da seine Notizen nicht weiter strukturiert sind, kann keine Ordnung erreicht werden, was sich schon an den heterogenen Titelüberschriften im Inhaltsverzeichnis zeigt, die ohne ersichtliche Strukturelemente aufgezählt werden (vgl. AHF 6/7). Wie Sabine Mainberger in ihrer Studie Die Kunst des Aufzählens ausführt, ist gerade diese Heterogenität des Aufzählens ein Topos des Fremden, der Ängste erzeugt: Das Zusammenführen unpassender Elemente weckt den Eindruck des Monströsen.⁴⁴ Die Monstrosität des Heterogenen führt Fix’ Text vor, der von Monstern durchsetzt ist, in deren Gestalt Unpassendes zusammengefasst ist (vgl. zum Beispiel die Abbildungen von ineinander verwachsenen Wesen (AHF 22, 328) mit dem Spezialfall der Sirenomelie (AHF 65, 69, 222); von falsch zusammengewachsenen Menschen (AHF 24); von verformten Menschen (AHF 167, 216), aber auch vom Kamel (AHF 8) als aus eurozentrischer Sicht verformtem Pferd).⁴⁵ Indem das Inhaltsverzeichnis Ordnung schon im Peritext zurückweist, stört es nicht nur die Erlebnis- sondern auch die Referenzillusion (vgl. 5.3.1). Das letzte peritextuelle Element des Buches, ein mehrseitiges Quellenverzeichnis, verstärkt emersiv den Eindruck einer Wirklichkeitsbezug beanspruchenden Studie, auch wenn der Bezug der aus Quellen und Sekundärliteratur bestehenden Literaturliste zum eigentlichen Haupttext des Buches undeutlich bleibt. Hier scheint der Peritext wiederum vor allem der Erschaffung nicht einer historischen, sondern einer historiografischen Atmosphäre zu dienen. Die gleiche Funktion erfüllt auch der Kommentar des Autors auf seinen Text in Vor- und Nachwort sowie im Rechenschaftsbericht. Als Gastarchivar sei Jongstra auf Dokumente

44 Vgl. hierzu Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin 2003, S. 42ff.: „Klassifikation als Gegenstand und Mittel von Kämpfen“. 45 Die Monstrosität beginnt mit der Hauptfigur Fix selbst, die den „gebärmütterlichen Kriegsumständen“ („baarmoederlijke oorlogsomstandigheden“, vgl. AHF 21 und Abbildung 22) mit ihrem Bruder nur verformt entkommt. Weil Fix seine Geburtszeit nicht bestimmen kann, ist es ihm unmöglich seine Geburt zu verorten, das heißt, sie wie sein Kollege in Sachen Lebensbeschreibung, Cardano, mit Hilfe des Systems von Sternenkonstellationen zu klassifizieren (AHF 24). Zwar werden sein Bruder und er nicht wie von Cardano angedeutet als Monster geboren – zwei Abbildungen illustrieren sowohl den Renaissancearzt, -mathematiker, -musiker und -mystiker als auch ein „menschliches Monster“, dem der Arm seitlich aus dem Kopf wächst – doch kommen sie beide mit einer Verformung zu Welt: Fix mit einer Fußfehlstellung und sein Bruder mit einer Wirbelsäulenverkrümmung. Deutlich wird hier demonstriert, dass Klassifizierung in Fix’ Zeit der Nachaufklärung nicht mehr selbstverständlich ist wie bei Cardano, sondern sowohl als Gegenstand als auch als Mittel von Kämpfen und Machtausübungen fungiert.

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von Fix, unter anderem die hier abgedruckte und leicht veränderte Autobiografie gestoßen (AHF 374). Aufwändig wird so für die historische ‚Echtheit‘, für den Wirklichkeitsbezug des Binnentextes argumentiert. Diese Argumente können innerhalb der zwei Buchdeckel nicht überprüft werden. Im Peritext von De avonturen van Henry II Fix wird damit aufwändig eine Referenzillusion inszeniert, allerdings versetzt mit unstimmigen Signalen wie der Gattungangabe „Roman“, dem Motto oder dem Struktur zurückweisenden Inhaltsverzeichnis. Im Gegensatz zur Textumgebung eines faktualen Textes macht hier der Peritext auf diese Art und Weise auf sich selbst und seine Funktion aufmerksam, einen Text einzuführen, der um so ‚fremder‘ wirkt, je ausführlicher er peritextuell gerahmt wird. Eine Textsorte mit eigentlich hinführendem Charakter schlägt hier um in einen Text, der Zweifel aufruft.

6.2.2 Imitation und Subversion des ‚klassischen‘ historischen Erzählens Im Vergleich zu Jongstras mehrfach verpackter historischer ‚Autobiographie‘ erscheint Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt konfrontierend ‚hüllenlos‘. In diesem Roman fehlen Mottos, bis auf das Umschlagbild gibt es keine Abbildungen⁴⁶ und es findet sich keine einzige Fußnote geschweige denn ein Literatur- oder Quellenverzeichnis. Der Text ist weder mit einem Vor- noch mit einem Nachwort versehen und das Inhaltsverzeichnis gibt sich im Vergleich zu Fix’ Zettelkasten schlicht und nicht bemüht, sich dem Sprachduktus der erzählten historischen Zeit anzupassen. Wo um Fix herum zunächst aufwändig eine historiografische Atmosphäre im Peritext etabliert wird, um den historischen Abstand zu Fix zu betonen, führt die Erzählung in Die Vermessung der Welt zunächst direkt die bereits bekannten historischen Persönlichkeiten ein, um sich dann von ihnen und der mit ihnen verbundenen Geschichtserzählung zu distanzieren. Diese Bewegung von der Peripherie ins Zentrum beziehungsweise vom Zentrum in die Peripherie spiegelt sich auch in den Hauptfiguren der beiden Romane selbst wieder: Der Fix der Avonturen van Henry II Fix argumentiert als Bewohner der Stadt Zwolle, die historisch nicht mit anderen Metropolen der Niederlande mithalten konnte, von der Perspektive einer unbezeugten und unprominenten Figur aus. Die Figuren Gauß und Humboldt in Die Vermessung der Welt hingegen

46 Bei der Abbildung auf dem Umschlag handelt es sich um eine „Plantes Équinoxiales“ getitelte Zeichnung Alexander von Humboldts, welche die Vegetation auf verschiedenen Klimazonen verzeichnet. In sie integriert ist eine geometrische Form mit mehrfach gekrümmter Oberfläche. Die Abbildung vereint damit die Antagonisten dieses Buches, Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. (Umschlaggestaltung Cathrin Günther und Walter Hellmann).

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können sich zunächst auf historisch bezeugte Persönlichkeiten als referentielle Äquivalente stützen, nur langsam bricht diese scheinbare Übereinstimmung zwischen ‚Fakt und Fiktion‘ auseinander. Während in De avonturen van Henry II Fix Störungen sowohl der Immersion als auch der Emersion schon auftreten, bevor die eigentliche Erzählung überhaupt begonnen hat, etabliert Die Vermessung der Welt zunächst eine emersiv aufgeladene Erlebnisillusion, die dann durch Störungen langsam wieder zurückgenommen wird. Die beiden Texte stellen zwei unterschiedliche Erzählformen vor: De avonturen van Henry II Fix präsentiert eine von vornherein eine offene Struktur, während Die Vermessung der Welt eine geschlossene Struktur darbietet, die dann in Frage gestellt wird. Die Vermessung der Welt beginnt beinahe völlig unvermittelt und setzt gleich in den ersten drei Wörtern des Eingangskapitels „Die Reise“ ein deutliches, ungekünsteltes Historizitätssignal: „Im September 1828“ (VdW 7, vgl. 5.2.2). Ganz dem von Roland Barthes beschriebenen Stil des klassischen historischen Erzählens verpflichtet (vgl. 3.2.2), scheint ein Erzähler nicht anwesend zu sein, vielmehr bemüht sich die extradiegetisch-heterodiegetische Erzählstimme die Historie sich selbst erzählen zu lassen.⁴⁷ Nach der genauen zeitlichen Einordnung findet eine ungefähre Angabe des Ortes und der handlungstragenden Figur statt: Es ist die Rede vom „größten Mathematiker des Landes“ (VdW 7), der seit Jahren zum ersten Mal seine Heimatstadt verlasse, um an einem großen Naturforscherkongress in Berlin teilzunehmen. Der berichtende Stil des ersten Satzes wird jedoch mit dem direkt folgenden Kommentar „Selbstverständlich wollte er nicht dorthin“ (VdW 7) gebrochen. Der Mathematiker als Fokalisator, dessen Innensicht der Erzähler selbstverständlich miterzählt, lädt über die Ebene der Erzählung zu unverbürgtem Miterleben ein. Das Erzählen distanziert sich in diesem Herausstreichen der Immersion ohne emersive Absicherung vom faktualen Erzählpakt.⁴⁸ Der Erzähler gibt auch den gleich im zweiten Absatz des Kapitels eingeführten Alexander von Humboldt später aus der Innenperspektive wieder. Mit dem erzählerischen Instrument der internen Fokalisierung scheint der Erzähler in lakonisch-leichtem Ton über die historischen Persönlichkeiten als Figuren seiner Erzählung zu verfügen und gleichzeitig die Außensicht auf die Dinge zu kennen. Sie werden direkt als entgegengesetzte Charaktere vorgeführt, von denen einer

47 R. Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, S. 175. 48 Wie unter 3.1 ausgeführt sind textinterne Fiktionsmerkmale kein stichfestes Kriterium zur Trennung von faktualem und fiktionalem Erzählen, sondern eine unsichere Indikation, vgl. zum Beispiel Daniel Fulda und Stefan Matuschek, Literarische Formen in anderen Diskursformationen. Philosophie und Geschichtsschreibung. In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, hg. von Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer, Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie 2, Berlin/New York 2009, S. 200–206.

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ungern überhaupt seine Heimatstadt verlässt und der andere ihn dennoch zu einer längeren Reise überredet. Eine allwissende Erzählinstanz scheint ein gut durchkomponiertes, immersiv überzeugendes und emersiv gestütztes Erzähluniversum zu präsentieren. Es entsteht also zunächst der Eindruck einer schon seit den klassischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts typischen Erzählsituation: Ein allwissender Erzähler verfügt souverän über seinen historischen ‚Stoff‘ und unterhält seine Leserinnen und Leser zusätzlich durch eine Innensicht auf historische Personen: Referenz- und Erlebnisillusion verstärken einander gegenseitig.⁴⁹ Diese Erzählsituation wird nicht wie bei Jongstra durch auffällige peritextuelle oder mediale Elemente (die Abbildungen) gebrochen. Doch obwohl der Text nicht explizit auf mehreren Ebenen angelegt ist, findet in der Erzählung selbst eine Distanzierung von dieser klassischen Erzählweise statt. Aufgrund dieser Distanzierungsstrategien, die nachfolgend näher umrissen werden sollen, wird der Roman in der Sekundärliteratur dem postmodernen historischen Erzählen zugeordnet, das aufgrund seines reflektierten und spielerischen Wirklichkeitsbezugs seine Autonomie behauptet.⁵⁰ Dies betrifft zunächst die Immersion, welche, schon zu Beginn des Roman ersichtlich, auf der Ebene des Erzählens zurückgenommen wird. Dieser Effekt wird durch die schon auf der ersten Seite einsetzende, auffällig konsequent verwendete indirekte Rede erzielt, in welcher viele Äußerungen und Dialoge der Figuren eben nur indirekt wiedergegeben werden. Indirekte Rede wird in dieser konsequenten Verwendung zum Stilmittel erhoben, dessen Gebrauch über das aus (Geschichts-)Erzählungen gewohnte Maß hinaus geht. Sie schafft einen Abstand zur wiedergegebenen Aussage und rückt sie damit aus der Illusion der Unvermitteltheit heraus. Den geradezu ‚tödlichen‘ Effekt, den die indirekte Rede auf die Wirkung des Erzählten haben kann, führt die Figur Humboldt selbst vor. In Südamerika grenzt Humboldt sich gegen die endlosen Geschichten seiner magisch-realistischen Reisegefährten mit einer Anti-Erzählung erster Klasse ab, in der die indirekte Rede ihre ebenso zerstörerische wie komische Wirkung

49 Insofern greift Kehlmann sehr wohl auf „beliebte Techniken traditionellen historischen Erzählens“ zurück, die etwa Gerhard Scholz dem Roman in der Klassifizierung als postmodernem historischem Roman abspricht. Es ist kennzeichnend für den gegenwärtigen Postmodernediskurs, dass pseudo-realistisches Erzählen selbstverständlich als eine Form experimentellen Erzählens eingeordnet wird. Scholz vergleicht Kehlmanns Die Vermessung der Welt mit Felicitas Hoppes Johanna: Gerhard Scholz, Zeitgemäße Betrachtungen? Zur Wahrnehmung von Gegenwart und Geschichte in Felicitas Hoppes ‚Johanna‘ und Daniel Kehlmanns ‚Die Vermessung der Welt‘ , Innsbruck/Wien/Bozen 2012, S. 23. 50 Vgl. Stefan Neuhaus, ‚Die Fremdheit ist ungeheuer‘. Zur Rekonzeptualisierung historischen Erzählens in der Gegenwartsliteratur. In: Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, hg. von Carsten Gansel, Göttingen 2013, S. 23–36.

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in Bezug auf ein höchstes Kulturgut der deutschen Literatur, Goethes Über allen Gipfeln, entfaltet:⁵¹ Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt [...] Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. (VdW 128)

Die Wiedergabe dieses Kommentars in der indirekten Rede erstickt jede Wirkung von Goethes bekanntem Gedicht im Keim, nicht zuletzt die Erlebnisillusion. Dieser Effekt lässt sich auch sprachwissenschaftlich fassen. Barbara Sandig ordnet in einer sprachwissenschaftlichen Annäherung an den Roman die in der Sekundärliteratur vielbesprochene indirekte Rede in Die Vermessung der Welt als ein Signal, dass die Aussage nicht unbedingt Geltung habe, ein.⁵² Wie Humboldts Gedichtwiedergabe demonstriert, muss „Geltung“ hier nicht nur auf die Bedeutung der Aussage bezogen werden, sondern auch auf Wirkung der Aussage im Sinne der Immersion. Auf diese Weise nimmt die deutliche Betonung der Vermitteltheit des Erzählten in der Vermeidung des dramatischen Modus die Nähe zur Geschichte wieder zurück, welche der unvermittelte Beginn suggeriert. Auch diese Distanzierungsbewegung kann jedoch wieder in eine Annäherungsbewegung umschlagen. Wie Rebecca Braun hervorhebt, vermeidet die Erzählstrategie der indirekten Rede die Künstlichkeit von in direkter Rede konstruierten Dialogen und gibt wieder, was gesagt wird, ohne die genaue Form, in der es gesagt wird, offenzulegen. Die Annäherungsbewegung, die Braun beschreibt, differenziert eine Dynamik zwischen Erlebnis- und Referenzillusion: Während die indirekte Rede

51 Burkhard Stenzel verweist auf die magisch-realistischen Autoren als Reisegefährten Humboldts, denn nicht umsonst tragen Humboldts vier ortskundige Schiffsleute auf dem Orinoko die Namen Carlos, Gabriel, Mario und Julio nach den südamerikanischen Autoren Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortazar und Mario Vargas Llosa (vgl. VdW 106). Burkhard Stenzel, Goethe bei Kehlmann. Faktisches und Fiktives im Roman Die Vermessung der Welt. In: Goethe, Grabbe und die Pflege der Literatur. Festschrift zum 65. Geburtstag von Lothar Ehrlich, Bielefeld 2008, S. 100. Amanda Holmes beschreibt, wie der lateinamerikanische Raum exotisiert und als Erzählanlass für fantastisches Erzählen instrumentalisiert wird: Amanda Holmes, Art, Science, and the New World in Daniel Kehlmann’s ‚Die Vermessung der Welt‘ and César Aira’s ‚Un episodia en la vida del pintor viajero‘. In: Neophilologus, 94, 2010, S. 197–201. 52 Barbara Sandig, Spannende Dialoge im Konjunktiv. Kehlmanns ‚Die Vermessung der Welt‘. In: Literaturstil – sprachwissenschaftlich, hg. von Thomas A. Fritz, Festschrift für Hans-Werner Eroms zum 70. Geburtstag, Germanistische Bibliothek 32, Heidelberg 2008, S. 276 in Bezug auf Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, Mannheim 2003, S. 240.

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die Immersion zurücknimmt, kann sie die Emersion dadurch erhöhen, dass sie den Eindruck einer objektiven Distanz erweckt (vgl. 5.3.1).⁵³ Im weiteren Verlauf der Erzählung vermischen sich solche Immersionsstörungen zunehmend mit Emersionsstörungen, so dass sich die Verunsicherung in Bezug auf die Erlebnisillusion auf die Referenzillusion überträgt. Die Störungen gehen über die Ebene der Erzählung hinaus und entfalten ihr desillusionierendes Potential gerade durch die Durchbrechung der getrennten Erzählebenen, welche für die Immersion in eine Erzählung so wichtig ist. Besonders in der Figur Gauß wird die Trennung der Erzählebenen aufgehoben. Gauß entwickelt sich im Laufe der Erzählung zu einer Figur, die sich zunehmend unwohl fühlt in der Erzählwirklichkeit, in die sie gestellt ist. Gauß’ zunächst auf die Erzählwelt selbst beschränkte Hellsichtigkeit (etwa in Bezug auf die Zukunft) überträgt sich auf die ihm übergeordneten Erzählebenen, so dass er sich als konstruierte Figur wahrnehmen kann. Dies kündigt sich ihm in einem Alptraum an: „Er sah sich selbst auf der Pritsche liegen und davon träumen, daß er auf der Pritsche lag und davon träumte, auf der Pritsche zu liegen und zu träumen“ (VdW 184).⁵⁴ Die Mise-enabyme-Struktur des Traums ist hier selbst ein Mise-en-abyme in Bezug auf die Erzählung: Die Form des Traums deutet auf die Form der Erzählung, in der die Erzählebenen durchlässig werden. Wie zur Demonstration dessen überträgt sich das Traumerlebnis in die (Erzähl-)Wirklichkeit, denn Gauß hat beim Erwachen das Gefühl, „daß er jene Wirklichkeit, in die er gehörte, um einen Schritt verfehlt hatte“ (VdW 185). So befindet sich Gauß als Figur plötzlich zwischen den Ebenen und kann sich fragen, „warum er sich immer wieder wie eine nicht ganz gelungene Erfindung vorkam, wie die Kopie eines ungleich wirklicheren Menschen, von einem schwachen Erfinder in ein seltsam zweitklassiges Universum gestellt“ (VdW 282). In diesem impliziten metafiktionalen Kommentar⁵⁵ wird der Konstruktionscharakter der Gaußfigur ansatzweise offengelegt, was das Einleben in die Textwelt erschwert. Diese Störung der Erlebnisillusion überträgt sich auf die Referenzillusion, da die „Erfindung“ nicht nur die Konstruktion einer Figur, sondern in der weiteren Formulierung der „Kopie“ auch deren Nichtübereinstimmen mit einer belegten historischen Wirklichkeit ausdrückt (vgl. 5.3.1). „Kopie“ im Sinne der emersiven

53 Rebecca Braun, Daniel Kehlmann. ‚Die Vermessung der Welt:‘ Measuring Celebrity Through the Ages“. In: Emerging German-Language Novelists of the Twenty-First Century, hg. von Lyn Marven und Stuart Taberner, Rochester 2011, S. 81. 54 Vgl. den von Rickes beschriebenen „Eindruck des leicht Irrealen“, Joachim Rickes, Wer ist Graf von der Ohe zur Ohe? Überlegungen zum Kapitel ‚Der Garten‘ in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. In: Sprachkunst, 38/1, 2007, S. 90–91. 55 Vgl. W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 232–239.

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sprachlichen Konstruktion entlang einer bezeugten Wirklichkeit und „Erfindung“ im Sinne der immersiv in sich überzeugenden sprachlichen Konstruktion ohne Wirklichkeitsbezug fließen hier ineinander: Ohne überzeugende „Phantasievariationen“ (vgl. 4.3.3) ist die Nähe zur Vergangenheit nicht zu haben. Wenn das Erzähluniversum gegen Ende der Erzählung brüchig wird, überträgt sich Gauß’ Hellsichtigkeit auch auf die Figur Humboldt. Zunächst bleibt der inszenierte Untergang der Erzählwelt auf die Figurensicht beschränkt: Manchmal, wenn Humboldt erschrocken aus sekundenlangem Schlaf auffuhr und feststellte, daß der Zeiger des Chronometers schon wieder eine Stunde übersprungen hatte, schien ihm der Himmel mit seinen Faserwölkchen und der unablässig brennenden Sonne in Segmente aufgeteilt und von Rissen durchzogen, die sich, bewegte er den Kopf, mit seinem Blickfeld verschoben (VdW 279). / „Gauß blinzelte: Etwas mit seinen Augen stimmte nicht, das Firmament schien ihm von Rissen zerfurcht. (VdW 282)

Schließlich reichen die Risse im Firmament jedoch in einem weiteren paradoxen Figurenkommentar über die eigene Erzählwelt hinaus. In einer Art Gedankenübertragung kommen die beiden am Ende der Geschichte zu dem unvermeidlichen Schluss: „Unser Erfinder hat genug von uns“ (VdW 292). Wie oben entsteht hier ein unauflösbarer Gegensatz zwischen der Gedankenwelt der Figur, die eine solche übergeordnete Sicht auf ihre Erzählwelt nicht zulässt, und dem Kommentar selber, der eben dies tut. Der „Erfinder“ scheint die Figuren hier in der Form zu überdeterminieren, als dass sie seine eigenen Gedanken ausdrücken und auf diese Weise um so mehr als ferngesteuerte Marionetten wirken. Dieser überdeutliche Hinweis auf die Konstruiertheit der Figuren schadet nicht nur der Immersion. Ihre Fernsteuerung durch den Erzähler verweist zugleich auf dessen demonstrierte Manipulationsmöglichkeiten. Diese nutzt er so stark aus, dass eine Referenzillusion kaum mehr aufrecht erhalten werden kann, da diese voraussetzt, die eigenen Erzählmöglichkeiten auf ein Maß zu beschränken, das der ‚Sache‘ (hier dem ‚historischen Stoff‘) gerecht wird. Der Text Die Vermessung der Welt instrumentalisiert seine beiden Hauptfiguren, um ein zwischen Emersion und Immersion schwankendes Erzählen zu diskutieren.⁵⁶ Dabei treten die beiden Naturwissenschaftler als Verfechter des

56 Dies stellt eine der Formen des „Transfers“ dar, durch den literarisches fiktionales Erzählen „lebensweltliche[] Wissensbestände“ nutzen kann, um etwa „Erzählweisen zu legitimieren“ oder zu diskutieren (also in der Terminologie dieser Studie Referenz der Inferenz unterzuordnen): Vgl. Christoph Deupmann, Poetik der Indiskretion. Zum Verhältnis von Literatur und Wissen in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. In: Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989, hg. von Carsten Rohde und Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Bielefeld 2013, S. 241.

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emersiven Erzählens auf, in deren Denken Fakten als verlässlichen Aussagen über die Wirklichkeit einen Ankerpunkt darstellen (vgl. 6.2.3). Der Mathematiker Gauß hält an der Logik der Zahl als verlässlicher Beschreibungsmöglichkeit der Wirklichkeit fest und wirft etwa der Sprachwissenschaft ihre fehlende Tiefendimension vor (VdW 159: „Das sei etwas für Leute, welche die Pedanterie zur Mathematik hätten, nicht jedoch die Intelligenz. Leute, die sich ihre eigene notdürftige Logik erfänden“). Humboldt wird in Bezug auf die Kritik an der Erzählwelt, in der er sich in Die Vermessung der Welt selbst befindet, noch expliziter. Er kritisiert das mehr auf Immersion als auf Emersion zielende Erzählen mit dem Einwand „Wozu dieses ständige Herleiern erfundener Lebensläufe, in denen noch nicht einmal eine Lehre stecke?“ (VdW 114) So stellt er zu einem gewissen Grade die Erzählung in Frage, zu deren Hauptfiguren er zählt. Oder noch deutlicher in einer kleinen Ausführung über seine Kunstauffassung, die als kritischer metafiktionaler Kommentar auf Die Vermessung der Welt gelesen werden kann: Künstler vergäßen zu leicht ihre Aufgabe: das Vorzeigen dessen, was sei. Künstler hielten Abweichungen für eine Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen, Stilisierung verfälsche die Welt. Bühnenbilder etwa, die nicht verbergen wollten, daß sie aus Pappe seien, englische Gemälde, deren Hintergrund in Ölsauce verschwimme, Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde. (VdW 221)

Humboldts Standpunkt ist deutlich: Ziel der Kunst ist die Schaffung einer möglichst vollkommenen Referenzillusion. Natürlich steht diese Aussage im offenen Gegensatz zu dem Text, innerhalb dessen Humboldt diese Auffassung äußert.⁵⁷ Die Bezeichnung eines historischen Romans als „Lügenmärchen“ bricht die Referenz- und damit auch die Erlebnisillusion, allerdings nur in dem Maße, als sie auf Die Vermessung der Welt selbst bezogen wird. In dieser (implizit) metafiktionalen Passage zeigt sich, wie Immersion auch referentielle Illusionsstörungen abdämpft. Bei der Figur Humboldt handelt es sich um eine Figur zwischen ‚Fakt und Fiktion‘, da sie einerseits im Allgemein- und Expertenwissen historisch verbürgt ist und andererseits im Roman als Romanfigur fungiert. Sie rutscht somit in einen schillernden Zwischenraum zwischen ‚Fakt und Fiktion‘, der so gar nicht Humboldts Motto des „Vorzeigen[s] dessen, was sei“ entspricht. Der metafiktionale Kommentar wird somit von einer Figur geäußert, die ihren eigenen Ansprüchen nicht genügt. Er relativiert sich dadurch, dass die Erlebnisillusion, innerhalb de-

57 Deupmann spricht davon, dass der Roman „die Kritik an seiner historischen Ungenauigkeit [antizipiert]“. C. Deupmann, S. 240.

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rer die Figur Humboldt ihre Aussage tätigt, intakt bleibt und damit Humboldts Aussage entkräftet. Das showing bleibt dem telling vorgeordnet (vgl. 5.3.1).⁵⁸ Die vorangegangenen unmöglichen Selbstreflexionen der Hauptfiguren in Die Vermessung der Welt stellen eine metafiktionale Ebene des Textes dar, da er in ihnen indirekt auf die eigene Gemachtheit und Erfundenheit hinweist. Der Definition von Metafiktion entsprechend wird hier das Erzählen mit dem Erzählen über das Erzählen verknüpft, in diesem Fall sogar so stark, dass sich die Erzählung kaum von der Reflexion über die Erzählung (die über die Gedankenwelt der Figuren in die Erzählung eingebettet ist) trennen lässt. Da bei Die Vermessung der Welt ein fiktonaler Text vorliegt, der mit dem historischen Erzählen eine faktuale Erzählform durchspielt, liegt es nahe, dass der Text sein Reflexionspotential auch auf das faktuale Erzählen ausweitet. Dabei liegt kein metafaktuales Erzählen in dem Sinne vor, dass in einem faktualen Text das Erzählen mit der Reflexion des Erzählens verknüpft wird. Die Reflexion auf das faktuale Erzählen ist in dem Sinne nicht selbstreferentiell, als dass mit Die Vermessung der Welt eben kein faktualer Text vorliegt. Die Reflexion auf das faktuale Erzählen tritt daher noch mehr als die Reflexion des eigenen Erzählens in indirekter, vermittelter, an die Erzählwelt gebundene Reflexion auf. Immersion und Emersion werden im Gegensatz zum metafiktionalen Erzählen nicht so stark gestört, da die Diskussion der Faktualität in sie integriert wird.⁵⁹

6.2.3 Verzeichnung: Forscherungetüme als Karikaturen In Die Vermessung der Welt bleibt der Figur Gauß die „notdürftige Logik“ der Sprache suspekt (VdW 159). Nur was das Kartenspiel betrifft, erkennt Gauß Vorteile sprachlicher Strukturen an, ist doch die Konstruktion einer Geschichte die effektivste Strategie zur Memorierung der eigenen Handkarten (vgl. VdW 297). In einem für den Roman typischen, angedeutet metafiktionalen Kommentar gilt dabei die Maxime „je alberner desto besser“ (VdW 297). Genau nach diesem Prinzip schreibt der Roman die Figuren Gauß und Humboldt ins Gedächtnis ein. Durch die sowohl bei Jongstra als auch bei Kehlmann vermittelte komische Distanz zu

58 W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 234. 59 Gerhard Kaiser betont in Bezug auf die Thematik von Die Vermessung der Welt, dass sich die Dichtung eben auch gegenüber den im Roman verhandelten Naturwissenschaften durch diese selbstreflektive Ebene hervorhebe: Gerhard Kaiser, Erzählen im Zeitalter der Naturwissenschaft. Zu Daniel Kehlmanns Roman ‚Die Vermessung der Welt‘. In: Sinn und Form, 62, 2010, S. 132–133.

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den Figuren erscheinen sie als Vertreter ihrer historischen Epoche verzerrt.⁶⁰ In De avonturen van Henry II Fix blicken die Lesenden in die verzerrte Grimasse eines Gesichts und können einen Zusammenhang zwischen dieser Abbildung und dem vorliegenden Text herstellen (AHF 20). Die von feingezeichneten Ölgemälden bekannten historischen Persönlichkeiten Gauß und Humboldt werden genau wie die von vornherein suspekte Figur Fix zu Karikaturen verzeichnet. Die in ihnen skizzierten Typen entsprechen Elias’ Charakterisierung von Gelehrten in aktuellen historischen Romanen über die Aufklärung: Sie leiden an den politischen Implikationen der gedanklichen Revolutionen ihrer Zeit.⁶¹ In einer konsequenten „Poetik der Indiskretion“ wird der „Kontrast zwischen der peinlichen Lage und der ‚erhabenen‘ Größe der Gelehrten“ ausgekostet, ohne diesen Kontrast faktual legitimieren zu können.⁶² Allerdings ist das Leid der Hauptfiguren in Kehlmanns und Jongstras Roman nicht mitleiderregend: Besonders Humboldt und Fix gleichen Forschungsungetümen, die unter dem Vorwand der Rationalität ihre Unfähigkeit zu menschlichem Kontakt kompensieren und dabei die Sensibilität für die wesentlichen Entwicklungen ihrer Zeit wie zum Beispiel die Auswirkungen der französischen Revolution vermissen lassen, wenn sie diese nur als Hindernisse an ihrer Arbeit wahrnehmen. Sie demonstrieren, wie „der individuelle Mensch [...] durch seinen Widerspruch [...] eine widerspruchsfreie wissenschaftliche Empirie und Theorie hervorbringt“.⁶³ Humboldt kämpft zeitlebens mit seiner Pädophilie (vlg. VdW 125/126, 264), Fix lässt die Witwe Wilders ein Leben lang auf den versprochenen Heiratsantrag warten (vgl. den letzten, verbitterten Besuch der Witwe Wilders, AHF 326 ff.), Gauß schreibt während seiner Hochzeitsnacht an seinen Orbitberechnungen (VdW 150) und verpasst die Geburt seines ersten Sohnes aufgrund von universitären Aktivitäten (VdW 154). Alle drei Figuren wirken seltsam unnatürlich, ein ‚Einleben‘ in sie wird dadurch zurückgenommen. Beide Romane nutzen diese Verzeichnung der Hauptfiguren in der „Spannung zwischen

60 Zur illusionsstörenden, distanzierenden Wirkung von Komik vgl. W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 425–464. Eine genau Analyse von Die Vermessung der Welt als humoristisches Erzählen in der Tradition von Jean Pauls „Doppel-Roman“ liefert Anja Gerigk: Anja Gerigk, Humoristisches Erzählen im 21. Jahrhundert. Gegenwärtige Tradition in Kehlmanns Die Vermessung der Welt und Krachts Imperium. In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 64, 2014, S. 427–434. Stefan Balzter zieht Die Vermessung der Welt für eine Beispielanalyse zu Techniken der Komikerzeugung heran: Stefan Balzter, Wo ist der Witz? Techniken zur Komikerzeugung in Literatur und Musik, Berlin 2013, S. 245–262. 61 A.J. Elias, S. 160. 62 C. Deupmann, S. 250. 63 G. Kaiser, S. 124.

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historischer Person und fiktiver Figur“,⁶⁴ um Kritik an idealisierender Geschichtsschreibung zu üben und damit indirekt ihre eigene Referenzillusion – als immer schon distanzierte – zu stärken (vgl. 5.3.1). Dem Roman Die Vermessung der Welt wird der „slapstickhafte Tonfall“⁶⁵ vorgeworfen, der die zwei historischen Persönlichkeiten Gauß und Humboldt als Karikaturen auferstehen lässt und dadurch im Gegensatz zur traditionell vom historischen Roman erwarteten und auch durch die Innensicht der beiden Figuren suggerierten ‚Verlebendigung‘ steht. Besonders Humboldt tritt als „flat character“ im klassischen Sinne⁶⁶ in Erscheinung, der gleich einer Comicfigur entbehrungsvolle, enttäuschende, gefährliche Situationen durchsteht, ohne dass diese Erlebnisse Spuren in seiner Persönlichkeit zu hinterlassen scheinen. Beginnend mit der Tyrannisierung durch seinen Bruder, dem Tod seiner Mutter, dem haarsträubenden Selbstexperiment zu stromleitenden Körpern, dem Besuch diverser Kultstätten in Südamerika, den Projekten in Berlin bis hin zu seiner Schaureise nach Russland, geht er als besessenes Stehaufmännchen in seinem „Hochgefühl, wenn etwas gemessen wurde“ (VdW 39) seiner Forschung nach und zeigt dabei nicht den geringsten persönlichen Tiefgang oder Einfühlungsvermögen, wie es sich in seinem Umgang mit seinem Mitreisenden Bonpland, aber auch besonders gegenüber den Menschen anderer Kulturen, die er auf seiner Reise trifft, äußert (vgl. zum Beispiel Humboldts völlige Ignoranz gegenüber der regionalen Bevölkerung, VdW 104).⁶⁷ Der Text legt die implizite Kritik an diesem Verhalten an, offenkundig durch die Doppeldeutigkeit des Wortes „vermessen“ in seiner Bedeutung als Verb und als Adjektiv, implizit im Klangspiel „vermessen/vermissen“, das Humboldt, der im doppelten Sinne alles vermisst, einer kompensatorischen Handlung verdäch-

64 C. Deupmann, S. 251. 65 Tilman Kraus, Kein Rätsel Kehlmann. In: Die Welt, 4. März 2006, Web, 15. Mai 2010. 66 Vgl. E.M. Forster, Flat and Round Characters. In: Essentials of the Theory of Fiction, hg. von Michael J. Hoffman und Patrick D. Murphy, 3. Aufl., London/Durham 2005, S. 35–42. 67 Zur Darstellung von Kulturkontakten in Die Vermessung der Welt vgl. Stuart Taberner, Daniel Kehlmann’s ‚Die Vermessung der Welt‘ (Measuring the World). In: The novel in German since 1990, hg. von Stuart Taberner, Cambridge 2011, S. 255–269. Auch Friedhelm Marx beschäftigt sich mit dem Thema der Fremdwahrnehmung in Die Vermessung der Welt und betont deren (homo-)erotische Aufladung zwischen Kontrolle und Verdrängung in Bezug auf die Figur Humboldt als Repräsentant der Weimarer Klassik: Friedhelm Marx, Die Wahrnehmung der Fremde in Daniel Kehlmanns Roman ‚Die Vermessung der Welt‘. In: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen, hg. von Christof Hamann, Göttingen 2009, S. 103–115.

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tigt.⁶⁸ Auch Gauß wird als Wunderkind karikiert. Aus Nervosität Primzahlen zählend (VdW 64/65) kann er trotz seiner überragenden mathematischen Fähigkeiten seine eigenen Fähigkeiten nicht einschätzen: Er sieht seine Zukunft mehr in den klassischen Sprachen (VdW 62). Gegenüber der Idee der ‚Aufklärung‘ werden Gauß und Humboldt unterschiedlich positioniert. Der Empiriker Humboldt verkörpert ganz den oben beschriebenen Geltungsdrang der ‚verlichting‘, die mit ihrem Wissen die Menschheit erleuchtet (vgl. VdW 73). Dem Rationalisten Gauß ist dieser Geltungsdrang „Wurst“, wie sein großes Idol Kant, ebenfalls karikiert als ein im „Halbdunkel“ vor sich hindämmernder „Zwerg“ ihm vorspricht (vgl. VdW 95-97). Er lässt in seiner relativierenden, beinahe zynischen Haltung jeden Fortschrittsoptimismus hinter sich. Die Seriösität der Fix-Figur wird in De avonturen van Henry II Fix schon bei ihrem ersten Auftritt im ersten Kapitel ihrer „Autobiografie“ in Form eines Tagebuches unterlaufen. Ab diesem zeitlich genau und explizit auf den 16. Oktober 1832 (AHF 17) datierten Kapitel übernimmt Henry II Fix als zweiter, intradiegetischer Ich-Erzähler das Wort, nachdem seine Stimme im „Vorwort“ nur als auf alten Notizzetteln archivierte Stimme anwesend war. Er inszeniert sich als allmächtiger Schöpfer, „Henry II Fix, heer van Zwol tot Mastenbroek, hoogstpersoonlijk“,⁶⁹ und nimmt genau die Position ein, welche den Leserinnen und Lesern schon vom „Wanderer über dem Nebelmeer“ auf dem Buchdeckel bekannt ist, indem er „roerloos als een standbeeld“⁷⁰ den Mastenbroeker Polder überblickt. Das Kapitel ist einer Art Erweckungserlebnis im Mastenbroeker Polder gewidmet, während dessen sich ein Schwarm Schwäne in nackte Frauen verwandelt. Fix präsentiert sich in dieser erotischen Machtfantasie als Urheber dieser Metamorphose. In einer für den Roman typischen Nebeneinanderstellung von Bild und Text wird Fix’ originelle Schöpfung jedoch zum bereits erfundenen Bildinhalt, nämlich des Gemäldes Gezicht op Zwolle von Hendrick ten Oever aus dem Jahr 1675 (AHF 16), das zu Beginn des Kapitels abgedruckt ist. Der Umstand, dass die Leserinnen und Leser das von Fix beschriebene Bild schon kennen, legt die Brüchigkeit des Fix’schen Ich offen: Seine gesamte, in diesem Kapitel offenbarte Perspektive ist so größenwahnsinnig wie unursprüng-

68 Hedwig Fraunhofer spricht in Bezug auf die Figur Humboldt vom „cult of the will“, der das Pflichtbewusstsein im Rahmen des kategorischen Imperatives über natürliche Impulse stelle: Hedwig Fraunhofer, Daniel Kehlmann’s ‚Die Vermessung der Welt‘. A Satire of the German Enlightenment. In: Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium: 2000-2010, hg. von Michael Boehringer et al., Wien 2011, S. 143. 69 „Henry II Fix, Herr von Zwolle bis Mastenbroek, höchstpersönlich“ (AHF 17). 70 „bewegungslos wie ein Monument“ AHF 17.

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lich.⁷¹ Die Eröffnungsszene ist als bereits festgelegter Bildinhalt eher ein Verweis auf ein Gemälde als ein glaubwürdiger Tagebucheintrag: Die Immersionsstörung überträgt sich auf die Emersion (vgl. 5.3.1). Fix’ Allmachtsfantasie zu Beginn seiner Lebensbeschreibung wird damit als Bildmeditation bloßgestellt, die nicht etwa einen profunden Blick in sein Innenleben gewährt, sondern an der Bildoberfläche eines Gemäldes stehen bleibt. Genau wie die Heirat mit der Witwe Wilders in dieser Schöpfungsszene (und auch im ganzen Buch) ausbleibt, kann auch in der vorliegenden Erzählung nie wirklich ein Kontakt mit ihrem Bezugsobjekt, der Vergangenheit, zustande kommen. Die schöpferische Eröffnungsszene ist eine virtuelle Erektion – vergleichbar der Geschichtsschreibung, die sich nie mit ihrem referentiellen Bezugspunkt, der Vergangenheit, vereinigen kann. In Die Vermessung der Welt erzeugt die Karikierung, vor allem der Figur Humboldts, Abstand vom Wirklichkeitsanspruch faktualen Erzählens. Gerade darin rehabilitiert sich die fiktionale Erzählung, die dadurch, dass sie nicht ernsthaft einen Wirklichkeitsanspruch erhebt, auch keinen täuschenden Charakter haben kann. Über die karikierten Hauptfiguren der Erzählungen führt der Roman immer wieder die überzogenen Ansprüche eines scheinbar objektiven Realismus vor. Diese ‚metafaktualen‘ Reflexionen stellen nicht, wie es bei den metafiktionalen Elementen in die Die Vermessung der Welt der Fall ist, das Erzählen des Romans selbst in Frage, sondern tauchen zunächst als Reflexionen über Faktualität innerhalb einer intakten Erlebniswelt des Romans auf. So berühren Humboldts Gespräche mit dem Jesuitenpater Zea über die für den Roman programmatischen Beschreibungsmöglichkeiten des Raumes (vgl. 6.3.3) die Grundproblematik des Konstruktivismus und damit auch ein Problem des faktualen Erzählens, für das die Beziehung zwischen (textueller) Konstruktion und Wirklichkeit entscheidend ist: „Linien gebe es überall, sagte Humboldt. Sie seien eine Abstraktion. Wo Raum an sich sei, seien Linien. / Raum an sich sei anderswo, sagte Pater Zea. / Raum sei überall! / Überall sei eine Erfindung. Und den Raum an sich gebe es dort, wo Landvermesser ihn hintrügen“ (VdW 115). Humboldt fungiert als Vertreter einer objektiven Sichtweise, für den „[d]ie Dinge sind, wie sie sind, und wenn wir sie erkennen, sind sie genauso, wie wenn es andere tun oder keiner. [...] der Forscher sei kein Schöpfer, er erfinde nichts [...]“ (VdW 291). Der Jesuitenpater Zea setzt dieser aufklärerischen Sichtweise ein konstruktivistisches Konzept entgegen, bei dem die Beschaffenheit der Dinge abhängig ist von dem kulturellen Kontext, in den sie eingebettet werden. Vor den ersten Vermessern des Äquators seien „[d]ie Dinge [...] noch nicht gewöhnt ge-

71 Andere Arten, historische Quellen frei als Inspiration zum Fabulieren zu benutzen, zeigt Bart Vervaeck auf: B. Vervaeck, Een kwestie van doorverwijzen, S. 24.

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wesen ans Gemessenwerden. Drei Steine und drei Blätter seien noch nicht gleich viele gewesen, fünfzehn Gramm Erbsen und fünfzehn Gramm Erde noch nicht gleich schwer“ (VdW 116). Gauß, im Roman konsequent als Humboldt intellektuell überlegen gezeichnet, vertritt gleichfalls diese Sicht auf das Vermessen als wirklichkeitsschaffende Tätigkeit. Bei Spaziergängen durch das von ihm im Brotberuf des Landvermessers erschlossene Gebiet ist ihm, „als hätte er den Landstrich nicht bloß vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden. Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen. Nichts, was einmal jemand vermessen hatte, war noch oder konnte je sein wie zuvor. Gauß fragte sich, ob Humboldt das begreifen würde“ (VdW 268). Bei Gauß wird der Raum zum Traum, zur schönen Fiktion (vgl. VdW 95). Wenn sich Gauß im Vermessen als genau der „Schöpfer“ sieht, als den Humboldt den Forscher nicht verstanden wissen möchte, stellt der Text Forscher und Dichter auf eine Ebene. Der Text entlastet sich damit selbst von dem Vorwurf, nicht adäquat auf die Wirklichkeit zu verweisen, weil dies auch mit den ausgefeiltesten Vermessungsmethoden nicht möglich sei. Die Diskussion um die Beschreibungsmöglichkeiten des Raumes lässt sich damit als metafiktionale Reflexion der fiktionalen Erzählmöglichkeiten lesen, die in diesem Fall eine konstruktive ist und keine störende Wirkung auf die Referenzillusion hat.⁷² Anhand der Figur Humboldt führt der Text die Diskreditierung des faktualen Erzählens zugunsten des fiktionalen Erzählens weiter. Humboldt muss als lächerlich gemachtes Demonstrationsobjekt dafür herhalten, wie die narrative Logik auch die naturwissenschaftliche Kenntnis prägt. Selbstredend möchte Humboldt dies nicht wahrhaben und mobilisiert dafür ironischerweise seine manipulativen Fähigkeiten. Er wird als Forscher präsentiert, dessen Forschung zum großen Teil von der (Selbst-)Inszenierung lebt. Humboldt trifft innerhalb der Textwelt auf seine Biografen, etwa auf Duprés (vgl. VdW 206). Ein historischer Autor, auf dessen Autorität sich der Roman in einer Fußnote zur Intensivierung der Referenzillusion berufen könnte, tritt hier nicht als Bürge für den Text auf, sondern wird als Figur in die Textwelt gestellt. Der zweifelhafte referentielle Status der fiktionalen Erzählung überträgt sich auf den Urheber eines faktualen Textes, der

72 Vgl. zur Poetik des Raumes Katharina Gerstenberger, Historical Space. Daniel Kehlmann’s ‚Die Vermessung der Welt‘ (‚Measuring the World‘, 2005). In: Spatial Turns. Space, Place, and Mobility in German Literary and Visual Culture, hg. von Jaimey Fischer, Amsterdam 2010, S. 103–120. Sean Moore Ireton setzt sich ebenfalls mit den Parallelen zwischen Dichtung und abstrakter Mathematik auseinander: Sean Moore Ireton, Lines and Crimes of Demarcation. Mathematizing Nature in Heidegger, Pynchon, and Kehlmann. In: Comparative Literature, 63, 2011, S. 142–160. Vgl. auch C. Deupmann, S. 242–243.

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nun gleichwertig neben Humboldt als der Figur steht, die er selbst textuell mitentworfen hat. Wieder wird innerhalb der Erlebnisillusion auf diese Weise die Emersionsbetontheit faktualen Erzählen diskreditiert, indem Die Vermessung der Welt dessen Entstehungskontext entwirft (in diesem Fall eine flüchtige Begegnung zwischen Humboldt und seinem Biografen, bei der Duprés Humboldt mitnichten nahe kommt). Nicht der fiktionale Text wird durch die Autorität faktualer Texte gestärkt, vielmehr schaltet sich die Fiktion dem faktualen Erzählen vor und macht es zweifelhaft. Auf diese Weise wird auch der Autor Humboldt in Frage gestellt, wenn er sich in den widrigsten Situationen zu blumigen Berichten aufschwingt. Am sinnfälligsten kommt die Kluft zwischen Wirklichkeit und textueller Konstruktion in folgendem Reiseerlebnis zutage, in dem der Roman durch die emersiv aufgeladene Erlebnisillusion eine alternative Sicht auf Humboldts Forschungsreiseberichte vorschlägt: Humboldt saß in einem Klappstuhl an Deck. Er fühlte sich frei wie noch nie. Zum Glück, schrieb er in sein Tagebuch, sei er niemals seekrank. Dann mußte er sich übergeben. Auch das war eine Willensfrage! Mit äußerster Konzentration, und nur manchmal unterbrechend, um sich über die Reling zu beugen, schrieb er drei Seiten über das Gefühl des Aufbruchs, die übers Meer sinkende Nacht und die im Dunkel verschwindenden Küstenlichter. (VdW 44/45)

Der fiktionale Text desavouiert hier genau die faktualen Texte, auf welche sich die Referenzillusion des Romans stützt. Mittels einer innerhalb der Erlebnisillusion des Romans imaginierten Entstehungssituation der faktualen Texte wird deren Glaubwürdigkeit unterlaufen. Die Unzuverlässigkeit des Wirklichkeitsbezuges von Erzählungen wird dabei so global betont, dass sich das fiktionale Erzählen als nicht vorrangig emersives Erzählen selbst rehabilitiert, da es nicht der Selbsttäuschung eines adäquaten Wirklichkeitsbezuges unterliegt (vgl. 5.3.1). Die Figuren dienen in beiden Romanen dazu, zu demonstrieren, welche Opfer das Herstellen von Ordnung, gedanklich, sprachlich oder anderer Art, erfordert. So wird systematisch alles herausgestrichen, was die Forscher zur Aufrechterhaltung ihrer vernunftgerichteten, strukturierenden Tätigkeiten unterdrücken. De avonturen van Henry II Fix thematisiert Unterdrückung als zur Herstellung von Ordnung notwendiges Element explizit (vgl. 6.2.1). Im „Regenwurm- und Käfergespräch“ impft Fix’ Mutter ihm schon früh die Relativität jedes Ordnungs- und Kategorisierungprinzips ein: Um den überlegenen Käfer davon abzuhalten, den Wurm zu quälen, muss der Mensch seine eigene Überlegenheit beiden Tieren gegenüber ausnutzen – dies ist laut der Mutter nicht der von Henry konstatierte „Mangel an Ordnung“, sondern eine relative Ordnung, deren größere Zusammenhänge den Menschen nicht gleichermaßen erkenntlich sind (AHF 47/48). Fix reagiert auf diese relative Ordnung mit dem Rückzug in seine eigene, gelehrte Welt.

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In der nachgeschobenen Interpretation des Nachworts ist vom sicheren Abstand in der Isolierung die Rede: „Het enige waarmee Henry II Fix zich staande hield, was de taal. Vanop veilige afstand ‚verbaliseerde‘ hij zijn wereld“ (AHF 335).⁷³ Fix nimmt weder privat noch gesellschaftlich am Leben seiner Zeit teil, verweigert sich einer Heirat genau wie den politischen Implikationen der französischen Revolution und kann sich nur über diese Verdrängung ganz der Erzeugung seiner gelehrten Wortergüsse hingeben. Sein Leben beschränkt sich, natürlich auch metafiktional gelesen, auf seine Worte. In Die Vermessung der Welt werden „Geheimnis und Vergessen“ von Anfang als die Gegenstücke der Erkenntnis angeführt (VdW 59), der (aufgeklärte) Geist wird den Geistern (Humboldt und Gauß wohnen einer Séance bei) gegenüber gestellt. Humboldt behauptet gar von sich, „[e]r sei mit Geistern aufgewachsen und wisse, wie man sich ihnen gegenüber benehme“ (VdW 260). In magischrealistischer Selbstverständlichkeit begegnet ihm der Geist seiner Mutter bei der Erkundung einer heiligen indianischen Totenstätte (VdW 74) oder der Geist seines geliebten Hundes während einer Art Lenz-Erfahrung bei der Besteigung des Berges Chimborazo (VdW 172). Humboldts „überlegener“ Umgang mit diesen Totenerscheinungen besteht darin, dass er sie komplett zu ignorieren versucht (VdW 74/178). Während Humboldt sich so allen Welten fernhalten will, die nicht seinen Ansprüchen an die Wirklichkeit genügen, flüchtet Gauß sich so oft wie möglich in den Schlaf, um sich von der Wirklichkeit abzulenken: Verdrängung allenthalben. Selbst seinen Sohn Eugen überlässt Gauß der preußischen Justiz und dem Exil (vgl. VdW 260). Humboldt lässt seinen langjährigen Reisegefährten Bonpland fallen: „Was nun einmal fallen wolle, sagte Humboldt, das müsse man fallen lassen. Schön klinge das nicht, aber es sei nur die härtere Seite, die brutale gewissermaßen, des gelingenden Lebens.“ (VdW 261) Für dieses dem rationalen Streben gewidmete „gelingende Leben“ sind die beiden Männer zu einigen Opfern bereit und entsprechen damit klassischer Aufklärungskritik im Sinne des „unlösliche[n] Bündnis[ses] von Vernunft und Untat“⁷⁴ als Crux des rationalen Fortschrittsglaubens. Indem der Roman durch die Karikierung seiner Hauptfiguren ironisch die Praktiken vorführt, mit denen durch Ausblendung und Verdrängung Ordnung geschaffen wird, stellt er die Prinzipien der Objektivität in Frage, auf denen auch das faktuale Erzählen beruht. Einerseits stört dies die Referenzillusion, andererseits wird die Möglichkeit eines adäquaten Wirklichkeitsbezuges so allgemein angezweifelt, dass eine gestörte Referenzillusion nicht

73 „Das einzige, womit Henry II Fix sich über Wasser hielt, war die Sprache. Von einem sicheren Abstand ‚verbalisierte‘ er seine Welt.“ 74 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 2003, [1944], S. 126.

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mehr ins Gewicht fällt: Wirklichkeitsbezug wird so zu einem angestrebten, aber unkontrollierbaren Element.

6.3 Annäherung 6.3.1 Essensmetaphorik: Einverleibung der Geschichte Als Markierung des Übergangs von der Distanzierung zur Annäherung an Geschichte dient in De avonturen van Henry II Fix wiederum ein peritextuelles Element: das Vorwort. Als Vorwort hat es laut Genettes Definition vor allem zwei Hauptfunktionen: zunächst die Lektüre zu bewirken und dann zu bewirken, dass die Lektüre gut verlaufe.⁷⁵ Bezeichnenderweise werden diese beiden Funktionen im vorliegenden Text dadurch erschwert, dass er sich nicht eindeutig als auktoriales oder fiktionales Vorwort zuordnen lässt.⁷⁶ Dies blockiert vor allem die Beantwortung der Frage, wie der folgende Text zu lesen sei – es wird kein eindeutiger Fiktionsvertrag abgeschlossen.⁷⁷ Der Kontakt zur Geschichte ruft zunächst eine Irritation hervor durch die Abbildung eines Kamels, verbunden mit der Fix zugeschriebenen Notiz „Aantekenen: kameel herstellen“. „Notieren: Kamel wiederherstellen“ (AHF 8). So klingt Fix’ Stimme in diesem Nebentext zum ersten Mal an, ist jedoch nicht als fiktional oder faktual einzuordnen. Die Immersion ist durch den Eintritt in Fix’ Notizsystem emersiv aktiviert (vgl. Immersion über formale Aspekte, 6.2.1), eine Ausweitung dieser Referenzillusion auf das Erzählte ist nicht eindeutig zu identifizieren. Zu Beginn dieses Auftakts zum Text ist mit diesem Text-Bild-Bezugsrahmen um die Wiederherstellung eines Kamels nur soviel klar, als dass es um die Rekonstruktion von etwas Seltsamen gehen wird. Das folgende Vorwort greift die vom Kamel ausgelöste Irritaton schon im Titel auf: „Ein Rausschmeißer als Beginn“, wobei „Rausschmeißer“ im Niederländischen eine Speise aus Speck und Eiern (‚Strammer Max‘) bezeichnet.⁷⁸ Anstatt die Leserinnen und Leser am Anfang des Romans etwa anhand einer anschaulichen Beschreibung in die Geschichte hereinzuholen, sollen sie in diesem Vorwort zunächst aus der Geschichte herausgeworfen werden. Fix’ Stimme wird wieder zurückgenommen. Während sowohl der Titel als auch die erwähnten Abbildungen in ihrer Altertümlichkeit eine lange zurückliegende Geschichte erwarten lassen, verweist schon der erste Satz des Vorworts auf eine genau datierte Gegenwart,

75 76 77 78

G. Genette, Paratexte, S. 191. G. Genette, Paratexte, S. 190. G. Genette, Paratexte, S. 209ff. „Een uitsmijter als begin“ (AHF 9).

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nämlich den 28. Februar 2004 (AHF 9). Der Prozess des „Rausschmeißens“ bedeutet hier also zunächst eine zeitliche Distanzierung von der eigentlichen Erzählung. Gleichzeitig übernimmt das Vorwort gemeinsam mit dem Nachwort eine Brückenfunktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Denn in die Gegenwartsgeschichte zweier zum Essen in Leiden verabredeter Dichter bricht die Vergangenheit in Form eines Kamels ein. Der Ich-Erzähler und sein Dichterkollege „Breekveld“ machen sich zwar auf den Weg zu einem Leidener Restaurant, das gute „Rausschmeißer“ anbietet, lassen sich jedoch zu einem Abstecher in einen (in Leiden tatsächlich ansässigen) Buchladen mit Auktionshaus verleiten. Durch diesen Umweg stoßen sie auf ein ausgestopftes Kamel, dessen „Anwesenheit [...] nicht einzuordnen“⁷⁹ ist. Auch das Kamel erfüllt hier in seiner monströsen Deplatziertheit im Buchladen eine „Raußschmeißer“-Funktion, indem es die beiden Dichter aus dem geplanten Tagesablauf herauswirft. Gleichzeitig hebt es sie jedoch in das Universum des Henry II Fix und in die Vergangenheit hinein. Die Lesenden ‚erleben‘ hier mit den Figuren Breekveld und Jongstra schon einmal, was ihnen selbst in der Lektüre der Haupterzählung widerfahren soll. Der Austritt aus der eigenen Erfahrungswelt verknüpft sich mit dem Eintritt in die Erzählwelt. Für die Dichter geschieht der Kontakt mit der Vergangenheit letztlich auch über einen Text, einen am Kamel befestigten „vergilbten Zettel“,⁸⁰ der auch sie, wie später die Lesenden, mit Fix’ Stimme konfrontiert: De kameel van Heer Vader = gescheurd. Pluk stro aan de lucht, ter hoogte van zijn natuurlijk opgezet zadeltoestel. Mijn paard siddert van schaamte en schrik bij de aanblik. Mijn erfkemel: zoon van geduld, vlagvoerder der muzelmannen, een zonderling kasteel. Lot: lastdragend. Lange baard van kin tot poten. De lippen, ogen: onnozel. De geboorte van een kameel is een belangrijk lichtfeest. Een slapend dier is een donkere massa, een rotsblok gelijk. Bij ontwaken schreeuwt het schip der woestijn. Sultan Mahmoed bracht in het jaar 1024 20.000 waterkamelen in verzengend gebied. Wordt door het woord bestuurd, niet met slaag. Medekinderen mijns Vaders... Bloedgierige

79 „de aanwezigheid [...] niet thuis te brengen“ (AHF 9). 80 „vergeeld briefje“ (AHF 9).

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bedoeïnen... Zadelt uw dieren! (Aantekenen: kameel herstellen!)⁸¹ (AHF 9/10) Wild werden in dieser Notiz Assoziationen zum Kamel zusammengetragen – es ist eine Erinnerung an den Vater, ein „sonderbares Schloss“, ein „Lastenträger“, seine Geburt ein „Lichtfest“. Das Gedicht gehorcht ganz der Fix’schen enzyklopädischen Poetik: Die Attribute, welche dem Kamel Bedeutung geben, stehen in einer unverbundenen Aufzählung, die kontextualisiert anstatt zu vertiefen. Während das Gedicht also an der Oberfläche zu bleiben scheint, wird die Oberfläche des Kamels zu Beginn des Gedichts als brüchig umschrieben („gerissen. Ein Büschel / Stroh an der Luft“). Sie ist beschädigt und muss repariert werden (s. letzter Vers: „(Notieren: Kamel wiederherstellen!)“). Dieser Text der brüchigen Oberfläche fasziniert die Dichter, vielleicht gerade aufgrund der Erwartung, anhand der offenen Textstruktur doch Einblick bekommen zu können. Auch der Text wird so zu einem aufgeplatzten Körper, der auf sein Inneres hin inspiziert werden könnte. Die Dichter empfinden ihn als „etwas anderes als ein[en] Rausschmeißer“,⁸² auch wenn sie ihn zwischen Gedicht und Enzyklopädie nicht einordnen können. Gerade aufgrund seiner offenen Struktur lädt er ein und stößt gerade nicht ab: „Der Kameltext intrigierte.“⁸³ Besonders intrigierend aus schriftstellerischer Perspektive ist auch die Tatsache, dass sich das Kamel „nur mit Worten steuern“ lässt, weshalb die Dichter um so lieber dem Aufruf Folge leisten wollen, es zu satteln beziehungsweise in Worte zu fassen. Was für ein Text dabei entstehen könnte, bleibt zunächst offen, „um nicht jetzt schon die Stimmung zu Tisch zu verderben“.⁸⁴ Die Bedeutung des gemeinsamen Essens beginnt sich an diesem Punkt der Rahmenerzählung zu verschieben, denn letztlich wird die Kollektion des Henry II Fix das ‚gefundene Fressen‘ sein, welches den gemeinsamen Verzehr eines „uitsmijters“ ablöst.

81 „Das Kamel des Herrn Vater = gerissen. Ein Büschel / Stroh an der Luft, auf der Höhe seines natürlich / ausgestopften Sattelapparats. Mein Pferd zittert aus / Scham und Schreck bei diesem Anblick. Mein Erbkamel: / Sohn der Geduld, Flagführer der Muselmänner, / ein sonderbares Schloss. Schicksal: lasttragend. Langer / Bart vom Kinn bis zu den Pfoten. Die Lippen, die Augen: einfältig. // Die Geburt eines Kamels ist ein wichtiges Lichtfest. / Ein schlafendes Tier ist eine dunkle Masse, einem Felsbrocken / gleich. Beim Erwachen schreit das Schiff der Wüste. / Sultan Mahmoed brachte im Jahr 1024 20.000 Wasserkamele / in versengtes Gebiet. // Wird durch das Wort gesteuert, nicht durch Schläge. / Mitkinder meines Vaters... Blutgierige / Beduinen... Sattelt eure Tiere! / (Notieren: Kamel wiederherstellen!)“ 82 „wat anders dan een uitsmijter“ AHF 10). 83 „De kameeltekst intrigeerde“ (AHF 11). 84 „om niet alvast de sfeer straks aan tafel te bederven“ (AHF 10).

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Die Erzählung führt die paradoxe Rausschmeißer-Metaphorik der Einverleibung eines Textes, die zugleich seine Veräußerung darstellt, in verschiedenen Variationen weiter. Die beiden Dichter stürzen sich letztlich auf drei Pappkartons der „Kollektion Schutte“, die Notizen und selbst die Autobiografie eines gewissen Henry II Fix enthalten, dessen Leben genau datiert wird: „[D]er Mann, so stellte sich heraus, hatte von 1774 bis 1844 gelebt.“⁸⁵ An diesem Punkt zerbricht ihre Dichterfreundschaft und sie versuchen sich in der Auktion bei der Erwerbung der Kisten auszustechen. Plakativ wird hier vorgeführt, dass man sich gegenseitig mit Wertzuschreibungen überbieten muss, um Geschichte schreiben zu können. Den Ich-Erzähler, der in diesem Prozess seinen Namen, „Jongstra“, offenbart und damit im „autobiografischen Pakt“⁸⁶ als Autor selbst auftritt, erinnert diese Konkurrenz an einen Vers aus einem Gedicht Breekvelds, in dem zwei feine Herren auf unfeine Art um die Organe einer Frau kämpfen: Twee mannen in rok vechten om de organen van een vrouw, ik zie klieren schieten, darmflora in alle pracht over het grondzeil...(AHF 13)⁸⁷ In diesem auch für die spätere Erzählung tonangebenden Vers (vgl. 6.3.2), geht es tatsächlich ans ‚Eingemachte‘, an die Innereien, die gleichzeitig auf eine schaurige Art freigelegt werden, wie es der Rausschmeißermetaphorik der bloßstellenden Zueigenmachung entspricht. Einem Kompositionsprinzip von Fix’ Text entgegenkommend, illustrieren schon die niederländischen homonymen Ausdrücke ‚uitweiden‘/‚uitwijden‘ diese Verquickung von Innereien und Äußerung: ‚Uitweiden‘ bezeichnet die ausführliche Erörterung, das Breittreten eines Themas, ‚uitwijden‘ bezieht sich auf das Ausnehmen, also das Entfernen der Organe eines Tiers. Das ‚Ausweiden‘ bezeichnet also gleichermaßen eine Bewegung von innen nach außen wie die Bewegung in die Breite. Der Gegensatz des Innen und Außen löst sich damit in einer flächigen Ausweitung auf, die den ursprünglichen Zusammenhang nicht wieder herstellen kann. Die Figur Jongstra bedient sich unlauterer Mittel, um den Dichterfreund letztlich zu überbieten: Sie gibt sich als Breekveld aus, um die Höhe dessen Gebotes

85 „de man bleek geleefd te hebben van 1774 tot 1844“ (AHF 11). 86 Vgl. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, hg. von Günter Niggl, 2. Aufl., Darmstadt 1998, S. 214–257. 87 „Zwei Männer im Frack kämpfen um die Organe einer Frau, ich / sehe Drüsen herausschießen, Darmflora in aller Pracht über der Bodenplane.“

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zu erfahren und passt ihr eigenes Gebot daraufhin an.⁸⁸ Die Fix’schen Dokumente erhalten ihren Wert erst durch das Interesse der beiden Dichterfreunde. Nicht umsonst werden die textgefüllten Kartons im Ausstellungskatalog lediglich als „unbenannte Dokumente“⁸⁹ geführt und sind, was ihren Wert betrifft, noch dazu mit einem Fragezeichen versehen (AHF 12). Ihr Wert ergibt sich demnach erst im Prozess der Rekonstruktion, in dem von der Autorfigur Jongstra eine Auswahl getroffen, die Lücken gefüllt (AHF 14), kurz: „zurückübersetzt, bearbeitet, ergänzt“⁹⁰ werden muss. Richtungweisend ist dabei das Merkmal des „Interessanten“ (AHF 11), von dem aus ganz wie in der Enzyklopädie Äquivalenzen hergestellt werden.⁹¹ Nachdem Jongstra die Unterlagen erworben hat, wird der Kontakt zu Breekveld unwichtig: „Man hat schließlich keine Gesellschaft nötig, um einen Rausschmeißer zu genießen.“⁹² Der Rausschmeißer ist hier nicht mehr die eigentlich geplante Mahlzeit, sondern die Sammlung Fix’scher Dokumente, welche die Autorfigur Jongstra ‚verdaut‘ beziehungsweise verarbeitet. Dieser Lektüreschmaus setzt sich fort, nach dem Vorgericht des Rausschmeißers folgt die eigentliche Hauptmahlzeit: Dadurch dass der Autor-Erzähler Jongstra in den Genuss von Fix’ Dokumenten kommt, kann er die Binnenerzählung des Fix-Texts servieren, der im Nachwort mit der Frage „wie seine [Fix’, B.v.D.] Wörter im Magen des entsprechenden Lesers liegen“⁹³ von den Lesenden wiederum „verdaut“ wird.⁹⁴ Jongstra setzt den Leserinnen und Leser eine sinnlich erfahrbare Textmahlzeit vor: Sie ist

88 Spätestens in dieser Verschmelzung wird deutlich, dass Breekveld ein weiteres Alter Ego Jongstras sein könnte. In der Tat publiziert Atte Jongstra unter dem Pseudonym ‚Breekveld‘ Lyrik: Arno Breekveld, Zeppelin, Amsterdam 1994. 89 „ongenoemde stukken“ (AHF 12). 90 „hertaald, bewerkt, aangevuld“ (AHF 14). 91 Eine Renaissance des Interessanten findet nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Literaturwissenschaft statt, die in der Methode des New Historicism auf die „Vielfalt und Komplexität kultureller Bezüge“ in der „Findekunst“ mit einem „Verfahren, das man oft als anekdotisches bezeichnet hat“ reagiert. Herzstück dieses Verfahrens sind die „interessanten Fundstellen“, d.h. ungewohnte Kombinationen von Vorstellungen und Begriffen. Vgl. Moritz Baßler, Analyse von Text- und Kontextbeziehungen/New Historicism. Findekunst. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, hg. von Thomas Anz, Bd. II „Methoden und Theorien“, Stuttgart/Weimar 2007, S. 227–28. Zur Kategorie des „Interessanten“ als Grundlage der Kulturwissenschaften siehe Dirk Werle, Jenseits von Konsens und Dissens? Das Interessante als kulturwissenschaftliche Beschreibungskategorie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 30/2, 2005, S. 117–135. 92 „Men heeft tenslotte geen gezelschap nodig om een uitsmijter te genieten“ (AHF 13). 93 „hoe zijn woorden op de maag van de tegenwoordige lezer liggen“ (AHF 333). 94 Nachwort des Buches: „Die Verdauung eines Rausschmeißers“/“De digestie van een uitsmijter“ (AHF 333).

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garniert „mit Nüssen“ (Anmerkungen)⁹⁵ und, „nach Wahrheit“⁹⁶ preisgegeben. Immersion und Emersion werden verquickt. Fix’ Erzählung als einzuverleibende Mahlzeit reflektiert zugleich einen Vorgang der Äußerung, ermöglicht doch Jongstra Fix – in der Darstellung des Vorwortes – die Veröffentlichung seiner historischen Dokumente in der Gegenwart. In der Essensmetaphorik wird damit implizit die Problematik von Geschichtsschreibung reflektiert, die einerseits Geschichte erst freilegt, indem sie sie ‚äußert‘ (also verschriftlicht beziehungsweise veröffentlicht), andererseits jedoch auch immer eine Einverleibung darstellt, weil sie Quellen der eigenen Vorstellungswelt anpasst.⁹⁷ Fix wird an die Luft gelassen, aber er liegt immer an der Leine seines Verfassers Jongstra, in welchem durch die Manuskripte „etwas [...] gelöst“⁹⁸ wurde. Der Roman führt damit vor, dass Annäherung an die Vergangenheit immer auch ihre Vereinnahmung bedeutet (vgl. 4.3.3).

6.3.2 Ordnungsstrukturen I: ‚Verlebendigung‘ durch lose Strukturen Im Nachwort als weiterer peritextueller Brücke zur fiktiven Autobiografie in De avonturen van Henry II Fix stellt der Autor-Erzähler fest, dass seine historische Hauptfigur Fix keine Spuren hinterlassen habe. Durch seine Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, aber auch an den historischen Ereignissen sei es fraglich, ob Fix überhaupt gelebt habe: „Hij had er net zo goed niet kunnen zijn.“⁹⁹ (AHF 335). Fix hat ein „fruchtloses“ Leben geführt, es gibt keine „praktischen Konsequenzen“ seines Lebens (AHF 335). Weder hat er Nachfahren gezeugt, noch wurden seine Ideen verwirklicht. Das einzige Mal, dass er laut Jongstra in Erscheinung trete, sei bei dem Versuch, das Leben des (historisch und literarisch) bezeugten Dichters Rhijnvis Feith bei einem Duell zu beenden (AHF Kapitel „Hoe ik

95 „noten“ (AHF 14) – im Niederländischen sind die Begriffe ‚Nüsse‘ und ‚Anmerkungen‘ homonym. 96 „naar waarheid“ (AHF 14). 97 Dieser Prozess spiegelt sich auch in Stephen Greenblatts Bedürfnis „mit den Toten zu reden“: Er gesteht sich zwar ein, dass er nie wie ersehnt die Stimme der Toten hört. Dennoch ist er überzeugt, dass seine eigene Stimme die Stimme der Toten sei – die Toten können sich also nur durch die Lebenden äußern: „Even when I came to understand that in my most intense moment of straining to listen all I could hear was my own voice, even then I did not abandon my desire [to speak with the dead, BvD]. It was true that I could hear only my own voice, but my own voice was the voice of the dead, for the dead had contrived to leave textual traces of themselves, and those traces make themselves heard in the voices of the living.“ S. Greenblatt, S. 1. 98 „iets [...] losgemaakt“ (AHF 11). 99 „Es hätte ihn genau so gut nicht geben können.“

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bijdroeg aan Feiths dood“¹⁰⁰ 240-246). Im Spiel mit den Namen Feith („feit“ ist niederländisch für „Fakt, Tatsache“) und Fix („fictie“ bedeutet im Niederländischen „Fiktion“) wird hier die alte Diskussion um die Möglichkeit der Verlebendigung von Geschichte in der Literatur aufgegriffen: Kann ein fiktionaler Text den Toten der Vergangenheit durch das Mittel der Fiktion Leben einhauchen, auch wenn es keinerlei Belege zur Absicherung des Erzählten gibt? Es geht um das unbezeugte, ungezeugte, das literarisch geschaffene ‚Leben‘, wie es in der ‚Schöpfungsszene‘ zu Beginn von Fix autobiografischen Tagebuch Ausdruck findet (vgl. 6.2.3). Dieses papierene Leben ist vielleicht nur ein Schatten des wirklichen Lebewesens, wie Fix beim Nachzeichnen eines „wandernden Zweiges“ (niederländisch für ‚Stabheuschrecke‘) feststellt (AHF 88), doch gleichzeitig legt die Heuschrecke als lebendes Imitat eines Lebewesens die Möglichkeit einer ‚lebendigen Darstellung‘ nahe. Die Verpackung der Geschichte in einer fiktionalen Autobiografie führt zu einer „Geschichte in der Ich-Form“,¹⁰¹ die zu einer „Konversation mit den Toten“¹⁰² aufruft. Die Autobiografie steht dabei auch für eine Textform, die Immersion und Emersion auf untrennbare Weise vermischt, da das wiedergegebene Erfahrene, Erlebte gleichgesetzt wird mit wirklich Geschehenem.¹⁰³ Wie Bart Vervaeck es ausdrückt, gilt in diesem fiktional-persönlichen Zugang zur Geschichte, das, „was auf individueller Ebene wie Fiktion scheint, [...] auf einer allgemeinen Ebene für den realen Menschen“.¹⁰⁴ Wie der Name „Fix“ überdeutlich impliziert, hat eine solche Darstellung einerseits immer etwas statisches, indem sie Dinge festlegt, genau wie die Namensregistrierung der Bevölkerung zur Zeit der napoleonischen Besetzung, der sich auch Fix unterziehen muss, die (schriftliche) Fixierung einer Möglichkeit bedeutete (AHF 182-186). Andererseits weist Fix in der Kodifizierung seines eigenen Namens als unbestimmte Funktion „Fx“ in seiner Liebesbotschaft an die Witwe Wilders (AHF 126) auf die Dynamik des Durchspielens einer Möglichkeit in den verschiedenen möglichen Funktionen einer (historisch) unbestimmten Größe in

100 „Wie ich zu Feiths Tod beitrug.“ 101 B. Vervaeck, Werken aan de toekomst, S. 23. 102 B. Vervaeck, Werken aan de toekomst, S. 24. 103 Jan Ruyters spricht davon, dass es dem Roman gelinge, in Fix Autobiografie die Welt auf neue Weise „lebendig zu beschreiben“: J. Ruyters, Henry II Fix, ontrukt aan de vergetelheid. Peter Altena spricht von einem „lebendigen Buch über ein Leben“ („levendig boek van een leven“): Peter Altena, Atte Jongstra. De avonturen van Henry II Fix. In: Mededelingen van de Stichting Jacob Campo Weyerman, 31, 2008, S. 72. 104 „wat op het individuele vlak fictie lijkt, geldt op het algemene vlak voor de reële mens“: B. Vervaeck, Atte Jongstra. De avonturen van Henry II Fix, S. 8.

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Form einer fiktiven Figur hin.¹⁰⁵ Die Hauptfigur Fix „belebt“ die Geschichte nicht nur durch ihre spezifische (die Zwollsche) Perspektive, sondern auch durch seine Erzählstimme mit ihrer „oft künstlerisch zu nennenden Sprache“ (AHF 336). Lebendigkeit im Sinne der Immersion entsteht dabei in De avonturen van Henry II Fix nicht durch eine möglichst gut strukturierte Darstellung, sondern durch einen dynamisch aufgebauten Text. Mainberger spricht von der Kunst des Aufzählens als „nichtlineare[r] Dynamik des Werdens“ und grenzt diese von einer linearen geschichtlichen Entwicklung ab, in der ein Element auf das andere aufbaut.¹⁰⁶ Gerade durch das Unsystematische seiner immer neuen Anfänge kommt dieses nichtlineare Werden der Komplexität seines Gegenstandes, einem vergangenen menschlichen Leben, näher. Diese „unhistorische“¹⁰⁷ Form des Erzählens wird also gerade für das Verlebendigen von Geschichte in Literatur genutzt. Denn die Dynamik in Fix’ Autobiografie gründet sich gerade auf ihren zersplitterten Aufbau, wie schon das Fußnotenverweissystem als ‚historische Atmosphäre‘ des Textes verdeutlicht (vgl. 6.2.1). Wie bereits angedeutet, erzählt Fix seine Lebensgeschichte in der assoziativen Form einer Enzyklopädie.¹⁰⁸ Deren Ordnungsprinzip wird schon im Raritätenkabinett seines Vaters sinnfällig: Nach dem Kriterium des ‚Interessanten‘, irgendwie Auffälligen, hortet der Vater die verschiedensten Dinge, vom menschlichen Embryo über präparierte Tiere bis zum pseudohistorischen Schuh (AHF 10), gesammelt nach dem Kriterium der Seltsamkeit (Rarität), nicht nach dem der Schönheit (AHF 149/150). Henry selbst sieht in seiner ‚Autobiografie‘ deutliche Parallelen zwischen dieser Sammelwut und der Zusammenstellung seiner eigenen Abenteuer, wie er mehrmals betont: „Alle avonturen zijn immers opgebouwd uit samengestelde, losse onderdelen. Het leven is als de wereld. Grillig, onoverzichtelijk, nauwelijks chocolade van te roeren, maar toch alles bij elkaar een wereld.“¹⁰⁹ (AHF 111) Genüsslich wird vorgeführt, dass viele Texte von

105 Eine schöne Verbildlichung von Statik und Dynamik der Darstellung ist die im Roman abgedruckte „19de-eeuwse lichaamsbewegingsfantasie“ („Körperbewegungsfantasie aus dem 19. Jahrhundert“), in welcher menschliche Bewegung auf sehr statische Weise abgebildet wird, AHF 107. 106 S. Mainberger, S. 295–301. 107 Waltraud Wiethölter, Frauke Berndt und Stephan Kammer, Zum Doppelleben der Enzyklopädik – eine historisch-systematische Skizze. In: Vom Weltbuch bis zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen, hg. von Waltraud Wiethölter, Frauke Berndt und Stephan Kammer, Heidelberg 2005, S. 4. 108 Vgl. zum enzyklopädischen Aufbau des Buches B. Vervaeck, Een kwestie van doorverwijzen, S. 23–26, S. Vitse, Een Zwollenaar met vaart, S. 705–707. 109 „Denn alle Abenteuer sind aufgebaut aus zusammengestellten, losen Teilen. Das Leben ist wie die Welt. Launisch, unübersichtlich, kaum Schokolade daraus zu rühren, aber insgesamt doch eine Welt.“ In ähnlicher Form auch schon auf S. 19.

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Fix’ Zeitgenossen auf dieselbe Art und Weise funktionieren, wie etwa Chomels Haushaltswörterbuch, dessen jeden Buchdeckel sprengender Bandwurmtitel¹¹⁰ den allumfassenden Anspruch des Buches ausdrückt und dabei gleichzeitig in nicht zu strukturierende Einzelteile auseinanderfällt. Gerade durch die Heterogenität der Textteile ergibt sich ein Bild, das dem ebenso unübersichtlichen Leben der Hauptfigur und seiner nicht auf einen Nenner zu bringenden Welt entspricht.¹¹¹ Der Text vereinfacht die Perspektive auf

110 „Algemeen huishoudelijk woordenboek, Vervattende veele middelen om zijn goed te vermeerderen en zijn gezondheid te behouden, Met verscheidene wijze en beproefde Middelen voor een groot getal van Ziektens, en schoone geheimen, om tot een hoogen en gelukkigen ouderdom te geraaken, Een menigte van manieren, om lammeren, schapen, koeien, paarden, muilezels, hoenderen, duiven, honingbijen, zijwormen te kweeken, voeden, geneezen, en winst te doen met die dieren; Eene Natuurkundige Beschrijving van huishoudelijk en wild gedierte, vogelen en visschen, en de middelen om dezelve te jaagen en te vangen; Een oneindige menigte van geheimen in de tuinbouw, kruidkunde, akkerbouw, landbouw, wijngaard en boomgaardbouw gelijk ook de kennisse van vreemde gewassen en haare eigenaartige krachten enz. Met de voordelen van het distilleren, zeepzieden, stijfselmaken. Waarin verder begrepen een korte schets van de meeste kunsten, wetenschappen en handwerken en toont alles, deels in prachtige platen, wat handwerkslieden, tuiniers, kooplieden, winkeliers, bankiers, commissarissen, overheden, officiers van ’t Gerecht, edellieden, geestelijken en andere luiden van aanzien in de eerste bedieningen doen moeten om zich welvarend te maken.“ Dt.: „Allgemeines Haushaltswörterbuch, Enthaltend viele Mittel um seine Güter zu vermehren und seine Gesundheit zu schützen, Mit verschiedenen Arten und bewährten Mitteln für eine große Zahl von Krankheiten, und schönen Geheimnissen um zu einem hohen und glücklichen Alter zu kommen, Eine Menge von Arten und Weisen, Lämmer, Schafe, Kühe, Pferde, Maulesel, Hühner, Tauben, Honigbienen, Seidenraupen zu züchten, zu füttern, zu heilen, und aus den Tieren Gewinn zu machen; Eine Naturkundige Beschreibung von Haustieren und wilden Tieren, Vögeln und Fischen, und den Mitteln um dieselben zu jagen und zu fangen; Eine unendliche Menge von Geheimnissen im Gartenbau, der Kräuterkunde, dem Ackerbau, der Landwirtschaft, dem Weinanbau und dem Obstbaumanbau wie auch die Kenntnis von fremden Pflanzen und ihren besonderen Kräften usw. Mit den Vorteilen des Destillierens, Seifensiedens, Stärkemachens. Worin weiterhin enthalten eine kurze Skizze der meisten Künste, Wissenschaften und Handwerke und gezeigt wird alles, teilweise in prächtigen Bildern, was Handwerker, Gärtner, Kaufleute, Händler, Bankiers, Kommissare, Behörden, Offiziere des Gerichts, Edelleute, Geistliche und andere Leute von Ansehen in ihren ersten Anstellungen tun müssen um für ihren Wohlstand zu sorgen.“ (AHF 183) Fix wiederholt diesen Titel sogar noch einmal in voller Länge wortwörtlich im Gespräch mit einem Sekretär (AHF 184). 111 Insofern stellt De avonturen van Henry II Fix doch einen Bezug zur vergangenen Wirklichkeit her, auch wenn, wie Steven Stroobants demonstriert, der Roman durch seine enzyklopädische Art, Geschichte zu erzählen, nicht dem klassischen realistischen Erzählen im historischen Roman entspricht: Steven Stroobants, Chaotische structuur of gestructureerde chaos. Een intertekstuele analyse van een traditionele en een vernieuwende historische roman. In: Breuken en bruggen. Moderne Nederlandse literatuur – hedendaagse perspectieven, hg. von Lars Bernaerts, Gent 2011, S. 71–83.

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vergangene historische Wirklichkeit nicht durch Vereinheitlichung, sondern stellt ihre Komplexität und Ungreifbarkeit schon in der Textstruktur aus.¹¹² Die Fragmentarisierung wird in den verschiedensten Formen zelebriert, von der in Stücke zerborstenen Geige, die, wieder zusammengeleimt, schöner klingt als zuvor, bis hin zu Fix’ engagiertem Verfassen von (nie veröffentlichten) „eingesendeten Stücken“ (der Bezeichnung für Leserbriefe im Niederländischen) (vgl. zum Beispiel AHF 275). Sie kulminiert in der gruseligen Vorstellung, dass Fix auch zerstückelt aus dem Mutterbauch hätte geboren werden können (AHF 25). Da Henry eine Papierfigur bleibt, ist das fetzenweise auf die Welt kommen letztlich im vorliegenden Text umgesetzt. Der Roman bleibt nicht dabei stehen, diese ‚Fetzen‘ aneinanderzureihen, sondern spielt mehrere Möglichkeiten des Verhältnisses der einzelnen Teile zu einem Ganzen durch. Symptomatisch für diese Fragestellung ist ein Archimboldo nachempfundenes Gemälde, welches im Roman an zentraler Stelle zu Beginn einer Abbildungsreihe abgedruckt ist: Das Gemälde zeigt einen menschlichen Kopf, der sich aus Vögeln zusammensetzt – auch wenn in diesem dynamischen Ganzen das Eigenleben der einzelnen Teile erhalten bleibt, ergibt sich ein übergreifender Zusammenhang (AHF 81). Mit dieser Thematik wird eine Grundfrage der Geschichtsschreibung berührt, nämlich die des Verhältnisses vom Teil zum Ganzen, von anekdotischer Besonderheit und systematischer Verallgemeinerung. Fix’ Autobiografie findet unterschiedliche Antworten, indem sie den enzyklopädischen Aufbau mit Funktionsweisen des Organismus und des Mechanismus verschränkt. Durch die Verschränkung dieser drei Diskurse des langen achtzehnten Jahrhunderts wird das alte Konzept der ‚Verlebendigung der Geschichte‘ neu verhandelt. Nicht zufällig benutzt Hayden White neben „formativistisch“ die Paradigmen „organizistisch“, „mechanistisch“ und „kontextualistisch“ für die Charakterisierung der historiografischen Argumentation seit dem achtzehnten Jahrhundert (vgl. 3.2.2). Die formativistische Argumentation ist eine romantische Erzählform der Historiografie und betont die Einzigartigkeit der einzelnen Elemente, während sie konkrete größere Zusammenhänge verweigert. In der organizistischen Erzählform wird integrativer und zugleich reduzierender argumentiert: Die einzelnen Elemente werden als Teile eines synthetischen Prozesses beschrieben, es gibt einen Zusammenhang zwischen Mikro- und Makrokosmos. Aus der mechanistischen Perspektive wird dieser Bezug zu einer übergeordneten Funktion derart verstärkt, dass einzelne Elemente nur noch als Ausdruck eines höheren Prinzips gelesen werden, das allgemeine Gesetzmäßigkeiten darstellt. In der

112 Die von Elias für die historischen Romane über die Aufklärung konstatierte Konventionalität der Form bestätigt sich damit nicht: A.J. Elias, S. 153.

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kontextualistischen Argumentation (die der enzyklopädischen Erzählweise Fix’ nahekommt) ergeben Elemente immer nur in einem bestimmten Kontext einen Sinnzusammenhang, weshalb die Beziehungen zwischen den Elementen wichtig werden.¹¹³ Fix zeigt sich in seiner Faszination für Mechanismen und Automaten als Kind seiner Zeit, wie etwa sein Besuch beim Konzert eines automatischen Klarinettenspielers demonstriert (AHF 303 ff.). Auch im Hinblick auf seinen eigenen Text und die Heterogenität der erzählten Abenteuer bemüht er den Vergleich mit der Mechanik: „Soms vergelijk ik het met een klok die uit elkaar is genomen, waarbij enkele raderen zoek zijn geraakt en het aan de lezer is er zelf weer een lopend uurwerk van te maken“¹¹⁴ (AHF 19). Eine mechanische Organisation seines eigenen Textes scheint ihm dabei also nicht gelungen zu sein: Die Rückführung auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten glückt nicht. Direkte kausale Zusammenhänge und allgemeine Gesetzmäßigkeiten sind nicht ohne weiteres aus Fix’ Textuniversum abzuleiten. Vielmehr bleibt der Text an vielen Stellen bei einer bloßen Aufzählung stehen, ohne Zusammenhänge systematisch herzustellen. Das Hauptkompositionsprinzip ist das des Verweises, wie ihn die Fußnoten nahelegen. Der Text kontextualisiert, aber dies auf eine sehr willkürliche Weise, ohne leicht allgemeine Schlüsse zuzulassen. Jeder interessante Zusammenhang ist möglich, dadurch verästeln sich die verschiedenen Fäden der Erzählung unentwirrbar. Gerade durch die Mechanik ergibt sich jedoch die Verbindung dieser Erzählweise mit dem Komplex des Organismus. Denn das unübersichtliche Bild, das so entsteht, entspricht den neuen Sehmöglichkeiten, die das Mikroskop als mechanischer Apparat erschließt. Dieser Apparat, ebenfalls eine Entdeckung des achtzehnten Jahrhunderts, dient dem Text zur Verschränkung von Enzyklopädie, Organismus und Mechanismus. Fix’ Beschreibung des hydro-oxigenen Mikroskops von Cooper und Cary streicht heraus, dass dieses Gerät einen bis dahin unbekannten Blick auf das Leben ermöglicht. Unsichtbare Teile von Lebewesen werden plötzlich sichtbar, wie etwa das Innere von Läusen, deren Eingeweide, Herzschläge und sogar ungeborene Jungen (AHF 282). Fix vergleicht seinen eigenen Text mit dieser mechanischen Vergrößerung, die eine Welt von Wundern offenbart. Das „Menschenexemplar“ (AHF 283) Fix, das sich hier selbst unter das Mikroskop legt, sieht sich dabei als Brennpunkt der menschlichen Zivilisation – ein kleiner Mensch in der Geschichte, der in diesem Buch vergrößert wird, gleich-

113 H. White, Metahistory, S. 13ff. White übernimmt die Paradigmen von Stephen C. Pepper, World Hypotheses. A Study in Evidence, Berkeley/Los Angeles 1966. 114 „Manchmal vergleiche ich es mit einer Uhr, die auseinander genommen wurde, wobei einzelnen Räder verloren gegangen sind und es Sache des Lesers ist, davon wieder ein laufendes Uhrwerk zu machen.“

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zeitig aber auch aus seiner beschränkten Perspektive die großen historischen Umstände auf seinen Horizont herunterbricht. Indem es die Dinge ganz genau unter die Lupe nimmt, zeigt es, wie funktionierende Strukturen Kontingenz erzeugen: Es macht eine Vielzahl an Details sichtbar, die schwierig zu ordnen sind. Das erzählte Leben zerfällt damit in viele, unüberschaubare Einzelteile wie die Enzyklopädie, deren Teile kein Ganzes ergeben. Fix sträubt sich als Anhänger der Enzyklopädie gegen die allzu kohärente Zusammenschau eines Ichs: „In de vorige eeuw, die van mama en van de opvoeding die zij me gaf, was het overzicht der encyclopedie, de dilettant, à la mode. Ik heb die mode gretig ingedronken. Daarna kwam de koker van het zelf waar men zich in liet zuigen, op verdrinken af“ (AHF 291).¹¹⁵ Doch schließt er die Möglichkeit einer ‚Übersicht‘ nicht aus – zwischen den einzelnen Teilen kann es einen Zusammenhang geben, dieser ist jedoch nicht ohne weiteres ersichtlich, wie es sich bei den organischen Untersuchungen im achtzehnten Jahrhundert herausstellte. Entsprechend dem Stand der Lebenswissenschaften im ausgehenden achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert beschreibt der Text an vielen Stellen eine besondere Faszination für das Organische. Beginnend schon im Vorwort mit dem Verweis auf die zwei um die Organe einer Frau streitenden Männer ziehen sich Verweise auf Organismen und Organisches durch den Text, die oft verschränkt mit oder entgegengesetzt zu dem Mechanischen präsentiert werden (Vgl. zum Beispiel die Abbildungen von S. 81-88). Beispielhaft sei hier auf eine der Abbildungen in der ersten der beiden Abbildungsreihen des Buches verwiesen, die gezeichnete Korallen zeigt und von Fix mit dem Kommentar „Lust vuurwerk gelijk de Aetna, organiek“¹¹⁶ versehen wird (AHF 82). Die hier abgebildeten Organismen stehen für das Prinzip der Selbstorganisation von Lebewesen, bei der jeder Teil selbsttätig ist und doch für das Ganze wirkt. Charakteristisch sind ihre verzweigten Tentakel, welche schon die Komplexität selbst dieser einfachen Lebensformen andeuten. Korallen können sich sowohl geschlechtlich als auch ungeschlechtlich fortpflanzen und stehen in diesem Sinne für die Bedeutung des niederländischen Adjektives „organiek“, das das Auseinanderhervorgehen andeutet. Die Interaktion zwischen den Teilen des Organismus und zwischen den Teilen und dem Lebewesen als Ganzem läuft dabei zwar harmonisch, aber schwierig nachvollziehbar ab. Durch die stetige Thematisierung des Organismus legt der Text auch die Möglichkeit der Synthese des hier beschriebenen Lebens nahe. Nicht umsonst nähert sich dieser Roman über die Kunst der ‚Lebensbeschreibung‘ – die des fiktiven

115 „Im vorigen Jahrhundert, das meiner Mutter und der Erziehung, die sie mir gab, war die Übersicht der Enzyklopädie, der Dilettant, à la mode. Ich habe diese Mode begierig aufgesogen. Danach kam der Köcher des Selbst, in den man sich unter der Gefahr zu ertrinken saugen ließ.“ 116 „Lustfeuerwerk wie der Ätna, organisch“.

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Henry II Fix – der Geschichte an. Indem hier die Geschichte eines menschlichen Organismus von der Geburt bis zum Tod mit ständigem Verweis auf den Organismus im Gegensatz zur leblosen Maschine erzählt wird, gestaltet sich der alte Topos der Verlebendigung von Geschichte neu. Begriffen wie „Liebe“ sollen „Fleisch und Knochen“ gegeben werden, wenn dies „nicht so platt klänge“ (AHF 124). Nicht im psychologischen Tiefgang der Figur, die selbst in ihren eigenen Schilderungen seltsam unzugänglich bleibt, sondern mit der Frage, wann ein System aus einzelnen Teilen durch besonderes Zusammenwirken einen dynamischen Zusammenhang erreicht, wird das ‚zum Leben Erwecken‘ der Geschichte problematisiert. „Het leven is een encyclopedie van teksten“,¹¹⁷ wie Bart Vervaeck feststellt. An anderer Stelle spricht Vervaeck davon, dass die Ausnahme und das Persönliche für Fix die tiefere Ordnung der Geschichte „verkörpern“ und führt dafür ein Schlüsselzitat Fix’ an:¹¹⁸ Met een vergelijkbare beweeglijkheid behoorde een hogere systematiek, waarin ook plaats was voor onregelmatigheden en uitzonderingen, voor rariosa en curiosa, voor het spruiten en kristalliseren van de geniale natuur in al haar uitwassen, beslist tot de mogelijkheden.¹¹⁹ (AHF 238/239)

In der Verschränkung von Text und Organischem, die der Roman in vielen Abbildungen und Verweisen vorführt, erfährt diese ‚Verkörperung‘ eine konkrete Verbindung zu einem Diskurs des achtzehnten Jahrhunderts, das in der Erforschung des Organismus und seiner Dynamik an die Grenzen seiner Systematisierungskünste stieß. Anstatt der Geschichte aus retrospektiver Übersichtsperspektive (mechanistisch) präsentiert diese Art des historischen Erzählens in der Literatur eine nur stellenweise Sinnzusammenhänge herstellende Geschichte (kontextualistisch), die gerade durch ihre Bruchstellen das in ihr erzählte Leben nicht verdrängt, sondern in kurzen Momenten durchscheinen lässt (organizistisch).

6.3.3 Ordnungsstrukturen II: ‚Oberflächliche‘ Ordnung In Die Vermessung der Welt werden mit verschiedenen Mitteln Immersion und Emersion gestört (vgl. 6.2.2), unter anderem durch die Verflachung und Karikie-

117 „Das Leben ist eine Enzyklopädie von Texten.“, B. Vervaeck, Een kwestie van doorverwijzen, S. 25. 118 B. Vervaeck, Werken aan de toekomst, S. 24. 119 „Mit einer vergleichbaren Beweglichkeit gehörte eine höhere Systematik, in der auch für Unregelmäßigkeiten und Ausnahmen, für Raritäten und Kuriosa, für das Sprießen und Kristallisieren der genialen Natur in all ihren Auswüchsen Platz war, entschieden zu den Möglichkeiten.“

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rung der Hauptfiguren (vgl. 6.2.3). Aufgrund dieser Verflachung des historischen Personals wurde dem Roman oft Oberflächlichkeit vorgeworfen, die den aufklärerischen Konflikt zwischen Vernunft und Ethik zu seicht verhandele, wenn nicht gar bagatellisiere. So stellt zum Beispiel Heinz-Peter Preußer fest,¹²⁰ dass die Thematik des entfremdeten Forschers nahtlos an die schon lange zur Reflexion der Aufklärung gehörende „Rationalitätskritik“ anschließe und verweist insbesondere auf Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung. Der Roman beschreibe diese Dialektik jedoch nicht „als erhabene Sublimation“,¹²¹ sondern präsentiere sie in einer derart „komödiantischen Fassung“,¹²² dass man die kritische, kulturpessimistische Grundlage „kaum noch bemerkt“.¹²³ Frederic Jameson bezieht eine solche Oberflächlichkeit der Darstellung auf den postmodernen Umgang mit Geschichte allgemein, da „offenbar kein organischer Zusammenhang mehr gegeben ist zwischen einem Schulwissen von der [...] Geschichte, der von den Medien hergestellten ‚lebendigen Erfahrung‘ in einer Großstadt und unserem eigenen Alltagsleben“.¹²⁴ Wenn hier vom „organischen Zusammenhang“ die Rede ist, der in der Postmoderne abhanden gekommen sei, schließt diese Kritik an die bei Horkheimer und Adorno betonte Desintegration von Wissen und Leben mit einem Begriff an, der schon in Jongstras De avonturen van Henry II Fix nicht zufällig eine dominante Rolle spielt, da die metaphorische Übertragung dieses ursprünglich naturwissenschaftlichen Begriffs auf politisch-soziale Zusammenhänge gerade im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert stattfindet.¹²⁵ Die Terminologie dieser Wissenschaft von den Lebewesen, den ‚Organismen‘, wird in verschiedenen Wis-

120 Vgl. Heinz-Peter Preußer, Zur Typologie der Zivilisationskritik. Was aus Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt einen Bestseller werden ließ. In: Gedächtnis und Identität, hg. von Fabrizio Cambi, Würzburg 2008, S. 111–124. Ebenfalls kritisiert Márta Horváth, dass die Rationalitätskritik in Die Vermessung der Welt zwar konsequent in den Romanaufbau übersetzt worden sei, aber durch die komödiantische Form nicht das „moralische Verantwortungsgefühl des Lesers“ anspreche: Márta Horváth, Der Alte und der Greis. Rationalitätskritik in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. In: Brüchige Welten. Von Doderer bis Kehlmann, hg. von Attila Bombitz, Wien 2008, S. 260. 121 H. Preußer, S. 124. 122 H. Preußer, S. 114. 123 H. Preußer, S. 124. 124 Fredric Jameson, Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, hg. von Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe, Reinbek 1986, S. 67. 125 Ernst Wolfgang Böckenförde, Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg.von Otto Brunner und Reinhart Kosellek, Stuttgart 1978. Hier insbesondere „VII. Der Übergang von der Corpus-/Mechanismusvorstellung zu Organisation und Organismus“.

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senschaften übernommen und dient der Konzeptualisierung unterschiedlichster Themenbereiche, wie etwa der Schaffung des ‚organischen Zusammenhangs‘ in einer bestimmten Argumentationform der Geschichtsschreibung bei Hayden White (vgl. 3.2.2). Mit der Beschwörung des Verlusts dieses ‚organischen Zusammenhangs‘ beschwört Jameson den Verlust eines synthetisierenden Denkkonzepts und damit einer Epoche. Anstatt dem Roman Die Vermessung der Welt eine Verflachung der Rationalitätskritik vorzuwerfen, soll hier die These vertreten werden, dass der Text wie Atte Jongstras De avonturen van Henry II Fix in seiner speziellen Art der Verhandlung der Epoche, in der das Denkkonzept des Organischen erst entsteht, neue Wege findet, die klassische Rationalitätkritik im Sinne des Gegensatzes zwischen Leben und Wissen zu erzählen.¹²⁶ Wie Jongstra über Fix nähert sich auch Die Vermessung der Welt dem Übergang vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert trotz aller ‚Verflachung‘ über die Lebensbeschreibung an. Wo Jongstra die fiktive Figur „Henry II Fix“ entwirft, geht Kehlmann von den zwei bekannten historischen Personen Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß aus. Dem Leben wird das Wissen bei Jongstra in Form des typisch aufklärerischen Ideals der umfassenden Enzyklopädie und des Mechanismus gegenübergestellt, Kehlmann verhandelt darüber hinaus auch die Empirie (Alexander von Humboldts Forschungsreisen) und die Logik (Carl Friedrich Gauß). Die konfliktbeladenen Forscher werden in den vorliegenden Texten nicht als tragische Helden gezeichnet oder psychologisiert, sondern als der Lächerlichkeit preisgegebene Karikaturen präsentiert (vgl. 6.2.3). Die Romane demonstrieren jedoch auch, dass dieser scheinbare Verlust an Tiefgang nicht etwa ein die letzten Jahrzehnte kennzeichnender Prozess ist (wie Jameson oder auch Preußer in ihrer Kritik an der Oberflächlichkeit hervorheben), sondern dass dieser im achtzehnten Jahrhundert mit der Veräußerung des Wissens einsetzt.¹²⁷ Oberflächlichkeit besteht also nicht darin, dass die Behandlung des Problems seicht wird, sondern sie ist der Kern des Problems selber, welchen die Texte ausstellen. Oberflächlichkeit wird damit zu einem Teil der Umcodierung der Verlebendigung von Geschichte. Hier schlägt die Störung der Erlebnisillusion in eine Annäherung im Sinne der Referenzillusion um: Die Distanzerfahrung

126 Auch Stuart Taberner hebt hervor, dass Die Vermessung der Welt neue Wege findet, dem Übergang von Fortschrittsoptimismus zu Relativismus Form zu geben: S. Taberner, S. 257–262. 127 Alexander von Humboldt selbst äußert in „Einleitende Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze“ die Furcht, angesichts des Umstands, dass der „Gegenstand, den ich zu behandeln habe, so unermeßlich und die mir vorgeschriebene Zeit so beschränkt“ ist, in eine „encyclopädische Oberflächlichkeit zu verfallen“, vgl. Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, hg. von Ottmar Ette und Oliver Lubrich, Frankfurt am Main 2004, [1845], S. 9.

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durch Oberflächlichkeit entspricht einer Erfahrung in der vergangenen Wirklichkeit, die beschrieben werden soll. In dem Umstand, dass in Die Vermessung der Welt die oberflächliche Darstellungsweise einer Grundproblematik der beschriebenen Epoche entspricht, kann demnach wieder eine Annäherung an den historischen Gegenstand gesehen werden. Wie Humboldt in seinem Eröffnungsvortrag des ‚Deutschen Naturforscherkongresses‘, zu dem er selbst Gauß bewegen konnte, ganz dem zeitgenössischen Diskurs entsprechend das „Leben durch Stadien wachsender Verbergung seiner Organisation“ beschreibt und Tieren und Menschen dadurch im Gegensatz zu Pflanzen ein verborgenes Inneres bescheinigt (VdW 237/38), beschreibt er exakt das Problem der Oberfläche, die aufzubrechen ist, um zum ‚Eigentlichen‘, der komplexen Organisation des Lebewesens, durchzudringen. Und auch beim Durchbrechen der Oberfläche treten Probleme auf, wenn das Funktionieren des Organismus dargestellt werden soll. Um der Komplexität der Körperfunktionen gerecht zu werden, ist die Flucht in eine abstrakte Abbildung nötig.¹²⁸ Da nicht alle Teile eines Organs gleichzeitig dargestellt werden können, müssen einzelne Teile unter Verlust der Mehrdimensionalität auf einer Fläche nebeneinander gezeigt werden. Gerade um in und nicht auf das Gewebe, das die Organe zusammenhält, schauen zu können, braucht es eine Abstraktion von der dreidimensionalen Darstellung, eine Stilisierung im Sinne einer abstrahierend ‚falschen‘ Wiedergabe. Die Zentralperspektive fällt weg, im Dienste der Wiedergabe eines übergreifenden Zusammenhanges werden Körperteile und -ebenen auf eine in der Realität unmögliche Art und Weise nebeneinander gestellt. Eine Illustration dessen liefert eine der anatomischen Abbildungen in De avonturen van Henry II Fix, die „schematische Studie der Frauenbrust“ (vgl. AHF 131)¹²⁹ Hier wird die Brust mit ihren verschiedenen Elementen nicht nur als Teil des Körpers, sondern in mehreren einzelnen Zeichnungen unter Hervorhebung verschiedener Teile gezeigt. All dies geschieht gleichzeitig auf ein und derselben Zeichnung. Diese Art der Darstellung ermöglicht die Demonstration des Zusammenspiels der Adern, Drüsen und des Gewebes, die in einer einzigen Sichtweise nicht zu veranschaulichen wären. Die Abbildung schematisiert dabei ihr Zeichenobjekt. Einen ähnlichen, illusionsstörenden Ordnungsüberschuss zeigt auch der Roman Die Vermessung der Welt, wenn er die beiden Forscher Gauß und Humboldt

128 Vgl. hierzu Claudia Blümle und Armin Schäfer, Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung. In: Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaft, Zürich/Berlin 2007, S. 9–25. 129 Ähnliche anatomische Abbildungen sind die eines Fuchsdarms, die der menschlichen Nase und die eines Pferdebeins, vgl. AHF 37, 45, 287.

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schematisch als Parallelen skizziert.¹³⁰ Die Erzählinstanz scheint sich nur an die Oberfläche der Figuren und Ereignisse begeben zu wollen, ein Einbruch unter diese Grenze ist, wie Alexander von Humboldts Sturz durch das Eis, geradezu lebensgefährlich (VdW 24/25). Die beiden Forscherpersönlichkeiten Humboldt und Gauß werden nebeneinandergestellt und auf Haupteigenschaften, Gauß als missmutiges Genie, Humboldt als besessen datensammelnder Forscher, reduziert. Der Versuch, die historischen Personen in ihrer Komplexität, etwa durch eine psychologisierende Darstellung zu fassen, wird unterlassen. Die karikaturistische Verzerrung der Hauptfiguren stellt damit in gewisser Weise eine Entzerrung, eine Vereinfachung von Komplexität und damit eine Erleichterung von Immersion, dar.¹³¹ Ein in sich verschlungenes Leben wird in lesbare Flächen aufgelöst. Oberflächliche und tiefere Wahrheit sind nicht mehr zu trennen (vgl. VdW 279). Der Text ist nicht im Sinne von Jamesons Postmodernekritik nostalgisch,¹³² sondern wirft die Problematik der Epoche schon mit seiner Art zu erzählen auf. Aber genau wie in der Enzyklopädie in ihrem wilden Versuch, die ganze Welt zu beschreiben, das Nebeneinandergestellte Verzweigungen bildet, führt auch der Roman Die Vermessung der Welt vor, wie sich in diesem ordentlich strukturierten Aufbau allmählich Unregelmäßigkeiten einschleichen. Ganz entsprechend den Forschungsergebnissen des Mathematikers Gauß wird die glatte Oberfläche brüchig, Parallelen beginnen sich auf bis dahin unvorstellbare Weise zu krümmen. Die für den Roman zentrale und programmatische Krümmungsbewegung ist die des Raums, welche Gauß dem Euklidischen Raumkonzept entgegenhält: Ihm scheine nämlich, daß der euklidische Raum eben nicht, wie es die Kritik der reinen Vernunft behaupte, die Form unserer Anschauung selbst und deshalb aller möglichen Erfahrung vorgeschrieben sei, sondern vielmehr eine Fiktion, ein schöner Traum. Die Wahrheit sei sehr unheimlich: Der Satz, daß zwei gegebene Parallelen einander niemals berührten, sei nie beweisbar gewesen, nicht durch Euklid, nicht durch jemand anderen. Aber er sei keineswegs, wie man immer gemeint habe, offensichtlich! Er, Gauß, vermute nun, daß der Satz nicht stimme. Vielleicht gebe es gar keine Parallelen. Vielleicht lasse der Raum auch zu, daß man, habe man eine Linie und einen Punkt neben ihr, unendlich viele verschiedenen Par-

130 Zur Konzept der Forscherbiografien als Parallelen vgl. Alexander Honold, Ankunft in der Weltliteratur. Abenteuerliche Geschichtsreisen mit Ilija Trojanow und Daniel Kehlmann – Der Globus des Kolonialzeitalters. In: Neue Rundschau, 118/7, 2007, S. 82–104. 131 Katharina Grabbe spricht von einer Distanz durch Stereotypisierung, welche die Figuren zugänglicher macht: „Statt sie mit Individualität auszustatten bleiben sie reduziert auf bestimmte stereotype Zuschreibungen, die sie jedoch als Images ‚deutscher Forscher‘ [...] lesbar machen“: Katharina Grabbe, Deutschland. Images und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990, Diss., Berlin/Boston 2014, S. 199. 132 F. Jameson, S. 63–66.

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allelen durch diesen einen Punkt ziehen könne. Nur eines sei sicher: Der Raum sei faltig, gekrümmt und sehr seltsam. (VdW 95/96)

Die Struktur ist hier eine Fiktion, die einem menschlichen Ordnungsbedürfnis entsprechend nachträglich auf den Raum übertragen wird, der sich jedoch als krumm und schief anstatt gerade und ordentlich erweist. Das Herstellen von Ordnung als ‚unrealistische‘ menschliche Tätigkeit ist eine Denkfigur, welche der Text in verschiedenen Krümmungsbewegungen durchspielt. Dies bedeutet auch eine kritische Revision der Geschichtsschreibung, welche vergangene Wirklichkeit in strukturierten Erzählungen ordnet und beansprucht, dass diese der Wirklichkeit entsprechen. In Die Vermessung der Welt steht die Krümmung für eine Form der Repräsentation von Vergangenheit, die nicht den klassischen Tiefgang in Form der Einfühlung in die historischen Personen verfolgt, sondern die Oberfläche abschreitet und im Vertrauen auf den krummen und unberechenbaren Raum gerade dadurch dem nicht mehr rekonstruierbaren Leben der historischen Persönlichkeiten näher zu kommen versucht, ohne vorzugeben, die Grenze durchbrechen zu können.¹³³ Dieses Vorgehen entspricht Sean Ireton zufolge eher Gauß’ Methodik als Humboldts Empirie, da die Mathematik für eine Praktik stehe, in der Dinge unabhängig von ihrer Existenz konzeptualisiert würden.¹³⁴ Katharina Gerstenberger spricht von einem Modus, in dem die Welt eher imaginiert als verstanden werde:¹³⁵ „Serious and playful at the same time, the work of art maintains a degree of independence from historical reality while at the same time sustaining a connection to the realm of the real.“¹³⁶ Schon die Konzipierung der Geschichte anhand der Lebensläufe der beiden Forscher verhindert eine konsequente Geradlinigkeit. Anstatt das Zeitlose, über die Dinge Erhabene der beiden Forscherpersönlichkeiten darzustellen, konzentriert sich der Text gerade auf alle alltäglichen und skurrilen Momente. In der Erzählung werden gerade die willkürlichen Wendungen im Leben von Gauß und Humboldt ausgestellt, so dass der nicht strikt kausale Verlauf eine weitere Parallele zwischen Erzählung und erzähltem Leben etabliert. Erzählt wird, während die Forscher die Meilensteine ihrer Karrieren setzen, von ihren Zahnarztbesuchen,

133 Vgl. in diesem Zusammenhang die Diskussion über Kehlmanns Realismus: Karina von Tippelskirch, Paradigms and Poetics in Daniel Kehlmann’s ‚Measuring the World‘. In: Symposium, 3, 2009, S. 194–206. Zur „Erprobung der eigenen Möglichkeitsbedingungen realistischen Erzählens“ bei Kehlmann: Stefan Tetzlaff, Messen gegen die Angst und Berechnung des Zufalls. Grundgedanken der Poetik Daniel Kehlmanns. In: textpraxis 4, 2012, Web, 8. August 2013. 134 S.M. Ireton, S. 146. 135 K. Gerstenberger, S. 111. 136 K. Gerstenberger, S. 119.

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ihren Krankheiten und Eitelkeiten. Die Figuren werden auf diese Weise von dem überlieferten Bild entfernt, die Erzählung interessiert sich für Irrwege und Banales und stößt damit die Forscherpersönlichkeiten durch Imaginierung ihres Alltags von ihrem Sockel. Die erzählte historische Epoche erscheint damit nicht als Glanzperiode geistiger Höhenflüge, sondern als von politischer Unsicherheit und lebenspraktischer Härte gezeichnete Zeit, wie Gauß immer wieder bemängelt (vgl. 6.2.2): „Man hatte ihn in die Welt geschickt, mit einem Verstand, der fast alles Menschliche unmöglich machte, in eine Zeit, da jede Unternehmung noch schwer, anstrengend und schmutzig war. Man hatte sich über ihn lustig machen wollen“ (VdW 98). Was Gauß hier beschreibt ist kein Schicksal, sondern die Geschichte schaffende Konzeption des Romans, die gerade aus der Betonung der Diskrepanz zwischen Ambitioniertheit und Brillianz der Forscher und der Unwegsambarkeit ihrer Lebensumstände komische Effekte zieht. Gauß und Humboldt müssen sich stets wieder den Zwängen ihres Umfeldes beugen. Diese Krümmungsbewegung führt bei beiden auch zum Verlust ihrer Integrität, da sie sich politisch instrumentalisieren lassen. So gibt Humboldt alle strategischen Militärstandorte Südamerikas an den nordamerikanischen Präsidenten Jefferson preis (213/214) und wird auch während seiner Russlandreise für politische Zwecke eingesetzt (263-294). Gauß lässt sich erst als französischer und dann als deutscher Beamter für die Landvermessung Westfalens einspannen (VdW 160/181 ff.). Besonders bei der Figur Humboldt mündet diese in diesem Falle menschlichpolitische ‚Verbiegung‘ letztlich in ein tragisches Scheitern, vor welchem Gauß sich durch seinen melancholischen Zynismus von Beginn an verwahrt. Humboldts Forschungsauffassung ist symptomatisch für die Oberflächlichkeit des Wissens: Wo Fix in seinen Zettelkasten ein sich horizontal ausbreitendes, wucherndes Wissen etabliert, sucht Humboldt seinen Wissensdurst durch Reisen zu stillen, auf denen er die Erdoberfläche genau vermisst und die auf ihr wuchernde Vegetation beschreibt. Selbst wenn er bei dieser Inventarisierung des Lebens dabei in das Erdinnere vordringt, kann er nicht weiter als bis zu einer Beschreibung der Oberfläche kommen und ähnelt dabei den Leserinnen und Lesern des Romans, die am historischen Faktum hinter dem Text festhalten und es entdecken wollen. In der gleichen Bewegung baut die Erzählinstanz jedoch auch eine Nähe zur so karikierten Figur auf, was sich vor allem darin äußert, dass nicht nur der Forscher, sondern auch sein Leben erzählt wird. Auf seiner Forschungsreise erleben wir ihn im Kontrast zu Bonpland als Forschungsbesessenen, der die Forschung über jedes körperliche und psychische Wohl stellt. Ohne dabei in einen tragischen Erzählton zu kippen, wird nach seiner Rückkehr jedoch vom Scheitern von jemandem, der sich vermessen hat, berichtet. So bemerkt Humboldt etwa nach seiner Reise lachend: „In Berlin, soviel sei sicher, werde er nie

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wieder wohnen.“ (VdW 216), woraufhin der Text im nächsten Kapitel Humboldt direkt in Berlin beschreibt, wo er als Kammerherr zwangsweise in den Dienst des preußischen Königs getreten ist, also „fürs Essen und Plaudern bezahlt“ wird (VdW 220/221). Gauß muss als Gegenstück zu Humboldt herhalten, da er, ohne sein Haus zu verlassen, den Dingen auf den Grund geht. Gauß unterscheidet sich insofern von Humboldt, als dass er sich der Geschichtlichkeit seiner Forschung etwa als Astronom oder Landvermesser bewusst ist und keinen Wert darauf legt, seinen Namen mit bestimmten historischen Entwicklungen in den Wissenschaften zu verbinden. Erst im Alter erkennt er auch in diesem ganz von der Forschung unabhängigen Ruhm einen Wert (vgl. VdW 273). Seine Weitsicht macht ihn nicht zu einem glücklicheren Zeitgenossen. Schon als kleiner Junge leidet er an Melancholie, soweit diese im bewusst flachen Erzählstil des Romans dargestellt werden kann. So sagt er zu seinem Mentor Bartels: Warum er traurig war? Vielleicht, weil er sah, wie seine Mutter starb. Weil die Welt sich so enttäuschend ausnahm, sobald man erkannte, wie dünn ihr Gewebe war, wie grob gestrickt die Illusion, wie laienhaft vernäht ihre Rückseite. [...] Nicht Wegsehenkönnen war Traurigkeit. Wachsein war Traurigkeit. Erkennen, armer Bartels, war Verzweiflung. Warum, Bartels? Weil die Zeit immer verging. (VdW 59)

Wissen ist damit für Gauß von vornherein mit Schmerz verbunden – das Durchdringen der Oberfläche tut weh. Besonders augenfällig macht dies der Text, wenn Gauß während der Entwicklung seiner bahnbrechenden Berechnungen zum Siebzehneck von Zahnschmerzen geplagt wird (vgl. VdW 81 ff.). Die Durchdringung des gedanklichen Gegenstandes verbindet sich mit der qualvollen Entfernung des entzündeten (und noch dazu eines fälschlich gezogenen) Zahns, welche Gauß’ Körper eine blutende Wunde zufügt. Während Humboldt seinen eigenen Körper zum Untersuchungsgegenstand macht und dabei Lust am Schmerz empfindet (vlg. VdW 31-34), ist Schmerz für Gauß eine Universalerfahrung in engem Zusammenhang mit seinem ‚durchdringendem Wissen:‘ „Wissen war schmerzhaft. Kein Tag verging, an dem er selbst sich nicht weniger davon wünschte“ (VdW 155). Damit ist wieder ein Spiegeleffekt der Ebenen in Gang gesetzt, da auch die historische Erfahrung, das Durchbrechen zur Vergangenheit etwa in die Lebenswelt einer historischen Person wie Gauß – wenn möglich – eine schmerzhafte ist.¹³⁷ Dabei kann der Schmerz jedoch auch einen Moment der Zeitlosigkeit verursachen. Gauß empfindet dies ganz konkret nach dem Ziehen seines entzündeten 137 Vgl. Frank R. Ankersmit, De sublieme historische ervaring, 2. Aufl., Groningen 2007, S. 66ff. Ankersmits Publikation über die sublime historische Erfahrung erschien zunächst in englischer Sprache: Frank R. Ankersmit, Sublime Historical Experience, Stanford 2005.

6.3 Annäherung |

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Zahns: „Als hätte der Schmerz das Ereignis aus seinem Gedächtnis oder aus der Zeit gelöscht, fand er sich Stunden oder auch Tage später, woher sollte er es wissen, in seinem zerwühlten Bett wieder...“ (VdW 84). Doch auch im abstrakten Sinne ermöglicht seine Forschung Zeitlosigkeit. Als Mathematiker weiß er sich einer Zahlensprache zu bedienen, die der empirischen Überprüfung nicht bedarf und doch Aussagen über die Wirklichkeit treffen kann. Ganz zu Beginn seiner Laufbahn steht die Verfassung der Disquisitiones Arithmeticae, eines mathematischen Grundlagenwerkes zur modernen Zahlentheorie, das in seiner Bedeutung für die Mathematik aus der von Gauß stets betonten Zeitlichkeit herausfällt. Es stellt damit einen mehrmals im Roman betonten Moment der Zeitlosigkeit dar. Im Fall von Gauß hängt die Zeitlosigkeit der darin gewonnen Erkenntnisse mit einem weiteren Phänomen zusammen, welches ihn vor allem zu Beginn seiner Karriere beschäftigt: der Zahl. Zu der Modifizierung des euklidischen Raumes kommt Gauß nicht durch empirische Untersuchungen wie Humboldts ‚Vermessung der Welt‘, sondern durch die Ermessung der Möglichkeiten dieser Zahlensprache, die Implikationen für den wirklichen Raum haben. Wie Frank Ankersmit in der für die Geschichtsschreibung grundlegenden Unterscheidung zwischen analytischen und repräsentierendem Sprachgebrauch hervorhebt, ermöglicht die Zahlensprache der Mathematik im Gegensatz zur Alltagssprache, auf welche Geschichtsschreibung wie Literatur angewiesen sind, eine Beschreibung von Wirklichkeit, bei der es keine Vermischung vom Sprechen über die Wirklichkeit mit Sprechen über das Sprechen gibt.¹³⁸ Auch für das historische Erzählen ist der Umgang mit Zahlen, freilich auf eine völlig andere Art und Weise, wichtig: Zahlen tauchen in historischen Erzählungen als Jahreszahlen, also gerade als Signale der Zeitlichkeit, auf, welche die Geschichte chronologisch ordnen. Die historische Erzählung verfügt damit über klare Marker ihrer zeitlichen Tiefenstrukturierung (vgl. 5.2.2). Diese unterstützen den linearen Aufbau der Erzählung, der wie die Linien der Landvermesser Humboldt und später auch Gauß über die Welt gelegt wird. Im Gegensatz zu der mathematischen Zahlensprache bleibt die Beziehung dieses Zahlennetzes zur Wirklichkeit immer fraglich. Durch den Bezug der vermessenen Linien aufeinander beziehungsweise durch die Parallelisierung mehrerer Ereignisstränge innerhalb einer historischen Epoche (wie der beiden Biografien in diesem Roman) konzipieren sowohl Humboldts Vermessungen als auch die Geschichtsschrei-

138 Vgl. Frank R. Ankersmit, Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie, S. 13–38.

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bung einen eigenen Zeitraum, der an den Kontext seiner Entstehung gebunden und damit selbst historisch ist.¹³⁹ Gauß’ Umgang mit den Zahlen soll diesen historischen Zeitraum andeutungsweise außer Kraft setzen. In Gauß’ Wahrnehmung ist der geschichtliche Verlauf so ineinander verschlungen, dass die Möglichkeit besteht, aus einer Zeitschicht heraus andere Zeitschichten wahrzunehmen. Seine logische Begabung befähigt ihn zu einem Verständnis der Geschichte, deren Raumzeit offensichtlich genau so gekrümmt ist wie der von Gauß berechnete Raum: Immer wieder schaut Gauß in die Zukunft und ahnt komfortablere Zeiten, ohne dabei seinen generellen Pessimismus über die Entwicklungsfähigkeit des Menschen zu verlieren. So demonstriert die Figur Gauß die in historischen Texten immer durchscheinende Gegenwart, indem er sich der Historizität der eigenen Lage überaus bewusst ist. Ständig antizipiert Gauß als „Clown der Zukunft“ (VdW 9) technische, historische und wissenschaftliche Entwicklungen der (von der erzählten Zeit des Romans aus gesehenen) Zukunft.¹⁴⁰ Indem der Figur Gauß diese beinahe prophetische Gabe zugedichtet wird, ist der Text „zweidimensional“:¹⁴¹ Er stellt seine eigene gegenwärtige Perspektive aus, die alle geschilderten wissenschaftlichen wie politischen Umstände immer nur mit dem durch den historischen Verlauf angehäuften Wissensvorsprung sehen kann. Diese Ausstellung der eigenen Erzählsituation eines Geschichte erzählenden Textes stört eher die Immersion als die Emersion, da für die Referenzillusion der Verweis auf die Stelle der erzählten Geschichte in der Entwicklung bis zu Gegenwart ein gängiges Mittel ist, Kohärenz herzustellen (vgl. 8.3.2). Auch einen mythischen Ort der Zeitlosigkeit stellt der Text, natürlich ironisch gebrochen, bereit. Den weniger hellsichtigen Figuren wie Humboldt und Gauß’ Sohn Eugen sind zeitlose Momente nur beim sogenannten „Drachenbaum“ auf Teneriffa vergönnt, wo sie in den Widerspruch eines Augenblicks der Zeitlosigkeit versinken. Um Gauß’ Sohn Eugen herum wird an besagtem Baum eine biblische Paradiesszene evoziert (VW 300/301). In der Anspielung auf Adams Benennung der Lebewesen scheint kurz die Möglichkeit einer Welt auf, in der Sprache und außersprachliche Wirklichkeit sich so aufeinander zubewegen, dass sie eins sind. Als Meister solcher magischer Momente wird Gauß in Die Vermessung der Welt

139 Vgl. hierzu Elias’ Ausführungen zum Raum im historischen Roman: A.J. Elias, S. 103-148. 140 Vgl. Gauß’ Prognosen über die Erfindung der Bahn (VdW 8/9), über das Fortbestehen der Herzöge (VdW 61), über Flugzeuge (VdW 66), über Zahnärzte (VdW 82), über Schmerzmittel (VdW 83/84), über Vermessungsmethoden (VdW 191) usw. 141 Vgl. Bart Vervaecks Konzept des ein-, zwei- und dreidimensionalen historischen Erzählens unter 9.1

6.3 Annäherung |

161

zum Alchimisten, dessen mathematische Forschung zu einer Art mystischen Zauberei mutiert (vgl. VdW 273). Das Zuneigegehen des Lebens markiert eine weitere zentrale Krümmungsbewegung des Romans, da letztlich weder Gauß noch Humboldt der Zeitlichkeit entfliehen können. „Was, meine Damen und Herren, ist der Tod?“, fragt Humboldt während einer Akademie sein Publikum (VdW 263). Diese Frage spricht die im geschilderten Leben der Hauptfiguren sehr konkrete Krümmungsbewegung des Alters an. Je älter die beiden Männer werden, desto mehr durchsetzt sich der Text mit ihrem Ächzen und Seufzen. Das Altern als eine unabdingbare Eigenschaft des Lebens betont einmal mehr nicht die Individualität, die Besonderheit der Figuren, sondern ihre Eingebundenheit in allgemeinmenschliche Zusammenhänge. Mit dem Alter wird auch auf den Tod dieser historischen Persönlichkeiten und damit auf den Umstand verwiesen, dass es sich bei Gauß und Humboldt entgegen aller textuellen Wiederbelebungsversuche um bekannte historische Tote handelt, deren zum Teil erhaltenes ‚Lebenswerk‘ sie nicht lebendiger macht. Dementsprechend wird der literarischen Figur Humboldt auch eine gewisse Ermüdung während dieser literarischen Verlebendigung in den Mund gelegt, wenn er „jene sich über Jahre dehnende Erschlaffung“ beklagt (VdW 263). Mit diesen Alterserscheinungen formen sich die ‚flat characters‘ auch allmählich zumindest ansatzweise zu ‚round characters‘, indem ihnen einige unerwartete Regungen zugestanden werden. So schläft Humboldt etwa ganz gegen seine Gewohnheit plötzlich ein (vgl. 280) und Gauß umarmt seinen sonst oft kritisierten Sohn (VdW 296/97). Die Zeit einer Lebensspanne ist zu kurz, um all das angesammelte Wissen zu verarbeiten. Was Gauß schon in jungen Jahren erkennt, kommt im Alter der beiden Forscher um so stärker zum Ausdruck und spiegelt sich ironisch in Gauß’ Beschäftigung mit der Sterbestatistik (VdW 280), die das Problem des Todes auf keine Weise zu lösen vermag. Die letzte Krümmungsbewegung des Romans stellt keinen illusionsstörenden Ordnungsbruch, sondern eher eine illusionsstörende Überstrukturierung dar. Ganz Gauß’ Erkenntnis über die Parallelen entsprechend, krümmen sich im Laufe der Erzählung letztlich auch Gauß’ und Humboldts Lebensläufe allmählich aufeinander zu.¹⁴² So wie Gauß das Krumme und Ungerade auch in der Abstraktion herausfindet, so wie die Vermessungslinien der gekrümmten Erde sich treffen, stoßen die beiden Forscherpersönlichkeiten aufeinander. Humboldt erkennt in den Weiten Russlands die Vorzüge der abstrakten Mathematik (vgl. VdW 280) und Gauß gibt sich der Vermessung des Erdmagnetismus hin (vgl. VdW 271). Diese Nebeneinanderstellung zweier unterschiedlicher Perspektiven und ihre

142 Vgl. A. Honold, S. 82–104.

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letztliche Überschneidung verzweigen sich auch erzähltechnisch in der Verknüpfung der Gedanken Gauß’ und Humboldts, die sich wie telepathisch übertragen (vgl. Kapitel „Die Steppe“, VdW 263-293). Um diese Implikation einer Metastruktur vollkommen zu machen, kreuzen sich schließlich auch noch die typischen Eigenschaften der beiden Forscher (Gauß’ blitzschnelles Denken und Humboldts Bestreben, Neues entdecken und bestimmen zu wollen, vgl. VdW 299-300) in Gauß’ Sohn Eugen, der nach Amerika aufbricht, um ein neues Leben zu beginnen (vgl. Kapitel „Der Baum“, VdW 295-302).¹⁴³ In dieser genauen Entsprechung zwischen Gauß’ Forschung und der Struktur der Erzählung, die Gauß’ Erkenntnisse über die Parallelen zu einer mise-en-abyme-Struktur macht, zeigt die Erzählung eine unwahrscheinliche Ordnung, in der die Ambivalenz zwischen Illusion und Illusionsdurchbrechung wiederum aufscheint. Die Konstruktion ist ‚zu schön um wahr zu sein‘. Wo die Struktur der Geschichte in Bezug auf die Erlebnisillusion noch als (äußerst) stimmiges Universum wirksam sein kann, schlägt die Überstrukturierung in Bezug auf die Referenzillusion als für eine faktuale Erzählung ‚überkonstruiert‘ in eine Illusionsstörung um. Gerade in dem Bestreben, die Komplexität der Wirklichkeit durch Überstrukturierung zu kompensieren, kommt sie jedoch den von ihr selbst beschriebenen Forschern nahe.

6.4 Zusammenfassung Die Frage, ob eine narrative Geschichtsvermittlung erzählerisch Annäherung oder Distanzierung zum Erzählten inszeniert, erhält mit der Verhandlung der historischen Epoche der ‚Aufklärung‘ eine besondere Ladung. Durch das Thema der Aufklärung werden zwei Grunddimensionen des Erzählens in ein besonderes Spannungsverhältnis gesetzt: einerseits eine gewisse Retrospektivität als Voraussetzung des Erzählens, die befähigt, eine Entwicklung mit Anfang und Ende überhaupt erst zu konstruieren und andererseits die Eigenschaft des Erzählens, eine solche Entwicklung dennoch in einer Gegenwärtigkeit zu präsentieren, die eine Offenheit des Ablaufs suggeriert. In Bezug auf die Aufklärung als Erzählgegenstand erhält die Art, in der sie distanzierend als abgeschlossene Entwicklung oder annähernd als ergebnisoffener Prozess dargestellt wird, eine besondere Brisanz. Denn diese Darstellungsproblematik berührt die Frage, inwiefern die

143 In der Sekundärliteratur wird Eugens Bezug zu Gauß und Humboldt während seiner Emigration am Ende des Romans auch als „Aufhebung“ der von den Forschern verkörperten Gegensätze im Hegelschen Sinne bezeichnet: Joshua Kavaloski, Periodicity and National Identity in Daniel Kehlmann’s ‚Die Vermessung der Welt‘. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch, 9, 2010, S. 280.

6.4 Zusammenfassung |

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Aufklärung als unsere Gegenwart noch immer bestimmendes oder als von ihr abzuhebendes, vergangenes Phänomen vermittelt wird. Die Romane De avonturen van Henry II Fix von Atte Jongstra und Die Vermessung der Welt von Daniel Kehlmann führen zwei unterschiedliche Arten vor, diese Problematik zu verhandeln. In De avonturen van Henry II Fix beginnt schon im Paratext die Infragestellung des historischen Erzählens. Der Paratext führt De avonturen van Henry II Fix weder eindeutig als fiktionalen, noch als faktualen Text ein. Anstatt eine bestimmte Erzählform festzulegen, etabliert der Paratext vielmehr die Frage, ob er historisch erzählt. Dadurch stellt er sich selbst als Textsorte aus, in welcher der Status eines anderen Textes ausgehandelt wird. Ein literarischer Text reflektiert hier nicht nur seine eigenen Verfahrensweisen, sondern die ihn umgebenden Kontextualisierungsstrategien und die sprachpragmatische Kommunikationssituation, in der er steht. Gerade dadurch wird deutlich, dass sich die Fiktionalität oder Faktualität eines Textes nicht auf textinterne Eigenschaften bezieht, sondern auf die Formierung von Haltungen gegenüber dem Text im Produktions- und Rezeptionsprozess. Da der Paratext in De avonturen van Henry II Fix zudem ein (scheinbar) historisches Dokument rahmt, bedeutet dies zugleich eine implizite historiografische Reflexion auf die Beeinflussung der Rezeption faktualer Texte wie zum Beispiel historischer Quellen: Paratextuelle Elemente wie Vorworte sind als Hinführung zum ‚eigentlichen‘ Text gemeint. Gleichzeitig stellt die Existenz von paratextuellen Stützen in der Signalisierung von Erklärungsbedürftigkeit eine Distanz zum paratextuell gerahmten Text her (vgl. 6.2.1). Der Paratext in De avonturen van Henry II Fix changiert zwischen dieser Annäherungs- und Distanzierungsbewegung, auch im Hinblick auf Inhaltsverzeichnis und Endnoten, die Ordnung zurückweisen und gerade dadurch Wirklichkeitsbezug beanspruchen. Indem der Paratext Form und Struktur der Texte von Zeitgenossen seiner Romanfigur imitiert, nähert er sich durch diese spezielle Immersion über die Form wieder einer Referenzillusion an (vgl. 6.2.1). Wiederum reflektiert der Text selbst diese besondere Art, die Immersion einer Erzählung nicht bezogen auf die von ihr geschaffene Erzählwelt emersiv zu intensivieren, sondern in Bezug auf die formal gesteuerte textuelle Atmosphäre: In der Inszenierung von Fix’ Erzählung als Mahlzeit wird die immersive Dimension der sinnlichen Erfahrbarkeit von Textualität betont. Fix’ Dokumente werden für den Autor-Erzähler Jongstra zu einer Mahlzeit, durch deren Genuss er wiederum den Lesenden Fix’ Autobiografie als Binnenerzählung servieren kann: Geschichtsschreibung ist eine Äußerung, die auf Vereinnahmung beruht (vgl. 6.3.1). Während in De avonturen van Henry II Fix Referenz- und Erlebnisillusion nicht nur aufgerufen, sondern von vornherein auch ausgestellt und reflektiert werden, funktioniert die Dynamik zwischen Distanzierung und Annäherung in Die Vermessung der Welt umgekehrt: Die Erzählung evoziert zunächst die klassi-

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sche Erzählsituation des historischen Romans, in der Immersion und Emersion sich gegenseitig verstärken und entzieht diesem Erzählen langsam die Grundlage. Durch Rücknahme der erzählerischen Unvermitteltheit in der indirekten Rede, durch Erzählebenenüberschreitung und implizite Metafiktion wird die Erlebnisillusion allmählich geschwächt (vgl. 6.2.2). Die komplexe Wechselwirkung zwischen Immersion und Emersion zeigt sich sowohl in Die Vermessung der Welt als auch in De avonturen van Henry II Fix in Bezug auf die Karikierung der Hauptfiguren: Einerseits stört sie die Erlebnisillusion, andererseits erleichtert sie das Einleben in die Textwelt durch ihre Komplexitätsreduktion. Je nach dem Grad, in dem die Figuren als übertrieben konzipiert werden, kann diese Form der Erlebnisillusion und ihre Störung die Referenzillusion stärken oder schwächen (vgl. 6.3.3). In Die Vermessung der Welt werden über die auf Forschertypen reduzierten Hauptfiguren Humboldt und Gauß zugleich historiografische Reflexionen in die Erzählwelt integriert: So bleibt die Erlebnisillusion intakt, während die Referenzillusion in Frage gestellt wird. Wenn eine karikierte historische Figur wie Humboldt idealisierende Geschichtsschreibung betreibt, führt die Erzählung vor Augen, wie prekär der Realismusanspruch in der Geschichtsschreibung sein kann: Die Idealisierung von historischen Personen verzerrt das Bild nicht weniger als ihre Karikierung (vgl. 6.2.3). Während so der Versuch, die Vergangenheit erzählerisch adäquat wiederzugeben, relativiert wird, testen die beiden Romane auch neue Wege einer erzählerischen Annäherung an die Vergangenheit im Sinne einer glaubwürdigen Repräsentation aus. In De avonturen van Henry II Fix werden einerseits verschiedene Arten, in denen Erzählungen das Teil zum Ganzen in Beziehung setzen und dadurch Ordnungsstrukturen schaffen können, reflektiert. So enttäuscht schon das paratextuelle Element des Inhaltsverzeichnisses in der Zusammenführung von Disparaten das Bedürfnis nach textueller Strukturierung chaotischer Wirklichkeit und macht so erst auf diesen Anspruch aufmerksam, der an faktuale Texte gestellt wird (vgl. 6.2.1). Der Text verharrt jedoch nicht in dieser reflexiven Distanz, sondern spielt eine mögliche Version der textuellen ‚Verlebendigung‘ von Vergangenheit durch. ‚Verlebendigung‘ bezieht sich dabei auf die textuelle Evokation vergangenen menschlichen Lebens, die in der Analogie eines in enzyklopädischer Verweisstruktur organisierten Textes mit einem menschlichen Organismus gesucht wird. Während die schwache Strukturierung des Textes Immersion mitunter stört, soll sie im Denkrahmen dieser Analogie Emersion stärken, auch wenn sie sich nicht auf Belege stützt (vgl. 6.3.2). Die Erzählung Die Vermessung der Welt schlägt wiederum einen anderen Weg ein: Sie kommt gerade in ihrer oberflächlichen Darstellung einem Kernproblem der von ihr beschriebenen Epoche nahe, nämlich komplexe Phänomene beschreiben zu wollen und dabei doch nur an der Oberfläche zu bleiben. Eine andere Gefahr ist die Über-

6.4 Zusammenfassung |

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strukturierung der Darstellung (eine „mechanistische“ Organisation des Textes in der Formulierung Whites, vgl. 6.3.2), die eine unrealistische Ordnung herstellt. Die Vermessung der Welt führt vor, wie Versuche, eine in sich schlüssigen Struktur hervorzubringen, immer wieder zum Scheitern verurteilt sind. So wird die innere Stimmigkeit der Erzählung in der Konzeption der aufeinander zulaufenden Lebensläufe Humboldts und Gauß’ schließlich so groß, dass sie die Referenzillusion schwächt (vgl. 6.3.3).

7 Besetztes Gebiet: Koloniale Vergangenheit erzählen 7.1 Hinführung: Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet und Louis Ferrons Tinpest Wenn diese Studie das historische Erzählen als Dynamik zwischen Distanzierung von und Annäherung an etwas Unerreichbares, Ungreifbares konzeptualisiert, nähert sie sich den theoretischen Ausgangspunkten der Post-Colonial Studies an. Man kann die Post-Colonial Studies mit Ashcroft, Griffiths und Tiffin als „reading strategy“ verstehen, die neben der Auseinandersetzung mit postkolonialer Literatur auch die Beschreibung kolonialer Codes und Diskurse zum Ziel hat.¹ Diese kritische Betrachtungsweise autoritärer Versuche, das unverstandene Andere begreifbar und beherrschbar zu machen, schließt die Analyse des Erzählens von Geschichte in Literatur ein. Wenn etwa die „literarische Aneignung von Geschichte im Roman“² thematisiert wird, deutet der Begriff der „Aneignung“ die Geschichte als Fremdelement in der Literatur an, das in gewisser Weise den Status des literarischen Textes bedroht und durch eine Aneignungsbewegung neutralisiert werden muss. Innerhalb der Post-Colonial Studies kippt der Begriff der „Aneignung“, in der stoischen Philosophie als Trieb der Selbsterhaltung entworfen, ins Negative, da er als einseitige Beziehung zum Anderen und Unbekannten ausgelegt wird.³ Die Einseitigkeit dieses Aneignungsvorganges wird ebenfalls betont in Bezug auf die Art, wie sich die Geschichtsschreibung auf die von ihr beschriebene Vergangenheit bezieht: Es geht darum, sich die Vergangenheit zu eigen zu machen, sie in die eigenen Wertvorstellungen zu integrieren, territorial gesprochen: Besitz von ihr zu ergreifen. Wie Ashcroft, Griffith und Tiffin ausführen, spiegele das Vorhaben der historischen ‚Rekonstruktion‘ selbst den eurozentrischen Besitzanspruch wider. Nicht umsonst zitieren sie Hayden Whites Metahistory, um schon die Idee des Geschichtsbewusstseins als Vorgang der Besitzergreifung und Kontrolle des

1 Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin, The Empire Writes Back. Theory and practice in post-colonial literatures, 2. Aufl., London/New York 2002. Zu Post-Colonial Studies als „reading strategy“ S. 186-192, zur Beschreibung europäischer Codes und Diskurse zusammenfassend S. 220ff. 2 A. Nünning, Von historischer Fiktion, 1.2 „Die literarische Aneignung von Geschichte im Roman“, S. 58. 3 Vgl. die Skizzierung der Debatte über „cultural appropriation“ in Michael Franz, Aneignung. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, 2000, S. 154.

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Anderen zu markieren:⁴ „In short, it is possible to view historical consciousness as a specifically Western prejudice by which the presumed superiority of modern, industrial society can be retroactively substantiated.“⁵ Der Prozess der „Rekonstruktion“ der Vergangenheit ist so zum gezielten Aneignungsvorgang geworden, bei dem unter dem Vorwand der bloßen Rekonstruktion von Dagewesenem eine Geschichte konstruiert wird, welche die eigene Ideologie bestätigt.⁶ Die Vergangenheit als ‚Gegenüber‘ der Geschichtsschreibung, das sich durch seine irgendwie zu überbrückende Abwesenheit definiert, wurde von verschiedenen Geschichtstheoretikern als das unbeherrschbare Andere konzeptualisiert. In L’Absent de l’Histoire beschreibt Michel de Certeau die Geschichte als ebendieses Andere (vgl. 3.3.1) von dem man sich bewusst abgrenzen müsse, um sich seiner selbst zu vergewissern.⁷ Die Geschichtsschreibung der Moderne verlagert damit die ihr eigene Subjekt-Objekt-Problematik auf die Geschichte. Der Bezug zur Geschichte seit der Frühmoderne vollzieht sich in dem „Bewußtsein, daß die Geschichte nicht eine rückwärtsgewandte Verlängerung der Gegenwart ist, sondern daß die Vergangenheit wesentlich anders ist als die Gegenwart“.⁸ Vergangenheit und Gegenwart werden nicht mehr durch Traditionsbildung als Kontinuum erfahren. Die moderne Geschichtsauffassung durchtrennt die „Nabelschnur der Tradition“ und macht so die „Erfahrung eines Bruchs beziehungsweise fundamentaler Diskontinuität“ zum Ausgangspunkt der Betrachtung von Geschichte.⁹ David Lowenthal benutzt eine räumliche Metapher, um dieses Verhältnis zur vergangenen Zeit anschaulich zu machen: Ihm zufolge „ist die Vergangenheit für uns ‚ein fremdes Land‘ geworden, in dem wir uns unverbindlich wie Touristen umschauen“.¹⁰ Schon in der Metapher von der Geschichte als fremdem Land fällt auf, dass die Verschränkung von Geschichtsbewusstsein und kolonialer Besitzergreifung immer auch eine Verschränkung zeitlicher und räumlicher Dimensionen bedeutet. In Whites Ausführungen zur Idee des Geschichtsbewusstseins als spezifisch westlichem Vorurteil sticht dies besonders hervor:

4 B. Ashcroft, G. Griffith und H. Tiffin, S. 160. 5 H. White, Metahistory, S. 2. 6 Ansätze der hier dargelegten Überlegungen zum Zusammenhang zwischen der Analyse von Geschichtserzählungen in der Literatur und den Post-Colonial Studies waren auch Grundlage meiner veröffentlichten Analyse von Geert Maks Het Stadspaleis: B. van Dam, ‚Teken de wisseling der dingen‘. Textuelle Verarbeitung von Vergangenheit in Geert Maks Het Stadspaleis. 7 Michel de Certeau, L’Absent de l’Histoire, Paris 1973, S. 174. 8 C. Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit, S. 362. 9 C. Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit, S. 362. 10 C. Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit, S. 365 im Verweis auf David Lowenthal, The past is a foreign country, Cambridge 1995.

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[T]he historical consciousness on which Western man has prided himself since the beginning of the nineteenth century may be little more than a theoretical basis for the ideological position from which Western civilization views its relationship not only to cultures and civilizations preceding it, but also those contemporary with it in time and contiguous with it in space.¹¹

Die Betrachtung einer Kultur, die zur gleichen Zeit an einem anderen Ort existiert, wird hier gleichgesetzt mit der Betrachtung einer Kultur, die zu einer anderen Zeit am gleichen Ort existierte. Die eigene Vergangenheit wird mit derselben Voreingenommenheit betrachtet wie andere Kulturräume, die zur gleichen Zeit bestehen. Wichtig ist die Möglichkeit zur Identifikation mit einem der beiden Bestandteile (der gleiche Raum oder die gleiche Zeit), welche eine Verortung der Perspektive ermöglicht, so dass die ‚andere‘ Zeit beziehungsweise der ‚andere‘ Ort definiert und beurteilt werden kann. Ohne sich aus dieser westlichen Perspektive befreien zu wollen, gibt es Texte in der niederländisch- und deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, welche die Überschneidung von kolonialer und historischer Perspektive vorführen.¹² Sie kombinieren die Perspektive des Blicks in eine andere Zeit im historischen Erzählen mit dem Erzählen einer kolonialen Bewegung in einen anderen Raum, so dass die Lesenden sowohl mit einer anderen Zeit als auch mit einem anderen Raum konfrontiert werden. Durch diese Verschränkung spiegelt sich in der Erzählung die eigene Leseerfahrung: Wo die Figuren sich in einem anderen Raum zurechtfinden müssen, sind die Lesenden in eine andere Zeit versetzt.¹³ Der Blick wird zeitlich wie örtlich ‚verrückt‘, was in beiden Erzählungen mit Wahnvorstellungen der Figuren korrespondiert. Denn sowohl die zeitliche Bewegung der Leserinnen und Leser in die um so doppeldeutiger schillernde ‚Geschichte‘ als auch die gleichzeitig mit den Figuren vollzogene räumliche Bewegung in die Kolonie

11 H. White, Metahistory, S. 2. 12 Amy Elias charakterisiert diese Literatur als „postmodern“ (im Gegensatz zu „postkolonial“) und bemängelt insofern ihre Begrenztheit, als dass sie westlichen Imperialismus zwar beschreibe und kritisiere, jedoch keine Alternative aufzeige und die Geschichte nicht als offen und vielschichtig präsentiere (vgl. A.J. Elias, S. 181–220 „Western Modernity versus Postcolonial Metahistory“). Diese Beurteilung soll hier dahingehend differenziert werden, dass die laut Elias deutlich herausgestellte Projektion in diesen Texten gerade eine Öffnung hin zu einem dynamischen Geschichtsbild bewirken kann (vgl. 7.2.2 und 7.3.2). 13 Christof Hamann und Alexander Honold heben diese Verschränkung von Lektüreerfahrung und Thema der Erzählung im Zusammenhang mit der inszenierten (historischen) Entdeckungsreise von Literatur hervor, wenn sie diese „als Medium fremder Erfahrung [...] und zugleich als ein Medium der Erfahrung des Fremden beschreiben, vgl. Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen, hg. von Christof Hamann und Alexander Honold, Poiesis. Standpunkte der Gegenwartsliteratur 5, Göttingen 2009, S. 11.

7.1 Hinführung |

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ist keine positiv konnotierte „(Zeit-)Reise“, sondern eine Deplatzierung, welche Abwehrmechanismen hervorruft. Während die Figuren sich misstrauisch in Bollwerken verschanzen, fordert auch der Text die Leserinnen und Leser zu Skepsis heraus. Beide stoßen immer nur an die Oberfläche der anderen Welt und wollen doch ihren Eroberungszug nicht aufgeben. Aus dieser defensiven Position heraus werden immer wieder Versuche unternommen, in die Welt des Anderen einzudringen. Zwischen Angriff und Rückzug entfaltet sich die Dynamik historischen Erzählens in der Literatur. Die in dieser Arbeit verfolgten Parameter der Distanzierung und der Annäherung als Grundmerkmale des historischen Erzählens in der Literatur kommen also in der speziellen Verschränkung mit der kolonialen Bewegung im Raum zum Tragen. In Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet¹⁴ wird die Geschichte einer Gruppe deutscher Emigranten erzählt, die sich in der fiktiven deutsch-afrikanischen Kolonie „Tola“ mit dem wahnwitzigen und zum Scheitern verurteilten Plan niederlassen, einen deutschen Wald nebst Siedlerkolonie in der afrikanischen Steppe anzulegen. In der ehemaligen französischen Festung Ben¯esi entsteht eine illustre Gesellschaft, deren europäische Vergangenheit in Analepsen erzählt wird. Initiatoren des Projekts sind der Verwalter Ludwig Gerber, ein um sein Erbe gebrachter Sohn eines bayrischen Holzfabrikanten, sowie seine geschiedene Schwester Käthe. Für militärische Sicherheit und martialische Bestrafung der afrikanischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter sorgt der kaisertreue Offizier Schirach, für die körperliche Gesundheit der drogenabhängige Arzt Brückner. Neben weiteren Figuren wie dem Forschungsreisenden Dr. Lautenschlager und dem Gefreiten und Postbeauftragten Käutner spielt der amerikanisch-deutsche Architektassistent Henry Peters eine wichtige Rolle: Nach einem Schiffsunglück auf der Hinreise, bei dem auch seine Verlobte stirbt, gibt sich der einzige Überlebende Henry auf der Festung als sein Chef Selwin aus. Aus wechselnden Perspektiven wird über den Fortgang des Projekts berichtet, das isoliert bleibt, da der deutsche Verwaltungsapparat und die Kommunikationswege in Tola sich als reine Fassaden erweisen. Es endet in der Katastrophe eines Brandes, der vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges flankiert wird. Auch in Louis Ferrons Tinpest¹⁵ (zu deutsch: „Zinnpest“) bilden die Weltkriege den bedrohlichen Hintergrund für die Handlung des Romans. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs flaniert Lieutenant Arthur von Lauersperg durch die Straßen des prunkvollen Wiens als der Metropole des (untergehenden) österreichisch-

14 Thomas von Steinaecker, Schutzgebiet, Frankfurt am Main 2009. In der Analyse abgekürzt als „SG“. 15 Louis Ferron, Tinpest, Amsterdam 1997. In der Analyse abgekürzt als „TP“.

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ungarischen Kaiserreiches. Nach einem verhängnisvollen Besuch der berühmten Kapuzinergruft in Begleitung eines Nähmädchens wird Lauersperg aufgrund des Verdachts auf revolutionäre Gesinnung in den Kaukasus strafversetzt. Seine Begleitung stellte sich als Mädchen jüdischer Herkunft heraus, was zusammen mit der „Zinnpest“, von der Lauersperg ihr in der Gruft neben anderen Geschichten belustigend erzählte, ausreichend Anlass für die Versetzung gibt: Lauersperg behauptet, dass das Zinn der Sarkophage sich durch „Zinnpest“ langsam zersetze und dabei ein kreischendes Geräusch entwickele, das sich mit dem Schreien der in die Sarkophage eingeschlossenen Toten vermische. Lauersperg reist mit dem Schiff zu seiner neuen Bestimmung und lernt dort den Hadsch Murab kennen, einen Rebellenführer, der mit den Österreichern kollaboriert. Unter Murabs Befehl lässt sich Lauersperg mit seinem Bataillon, zu dem sein Knecht Wolf Fassbaender, der Sergeant Meinrad und der „Soldat zweiter Klasse“ Fritz Muliar zählen, in einem Fort in der Wüste nieder. Dort verharrt die Besatzung für einen unabsehbar langen Zeitraum, in dem niemals ein Feind auftaucht, gegen den das Fort verteidigt werden müsste. Stattdessen haben die Festungsinsassen mit zunehmenden Wahnvorstellungen und Fata Morganas in der sie umgebenden Wüste zu kämpfen. Parallel wird die Geschichte des in Österreich verbleibenden Freundes Lauerpergs, Dell’ Adami, erzählt, der Lauerspergs Freundin Anna-Thekla heiratet und sich nach dem Ende des ersten Weltkriegs in faschistischen Organisationen (Deutschlands) hocharbeitet. Das Buch beginnt und schließt mit dem nach Lauersperg benannten Sohn Dell’Adamis, Arthur Dell’ Adami, der schwer verwundet auf einem nicht weiter definierten Kriegsschauplatz des Zweiten Weltkrieges auf einen rätselhaften Alten trifft, der ihm vom ewigen Kreislauf der Gewalt erzählt. Die folgende Analyse vergleicht mit Ferrons Tinpest und Von Steinaeckers Schutzgebiet zwei thematisch eng zusammenhängende Romane, die von sehr unterschiedlichen Autoren stammen. Der 2005 verstorbene Niederländer Louis Ferron kann inzwischen zum Altmeister des sogenannten postmodernen historischen Romans im niederländischsprachigen Raum gezählt werden.¹⁶ Von seinen zahlreichen historischen Romanen sind vor allem seine „Teutonische Trilogie“¹⁷

16 Vgl. dazu Elisabeth Wesseling, Louis Ferron en de historische roman. In: Forum lett., 28/1, 1987, 24–34, sowie Bart Vervaeck, Woordloos beschrijven. Postmoderne aspecten in Turkenvespers van Louis Ferron. In: Dietsche warande Belfort, 141/1, 1996, S. 118–129. Neuerdings werden Ferrons historische Romane jedoch auch betont unpostmodern auf eine stabilen Wirklichkeitsbezug hin gelesen: Jan Konst, Alles waan. Louis Ferron en het derde rijk, Amsterdam 2015. 17 Louis Ferron, Gekkenschemer, Amsterdam 1974. Louis Ferron, Het stierenoffer, Amsterdam 1975. Louis Ferron, De keisnijder van Fichtenwald, Amsterdam 1976. Eine zusammenfassende Besprechung der Trilogie bietet Daan Cartens, De verlossing van het kwade. De ‚Duitse‘ romans

7.1 Hinführung |

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über Vorbedingungen, Entstehung und Ausformung des deutschen Faschismus vom neunzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert und sein wie Tinpest im alten Wien angesiedelter Roman Turkenvespers¹⁸ (deutsch: „Türkenvespern“) bekannt. Tinpest zählt zu seinem Spätwerk und wird in der Literaturkritik als ein die Geschichte ausschmückendes und ihr gleichzeitig entweichendes, in jedem Falle experimentelles Erzählen umschrieben.¹⁹ Thomas von Steinaecker hingegen zählt zur deutschen Nachwuchsliteratur und debütierte 2007 mit seinem Familienroman Wallner beginnt zu fliegen.²⁰ Schutzgebiet ist nach dem Comicroman Geister²¹ (2008) von Steinaeckers dritter Roman. Ob es sich dabei um einen historischen Roman handelt, wird in der Kritik kontrovers diskutiert. Man attestiert Steinaecker eine neuartige Weise, Geschichte zu erzählen, die das Faktengerüst der Geschichte ganz ähnlich wie bei Ferron lediglich als (verfremdete) Kulisse benutze, um historische Visionen und Träume vorzuführen.²²

van Louis Ferron. In: Bzzlletin, 9/80, 1980-1981, S. 41–45 (Special edition on Louis Ferron). Trotz der sein Werk dominierenden Thematisierung deutscher und österreichischer Geschichte wurde Louis Ferron bis dato noch nicht ins Deutsche übersetzt. 18 Louis Ferron, Turkenvespers, Amsterdam 1977. 19 Laut T. van Deel handelt es sich bei dem Buch nicht um einen historischen Roman, sondern um ein Theaterstück in historischem Dekor, das sich aus Zitaten und Verweisen zusammensetze, vgl. T. van Deel, Hoor je ‘m? De pest... Zelfs de glorierijkste onzer Habsburgers laat hij niet met rust. In: Trouw, 12. Dezember 1997, LexisNexis, Web, 1. März 2011. Willem Kuipers betont den ornamentalen Erzählstil des Romans, der im Gegensatz zur im Roman selbst beschriebenen modernistischen Kunst sehr wohl von seinem Gegenstand ablenke, vgl. Willem Kuipers, Ik woon nu eenmaal in vroeger. In: De Volkskrant, 24. Dezember 1997, LexisNexis, Web, 1. März 2011. Arnold Heumakers zufolge sind die Lesenden in diesem Buch wie die orientierungslosen Reisenden in der Geschichte und können in diesem kaleidoskopischen Schauspiel keinen Halt finden, vgl. Arnold Heumakers, Geen uitweg uit het verval. Groteske roman van Louis Ferron. In: NRC Handelsblad, 9. Januar 1998, LexisNexis, Web, 1 März 2011. Auch Anemiek Neefjes beurteilt den vorliegenden Text nicht als traditionellen historischen Roman, sondern als eine Erzählung, für welche in ihrem expressionistischen Stil die dramatischen Episoden der Geschichte lediglich als „Operettendekor“ dienen, vgl. Anemiek Neefjes, De geschiedenis gaat eeuwig ten onder. In: Vrij Nederland, 31. Januar 1998, LexisNexis, Web, 2. März 2011. Für Bart Vervaeck stellt der Roman eine Rückkehr zur postmodernistischen Erzählung dar, mit welcher Ferron an seinen Schreibstil vor den Achtzigerjahren anschließe, vgl. Bart Vervaeck, Sukkels op sokkels. In: De Morgen, 7. Mai 1998, LexisNexis, Web, 1. März 2011. 20 Thomas von Steinaecker, Wallner beginnt zu fliegen, Frankfurt am Main 2007. 21 Thomas von Steinaecker, Geister, Frankfurt am Main 2008. 22 Laut Kolja Mensing verhandelt Schutzgebiet die koloniale Vergangenheit jenseits politisch korrekter Rekonstruktion in spielerischen Variationen von Wirklichkeitsverlust neu: Kolja Mensing, Unter Nilpferden. Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet. In: Deutschlandradio Kultur, 28. August 2009, Web, 1. März 2011. Für Dietmar Jacobsen ist die Geschichte in von Steinaeckers Roman lediglich „exotische Kulisse“, siehe Dietmar Jacobsen, Thomas von Steinaeckers Schutz-

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In der Rezeption beider Texte zeigt sich wiederum, dass sie Geschichte zwar einerseits in einer annähernden Bewegung aufgreifen, sich aber andererseits auch immer wieder distanzieren, indem sie den Eindruck einer Geschichtsrekonstruktion zurückzuweisen versuchen. Beide Romane erzählen vom Beginn des Endes des Imperialismus, vom letzten Aufbäumen der Großmächte vor den Katastrophen der Weltkriege und finden ähnliche Bilder und Verfahren. Im Wechselspiel zwischen Distanzierung und Annäherung dient die erzählte koloniale Besetzung immer als Negativfolie für das historische Erzählen, da sie die Unmöglichkeit einer unvoreingenommenen Annäherung vor Augen führt. Anders gesagt: Die Texte nehmen die Erzählung eines einseitigen kolonialen Besetzungsvorgangs zum Ausgangspunkt für ein historisches Erzählen, das im Gegensatz zu dieser Besetzung seine Widersprüchlichkeit zwischen Distanz und Nähe nicht versteckt.

gebiet. Unsicherheitsfaktor Mensch. In: Poetenladen, hg. von Andreas Heidtmann, 24. September 2009, Web, 1. März 2011. Schutzgebiet sei „nichts weniger als ein historischer Roman“, stellt Nico Bleutge fest: Nico Bleutge, Das deutsche Reich in Afrika. Thomas von Steinaeckers Roman erfindet ein neues Kapitel in der Geschichte des Kolonialismus. In: Neue Zürcher Zeitung, 21. Oktober 2009, Web, 2. März 2011. Sigrid Löffler stuft Schutzgebiet nicht als „historisch-kritischen“, sondern als „avantgardistischen Kolonialroman“ ein, der „Hirngespinsten [...] ohne Rücksicht auf die realen Gegebenheiten“ nachgeht und damit zur „Trashvariante“ des Abenteuerromans wird: Sigrid Löffler, Löfflers Lektüren. In: Deutsche Welle, 6. November 2009, Web, 1. März 2011 . Laut Catharina Koller ist Schutzgebiet „kein Kolonialzeitroman, sondern ein Text, der mit der Erzählbarkeit von Zeitgeschehen spielt“ – Catharina Koller, Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet. O Tannenbaum! In: Frankfurter Rundschau, 8. Dezember 2009, Web, 1. März 2011. Nicht alle Rezensentinnen und Rezensenten bewerten diese neue Art zu erzählen positiv. Während Andreas Platthaus es als wohltuend gegenüber anderen Romanen über die Kolonialzeit herausstellt, dass Schutzgebiet „kein Versuch [ist], eine historische Epoche zu rekonstruieren“ (Andreas Platthaus, Thomas von Steinaecker. Schutzgebiet – Getriebene Gäste auf der dunklen Erde. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Oktober 2009, Web, 1. März 2011), beklagt Burkhard Müller, dass von Steinaecker sich nicht von der „Historie unter die Arme“ greifen lasse: Burkard Müller, Ein bayerischer Wald in der Savanne. Thomas von Steinaecker erfindet die deutsche Kolonialgeschichte neu. In: Süddeutsche Zeitung, 2. November 2009, Süddeutsche Zeitung Archiv, Web, 1. März 2011. Andere Kritiker sehen den Roman vor allem als Persiflage: Für Christoph Schröder ist Schutzgebiet „ein postkolonialistischer Roman aus der Kolonialzeit, eine Erzählung von Sehnsüchten und verlorenen Träumen, vor allem aber ein riesengroßer Spaß, den sich von Steinaecker auf dem Rücken deutscher Klischees und Mythen macht“ – Christoph Schröder, Utopie des Neubeginns. Thomas von Steinaeckers lustvolle Inszenierung deutscher Klischees. In: Tagesspiegel, 3. Januar 2010, Web, 1. März 2011.

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7.2 Distanzierung 7.2.1 Unvereinbare Positionen: Kampf Das Erzählen von kämpferischen Auseinandersetzungen bietet ideale Voraussetzungen, innerhalb einer kohärent aufgebauten, immersiven Erzählwelt (Bedeutungs-)Besetzungsvorgänge durchzuspielen und damit die Voraussetzungen der eigenen Erzählung, speziell in Bezug auf faktuales Erzählen, darzustellen: Je lückenloser und konsequenter eine Erzählwelt mit Wirklichkeitsanspruch aufgebaut wird, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dem, was erzählerisch wiedergegeben werden soll, im narrativen Aneignungsvorgang ‚Gewalt anzutun‘, um es repräsentieren zu können. Im Kontext des Kolonialismus lässt sich eine solche gewaltsam erzwungene Annäherung anschaulich machen. Weil sowohl Tinpest als auch Schutzgebiet von vornherein die Hoffnungslosigkeit und das Scheitern einer solchen gewaltsamen Annäherung betonen, wird der koloniale Kampf hier zu einer unter falschen Voraussetzungen geführten Auseinandersetzung, die zu unüberbrückbaren Abständen, Selbstentfremdung und erstarrter Isolation (ausgedrückt im Bild der Festung beziehungsweise des Forts) führt. Die beiden Texte beschreiben die Grundlage der scheinbar gut konzipierten kolonialen Offensive als labil. Das Scheitern systematischen und planbaren Vorgehens lässt sich auch auf das historische Erzählen in diesen Texten übertragen: Es droht den Gegenstand, dem es sich annähern will, durch die eigene Voreingenommenheit immer wieder zu verdrängen. Auffälligerweise ist das Geschehen, in das beide behandelten Romane ihre Lesenden zu Beginn ihrer Erzählung versetzen, eine Kampfszene (vgl. 7.3.3).²³ In Ferrons Tinpest erleben wir den Romanbeginn aus der Perspektive eines verwundeten Soldaten, der „hier und da ein grauenerweckendes Auge glänzen und Bajonette im Licht einer untergehenden Sonne funkeln“²⁴ (TP 7) sieht. Im Verweis auf die historische Waffe des „Bajonetts“ wird hier implizit ein geschichtlicher Kontext angedeutet. In von Steinaeckers Schutzgebiet blicken wir durch die Augen eines Franzosen, Colonel Durand, auf eine Gruppe deutscher „Verrückter“, welche im Gegensatz zu „Bismarckburg“ auch unter Beschuss ihren Stützpunkt nicht aufgeben will (vgl. SG 9). Der mit dem Namen Bismarck verbundene deutschfranzösische Konflikt deutet in dieser szenischen Erzählung vage eine ungefähre historische Verortung an. Egal ob von innen oder von außen betrachtet, in bei-

23 „Wir springen mitten hinein in die Schlacht“, bemerkt Andreas Platthaus zum Romananfang von Schutzgebiet, siehe A. Platthaus, „Getriebene Gäste auf der dunklen Erde“. 24 „[...] hier en daar een gruwelijk oog blinken en bajonetten fonkelen in het licht van een ondergaande zon“ (TP 7).

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den Texten befinden sich Menschen in der Defensive, wobei der genaue Kontext der jeweiligen Niederlage nicht erklärt wird. In beiden Texten wollen die „Verzweifelten“ den Kampf, in dem sie stehen, tunlichst beenden, notfalls dadurch, dass sie sich durch Selbstmord ihrer Lage entziehen. In Schutzgebiet macht eine Figur – für Colonel Durand bleibt im Sinne postkolonialer Grenzverwischung bezeichnenderweise undeutlich, ob es „[e]in braungebrannter Dünner“ oder „ein Eingeborener“ ist – über die Zinnen des Turmes hinweg einen Schritt „[i]n die Luft“ (SG 10, vgl. 7.3.2 und 7.3.3). Der Hauptfigur in Tinpest bleibt so ein ‚befreiender Akt‘ verwehrt. Dafür gibt er seinen Fluchtfantasien in einem inneren Monolog Ausdruck: „Maak er een einde aan“, had hij die geëxplodeerde lappenwinkel willen toeschreeuwen. „Jaag een kogel door mijn kop, rijt desnoods mijn buik open, maar maak er een einde aan, opdat ik crepeer als een eerlijk soldaat en niet wegkwijn als een bejaarde die langzaam bezwijkt onder de last van zijn herinnering. Die verbloedt aan de schaamte omdat hij wat hij zocht niet heeft kunnen vinden.“ En ja, over dat zoeken had hij wel een studie willen schrijven. Nu hij de aanleunwoning van de dood leek te zijn binnengegaan, voelde hij een intense behoefte de zaken eindelijk eens vast te leggen wie sie wirklich gewesen. Sprankelende colleges te geven over opkomst en ondergang, schuld en boete; kortom, nu eindelijk eens te kunnen schitteren als de man die hij geweest had kunnen zijn.²⁵ (TP 8)

Die Verzweiflungsrufe des Soldaten bleiben im Irrealis. Sie werden nicht ausgesprochen, sondern nur gedacht. Im Augenblick des Todes wünscht der Soldat, seine unerfolgreiche Suche zumindest in Worte fassen zu dürfen. Nachdem die Tat als Kern und Ziel militärischen Wirkens nicht geglückt ist, ersehnt er sich zumindest die Wortmacht der Wissenschaft und Geschichtsschreibung, um ein schriftliches und mündliches Zeugnis ablegen zu können. Trotz nicht vollbrachter Taten können so Tatsachen geschaffen werden. Er möchte das Vergangene in Leopold von Rankes Vision so festlegen, wie es eigentlich gewesen.²⁶ An die Stel-

25 „‚Mache, dass es aufhört‘, hätte er dem explodierten Stoffladen zuschreien wollen. ‚Jage mir eine Kugel durch den Kopf, reiße mir zur Not den Bauch auf, aber mache, dass es aufhört, damit ich als ehrlicher Soldat krepiere und nicht dahinsieche wie ein Greis, der langsam unter der Last seiner Erinnerung zusammenbricht. Der an seiner Scham verblutet, weil er das, was er suchte, nicht finden konnte‘. Und ja, über das Suchen hätte er gerne eine Studie geschrieben. Nun, da er in das vom Tod betreute Wohnen eingetreten zu sein schien, fühlte er ein intensives Bedürfnis danach, die Dinge endlich einmal fest zu legen wie sie wirklich gewesen [im Original Deutsch, BvD]. Geistreiche Seminare zu geben über Aufstieg und Untergang, über Schuld und Buße, kurz, nun endlich einmal zu brillieren als der Mann, der er hätte gewesen sein können.“ 26 Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, 2. Aufl. In: Ranke, Leopold von Ranke’s Sämmtliche Werke, Bd. 33 und 34, Leipzig 1874, [1824], S. VII.

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le von militärischer Gewalt soll die Wirkmacht des Wortes treten, die verpasste Chancen kompensiert und das verlorene Gebiet zumindest symbolisch besetzt. Die Konstruktion von Geschichte als Besetzung von Zeit fungiert hier als die Fortsetzung des räumlich orientierten Kampfes mit anderen Mitteln. Doch auch diese verbale Kompensation bleibt dem Soldaten verwehrt, denn er ist körperlich nicht mehr in der Lage, Worte zu formulieren: „Blutiges Gluckern, das war das einzige Geräusch, das er noch hervorbringen konnte“ (TP 7).²⁷ Wo der Soldat sich damit begnügen muss, „[e]in Wort zu beschnüffeln, das er nicht mehr aussprechen konnte“ (TP 8)²⁸ und sich mit „[d]em nie geschriebenen Roman, der nie geküsten Braut“²⁹ abfindet (TP 8), beginnt auf der folgenden Seite eine Geschichte, die genau das umzusetzen scheint, was der verwundete Soldat so heiß ersehnt, aber nicht realisieren kann: „Aber irgendwann einmal... wenn er über das Wort verfügen würde, das all die Kuppeln und Giebel in all ihrer majestätischen Pracht wieder erstehen ließe. Die Bitte um Hilfe, die irgendwo in seinem so sorgfältig aufgebauten Wörterbuch von Wünschen und Begierden verborgen sein musste“ (TP 7).³⁰ Während die Gedanken und Sätze des Soldaten so unübersichtlich sind wie die herumfliegenden Fetzen des explodierten Stoffladens, löst das nächste Kapitel die Bitte des Soldaten um Wortgewalt ein: Es wird über die Sprache verfügt, die zuvor auseinander gesprengten Worte beugen sich Satzstrukturen und formen sich zu einer Geschichte, welche eine vergangene Welt wieder erstehen lässt. Ein Vorgang der (Bedeutungs-)Besetzung beginnt, bei dem unter dem Motto wie es eigentlich gewesen unter vielen möglichen Geschichten eine festgeschrieben wird. Gerade die Kohärenz, die Immersion ermöglicht, entsteht auf Kosten dessen, was dargestellt werden soll. So folgt in Tinpest ab dem zweiten Kapitel die kohärente Geschichte des „ersten Lieutenant Arthur von Lauersperg“ bis zu seiner Versetzung in die Wüste (TP 9 ff.). Die „beinahe zu schöne“³¹ (TP 11) Welt des alten Wien um die Jahrhundertwende wird heraufbeschworen, aber auch immer wieder gebrochen (vgl. 7.2.2). Lauerspergs Geschichte ist mit der des Soldaten aus der Eingangsszene sehr lose verknüpft über das assoziative Medium der Gerüche („Patschuli und Mist“, vgl. TP 9), die der Soldat noch dazu am äußerst unbestimmten Ort der „ausgebreiteten

27 „Bloederig geborrel, dat was het enige geluid dat hij nog kon voortbrengen“ (TP 7). 28 „[e]en woord besnuffelen dat hij niet meer kon uitspreken“ (TP 8). 29 „de nooit geschreven roman, de nooit gekuste bruid“ (TP 8). 30 „Maar ooit...als hij over het woord zou beschikken dat al die koepels en gevels in al hun majesteitelijkheid zou doen herrijzen. De bede om hulp die ergens in zijn zo zorgvuldig opgebouwde woordenboek van wensen en verlangens verborgen moest zitten“ (TP 7). 31 „bijna té mooi“ (TP 11).

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Wälder hinter seinem Herzen“³² (TP 8) wahrnimmt. Der Wald als imaginärer Ort und Fluchtpunkt spielt beim Übergang von der Kampfszene zur Geschichte auch in Schutzgebiet eine wichtige Rolle. Der Schritt in den freien Fall des Festungsinsassen Henry markiert hier den ersten Schritt in eine Erzählung, in welcher die Lesenden im eigentlichen Wortbedeutungssinn der ‚Immersion‘ (lat. ‚immergere‘ ein-/untertauchen) in die Welt der Hauptfigur Henry ‚eintauchen:‘ Auf dem Weg nach Afrika kentert sein Schiff und Henry „[...] treibt im Meer. Wasser, in allen Richtungen. Bis zum Horizont [...] Er sinkt tiefer. [...] Das Salz in seiner Nase. Der Druck auf seinem Körper“ (SG 11). Während Henry schon in dieser Beginnszene im Wasser um sein Leben kämpft, ist er paradoxerweise umgeben von Wald: „Um ihn schaukeln auf den glitzernden Wellen Setzlinge, Tannen, Fichten, Pappeln, umgestürzt, aufrecht, noch in ihren Töpfen, schaukelt ein Wald“ (SG 11). Dieser „schaukelnde Wald“, hier in all seiner Deplatziertheit im Wasser, ist wie in Tinpest ein Phantasma, das nie Wirklichkeit werden wird und – wie in dieser Situation für Henry – keine Zuflucht bietet. Der Wald zeigt in Schutzgebiet die auf die Spitze getriebene koloniale Ignoranz und Selbstüberschätzung, soll doch „ein deutsche[r] Forst auf afrikanischem Boden“ (SG 61) entstehen, vom „wahrhaftigen Schwarzwald Afrikas“ (SG 233) ist die Rede. Der Wald wird zur Waffe, zum Mittel der Besetzung des neuen Landes: „ein gezielter Akt der Annektion sozusagen“, wie Gerber bemerkt, während er „[a]uf gut Glück [...] einen besonders kräftigen einheimischen Nadelbaum mit der deutschen Tanne“ kreuzt (SG 139). Das typisch deutsche Weihnachtslied „O Tannenbaum“ als „inoffizielle Hymne Ben¯esis“ (SG 347) ironisiert die exzessive Aktivierung deutschtümelnder Heimatliebe in der Fremde.³³ Der „schaukelnde Wald“ im Wasser weist schon im Voraus auf die Instabilität der Vision von Deutschland in Afrika hin. In der Situation des Schiffbruchs, bei dem das Wasser das intakte Ganze in wild durcheinanderschwimmende Einzelteile auflöst, wird wie in Tinpest die labile Grundlage des Zusammenhangs der erzählten Geschichte vorgeführt. Der Text liefert nicht nur ein anschauliches Bild, sondern versucht über das erzählerische Mittel der Immersion das in Einzelteile aufgelöste Ganze erfahrbar zu machen. Dieser labilen Grundlage steht die wiederum in beiden Romanen auftauchende „Festung“ gegenüber. Sie bietet im wahrsten Sinne des Wortes einen Anhaltspunkt, der eine Geschichte der Besetzung verstanden als Einnahme von Land und zugleich als Bedeutungsbesetzung ermöglicht. Was die Landbesetzung betrifft geht es in Schutzgebiet um die (wirtschaftliche) Erschließung der fiktiven

32 „in de uitgestrekte wouden achter zijn hart“ (TP 8). 33 Sigrid Löffler spricht davon, dass in Schutzgebiet nicht Kritik am Kolonialismus geübt, sondern er stattdessen lächerlich gemacht werde, vgl. S. Löffler, Löfflers Lektüren.

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Kolonie „Tola“ (dem Namen nach Anlehnung an die deutsche Kolonie ‚Togo‘). Ob der Schiffbrüchige Henry seine Aggressionen an den Ziegen auslässt (vgl. SG 18), Gerber die Flora Tolas als seinen persönlichen Feind sieht (vgl. SG 124) oder von Schirach seine martialischen Strafen an den afrikanischen Zwangsarbeitern auslässt (vgl. SG 288), der Aufenthalt der Siedler in Afrika wird als Kampf dargestellt. Den Figuren werden Lektüren wie Gerbers Indianerschmöker in die Hände gelegt, welche klassische Situationen von Kampf und Landbesetzung durchspielen (vgl. SG 167/68). Afrika wird zur Probe, zum „Fegefeuer“ für die Siedler (SG 353), in dem sich alles in zwei Pole teilt: das eigene Land und „Krar¯e“, die „tolanesische“ Bezeichnung für alles, was außerhalb des eigenen Territoriums liegt (SG 152). In Tinpest findet die Landbesetzung im Rahmen der österreichisch-ungarischen Expansion statt, derer Arthur von Lauersperg unfreiwillig Teil wird. Aus der erzwungenen Kampfeshaltung wird schnell eine erstarrte Pose, da es nie zu einem militärischen Einsatz kommt. Der Roman greift dabei auf die Verfilmung Il deserto dei Tartari des gleichnamigen Romans von Dino Buzaati zurück,³⁴ in dem das Warten auf den Feind sich zum Selbstzweck entwickelt. Lauersperg und seinem Bataillon wird der Feind vorenthalten. Stagnation anstatt Aggression, die alle Figuren in den Wahnsinn treibt, wird damit zu einem Grundthema. Auch wenn im Gegensatz zu Zurlinis Film und Buzaatis Buch Ort und Zeit genau bestimmt werden, ist das suggestive und grundlegende Bild des Forts, in welchem dem unsichtbaren Feind getrotzt wird, maßgebend. In beiden Romanen ist das „Fort“ beziehungsweise die „Festung“ die einzige Konstante für die sich immer bedroht fühlenden Figuren im Grenzgebiet zwischen dem Eigenen und dem Anderen. In Festung beziehungsweise Fort können sie sich verschanzen. Besonders in Tinpest wird jedoch schnell deutlich, dass das Fort nur vordergründig ein Schutzraum ist. Schon die Legendenbildung um das Gebäude macht es zu einem rätselhaften, mythischen Ort: Seine Fundamente seien zur Zeit des Engels Gabriel gelegt worden, seine Mauern zur Zeit des Propheten Mohammed erbaut (vgl. TP 80). Es wird zu einer unleserlichen Botschaft der Vergangenheit stilisiert (vgl. TP 81-82), deren Platzierung inmitten einer Wüste zu weiteren Bedeutungszersetzungsprozessen führt. Wer nicht auf die Knochen des Schädelplatzes, dem „Golgotha“ genannten Innenhof als Ort der aufgehäuften Schäden der Vergangenheit, blickt (TP 82), schaut hinaus auf eine Ebene, die zu einer Seite von einem Zentralmassiv begrenzt ist (vgl. TP 80). Der Anblick der Leere dieser Ebene ist schier unerträglich und entwickelt in der Erzählung über Lau-

34 Il Deserto dei Tatari [Die Tatarenwüste], Regie Valerio Zurlini, Italien/Frankreich/Deutschland 1976 nach dem Roman von Dino Buzzati, Il deserto dei Tatari, Milano 1966, [1940].

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ersperg und sein Bataillon eine zersetzende Wirkung. In der Isolierung des Forts lösen sich bestehende Strukturen und militärische Hierarchien auf (vgl. etwa TP 165), das Bataillon gerät in einen Zustand der Verwirrung und Desintegration (vgl. 7.3.1). Das Fort als scheinbar starke vorgegebene Struktur erweist sich ohne den erwarteten Feind als leeres Versprechen, das die Festungsinsassen isoliert und auf sich selbst zurückwirft. Seine Schutzfunktion wird damit in ihr Gegenteil verkehrt, da die Soldaten in der Isolation nun mit sich selbst zu kämpfen haben. Durch seine Isoliertheit ist das scheinbar stabile Fort ein Ort der Instabilität, der keinen Halt bietet. Auch in Schutzgebiet kann die Festung nicht den Halt bieten, den sie verspricht. So sieht Henry in „diesem Mittelding aus Gefängnis und Heilanstalt“ (SG 257) zunächst etwas, das seinem Leben wieder Sinn gibt (vgl. SG 58). Er muss dann jedoch feststellen, dass die Festung zwar eine feste Struktur vorgibt, diese jedoch keine spezifische Bedeutung hat. Ihr kann vielmehr immer wieder eine andere Bedeutung gegeben werden: Die leeren Räume der Festung jedoch, über denen er jetzt gerade auf dem Wehrgang steht, besitzen für ihn etwas zutiefst Bedrückendes. Nicht wegen der Dinge, die sich darin ereignet haben, sondern der Geschichten wegen, die sich darin noch abspielen werden. Die enttäuschten Hoffnungen, die Dramen. Mit seinen Zinnen, Schießscharten, den Türmen scheint Ben¯esi für nichts anderes als künftige, erbitterte Kämpfe gebaut worden zu sein. (SG 77)

Ganz ähnlich wird in Tinpest darauf verwiesen, dass das Fort der Schauplatz verschiedenster Besetzung gewesen ist (vgl. TP 81/82). Weder Festung noch Fort sind einem bestimmten Lager zuzuordnen, sie können von verschiedenen Parteien erobert werden und ändern ihre Bedeutung abhängig von ihrem Besetzer. Wie die Tiefenstruktur, die eine Erzählung steuert, ist die Burg in sich stabil, kann aber je nach ‚Input‘ unterschiedlich instrumentalisiert werden.³⁵ Die Romane Tinpest und Schutzgebiet führen damit auf unterschiedlichen Ebenen vor, dass Bedeutungsgebungsprozesse Machtkämpfe sind, in denen eine Durchsetzung der eigenen Ansichten immer mit der Unterdrückung anderer Deutungsmöglichkeiten einhergeht. Auch scheinbar stabile Festlegungen von Bedeutung entpuppen sich als Verdrängung einer Bedeutungsoffenheit, von der auch die Geschichtsschreibung ausgeht.

35 So ist etwa für das Handlungsschema der Tragödie – nach Hayden White eine der vier großen Erzählformen auch es historischen Erzählens (vgl. 3.2.2) – entscheidend, welcher Partei die Rolle des tragischen Helden zugesprochen wird.

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7.2.2 Unerreichbarkeit: Oberfläche Tinpest und Schutzgebiet verbinden das historische Erzählen mit einem Topos der postmodernen Ästhetik, wenn sie im Verharren an der Oberfläche den Abstand der Kolonisten zur Kolonie wie den Abstand des historischen Erzählens zur Vergangenheit verdeutlichen.³⁶ In Schutzgebiet ist es die (Wasser-)oberfläche, welche in einer Schiffbruchszene zu einem zentralen Element wird. In dieser Szene droht die Hauptfigur Henry im Meer zu ertrinken. Diese lebensbedrohliche Lage nimmt eine unwillkürliche Wende, als Henry unter Wasser seinen Lebensmut entdeckt: Unwillkürlich strampelt er mit den Beinen. Steigt höher, noch während sich in seinem Kopf Wörter formen. Ich will nicht. Und wieder: Ich. Will. Nicht. Sterben. Da erträgt er es nicht länger, atmet ein, Wasser statt Luft, nach oben muss er, nach oben, sucht Halt, greift nach etwas über sich, irgendetwas, bekommt es zu fassen, zieht sich an die Oberfläche, spuckt, hustet, Rotz rinnt ihm aus der Nase. Erschöpft legt er den Kopf auf das schwankende Stück Holz. Es ist die Tür, seine Tür. Er treibt im Meer. Die Sonne scheint. (SG 12)

In dieser Szene entgeht der Architektassistent Henry Peters dem Tod, indem er sich wieder an die Wasseroberfläche kämpft. Im Unterschied zwischen dem Satz „Ich will nicht“ und dem Satz „Ich will nicht sterben“ liegt Henrys Überlebenschance. Das Aufsteigen im Wasser verbindet sich mit dem Formulieren dieser Wörter, seine Lebensfähigkeit koppelt sich somit an seine Sprachfähigkeit. Erst als er den Gedanken an das Überleben für sich in Worte gefasst hat, gelangt er an die Oberfläche. Bezeichnenderweise ist das „etwas“, das „schwankende Holz“, an welchem er sich hochzieht und das ihm Halt bietet, eine Tür. Als auf dem Wasser treibendes Stück Holz rettet sie zwar Henry, verliert aber gleichzeitig in dieser Szene ihre grundlegende Funktion. Wo sie normalerweise die Möglichkeit eines Zugangs, den Eintritt in etwas Anderes und die Überschreitung einer Grenze markiert, wird sie für Henry ganz im Gegenteil zu einem Mittel, gerade nicht einzutreten, sondern sich an der Oberfläche zu halten. Henrys wieder erlangte Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck und die ihrer eigentlichen Bedeutung ent-

36 Beispielhaft für die Auseinandersetzung mit der Oberfläche im Paradigma der Postmoderne sei hier auf eine deutschsprachige Publikation verwiesen, die das Verhältnis der Popliteratur zur Oberfläche auslotet: Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre, hg. von Olaf Grabienski, Berlin 2011.

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fremdete Tür sichern Henrys Überleben also gerade dadurch, dass er nicht ‚in die Tiefe gehen‘ kann.³⁷ Die Funktionsveränderung der Tür kann als programmatisch für den Roman Schutzgebiet gelesen werden. Fast demonstrativ scheint der Text gegenüber seinem historischen Gegenstand an der Oberfläche zu bleiben, anstatt Versuche zu unternehmen, ‚in die Materie einzudringen‘. Der Text erreicht die Betonung dieser Verflachung vor allem durch die Verschränkung des kolonialen Themas der Erkundung eines anderen Raumes mit dem historiografischen Thema der Erkundung einer anderen Zeit. Schon der Titel des Romans, mit der Bezeichnung „Schutzgebiet“ kolonialen Jargon aufnehmend und ausstellend, deutet eine eigenartige Ambivalenz des ‚Schutzes‘ an: Er verkehrt sich ironischerweise in sein Gegenteil, wenn das „Schutzgebiet“ vordergründig die ansässige lokale Bevölkerung beschützen soll, es letztlich jedoch um den Schutz der eigenen, also der Interessen der Besetzer, geht. Hier spiegelt sich wiederum die Ambivalenz der ‚Aneignung‘, die auch für das historische Erzählen, welches der Roman praktiziert, gilt. Auch das Schreiben von Geschichte läuft stets Gefahr, die Geschichte in die eigenen Vorstellungen einzupassen anstatt sich ihr in ihrer Andersartigkeit anzunähern. Im „Schutzgebiet“ findet ein Kontakt mit dem Anderen unter den Bedingungen des Besetzers statt. Dies wird im räumlichen Kontext deutlich, wenn Henry nach seinem Schiffsunglück zum ersten Mal das Dorf der Gemeinschaft, die ihn aufgenommen hat, betritt. Er fühlt sich sogleich an Kupferstiche aus der Heimat erinnert, die Afrika unter dem Motto „Afrika – Unser Platz an der Sonne“ präsentieren: „Lange hatte er damals die Illustrationen auf den Seiten betrachtet. Nun steht er direkt vor ihnen – eine Wirklichkeit, in die er nur einzutreten braucht“ (SG 14). Anstatt jedoch in die gegen die flache Repräsentation eingetauschte betretbare Wirklichkeit vorzudringen, zieht Henry sich sofort in seine Hütte zurück und verweigert den Eintritt in die fremde Welt. Alles soll an der Oberfläche des bekannten Bildes bleiben, dessen vermittelte Wirklichkeit Henry eigenen Erfahrungen vorzieht. Wie bei den ausgestopften Tieren, mit denen die Festungssäle geschmückt sind (vgl. SG 25), reicht es, wenn die Oberfläche stimmt. In Henrys Fremderfahrung konfrontiert der Text das Bequeme der geordneten Repräsentation mit der bedrohlichen Unbekanntheit der Wirklichkeit, die sich nicht zuordnen lässt. Auch in Tinpest wimmelt es von Oberflächen, zuvorderst die titelgebende „Zinnpest“. Sie verweist auf eine metallische Oberfläche, die unter kreischen-

37 Nico Bleutge sieht in dieser Schiffbruchszene eine filmische Anspielung auf Meuterei auf der Bounty und unterstreicht Thomas von Steinaeckers Verarbeitung bereits bekannter Bilder, die ihn zu einem „Skeptiker des Unmittelbaren“ mache: N. Bleutge, Das deutsche Reich in Afrika.

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den Geräuschen porös wird. Das „Geschrei“ des sich zersetzenden Zinns in der berühmten Kapuzinergruft in Wien begleitet laut Lauersperg das Geschrei der in den zinnenen Sarkophagen eingeschlossenen Adeligen (vgl. TP 19). Die mit ihnen eingeschlossene Vergangenheit scheint hier aus ihrem Gefängnis dringen zu wollen. Auffälligerweise durchzieht sich der Text mit Metallvergleichen, vom bleiernen Himmel (vgl. TP 30) über den quecksilbrigen Mond (vgl. TP 45) bis zur rostbraunen Ebene (vgl. TP 83), so dass auch die erzählte Welt hinter einer harten Oberfläche eingeschlossen zu sein scheint. Spätestens wenn die Metallanspielungen sich mit der Sprache verbinden und Wörter „aus Blei“ zu sein scheinen (vgl. TP 83/84), wird deutlich, dass die poröse Oberfläche, in welche sich die Geschichte hüllt, die Textstruktur selbst ist: „Aus Zinn ist die Vergangenheit im letzten Buch von Louis Ferron“,³⁸ schreibt der Rezensent Willem Kuipers kurz nach Erscheinen des Romans. Wo wie im Zinn der „Schmerz nagt“, helfen keine Metaphern mehr, die verhüllen könnten, dass das im Buch gezeichnete Bild vom alten Wien sich auf die glatte Oberfläche von Abbildungen bezieht: Het zijn maar beelden uit een oud boek. Maar wie het ooit heeft ingezien, zullen de gravures en lithografieën voor eeuwig... Ach, wat zal men metaforen te hulp roepen waar de pijn knaagt? Liever houde men de blik op Lauersperg gericht die, alle metaforiek omzeilend, zijn nuchtere weg door het leven van zijn tijd ging.³⁹ (TP 10)

„Nüchtern“ wie Lauersperg soll die Erzählung sein und somit dem, was die Abbildungen des alten Wien andeuten, nahekommen, auch wenn dafür keine Worte zu finden sind. Doch auch die nüchterne Erzählung über Lauersperg ist eingeschlossen in Oberflächen. Sein nüchterner Weg, zurücklegt in Stiefeln, in deren Oberfläche sich Lauersperg immer wieder spiegelt, führt direkt in die ebenfalls flache Ebene zwischen Bergmassiv und Fort, die weder Sinn noch Tiefgang ermöglicht. Der Text stellt damit in Frage, ob er die Vergangenheit besser explizieren kann als die Abbildungen vom alten Wien. Durch oberflächliche Darstellung nehmen sowohl Tinpest als auch Schutzgebiet die Erlebnisillusion zurück. Postmoderner Ästhetik entsprechend entbehren die Hauptfiguren des psychologischen Tiefgangs, der ein völliges Eintauchen in die Textwelt erleichtern würde. Auch dies wird innerhalb der Erzählwelt thematisiert, indem die Romanfiguren mit Spielfiguren spielen, deren Künstlichkeit

38 „Van Tin is het verleden in het laatste boek van Louis Ferron.“ W. Kuipers, Ik woon nu eenmaal in vroeger. 39 „Es sind nur Bilder aus einem alten Buch. Aber für jemanden, der es ein Mal eingesehen hat, bedeuten die Gravuren und Lithografien sicherlich... Ach, was soll man Metaphern zur Hilfe rufen, wo der Schmerz nagt. Lieber halte man den Blick auf Lauersperg gerichtet, der, alle Metaphorik umschiffend, seinen nüchternen Weg durch das Leben seiner Zeit ging.“

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und Leblosigkeit auf die Romanfiguren zurückverweist. Eine bedeutungsträchtige Spielszene in Tinpest ist Moerabs Planspiel, bei dem Moerab und sein Stab Lauerspergs Leben auf einer Karte durchzuspielen scheinen (vgl. 7.2.3). Mit der Kenntnis dieser rätselhaften Tätigkeit Moerabs erhält auch seine eingangs an Lauersperg gestellt Frage „Haben Sie Blut?“⁴⁰ (TP 54) eine neue Dimension: Jenseits vom Aufopferungswillen für die Geschichte kann diese Frage auch als Zweifel darüber, ob es sich bei Lauersperg um eine Person aus Fleisch und Blut oder eben um eine blutleere Spielfigur handelt, verstanden werden. In Schutzgebiet basteln und spielen beinahe alle Figuren auf die ein oder andere Weise. Zunächst ist es Henry, der während seiner Zeit im afrikanischen Dorf seine Ambitionen bezüglich des Entwurfs einer Stadt in Ben¯esi in einem Spielzeugdorf auslebt: „Er baut Häuser, dann ein ganzes Dorf – aus Ästen, die im Gras vor der Hütte liegen, damit er nicht aus der Übung kommt. Es gibt eine Kirche, ein Rathaus und ein Postamt. In den Straßen unsichtbare Menschen“ (SG 21). Diese verspielte Fiktion führt Henry weiter, als er zum demonstrativ gefeierten Weihnachtsfest wiederum selbstgeschnitzte Minitaturhäuser der geplanten Stadt verschenkt (vgl. SG 137). Gerbers Schwester Käthe lebt ebenfalls ihre Sehnsüchte über das Verfertigen von Figuren aus: Sie baut „Das Reich hinter dem Nebel“ nach, wie es der Verfasser ihrer spirituellen Lektüre, „Suk“, beschreibt (vgl. SG 171): „Lediglich die Bewohner und Gegenstände ihrer jenseitigen Papierwelt, [...] die diversen Engels-Legionen, die sie mit viel, ja, Liebe zuschneidet“ (SG 174) kommen in den Genuss ihrer „weichen Seite“ (SG 173). Aber auch Schirach und Gerber haben „Spiele und Visionen“, wie die Überschrift des neunten Kapitels lautet. Gerber träumt lediglich von einer „Vision, die Wirklichkeit [...] und bestimmt kein schlechtes Geschäft“ werden könnte (SG 220) und die auf der Legende des jagdlustigen Heiligen Hubertus fusst: „Man müsste weiße Hirsche züchten, man befestigt an ihren Köpfen Kreuze!“ (SG 220) Im Gegensatz zu dieser geistigen Bricolage führt Schirach tatsächlich eine „imaginäre Schlacht“ aus, indem er die afrikanischen Zwangsarbeiter in einem Manöverspiel die „Invasion Neu Yorks zu Wasser und in der Luft“ nachahmen lässt (SG 210/11). Es verwundert nicht mehr, wenn die Burgbewohner auch bei der Verteidigung ihrer Festung zu Beginn des Textes selbst wie ein „Kasperltheater“ wirken (SG 10).⁴¹ Ihr Spiel mit Figuren verweist auch immer auf ihren eigenen Status als künstlich geschaffene Figur. So stellt sich in Tinpest explizit heraus, dass auch Hadj Moerab letztlich eine Spielfigur der obersten Befehlshaber in Österreich ist (vgl. TP 127).

40 „Hebt u bloed?“ (TP 54) 41 In der Literaturkritik stoßen diese Künstlichkeitseffekte durchaus auf negative Reaktionen, vgl. Rolf Bernhard Essig, In der Hitze Afrikas. Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet. In: Wiener Zeitung, 6. März 2010.

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Sowohl in Schutzgebiet als auch in Tinpest sind eben diese Flächen und der ‚oberflächliche‘, also Erlebnisillusion nur begrenzt zulassende Erzählstil, geradezu die Grundlage für das historische Erzählen.⁴² Denn wo man der Vergangenheit zu nahe zu kommen versucht, wird sie unerreichbar und unkenntlich. Henrys Verlobte Natalie etwa überlebt das Schiffsunglück im Gegensatz zu Henry nicht und ‚versinkt:‘ AUF DEM GRUND DES OZEANS liegt sie, Natalie Peters, geborene Treibel, zwischen Algen, ihre Kette, das Medaillon mit der Fotografie ihres Mannes schwebt an ihrem Hals, die Arme hat sie erhoben, als balanciere sie, die Augen weit geöffnet, schaut sie auf die Schwärme von Fischen, die an ihr vorbeiziehen, rot, schwarz, gelb, die sie streicheln, an ihr knabbern, da ist der Finger ab, nach Tagen, Wochen, die Nase, das Ohr, ihr weggenascht und fortstibitzt, reißt die Strömung ihr das Kleid in Fetzen, nackt liegt sie da, ohne Bein und Arm und Gesicht, werden die Algen zu ihrem Mund, ihren Augen, grün. (SG 28/29)

‚Auf dem Grund‘ werden die Figuren unkenntlich, gesichtslos. Nur was sich an die Oberfläche rettet, kann ‚überleben‘ im Sinne der ‚oberflächlichen Überlieferung‘, die nie die ganze Komplexität des vergangenen Lebens fasst. Der sich in natürlicher Auflösung befindliche Körper Natalies macht sie zu einer der Toten, die die Vergangenheit konstituieren. Sie symbolisiert damit die Schuld der Historikerinnen und Historiker, welche mit den Toten sprechen wollen, aber nicht können (vgl. 3.3.2). Die Fontane nachempfundene „geborene Treibel“ verschwindet in der Strömung, überdauern kann allenfalls die Repräsentation an ihrem Hals, das Foto Henrys, aber nicht das ‚echte‘ Leben selbst. Henrys ‚Überleben‘ wird damit zweifelhaft, macht es ihn doch zur Figur, zur literarischen Kreation, die nur durch den Text und damit künstlich existieren kann. Die in den Texten zur Schau getragene Oberflächlichkeit ist also keine Beschränkung, sondern eine Voraussetzung des (historischen) Erzählens. Denn erst das Schaffen von Flächen kann eine Bühne für Projektionen, auch der Vergangenheit, bilden. In Schutzgebiet wird dies deutlich vorgeführt, wenn Henry Gerber auf die Jagd begleitet und ihn im Gegensatz zu Gerber nicht das Jagen der Tiere, sondern eine während des Jagens entdeckte Lichtung begeistert: „Henry bleibt zurück. Er hat in der Tat etwas gesehen, aber erst nachdem sich der Rauch ihrer Gewehre verzogen hatte. Etwas Wundervolles. Einen Platz für ein Theater. Die Lichtung vor Gerbers Verschlag ist in ihrer ovalen Form geradezu ideal, um sie in ein Amphitheater umzuwandeln“ (SG 221). Ebenso wie die Lichtung gerade durch ihre Leere die Plattform für ein Theater bietet, schaffen die Texte durch ihre (ausgestellte) Oberflächlichkeit eine Bühne für die Projektion der Vergangenheit: Eben

42 Vielleicht erklärt sich auf diese Weise auch Sigrid Löfflers Beobachtung, dass es in Schutzgebiet gelinge, „lesbar und zugleich avantgardistisch zu schreiben“: S. Löffler, Löfflers Lektüren.

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dadurch, dass sie nicht vorgeben, in die Tiefe der Geschichte vorzudringen, können sie mit deutlich als oberflächlich konstruierten Elementen der Erzählung wie den schablonenhaften Figuren Vorstellungen über die vergangene Periode aushandeln. Distanzierung lässt sich an diesem Punkt nicht von Annäherung trennen: Das Spiel mit den Bildern der Geschichte bleibt zwar einerseits demonstrativ an der Oberfläche, andererseits ermöglicht gerade die Vorführung von Projektionen eine Auseinandersetzung nicht nur mit verschiedenen Perspektiven auf die Geschichte, sondern auch mit Visionen und Ideen in der Geschichte (vgl. 7.3.2). Dies ist das typische Verfahren des historischen Erzählens in der Literatur, welches lose an faktual Verbürgtes andockt und dann innerhalb der geschaffenen Erzählwelt verschiedene Visionen auf und aus der Geschichte durchspielt, deren Wirklichkeitsbezug immer vage mitbehauptet wird. In der Projektion dringen die Texte zwar nicht vor zur vergangenen Wirklichkeit, erzeugen aber verschiedenste Versionen der Vergangenheit, von denen nie klar ist, ob sie nicht so auch existiert haben könnten.⁴³ Auf diese Weise bedeutet hier eine Rücknahme der Erlebnisillusion keine Minderung der Referenzillusion. Zwischen und durch die präsentierten Oberflächen entfaltet sich eine Dynamik, in Schutzgebiet visualisiert durch das Tennisspiel, mit dem man der Langeweile und Ereignislosigkeit in Ben¯esi zu entkommen sucht. Der Ball prallt von der einen Oberfläche zur anderen (die Netzstruktur der Tennisschläger verweist auf den Text als ‚Gewebe‘), im Dazwischen entwickelt sich die Dynamik des Spiels.⁴⁴ In Tinpest bildet die unerträgliche Leere der das Fort umgebenen Ebene den Schauplatz für Projektionen. Die Fortinsassen, besonders Lauersperg, sehen mehr und mehr Erscheinungen in der Wüste, deren Wirklichkeitsgrad nicht zu bestimmen ist, so etwa seltsame Truppenbewegungen und ein Baugerüst (vgl. TP 106). Lauersperg wird explizit nachgesagt, „Privat-Filmchen“ in seinem Kopf abzuspielen (TP 66, 105/106), um sich der Leere und Sinnlosigkeit seiner Situation nicht stellen zu müssen. So wird es für ihn besonders schwierig, wirkliche von selbst erzeugten Bildern zu trennen. Die Leere der Fläche um das Fort scheint solche Projektionen geradezu herauszufordern. Das Fort mit seinen Bewohnern wird

43 Nico Bleutge deutet in eine ähnliche Richtung, wenn er dem Roman Schutzgebiet unterstellt, trotz aller gefilterter Wahrnehmung „kein Spiel oder blosse Konstruktion“ zu sein, sondern der „Erprobung von Utopien“ (vgl. 7.3.2) zu dienen, vgl. N. Bleutge, Das deutsche Reich in Afrika. 44 Auch die im Roman beschriebenen Liebesgeschichten zwischen Henry und Natalie sowie zwischen Henry und Käthe zeigen den Reiz der Projektion, vgl. Henrys Vorliebe für das Foto gegenüber der abgebildeten Frau (vgl. SG 17), seine Sicht auf die schöne Käthe als Luftspiegelung (vgl. SG 167) und seine Desillusionierung (SG 343). Catharina Koller spricht hier von „Schmonzettentum“: C. Koller, Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet. O Tannenbaum!

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zu einer Art riesigem Projektionsgerät, das Bilder in die Wüste wirft, während die Fortinsassen es eher wie eine riesige Kamera wahrnehmen, die Ereignisse um sie herum aufzeichnet. Genau dieses Doppelspiel zwischen dem Aufzeichnen wie es eigentlich gewesen und dem unvermeidbar gleichzeitig stattfindenden Projizieren von eigenen Vorstellungen in die Aufzeichnung steht in Analogie zur Geschichtsschreibung, die sich im Spannungsfeld der Konstruktion und Wiedergabe der Vergangenheit befindet.

7.2.3 Metafiktion und historiografische Reflexion In Schutzgebiet schafft ein kurzes Motto den Rahmen für einen Metadiskurs, der den Text durchzieht und Metafiktion mit historiografischer Reflexion verbindet. Dieses Motto zitiert Jules Verne mit dem Satz: Wir leben in einer Zeit, in der alles möglich ist. (SG 7)

Diese Übersetzung entstammt dem 1892 von Jules Verne verfassten Roman Le château des carpathes, wo der Satz ganz zu Beginn der Erzählung auftaucht: Cette histoire n’est pas fantastique, elle n’est que romanesque. Faut-il en conclure qu’elle ne soit pas vraie, étant donné son invraisemblance? Ce serait une erreur. Nous sommes d’un temps où tout arrive, – on a presque le droit de dire où tout est arrivé. Si notre récit n’est point vraisemblable aujourd’hui, il peut l’être demain, grâce aux ressources scientifiques qui sont le lot de l’avenir, et personne ne s’aviserait de le mettre au rang des légendes. D’ailleurs, il ne se crée plus de légendes au déclin de ce pratique et positif XIXe siècle [...].⁴⁵

Das Zitat aus Vernes Karpathenschloss zeigt die poetologische Wirkkraft des technischen Selbstbewusstseins im industriellen Zeitalter. Aristoteles’ Konzeptionen der Dichtung und der Geschichtsschreibung werden hinfällig: Im Zeitalter der

45 Jules Verne, Le château des carpathes/Le secret de Wilhelm Storitz, mit Illustrationen von L. Benett und G. Roux, abgedruckt in der ursprünglichen Hetzel-Ausgabe, Paris 1978, [1892], S. 9–10. Deutsche Übersetzung nach Jules Verne, Das Karpathenschloss, übersetzt von Hansjürgen Wille und Barbara Klau, mit vierzig Illustrationen von L. Benett, Zürich 1977, S. 5–6: „Diese Geschichte ist nicht phantastisch; sie ist nur romantisch [eher: „romanhaft“ BvD]. Muß man daraus schließen, daß sie ihrer Unwahrscheinlichkeit wegen nicht wahr ist? Das wäre ein Irrtum. Wir leben in einer Zeit, in der alles möglich ist“ [„, – man hat fast das Recht zu sagen, dass alles schon vorgekommen ist“ BvD]. Wenn diese Erzählung heute unglaubwürdig erscheint, schon morgen kann sie dank den wissenschaftlichen Erfindungen, die die Zukunft bringen wird, glaubwürdig sein, und niemand würde dann daran denken, sie als Legende zu bezeichnen. Heute, da sich das praktische und positive neunzehnte Jahrhundert seinem Ende zuneigt, entstehen keine Legenden mehr [...].“

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technischen Innovationen ist alles, was möglich ist, potenziell auch wirklich, so dass sich das Imaginationspotential der Literatur auf die Technik verlagert, welche neue Wirklichkeiten schafft. Der Literatur bleibt nichts anderes als der Realismus, da alles, was sie entwirft, und sei es noch so unwahrscheinlich, vielleicht sogar schon existiert. (Ausgenommen sind „fantastische“ Elemente, also solche, die sich nicht technisch realisieren lassen.) Auf diese Weise wird eine eng mit der Naturwissenschaft verknüpfte Literatur etabliert, deren Erzählwelten naturwissenschaftlich verifizierbar sind. Im mit diesem Programm eingeleiteten Roman, dem Karpathenschloss, tauchen dementsprechend keine unwahrscheinlichen Elemente auf, die nicht naturwissenschaftlich begründet werden könnten: Der Arzt und der Förster, die vom Dorf ausgesandt werden, um den scheinbaren Spuk im Karpathenschloss aufzuklären, werden von einer magischen Kraft im Schlossgraben festgehalten. Im Nachhinein entpuppt sich jedoch dieser Spuk als elektrischer Magnetismus – genau so wie die Monster, auf welche die beiden Abenteurer im Schloss stoßen, sich als Filmprojektionen erweisen. Alle Rätselhaftigkeiten der Geschichte lassen sich letztendlich auf technische Neuerungen zurückführen.⁴⁶ Der Roman führt also vor, dass alle unwahrscheinlichen Elemente eines literarischen Textes naturwissenschaftlich realisierbar sind.⁴⁷ Die so inszenierte Zeit, „in der alles möglich ist“, lässt sich nicht mehr in den alten Kategorien der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fassen. Vielmehr findet ein Prozess der Verschiebung und Vermischung der Zeiten statt: Die Gegenwart ist durch Technik und Naturwissenschaft eins mit der Zukunft geworden.⁴⁸ Die Zukunft hat sich derart in die Gegenwart geschoben, dass sich die Wirklichkeit allen Zukunftsvisionen anpassen kann. Die Möglichkeit ist die

46 Vgl. J. Verne, Le château des carpathes/Das Karpathenschloss, Kapitel 15. 47 Jean Chesneaux zählt Le château des carpathes zu den fortschrittsoptimistischsten Werken Vernes, der in anderen Werken jedoch auch auf die sozio-politischen Herausforderungen des technischen Fortschritts aufmerksam mache, vgl. Jean Chesneaux, Progrés et pessimisme. l‘avenir de l‘humanité. In: Jules Verne. Un regard sur le monde. Nouvelles lectures politiques, Paris 2001, S. 227–244. 48 In der Verne-Forschung ist diese Unterscheidung wichtig für diejenigen, die sich dagegen sträuben, Verne als „Vater der Science-Fiction-Literatur“ einzustufen: Sie plädieren dafür, dass Vernes Romane zwar „zukünftige Realisierungen vorausnehmen“, aber nicht in der Zukunft angesiedelt sind, vgl. Piero Gondolo della Riva, Jules Verne und die Zukunft. In: Expedition Jules Verne. Leben und Werk im Spiegel der Sammlung Gondolo Della Riva, Begleitband zur Ausstellung in Zürich, hg von Charlotte Trümpler, Zürich 1999, S. 65–78. Andere versuchen aus den Romanen Vernes Zukunftsdeutungen abzulesen, vgl. Stephen J. DeCanio, The future through yesterday. Long-term Forecasting in the Novels of H.G. Wells and Jules Verne. In: The Centinnial Review, 38, 1994, S. 75–93.

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Wirklichkeit, was Literatur als Ausmalen des Möglichen überflüssig macht. Bezeichnenderweise geht selbst die Vergangenheit in diesem Zeitkontinuum auf: Im schnellen Fortschritt der Zeit kann eigentlich alles Erdenkbare auch bereits geschehen sein („on a presque le droit de dire où tout est arrivé“). In der im Karpathenschloss emphatisch skizzierten Zeit werden so viele Tatsachen geschaffen, dass die Zukunft schnell zur Vergangenheit wird. Was also in einem literarischen Text ersonnen wird, kann bereits technisch umgesetzt worden sein. „Wahrheit“ und „Wahrscheinlichkeit“ werden relativ zur schnell fortschreitenden Zeit. Die naturwissenschaftlichen Erfindungen eröffnen damit von Literatur und Legende nicht erreichte Horizonte, wie Verne zu Beginn seines Romans symbolträchtig inszeniert: Das Blickfeld eines einfachen Schäfers wird durch ein Fernrohr radikal erweitert. Die wissenschaftliche Errungenschaft des Fernrohrs lässt ihn seine Wirklichkeit genauer wahrnehmen, als ihm dies mit seinem naiv unwissenschaftlichen Wissen zuvor möglich war.⁴⁹ Im Roman Schutzgebiet ist das Zeitkonzepte relativierende Motto „Wir leben in einer Zeit, in der alles möglich ist“ paradoxerweise mit einer Jahreszahl versehen. Es wird damit in eben die vom Zitat zurückgewiesenen Zeitkategorien eingeordnet. Der Verweis auf den Autor Jules Verne, den Roman Das Karpathenschloss und das Entstehungsjahr 1892 direkt unter dem Motto lädt das „wir“ des Zitats mit einer Spannung auf: Die Lesenden können sich einerseits zu der in Vernes Roman ausgerufenen Zeit rechnen, welche auch den Lesezeitpunkt als in die Gegenwart integrierte Zukunft umfasst. Sie haben jedoch andererseits auch die Möglichkeit, den Satz als historisches Zeugnis einzuordnen und ihn durch diesen Abstand zu relativieren. Da das Motto den Roman eröffnet, bleibt auch der Bezug zur folgenden Erzählung ambivalent. Es kann auf die erzählte Vergangenheit (also den Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts und den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts) oder aber auf den Zeitpunkt des Erzählens (also den Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts) bezogen werden. In jedem Fall wird der Sinn des Zitats als Motto eines in der Vergangenheit spielenden Romans umgekehrt, indem es von Steinaeckers Roman nicht um eine Geschichte geht, die wahrscheinlich einmal Wirklichkeit wird, sondern um eine Geschichte, die möglicherweise einmal Wirklichkeit war.⁵⁰ Bezieht man das Motto auf die erzählte Vergangenheit, wäre der Roman in einer Periode zu verorten, in welcher laut Vernes Roman „alles möglich

49 Vgl. J. Verne, Le château des carpathes/Das Karpathenschloss, Kapitel 1. 50 Zur Vergangenheit im Kontext möglicher Wirklichkeiten in Schutzgebiet vgl. Wolfgang Reichmann, Dans la zone protégée de l’histoire (de la littérature). à propos des mondes littéraires alternatifs de Thomas von Steinaecker. In: Allemagne d’aujourd’hui. Revue d’information et de recherche sur l’Allemagne, 200, 2012, S. 110–120. Reichmann ordnet Schutzgebiet in von Stein-

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ist“. So wird jedes Element der folgenden Geschichte als grundsätzlich in dieser Zeit möglich legitimiert. Das Motto gibt einen Freibrief dafür, die Vergangenheit ungehemmt von Belegbarkeit in Quellen zu beschreiben und davon auszugehen, dass das Beschriebene in der Vergangenheit mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte passieren können. Wird das Motto auf den Zeitpunkt des Erzählens bezogen, öffnet es ebenfalls den Raum für ein historisches Erzählen, das sich nach dem postmodernen Motto ‚Anything goes‘ an keine Grenzen mehr gebunden weiß. Das Zitat betrifft sowohl einen metafiktionalen Diskurs, indem es in Vernes Sinne die Aussagemöglichkeiten von Literatur diskutiert, als auch eine historiografische Reflexion, da die Einordnung in Bezug auf einen Geschichte erzählenden Roman die Möglichkeiten der Geschichtsschreibung auslotet. Auch in Tinpest wird der Kontakt mit der Vergangenheit nicht auf Nachweisbares beschränkt. Der Roman bedient sich des Traums als Medium, das Unwahrscheinlichkeiten in einer Erzählung über die Vergangenheit zulässt. Auch dies wird schon in einem der Motti angelegt, das Schopenhauer mit dem Gedanken „Meine Phantasie spielt oft (besonders bei Musik) mit dem Gedanken aller Menschen Leben und mein eignes seyen nur Träume eines ewigen Geistes, böse und gute Träume, und jeder Tod ein Erwachen“⁵¹ zitiert (vgl. TP 5 in niederländischer Übersetzung). Der Roman lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei allen Figuren um Konstruktionen „ohne Blut“ handelt (vgl. 7.2.2). Die komplette Handlung um Lauerspergs Zwangseinsatz wird zudem als Traum von Lauerspergs Freund Dell’Adami nach einem Theaterbesuch inszeniert und damit in Bezug zum Schopenhauer-Motto gesetzt: Toen hij eenmaal ingeslapen was besloot hij, om niet van Anna-Thekla te hoeven dromen, zijn gedachten te laten gaan over de avonturen die zijn vriend Arthur te wachten stonden. Maar omdat zijn fantasie beperkt was en hij het toneelstuk maar niet uit zijn hoofd kon zetten, gaf hij de meeste personages die hij fantaseerde de namen van hem bekende acteurs van het Burgtheater.⁵² (TP 71)

aeckers Œuvre ein und vollzieht nach, wie der Roman auch anhand intertextueller Verweise einer postmodernen Version von Vernes Imagination des Möglichen nahekommt. 51 Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlass, hg. von Arthur Hübscher, Bd. I (Die Genesis des Systems), Frankfurt am Main 1966, § 57. 52 „Als er einmal eingeschlafen war, beschloss er, um nicht von Anna-Thekla träumen zu müssen, seine Gedanken auf die Abenteuer, die seinen Freund Arthur erwarteten, zu richten. Aber weil seine Fantasie begrenzt war und er das Theaterstück einfach nicht aus seinem Kopf bekommen konnte, gab er den meisten Figuren, die er herbeifantasierte, Namen von bekannten Schauspielern des Burgtheaters.“

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Lauerspergs Geschichte im Fort ist also im wahrsten Sinne des Wortes ein „Burgtheater“, dessen Figuren allesamt von Schauspielern besetzt sind, wie der Text am Ende genüsslich preisgibt.⁵³ Die Passagen fungieren als metafiktionaler Kommentar, der ein Produktionsverfahren der Erzählung offenlegt, indem er zeigt, aus welchem Kontext die Romanfiguren ‚rekrutiert‘ wurden. Es sind erdachte und zusätzlich auch noch einmal erträumte Figuren, deren als Dell’ Adamis Traum in die Erzählung eingebettete Geschichte wiederum die Grenze zwischen Traum/Halluzination und Wirklichkeit in den Wüstenspiegelungen aufgreift.⁵⁴ Natürlich strahlt diese Künstlichkeit der Figuren der Burggeschichte auch auf die Figuren der Eingangsgeschichte, Lauersperg, Dell’Adami und Anna-Thekla ab. Im Verdacht auf einen weiteren Traum wird ihnen allesamt die Grundlage eines wirklichen, historisch verbürgten Lebens entzogen. Auch das ‚Durchspielen‘ von Lauerpergs Leben auf Moerabs nicht nur militärisch, sondern auch poetologisch funktionierenden „Plotting Table“ (vgl. 7.3.2) verweist auf das Entstehen dieser Figur und blockiert damit die Erlebnisillusion: Sie ist eben nur „beinahe lebensecht“⁵⁵ (vgl. 7.2.2). Das Schicksal des adeligen Lieutenants Lauersperg verbindet sich dabei mit dem des historisch verbürgten österreichisch-ungarischen Reiches: Nicht nur Lauersperg ist eine Traumfigur, sondern auch das österreichisch-ungarische Reich ist kein faktisch belegbares Territorium, sondern ein Traum. Schon auf seinem Spaziergang zu Beginn der Erzählung trifft Lauersperg auf den „Stromgott“ Danubius, der mit der Donau das österreichisch-ungarische Reich repräsentiert (vgl. TP 12). Seine „Untergötter“ werden bezeichnet als „Satrappen eines Reichs, das sich weit an der Vorstellungskraft vorbei erstreckte; ein Reich, das von einem unbestimmten Traum am Rande des Erwachens zusammengehalten wurde, von dem man nichts wissen wollte“⁵⁶ (TP 12). Das österreichisch-ungarische Reich wird hier analog zur Festungserzählung als Traum inszeniert, welcher im Falle des Reiches die Grenze des Erwachens beinahe überschreitet und daher seinem Ende entgegengeht. Es handelt sich um ein Reich, „das so unüberschaubar war,

53 So verweisen die Namen von Fritz Muliar und Joseph Meinrad auf berühmte Schauspieler des Wiener Burgtheaters, vgl. S. 167 über Fritz Muliar und S. 168 über Joseph Meinrad. Der Figur Fassbaender wird eine eigene Geschichte zugedichtet (S. 170 ff.). 54 Arnold Heumakers spricht von einem „Traum im Traum“ („droom in de droom“): A. Heumakers, Geen uitweg uit het verval. Groteske roman van Louis Ferron. 55 „bijna levensecht“ TP 64. 56 „satrapen van een rijk dat zich uitstrekte tot ver voorbij de verbeelding; een rijk, bijeengehouden door een onbestemde droom op de rand van een ontwaken waar men geen weet van wilde hebben“ (TP12).

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dass es Unbegreiflichkeiten beinhaltete“⁵⁷ (TP 12). Es setzt sich also aus derart heterogenen Elementen zusammen (beispielhaft etwa die Bevölkerungsgruppen der Österreicher, Ungarn, Tschechen, Polen, Slowenen, Serbokroaten, Italiener, Bosnier, Rumänen etc., die keine Einheit ergeben), dass es nicht mehr begreiflich ist. Bei Lauersperg ruft der Stromgott und das mit ihm assoziierte Reich „ambivalente Gefühle“ („ambivalente gevoelens“) hervor (TP 12), da er in ihm die Widersprüchlichkeit seines eigenen Lebens wiederfindet. In den Stromgöttern sieht er „seinen doppeldeutigen Lebenswandel bestätigt“⁵⁸ (TP 14), der zwischen strammem Soldatsein und Prostituiertenbesuchen in Bürgerkleidung,⁵⁹ zwischen militärischer Tatkraft und ästhetischem Lektüregenuss stattfindet.⁶⁰ In diesem Schwanken zwischen Stimmigkeit und Chaos stellt die Figur Lauersperg die Donau-Monarchie dar. Der Erzähler beschreibt die staatsrechtliche Ordnung Österreich-Ungarns in einem geschichtlichen Rückblick folgendermaßen: Een in zijn veelomvattendheid waarlijk keizerlijk en koninklijk bestel dat echter in zijn diffuse samenhang nauwelijks een afspiegeling mocht heten van de eenheidswil die de bouwers van dit Rijk voor ogen moet hebben gestaan: een door een mild orthodox christendom beschenen Midden-Europa als voorhoedepost van een universeel westerse beschaving die, zich aan de oostzijde gedekt wetend, haar blik op het verre Westen kon richten waar, bijvoorbeeld, in Mexiko keizer Maxilimiaan, de broer van keizer Franz Josef en onvervreemdbaar deel uitmakend van die beschaving, het loodje had gelegd. Maar dit terzijde. Hoewel? Dat exotische, zij het kortstondige keizerschap droeg bij tot het idee dat het Rijk veeleer de indruk wekte een van geslacht op geslacht overgeleverde vertelling te zijn, waar iedere generatie het hare aan had toegevoegd en die, meekokend op stromen van bloed, van legende naar legende meanderde om in haar soms haperende, maar vervolgens niet minder krachtige stroom tal van geruchten, leugens, verzinsels en visioenen mee te voeren die het Rijk

57 „dat zó onafzienbaar was dat het [...] onbegrijpelijkheden bevatte“ (TP12). 58 „dubbelzinnige levenswandel bevestigd“ (TP 14). 59 Lauersperg zeigt seine Leidenschaft für Etikette und militärische Selbstbeherrschung etwa in seinem offiziellen Umgang mit Frauen: „Een kort ‚mevrouw overste‘ en dan een stijve hoofdknik naar de vriendin zodat men het aangename gevoel ervoer van de stijve, staande kraag die als een mes in het vlees onder de kin sneed“ („Ein kurzes ‚Frau Oberst‘ und dann ein steifes Kopfnicken zur Freundin, so dass man das angenehme Gefühl des steifen Stehkragens hatte, der wie ein Messer in das Fleisch unter dem Kinn schnitt“) TP 10. Für seine Prostitutiertenbesuche sucht er die Wiener Seitenstettergasse auf, vgl. TP 12/13. 60 “Zijn hele, van boeken vergeven leven lang, dat hij in feite geleefd had vanaf het moment dat hij lezen kon en dat een leven was gebleven náást het militaire [...]“ („Sein ganzes, von Büchern durchdrungenes Leben lang, das er faktisch von dem Moment an, in dem er lesen konnte, gelebt hatte und das ein Leben neben seinem militärischen [...] geblieben war), (TP 14).

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tenslotte gemaakt hadden tot wat het was: een koortsdroom ontstegen aan het megalomane brein van een veelbelovende adolescent.⁶¹ (TP 27/28)

Das österreichisch-ungarische Reich ist hier eine „von Geschlecht zu Geschlecht überlieferte Erzählung“, die im Laufe der Zeit immer mehr „Gerüchte, Lügen, Imaginationen und Visionen“ absorbiert. Die Geschichte des Reiches ist damit weniger von sichtbaren Ereignissen, als von Vorstellungen und Ideen geprägt. Der Dualismus zwischen Peripherie und Zentrum verbindet den Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit. Schlüsselkonstruktion dieses Verfahrens sind die Sätze „Maar dit terzijde. Hoewel?“ („Aber dies nur am Rande. Obwohl?“). Mit dieser Konstruktion, die etwas vom Rand der Wahrnehmung ins Zentrum rückt, wird das auf einer zweifelhaften Basis gegründete österreichisch-ungarische Reich endgültig zum Fiebertraum des jungen Adoleszenten Maximilian, der in seinem Größenwahn vergeblich versucht, dieses Reich bis nach Mexiko auszubreiten. Hier erklärt sich auch der trotz des Einheitswillens seiner Gründer diffuse Zusammenhang dieses Gebildes: Im „Meandern“ zwischen diesen heterogenen Elementen zentriert sich der Strom einer größenwahnsinnigen Erzählung, Maximilians Fiebertraum, der sich ganz wie Dell’Adamis Traum aus Versatzstücken zusammensetzt. Sowohl bei Maximilian als auch bei Dell’Adami ist der Traum ein psychologischer Vorgang, der unzusammenhängende Elemente fokussiert und in einen wenn auch rational nicht nachvollziehbaren Zusammenhang bringt. Das Reich ist wie die Erzählung über Lauersperg eine Fiktion, allerdings eine ungleich gefährlichere: Da das österreichisch-ungarische Reich nicht im literarischen Kontext spielerisch erträumt wird, sondern in die Wirklichkeit umgesetzt werden soll, wird es von „Strömen von Blut“ getragen, also gewaltsam realisiert. Tinpest führt damit vor, wie Fiktionen die Geschichte bestimmen: Geschichtserzählungen

61 „Eine in ihrer Umfassendheit wahrlich kaiserliche und königliche Ordnung, die jedoch in ihrem diffusen Zusammenhang kaum eine Abbild des Einheitswillens genannt werden konnte, welchen die Errichter dieses Reiches vor Augen gehabt haben mussten: ein von einem milden orthodoxen Christentum beschienenes Mitteleuropa als Vorhut einer universal westlichen Zivilisation, die, sich an der Ostseite gedeckt wissend, ihren Blick in den weiten Westen richten konnte, wo, zum Beispiel in Mexiko, Kaiser Maximilian, der Bruder von Kaiser Franz Josef und unveräußerlicher Bestandteil dieser Zivilisation, den Kürzeren gezogen hatte. Aber dies nur am Rande. Obwohl? Dieses exotische Kaisertum, wenn es auch von kurzer Dauer war, trug zu der Idee bei, dass das Reich doch eher den Eindruck erweckte, eine von Geschlecht zu Geschlecht überlieferte Erzählung zu sein, zu der jede Generation das Ihre zugefügt hatte und die, mitkochend auf Strömen von Blut, von Legende zu Legende meanderte, um in ihrem manchmal stockenden, aber deswegen nicht weniger kräftigen Strom unzählbare Gerüchte, Lügen, Imaginationen und Visionen mit zu führen, die das Reich letztendlich zu dem gemacht hatten, was es war: ein Fiebertraum, hervorgegangen aus dem megalomanen Hirn eines vielversprechenden Adoleszenten.“

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verhandeln damit nur vermeintlich Tatsachen wie das österreichisch-ungarische Reich, beschäftigen sich jedoch wie literarische Erzählungen mit Erträumtem. Hier überträgt sich die Störung der Immersion durch die Ausstellung des eigenen Erzählverfahrens auf die Emersion, da auch der historische Kontext des Romans als bloße Erzählung vorgeführt wird.

7.3 Annäherung 7.3.1 Verkörperte Geschichte Strategien der Verfremdung von Geschichte als das unbegreifbar Andere sind in beiden Romanen präsent und deuten auf die kritische Reflexion sowohl der kolonialen Vergangenheit als auch der Möglichkeiten des Erzählens von Geschichte in der Literatur (vgl. 7.2). Gleichzeitig wird trotz aller Verfremdung und Reflexion in beiden Romanen Geschichte erzählt. Neben kritischen Reflexionen werden auch konstruktive Sichtweisen auf das Erzählen von Geschichte thematisiert. Ein Beispiel dafür ist die in beiden Texten vorkommende ‚Körpergeschichte‘. Gemeint ist damit die Verbindung der Geschichtsschreibung mit einem konkreten menschlichen Körper, der im wortwörtlichen Sinne zum Träger der Geschichte wird. Durch diese ‚Verkörperung‘ der Geschichte wird die Möglichkeit der Verbindung von Gegenwart und Geschichte angedeutet. Schutzgebiet siedelt diese Art der Geschichtsschreibung im von der Welt der Festung scheinbar abgeschirmten Kreis der regionalen „tolanesischen“ Bevölkerung an und schließt die Möglichkeit der Geschichtsverkörperung damit in die textuelle Erlebniswelt ein: Innerhalb der Erlebnisillusion werden Möglichkeiten der Repräsentation von Vergangenheit erprobt. Die Grenze zwischen der Festung Ben¯esi und der sie umgebenden Außenwelt wird schon dadurch als besonders inszeniert, dass nicht irgendwer in sie überschreiten kann. Dieses besondere Projekt bleibt dem professionellen Forschungsreisenden „Dr. Rüdiger Lautenschlager“ vorbehalten (SG 70). Mit seiner Person wird zunächst das Thema der Dokumentation eingeführt. In diesem Zusammenhang sind menschliche Körper noch zu dokumentierende Objekte, um später selbst zu Medien der Dokumentation zu werden. Lautenschlager als „etwas in die Jahre gekommener Held aus einer germanischen Sage“ (SG 70) hat die Gralssuche in den Busch verlegt. Dem umtriebigen Forscher wird eine umfassende Reiseerfahrung angedichtet: Er verweist stolz darauf, dass er 1908 schon Paul Graetz begleitet habe. Dieser Verweis ist verifizierbar, denn in der Tat ist die fotografisch dokumentierte Abenteuerreise des Offiziers Paul Graetz belegt, der im sogenannten „Unimog“, einem „Universal-

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Motor-Gerät“, Afrikas Südhälfte von den deutsch besetzten Gebieten im Westen bis zur Ostküste durchquerte und dabei vor allem die Fotos seiner Reise zur öffentlichkeitswirksamen Finanzierung seiner Reise benutzte.⁶² Durch den Verweis wird also das Thema der Dokumentation eingeleitet. Die Fotodokumentation scheint auch Dr. Lautenschlagers wichtigster Antrieb zu sein, wie er im Verweis auf die ihm zugedichtete Anwesenheit auf Graetz’ Expedition erklärt: Ich dokumentierte die unglaubliche Reise. Nicht Graetz’ Bericht glaubte man – erst meinen Fotos. Was aber viel schwerer wiegt: Ich habe bislang 43 Stämme besucht und deren rituellen Schmuck, wie ich es nenne, fotografisch katalogisiert. Für die Nachwelt, für die Wissenschaft. Wenn ich wieder in Deutschland bin, werde ich alles dran setzen, die Bilder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mir schwebt eine Vortragsreihe mit dem Titel ‚Das Antlitz Afrikas‘ vor. (SG 145)

Das Stichwort der „fotografischen Katalogisierung“ bezeichnet deutlich, dass es Lautenschlager mit seinen Fotgrafien um die Erschließung der afrikanischen Lebenwelt anhand äußerlicher Merkmale geht. Ziel der „fotografischen Katalogisierung“ ist vor allem Glaubwürdigkeit durch die bloße Abbildung: Das Unglaubliche soll durch die Fotos glaubhaft werden. Lautenschlager beabsichtigt also eine von ihm gezielt aufbereitete Konfrontation des deutschen Publikums in Europa mit dem fremden Afrika. Im Vorgang des Katalogisierens wählt der Fotograf Ausschnitte der Wirklichkeit, in diesem Fall verschiedene Beispiele von Körperschmuck, aus und stellt so eine Selektion zusammen, die ein Bild ergeben soll. An dieser Stelle wird das Thema der (fotografischen) Dokumentation durch Lautenschlagers Auswahl der Bildmotive mit dem Thema des Körpers verknüpft. Schon im Titel von Lautenschlagers erträumtem Vortrag, dem „Antlitz Afrikas“, klingt an, dass mit dem selektierten Bild eine Körperdokumentation beabsichtigt ist. In den verschiedenen Ablichtungen von geschmückten Körpern soll ein mögliches ‚Gesicht‘ Afrikas einer westlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Fotos sublimieren die Körper der afrikanischen Bevölkerung in ein ästhetisiertes, veredeltes „Antlitz“, dem man in die Augen blicken kann. Lautenschlager präsentiert dem europäischen Publikum den ‚edlen Wilden‘, der – der Inszenierung durch die Fotos völlig widersprechend – vor allem die vermeintlich in der westlichen Zivilisation verloren gegangene Natürlichkeit ausstrahlen soll.⁶³ Lautenschlagers Aufbereitung des exotischen Stoffes lässt dabei das nötige Gefühl für Sensation nicht vermissen, welches sich mit dem ungehinderten Blick

62 Vgl. den mit zahlreichen Fotografien versehenen Reisebericht: Paul Graetz, Im Auto quer durch Afrika, Berlin 1910. 63 Zur Konstruktion des Anderen zwischen Kannibalismus und edlem Wilden siehe Marianna Torgovnick, Gone primitive. Savage Intellects, Modern Lives, Chicago/London 1990, S. 3–41.

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auf die Körper durch die Fotografien verbindet. In den Festungskonversationen geht er dementsprechend vor allem auf die aus westlicher Sicht abnormen Eigenschaften der dokumentierten Körper ein: „Angefeilte Zähne, absichtlich zugefügte Narben, durchbohrte Lippen und Nasen, Beschneidungen in Bereichen, die ich aus Rücksicht auf die anwesende Dame...“ (SG 144) Die aus westlicher Sicht als Versehrtheit gedeutete Schmückung der abgelichteten Körper steht im Gegensatz zur Makellosigkeit des „Antlitzes“, das in der Zusammenschau der Körperbilder entstehen soll. Das „Antlitz Afrikas“ wird so zum Decknamen, der unter scheinbar edler Oberfläche genau das ‚Wilde‘ versteckt, mit welchem das europäische Publikum durch die Fotodokumentation in Kontakt kommen möchte. Die emersiven Darstellungsverfahren inhärenten Manipulationsmöglichkeiten werden überdeutlich. Der für das Thema der Dokumentation wichtige Widerspruch der künstlich hergestellten Natürlichkeit wird bereits zu Beginn des Romans in Henrys Besuch der Pariser Weltausstellung 1913 vorgeführt. Menschliche Körper sind hier nicht nur Darstellungsobjekte, sondern werden selbst Medien, die Informationen übertragen. Schon hier geht es um den europäischen Kontakt mit Afrika, der sich im Rahmen der Weltausstellung mit dem zweifelhaften Phänomen des ‚Menschen-Zoos‘ verbindet. Mit den ‚Menschen-Zoos‘ bezieht sich der Roman wiederum auf historische belegbare Ereignisse, ‚Menschenausstellungen‘ sind im ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert vielfach belegt. Besonders auf den Weltausstellungen wurden bestimmte Kulturen bewusst der technisch hochentwickelten westlichen Kultur gegenübergestellt. Theoretische Grundlage dieser zwischen gewinnträchtiger Vermarktung und wissenschaftlichem Experiment angesiedelten Praktiken war ein auf der Evolutionstheorie fußender anthropologischer Diskurs, in welchem auf der Suche nach dem Ursprung des Menschen eine Klassifizierung und Hierarchisierung von menschlichen Kulturen vorgenommen wurde. Im Besuch einer solchen ‚Menschen-Ausstellung‘, welche die Lebensform einer bestimmten Gemeinschaft scheinbar objektiv und ‚lebensecht‘ dokumentierte, konnte die Grenze zwischen diesen unterstellten menschlichen Entwicklungsformen gerade im inszenierten Kontakt indirekt bestätigt werden.⁶⁴

64 Vgl. als Überblicksdarstellung zu diesem Thema: Zoos humains. Au temps des exhibitions humaines, hg. von Nicolas Bancel, Pascal Blanchard, Gilles Boëtsch, Éric Deroo und Sandrine Lemaire, Paris 2004. Die Entwicklung der ‚Menschen-Zoos‘ in Deutschland wird in folgendem Artikel zusammengefasst: Alexander Honold, Der Exot und sein Publikum. Völkerschau in der Kolonialzeit. In: Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung, hg. von Frank Becker, Beiträge zur europäischen Überseegeschichte 90, Stuttgart 2004, S. 357–375.

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In Schutzgebiet wird eine solche Szene ironisch vorgefüht, wenn Henry mit seiner Cousine Mlle. Villiers aus sicherem Abstand beobachtet, wie eine teilnahmslose „Eingeborene [...] ihre Hängebrust mit der Hand an[hebt]“, um ihr Baby zu stillen (SG 30). Zur Hervorhebung der Künstlichkeit dieser scheinbar natürlichen Szene wird auf eine „weiße Tafel“ hingewiesen, die vor dem „Gehege“ der Frau mit der Beschreibung „Négresse avec petit (Tola)“ den Inszenierungscharakter der scheinbar objektiven Dokumentation betont, da das Schild voraussetzt, dass es sich bei der Frau um eine Darstellerin handelt, die eine scheinbar „natürliche“ Handlung zu Vorführungszwecken ausführt. Das in Klammern gesetzte „Tola“ verweist zugleich auf die nicht minder inszenierte Erzählsituation des Romans, mit dem fiktiven Schauplatz der erfundenen „Kolonie Tola“, in welcher sich ein Großteil der Romanhandlung abspielt. In belustigender Übertreibung siedelt der Text neben diesem Ausstellungsstück eine Gruppe Afrikaner um ein Lagerfeuer an, dessen Rauchbildung so stark wird, „dass der Eiffelturm [...] verschwunden ist“ (SG 30). Im Besuch der Weltausstellung als inszeniertem Raum führt der Roman eine ‚Immersion in der Immersion‘ vor. Die Lesenden fühlen sich in Henrys Welt versetzt und ‚erleben‘ in dieser Lage mit, wie die Figur Henry selbst in einer Erlebnisillusion aufgeht. Henry ist von der Inszenierung des ‚Menschen-Zoos‘ angetan: Er wähnt sich im afrikanischen Busch (vgl. SG 30). An dieser Stelle verschränkt der Text die künstliche Ausstellungssituation zusätzlich mit der ebenso konstruierten Romanhandlung, die Henry „tatsächlich“ nach Tola versetzen wird, wie die Lesenden an dieser Stelle bereits wissen. Die in der Ausstellung beabsichtigte Illusion des Zugänglichmachens glückt, Henry fühlt sich an einen anderen Ort versetzt. Es ist typisierend für den von Steinaeckers Roman, dass er einerseits Künstlichkeit und Inszenierungscharakter kultureller Praktiken hervorhebt, andererseits aber auch ihre Effektivität vorführt. Genau wie Henry sich mitten unter dem Pariser Eiffelturm fühlt, als sei er in Afrika, kann auch die Leseerfahrung des vorliegenden Textes trotz aller Künstlichkeitssignale die Illusion erzeugen, man sei – ganz wie Henry in der Schiffbruchszene – in die beschriebene vergangene Zeit eingetaucht. Der Text verweist somit explizit darauf, dass Illusionsbildung trotz oder gerade aufgrund ausgestellter Künstlichkeit gelingen kann. Gleichzeitig taucht schon in dieser Pariser Szene ein auch während Henrys späterer Buscherfahrungen ‚vor Ort‘ wichtiges Element auf: Eine auffälliges Merkmal der von Henry und seiner Cousine beäugten „Eingeborenen“ ist ihre Haut, deren Tätowierung besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Um die Frage der Cousine, „[w]as die Tätowierungen wohl darstellen“ (SG 30), beantworten zu können, kommt es zu einer Grenzüberschreitung, bei der ein direkter Kontakt hergestellt wird:

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Wortlos, mittels eines Stocks, einer Art Zeigestab, hebt der Wärter den tätowierten Arm des schwarzen Mannes an, etwa so wie man ein Stück Fleisch in der Pfanne wendet, um zu überprüfen, ob es schon gar ist. Mlle. Villiers wirft zunächst nur einen kurzen angewiderten Blick darauf. Dann, nachdem Henry über die bunten Spiralen, Kreise und Rechtecke auf der Haut des Wilden streicht – ganz glatt ist sie, wie die eines Kindes – , berührt auch seine Cousine den Arm vorsichtig mit den Fingerkuppen. Ihren Handschuh hat sie dafür abgestreift. [...] Eigentlich ist die Szene absolut ungehörig – und trotzdem befriedigt ihn der Anblick der schmalen Finger seiner Cousine auf den Tätowierungen des Eingeborenen. Henry ist fast, als könnte er ihre Berührung auf seinem eigenen Oberarm spüren. (SG 31/32)

In diesem ‚Kulturkontakt‘ werden herrschende Gesetze und Normen außer Kraft gesetzt. Henry und seine Cousine fühlen sich durch den Ausnahmezustand zu Berührungen berechtigt, die in ihrer Kultur in einer derart öffentlichen Lage nicht erlaubt wären. Gerade für Mlle. Villiers mit ihren abgestreiften Handschuhen ist diese direkte Berührung eine erotische Sensation. Genau wie der anschließende Besuch des „manoir á envers“, dem „verkehrten Haus“ (SG 32/33), stellt dieses Erlebnis alles auf den Kopf. Auffälligerweise zeigen Henry und seine Cousine Eigenschaften, die sie sonst den von ihnen beäugten und berührten „Eingeborenen“ unterstellen würden,⁶⁵ nun selbst: Während Henry findet, dass sich die Haut des Afrikaners glatt „wie die eines Kindes“ anfühlt, verhalten sich seine Cousine und er wie Kinder, wenn sie etwas nicht nur sehen, sondern auch berühren müssen. Auch der Kannibalismus als stereotype Assoziation mit den „Eingeborenen“, verkehrt sich in der Beobachtung, dass der Körper des Afrikaners in demütigender Weise wie einzuverleibendes Fleisch in der Pfanne behandelt wird. Gleichzeitig verbindet sich mit der Berührung eine erotisch konnotierte Ungehörigkeit öffentlichen Körperkontaktes, wie sie in Henrys und Mlle. Villiers Gesellschaft nur anderen Kulturen zugeschrieben wird. Der Arm des „Eingeborenen“ wird derart zur Projektionsfläche (vgl. 7.2.2), dass über die Haut des Afrikaners ein Kontakt zwischen Henry und seiner Cousine zustande kommen kann: Durch die Vorführung einer Kontaktaufnahme scheint ein Kontakt hergestellt werden zu können. In der direkten Berührung des durch die Tätowierung versehrten Körpers kann das Unbekannte körperlich erfahren werden, wo bloße Überlieferung und Beschreibung nicht ausreicht. Wie in der biblischen Szene des ungläubigen Thomas, der seine Hände in die Wunden des Auferstandenen legen muss, um ihm glauben zu können (vgl. Joh 20, 27), wird hier sprachlich-intellektuelles Wissen in körperliches Erfahren übertragen. Der Körper als Medium soll auch bei der Körpergeschichtsschreibung

65 Vgl. Torgovnicks Ausführungen zur stereotypen Wahrnehmung des „Primitiven“ in westlicher Kultur: M. Torgovnick, S. 22. Auch Sigrid Löffler spricht von den in Schutzgebiet ausgestellten „gängigen Afrikabildern“: S. Löffler, Löfflers Lektüren.

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einen direkten Zugang zur Geschichte ermöglichen, wobei dabei auch tätowierte Haut eine Rolle spielt. Die tätowierte Haut ist im doppelten Sinne des Wortes ‚gezeichnet‘, als mit Zeichen versehene, aber auch durch die Tätowierung verletzte Haut. Mit ebensolcher Haut wird Henry ein zweites Mal in Tola konfrontiert, wenn er zusammen mit Dr. Lautenschlager auf Fotoreise geht. In dieser Begegnung verschränkt sich das westliche Projekt der Repräsentation afrikanischer Körper mit Repräsentation durch diese Körper. Wo Lautenschlager die menschlichen Körper als „Forschungsgegenstand“ auf lichtempfindlichen Scheiben bannt, ritzen die besuchten afrikanischen Dorfbewohnerinnen und –bewohner die Geschichte ihres Volkes in die Haut eines ihrer Mitglieder, wie der aus Interesse mitreisende Henry beobachtet: „Als Letztes steht ein Mann vor ihnen, von dem Henry zunächst annimmt, er sei krank. Seine Haut ist über und über mit Schwielen und Auswüchsen überzogen. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt Henry, dass es sich nicht um Wunden, sondern um winzige tätowierte Szenen handelt“ (SG 200). An dieser Stelle wird eine Übersetzerfigur nötig, welche der Text Schutzgebiet in dem rätselhaften Dolmetscher Dédu bereit stellt, den Lautenschlager eingestellt hat und der von keiner Seite eindeutig einzuschätzen ist (vgl. SG 150 ff.). Er erklärt die Tätowierungen für Henry: Weil das besuchte Volk der ‚Tresa‘ keine Schrift kenne, hätten sie sich in diesem tätowierten Dorfbewohner ein „lebendes Buch“ geschaffen, „bei dem die Seiten aus Fleisch und Blut gemacht sind“ (SG 200). Dieser „Geschichten-Mann“ wird wie ein Heiliger behandelt, denn „[i]st der Geschichten-Mann fort, ist auch die Geschichte des Dorfes und all seiner Bewohner fort“ (SG 200). In der Figur dieses ‚Geschichtenmannes‘ taucht im auf Oberflächlichkeit ausgelegten Textuniversum von Schutzgebiet, wenn auch ironisiert, die Vision eines lebenden Buches auf. Lautenschlager bleibt von dieser erneut zur Karikatur übertriebenen (vgl. 6.2.3) Fleisch-und-Blut-Geschichte unbeeindruckt und reagiert mit der geringst möglichen Sensibilität: „‚Na, siehste mal‘, sagt Lautenschlager, ‚dann können die Tresa ja froh sein, dass wir jetzt ein Foto von ihrem Geschichten-Mann machen. Ich stelle Abzüge her und dann kann jeder den Geschichten-Mann mit sich herumtragen. Sag das denen mal, Dédu‘“ (SG 200/201). Zu Lautenschlagers Überraschung untersagen die Tresa jedoch Fotografien des Geschichten-Mannes: „Es kann nur einen geben. Das ist das Gesetz“ (SG 201). In dieser Konfrontation zwischen Lautenschlager und den Tresa wird deutlich, wie entscheidend der Unterschied zwischen den Oberflächen ist, welche sie für ihre Aufzeichnung gebrauchen. Während das Fotopapier die Reproduktion der Abbildung möglich macht, geht es bei der Haut als Informationsträger gerade um die Singularität. Die Geschichte verbindet sich in einer speziellen Form des ‚reenactment‘ über die Haut mit einem Menschenleben und wird dadurch, zumindest was ihr Me-

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dium betrifft, lebendig. Diese Verbindung wird noch dadurch verstärkt, dass die Geschichte sozusagen in die Hautoberfläche eingegraben ist: Die Haut wird geöffnet und damit verwundet, um diese Wunden einfärben und die Geschichte festhalten zu können. Die Dokumentation der Geschichte bleibt damit nicht an der Oberfläche. Auch in Tinpest gibt es Versuche Geschichte zu „verkörpern“, indem sie auf die Haut übertragen wird. Während des Verbleibs im Fort entwickeln die verschiedenen Figuren unterschiedliche Tätigkeiten, mit denen sie die Sinn- und Ziellosigkeit ihres Aufenthalts zu kompensieren suchen. Lauersperg beginnt mit seinem „Stiefelgestarr“ (TP 139), Fassbaender fährt mit seiner „Quacksalberei“ fort (vgl. TP 102) und Muliar fängt an, zwanghaft die Festung zu fegen (TP 107). Weist diese letzte Tätigkeit Muliars im Versuch der Selbstreinigung schon auf die Verarbeitung von negativen Erfahrungen hin, schließt daran Meinrads Verfassung einer „Weltschandchronik“ an. Im Laufe Festungsaufenthalts beginnt Sergeant Meinrad nämlich, auf seinen eigenen Körper rätselhafte Notizen zu schreiben. Wie in der Menschenzoo-Szene in Schutzgebiet dient dabei der Arm als Medium: „Ik citeer...“ zei Meinrad, maar hij vertelde er niet bij wie of wat. Zoals hij nooit ook maar iets vertelde over wat hem bewoog, wat de reden kon zijn dat sommige van zijn handelingen in andermans ogen dikwijls wat merkwaardig overkwamen. Zo beschikte hij als enige van het bataljon over een anilinepotlood waaraan hij soms verlekkerd kon likken, waarna hij zijn mouw opstroopte, wat aantekeningen op zijn onderarm maakte en mompelde. „Kan ik nog gebruiken“, was het enige commentaar als iemand hem vroeg naar aard en doel van zijn aantekeningen.⁶⁶ (TP 101)

Genau wie Meinrad in seinen leeren Zitaten erfolglos versucht, respektable Größen aufzurufen, welche die sinnlose Situation des Bataillons autorisieren könnten, möchte er auf seinem Arm etwas schriftlich festhalten, das ihm vielleicht einmal bei der Einordnung seiner Lage nutzen könnte. Der Einsatz seines Körpers ist dabei wesentlich, sowohl beim Aktivieren des Anilins, der Schreibsubstanz, durch das Lecken, als auch bei der Bereitstellung der Schreibfläche in Form des Arms. Meinrad „beschreibt“ sich im wahrsten Sinne des Wortes selbst und nutzt dabei seinen Körper, um die enge Verbindung zwischen ihm und der

66 „‚Ich zitiere..‘. sagte Meinrad, aber er sagte nicht dazu wen oder was. So wie er nie auch nur etwas von dem erzählte, was ihn bewegte, was der Grund dafür sein konnte, dass manche seiner Handlungen in anderer Leute Augen oft etwas merkwürdig erschienen. So verfügte er als einziger des Bataillons über einen Anilinbleistift, an dem er manchmal versessen lecken konnte, wonach er seinen Ärmel zurückstreifte, ein paar Notizen auf seinem Unterarm machte und murmelte. ‚Kann ich noch gebrauchen‘, war der einzige Kommentar, wenn jemand ihn nach der Art und dem Ziel seiner Notizen fragte.“

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Geschichte zu symbolisieren. Es geht dabei um die „sorgfältige Buchhaltung von allem, was sich seit ihrer Abreise aus Wien abspielte“⁶⁷ (TP 106), er will sich also ganz Huizingas Geschichtsdefinition entsprechend Rechenschaft über die Vergangenheit geben (vgl. 3.3.2). Seiner speziellen Art der Buchhaltung gelingt es jedoch nicht, Ordnung in die Lage zu bringen, vielmehr beginnt „dieser Arm [...] so allmählich wohl einem sehr düsteren Palimpsest zu gleichen, das überhaupt nicht mehr als Leitfaden für seine Taten und Entscheidungen dienen konnte“⁶⁸ (TP 106). Wo die Tresa ihre Geschichte vom Ursprung bis in die Zukunft linear auf ihrem „Geschichten-Mann“ ausbreiten, überlagern sich in Tinpest die Schriftebenen in der Form des Palimpsestes. Die beschriebenen Ereignisse verschwinden so immer wieder hinter neuen Beschreibungen, so dass eine unentwirrbare Anhäufung von Schrift entsteht, der keine orientierenden Informationen mehr zu entnehmen sind. Auch wenn Meinrad schließlich bis zu seiner Schulter hinaufschreibt, wird die Verwirrung immer größer. Schließlich muss er schlussfolgern, dass „[sein] Entwurf einer Chaostheorie [...] im Chaos untergegangen [war]“⁶⁹ (TP 163). Fassbaender grinst über Meinrads „Gekritzel“ und bezeichnet es spöttisch als „Weltschandchronik“ (TP 163), was Meinrad selbstironisch zur „Weltschandkomik“ umformuliert. Als Chronist der Festung scheitert Meinrad daher zwar, jedoch ist bei ihm, der sich im Gegensatz zum „Geschichten-Mann“ der Tresa selbst mit Zeichen auf seiner Haut versieht, der Prozess der Aufzeichnung wichtiger als das Resultat. Sowohl in Tinpest als auch in Schutzgebiet wird damit in der Körpergeschichte der Versuch deutlich, Geschichte als Teil der eigenen Identität in sich selbst einzuschreiben, Immersion und Emersion so auf besondere Weise zu verbinden. Je weiter die geschilderten Ereignisse zurückliegen, desto wichtiger wird eine Aufzeichnung, die so nah wie möglich am eigenen Leben und an der eigenen Gegenwart sein soll. Das Verzeichnen der Geschichte auf der eigenen Haut ist ein Versuch der Einswerdung mit Vergangenheit. Das kulturelle Gedächtnis, die mediale Speicherung der Geschichte, soll mit dem eigenen Körper zusammenfallen: Geschichte soll nicht nur Hirngespinst sein, sondern zum lebenden Körper werden. Die Tresa bilden ihre Geschichte auf der Haut eines ihrer Mitglieder ab. Meinrad schreibt und überschreibt seinen linken Arm immer wieder, für ihn wird das Schreiben auf dem eigenen Körper zu einem Verarbeitungsprozess. In beiden Fällen ist der Prozess der Verarbeitung und Aktivierung von Geschich67 „zorgvuldig boekhouden van alles wat zich sinds hun vertrek uit Wenen afspeelde“ (SP 106). 68 „die arm [...] zo zoetjesaan wel op een heel duister palimpsest te lijken dat in het geheel niet meer als leidraad voor zijn daden en beslissingen kon dienen“ (TP 106). 69 „[z]ijn ontwerp voor een chaostheorie [...] in chaos ten onder gegaan [was]“ (TP 163).

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te von größerer Wichtigkeit als ihre Reproduzierbarkeit. Gleichzeitig kann nicht verhindert werden, dass die Geschichte vom eigenen Körper Besitz ergreift. Bei der Tätowierung wird die Geschichte sogar so in den Körper eingegraben, dass sie ihn verwundet. Aber gerade dieses (Er-)Tragen von Geschichte stellt einen besonderen, wenn auch schmerzvollen Bezug zur Vergangenheit her.

7.3.2 Fantastische Geschichte Wie im ersten Kapitel von Schutzgebiet angedeutet und im vorletzten Kapitel aufgegriffen, beendet Henry sein Leben mit einem „Schritt [...] [i]n die Luft“ (SG 10, vgl. 7.2.1 und 7.3.3). Dieser Selbstmord erstaunt Henry durch seine Leichtigkeit: „Es ist ein überraschend kleiner Schritt. Die unendliche Strecke von der Idee zu ihrer Niederschrift und Umsetzung, die er bei seiner Arbeit am Schreibtisch oft als so quälend empfand. Dieses Mal überwindet er sie. Ein für alle Mal“ (SG 10). Henry gelingt in seinem ‚Freitod‘ ohne Anstrengung die Überwindung der Grenze zwischen Idee und Umsetzung. Der Selbstmord kann poetologisch gelesen werden: Henrys freier Fall folgt den Gesetzmäßigkeiten der Schwerkraft und ist, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr aufzuhalten. Genau dieser ‚realistische‘ und in unserer Wirklichkeit immer wieder zu erwartende Ablauf wird jedoch in dem Roman Schutzgebiet dadurch ausgesetzt, dass Henry am Ende des ersten Kapitels mit seinem Schritt „in die Luft“ hängenbleibt – Henrys Schritt führt direkt in das zweite Kapitel, das seine Geschichte erzählt. Im Gegensatz zu seinem erst gegen Ende des Buches beschriebenen freien Fall versetzt Henrys Schritt zu Anfang des Romans ihn in einen Schwebezustand, der ihn eine ganze Romanhandlung lang vom Boden der Tatsachen fernhält. Diese Szene ist insofern programmatisch für den Roman, als dass sie demonstriert, wie eine Erzählung Realismus zwar andeuten, aber auch problemlos aussetzen kann. Im weiteren Verlauf des Romans wird deutlich, dass gerade scheinbar unrealistische Elemente, deren Wirklichkeitsbezug im Kontext des historischen Erzählens fragwürdig ist, der erzählten Vergangenheit besonders nahe kommen können. In der Vermischung des historischen Erzählens mit dem fantastischen Erzählen werden immersive Störungen durch unwahrscheinliche Elemente wieder entkräftet: Die Erzählung lädt zur Immersion in eine Erzählung ein, die sich nur sehr lose auf eine Referenzillusion beruft, diese aber nie ausschließt. In Tinpest findet sich ein ähnliches Bild der dichterischen Gestaltungfreiheit. Schlüsselwort ist hier der Begriff des Plotting Tables (TP 175), an dem Hadj Moerab und seine Generäle zusammenstehen und Lauerspergs Aufenthalt in der Wüste „durchspielen“ (vgl. 7.2.3). Als „Auswertetisch“ ist hier zunächst ein militärisches Instrument zur Visualisierung und Bewertung von Truppenbewegungen gemeint.

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Mit dem Begriff des Kartierens („to plot“), welcher sowohl mit der literarischen Handlung („plot“) als auch mit dem militärischen Coup („plot“) zusammenfällt, wird die Planung einer Romanhandlung zum militärischen Anschlag (vgl. 7.2.1). Wie die Schlacht braucht die Erzählung eine Eröffnung, baut die Spannung über den Ausgang auf und handelt Positionen aus. Aufgrund eines Entwurfscharakters lässt der Plotting Table jedoch auch unmögliche Wendungen und Ereignisse zu, die auf der Oberfläche des Tisches durchgespielt werden können (vgl. 7.2.2 zur Projektion). Dies verdeutlicht der Einsatz eines Zeppelins in Spielzeugform: „Ein Janitscharenkapitän holte einen rot-weiß gestreiften Zeppelin aus seiner Brusttasche hervor und ließ diesen, zwischen Daumen und Zeigefinger, eine Erkundungsfahrt über die Tafel beschreiben, wobei er ab und zu ‚Bumm-Bumm‘ sagte und mit seiner linken Hand ein paar Spielfiguren von der Karte fegte“⁷⁰ (TP 64). Mit diesem schwebenden Element im Spielaufbau wird die Handlung des Romans ‚unwahrscheinlich‘. Schon auf dem Weg zur Festung tauchen seltsame Phänomene auf, wie Meinrad Lauersperg berichtet. Meinrad konfrontiert Lauersperg mit den ersten „Trugbildern“ in der Erzählung, welche die Wüste für die Verbannten bereit hält:⁷¹ „Es hätten Männer am Wegesrand gestanden [...] Männer, welche die Hände auf Brusthöhe mit den Handflächen nach oben vor sich ausgestreckt hielten, als ob sie unsichtbare Bücher läsen“⁷² (TP 72). Lauersperg versucht, sich Meinrads Vision der Männer mit der Dunkelheit der Wüste zu erklären. Gerade diese Dunkelheit wird jedoch von den Einheimischen „das ungeschriebene Buch“ genannt (TP 72/73). Die zwergenhaften Männer mit den unsichtbaren Büchern am Wegesrand markieren den Übergang in das unwegsame und unberechbare Gelände einer noch ungeschriebenen Geschichte. Im Einzug in die Wüste werden unerwartete Wendungen und Ereignisse wahrscheinlich – ein Topos der schon seit biblischen Urtexten wie dem Auszug aus Ägypten geprägt wird (vgl. die wundersame Speisung des Volkes Israel mit Manna und Wachteln in der Wüste, 2. Mose (Ex) 16, 1-36). Lauersperg selbst bemerkt diesen Übergang in einen unberechenbaren

70 Een janitsarenkapitein [...] haalde een rood-wit gestreepte zeppelin uit zijn borstzak en liet deze, tussen duim en wijsvinger, een verkenningstocht boven de tafel beschrijven, waarbij hij af en toe ‚boem-boem‘ zei en met zijn linkerhand een paar pionnetjes van de kaart veegde“ (TP 64). 71 Im Niederländischen wird die Eignung der Wüste als Bühne für Wahnvorstellungen noch dadurch betont, dass das niederländische Wort für Trugbild, „drogbeeld“, nur einen Buchstaben von einem mit der Wüste assoziierbaren „droogbeeld“, einem „Trockenbild“, entfernt ist. 72 „Er zouden mannen langs de weg hebben gestaan [...] Mannen die [...] de handen op borsthoogte, met de handpalmen naar boven, voor zich gespreid hielden, alsof ze in onzichtbare boeken lazen“ (TP 72).

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Raum, in welchem – ganz wie in Schutzgebiet – die normalen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt scheinen: En hij was tot de conclusie gekomen dat het in de wereld waarin zij nu vertoefden met de wetten van oorzaak en gevolg iets anders was gesteld dan in de werkelijke wereld en dat je je daar in principe geen zorgen over hoefde te maken omdat je, zolang je je eigen causaliteitswetten maar aanhield, in feite onkwetsbaar was voor de fata morgana’s die gestookt werden in de retorten van lui die, bij wijze van spreken, het wiel nog moesten uitvinden [...] Nu kon Meinrad hem wel gezegd hebben dat het juist de machinaties van dat soort lieden waren waar wij westerlingen geen verweer tegen hadden, maar daar had Lauersperg dat veelgeroemde wiel tegen ingebracht, die ratio waarop de ongehoordheden van dat Ingoesjetenvolkje als druppels van een eend afgleden.“⁷³ (TP 73)

Schon der schiefe Vergleich der Vernunft mit einer Ente deutet in diesem Zitat darauf hin, dass Lauerspergs Versuch, sich unter Berufung auf die „Ratio“ und das Faktische den Machenschaften der „Leute, die das Rad noch erfinden müssen“ zu entziehen, zum Scheitern verurteilt ist. Lauersperg möchte sich deutlich von Luftspiegelungen und Wahnvorstellungen abgrenzen und stellt diese daher als künstliche Produkte der Retorten „dieses Inguschetienvolkes“ dar. Zuvor verweist er auf die von Moerab angebotenen Wasserpfeifen als Grund für die Entstehung der Trugbilder (TP 73), so dass hier noch einmal deutlich der Bezug zwischen den Aktivitäten in Moerabs Militärlager und den Vorgängen in der Wüste hergestellt wird. Denn gerade die rätselhaften Interventionen von Moerab und seinen Offizieren sorgen dafür, dass eine sich auf diesem Schauplatz entfaltende Handlung nicht mehr den üblichen Gesetzen von Ursache und Wirkung folgen muss, sondern „faktisch“ sehr wohl „verletzbar“ ist. Gerade in dieser Abwendung von kausalen Zusammenhängen liegt auch die Vernachlässigung eines erzählerischen Strukturprinzips, welches einen nachvollziehbaren und damit glaubwürdigen Zusammenhang in einer Erzählung schafft, wie er zunächst in der Geschichte von Lauersperg in Wien inszeniert wird (vgl. 7.2.1). Mit dem Eintritt in die Wüste wird nicht nur die Referenzillusion der Erzählung zweifelhaft. Die unrealistischen Ele-

73 „Und er war zu dem Schluss gekommen, dass es in der Welt, in der sie sich nun aufhielten, um die Gesetze von Ursache und Folge etwas anders bestellt war als in der wirklichen Welt und dass man sich darüber im Prinzip keine Sorgen machen musste, da man, solange man die eigenen Kausalitätsgesetzte beibehielt, faktisch unverletzbar war von den Fata Morganas, die gebraut wurden in den Retorten von Leuten, die sozusagen das Rad noch erfinden mussten [...] Nun hatte Meinrad ihm schon gesagt, dass es gerade die Machenschaften dieser Art Leute waren, wogegen wir Westler keine Verteidigung haben, aber darauf hatte Lauersperg das vielgerühmte Rad eingebracht, die Vernunft, auf der die Ungehörigkeiten dieses Inguschetienvolkes wie Tropfen von einer Ente abperlten.“

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mente stören auch die Erlebnisillusion, da sie der realistisch angelegten Erzählwelt die Glaubwürdigkeit nehmen. Auch in Schutzgebiet scheinen einige Erzählelemente der Retorte entsprungen, so zum Beispiel der „Vogel Blob“, dieser „straußähnliche[n] Vogel[s], den Käthe von ihrem Fenster aus manchmal mit seinem kurios langen Hals regungslos wie ausgestopft zwischen Büschen in der Steppe stehen sieht“ (SG 144).⁷⁴ Lautenschlager hatte ihr erklärt, wie man dieses Verhalten nennt: „Mimikry. Der Blob ahnt den Jäger und tut so, als sei er eine Pflanze“ (SG 144). Mit unverhohlener Ironie verweist die Schöpfung dieser afrikanischen Vogelart auf die Irrationalität von Nachahmungen, wie sie auch der Literatur eigen sind. Genauso wenig, wie ein Vogel in Anbetracht der Gefahr überzeugend eine Pflanze nachzuahmen fähig ist, kann die Literatur sich in Anbetracht der Vergangenheit in einen historischen Gegenstand verwandeln. Diese Verwandlungsprozesse finden eher in den Köpfen der Verwandlungswilligen statt, die historische Erzählung wird zu einer synthetischen Droge, unter deren Einfluss etwa der Festungsarzt Brückner alle möglichen Gestalten annehmen kann: „Brückner ist ein Fisch. Einer jener kleinen, eher breiten als langen, mit einem Rüsselchen und einem zitronengelberdbeerroten Karomuster“ (SG 331). Wie in dieser Drogenvision Brückners wird im Roman Schutzgebiet alles in ein schillerndes Licht getaucht. Die Pläne und Träume der Hauptfiguren grenzen an Wahnsinn, wie vor allen Dingen Gerbers Projekt des deutschen Waldes in Afrika immer wieder vor Augen führt. Dieser Wald in der afrikanischen Steppe entwickelt fantastische Kräfte. Einerseits ganz konkret in der „Gerber-Tannen-Suppe“ (SG 157), welche Brückner als Ersatz für seine Droge dient und die als Tannensud seine Visionen generiert, andererseits in der Generierung der gesamten Romanhandlung, die sich um die Entstehung dieses unmöglichen Waldes gruppiert. In den Ausschmückungen dieser Erzählung um den Wald werden echt und unecht ununterscheidbar: So wie Dr. Brückner bei einem feierlichen Abendessen in der Festung versehentlich eine Blume der Tischdekoration verspeist (vgl. SP 230), können die Lesenden historisch Verbürgtes nicht von Fantastischem unterscheiden. Die Geschichte beginnt stellenweise ‚abzuheben‘ und sich in einen historisch unverbürgten Schwebezustand zu begeben. Diese unwahrscheinlichen Elemente führen das historische Erzählen einerseits ad absurdum, andererseits wird es jedoch so mit dem fantastischen Erzählen verquickt, dass das fantastische Erzählen zur legitimen Möglichkeit des historischen Erzählens wird. Historisches Erzählen in der Literatur wird so zu einer

74 Catharina Koller weist auf die erfundenen afrikanischen Tiere in Schutzgebiet hin: C. Koller, Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet. O Tannenbaum!

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Möglichkeit, beides zu verbinden. Das literarische Imaginationspotential wird dabei nicht als ein verunsicherndes Hindernis präsentiert, sondern als Chance zur Annäherung an die Vergangenheit. Denn obwohl die ungezügelten literarischen Imaginationen die historische Glaubwürdigkeit durch faktische Verletzbarkeit gefährden, bieten sie immer auch ein Potential: Es kann nie ausgeschlossen werden, dass eine der durchgespielten Möglichkeiten einem noch unbekannten Teil der Geschichte näherkommt, als dies das Beharren auf offiziellen Fakten ermöglicht. Sowohl in Tinpest als auch in Schutzgebiet erhalten im Medium der Literatur daher gerade die in der Geschichte enthaltenen unrealisierten Möglichkeiten eine besondere Wichtigkeit, da in ihnen das Verdrängte, nicht offiziell Überlieferte zum Vorschein gebracht werden kann. Die Texte reaktivieren Wahnvorstellungen und Träume mit einer besonderen Sensibilität für alles, was sich nicht in die Geschichte eingeschrieben hat. Charakteristisch ist die Obsession des Architekten Henry für „Luftschlösser“, also nicht vollendete Gebäude, deren Unvollendetheit er zu kompensieren sucht.⁷⁵ „Das Ohnmachtsgefühl angesichts der Erkenntnis, wie viele unfertig liegengelassene Arbeiten voller brillanter Ideen in all den Jahrtausenden verschwunden sein mussten“ (SG 38), lässt in Henry den Entschluss reifen, „zum Streiter für das Reich des Unvollendeten zu werden“ (SG 39). Dieses Anliegen Henrys wird explizit mit historischem Bewusstsein verbunden: „Der ungerechte Lauf der Geschichte: Er würde durch Henry zumindest ein wenig in Ordnung gebracht werden“ (SG 39). Die unrealisierten Einfälle sind unterdrückte Elemente der Geschichte, die wieder ans Licht geholt werden sollen. In seinem Kampf für die „Luftschlösser“ (SG 66) der Vergangenheit fordert Henry für die unverwirklichten Entwürfe ein, „dass auch solche Fantasien Gültigkeit besitzen“ (SG 67). Nicht die Fantasie soll sich der Wirklichkeit anpassen, sondern die Wirklichkeit der Fantasie. Indem Henrys architektonisches Talent der Ausmalung von Räumen mit dem schriftstellerischen Talent des Ausmalens von Geschichten verschränkt wird (vgl. SG 72/73), gilt dieses Motto nicht nur für die Architektur, sondern auch für die Literatur, speziell für den Roman Schutzgebiet, der sich der Vergangenheit fiktional annähert. Die Vergangenheit wird dabei zum unerschöpflichen Vorrat an Vorstellungen und Fantasien. Wenn in Schutzgebiet und in Tinpest Träume und Visionen im Vordergrund stehen, lockert dies nur scheinbar den Wirklichkeitsbezug der Texte. Ob es sich um die „Afrika-Fiktion“⁷⁶ der

75 In der Literaturkritik wird diese Beschreibung von Machbarkeitsfantasien durchaus auch negativ bewertet. So beschreibt Dietmar Jacobsen den „Luftschlossbauer“ Henry Peters als Vorboten der Finanzkrise, da er sich ohne jegliche Bodenhaftung in Spekulationen verliert: D. Jacobsen, Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet: Unsicherheitsfaktor Mensch. 76 S. Löffler, Löfflers Lektüren.

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Siedler in Schutzgebiet handelt, die davon überzeugt sind, dass ihre Geschichte „einmal in den Büchern stehen und von Professoren gelehrt werden wird“, (SG 272) oder um die „verflogenen Träume“ der Exilanten in Tinpest, denen in ihrer „surrealistischen Strafversetzung“ in die Wüste nur noch ihre Vorstellungskraft übrig bleibt:⁷⁷ Die Wiedergabe der verrückten, (größen-)wahnsinnigen Träume der Figuren verspricht, der erzählten historischen Zeit dadurch näher zu kommen, dass auf wichtige Denkmuster dieser Zeit angespielt wird. Wirklichkeitsverlust in dieser „grotesken Welt gebaut aus Lügen und Visionen“⁷⁸ wird zur Voraussetzung für die Annäherung an die Vergangenheit, die in hohem Maße von nicht realisierten Fantasien geprägt ist. Die Literatur kann zum Klangbrett dieser zwar nicht realisierten, jedoch die vergangene Wirklichkeit bestimmenden Fantasien werden. Die Erzählwelt von Schutzgebiet bietet das Bild der verirrten Funksignale, die der Gefreite Käutner als „Luftgeister“ imaginiert: „Wenn sie, einmal losgeschickt und über Meere und Kontinente gereist, nun keinen hatten, der sie in Empfang nimmt – was wird dann aus ihnen? Sind sie gefangen und irren sie weiter, in immer neuen Kreisen, über die Länder? Im Halbschlaf war es Käutner manchmal, als könne er durch das offene Fenster, schwach und fistelig, Hilferufe vernehmen“ (SG 368). In Schutzgebiet erweist sich die Literatur als ein Medium, das die verirrten Funksignale auffangen und zum Klingen bringen kann, indem sie die Aufmerksamkeit auf von der offiziellen Überlieferung vernachlässigte Elemente richtet, auch wenn diese sich dem Belegbaren entziehen und somit unsichtbar sind. Für die mit ungehaltenen Versprechen und nicht umgesetzten Ideen prall gefüllte Vergangenheit im Schwebezustand zwischen Fiktion und Wirklichkeit findet sich in beiden Romanen ein eindringliches Bild: der Zeppelin. In Schutzgebiet erscheint der Zeppelin Henry im Kindesalter, als er der festen Überzeugung ist, seinem Vater in dessen Beruf nachfolgen und genauso reich werden zu wollen (vgl. SG 225). Diese Zukunftsvision wird sich nicht erfüllen. Der Zeppelin wird damit zum Bild nicht erfüllter Erwartungen. So ist das gesamte elfte Kapitel von Schutzgebiet „Das Schiff in den Lüften“ übertitelt und umschreibt das Warten auf die Ankunft der erhofften Siedler in Ben¯esi, welche letztlich doch (noch) nicht eintritt (vgl. SG 226 ff.). In diese Zeit des hoffnungsvollen Wartens fällt die von Lautenschlager vor seinem Tod verbreitete Geschichte des amerikanischen Millionärs Jackson, der mit seiner bunten Truppe in einem fantastischen Luftschiff in der Wüste unterwegs sei (vgl. SG 237). Plötzlich scheint dieses Luftschiff als schwar-

77 Vgl. Arjan Peters, De spoken en gieren zijn onder ons. In: De Volkskrant, 28. November 1997, LexisNexis, Web, 2. März 2011. 78 A. Neefjes, De geschiedenis gaat eeuwig ten onder.

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zer Punkt am Horizont aufzutauchen. Henry zweifelt Lautenschlagers Geschichte sogleich an, da sie ihn an einen Roman Vernes, Robur-le-Conquérant, erinnert.⁷⁹ Für Lautenschlager stellt diese intertextuelle Entzauberung in keiner Weise ein Problem dar: „...gut möglich, dass Jackson dem Autor hierfür als Vorbild diente“ (SG 237). Die Rollen sind in seiner Sicht klar verteilt: Die „Wirklichkeit in einem deutschen Schutzgebiet“ geht der „Fantasie eines schrifstellernden Franzosen“ voraus (SG 237). Die afrikanischen Zwangsarbeiter machen sich hingegen einen ganz eigenen Reim auf den Punkt am Himmel – für sie handelt es sich um den Vogel Ukelu, der Menschen ins Himmelreich entführen kann (vgl. SG 240 ff.). Die Annahme, es handele sich bei dem wahrgenommenen Phänomen um ein Luftschiff, wird in dieser Nebeneinanderstellung ebenso unwahrscheinlich wie die Geschichte des Vogels Ukulus. Deutlich ist das legendäre Luftschiff ein Surrogat für das erwartete Siedlerschiff, das laut Gerber „im Unterschied zu jenem fliegenden ein ohne Zweifel tatsächliches Schiff aus Deutschland“ sei (SG 258). Die zu schaffenden deutschen Tatsachen werden jedoch dadurch unterlaufen, dass für die Lesenden des Romans die Geschichte der deutschen Siedler in Afrika ebenso jeglicher belegbaren Grundlage entbehrt wie die des sagenhaften Luftschiffes bei Verne: Sie werden gleichwertig nebeneinander gestellt. Als Überläuferfigur fungiert der Hund der Verne-Figur Michel Ardant mit dem Namen „Buck“, der dem Laut nach auf Textualität in Form des englischen „book“ verweist. Buck bleibt bei einer Landung des legendären Luftschiffes zurück und erreicht nach langem Herumirren die Festung Ben¯esi, welche ihm zunächst als das verlassene Luftschiff erscheint (vgl. SG 259 ff.). Die Festung ist damit ein ebenso (un-)wahrscheinliches Luftschloss wie der Zeppelin, welcher im Gegensatz zur Festung Ben¯esi historisch bezeugt ist. Fiktion und Unwahrscheinlichkeit werden damit zu einem legitimen Moment der Geschichtserzählung, das den Möglichkeiten der Geschichte gerecht wird und sich ihr dadurch annähern kann. Ganz wie am Anfang von Robur-le-Conquérant⁸⁰ nimmt die technische Begründung der Erscheinung ihr nichts von ihrer Rätselhaftigkeit, wie Catharina Koller bemerkt:

79 Jules Verne, Robur-le-Conquérant, mit Illustrationen von L. Benett und G. Roux, abgedruckt in der ursprünglichen Hetzel-Ausgabe, Paris 1978, [1886]. Roland Innerhofer diskutiert Vernes Robur-Romane als Prototypen für die Inszenierung des Flugapparats „als Instrument von Macht und Herrschaft“ durch die „Konstruktion des Romangeschehens um einen genialen, titanischen Erfinder“, vgl. Roland Innerhofer, Flugphantasien. Die Luftfahrt bei Jules Verne und im deutschen technischen Zukunftsroman vom ausgehenden neunzehnten Jahrhundert bis 1914, 2. Teil. In: Quarber Merkur. Franz Rottensteiners Literaturzeitschrift für Science Fiction und Fantastik, 77/78, 1992, S. 14–47. Der Zeppelin kann auch in Schutzgebiet als Ausdruck der Kontrollfantasien der Siedler gelesen werden. 80 Vgl. J. Verne, Robur-le-Conquérant, Kapitel 1.

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Noch unwirklicher als ein so zotteliger Hund unter der afrikanischen Sonne erscheint einem nur dieses Flugobjekt, das gleich aus mehreren von Jules Vernes Abenteuerromanen ins Schutzgebiet hätte einfliegen können. Doch ausgerechnet das ist über das literarische Zitat hinaus auch noch eine historische Tatsache: Bis in den Ersten Weltkrieg hinein hat man versucht, Deutsche in Afrika per Luftschiff zu versorgen. In diesem Roman wird also nicht nüchterne Geschichtlichkeit mit farbenfrohen Erzähldetails angereichert – im Gegenteil, die Kolonialgeschichte wird mit Fiktion und Fantasie in Reihe geschaltet [...]. [V]iel Geschichtsbuchwissen lässt sich in diesem Roman finden. Doch ist es so tief in eine wahre kulturgeschichtliche Zitatenlawine eingebettet und dann auch noch von den Traum- und Trugbildern umhüllt [...], dass die Vermittlung von Geschichtlichkeit als das abstruseste aller Unterfangen erscheint.⁸¹

In der Nebeneinanderstellung von Wahrscheinlichem und Unwahrscheinlichem, von „Geschichte“ und „Fantasie“ (oder dem „Durchschütteln“ von historisch Verbürgtem und Fiktion, wie Christoph Schröder es nennt)⁸² macht der Zeppelin als historisches Phänomen den Text nicht weniger fantastisch und löst wie andere unwahrscheinliche Elemente des Textes Unglauben aus, obwohl er historisch nachweisbar ist. In Tinpest nimmt Lieutenant Lauersperg auf seiner Überfahrt zu seiner Strafbestimmung Batumi etwas am Himmel wahr: In het lood van die gemaltraiteerde hemel [...]: het onzinnig zweven van een sigaarvormige droom, [...]: onder de sigaar een teakhouten cabine [...]. Mogelijk... het was heel goed mogelijk dat vanuit dat misplaatste, hybride geval de engelenkoren klonken. [...] [W]as verbeelding niet het laatste dat je restte als de tijden kantelden en je jezelf aan de verkeerde kant van die kanteling bleek te bevinden? Die waarin je dreigde af te glijden naar het nooit voorziene zwart, die door de gal van een al te humeurige macht opgewekte inkt waarin de pen zou worden gedoopt waarmee het verhaal zou worden geschreven van een onbeduidend luitenantje dat, mét zijn bataljon medegestraften te Constanza aan boord was gegaan van de stoomzeiler Fiume die hem en zijn gezelschap vaandelvluchtigen, hele en halve gekken en idealisten naar Batoemi moest brengen [...]. Want dat de keizer nog maar enige involed op hun bestemming zou hebben, dat kwam Lauersperg daar, uitziend over het blak van de Zwarte Zee, uiterst onwaarschijnlijk voor. Even onwaarschijnlijk als het luchtschip dat hij had menen te zien.⁸³ (TP 30/31)

81 Vgl. C. Koller, Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet. O Tannenbaum! 82 C. Schröder, Utopie des Neubeginns. 83 „Im Blei des malträtierten Himmels [...]: das unsinnige Schweben eines zigarrenförmigen Traums [...]: unter der Zigarre eine Kabine aus Teakholz [...]. Möglich... es war sehr gut möglich, dass aus diesem deplatzierten, hybriden Fall die Engelchöre erklangen. [...] [W]ar Imagination nicht das Letzte, was einem blieb, wenn die Zeiten kenterten und sich herausstellte, dass man sich selbst an der verkehrten Seite dieser Kenterung befand? Die Seite, an der man abzugleiten drohte in das nie erwartete Schwarz, diese durch die Galle einer allzu launischen Macht hervorgebrachte Tinte, in der der Füller eingetaucht werden würde, mit dem die Erzählung geschrieben

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Der Zeppelin wird hier zum Symbol der Macht der Imagination. Im Zeppelin erkennt Lauersperg erneut ein Zeichen dafür, dass er nicht im historischen Zusammenhang des mit dem Kaiser assoziierten österreichisch-ungarischen Reiches steht, sondern sich in den Händen einer durch dunkle Tinte gekennzeichneten launischen Macht – im Zusammenhang einer Erzählung – befindet. Im Zusammenhang dieser launischen Erzählung ist vieles, wie zum Beispiel der Engelgesang im Gerüst eines Zeppelins, „sehr gut möglich“. Die Imagination als einzig verbleibende Möglichkeit versetzt alles in einen „unsinnigen Schwebezustand“, der aber auch nie ausschließen kann, dass das Erzählte mit historischen Tatsachen übereinstimmt. Im für Lauersperg äußerst unwahrscheinlichen Phänomen des Zeppelins deutet sich diese Doppelbödigkeit an: Wo Lauersperg das Luftschiff als unglaublich in den Bereich des Metaphysischen rückt, entspricht es den historischen Tatsachen, dass Zeppeline existierten. Zeppeline sind sozusagen ein legitimes Fantasy-Moment der Geschichte und stoßen wahrscheinlich gerade deswegen in historisch erzählender Literatur auf große Beliebtheit.⁸⁴ Lauersperg wird schon von Beginn seiner Reise an von solchen Luftschiffen begleitet (vgl. TP 139). Allerdings bleibt es nur seinem Sohn Arthur gewährt, einen Zeppelin von innen heraus zu erleben und von oben hinab zu blicken (vgl. TP 158). Sein Vater kann hingegen von unten im Blick auf die Luftschiffe diese alles umfassende Perspektive nur erahnen. Trotzdem wird ihm als „aus der Zeit geschleudertem Lieutenant“ (TP 176) ein „schwebender Kopf“ attestiert: [D]at hoofd bevond zich nu ergens tussen de Kaukasus en de Gobiwoestijn. Het zweefde ergens in een luchtledige waar het wel tegen een muur wilde knallen, maar waar de muren als visioenen weken achter weer andere muren die al even imaginair bleken. Men kon rationeel

werden würde von einem unbedeutenden Lieutenant, der mit seinem Bataillon Mitgefangener in Constanza an Bord des Dampfers Fiume gegangen war, der ihn und seine Gesellschaft Fahnenflüchtiger, ganze und halbe Verrückte und Idealisten nach Batumi bringen musste [...]. Denn dass der Kaiser auch nur einigen Einfluss auf ihre Bestimmung gehabt hätte, das kam Lauersperg da, die Glätte der Schwarzen See überblickend, äußerst unwahrscheinlich vor. Genau so unwahrscheinlich wie das Luftschiff, das er zu sehen gemeint hatte.“ 84 Vgl. an diese Stelle auch den Zeppelin-Gedichtzyklus des niederländischen Dichter Ramsey Nasr, de Z. In: Tussen lelie en waterstofbom. The Early Years, Amsterdam 2006, S. 211–263. Der Zyklus verknüpft die Geschichte des Zeppelins mit der Geschichte Westeuropas vom siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert in fünf zum Teil längeren Gedichten.

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zijn wat men wilde, maar de rationaliteit bleek te moeten wijken voor het altijd wijkende.⁸⁵ (TP 75)

Die Wüste bietet dem aus seinem Kontext gerissenen Lauersperg so wenig Widerstand, dass sich seine rationale Herangehensweise auf keinen Gegenstand mehr beziehen kann. Das Gebiet, das er besetzen möchte, ist nur von imaginären Mauern umgeben: Die Imagination setzt ihm keine Grenzen.⁸⁶ Er kann dadurch seine Lebensordnung, die sich durch klar abgegrenzte Bereiche wie die Kaserne und das Bordell auszeichnete, nicht mehr aufrecht erhalten und sich nur noch in sich selbst zurückziehen, um der Offenheit seiner Situation zu entgehen. Die Lage des Forts mitten in der Wüste versetzt alle Mitglieder der Bataillons in eine unmögliche Lage. Wer auf die unendliche Fläche blickt (TP 82), kann das, was er sieht, nicht in Worte fassen: Want men kon het wel een ‚roestbruine vlakte‘ noemen, maar dat is te stellig uitgedrukt. Niet alleen omdat, als men er langer dan vijf minuten naar keek, de bodem zwakjes leek te bewegen – zoals men zich voorstelt dat radiogolven zich door de ether bewegen – maar meer nog omdat zelfs die suggestie van ethergolven al te sterk is aangezet om datgene in woorden te vangen wat zich niet in woorden vangen laat omdat zelfs begrippen als ‚suggestie‘, ‚vermoeden‘ en ‚gedachte‘ al van lood lijken te zijn en met het volle gewicht van hun woord, zij het geluidloos, door dat – ja, hoe moet men dat noemen als zelfs het begrip „niets“ nog te zwaar is? – heen zakken.⁸⁷ (TP 83/84)

Im Verweis auf die bleiernen Wörter wird hier einmal mehr auf die Schwere der Sprache verwiesen, deren Wörter durch das, was sie ausdrücken sollen, hindurch sinken. Indirekt wird hier das Ideal einer schwebenden Sprache hervorgehoben, die in dieser „Atmosphäre von Hirngespinsten und Luftspiegelungen, imaginären

85 „Dieser Kopf befand sich nun irgendwo zwischen dem Kaukasus und der Gobiwüste. Er schwebte irgendwo in einem luftleeren Raum, wo er wohl gegen eine Mauer knallen wollte, aber wo die Mauern wie Visionen wichen hinter wieder andere Mauern, von denen sich herausstellte, dass sie genauso imaginär waren. Man konnte rational sein wie man wollte, aber die Rationalität musste weichen vor dem immer Weichenden“ (TP 75). 86 Bart Vervaeck spricht von einer „Gegenwelt“, in der alle Grenzen aufgehoben sind, wodurch falsch und echt zusammenfallen: B. Vervaeck, Sukkels op sokkels. 87 „Denn man konnte es wohl eine ‚rostbraune Ebene’‘ nennen, aber das ist zu direkt ausgedrückt. Nicht nur weil, wenn man länger als fünf Minuten darauf schaute, der Boden sich sachte zu bewegen schien – so wie man sich die Bewegung von Radiowellen durch den Äther vorstellt – aber um so mehr , da selbst die Andeutung von Ätherwellen schon zu stark angesetzt ist, um das in Worten zu fangen, was sich nicht in Worten fangen lässt, weil selbst Begriffe wie ‚Andeutung‘, ‚Vermutung‘ und ‚Gedanke‘ schon wie Blei wirken und mit dem vollen Gewicht ihres Wortes, wenn auch geräuschlos, durch das – ja, wie muss man das nennen, wenn selbst der Begriff ‚nichts‘ noch zu schwer ist? – hindurch sinken.“

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Erinnerungen und Zukunftsvisionen“⁸⁸ ihrem Gegenstand dadurch gerecht wird, dass sie sich nicht festlegt und verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten offen lässt. Für eben diesen Schwebezustand steht der Zeppelin, der wie eine Luftspiegelung im Text auftaucht und sowohl eine Möglichkeit als auch eine Tatsache andeutet. Nicht umsonst wird der Zeppelin von der Geschichte auf den Plotting Table ihrer Macher versetzt, wo der Major auch zum Ende der Wüstengeschichte um Lauersperg wiederum seinen Spielzeugzeppelin hervorholt: De majoor die we al eerder hebben meegemaakt, produceerde daarop weer eens een van zijn luchtscheepjes en liet het opnieuw met een sierlijke boog door de ruimte zweven. Deze keer echter belandde het niet op de grond of in een prullenbak, maar zweefde een toevallig openstaand venster uit, beschreef een trage, opwaartse curve en verdween in de ongewisheden van een toekomende tijd.⁸⁹ (TP 176/77)

Steht hier der Zeppelin als schwebendes Element für die Unvorhersehbarkeit der Zukunft, so ist die an den Zeppelin gebundene Zukunft immer eine historisch konservierte, da es sich bei ihm um eine vergangene, nicht realisierte Zukunftsvision handelt. Die Figur des Luftschiffs als historisch konservierte Zukunft verwischt Vergangenheit und Zukunft in ihrem freien Flug: Was wahr war und was wahr werden wird, erscheint gleichermaßen rätselhaft.

7.3.3 Zirkuläre Geschichte Der Zeppelin als in die Geschichte eingeschlossene Zukunftsvision, die nicht Wirklichkeit wurde, ist eine erste Art, auf welche beide Romane den Fortschrittsgedanken verabschieden. In seiner beeindruckenden Größe und Schwerelosigkeit steht der Zeppelin sowohl für die ihm zugemessene Bedeutung als auch für die Relativierung derselben, da er weder im übertragenen noch im direkten Wortsinn Gewicht hat. Er bleibt eine Möglichkeit, die von praktikabeleren und schnelleren Flugfahrzeugen abgelöst wurde. Schon seine im Gegensatz zum Flugzeug sehr gewölbte und rundliche Form weist auf ein dem Fortschrittsgedanken widerstrebendes Prinzip, das Denken außerhalb der Geraden beziehungsweise des 88 „sfeer van hersenschimmen en luchtspiegelingen, onbestaanbare herinneringen en toekomstvisioenen“: Robert Anker, Een moeras van bedoelingen. In: Het Parool, 19. Dezember 1997, LexisNexis, Web, 1. März 2011. 89 „Der Major, den wir schon eher erlebt haben, holte daraufhin wieder einmal eines seiner Luftschiffchen hervor und ließ es erneut mit einem zierlichen Bogen durch den Raum schweben. Dieses Mal landete es jedoch nicht auf dem Boden oder in einem Papierkorb, sondern schwebte durch ein zufällig offen stehendes Fenster hinaus, beschrieb eine träge, aufwärts gerichtete Kurve und verschwand in den Ungewissheiten der Zukunft.“

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linearen Fortschritts. Die Kreisform wird in beiden Texten weiter aufgegriffen: Die Protagonisten sehen sich mit Kulturen, die dem „westlichen“ Linearitätsprinzip scheinbar widerstreben, konfrontiert. In Tinpest erbost sich der Lieutenant Lauersperg darüber, dass er sich an einem Ort und unter dem Einfluss einer Kultur von Menschen befinde, „die das Rad noch erfinden mussten“ (TP 73, vgl. 7.3.2). Im Symbol des Rades bündelt sich die Ambivalenz zwischen linearem Fortschrittsgedanken und kreisförmiger Wiederkehr ohne Veränderung: Die Erfindung des Rades ist ein Zeichen des Fortschritts in seiner Revolutionierung der Transportmöglichkeiten. Doch obwohl das Rad den Fortschritt in der konkreten Fortbewegung fördert, weist seine Form auf eine endlose Kreisbewegung ohne jedes Ziel. Wie in diesem Analyseschritt gezeigt werden soll, wird im Kontakt mit anderen Kulturen in beiden Romanen die Zirkularität der eigenen, oberflächlich so fortschrittsorientierten Kultur deutlich, so dass auch der Abstand zwischen Geschichte und Gegenwart künstlich erscheint. Eine mehr oder weniger versteckte Kreisförmigkeit findet sich bereits im formalen Aubau der beiden Erzählungen. Beide Geschichten werden in einem ‚Zirkelschluss‘ erzählt: In einer Prolepse beginnen sie mit einem Ereignis, auf das die erzählte Geschichte schließlich wieder hinausläuft. Besonders deutlich wird dieses Kompositionsprinzip der „Kreisbewegung“⁹⁰ in Schutzgebiet. Die Geschichte mündet in genau der Ausgangslage, in der sie begonnen hat, mit der einzigen Einschränkung, dass sie nun aus der Perspektive Henrys und nicht aus der Perspektive des französischen Colonel Durand erzählt wird. Die Kreisförmigkeit wird auch in die Szene selbst eingebaut: „Eine einzelne verirrte Schwalbe, die – warum auch immer – nicht mit den anderen Vögeln zurück nach Europa geflogen ist, kreist über dem Turm, ziept. Wieder und wieder“ (SG 380). Die Schwalbe ist einerseits aus einem Kreislauf, der Bewegung der Zugvögel, ausgebrochen, andererseits führt sie in ihrer Orientierungslosigkeit wiederum einen Miniaturkreis aus, den sie nicht mehr unterbrechen kann. Sie ist ein direktes Äquivalent zu Henry, der die Hoffnung auf seinen Weg zurück nach Europa ebenfalls aufgegeben hat und sich in einer ebenso ausweglosen Lage befindet. Ein Ausbruch aus dieser Ziellosigkeit muss einen Ausgang aus dem Kreis finden. Henry ist plötzlich überzeugt davon, dass ihm dieser Ausbruch gelingen kann: Plötzlich glaubt Henry ganz genau zu wissen, was er zu tun hat, jeder Handgriff, jede Bewegung sitzt. Als könne sich sein Leben, das ihm gestern Abend, je mehr er darüber gebrütet hatte, ziellos dahinzuplätschern schien, als könne es sich an diesem Nachmittag in Afrika tatsächlich zu jener Geschichte formen, die er in den Räumen der Festung schon so oft zu erahnen gemeint hat. Doch nur das Ende, das er jetzt unmittelbar vor Augen hat – es trennen

90 A. Platthaus, Getriebene Gäste auf der dunklen Erde.

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ihn lediglich einige wenige Sekunden davon, wenn er will –, nur das Ende wird, mit einem Schlag und für jedermann beglückend einleuchtend, aus den lose zusammenhängenden Episoden etwas Zusammenhängendes, Logisches formen. Etwas Sinnvolles. (SG 380)

Henry erliegt hier dem Gedanken, dass Sinn erst da entstehen kann, wo eine lineare Ordnung hergestellt, wo ein deutliches Ende von einem deutlichen Anfang abgegrenzt werden kann. Für eine derartige Sinnerzeugung ist er bereit, sein eigenes Leben im Selbstmord zu opfern um so im Aufschlag seines Körpers auf dem Boden Tatsachen zu schaffen. Sein Freitod wird für ihn zur letzten Möglichkeit, seinem Leben einen Sinn abzugewinnen und es nicht in einzelne Episoden, die keinen Zusammenhang ergeben, auseinanderfallen zu lassen. Eine Geschichte ergibt sich erst da, wo eine zeitliche Linie von einem (künstlich gesetzten) Anfang zu einem (künstlich gesetzten) Ende gezogen werden kann, wo, bezogen auf ‚die‘ Geschichte, eine historische Periode eingegrenzt und von der Gegenwart abgegrenzt werden kann. Aufeinanderfolgende historische Perioden ergeben eine fortschreitende Linie, die in der Gegenwart mündet. Wiederholungen unterlaufen diese Zielgerichtetheit und damit den Sinn der Geschichte, so dass Kreisläufe vermieden werden müssen, um den Gegensatz zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufrecht zu erhalten. Zirkuläre Wiederholung und linearer Fortschritt werden damit zu unterschiedlichen Zeitkonzepten, die einander unversöhnlich gegenüber zu stehen scheinen. Das Aufeinanderprallen verschiedener Zeitkonzepte inszeniert der Roman (allerdings immer aus der Wahrnehmung des amerikanisch-europäischen Architektassistenten Henry heraus) schon zu Anfang, wenn der an der afrikanischen Küste gestrandete Henry von der lokalen Bevölkerung gefunden und in eine afrikanische Dorfgemeinschaft aufgenommen wird (vgl. 7.2.2). Schon bei seinem ersten Gang aus der Hütte, in welche er aufgenommen wurde, stellt er mit Blick auf die „runde[n] Lehmhütten mit Wellblechdächern“ (SG 14) vor sich fest, dass er sich in einer anderen Raumzeit befindet, wenngleich er aufgrund seiner beschädigten Brille „alles leicht verschwommen“ (SG 13) wahrnimmt. Ein paar Tage später traut er sich wieder hinaus, jedoch nur um dem Dorf zu entflüchten, was ihm nicht gelingt, da er sich in der kargen Umgebung nicht orientieren kann (SG 14/15). Langsam aktzeptiert er, dass er sich in einem Gebiet befindet, das nicht den Gesetzmäßigkeiten seines eigenen Kulturraumes entspricht: Wenn der Suchtrupp ihn nicht findet, wird angenommen werden, Henry sei beim Schiffbruch ums Leben gekommen. In diesem Fall wäre er tatsächlich tot. Einen Henry Peters gäbe es dann nicht mehr. Neben seinen Namen in den Akten zu Hause wird ein Kreuz oder der Vermerk vermisst gesetzt, selbst wenn in diesem Dorf, diesem Loch immer noch jemand lebt oder besser vegetiert, ein Weißer, einer, der einmal den Namen Peters trug. (SG 16)

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In seiner ironisch übertriebenen westlichen Überheblichkeit stellt Henry an dieser Stelle fest, dass der Ort, an dem er sich befindet, sich sogar den Möglichkeiten der Repräsentation in Europa entzieht. Er ist damit verschoben in einen Raum, in dem andere Gesetze gelten. Selbst ein Leben nach dem offiziellen Tod in Europa beziehungsweise in den USA wäre in diesem Dorf prinzipiell möglich, da es nicht den dort geltenden Abläufen entspricht. Die Umschreibung dieses Lebens als „Vegetation“ deutet an, dass Henry zufolge in diesem Leben alle Zielgerichtetheit fehlt, die in seinen Denkkategorien überhaupt erst Lebenssinn ergibt. Er fühlt sich in einen Kreislauf hineingezogen, der nicht seiner Konzeption von Sinnhaftigkeit entspricht. Dennoch fängt er an, sich langsam in seine neue Umgebung einzuleben. Während er sich in wiederum karikierter Arroganz allmählich damit abfindet, dass er als „wahrer Weltbürger in einer Hütte im afrikanischen Busch versauert“ (SG 17), beginnt auch die Zeit anders zu ticken. Er „versucht das aktuelle Datum zu errechnen“ (SG 17), gibt dies jedoch auf: „Jeder Tag ist von da an derselbe“ (SG 18). Henry gibt sich in die Dorfroutine aus regelmäßigen Mahlzeiten und Tätigkeiten (vgl. SG 19). Im forwährend wiederkehrenden Tagesablauf scheint die Zeit mit ihren Kategorien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stillgelegt zu sein, es gibt keine erkennbaren Veränderungen, nicht einmal beim Wetter, da die europäischen Jahreszeiten fehlen (vgl. SG 18). Henry reagiert, indem er selber keine Unterschiede mehr zu machen versucht. Er verzichtet auf seine Brille, denn er „spürt kein Bedürfnis mehr, die Dinge scharf zu sehen“ (SG 19). Seine eigene Vergangenheit wird ihm langsam unwirklich und erscheint ihm wie eine Fiktion (SG 22). Sein letzter Versuch, sich der entstandenen Situation zu entziehen, sind bezeichnenderweise Aufzählungen: Beim Ziegenhüten rechnet er. 1 + 2 + 3 = 6, 3 x 16 = 48, 4 x 16 = 64. Er sagt sich die Namen seiner Urgroßeltern, Großeltern, die bedeutendsten architektonischen Errungenschaften der Menschheit auf, angefangen mit dem Turmbau zu Babel. Taft ist der Präsident der Vereinigten Staaten. 52 vor Christus schrieb Cäsar „De Bello Gallico“. 1863: Königgrätz. 1866: Gettysburg. Nein, umgekehrt. Er ist sich nicht mehr sicher, ob die Zuordnung der Jahreszahl zu einem Ereignis stimmt. 1865 oder 1866? Oder 1867? Er darf nichts vergessen.

Henry setzt seine wiederholten Ausbruchversuche aus dem Dorf also hier in einer anderen Form um, indem er durch lineare Reihen der von ihm als zirkulär empfundenen Dorfzeit zu entfliehen versucht. Architektonische Bauwerke ordnet Henry zeitlich, um so den Fortgang der „Errungenschaften der Menschheit“ seiner Konzeption des Fortschritts entsprechend verfolgen zu können. Seine eigene Gegenwart muss er an einem amerikanischen historischen Zeitraum, der Präsidentschaft William Howard Tafts (1909-1913), festmachen. Dieser wird in eine lange Reihe historischer Ereignisse des eigenen Kulturraumes, von Cäsar bis zum ame-

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rikanischen Bürgerkrieg (bezeichnenderweise handelt es sich ausschließlich um Kriegsereignisse), eingeordnet. Die genaue Zuordnung eines Ereignisses zu einer Jahreszahl auf einem Zahlenstrahl ist dabei von größter Wichtigkeit, da gerade ihre korrekte Anordnung die Wirklichkeit der eigenen Kultur stabilisiert. In der Mathematik dient die Zahlengerade zur Veranschaulichung der Ordnung reeller Zahlen. Diese eindimensionale Darstellung impliziert eine geordnete Menge und eine klare Zielrichtung. Wie der geschichtliche Verlauf in Jahreszahlen vor und nach Christus geschieht hier eine Ordnung anhand von ‚reellen‘ Zahlen, welche Komplexität reduziert und im Denkbild des Linearen die Geschichte ‚realisiert‘. Am Ende des Romanes, in dem sich die Belagerungsszene der Festung wiederholt, wird jedoch ein Kreis geschlossen, der dieses Lineraritätsdenken als Sackgasse markiert. Ironischerweise empfindet Henry eine ungekannte Routine, eine ‚Wegerfahrung‘, bei der Durchführung seines Selbstmordes („jeder Handgriff, jede Bewegung sitzt“), als würde er ihn wiederholen. In Bezug auf die Textstruktur ist der Selbstmord auch schon einmal geschehen: Durch die doppelte Wiedergabe dieses Ereignisses zu Beginn und am Ende des Romans schließt sich ein Kreis, dem auch Henrys selbst gewähltes (Lebens-)Ende nichts anhaben kann. Die Zirkularität der Ereignisse wird noch einmal hervorgehoben durch die Raupen des Einaugfalters, des „Schmetterling[s], der Verderben bringt“ (SG 188), die sich auf der letzten Seite des Romans plötzlich regen, sich inmitten der zerstörten Überreste der Festung satt fressen, verpuppen und als Schmetterlinge die Gegend zieren. Sie symbolisieren die ewige Wiederkehr, welche jeden künstlich gesetzten Endpunkt relativiert. Henrys Freitod, der den Erzählmöglichkeiten der Geschichte ein scheinbares Ende setzt, kann den in den Schmetterlingen symbolisierten Schwebezustand der Geschichte nicht beenden. Andreas Platthaus bezeichnet dieses Ende als „Finale [...], in dem wir plötzlich nicht mehr unsere Vorfahren erkennen, sondern deren Erbteil in uns. Und sind deshalb wirklich selbst mittendrin in der Schlacht“.⁹¹ Die Geschichte ist niemals abgeschlossen, sondern aktualisiert sich unendlich wiederholt in jedem noch so freien Versuch der Annäherung, so dass jede selbst wieder historisch werdende Gegenwart andere Berührungspunkte mit ihr konstruieren kann. In Tinpest ist die Annäherung an die Vergangenheit in der Störung des linearen Verlaufs von der Vergangenheit zur Gegenwart Teil einer ungleich düstereren Vision, die in den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Shoa verankert ist. Einen ersten Hinweis auf die Untrennbarkeit von Gegenwart und Geschichte stellen die zahlreich auftretenden Anachronismen dar. In Tinpest tauchen vielfach unzeitgemäße Elemente in der Geschichte auf, wie etwa der Verweis auf die um

91 A. Platthaus, Getriebene Gäste auf der dunklen Erde.

7.3 Annäherung |

215

die Jahrhundertwende noch recht unbekannte Gefriernahrungsmarke „Iglo“ (TP 62).⁹² Anachronismen sorgen für eine Verfremdung von Geschichte, da sie darauf hinweisen, dass es sich bei dem vorliegenden Text nur um eine Referenzillusion handelt, die in der Gegenwart (oder einer anderen späteren Zeit) verankert ist, welche im Anachronismus im Text sichtbar wird.⁹³ Anachronismen markieren Geschichte als ein Produkt der Gegenwart, verbinden jedoch zugleich Gegenwart und Geschichte, wenn auch auf unglaubwürdige Weise. Der Anachronismus kann in diesem Sinne darauf hinweisen, dass die Zeiten nicht voneinander zu trennen sind: „Die Chronologie ist nicht mehr als eine unbrauchbar gewordene Fiktion“, wie Arnold Heumakers bemerkt.⁹⁴ Im Aufeinanderzubeugen von Zukunft und Vergangenheit formt sich die Linie zum Kreis, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr sicher bestimmen lassen und jeder Fortschrittsgedanke, der die Geschichte von der Gegenwart trennt, sinnlos ist. Dies entspricht dem in Tinpest gezeichneten Geschichtsbild, das vor allem zu Beginn und am Ende des Romans klar hervortritt. Ähnlich wie in Schutzgebiet wird auch in Tinpest die Schlussszene schon zu Beginn des Romans beschrieben und dadurch eine Kreisbewegung erzeugt. In beiden Szenen geht es um den verwundeten Soldaten, bei dem am Ende des Buches deutlich wird, dass es sich um den Sohn von Lauerspergs Freundin AnnaThekla, Arthur, handelt, der vielleicht auch der Sohn von Lauersperg selbst ist oder zumindest nach ihm benannt ist (vgl. TP 125/179).⁹⁵ In der Schlusspassage wird diesem Sohn eine rätselhafte Figur an die Seite gestellt, die Arthur nach einigem Hin und Her als „den wandernden Juden, der durch alle Zeiten und Kriege wirbelt, auf dem Weg zu und gedeckt durch die zu erwartende Wiederkunft seines Messias“⁹⁶ einordnet (TP 184). In dieser Klassifizierung kehrt das paradoxale Feindbild des „ewigen Juden“ zurück, der bis zum Endgericht die Weltgeschichte

92 Obwohl nirgendwo eine deutliche zeitliche Situierung stattfindet, wird die Geschichte im Verweis auf die Gründung des österreichisch-habsburgischen Reiches 1868 nach der Schlacht bei Königgrätz und auf die Erweiterung des Reiches 1878 zwischen diesen Ereignissen und dem Beginn des Ersten Weltkrieges angesiedelt und setzt sich mit der Anfangs- und Schlussszene bis in den Zweiten Weltkrieg fort. 93 Vgl. dazu den Kommentar des Rezensenten Arjan Peters „Wir dürfen gerne wissen, dass Ferron jetzt lebt“ („We mogen best weten dat Ferron nu leeft.“): A. Peters, De spoken en gieren zijn onder ons. 94 „De chronologie is niet meer dan een onbruikbaar geworden fictie“, siehe A. Heumakers, Geen uitweg uit het verval. 95 Dass es sich bei dem Soldaten zu Beginn und zu Ende des Buches um Arthurs Sohn handelt, wird in der Sekundärliteratur vertreten, vgl. R. Anker, Een moeras van bedoelingen. 96 „de wandelende jood die door alle tijden en oorlogen heen banjert, op weg naar en gedekt door de te verwachten wederkomst van zijn Messias“ (TP 184).

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„durchwandert“ (vgl. TP 185): Einerseits wird diese Figur als „ewig“ bezeichnet, so dass ihrem Fortbestehen kein Ende gesetzt ist, andererseits ist sie Teil der auf das Ende hin zielenden jüdisch-christlichen Eschatologie, in welcher der Weltgeschichte ein Ende vorhergesagt wird. Der Alte weist diese Klassifizierung zwar zurück, gibt sich aber als gleichermaßen namenloser wie rastloser und auf seinen Moment wartender Reisender durch die Zeit aus (vgl. TP 185/85). Die Geschichte, die er erzählt, lässt jedoch jedes Erlösungsmoment vermissen. Sowohl Arthur, seine Mutter Anna-Thekla, sein (offizieller) Vater George als auch ein rätselhafter dritter Mann tauchen in ihr auf, vor allem aber die „Tore, geöffnet zum Sand hin, Tore, geöffnet zum Exil“⁹⁷ (TP 186). Diese Geschichte der Vertreibung handelt „von Verbannung und Verrat, von Unschuld und Belastung, von für nichts vergossenem Blut und Blut, das die Saat für kommende Geschlechter sein würde“⁹⁸ (TP 186). Im blutigen, immer wiederkehrenden Kampf um die Macht muss immer wieder alles an den Rand getrieben werden, was der Macht im Wege steht. Die Behauptung einer Position geschieht auf Kosten aller anderen. Nur im machtleeren Raum des Exils sind diese Mechanismen ausgeschaltet, so dass das Verdrängte zum Vorschein kommt.⁹⁹ Arthur kommt bezogen auf sein eigenes Leben zu der Einsicht, dass die Idee „des neuen Menschen“¹⁰⁰ (TP 181) sich als illusionär erweist: „Als ob die Welt sich nie veränderte und alles seinen hoffnungslosen Lauf nahm so wie es einst angeordnet worden war“¹⁰¹ (TP 181). Unter „der Maske der Erneuerung“¹⁰² (TP 181), so erkennt Arthur, haben diejenigen, die ihn die „neuen“ Ideen lehrten, nichts anderes als eine „symmetrische Umkehrung des Alten“¹⁰³ im Auge gehabt (TP 181).¹⁰⁴

97 „[p]oorten, geopend naar de zanden, poorten geopend naar het Exil“ (TP 186), ein schon in den Mottos des Buches anklingender Verweis auf Saint-John Perses Gedicht „Exil“: Saint-John Perse, Exil. Gedicht an eine Fremde/Regen/Schnee, übersetzt von Leonharda Gescher, Berlin 1949, S. 5–14. 98 „van ballingschap en verraad, van onschuld en beladenheid, van om niet vergoten bloed en bloed dat het zaad zou zijn voor komende geslachten“ (TP 186). 99 Vgl. zur freudianischen Geschichtsauffassung im ödipalen Streit zwischen Autorität und Kastration in Tinpest B. Vervaeck, Sukkels op sokkels. 100 „van de nieuwe mens“ (TP 181). 101 „Alsof de wereld nooit veranderd was en alles maar zijn hopeloze gangejte bleef gaan zoals ooit verordonneerd was“ (TP 181). 102 „het mom van vernieuwingd“ (TP 181). 103 „symmetrische omkering van het oude“ (TP 181). 104 Arthur wird im Roman als Repräsentant der neuen Künste, die in ihrem Modernismus mit der Vergangenheit brechen und sich der Zukunft (die auch den Faschismus beinhaltet) zuneigen: W. Kuipers, Ik woon nu eenmaal in vroeger.

7.3 Annäherung |

217

Arthur erkennt also, dass das, was er für die neue und andere Zukunft hielt, nichts anderes ist als das, was in der Vergangenheit schon unzählige Male passiert ist. Eine Erlösung aus dieser „ewigen Wiederkunft“ des Gleichen¹⁰⁵ scheint fern. Im Forterzählen der „Geschichte von Verbannung und Verrat“ erhebt sich der Alte als Geier in den Himmel und bildet einen Kontrast zu den Engeln, die Arthur kurz darauf zu hören meint.¹⁰⁶ Als umgekehrtes Erlösungsbild, das zwar aufsteigt, jedoch stets wieder um die erlegte Beute kreist, widerlegt er die Engel, diese „Torwächter an den Gebieten einer glückseligen Vergangenheit, die sich bis weit in die Zukunft ausstreckt“¹⁰⁷ (TP 186/187). Das aufgerufene biblische Bild der Engel, welche die Vergangenheit als glückseliges Paradies überwachen (vgl. Gen 3.23-24),¹⁰⁸ entspricht der eschatologischen Hoffnung auf Erlösung und Wiederherstellung eines paradiesischen Urzustandes in der Zukunft. Die lineare und auf Erlösung gerichtete Bewegung von Vergangenheit zu Zukunft wird unterlaufen vom Kreislauf der Zerstörung, welchen der Alte, Walter Benjamins ‚Engel der Geschichte‘¹⁰⁹ entsprechend, beschwört. Im Aufstand der Söhne gegen ihre Väter, der dafür sorgt, dass das Blut einer Generation die Saat für die folgende Generation wird, bleibt der Engelgesang ein irritierendes Hintergrundgeräusch. Nota bene geht der Text hier in seinen letzten Sätzen beinahe wörtlich in die seiner Anfangspassage über. In diesen Kreisen wird auch auf der Textebene das Ineinanderfließen von Vergangenheit und Zukunft inszeniert: Das Ende fällt mit dem Anfang zusammen, die Vergangenheit ist nur scheinbar abgeschlossen, wird aber in der ewigen Wiederkehr des Gleichen zur Vorausschau der Zukunft. Nichts anderes als das, was in der Vergangenheit geschehen ist, wird in der Zukunft passieren. In diesem Sinne gibt es weder Linerarität, noch Fortschritt, noch Erlösung. Einzig positiver Aspekt dieses Geschichtsbildes ist der Umstand, dass ein Blick in die Vergangenheit zugleich ein Blick in die Zukunft ist, an dem sich Entwicklungen in der Zukunft ablesen lassen (so will Arthur im Blick auf die Vergangenheit

105 Zum nietzeanischen Konzept der ewigen Wiederkunft in Tinpest vgl. A. Heumakers, Geen uitweg uit het verval. 106 Der Geier erinnert an das aus dem Roman Het Stierenoffer bekannte Bild der überdimensionalen Fledermaus, welche in der Teutonischen Trilogie den Faschismus verkörpert und sich zu einer allesverschlingenden Kraft entwickelt. 107 „poortwachters aan de domeinen van een gelukzalig verleden dat zich tot ver in de toekomst uitstrekt“ (TP 186/87). 108 Gottes Vertreibung des Menschen aus dem Paradies: „Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Kerubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten.“ Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Altes und Neues Testament, Freiburg 2009. 109 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin, Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19., hg. von Gérard Raulet, Berlin 2010, These IX.

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Seminare über Aufstieg und Niedergang geben, vgl. TP 8). Wo in Schutzgebiet die Kreisbewegung zwischen Geschichte und Gegenwart die immer wieder neu und anders aktivierbare Geschichte durch die Geschichtsschreibung der Gegenwart meint, wird sie in Tinpest zu einem Teufelskreis, in dem historisches Erzählen immer ein Erzählen über die Gegenwart (und Zukunft) ist, da das sich der zerstörerische Kreislauf der Geschichte ewig wiederholt. Die Romane integrieren so in ihre historische Erzähltwelt historiografische Reflexionen. Die Erzählwelt geht von einer Ausrichtung an Geschichte in eine Ausrichtung an Geschichtstheorie über, was die emersive Glaubwürdigkeit zum Teil wieder zurücknimmt, obwohl es thematisch um die Annäherung an die Vergangenheit geht.

7.4 Zusammenfassung Louis Ferrons Tinpest und Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet verknüpfen das historische Erzählen mit dem Thema kolonialer Besitzergreifung. Eine solche Verbindung zwischen Geschichtserzählung und Kolonialismus findet auch auf geschichtstheoretischer Ebene statt, wenn der Umgang westlicher Kulturen mit ihrer Geschichte als Konfrontation mit dem ‚Anderen‘ konzeptualisiert wird. Michel de Certeau beschreibt das moderne Geschichtsverständnis als eines, das die Vergangenheit als anders von der Gegenwart trennt. Die Identitätsstiftung durch Geschichtsschreibung beruht dabei auf dem Versuch der Beherrschung dieses Anderen, indem ihm Bedeutung zugewiesen wird. Hayden White vergleicht diese Sicht auf die Vergangenheit der eigenen Kultur mit der kolonialen Perspektive auf andere Kulturräume und verschränkt so die zeitliche mit der räumlichen Dimension. Tinpest und Schutzgebiet führen koloniale Aneignungsprozesse innerhalb von Geschichtserzählungen vor. In den Texten wird die koloniale Expansion mit einem Vorgang der Bedeutungsbesetzung enggeführt, der auch für das Erzählen von Geschichte kennzeichnend ist. Die Verbindung von kolonialer Aggression und Bedeutungsbesetzung findet einerseits auf symbolischer Ebene statt. Die Romane erzählen von den Selbstbehauptungsversuchen ihrer Protagonisten, die sich unter widrigen Umständen Geltung verschaffen wollen. Doch die Bemühungen, sich selbst in einer fremden Umgebung zu festigen, sind erfolglos: In beiden Texten bietet eine Burg innerhalb der kriegerischen Auseinandersetzungen nur scheinbar Stabilität, da ihre Schutzfunktion sich in der Frage relativiert, welcher Kampfpartei sie zugeschlagen wird. Die Inszenierung von Bedeutungsgebungsprozessen in der Erzählwelt springt auch auf die Ebene der Erzählung über: In Tinpest kann die Niederlage im Kampf innerhalb der Erzählwelt durch den Aufbau einer kohärenten Erzählung kompensiert werden. Die Erzählung wird zu einer –

7.4 Zusammenfassung |

219

im Gegensatz zum dargestellten Krieg – erfolgreichen Kampfhandlung, da sie als erfolgreiche Bedeutungsgebung Kohärenz durch die Verdrängung divergenter Bedeutung erzielt (vgl. 7.2.1). Vor dem Hintergrund dieser Sensibilität für die Ausschlussbewegungen, welche Bedeutungsgebungsprozessen inhärent sind, wird ein zweites Erzählinteresse beider Texte einsichtig: die Oberfläche. Beide Romane beschreiben verschiedenste Oberflächen und zeigen, wie Figuren an diesen Oberflächen verharren, anstatt zu dem durchzudringen, was dahinter liegen könnte. Eine solche Art, an der Oberfläche zu bleiben, vermeidet genau die Konfrontation, bei der immer die Gefahr besteht, das Andere durch eigene Bedeutungsgebung zu verdrängen oder von ihm verdrängt zu werden. Wenn sich diese Oberflächlichkeit auch auf den Erzählstil überträgt, klingt dabei immer eine Erzählhaltung mit, die gar nicht erst die Prätention hat, zum Kern der Sache – zur Vergangenheit – durchzudringen. Ein bewusstes Verharren an der Oberfläche gibt eigenen Projektion explizit Raum, anstatt ein Durchdringen der Oberfläche zu beanspruchen und dabei doch nur, allerdings versteckt, eigenen Projektionen zu erliegen. Die so ausgestellte Künstlichkeit der Erzählwelt dockt dennoch lose an faktual Verbürgtes an: Ein Bezug auf die vergangene Wirklichkeit wird nicht verbindlich beansprucht, aber auch nicht ausgeschlossen. Die Erzählungen geben in der ausgestellten Oberflächlichkeit den Ideen der erzählten vergangenen Zeit explizit Raum. Insofern wird die Referenzillusion durch die Schwächung der Erlebnisillusion nicht gestört (vgl. 7.2.2). In expliziter und impliziter Reflexion auf das eigene Erzählen zeigt sich die Vermischung von Metafiktion und historiografischer Reflexion: In Schutzgebiet lotet das Motto in dem Verne-Zitat „Wir leben in einer Zeit, in der alles möglich ist“ Möglichkeiten aus, Geschichte (fiktional) zu erzählen. Tinpest entzaubert seine Figuren als Produkte eines Traums, der sich versatzstückhaft aus dem Schauspielerpersonal des Wiener Burgtheaters bedient. Nach dieser Störung der Erlebnisillusion wird die Donaumonarchie Österreich-Ungarn als historischer Kontext des Romans selbst als Erzählung präsentiert und so die Möglichkeit eines Verweises auf die historische Wirklichkeit dieses Reiches verunsichert (vgl. 7.2.3): Die Störung der Immersion geht über in die Störung der Emersion. Neben diesen Störungen von Referenz und Erleben spielen beide Romane jedoch auch Möglichkeiten der gelingenden Repräsentation durch, in denen Erleben und der Bezug auf die Wirklichkeit zusammenfallen - allerdings innerhalb ihrer Erzählwelten: Sowohl in Schutzgebiet als auch in Tinpest wird Geschichte auf menschliche Körper geschrieben in dem Versuch, die in der Geschichtsscchreibung so schmerzlich vermisste Unmittelbarkeit herzustellen (vgl. 7.3.1). In beiden Romanen wird gezeigt, wie historisches Erzählen in fiktionalem Erzählen in einen anderen Modus überführt wird, in dem Belegtes und Fantastisches ebenbürtig ne-

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beneinanderstehen und einander beeinflussen: So können belegte Tatsachen wie der Zeppelin als Fortbewegungsmittel in der Retrospektive den Eindruck des Fantastischen wecken. Die beiden Romane zeigen eine erhöhte Sensibilität für nicht realisierte Möglichkeiten in der Geschichte und verfolgen das Ideal eines schwebenden Erzählens, bei dem dadurch, dass nicht nur Tatsachen verfolgt werden, Unterrepräsentiertes zum Vorschein kommen kann (vgl. 7.3.2). Schließlich entkräften die Romane ein wesentliches Strukturelement moderner Geschichtsschreibung, die linear fortschreitende Zeit, indem sie Zirkularität beschreiben und im eigenen Erzählen praktizieren. Beide Erzählungen eröffnen mit einer Szene, zu der sie am Ende wieder zurückkehren. Ihre Protagonisten machten Erfahrungen mit anderen, nichtlinearen Zeitkonzepten, die außerhalb der Linearität ‚Sinn ergeben‘. Während in Schutzgebiet die immer wieder neue Konstruktion der Geschichte durch die Gegenwart einen produktiven Kreislauf zwischen Vergangenheit und Gegenwart ergibt, wird die Geschichte in Tinpest zum Teufelskreis, da die Gegenwart die Zerstörungen der Vergangenheit endlos und ohne Hoffnung auf Erlösung wiederholt (vgl. 7.3.3).

8 Jahrhundertwenden: Faktuales Erzählen zwischen Immersion und Reflexion 8.1 Hinführung: Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent und Geert Maks In Europa Die erneut betonte Trennung zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen (vgl. 3.1.2) bringt es mit sich, dass neben den vielfach studierten Formen fiktionalen Erzählens die Eigenarten des faktualen Erzählens verstärkt Gegenstand narratologischer Analysen werden. Zunächst als „unterkomplex“ bezeichnet,¹ zeigt sich das faktuale Erzählen nun als breites Forschungsfeld mit einer Vielzahl zu bestimmender Erzählverfahren.² Damit schließt die neuere Forschung an ältere Ansätze an, die etwa in der ‚Sachbuchforschung‘ dem faktualen Erzählen schon früher ein eigenes Forschungsgebiet zuschrieben.³ Die vorliegende Studie kommt dem neuen Interesse für das faktuale Erzählen bewusst entgegen, indem sie mit Geert Maks Geschichtserzählung In Europa: Reizen door de twintigste eeuw⁴ und Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent: Europa 1900–1914⁵ zwei Beispiele histori-

1 Monika Fludernik, Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations. In: Erzählen und Erzähltheorie im zwanzigsten Jahrhundert, hg. von Jörg Helbig, Heidelberg 2001, S. 93. 2 Beispielhaft für den deutschsprachigen Raum ist Kleins und Martínez’ Sammelband Wirklichkeitserzählungen, der sich dem faktualen Erzählen in verschiedenen Diskursen widmet: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, hg. von C. Klein und M. Marínez (vgl. 3.1). Auch im niederländischsprachigen Raum wird dem faktualen Erzählen mehr Aufmerksamkeit zu Teil: vgl. Hans Ceelen und Jeroen van Bergeijk, Meer dan de feiten. Gesprekken met auteurs van literaire non-fictie, Amsterdam 2007). Eine narratologische Beschreibung des faktualen Erzählens hat unter anderen Genette – jedoch immer im Gegensatz zum literarischen Text – vorgenommen: G. Genette, Fiktion und Diktion (vgl. 3.1.3). 3 Ein sehr frühes Beispiel ist Inge Auböcks Dissertation: Inge Auböck, Die literarischen Elemente des Sachbuchs. Ein Beitrag zur Gestaltung der populärwissenschaftliche Literatur mit besonderer Berücksichtigung des Jugendschrifttums, Diss., Wien 1963. Über die neuere Sachbuchforschung gibt die Webseite www.sachbuchforschung.de eine Übersicht. 4 Geert Mak, In Europa. Reizen door de twintigste eeuw, Amsterdam/Antwerpen 2004. Im Folgenden abgekürzt als „IE-N“. Deutsche Übersetzung des gekürzten Textes: Geert Mak, In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert, übersetzt von Andreas Ecke und Gregor Seferens, München 2005. Im Folgenden abgekürzt als „IE-D“. 5 Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914, übersetzt von Philipp Blom, München 2009. Im Folgenden abgekürzt als „TK“. Ursprünglich erschienen in englischer Sprache: Philipp Blom, The Vertigo Years. Change and Culture in the West 1900–1914, London 2008. Auch in niederländischer Übersetzung publiziert: Philipp Blom, De duizelingwekkende jaren. Europa 1900–1915, übersetzt von Toon Dohmen, Amsterdam 2010. Auf dem niederländischen Buchde-

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schen faktualen Erzählens der Gegenwart analysiert. Dabei soll gezeigt werden, wie die Formenvielfalt des zeitgenössischen historischen Erzählens die traditionellen Signale faktualen und fiktionalen Erzählens unterläuft.⁶ Darüber hinaus ist die Frage, ob und wie sich im faktualen Erzählen das Zusammenwirken von Immersion und Emersion unterscheidet von der Ausgestaltung dieser Dynamik im fiktionalen Erzählen. Dabei ist von besonderem Interesse, inwiefern der Illusionscharakter dieser beiden Erzählstrategien zum Ausdruck kommt, da ein Rezeption wie Produktion bestimmender ‚bewusster‘ Umgang mit Illusion gemeinhin nur dem literarischen fiktionalen Erzählen zugeschrieben wird. Das faktuale Erzählen etabliert sich nicht nur als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand neu, sondern wird auch von den Autorinnen und Autoren selbst als Erzählform mit eigenem Geltungsbereich definiert. So beansprucht Geert Mak eine spezielle Ausgangssituation für das faktuale Erzählen, indem er die Voraussetzungen des journalistischen Erzählens beschreibt: De vertellende journalist is een verteller met een handicap. Die handicap is een loden bal, die de auteur eeuwig met zich meesleept. Die handicap luidt: ‚Gij zult altijd de waarheid spreken en niets dan de waarheid‘. Dat is een probleem, en een uitdaging tegelijk.⁷

Maks Definition des journalistischen Erzählens entspricht der sprachpragmatischen Definition des faktualen Erzählens (vgl. 3.1.2): Es charakterisiert sich durch seinen Wahrheitsanspruch beziehungsweise durch den Anspruch, gültige Aussagen über eine intersubjektiv nachvollziehbare Wirklichkeit außerhalb des Textes zu machen. Diesen Anspruch siedelt Mak übereinstimmend mit der sprachpragmatischen Verortung des faktualen Erzählens nicht im Text selbst, sondern im Verhältnis zwischen den Text Produzierenden und den Text Rezipierenden an: Er

ckel wird Geert Mak als niederländische Autorität auf dem Gebiet des populären historischen Erzählens zugunsten Bloms zitiert. 6 Jaeger betont, dass die Vielfalt an Erzählmöglichkeiten im modernen historischen Erzählen eine Unterscheidung von Faktualität und Fiktionalität allein aufgrund von Textmerkmalen unmöglich mache: S. Jaeger, ẞ. 132–133. Paul und Faber sprechen von der „Literarizität von Geschichtsschreibung“ und widmen den ersten Teil ihres Sammelbandes dem Vergleich zwischen geschichtswissenschaftlichen Darstellungsformen und historischen Romanen: Der historische Roman zwischen Kunst, Ideologie und Wissenschaft, hg. von Ina Ulrike Paul und Richard Faber, Würzburg 2013. 7 „Der erzählende Journalist ist ein Erzähler mit einer Behinderung. Diese Behinderung ist eine bleiernde Kugel, die der Autor ewig mit sich mitschleppt. Die Behinderung lautet: ‚Du sollst immer die Wahrheit sagen und nichts als die Wahrheit‘. Das ist ein Problem und gleichzeitig eine Herausforderung.“ Geert Mak, Het eeuwig slepen met de loden bal. Over verhalen en journalistik. In: Raster. Tijdschrift in boekvorm, 60, 1993, S. 136.

8.1 Hinführung |

223

spricht von einer „stillschweigenden Vereinbarung“⁸ zwischen Autor beziehungsweise Autorin und Lesenden, die im Anschluss an Lejeunes Beschreibung des autobiografischen Schreibens auch als ‚faktualer Pakt‘ bezeichnet werden kann (vgl. 3.1.3).⁹ Die Konsequenzen dieses Paktes für das Erzählen werden einerseits als „Behinderung“, also als Einschränkung der Erzählmöglichkeiten empfunden. Die erzählerische Umsetzung des Wahrheitsanspruchs jedoch andererseits als „Herausforderung“ zu sehen, deutet einen Erzählstil an, der sich trotz dieser Einschränkung einen gewissen Freiraum behauptet. Dieser Freiraum schlägt sich schon in der Art, wie Mak die eigene „Behinderung“ umschreibt, nieder: In der Bildsprache der „bleiernen Kugel“, in ihrer metaphorischen Vieldeutigkeit, klingt ein Erzählstil an, der nicht ‚unsachlich‘ ist, aber seinen Gestaltungsspielraum auslotet. Diesen Spielraum gilt es anhand von Bloms und Maks Texten zu bestimmen. Sie zeigen die Vielfalt historischen Erzählens jenseits eines klassischen Stils, der nach Roland Barthes Analyse den Eindruck erwecken will, das Bezugsobjekt – im Falle des historischen Erzählens also die vergangene Wirklichkeit – spreche selbst und steuere die Lektüre völlig unvermittelt. Für diese Form des klassischen historischen Erzählens gelten die als faktual identifizierten Erzählstrategien besonders, da sie die Objektivität eines Textes inszenieren: Barthes nennt die Abwesenheit von Absenderzeichen und damit hetereodiegetisches Erzählen, bei dem der Erzähler nicht nur nicht beteiligt ist am Erzählten, sondern in keiner Form in seiner eigenen Erzählung auf sich selbst verweist (vgl. 3.2.2). Die von Genette betonten faktualen Erzähleigenschaften der Vermeidung von interner Fokalisierung und intradiegetischem (also eingebettetem) Erzählen treffen ebenfalls auf das klassische historische Erzählen zu (vgl. 3.1.3). An Bloms und Maks Geschichtserzählungen lässt sich zeigen, wie von dieser „Rhetorik der Allwissenheit“¹⁰ durch präsente Erzähler, interne Fokalisierung und eingebettetes Erzählen abgewichen wird (vgl. 8.3.1 und 8.3.3). Weil dabei verstärkt auf mit dem fiktionalen Erzählen assoziierte Erzählverfahren zurückgegriffen wird, ergibt sich die Frage, ob Geschichtserzählungen wie die Maks und Bloms zu den sogenannten „Borderlinetexten“,¹¹ also zu Texten

8 „stille afspraak“ Mak, „Het eeuwig slepen met de loden bal“ 142. 9 Klein und Martìnez sprechen von einer „Art Abkommen“, C. Klein und M. Martínez, S. 3. 10 S. Jaeger, S. 125. 11 C. Klein und M. Martínez, S. 4–5. Klein und Martínez unterscheiden „Faktuale Erzählungen mit fiktionalisierenden Erzählverfahren“, „Faktuale Erzählungen mit fiktiven Inhalten“, „Fiktionale Erzählungen mit faktualen Inhalten“ und „Fiktionale Erzählungen mit faktualem Redemodus“. Auch Jaeger weist in Bezug auf die Verortung des historischen Erzählens zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen auf verschiedene Mischformen hin: S. Jaeger, S. 11–115.

224 | 8 Jahrhundertwenden

die ‚Fakt und Fiktion‘ mischen, gerechnet werden müssen. Unter den verschiedenen von Klein und Martínez klassifizierten Typen dieser Texte auf der Grenze zwischen ‚Fakt und Fiktion‘ entsprächen Maks und Bloms Erzählungen am ehesten den „faktualen Erzählungen mit fiktionalisierenden Erzählverfahren“. Für sie hat sich im angelsächsischen Sprachraum in Bezug auf journalistische Erzählstile der Begriff „Faction“ herausgebildet.¹² Innerhalb dieser Studie soll jedoch die Einordnung von Bloms und Maks Texten auf einer Skala zwischen ‚Fakt und Fiktion‘ nicht im Mittelpunkt stehen. Relevant ist vielmehr, welche Erzähleigenschaften eines Textes die Zuordnung als faktual beziehungsweise fiktional blockieren und somit als Ausschlusskriterium wahrgenommen werden, das nur im Zuge einer faktual-fiktionalen ‚Mischform‘ toleriert werden kann. In der Auseinandersetzung mit Maks und Bloms Texten fällt auf, wie immersive Textelemente die Einordnung einen Textes als faktual erschweren. Es verwundert daher nicht, dass es argumentativer Anstrengung bedarf, um solche immersiven Strategien in der Geschichtsschreibung zu begründen. Eine solche argumentative Begründung seiner Erzählverfahren leistet Geert Mak. In seiner Rhetorik fällt auf, dass immersive Erzählstrategien mit der Verbindung der Wiedergabe von ‚objektiver‘ Geschichte und ‚subjektiver‘ Geschichtserfahrung begründet werden. Mak ordnet sich in die ‚Faction‘-Bewegung des ‚New Journalism‘ ein, die sich von Objektivität und Neutralität als Maximen für den guten journalistischen ‚Bericht‘ bewusst absetzt und durch erweiterte erzählerische Mittel auch die subjektive Perspektive des Erzählenden betont. Durch immersive Erzählverfahren soll die Distanz zur Geschichte verkleinert werden.¹³ Mak vergleicht die Geschichte mit einem Theaterstück, dessen Ende die Leserinnen und Leser als Publikum schon kennen und das sie deswegen aus sicherer Distanz beurteilen zu können meinen. Durch subjektivierende Erzählstrategien, die über die Erzählerfigur, aber auch über die interne Fokalisierung geschichtlicher Figuren erreicht werden kann, soll diese Distanz verringert werden. Wie im Theater soll das Miterleben, die Immersion, gefördert werden,¹⁴ um so eine Annäherung an die Vergangenheit in Form einer „menschlichen Geschichte“ zu erreichen.¹⁵

12 Vgl. Joan Kristin Bleicher, Grenzgänge zwischen Fakten und Fiktion. Faction und New Journalism in den USA. In: Journalistische Kulturen. Internationale und interdisziplinäre Theoriebausteine, hg. von Oliver Hahn und Roland Schröder, Köln 2008, S. 7–30. 13 Mak beruft sich dabei auf den Journalismus um die Jahrhundertwende, der neben dem sachlichen Ton einen stark die Imagination und die Gefühle ansprechenden Erzählstil kannte: Sharon Hagenbeek, ‚De eeuw van mijn vader is eigenlijk een heel raar boek‘ (Interview). In: Geertmak.nl, 20. April 2010, Web, 10. Oktober 2011. 14 G. Mak, Het eeuwig slepen met de loden bal, S. 138. 15 S. Hagenbeek, ‚De eeuw van mijn vader is eigenlijk een heel raar boek‘.

8.1 Hinführung |

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Im Verweis auf das Theater wird einmal mehr deutlich, dass die Rezeption von Geschichtsschreibung mit der Rezeption von fiktionalen Werken verglichen wird. Maks und Bloms Texte demonstrieren die Labilität der Grenze zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen anhand eines Themas, das selbst auf der Grenze zwischen faktualer Nachvollziehbarkeit und fiktionalem Entwurf steht: das – in diesem Falle auch noch „taumelnde“ – Europa, das sich eindeutigen Definitionen geografisch und politisch entzieht.¹⁶ Zeitlich grenzen die beiden Autoren ihre Erzählungen unterschiedlich ein. Philipp Blom widmet sich in seiner Publikation Der taumelnde Kontinent ausschließlich den Jahren 1900 bis 1914, also einem Zeitabschnitt, der leicht als Vorgeschichte zum Ersten Weltkrieg vernachlässigt wird. In der folgenden Analyse wird Bloms Perspektive insofern auch auf Geert Mak übertragen, als dass aus seiner Publikation In Europa, die das komplette zwanzigste Jahrhundert in Europa beschreibt, lediglich das erste Kapitel (beziehungsweise der erste ‚Reiseabschnitt‘) über die Jahre 1900 bis 1914 herangezogen wird. Indem somit Erzählungen über die Jahrhundertwende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert in den Fokus genommen werden, dreht sich das historische Erzählen hier im Gegensatz zum Erzählen über die Aufklärung und über den Kolonialismus um eine moderne Krisenerfahrung. Eine Dynamik zwischen Annäherung und Distanz ergibt sich somit auch aus der Einschätzung, inwiefern die damalige Krise mit heutigen Krisenerfahrungen in Verbindung gebracht werden kann. Philipp Blom publiziert seit den Nullerjahren historische Erzählungen für ein breiteres Publikum. In der Literaturkritik wird Blom als „Grenzgänger zwischen Geschichtsschreibung und Literatur“¹⁷ gehandelt, der zu dem „bemerkenswerte[n] Phänomen unserer Tage“ gehöre“,dass gerade jüngere deutschsprachige Autorinnen und Autoren ein auffallendes Interesse am fiktionalen Spiel mit historischen Fakten zeigen“.¹⁸ Das vernünftige Ungeheuer¹⁹ widmet sich der Enzyklopädik im achtzehnten Jahrhundert. Über die Philosophie der Aufklärung erschien im Jahre 2011 eine weitere Veröffentlichung, Böse Philosophen.²⁰ Dazwi-

16 Blom wählt für die (von ihm selbst angefertigte) deutsche Übersetzung seines Buches den Titel „Der taumelnde Kontinent“, aber auch Mak spricht vom „taumelnden Europa“, vgl. G. Mak, In Europa, S. 108 (in der deutschen Fassung: S. 88). 17 Angela Gutzeit, Europa 1900–1914. Vibrierende Nervenbahnen. In: Frankfurter Rundschau, 13. November 2009, Web, 5. Oktober 2011. 18 A. Gutzeit, Europa 1900–1914. 19 Philipp Blom, Das vernünftige Ungeheuer. Diderot, d’Alembert, de Jaucourt und die Große Enzyklopädie, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 2005. 20 Philipp Blom, Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München 2011.

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schen liegt die Publikation von Der taumelnde Kontinent über den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich ebenfalls mit einer historischen Phase des Umbruchs beschäftigt.²¹ Geert Mak hat sich zunächst auf dem niederländischen und inzwischen auch auf dem europäischen Markt als ‚Geschichtserzähler‘ etabliert. In zahlreichen Publikationen seit den Achtzigerjahren verarbeitet der Jurist und Journalist vor allem historische Themen mit einer Schreibweise, welche die Konventionen klassischer Geschichtsschreibung verlässt. Ein erstes Beispiel für diesen Erzählstil ist Geert Maks Veröffentlichung De engel van Amsterdam,²² die Erzählungen und Anekdoten rund um Amsterdam bündelt. Einen Durchbruch erlebte Geert Mak mit seiner Publikation Hoe God verdween uit Jorwerd²³ über die Entwicklung des niederländischen Dorflebens nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf dem niederländischen wie auf dem deutschen Markt erfolgreich war eine Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in den Niederlanden, die Mak entlang der eigenen Familiengeschichte in De eeuw van mijn vader²⁴ konstruierte. In In Europa wendet sich Mak der europäischen Geschichte zu.²⁵

21 Zur Erzählweise von Der taumelnde Kontinent bemerkt Karasek, dass Bloms Vorgehen beim Erzählen historischer Zusammenhänge „subtiler“ sei als die bloße Einordnung von Ereignissen in bekannte Strukturen: Manuel Karasek, Alles neu, rasend schnell. In: TAZ. 16. Mai 2009, Web, 10. Oktober 2011. Auch wenn sein Bemühen „das Bild von der ‚guten, alten Zeit‘ zu korrigieren“ nicht immer politisch und historisch korrekt sei, wird der „Abwechslungsreichtum seiner Exkurse“ gelobt, der eine neue Sicht auf die Geschichte ermögliche: Lothar Höbelt, Wider die Konfektionsgröße. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Oktober 2009, Web, 5. Oktober 2011. Auch in der niederländischen Literaturkritik wird in Bezug auf die niederländische Übersetzung von Der taumelnde Kontinent die Dynamik von Bloms Erzählen gelobt: Paul Depondt, Philipp Blom – De Duizelingwekkende Jaren. In: De Volkskrant, 10. Juli 2009, Web, 10. Oktober 2011. Seine Erzählexperimente, die „Geschichte ohne die Geschichte“ auskommen lassen wollen, indem sie große historische Verläufe ignorieren, werden hervorgehoben: Thomas Speckmann, Unsicherheit, Terror, Globalisierung. Philipp Blom beschreibt die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als die unsrige. In: Süddeutsche Zeitung, 23. April 2009, Süddeutsche Zeitung Archiv, Web, 6. Oktober 2011. Durch diese dynamische Schreibweise gelänge es ihm in Der taumelnde Kontinent eine Nähe zur Gegenwart herzustellen: Christoph Jahr, Schwindelgefühle. Philipp Blom über Europa vor dem Ersten Weltkrieg. In: Neue Zürcher Zeitung, 2. September 2009, Web, 10. Oktober 2011. 22 Geert Mak, De engel van Amsterdam, Amsterdam/Antwerpen 1992. 23 Geert Mak, Hoe God verdween uit Jorwerd, Amsterdam/Antwerpen 1996. Deutsche Übersetzung: Geert Mak, Wie Gott verschwand aus Jorwerd. Der Untergang eines Dorfes in Europa, übersetzt von Isabel de Keghel, Berlin 1999. 24 Geert Mak, De eeuw van mijn vader, Amsterdam/Antwerpen 1999. Deutsche Übersetzung: Geert Mak, Das Jahrhundert meines Vaters, übersetzt von Gregor Seferens, Berlin 2003. 25 In der Literaturkritik wird auffällig wenig der formale Aufbau von In Europa kommentiert. Nur einige Rezensentinnen und Rezensenten behandeln neben der historischen Fundiertheit und

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8.2 Distanzierung 8.2.1 Momentaufnahme: Geschichte in isolierten Szenen Die Konfrontation mit Erzählverfahren, die eher dem fiktionalen Erzählen zugeordnet werden, beginnt in Der taumelnde Kontinent als faktualem Text gleich auf der ersten Seite. Er setzt mit einer szenischen Erzählung ein (vgl. 4.2.2), in der die spannungsgeladene Situation eines Autorennens im Jahr 1912 heraufbeschworen wird. „[M]it jeder Sekunde“ rasen die Autos auf die beschriebenen Betrachter zu, „eine Vision geballter Macht“ (TK 11). Innerhalb dieser intensivierten Eigenwirklichkeit der Erzählung wird die im Text aufgerufene Referenzillusion reflektiert. Die mitreißende Situation des Wettrennens verknüpft sich mit der metahistoriografischen Frage nach der Möglichkeit, diesen Moment festzuhalten, nach der Repräsentation von Vergangenheit:

der politischen Aussage des Buches formale Fragen: Jan Blokker moniert die wenig persönliche Erzählperspektive, vgl. Jan Blokker, Verdwaald in Europa. Geert Mak doet verslag van wat hij allemaal over het continent heeft gelezen. In: Volkskrant, 12. März 2004, LexisNexis, Web, 10. Oktober 2011. Ger Groot nennt die Kombination einer (räumlichen) Reise mit einer Zeitreise „elektrifizierend“. Durch die vielen verschiedenen wiedergegebenen Perspektiven werde die Heterogenität Europas bewusst gemacht: Ger Groot, Wij zijn geen volk. Geert Mak reist door de Europese geschiedenis met hoopvolle scepsis. In: NRC Handelsblad, 5. März 2004, LexisNexis, Web, 10. Oktober 2011. Onno Blom weist darauf hin, dass in In Europa eine „doppelte Chronologie“ entstehe, da die geschichtlichen Linien mit den Reisewegen kombiniert würden, vgl. Onno Blom, De eeuw van Europa. In: De Standaard, 4. März 2004, LexisNexis, Web, 10. Oktober 2011. Chris van der Heijden empfindet diese doppelte Linienführung als störend. Dennoch spricht er Maks Erzählstil zu, die Komplexität Europas in der Kraft der Assoziation zum erzählerischen Ausgangspunkt zu erheben: Chris van der Heijden, Geert Maks schitterende tocht. In: Vrij Nederland, 6. März 2004, LexisNexis, 10. Oktober 2011. Lakonisch fasst Franziska Augstein in der deutschsprachigen Besprechung des Buches zusammen, dass schon der Umfang des Buches zeige, dass die europäische Seele „viele Seiten habe“. Vgl. Franziska Augstein, Gelobtes Land. In: Süddeutsche Zeitung, 21. Dezember 2005, Süddeutsche Zeitung Archiv, Web, 10. Oktober 2011. Straub spricht von einer Collage „auf den Flügeln [...] bunter Assoziationen“: Eberhard Straub, Keine Einschußlöcher in Barcelona gefunden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Februar 2006, Web, 10. Oktober 2011. Gutzeit lobt, dass es Mak durch seinen Erzählstil gelänge, gegenwärtige Oberflächen für die Geschichte transparent zu machen: Angela Gutzeit, Polytheismus pur. In: Frankfurter Rundschau, 19. Oktober 2005, Web, 10. Oktober 2011. Laut Schneider werde in In Europa die Zeit im Raum lesbar, Europa sei ein Kontinent mit „starker Zeitschichtung“: Wolfgang Schneider, Ein Geschichts- und ein Geschichtenbuch. Geert Maks europäische Reise zu den Schauplätzen des 20. Jahrhunderts. In: Neue Zürcher Zeitung, 3. Januar 2006, Web, 10 Oktober 2011. Durch die Erzählung entsteht Karl Schloegel zufolge sogar ein „anderer Raum“ ohne „die Illusion der Meistererzählung“: Karl Schloegel, Wie Europa wurde, was es heute ist. Der holländische Journalist Geert Mak unternimmt eine furiose Zeitreise durch ein Jahrhundert der Selbstzerstörung und der Wiedergeburt. In: Die Zeit, 29. Dezember 2005, Web, 10. Oktober 2011.

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Einer der Zuschauer, ein achtzehnjähriger Junge, hält eine Kamera in der Hand und macht sich für den Moment bereit, auf den er gewartet hat. Konzentriert blickt er durch den Sucher. Er kann den Fahrer und seinen Passagier hinter der riesigen Motorhaube sehen, die Nummer sechs, die auf den Tank gemalt ist, er fühlt die Schockwelle des Lärms und der Motorenkraft, als das Fahrzeug an ihm vorbeirast. In diesem Moment drückt er auf den Auslöser. Während der Staub um ihn herum sich legt, fragt er sich, ob er den richtigen Augenblick gewählt hat. (TK 11)

Die hier beschriebene Situation lebt von dem Gegensatz zwischen dem konkreten Erleben der Situation – dem konzentrierten Warten, der freien Sicht auf Fahrer und Fahrzeug, der körperlichen Wahrnehmung des Lärms und des Staubs – und der Darstellung dieser Situation, in diesem Falle durch das Mittel der Fotografie, die der Geschichtsschreibung in ihrem Realismusanspruch gleicht. Der beschriebene junge Fotograf als Fokalisator versetzt (nicht emersiv verbürgt, vgl. 8.3.3) die Leserinnen und Leser gleichzeitig in die Situation selbst wie in die Reflexion über ihre Wiedergabe. Er kann sich nicht sicher sein „ob er den richtigen Augenblick gewählt hat“. Die Leserinnen und Leser können das Resultat seiner Bemühungen hingegen auf dem Buchdeckel eben dieses Buches betrachten. Der Text präsentiert damit nicht nur eine Quelle als fixiertes Zeugnis eines Moments, sondern auch ihren dramatisierten und nicht weiter belegten, dynamischen Entstehungskontext. Dabei ist es eine besondere Eigenschaft dieses Fotos, dass es durch Auslassung wichtiger Elemente die Dynamik seiner Entstehungssituation erahnen lässt. Zunächst einmal wird dies als Unvollkommenheit abgewertet – der junge Fotograf ist „enttäuscht“: „Der Rennwagen Nummer sechs ist nur halb im Bild, der Hintergrund ist verwischt und seltsam verzerrt“ (TK 11). Die Fotografie hat ihren Gegenstand verfehlt. Diese inzwischen historische Perspektive wird von einer souveränen Erzählinstanz sogleich mit einer späteren kontrastiert, in der uns der „junge Fotograf“ als der inzwischen renommierte französische Fotograf Jacques Henri Lartigue vorgestellt wird: „[V]ierzig Jahre später“ schafft es seine frühe Fotografie in das Museum of Modern Art in New York. Gerade der Umstand, dass die Fotografie ihren Gegenstand verfehlt, macht sie jetzt zu einem wertvollen Zeugnis: Nicht weil sie das Wettrennen gut darstellt, sondern weil sie ein gutes Bild des Lebensgefühls ihrer Entstehungszeit entwirft. Die „verzerrte“ und „verwischte“ Aufnahme eines Moments wird damit ganz zu Anfang dieses Geschichtstextes als besonderes Qualitätsmerkmal markiert, da sie ein Gefühl von Geschwindigkeit „einfangen“ kann (vgl. TK 11). Das Ziel der Darstellung einer vergangenen Wirklichkeit verschiebt sich hin zu einer Darstellung der Wahrnehmung einer vergangenen Wirklichkeit, die gerade durch eine verzerrte Form ihren Gegenstand vermitteln kann. Die zitierte Textstelle beweist, welche erzählerischen Darstellungsmittel zur Repräsentation von Wahrnehmung herangezogen werden:

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Ein faktualer Text mit Erzählinteresse an Wahrnehmungsprozessen bedient sich Darstellungsmitteln wie des szenischen Erzählens und der unbeglaubigten internen Fokalisierung, die konventionell eher dem fiktionalen Erzählen zugeordnet werden. Diese Wiedergabe einer Wiedergabe (die Beschreibung des Moments einer Fotoaufnahme) wird im folgenden Teil der Einleitung deutlich als Reflexion der eigenen Möglichkeiten, die erzählte Geschichte wiederzugeben, und somit als metahistoriografische Reflexion eingeordnet. Der eingangs beschriebene Fotograf Lartigue hat Probleme, sein sich extrem schnell veränderndes Umfeld fotografisch festzuhalten. Er „spiegelt die Faszinationen einer Epoche wider, deren Volkshelden Rennfahrer waren, in der praktisch jede Woche neue Geschwindigkeitsrekorde aufgestellt und gebrochen wurden und in der neue Technologien, in seinem Fall eine billige, tragbare Kamera, das Leben von Millionen unwiderruflich veränderten“ (TK 12). Im Verweis auf dieses Lebensgefühl wendet sich der Erzähler gegen eine „nostalgische und statische Interpretation“ der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (vgl. TK 12, vgl. 8.3.2 in diesem Kapitel). Er begründet sein Erzählanliegen damit, eben nicht „die gute alte Zeit“ (TK 11) oder eine „intakte Gesellschaft“ mit geordneten Verhältnissen vor dem Ersten Weltkrieg (TK 12) beschreiben zu wollen. Um eine Erzählstrategie zu finden, die diese statische Darstellung vermeidet, wird erneut auf die Fotoszene zu Anfang der Einleitung zurückgegriffen, indem im Text „eine Art Kameratechnik, [...] wie sie auch der junge Jacques Lartigue hatte, als er seinen Photoapparat auf den Rennwagen Nummer sechs richtete“, (TK 15) verwendet werden soll. Es geht um die „Möglichkeit, die Dynamik, die Rasanz, die Unmittelbarkeit der damaligen Lebenserfahrung einzufangen“ (TK 15). Die vorliegende Geschichtserzählung soll also nicht den Eindruck von Vollständigkeit vermitteln, wie sie ein ‚geglücktes‘ Foto in der Aufnahme des kompletten Rennwagens auf Kosten des Bewegungsmoments gewährleistet hätte. An die Stelle von erschöpfender Berichterstattung tritt die Inszenierung einzelner Momente, Emersion tritt zurück zugunsten von Immersion. Dies kommt einem weiteren, wesentlichen Erzählanliegen entgegen, das als ein zentrales Prinzip des Textes betrachtet werden kann und das wiederum explizit reflektiert und eingeführt wird. In der Einleitung deutet der Erzähler die Gefahr einer „Verengung“ der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg „auf die Motive und Fakten, die sich als Kriegsgründe oder, vom Militarismus bis zum Bündnisgeflecht und der kolonialen Rivalität der Großmächte, zumindest als kriegsfördernd begreifen lassen“, an (TK 14/15). Eine solche Verengung führt zwar zur Konstruktion eines stabilen Ganzen, versteckt jedoch, dass zu diesem Zweck eine Vielzahl von Phänomenen und Bewegungen der Zeit ausgeblendet wurden. In Der taumelnde Kontinent soll hingegen eine demonstrative und unversteckte Ausblendung praktiziert werden, wie sie auch auf Lartigues Foto unfreiwillig geschah. Um ohne

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„teleologische Vorurteile“ (TK 14) an die Periode herantreten zu können, lädt der Erzähler zu einem „Gedankenexperiment“ (TK 15) ein, indem er sich direkt an die Leserschaft wendet: Stellen Sie sich vor, eine hungrige, aber sehr selektive Plage von Bücherwürmern hätte alle Bibliotheken und Archive der Welt befallen und sich dort durch sämtliche Photos, Filme, Zeitungen, Tonaufnahmen, Dokumente und Bücher mit historischer Information über die Zeit zwischen Juli 1914 und Dezember 2000 gefressen. Stellen Sie sich also vor, Sie wüßten nichts vom Mord in Sarajevo, von der Schlacht an der Somme, vom Börsenkrach, von der ‚Reichskristallnacht‘, von Stalingrad, Auschwitz, Hiroshima, den Gulags, Vietnam oder der Berliner Mauer. Stellen Sie sich vor, die Geschichte wäre erst wieder um die Jahrtausendwende leise in unser Bewußtsein gedämmert. Stellen Sie sich vor, Sie würden die Lebensgeschichten, Gedanken und Taten der Menschen, die vor 1914 lebten, nicht durch das Prisma eines Jahrhunderts voll monströser Verbrechen (und übrigens auch monumentaler Leistungen) betrachten, sondern könnten diese historiographische Brille abnehmen. Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Jahre von 1900 bis 1914 ohne die langen Schatten ihrer Zukunft sehen, als lebendige Momente in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit, mit ihrer noch immer offenen Zukunft – denn das, eine offene Zukunft und die Hoffnung, die daraus entspringt, ist das Kostbarste, was eine Zeit besitzen kann. (TK 15)

Der Erzähler fordert hier sozusagen dazu auf, das Wissen um den Ausgang des fotografierten Wettrennens auszublenden. Er nennt mit Ereignissen vom „Mord in Sarajevo“ bis zum Fall der „Berliner Mauer“ das kanonisierte historische Wissen über das zwanzigste Jahrhundert, durch welches die Leserinnen und Leser den Text wie durch eine „historiografische“ Brille wahrnehmen. Gerade diese Kontinuität, in der alle mit der westlichen Geschichte vertrauten Leser und Leserinnen historisch erzählende Texte lesen, möchte der Erzähler unterbrechen, was zunächst einmal zu einem größeren Abstand zum Erzählten führt, da die historische Brücke zur Gegenwart fehlt. Dieser Erzählkniff tut das, was dem Fotografen Lartigue unfreiwillig passierte: Ein wesentlicher Teil des Bildes, die Vorderseite des anvisierten Rennwagens, wird ausgeblendet. Durch das Ausblenden dessen, was folgt, betrachtet man die Geschichte sozusagen von ihrer Rückseite aus. Dadurch dass die beschriebene Periode von der Gegenwart abgeschnitten wird, entsteht zunächst eine Lücke zwischen Erzähltem und dem Zeitpunkt des Erzählens, ein Abstand, der in der Ausblendung des blitzlichtartig zusammengefassten zwanzigsten Jahrhunderts (aus westlicher Sicht) beinahe unvorstellbar ist. In einer gleichzeitigen Bewegung der Annäherung kann jedoch nur so der Eindruck entstehen, wie der Fotograf Lartigue direkt dabei zu sein (vgl. 8.3.2 in diesem Kapitel). Ein solches Gedankenexperiment bedeutet einen (im Gegensatz zu den „Umschaltmomenten“ der traditionellen historischen Erzählung, vgl. 3.2.2) expliziten Eingriff in die Zeit, genauer in das Zeitkontinuum des zwanzigsten Jahrhunderts.

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Die innerhalb der Erzählung konstruierte Zeit ist damit keine ‚realistische‘ Zeit: Sie entspricht nicht der mit realistischer Wiedergabe konnotierten geordneten Linearität, sondern ist so manipulierbar und dynamisch, dass mühelos Zeitabstände übergangen werden können. Wie im Film, dessen Aufkommen in der beschriebenen Periode behandelt wird, kann geschnitten, gerafft und gedehnt werden (vgl. TK 298). Das Eingreifen in die Zeit, ebenfalls ein Charakteristikum der erzählten Periode (vgl. TK 291), macht eine neue Art möglich, Geschichte zu erzählen. Dieser Erzählstil trägt der erzählten Zeit in der Form Rechnung, dass „Erfahrung von Zeit und Raum“ (TK 294) sich radikal ändert: „Größere Geschwindigkeiten ließen die Distanzen schrumpfen und machten Reisen trivial, aber während der Raum immer kleiner wurde, expandierte die Zeit dramatisch. Zehntel- und Hundertstelsekunden konnten über Sieg oder Niederlage entscheiden“ (TK 294). Die Zeit als dehnbares und manipulierbares Medium schlägt sich also nicht nur im Erzählten, sondern in der Form der Erzählung selbst nieder. Zur Strukturierung von Bloms Geschichtserzählung über die Zeit zwischen dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird eine Aneinanderreihung von unzusammenhängenden Momenten gewählt. Zunächst einmal sind die fünfzehn Kapitel des Buches chronologisch den Jahren zwischen 1900 und 1914 zugeordnet. Um diese Strukturierung aufrechterhalten zu können, wird jeweils ein „Einstiegsmoment“ gewählt, das sich im entsprechend dem Kapitel zugeordneten Jahr ansiedeln lässt: Für den gesamten Text dient im ersten Kapitel die Weltausstellung in Paris im Jahre 1900 als Einstieg (anschaulicher noch: der Eingang zu dieser Ausstellung), in anderen Kapiteln sind es andere konkret datierbare Ereignisse wie Freuds Ernennung zum Professor am 5. März 1902 (drittes Kapitel „1902: Oedipus Rex“) oder die Landung des ersten Flugzeugs, das den Ärmelkanal überquerte, am 25. Juli 1909 (zehntes Kapitel: „1909: Der Kult der Maschine“). Ähnlich wie bei der Fotografie des Autorennens werden hier verschiedene Momente herausgegriffen, auch wenn dies „verzerrt“ (TK 15) in dem Sinne wirken kann, dass fälschlicherweise der Eindruck erweckt wird, einzelne Themen beschränkten sich auf einzelne Jahre und folgten aufeinander.²⁶ Auf diese Art und Weise kann die Vielzahl an Aspekten der beschriebenen Zeit in einem so weit abgesteckten Raum wie dem europäischen

26 Das Inhaltsverzeichnis macht dies besonders deutlich: Die durch einen Doppelpunkt mit den Kapitelüberschriften verbundenen Jahreszahlen der einzelnen Kapitel sind eingängig und stellen einen Bezug zwischen den einzelnen Kapiteln her, indem sie eine Folge suggerieren. Die Kapitelüberschriften selbst, etwa „Ein seltsames Leuchten“ zu einem Kapitel über Madame Curie und der Erforschung der Radioaktivität oder „Träume und Visionen“ für ein Kapitel zu den Friedensbewegungen der Zeit, bleiben im Gegensatz dazu vage und deuten nur auf bestimmte Themenfelder hin. Sie werden durch die Jahreszahlen (scheinbar) eingeordnet.

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greifbar gemacht werden, da sie zumindest punktuell zeitlich exakt einzuordnen ist.²⁷ Dies demonstriert noch einmal die Verfahrensweise dieser Geschichtserzählung, welche in einer Szene symbolisiert und explizit reflektiert wird: Durch Selektion einzelner Szenen soll eine Nähe zum Erzählten hergestellt werden, die das Einleben erleichtert.

8.2.2 Eine ‚offizielle Darstellung‘ ? Dem historischen Erzählen wird oft die schlichte Verdrängung der Komplexität der dargestellten Vergangenheit vorgeworfen. Durch die Schilderung einer historischen Situation unter Benennung bestimmter Personen und Vorgänge werde eine stillschweigende Selektion vorgenommen, die Bedeutung festlege und andere Deutungsmöglichkeiten unterdrücke. Die Texte In Europa und Der Taumelnde Kontinent schwanken zwischen starren Bedeutungszuweisungen und der Möglichkeit, einen gewissen Bedeutungsspielraum zuzulassen. In In Europa wird dieses Erzählproblem explizit thematisiert. Der Prolog konfrontiert zunächst öffentlich auferlegte Erinnerung mit individuellem Erinnern. Dies geschieht im Hinweis darauf, dass im ungarischen Dorf Vásárosbéc nicht nur der „Betonklotz“²⁸ eines Monuments an den Zweiten Weltkrieg erinnere, sondern auch – wenn auch weit weniger prominent – eine anonyme Notiz aus einem Kriegsgefangenenlager. Der Erzähler bezieht dieses ungleiche Verhältnis auf das Schreiben von Geschichte, das der Vergangenheit rückwirkend eine Ordnung auferlege: „Die Geschichte ist keine glatte Geschichte, auch wenn jede Geschichtsschreibung den Schein erweckt, dass alles ordentlich von A über B zu C verläuft. So eine Ordnung, die im Nachhinein geschaffen wurde, hat in Wirklichkeit nie bestanden.“²⁹ Dieser künstlichen Ordnung sollen – ganz wie in der anonymen Notiz – in In Europa

27 Der Titel „Der taumelnde Kontinent: Europa 1900–1914“ kombiniert die zeitliche Strukturierung mit einer räumlichen Struktur: Im Untertitel wird der besprochene geografische Raum (“Europa“) mit dem behandelten Zeitraum („1900–1914“) verbunden. Der Titel des Buches verquickt sowohl im Deutschen („Der taumelnde Kontinent“) als auch im Englischen („The Vertigo Years“) die zeitliche und die räumliche Dimension. Während im Deutschen ein Kontinent ins „Taumeln“ und damit in eine (zeitlich messbare) Bewegung versetzt wird, kombiniert das englische „The Vertigo Years“ die zeitliche Größe der Jahre mit einem durch Höhe ausgelösten Schwindel und damit mit einem räumlichen Abstand. In beiden Fällen wird ein Bild der Statik gemieden und die Möglichkeit des Fixierens von Bewegung suggeriert. 28 „betonnen blok“ (IE-N 14, IE-D 12). 29 „De geschiedenis is geen glad verhaal, al wekt iedere geschiedschrijving de schijn dat alles keurig verloopt van A, via B, naar C. Zo’n orde, die achteraf is geschapen, heeft in werkelijkheid nooit bestaan“ (IE-N 14, in der deutschen Ausgabe nicht enthalten).

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die individuellen Erfahrungen der Europäer gegenübergestellt werden: „[D]ie individuellen historischen Erfahrungen der Europäer sind sehr verschieden.“³⁰ Eric Hobsbawm zitierend stellt das reisende Ich fest: „Wir sind ein Teil dieses Jahrhunderts. Und dieses ist ein Teil von uns.“³¹ Dieses dynamische Wechselverhältnis lädt den Text mit einer Spannung auf: Der Text stellt sich zur Aufgabe, die starren Erzählstrukturen der Geschichtsschreibung durch persönliche Eindrücke Einzelner, die ‚ihr‘ Jahrhundert schildern, zu brechen. Im Verlauf der Erzählung zeigt sich jedoch, dass das Jahrhundert auf eine Art und Weise „Teil von uns“ ist, welche auch die Wahrnehmung Einzelner über kollektive Gemeinplätze – Topoi – steuert.³² Sowohl Der taumelnde Kontinent als auch In Europa versuchen offizielle Darstellungen und heterogene individuelle Bedeutungsgebung zu kombinieren. Das reisende Ich in In Europa gibt zum Beispiel den Blick auf die Karte der Pariser Weltausstellung wider und nimmt dadurch eine übergeordnete Position ein (IE-N 29, IE-D 25, vgl. 8.3.1). Stärkster Gegensatz dazu ist ein Bild, das die Unterseite von zerlaufenen Schuhen an den Füßen Londoner Straßenjungen abbildet: „die verschlissenen Schuhsohlen dreier Straßenjungen und durch die riesigen Löcher in den Sohlen zur Hälfte auch die nackten Füße, dick mit Dreck und Schwielen bedeckt, eine einzigartige Verbindung von Leder, Eisen und Menschenhaut“.³³ Die Einzigartigkeit dieser Schuh- beziehungsweise Fußsohlen steht im Gegensatz zu der schematischen Abbildung des Stadtplans, auf dem die individuellen Bewegungen der Passanten nicht sichtbar werden. Dieser Gegensatz ist analog zu dem reisenden Ich, das sich zwischen den bekannten Orten der Geschichte bewegt und seine persönliche Sicht auf bereits festgelegte Geschichte präsentiert. Im Gegensatz zu den Straßenjungen versucht es seine Bewegungen festzuhalten. Auffällig ist, dass die Texte Bloms und Maks, die sich einem dynamischen und individuellen Erzählen verschreiben, den Gegensatz zwischen Statik und Dynamik in die erzählte Geschichte transportieren, insofern also Beobachtungsebene und Beobachtetes mischen. Ein erstes Beispiel ist die Beschreibung der Weltausstellung im Jahre 1900 in Paris. Besonders in Der taumelnde Kontinent wird der

30 „uiteenlopend zijn de individuele historische ervaringen van de Europanen“ (IE-N 14, IE-D 13). 31 IE-N 14, IE-D 14 in Bezug auf Hobsbawm: Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914-1991, London 1994, S. 3–4. 32 Topoi sollen hier mit Curtius als verfestigte Denk- und Ausdrucksstrukturen begriffen werden: E.R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Aufl., Tübingen 1993, [1948]. 33 „de versleten schoenzolen van drie straatjongetjes, de blote voeten half zichtbaar, dik onder het vuil en eelt, zes keer een unieke verwikkeling van leer, ijzer en mensenhuid“ (IE-N 48/49, IE-D 40).

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täuschende Charakter der Weltausstellung betont, die vor allem aus Fassaden bestehe. Bezeichnenderweise dient sowohl bei den „Paläste[n] der Industrie“ mit ihren „weißen Türmchen und zuckergußartigen Verzierungen“ (TK 22) als auch bei den Nationenpavillons an der Seine (vgl. TK 22/23) die Geschichte als verspielte Oberfläche. Die Gebäude sind „historische Pastiches“ (TK 23): „gotisch im Falle Deutschlands [...], Renaissance für Italien; mittelalterlich-maurisch für den spanischen Pavillon. Großbritannien [...] im jakobinischen Stil [...], die Vereinigten Staaten in der klassizistischen Pracht des Washingtoner Capitols“ (TK 23). Wird hier in der Umschreibung der Pavillons als „historische Pastiches“ noch auf einen ehrerbietigen Vergangenheitsbezug hingewiesen, fungiert das Vieux Paris, ein fingiertes Mittelalterviertel auf der Weltausstellung, als Beispiel dafür, wie Vergangenheit auf Spektakel reduziert werden kann: „Am rechten Seine-Ufer dominierte die fiktive Vergangenheit die Architektur; am linken Ufer geriet sie außer Rand und Band. [...] Vieux Paris, eine [...] phantastisch kitschige Nachschöpfung der mittelalterlichen Hauptstadt [...]. Sogar ein Gehenkter baumelte von einem der Türmchen, [...] während unten ein lebender Quasimodo herumlief [...]“ (TK 23/24). Das Vieux Paris fungiert als Beispiel für eine von Clichés gesteuerte Erlebnisillusion, die ihren Gegenstand nicht analytisch sondern affektiv motiviert reduziert. Unabhängig davon, ob es sich um einen respektvollen oder um einen skandalheischenden Verweis auf die Vergangenheit handelt, dient die Weltausstellung jedoch als Demonstrationsobjekt dafür, dass die hergestellte Ordnung divergente Aspekte lediglich verdrängt oder verdeckt: „Hinter den historisierenden Fassaden mit ihren Putten und Rokokoformen verbarg sich eine andere Welt: eine selbstbewußte, aggressive Modernität“ (TK 24). Die historisierenden Gebäude enthalten in ihrem Inneren die neuesten technischen Errungenschaften der Zeit, deren schiere Vielfalt auch in In Europa beschrieben wird: „Es wurden Röntgenapparate präsentiert [...] es gab eine Automobilausstellung, Geräte für drahtlose Telegraphie [...]“³⁴ In beiden Texten wird der „Palast der Elektrizität, der von 5000 Glühbirnen und Scheinwerfern mit ‚300 Millionen Normalkerzenstärken‘ erleuchtet wurde“ (TK 24), als Höhepunkt der Inszenierung von Technik in den Mittelpunkt gerückt. Er ist in seiner auffälligen Gestaltung zugleich das elektrische Herz der Ausstellung, das den nötigen Strom für alle ausgestellten elektrischen Geräte erzeugt: „In den Kellern des Elektrizitätspalastes dröhnten unterdessen zweiundneunzig Dampfkessel, die mit ihren Dynamos all diese Neuheiten antrieben.“³⁵

34 „Er stonden röntgenapparaten [...], er was een autotentoonstelling, er stonden toestellen voor draadloze telegrafie [...]“ (IE-N 28, IE-D 24). 35 „In de kelders van het Elektriciteitspaleis dreunden ondertussen tweeënnegentig stoomketels, die met hun dynamo’s al deze nieuwigheden aanjoegen [...]“ (IE-N 29, in der deutschen Ausgabe nicht erhalten).

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Im Herausstreichen des Gegensatzes zwischen Tradition und Moderne, zwischen äußerer Statik und innerer Dynamik, wie sie im Palast der Elektrizität augenfällig wird, geraten beide Erzählungen jedoch in einen Widerspruch: Einerseits versuchen sie anhand des Beispiels des Palastes und der Weltausstellung zu verdeutlichen, wie sich die innere Dynamik der gesellschaftlichen und politischen Situation zur Jahrhundertwende einer offiziellen Ordnung, wie sie in der äußeren Form der Pavillons zum Ausdruck kommt, entzieht. Andererseits fügen sie sich durch die Darstellung eben jener Weltausstellung als Eingang des zwanzigsten Jahrhunderts einem etablierten historiografischen Topos und bestätigen die Steuerung von Geschichtsschreibung durch Metastrukturen und damit statische Bedeutungsfestlegung gegenüber einem dynamischen Bedeutungsspielraum. Ein der Weltausstellung vergleichbarer Topos der historischen Erzählung über die Jahrhundertwende ist die Stadt Wien und damit die österreich-ungarische Doppelmonarchie, die zu einem Symbol des Gegensatzes zwischen innerer Dynamik und äußerer Statik wird (vgl. 7.2.3). In der Verhandlung dieses Gegensatzes diskutieren Bloms und Maks Erzählungen wiederum gleichzeitig ein Problem ihrer historischen Betrachtungsperspektive, die versucht, den Blick nach ‚innen‘ zu lenken. In Der taumelnde Kontinent wird im Sigmund Freud gewidmeten Kapitel „Oedipus Rex“ auf verschiedenen Ebenen der Gegensatz zwischen vorgegebenem Außen und „dahinter“ liegendem Inneren durchgespielt. Der Konflikt, der mit dieser Situation einhergeht und der von Freud im ‚Ich‘ als der ‚Fassade‘ des unbewussten seelischen ‚Es‘ ausgearbeitet wird (vgl. TK 77 ff), zeigt sich laut Blom in der schockierten Reaktion auf das von Adolf Loos entworfene „Haus am Michaelerplatz“ in Wien, das dem Prinzip der Fassade nicht entspricht: „Ein Aufschrei der Entrüstung hallte durch die Presse [...]. Dort, in unmittelbarer Nähe der allerhöchsten Anwesenheit Seiner Majestät, zeigte sich eine Häuserfront von geradezu aggressiver Funktionalität, ein Gebäude ohne Ornamente, eigentlich ohne Fassade“ (TK 86). Das Äußere des Hauses steht nicht wie bei den Pavillons der Weltausstellung im Gegensatz zu seiner Funktion, sondern drückt sie aus. In einem frühen Anklang der neuen Sachlichkeit werden Form und Funktion einander angenähert. In dem Kontrast, den dieses Gebäude zu den umgebenden Gebäuden schafft, legt es eine Eigenschaft des Historismus frei: Das Überladen eines Gebäudes mit historischen Verweisen und Bedeutungen, die von der gegenwärtigen Funktion des Gebäudes ablenken. Ebenso kann das Beschreiben von Geschichte selbst aus einer scheinbar harmonischen Darstellung bestehen, die allerdings alles, was im Widerspruch zu ihr steht, verdeckt. Wiederum arbeitet auch In Europa mit der Symbolik des Loos-Hauses, so dass Der taumelnde Kontinet und In Europa hier erneut bestehende Bedeutungsstrukturen spiegeln. In Europa betont die architektonische Einbindung von Loos’

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provozierendem „Haus ohne Augenbrauen“³⁶: „Vom Platz her ist zu erkennen, dass der Eingangsbereich des Loos-Hauses elegant vor der Rundung des Platzes zurückweicht, eine ironische Antwort auf die pompöse Hofburg. Dieses Gebäude spielt mit seiner Umgebung, und dafür gibt es nicht viele Beispiele.“³⁷ Die spielerische Interaktion zwischen Loos’ Gebäude und der Hofburg wird auf die Verfasstheit der Stadt Wien um die Jahrhundertwende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert ausgeweitet: ‚De vrolijke apocalyps‘ werd deze stad wel genoemd, dit vreemde mengsel van creativiteit, burgerdom, menselijk lijden, macht, medeplichtigheid en schizofrenie. Het was rond 1914 het machtscentrum van een enorm keizerrijk dat aan één groot manco leed: het had geen enkele functie meer, behalve het rondzingen in zichzelf.³⁸ (IE-N 78)

Die heterogenen Elemente, welche dieses leere Machtzentrum füllen, zeugen von einer „von inneren Widersprüchen geprägte[n] Stadt“,³⁹ in welcher der Gegensatz zwischen der starren Förmlichkeit der kaiserlich-aristokratischen Macht auf der einen Seite und der Umtriebigkeit der Intellektuellen auf der anderen Seite zum Ausdruck komme (vgl. IE-N 82, IE-D 68). Dieser Kontrast zeige sich auch in der Gegenüberstellung von Hofburg und Loos’schem Haus. Die Stadt Wien markiere wie Loos’ Gebäude die Kraft einer Emanzipationsbewegung gegen starre und vorgegebene Strukturen und illustriert damit wiederum die Programmatik der historischen Erzählung, die dieses Bild entwirft. Der Gegensatz zwischen starren Strukturen und dynamischen Prozessen, zwischen ‚top-down‘ und ‚bottom-up‘-Prozessen, findet sich in In Europa in verschiedensten Variationen. Der Kontext des habsburgischen Reiches betont die Labilität offizieller Bedeutungsgebung: „Das Reich dieser vorgestellten Gemeinschaft verlor nach und nach die Verbindung zur Wirklichkeit, seine Fundamente begannen wegzubrechen. Das Kaiserreich wurde immer mehr zur leeren Hülle [...].“⁴⁰ Vielversprechender sind die Entwicklungen, die „außerhalb der vorge-

36 „huis zonder wenkbrauwen“ (IE-N 91, IE-D 74). 37 „Aan de pleinkant zie je hoe de entree van het Looshuis elegant terugwijkt van de ronding van het plein, hoe het een ironisch antwoord geeft op de pompeuze Hofburg. Dit gebouw speelt met zijn omgeving, en dat maak je zelden mee“ (IE-N 91, IE-D 74). 38 „‚Fröhliche Apokalypse‘ hat man diese Stadt genannt, diesen merkwürdigen Mischmasch aus Kreativität, Bürgerlichkeit, menschlichem Leid, Macht, Mitschuld und Schizophrenie. 1914 war sie das Machtzentrum eines gewaltigen Kaiserreichs, das allerdings mit einem großen Mangel behaftet war: Es hatte keine Funktion mehr, außer einem Kreisen um sich selbst“ IE-D 65). 39 „grote innerlijke tegenstrijdigheid“ (IE-N 82, IE-D 68). 40 „het werkelijke leven begon onder het verbeelde rijk weg te schuiven. Steeds meer werd het keizerrijk een leeg omhulsel [...]“ (IE-N 89, IE-D 72).

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stellten Gemeinschaft⁴¹ stattfinden. Die Dreyfusaffaire um die Verurteilung eines jüdischen Hauptmannes wegen Landesverrats ist hierfür ein Beispiel. Sie wirft die Frage auf, ob „[d]ie Rechte des Einzelnen oder die Ehre von Armee und Nation“⁴² im Vordergrund stehen. Die Herausstreichung der Diskrepanz zwischen auferlegter Ordnung und dieser Ordnung widerstrebenden Bewegungen kulminiert in einem Bild, das dem Raum als kompositorischen Grundprinzip in In Europa entspricht (vgl. 8.3.1): Gleich zu Beginn des Reiseberichts wird von den großen Plätzen als „Symbolen der neuen, kräftigen Nationen“⁴³ gesprochen: „Plätze [...] wurden nur noch angelegt, um die Macht der monumentalen Gebäude zu betonen.“⁴⁴ Gleichzeitig schaffen die Plätze als Träger offizieller Bedeutungsgebung Bewegungsraum: An dieser Stelle tritt der „Flaneur“ auf den Plan, der über die Pariser Boulevards bummelt, die „wie geschaffen [sind] für den neuen Stadtbewohner par excellence, den Flaneur, den Schauspieler und Zuschauer des Theaters der Straße“.⁴⁵ Die Boulevards als öffentlicher Raum und der Flaneur, der sie individuell erschließt, illustrieren den Gegensatz zwischen Statik und Dynamik anschaulich. Nicht zuletzt an dieser Figur wird „der Zusammenstoß zweier Frankreichs“⁴⁶ festgemacht: „Das alte, statische Frankreich der Symbole und gottgegebenen Ordnung kollidierte mit dem modernen, dynamischen Frankreich der Presse, der öffentlichen Diskussion, des Rechts und der Wahrheit. Oder anders ausgedrückt: Es handelte sich um den Konflikt zwischen dem Frankreich der Palais und dem Frankreich der Boulevards.“⁴⁷ Gerade im Palast/Boulevard-Bild wird jedoch deutlich, dass der Statik/Dynamik-Gegensatz für das Erzählte und für das Erzählen relevant ist, inszeniert sich der Ich-Erzähler doch selbst als reisender Flaneur durch die Geschichte (vgl. 8.3.1). Es zeigt sich hier, wie der eigene Erzählanspruch sich auf die Selektion und Aufbereitung des Erzählgegenstandes auswirkt. Die bei Blom und Mak beschriebenen modernen Emanzipationsbewegungen gegen die starre Tradition sind ein Prozess, an dessen Ende das eigene Schreiben über die Geschichte in beiden Tex41 „[b]uiten de verbeelding“ (IE-N 89, IE-D 72). 42 „[d]e rechten van het individu of het prestige van het leger en de natie“ (IE-N 31, IE-D 27). 43 „symbolen van nieuwe, krachtige naties“ (IE-N 27, in der deutschen Ausgabe nicht enthalten). 44 „[p]leinen [...] werden alleen nog maar aangelegd om de macht van de monumentale gebouwen te benadrukken“ (IE-N 27, in der deutschen Ausgabe nicht enthalten). 45 „geschapen voor de nieuwe stadsbewoner bij uitstek, de flaneur, de acteur/toeschouwer bij het theater van de straat“ (IE-N 29, IE-D 25). 46 „een botsing tussen twee verschillende soorten Frankrijk“ (IE-N 33, IE-D 28). 47 „het oude statische Frankrijk van de symbolen en de opgelegde orde, en het moderne, dynamische Frankrijk van de pers, de publieke discussie, het recht en de waarheid. Ofwel: het Frankrijk van de paleizen en het Frankrijk van de boulevards“ (IE-N 33, IE-D 28).

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ten steht, welches eine erzählerische Dynamik gegenüber Geschichtsschreibung in starren Strukturen etablieren will, dies in der Steuerung durch Topoi jedoch nicht immer umsetzen kann.

8.2.3 Deutungskämpfe: Diskursivierung von Geschichte In Europa und Der taumelnde Kontinent sind Geschichtserzählungen, welche ihr Augenmerk nicht nur auf die erzählte Geschichte, sondern auch auf das Erzählen der Geschichte richten. In In Europa geschieht dies weniger über einen expliziten Metakommentar als über die Betonung der Erzählebene, den Kontext des Erzählens. Das Erzähler-Ich kommt nicht nur explizit vor und wird nicht versteckt, sondern es zeigt sich als ein inszeniertes – durch Raum und durch Zeit – ‚reisendes Ich‘ (vgl. 8.3.1). Über die Thematisierung des Kontexts, in den das Erzählen eingebettet ist, die „Sekundärillusion“,⁴⁸ zeigt die Erzählung implizit ihr eigenes Zustandekommen und macht den Erzähler zur Figur. Beispielhaft hierfür ist der Auftakt der Geschichtserzählung In Europa, die nicht etwa bei einem historischen Ereignis, sondern beim Reiseaufbruch des reisenden Ich einsetzt. Das Ich beschreibt seine Abreise vom Bahnhof in Amsterdam, von wo aus es mit dem Zug sein erstes Reiseziel – Paris – aufsucht. Der Beginn der Reise ist von einem heftigen Wind gekennzeichnet: Toen ik op maandagochtend 4 januari 1999 uit Amsterdam vertrok woei er een gierende storm. De wind trok ribbels op de waterige keien, zette koppen op de golven van het IJ, floot onder de kap van het Centraal Station. Een ogenblik dacht ik dat Gods hand al dat ijzer even oplichtte en weer liet zakken.⁴⁹ (IE-N 23)

Durch den beschriebenen Wind ist bei der ansonsten unspektakulären Abreise buchstäblich ‚etwas los‘. Das reisende Ich umschreibt die Luftbewegung als starke, nicht zu bändigende Kraft, gar als „Gottes Hand“. Die nicht zu kontrollierende Macht des Wind bleibt als übergeordnete Größe nicht allein. Auf derselben Seite wird ihm eine zweite schwer greifbare Macht mit großem Einfluss gegenübergestellt, die dem reisenden Ich in Form von Zeitungsschlagzeilen an den Kiosken entgegentritt:

48 Zur „Sekundärillusion“ die nach dem Grad entsteht, in dem „der Erzähler [...] als Figur vorstellbar wird“ vgl. W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 233–234. 49 „Als ich am Morgen des 4. Januar 1999 zu meiner Reise aufbrach, heulte in Amsterdam ein heftiger Sturm. Er riffelte das Wasser auf dem Pflaster, steckte den Wellen des IJ Schaumkämme auf, pfiff unter dem Dach des Hauptbahnhofs hindurch. Einen Augenblick dachte ich, Gottes Hand würde das Eisen kurz anheben und wieder fallenlassen“ (IE-D 21).

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De kranten meldden dat het morsesignaal was afgeschaft en dat bij het vliegveld Oostende laagvliegende Iljoesjins regelmatig de pannen van het dak zogen. Op de financiële markten maakte de euro een glansrijk debuut. „Euro begint met een uitdaging aan de hegemonie van de dollar,“ kopte Le Monde, en de munt was die morgen zelfs even 1,19 dollar waard. Maar in Nederland werd het leven die dag geregeerd door de wind, de laatste ongetemde kracht die overal sporen trok, noord-oost, zuid-west, een telkens terugkerend gebeuk dat de vormen van meren en polders bepaalde, de loop van de vaarten, de dijken, de wegen, en zelfs van de spoorlijn waarover ik door het natte polderland naar het zuiden reed.⁵⁰ (IE-N 23)

Wind und Schlagzeilen machen sich hier als unsichtbare Kräfte Konkurrenz um die Einflussnahme auf die Niederlande: So wie der Wind durch einen unsichtbaren und unberechenbaren Einfluss die niederländische Landschaft formt, so üben die Schlagzeilen Einfluss, ohne dass sie selbst sichtbar würden. Sie visualisieren eine Zirkulation von Wissen, der sich niemand entziehen kann und die damit auch die erzählerische Aufbruchsituation des reisenden Geschichtserzählers bestimmt. Das reisende Erzähler-Ich schickt sich auf der Schwelle zu seiner Erzählung ganz im Gegenteil an, zu diesem weitverzweigten Wissen beizutragen, will es doch auf seiner Reise „Tag für Tag einen kurzen Artikel“⁵¹ (IE-D 11) verfassen. Zu diesem Reiseziel hat es sich mit dem Gepäckstück eines „großen schwarzen Koffers“⁵² (IE-D 21) gewappnet, dessen beschwerenden Inhalt es aufzählt: „ein Notebook, ein Mobiltelefon, mit dem ich meinen täglichen Kurzbeitrag verschicken konnte, ein paar Hemden und Toilettensachen, eine CD-ROM mit der Encyclopaedia Britannica und bestimmt fünfzehn Kilo Bücher als Nervennahrung“⁵³ (IE-D 21). Ein Großteil des Gepäcks besteht damit aus Kommunikations- und Speichermedien (das Notebook, das Mobiltelefon, die CD-ROM, die Bücher). Das reisende Ich ist nicht nur von Wissen in Form von Schlagzeilen umgeben, sondern hat es sogar im

50 „Die Zeitungen berichteten, dass die Morseschrift endgültig ausgedient habe und dass am Flugplatz Ostende tieffliegende Iljuschins regelmäßig die Dachpfannen von den Dächern saugten. Auf den Finanzmärkten gab der Euro ein glanzvolles Debüt. ‚Euro startet mit Herausforderung an Hegemonie des Dollars,‘ titelte Le Monde, und am Morgen kostete die Währung sogar kurzzeitig 1,19 Dollar. Aber in den Niederlanden regierte an diesem Tag der Wind, die letzte ungezähmte Kraft, die überall, im Norden, Osten, Süden, Westen, ihre Spuren eingegraben und mit ihrem unablässigen Hämmern die Formen von Seen und Poldern bestimmt hat, den Lauf der Kanäle, der Deiche, der Straßen und sogar der Bahnstrecke, auf der ich durch das nasse Polderland Richtung Süden fuhr“ (IE-D 21). 51 „iedere dag een stukje“ (IE-N 11). 52 „grote zwarte koffer“ (IE-N 23). 53 „een notebook, een mobiele telefoon waarmee ik mijn dagelijkse stukjes kon doorsturen, wat hemden en toiletspullen, een cd-rom met de Encyclopaedia Britannica en zeker vijftien kilo boeken tegen de zenuwen“ (IE-N 23).

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Gepäck. Besonders die Enzyklopädie als Handgepäck (zur Enzyklopädie im historischen Erzählen vgl. Kapitel 6.3.2) verweist auf ein unendliches, weit verzweigtes und unzusammenhängendes Wissen, dem das reisende Ich sich nicht entziehen kann. Die Beeinflussung dessen, was gewusst beziehungsweise für wahr gehalten werden soll, bestimmt nicht nur das Erzählen, sondern auch das, worüber erzählt wird. Die Geschichtserzählungen Bloms und Maks teilen ein Erzählinteresse an dem, was zur Zeit der Jahrhundertwende Wissen und Meinungsbildung bestimmte. Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wird In Europa mit der Beschreibung einer Abbildung eröffnet, die ein Netzwerk des Wissens darstellt. Es handelt sich um die grafische Illustration des Stückes „Dawn of the Century“ von E.T. Paul, die in In Europa beschrieben wird: „In einem goldenen Wolkenhimmel balanciert eine Frau auf einem geflügelten Rad; um sie herum schweben eine Straßenbahn, eine Schreibmaschine, ein Telefon, eine Nähmaschine, eine Kamera, eine Dreschmaschine, eine Lokomotive, und am unteren Rand biegt sogar ein Auto um die Ecke.“⁵⁴ Die Frau, welche ihren Körper der allegorischen Darstellung des zwanzigsten Jahrhunderts leiht,⁵⁵ befindet sich in einer um sie herum gruppierten Konstellation von Kommunikations-, Transport-, und Produktionsmitteln. Es sind Bilder des Fortschritts, gleichzeitig stehen sie für den Austausch (von Waren, von Informationen, von Menschen) und fördern ihn.⁵⁶ Die Abbildung stellt damit Vorstellungswelten des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts dar, die auch unabhängig von ihrer tatsächlichen Relevanz das Selbstbild eines technisch rasant fortschreitenden Jahrhunderts transportieren. Das hier abgebildete Wissen bezieht sich also nicht nur auf Tatsachen im Sinne von konkreten technischen Erfindungen, sondern auch auf Imaginäres im Sinne der Selbsterfindung und repräsentation einer bestimmten Zeit, die sich hier als vor allen Dingen technisch bestimmt darstellt. Ein weiteres Beispiel für die Sensibilität für Wissensformationen in In Europa und Der taumelnde Kontinent ist die Aufmerksamkeit, die der kommerziellen Meinungsbeeinflussung geschenkt wird. Wie beide Texte betonen, ist der öffentliche Raum in der beschriebenen Zeit der Jahrhundertwende von Werbeslogans geprägt. Philipp Blom erwähnt aus Sicht des Gymnasiallehrers Jean Sauvage die

54 „In een gouden wolkenhemel balanceert een vrouw op een gevleugeld wiel, om haar heen zweven een tram, een typemachine, een telefoontoestel, een naaimachine, een camera, een dorsmachine, een locomotief en onderaan komt zelfs een auto om de hoek zetten“ (IE-N 27, IE-D 24). 55 Zum weiblichen Körper als Bedeutungsträger in der Allegorie vgl. Marina Warner, Monuments and Maidens. The Allegory of the Female Form, Berkeley/Los Angeles 1985. 56 Im Text nicht erwähnt wird das Morsegerät, auf dem die rechte Hand der „Jahrhundertfrau“ ruht und das blitzförmig dargestellte Signale aussendet.

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kuriose Kombination aus Urinoir und Litfaßsäule auf der Weltausstellung in Paris (vgl. TK 21/22). Die Präsenz der Werbung ist so stark, dass sich Sauvage nur „[a]uf Schritt und Tritt bedrängt von Werbeplakaten und Slogans“ bewegen kann (TK 22). Bei Mak verbindet sich die allgegenwärtige Werbung in Paris wiederum mit der Luft, gegen welche die Werbung buchstäblich anzustinken versucht, womit sie der „zunehmenden Sensibilität der Städter für Gerüche“⁵⁷ entspricht: „Überall auf alten Fotos von europäischen Boulevards sind Reklametexte von Seifen, Duft- und Mundwassern sichtbar: Odol! Odol! Odol!“⁵⁸ In London ballen sich nicht nur die Menschenmassen (vgl. IE-N 47/48, in der deutschen Fassung nur verkürzt enthalten IE-D 39/40), sondern auch die Luftschadstoffe zum Smog (vgl. IE-N 50, IE-D 41). Mit der Ballungsbewegung korrespondiert auf der Ebene der Medien das „Massenblatt“.⁵⁹ Die schiere Anzahl der Sensationsblätter und ihre Macht wird betont: Um höhere Auflagen zu erreichen, entfesselt sich eine sensations- und profitgesteuerte Meinungsbeeinflussung. Die Beschäftigung mit der Wissensvermittlung und -produktion durch Zeitungen bildet in beiden Texten eine Schnittstelle zwischen der Wissensbildung in der beschriebenen Epoche und der Wissensbildung durch die Geschichtserzählung. Als Visualisierung der öffentlichen Meinung einer Zeit sind Zeitungen ein geschichtswissenschaftliches Instrument, um den Diskursen auf die Spur zu kommen, die eine bestimmte Zeit beherrschen. In In Europa wird die Zeitung in der Form eines massenhaft verbreiteten Mediums als besonderes Merkmal der Jahrhundertwende vom neunzehten zum zwanzigsten Jahrhundert beschrieben, ihre hohe und alle Teile eines Landes erreichende Auflage sorge für eine bis dahin ungekannte Dynamik im Aushandeln öffentlicher Meinungen (vgl. IE-N 32, IE-D 28).⁶⁰ Der sowohl bei Blom wie auch bei Mak geschilderte Dreyfus-Prozess als weiteren historiografischen Topos führt dabei bei Mak zu einem wahren „Zeitungskrieg“,⁶¹ bei dem sich der Krieg als konkret und materiell ausgehandelter Konflikt in die ungreifbare Sphäre der Meinungen verlagert: „[Es] entstand eine neue Macht, die ‚öffentliche Meinung‘.“⁶² Als öffentliche Gewalt in verbaler Form bestimmt diese „öffentliche Meinung“ das Geschehen und sorgt (auch durch die

57 „toenemende gevoeligheid van de stedelingen voor geuren“ (IE-N 38, in der deutschen Ausgabe nicht enthalten). 58 „Overal op oude foto’s van Europese boulevards zijn reclameteksten zichtbaar van zepen, reukwaters en mondverfrissers: Odol! Odol! Odol!“ (IE-N 38, in der deutschen Ausgabe nicht enthalten). 59 „massakrant“ (IE-N 32, IE-D 28). 60 Auch Blom betont die neue Macht der Zeitungen: „Zeitungen wurden zu Imperien.“ (TK 13). 61 „krantenoorlog“ (IE-N 32, IE-D 28). 62 „Er ontstond [...] een nieuwe macht, de ‚publieke opinie‘“ (IE-N 32, IE-D 28).

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Manipulation der Zeitungsmagnate) für „das pure Adrenalin der Neuigkeit“.⁶³ Die Zeitungen stehen für die Dynamik des Deutungskampfes, die sich bis in die historische Deutung der Zeitungsdebatte hineinzieht. Blom visualisiert die Macht der öffentlichen Meinung wie Mak durch die Wiedergabe von Zeitungsschlagzeilen als Skizzierung der die Zeit beherrschenden Meinungen. Als Rahmen fungiert das Wiener Kaffeehaus, in das man sich – immersiv – an einem „deprimierende[n] Tag [...] mit ungewissen, bleiernden Wolken und gelegentlichen Regenschauern [..] zurückziehen und sich in die unzähligen dort ausliegenden Zeitungen [...] vertiefen“ kann (TK 63).⁶⁴ Das Kaffeehaus ist ein Ort der Rezeption und Diskussion von Neuigkeiten, Meinungen und Konzepten. Die „eine einzige Tasse Kaffee“, die man für „das Recht auf unbegrenzten Aufenthalt auf dem abgesessenen Plüsch“ (TK 63) konsumieren muss, stellt ein niedriges Eintrittsgeld für diese Diskursgemeinschaft dar. Bloms Erzählung legt ihre eigenen Selektionsverfahren offen, wenn sie zunächst seitenlang die „ausgesprochen durchschnittlich[en]“ Nachrichten des 18. März 1902 wiedergibt, bevor sie die Nachricht präsentiert, die zur Konstruktion der vorliegenden Geschichtserzählung selektiert wurde. Dieses Aufzählungsverfahren macht die Vielzahl unterschiedlicher Themen vorstellbar, welche die Zeit und die Gespräche im Kaffeehaus bestimmten. Im Herausstreichen einzelner Schlagzeilen wird zugleich über das Vorführen des zeitgenössischen Sprachduktus eine Immersion über die Form (vgl. 6.2.1) ermöglicht: Das Vaterland [...] notierte politische Ereignisse im In- und Ausland [...]. Der Pester Lloyd [...] hatte einen langen Leitartikel über die Preise für Schweinefett [...]. Aus dem Ausland kamen aufregendere Nachrichten: Der Burenkrieg in Südafrika beschäftigte die Zeitungen in ganz Europa [...]. „Genossen, Arbeiter und Arbeiterinnen!“ rief der wöchentlich erscheinende sozialistische Volksbote vom 13. März auf der ersten Seite und kündigte eine Volksversammlung an [...]. Eine ganz andere Art von Anzeige findet sich in der Bombe [...]: „Raritäten“ trompetete eine Anzeige, „Memoiren einer Sängerin, 2 Bde K 10“ [...]. (TK 65)

Erst nachdem dieser unübersichtliche Wust von Nachrichten angeführt wurde, wird von der eigentlich für das Kapitel „Oedipus Rex“ relevanten Nachricht über Freuds Berufung zum Professor in der Wiener Zeitung berichtet. Sie geht damit beinahe im Wirrwarr der um Aufmerksamkeit heischenden Meldungen unter und ist nur eine Nachricht unter vielen, die Kaffeehäuser und die Öffentlichkeit be-

63 „de pure adrenaline van het nieuws“ (IE-N 32, IE-D 28). 64 Auch in In Europa wird das Kaffeehaus als ein Ort hervorgehoben, an dem es „[i]mmer [...] etwas [gab], worüber man sich an diesen abgenutzten Tischen die Köpfe heiß redete“, etwa über die „‚geheime‘ Nervosität, über die der Psychiater Sigmund Freud so Interessantes sagte“ (IE-D 70, IE-N 85).

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stimmen. In dem Kontrast der zentralen Bedeutung dieser Nachricht für das Kapitel in Der taumelnde Kontinent und ihrer verschwindenden Position im Wust der Neuigkeiten im Kaffeehaus wird deutlich, wie Geschichtserzählungen Kohärenz durch Selektion herstellen. In dem Kapitel wird diese „Nachrichtenlage“ mit dem nicht nur von Freud betonten „Konflikt zwischen persönlichem Impuls und sozialer Norm“ (TK 79) verbunden. Mit dem Hinweis darauf, „daß in dieser Atmosphäre die Worte selbst unzuverlässig geworden waren“, zeichnet sich „Erfahrung [...] dadurch aus, daß sie individuell und unmittelbar ist, aber wenn sie benannt wird, [...] diese unabdingbaren Qualitäten [verliert] und [...] zur abgegriffenen Wortwährung“ wird (TK 81 im Verweis auf Hugo von Hofmannsthal und Fritz Mauthner). Der Konflikt zwischen Individualität und Kollektivität betrifft Erfahrung und Sprache gleichermaßen. Wenn „das beständige Ich im Mittelpunkt der Lebenserfahrung einfach über Bord“ geworfen und zu einer „Masse instabiler Wahrnehmungen“ gemacht wird (TK 81 im Verweis auf Ernst Mach und Hermann Bahr), gehört auch die Flut an Nachrichten zu diesen instabilen Wahrnehmungen, die in unzuverlässigen Worten das Konzept einer stabilen individuellen Persönlichkeit unmöglich machen. Erst die nachträgliche Selektion aus historischer Perspektive macht eine Übersicht möglich, die in der Zeit selber nie in der Form bestanden hat. Aber auch aus dieser nachträglichen Perspektive kann keine authentische individuelle Sicht vermittelt werden. Diese Relativierungen führen zu einer Distanz zum historischen Material, die durch Zeitzeugenberichte (vgl. 8.3.3) nur teilweise ausgeglichen werden kann. Die Verbindung der Anonymisierung von Menschen in der Masse und des gleichzeitigen Aufgehens individueller Meinungen in öffentlichen Diskursen verdeutlicht sich auch im Bild der Raritätensammlung, die in In Europa beschrieben wird (IE-N 45 ff., IE-D 37 ff.). Genau wie der Exilpalast Wilhelm II. vollgestopft ist mit Andenken (IE-N 61/62, IE-D 49/50), beschreibt die Raritätensammlung der Brüder Cumings das Bedürfnis nach einer Gesamtaussage über das unbeherrschbar Heterogene. Letztlich entpuppt sich dieses jedoch wie bei Wilhelm II. als „Fiebertraum“ (IE-N 64, IE-D 51), in seinem Interesse an allem Neuen (IE-N 69, IE-D 56/57) wird Wilhelm II. zu einem Zauberlehrling, der den Geist nicht mehr zurück in die Flasche bekommt (IE-N 63, IE-D 50). Wie der Schlamm, auf dem Berlin sich gründet (vgl. IE-N 64, IE-D 52), entwickelt diese Masse an Diskursen eine unkontrollierbare Zugkraft. In der Vorführung solcher Prozesse begründen die Texte, warum die beschriebene Epoche nicht einfach greifbar ist. Wichtig ist dabei, dass sich hier nicht nur das Beschriebene verändert, sondern auch die Beschreibungsebene: Der in der beschriebenen Periode vor sich gehende Verlust des Glaubens an die Macht des Individuums macht, wie beide Texte implizit reflektieren, auch eine objektive Geschichtsschreibung (jeglicher) Epoche unmöglich: Die

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ungreifbaren und dennoch wirksamen Meinungen sind wie eine Luftbewegung, die spürbar, aber nicht greifbar ist.

8.3 Annäherung 8.3.1 Ein Jahrhundert bereisen: Geschichte als erfahrbarer Raum Die Geschichtserzählung als faktuale Erzählform bewegt sich auf verschiedene Arten weg von einem klassischen Erzählstil wie ihn Roland Barthes in „Die Historie und ihr Diskurs“ beschreibt. Eine wesentliche Veränderung ist die Abkehr von der Tilgung der Absenderzeichen, durch welche die historische Erzählung Barthes zufolge den Eindruck der Sachlichkeit erwecken will (vgl. 3.2.2).⁶⁵ Geschichtswissenschaftliche Veränderungen, die die Subjektivität des Historikers beziehungsweise der Historikerin betonen, korrespondieren mit Veränderungen der Erzählverfahren: Der „Covert Narrator“ wird zum „Overt Narrator“, der in der Erzählung präsent ist (vgl. 8.2.3).⁶⁶ In Geert Maks In Europa ist diese ‚Subjektivierung‘ der Geschichtsschreibung auf besondere Weise umgesetzt: Geschichte wird zum „Erfahrungsraum“.⁶⁷ Die Erzählung inszeniert die Geschichte als Raum und macht sie dadurch zugänglich für ein ‚reisendes Erzähler-Ich‘, das die Geschichte persönlich erfahren kann.⁶⁸ Durch die Inszenierung einer Reise ist die Sekundärillusion auf Erzählerebene stark ausgeprägt. Das Konzept der Zeitreise erlaubt es, die in der räumlichen Konzeptualisierung von Geschichte aufgelöste lineare Ordnung auf eine Weise wieder herzustellen, welche die Rolle des Erzählers in der Ordnung der Geschichte sichtbar macht. In Geert Maks In Europa ist das alles bestimmende Ordnungsprinzip des Textes – und damit auch der in dem Text erzählten Geschichte – der Raum. Schon das Motto führt im Verweis auf Jorge Luis Borges den Raum als Denkkonzept ein, das die wahrgenommene Wirklichkeit ordnet: Der Mensch zeichne die Welt und schaffe damit einen eigenen „Raum mit Bildern“.⁶⁹ In diesem „Labyrinth aus Li-

65 R. Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, S. 174–175. 66 S. Jaeger, S. 125. 67 K. Schloegel, Wie Europa wurde, was es heute ist. 68 In der Konzeptualisierung der Geschichte als erfahrbarem Raum ähnelt In Europa Maks Geschichtserzählung Het Stadspaleis, vgl. B. van Dam, S. 163–177. 69 Zitat aus Jorge Luis Borges, El hacedor, Buenos Aires 1960. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in G. Mak, In Europa, S. 9. In der niederländischen Originalausgabe ist Borges’ „dibujar“ sogar nicht wie in der deutschen Übersetzung wörtlich mit „zeichnen“ übersetzt, sondern mit dem niederländischen Ausdruck „in kaart brengen“, (IE-N 10) was „kartieren“ im Sinn von „sich eine Übersicht verschaffen“ bedeutet und die Räumlichkeit noch einmal betont.

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nien“ (IE-D 9)⁷⁰ erkennt er sich am Ende seines Lebens schließlich selbst wieder: Seine Wiedergabe der Welt in einem von ihm selbst geschaffenen Raum erweist sich letztendlich aufschlussreicher in Bezug auf den Menschen und seine Art zu denken als in Bezug auf die gezeichnete Welt. Mit diesem Motto entspricht Maks Erzählung dem Spatial Turn,⁷¹ der den Raum mit Henri Lefebvre nicht mehr materiell als abgrenzbares Territorium begreift, sondern die „Produktion von Raum“⁷² als soziales Phänomen in den Mittelpunkt stellt. Raum wird in sozialer Interaktion geschaffen und ist weder statisch noch eindeutig abgrenzbar. Er ist damit weniger eine physische Größe als ein gesellschaftliches Ordnungsprinzip, das nicht einfach Dinge enthält, sondern in den verschiedenen Arten Raum wahrzunehmen und zu gestalten erst aktiviert wird. Als soziale Konstruktionen werden Raum und Zeit einander oft gegenübergestellt. Historisches, auf das Nacheinander von Entwicklungen konzentriertes Verständnis stellt dann einen Gegensatz zum räumlichen Verständnis des Nebeneinander und der Gleichzeitigkeit dar. Doris Bachmann-Medick bescheinigt dem Spatial Turn damit auch eine Affinität zum Linguistic Turn, „insofern er das Synchrone über das Diachrone stellt, das Systemische über das Geschichtliche, das Sprachsystem über den sukzessiven Sprachgebrauch“.⁷³ Bedeutung entsteht im Raum durch nebeneinander angeordnete Elemente, von denen keines ‚vorgängig‘ ist in dem Sinne, dass es eine vorbestimmte, feste Grundbedeutung hätte. Die Darstellung von Raum, wie sie auch in Borges’ Zitat thematisiert wird, steht im Kontext des eng mit dem Spatial Turn verwandten Topographical Turn. Dabei geht es genau wie beim Raum selber nicht um einen wie auch immer verstandenen physischen Raum und dessen adäquate Abbildung, sondern um Raumdarstellung als „mentale Operation“, als „Ordnungsmuster“, kurz als „Modell der Organisation von Wissen“.⁷⁴ Im Mapping (dem Kartieren als Darstellung von Raum) laden sich die „kartographischen Bezugspunkte“ subjektiv auf.⁷⁵ Genau diesen Prozess thematisiert das Borges-Motto zu Beginn von Maks Erzählung, wenn die Kartierung der Welt letztlich die eigenen Gesichtszüge wiedergibt. Nichtsdestotrotz kündigt schon Borges’ Zitat an, dass die räumliche Dimension

70 „lijnenlabyrint“ (IE-N 10). 71 Eine fundierte Übersicht zum „Spatial Turn“ bietet Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006, S. 284–328. 72 Vgl. das Standardwerk „Die Produktion des Raums“: Henri Lefebvre, La production de l’espace, übersetzt von Donald Nicholson-Smith, Paris 1974, Anfang der Neunzigerjahre ins Englische übersetzt: Henri Lefebvre, The production of space, Oxford 1991. 73 D. Bachmann-Medick, S. 285. 74 D. Bachmann-Medick, S. 299. 75 D. Bachmann-Medick, S. 299–300.

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nicht von der zeitlichen zu trennen ist: Das „Labyrinth aus Linien“ ist „geduldig“ und füllt sich im „Lauf der Jahre“, es steht also nicht außerhalb der Zeit.⁷⁶ In In Europa wird die Verschränkung von Raum und Zeit für die Erzählung nutzbar gemacht. Die Konzeptualisierung der Geschichte als Raum bringt vor allem die Auflösung der linearen Abfolge der Zeit in ein räumliches Nebeneinander mit sich. Raum ist in In Europa ein Anordnungsmodus, dessen Synchronie die Diachronie der Zeit ablöst: Im Raum Europa können mehrere Zeiten gleichzeitig bestehen. Der Text demonstriert dies gleich zu Anfang, indem im ersten Textabschnitt das Bild eines Dorfes entworfen wird, das aus einer vergangenen Zeit zu datieren scheint: „Niemand im Dorf hatte jemals das Meer gesehen [...]. Kein Maschinengeräusch war zu hören [...]. Am späten Nachmittag wurden die Öfen angezündet“ (IE-D 11).⁷⁷ Geradezu nachdrücklich wird auf die nicht anwesenden Merkmale einer technisierteren Zeit hingewiesen. Der nächste Abschnitt beginnt mit dem Satz „Es waren die letzten Monate des Jahrtausends, und ich reiste [...] ein Jahr lang kreuz und quer durch Europa [...]“⁷⁸ (IE-D 11). Im Nacheinander dieser beiden Abschnitte entsteht ein Nebeneinander, da der zweite Abschnitt den ersten Abschnitt als gleichzeitig mit dem zweiten einordnet, obwohl er einer anderen Zeit zu entstammen scheint. Der Umstand, dass innerhalb eines Raums gleichzeitig völlig unterschiedliche Dinge passieren können, betont der Text immer wieder, so zum Beispiel im Hinweis auf die zwei divergenten und doch nebeneinander existierenden Sphären der Stadt und des Landes in Frankreich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (IE-N 36-29,IE-D 31-33). Europa ist, ganz dem Borges-Zitat im Motto entsprechend, ein Raum, der in der unterschiedlichen Wahrnehmung und in der unterschiedlichen Praxis der Europäer entsteht und nicht rein temporal geordnet werden kann. Zur Repräsentation dieses komplexen Raumes der Gleichzeitigkeit werden verschiedene narrative Strategien herangezogen. Die Narratologie unterscheidet zwei Möglichkeiten zur Raumtextualisierung: die des „Überblicks“ („survey“) und die der „(Reise-)Route“ („tour“). Sie unterscheiden sich dadurch, dass die Raumrepräsentation als „Überblick“ statisch von einer übergeordneten Panoramaperspektive aus beschreibt, die Repräsentation als „Reiseroute“ hingegen eine dynamische Perspektive einnimmt, die über die Erfahrung eines Reisenden ver-

76 Zur Untrennbarkeit der Konzeptualisierung von Raum und Zeit siehe Marie-Laure Ryan, Space. In: The living handbook of narratology, Universität Hamburg, Web, 25. Oktober 2011. 77 „In het dorp had niemand ooit de zee gezien [...]. Er was geen mechanisch geluid te horen [...]. Later op de middag werden de ovens aangestoken [...].“ (IE-N 11). 78 „Het waren de laatste maanden van het millenium, en ik reisde kriskras door Europa, een jaar lang“ (IE-N 11).

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mittelt wird.⁷⁹ In In Europa werden beide Repräsentationsstrategien kombiniert: Die emersive Retrospektivität des historischen Erzählens vereint sich mit einem immersiven Hereinversetzen in die erzählte historische Zeit. Eine Darstellung des Raumes als „survey“ geschieht in In Europa zu Beginn jedes Kapitels in der Form einer Karte, auf der die im Kapitel zurückgelegte Reiseroute mit europäischen Städten als Bezugspunkten eingezeichnet ist. In diesen Überblicken wird der mehrdimensionale europäische Raum konzeptualisiert, der die Zeitreise des reisenden Ichs erst möglich macht. Denn das Besondere an dieser Reise ist, dass sie nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit geht, wie schon der Titel des Buches – „Eine Reise durch das 20. Jahrhundert“,⁸⁰ – deutlich macht. Die Karten zu Beginn der einzelnen Kapitel (hier beispielhaft die Karte vor dem ersten Kapitel) kombinieren den historischen und den gegenwärtigen Raum auf subtile Weise.

Abb. 8.1. Karte zu Beginn des ersten Kapitels von In Europa

79 Vgl. M. Ryan, Space. 80 Im niederländischen Original „Reizen door de twintigste eeuw“.

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Verweisen die Karte und die Kapitelüberschrift (in der niederländischen Ausgabe „Europa um 1900“⁸¹) auf eine historische Zeit und einen historischen Raum, so repräsentiert die eingezeichnete Reiseroute die Zeit der Gegenwart für das reisende Ich. Die gegenwärtige Reise wird damit visuell in die historische integriert und findet damit ‚gleichzeitig‘ statt. Auch die Räume (der Raum der historischen Karte und der Raum der gegenwärtigen Reiseroute) werden auf diese Art und Weise kombiniert. Bei den durch die Reiseroute berührten Städten – in dem hier analysierten Kapitel handelt es sich um die Städte Amsterdam (als Ausgangspunkt), Paris, London, Berlin, Prag und Wien – ist also nicht deutlich, ob es sich um die historischen oder um die gegenwärtigen Städte handelt. Dieses Nebeneinander spiegelt sich auch im Inhaltsverzeichnis wieder, das sowohl die historische als auch die gegenwärtige Zeitdimension wiedergibt. Die Daten der Reise tauchen dementsprechend neben den historischen Daten auf – in der Beschreibung des ersten Reiseabschnittes zum Beispiel „JANUARI – 1900– 1914“. Auf welchen der beiden genannten Zeiträume sich die darunter genannten Städte der Reiseroute beziehen, wird offen gelassen (IE-N 7-9, IE-D 7-8). In der paradoxen Nebeneinanderstellung zweier unterschiedlicher Zeiten entsteht erneut ein Raum – der Raum der Erzählung, die sich an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten abspielt. Auch wenn die Kapitel einzelne aufeinander folgende Zeiträume abschreiten, wird die Linearität der Geschichte in den einzelnen Kapiteln durch die verschiedenen Orte nebeneinandergestellt. Auf diese Weise entsteht eine logisch inkonsistente räumliche Welt, die sich den gewohnten Vorstellungswelten entzieht und die der Darstellung von Geschichte in postmodernen Romanen entspricht, welche die Komplexität und die Ungeordnetheit der Vergangenheit betonen.⁸² Neben dem ‚top-down‘-Verfahren des „survey“ (vgl. 8.2.2) wird der Raum in In Europa ‚bottom-up‘ aktiviert. Nicht umsonst tritt gleich zu Anfang des Buches in Paris der „Flaneur“ auf das Tableau, wie er von Walter Benjamin konzeptualisiert wurde (vgl. IE-N 29/30, IE-D 25/26 sowie 8.2.2). Auffällig ist die Parallelisierung des Flaneurs, der die Boulevards nutzt (vgl. 8.2.2), mit dem reisenden Ich. Direkt nach der Beschreibung des „Boulevardiers“ verweist das reisende Ich auf seine eigene Wanderschaft: „Ich gehe über das Champ de Mars, spaziere an der Sei-

81 „Europa rond 1900“ IE-N 21. In der deutschen Ausgabe wird dieser historische Zeitraum wie im Inhaltsverzeichnis mit dem Zeitraum der Reise kombiniert: „Januar 1900–1914“, einer wiederum paradoxal anmutenden Beschreibung, die einen einzigen Monat über 14 Jahre zu strecken scheint (IE-D 19). 82 Zu einer alternativen Thematisierung von Raum vgl. M. Ryan, „Space“. Amy Elias widmet in ihrer Studie zum postmodernen historischen Roman ein Kapitel der Auflösung linearer Strukturen im räumlichen Nebeneinander: A.J. Elias, S. 103–148.

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ne entlang, vorbei am rasenden Verkehr an beiden Ufern, bis zum vernagelten Eingang des halb leeren Grand Palais.“⁸³ Wiederum durch einen Vorgang der Nebeneinanderstellung von zwei Abschnitten (vgl. das Dorf zu Beginn des Prologs) wird das reisende Ich zum Flaneur in der Geschichte, die es sich durch die Bewegung seines Körpers durch den Raum zu Gemüte führt. Die Erschließung der Geschichte durch das Reisen ist in In Europa ein Weg, eine – wenn auch subjektive – Ordnung der im Raum aufgelösten Linearität der Geschichte zu reetablieren. Denn die Zusammenschau des oben beschriebenen europäischen Raumes der Ungleichzeitigkeiten wird erst möglich durch das reisende Ich beziehungsweise den Ich-Erzähler, welcher die Lesenden als eine Art Reiseführer durch den Raum leitet und dabei gleichzeitig eine Reise durch die Zeit unternimmt. Dadurch dass Europa als Raum der Ungleichzeitigkeiten beschrieben wird, ist die Inszenierung der Geschichte als Reise möglich, wie das reisende Ich bemerkt: „Europa, das wurde mir im Laufe dieses Jahres klar, ist ein Kontinent, auf dem man mühelos in der Zeit hin und her reisen kann. Die verschiedenen Phasen des 20. Jahrhunderts sind alle noch irgendwo existent.“⁸⁴ Diese Konstruktion macht die Geschichte zu einem betretbaren Raum. Wir befinden uns „in Europa“, zeitlich wie räumlich und müssen nicht erst einen Abstand zurücklegen, um anzukommen. Fast scheint es, als solle die Reise des reisenden Ichs es in diese Situation „in“ der Geschichte katapultieren und so eine auferlegte Ordnung vermeiden (vgl. 8.2.2 ). Das reisende Ich macht das „Grenzen überschreiten“⁸⁵ zum erklärten Ziel seiner Reise und so ist das Passieren der ersten Grenze auf dem Weg von Amsterdam nach Paris auch beinahe unmerklich (vgl. IE-N 24, IE-D 22). Räumliche Grenzen werden mit zeitlichen Grenzen gleichgesetzt und als ebenso künstlich wahrgenommen: „Auch Jahrhunderten dichten wir klare Grenzmarkierungen an, Schlagbäume, Glockenschläge am 31. Dezember des Jahres Null.“⁸⁶ Dieses ‚entgrenzte‘ Erzählen in In Europa führt nicht zu einer postmodernen Auflösung aller ordnenden Strukturen. Vielmehr ermöglicht das reisende Ich durch eine spezielle Form des diskontinuierlichen Erzählens eine Annäherung an die Vergangenheit als erfahrbaren Raum.⁸⁷

83 „Ik wandel van het Champ de Mars, langs de Seine en het razende verkeer op beide oevers, tot de dichtgetimmerde ingang van het halflege Grand-Palais“ (IE-N 30, IE-D 26). 84 „Europa is, zo had ik in de loop van dat jaar gemerkt, een continent waar je gemakklijk heen en weer kunt reizen in de tijd“ (IE-N 12,IE-D 11). 85 „grenzen overschrijden“ (IE-N 11, IE-D 11). 86 „Ook aan eeuwen dichten we heldere grenstekens toe, slagbomen, klokslagen op de 31ste december van het jaar nul“ (IE-N 42, in der deutschen Ausgabe nicht enthalten). 87 Vgl. M. Ryan, Space.

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Diese spezielle Form der Geschichtserfahrung wird dadurch ermöglicht, dass das im „survey“ etablierte Nebeneinander der Zeiten im Raum der „tour“ des reisenden Ichs eine spezielle Dynamik gibt. So lässt das reisende Ich zu Beginn des ersten Kapitels verlautbaren, dass es seine Reise mit den „neubarocken Städten von 1900“⁸⁸ beginnen möchte, „mit der Leichtigkeit der Pariser Weltausstellung, mit Königin Victoria, die über ein Imperium von Gewissheiten geherrscht hatte, mit dem aufstrebenden Berlin“.⁸⁹ Die Reise ist also nicht den gegenwärtigen Städten, sondern den historischen Städten gewidmet. Um dieses Reiseziel zu erreichen, wird die Gegenwartsreise des reisenden Ichs verschränkt mit einer historischen Sicht auf die Städte, welche die Erzählung durch die Beschreibung von (vorwiegend schriftlichen) Quellen erreicht. Sie wirken als Umschaltelemente im Text, die historischen und gegenwärtigen Raum kombinieren. Ein augenfälliges Beispiel dafür sind die historischen Reiseführer, derer sich das reisende Ich in einigen bereisten Städten bedient. „Während der ersten Tage in Paris lasse ich mich von einem Baedeker aus dem Jahr 1896 leiten“,⁹⁰ verkündet das reisende Ich zu Beginn seines Parisaufenthalts und scheint sich plötzlich tatsächlich im historischen Paris zu bewegen: „Ich lasse mich in einer der dreizehntausend Kutschen herumfahren oder nehme eine der vierzig Omnibuslinien, welche die Stadt durchkreuzen. Alles funktioniert und bewegt sich mit Pferdekraft, Zehntausende von Pferden vor Mietkutschen, Omnibussen, Pferdewagen, Kaleschen; mein ganzer Baedeker riecht nach Pferd.“⁹¹ Die Inszenierung der Geschichte als Raum ermöglicht dem Text über das Erzählverfahren der Reise immersive Effekte, die sich über die gleichzeitig in mehreren Zeitschichten stattfindende Reise ergeben. Durch eine starke Betonung der sinnlichen Wahrnehmung erreicht der Erzähler eine zusätzlich verstärkte Erlebnisillusion. Völlig ungewöhnlich für einen historiografischen Text erlaubt die Mehrdimensionalität des Raumes hier dem Erzähler ein homodiegetisches Erzählen über die Geschichte, also ein Erzählen über eine weit zurückliegende Vergangenheit, als wäre er dabei gewesen. Gerade um diese Umschalteffekte geht es in dem Text mit seiner Verquickung von örtlicher und zeitlicher Reise.

88 „nieuw-barokke steden van 1900“ (IE-N 23, IE-D 21). 89 „met de lichtheid van de Parijse Wereldtentoonstelling, met koningin Victoria die regeerde over een imperium van zekerheden, met het opstuwende Berlijn (IE-N 23, IE-D 21). 90 „Ik laat me die eerste dagen in Parijs leiden door een Baedekergids uit 1896“ (IE-N 34, IE-D 29). 91 „Ik laat me rijden in een van de dertienduizend fiacres, of ik pak een van de veertig omnibuslijnen die de stad doorkruisen. Alles werkt en beweegt op paardenkracht, tienduizenden paarden voor de huurrijtuigen, omnibussen, sleperskarren, koetsen, mijn hele stadsgids ruikt naar paard“ (IE-N 34, IE-D 29).

8.3 Annäherung |

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Dabei wird die gegenwärtige Stadt nicht völlig ausgeblendet: „Allmählich bekommt mein alter Baedeker dann doch Probleme. Die Pariser Vorstädte sind ein Dschungel aus Fabriken, Lagerhallen und Wohnsilos, doch die auffaltbare Karte in meinem Reiseführer zeigt lindgrüne Felder und Wäldchen und Dörfer wie Neuilly, Pantin und Montreuil.“⁹² Durch die Kontrastierung der heutigen und der damaligen Landschaft wird die Entwicklung – der Abstand, – der zwischen beiden Orten liegt, angedeutet. Dadurch bleibt während der gesamten Reise die Dynamik zwischen Annäherung und Distanzierung erhalten.⁹³ Die Reise durch den Zeitraum des 20. Jahrhunderts macht es möglich, zwischen den verschiedenen Zeiten zu springen und dadurch teilnehmendes und distanzierendes Erzählen abzuwechseln.

8.3.2 Vergangenheit und Gegenwart: Retrospektive versus Parallelisierung Historisches Erzählen ist von der impliziten oder expliziten Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart geprägt: Es beinhaltet immer die Perspektivierung einer Vergangenheit von einer Gegenwart aus. Die Texte In Europa und Der taumelnde Kontinent positionieren Gegenwart und Vergangenheit in unterschiedlicher Weise zueinander. In In Europa werden die erzählten Ereignisse, einer für das historische Erzählen typischen Retrospektive entsprechend, stark in eine große Erzählung des zwanzigsten Jahrhunderts eingebunden, an deren Ende das reisende Ich selber steht. So wird die „Reise durch das zwanzigste Jahrhundert“ schon als „eine Art abschließende Inspektion“⁹⁴ eingeführt: Das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, „die letzten Monate des Jahrtausends“⁹⁵ im Jahr 1999, die Gegenwart des reisenden Ichs, ist der Ausgangspunkt, von dem aus die Vergangenheit „inspiziert“, also überprüft werden soll. Die sich über ein Jahrhundert erstreckende Vergangenheit ist in diesem teleologischen Erzählverfahren demnach vor allem in Bezug auf die Gegenwart relevant, von der aus sie beurteilt wird. Das zwanzigste Jahrhundert wird also zum Erzählzeitpunkt im Jahr 1999 eigentlich noch nicht als abgeschlossene Geschichte betrachtet, sondern als Teil 92 „Ondertussen krijgt mijn bejaarde Baedeker wel problemen. De Parijse buitenwijken vormen een woud van fabrieken, magazijnen en mensendozen, maar het uitvouwbare kaartje binnen in het gidsje toont zachtgroene velden en bossen, met dorpjes als Neuilly, Pantin en Montreuil“ (IEN 40, IE-D 34). 93 Neben dem Baedecker-Reiseführer in Berlin kommen im Januar-Kapitel auch in Berlin die Reisführer Berlin für Kenner aus dem Jahr 1900 (IE-N 63, IE-D 51) und Bärenführer aus dem Jahr 1912 (IE-N 72, IE-D 58) zum Einsatz. 94 „een soort eindinspectie“, IE-N 11, IE-D 11. 95 „de laatste maanden van het millenium“, IE-N 11, IE-D 11.

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des eigenen Lebens und des Lebens anderer. Nicht zufällig taucht darum auch am Beginn der Reise ein Augenzeuge (vgl. 8.3.3) auf, dessen Leben sich über das gesamte zwanzigste Jahrhundert erstreckt und damit demonstriert, dass dieses Jahrhundert noch nicht von der Gegenwart abgekoppelt ist. Über diese Zeugenfigur wird zunächst eine umgekehrte Verbindung, also nicht von der Gegenwart in die Vergangenheit, sondern von der Vergangenheit in die Gegenwart, hergestellt. Der Augenzeuge verweist auf eine Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Amsterdam erschienene Zukunftsvision über das Jahr 2000, Edward Bellamys In het jaar 2000, die ihrerseits das Ende des Jahrhunderts als Beginn eines „goldenen Jahrhunderts“ fantasiert (IE-N 25 ff., IE-D 23 ff.). Die Bilanz des Augenzeugen über das inzwischen tatsächlich vergangene Jahrhundert fällt nüchtern aus: „Was ich von diesem Jahrhundert halte, jetzt, wo es fast vorbei ist? Ach, so ein Jahrhundert, ist das nicht nur eine mathematische Konstruktion, ein Phantasiegebilde des Menschen?“⁹⁶ Anstatt das Jahrhundert rückblickend zu beurteilen, entzieht sich der Augenzeuge der Kategorie des Jahrhunderts und stellt lediglich fest, dass sich sein Gefühl für Zeit verändert hat: „Damals dachte ich in Monaten, bis zu einem Jahr im Höchstfall. Jetzt rechne ich in Zeiträumen von zwanzig Jahren, für mich ist das gar nichts mehr. Man wird verwöhnt, wenn man so unverschämt alt ist. Zeit kümmert einen nicht mehr...“⁹⁷ Mit dem Zitieren dieses Augenzeugen schmilzt die zeitliche Größe des „Zwanzigsten Jahrhunderts“ so zusammen, dass die Zeit selbst ein unwichtiger Faktor zu werden scheint und Vergangenheit und Gegenwart beinahe eins werden. Dennoch wird dieses Zeitkontinuum erst im Nachhinein begreiflich. Den Zeitgenossen gesteht das reisende Ich zu, dass sie in der historischen Situation selbst die Bedeutung eines Moments für den Verlauf der Geschichte nicht abschätzen konnten: „Ich werde nie vergessen, was ein alter Widerstandskämpfer in einer Debatte über die zögernde Haltung seiner Partei in den Dreißigerjahren sagte: ‚Vergessen Sie nicht, wir tasteten uns auch mit einer kleinen Kerze in der Dunkelheit voran, der Nationalsozialismus war für uns ein völlig neues, unbekanntes Phänomen‘.“⁹⁸ Das reisende Ich resümiert: „Wer sich mitten in historischen

96 „Wat ik vind van deze eeuw, nu alles bijna voorbij is? Ach, zo’n eeuw, dat is toch enkel een wiskundige constructie, een menselijk bedenksel?“ (IE-N 26, IE-D 23). 97 „Toen dacht ik in maanden, een jaar hooguit. Nu reken ik in periodes van twintig jaar, dat is voor mij niks meer. Je wordt verwend als je zo onbehoorlijk oud bent. Tijd deert je niet meer...“ (IE-N 26, IE-D 23). 98 „Ik zal nooit vergeten wat een bejaarde verzetsman zei tijdens een debat over de aarzelende houding van zijn partij in de jaren dertig: ‚Vergeet niet, wij tastten ook rond met een kaarsje in de duisternis, het nationaal-socialisme was voor ons een volstrekt nieuw, ongekend verschijnsel‘“ (IE-N 14, Textpassage in der deutschen Übersetzung nicht vorhanden).

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Entwicklungen befindet, muss immer wieder suchend seinen Weg finden.“⁹⁹ Bekannte historische Daten wie der 30. Januar 1933 oder der 3. August 1914 werden in der persönlichen Erinnerung nicht nur beschränkt auf ihre historische Bedeutung (IE-N 14/15, IE-D 14). Gerade die persönliche Erinnerung an Momente, die im Nachhinein als historisch betrachtet werden, verbindet die individuelle Erfahrung mit der offiziellen Geschichte. Einerseits wird durch das Wiedergeben heterogener individueller Erfahrungen die offizielle Geschichte unterlaufen. Andererseits ordnen sich die individuellen Erfahrungen im Nachhinein in Bezug auf die Linien der offiziellen Geschichte. So kann im Jahr 1999 „[d]ie Weltordnung des 20. Jahrhunderts [...] der Vergangenheit an[...]gehören“,¹⁰⁰ sie prägt doch das Verständnis der Gegenwart und Zukunft weiterhin: „[W]ir alle tragen, ob wir wollen oder nicht, das erschütternde 20. Jahrhundert in uns.“¹⁰¹ Die persönlichen Erinnerungen leben somit von der Spannung zwischen dem erfahrenen Moment und seiner nachträglichen Einordnung in eine offizielle Erzählung. Der in In Europa beschriebene Beginn des Jahrhunderts ist der Auftakt dieser zwar problematisierten, aber doch zugrunde gelegten Ordnung des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Prolog wird ein Eindruck dieser Ordnung gegeben, wenn in atemberaubender Geschwindigkeit eine „gemeinsame Geschichte“ der Europäer aufgezählt wird, die das zwanzigste Jahrhundert einschließt: „Zweifellos, und jeder Student kann die Stichwörter und Daten aufsagen: Römisches Reich, Renaissance, Reformation, Aufklärung, 1914, 1945, 1989.“¹⁰² „1914, 1945, 1989“, in diesen drei Zahlen drückt sich das zwanzigste Jahrhundert aus, vom Ersten über den Zweiten Weltkrieg bis zum Kalten Krieg (beziehungsweise seinem Ende). Die Kriege sind die wichtigen Zäsuren für die Dramaturgie des zwanzigsten Jahrhunderts in In Europa, dessen Geschichte an den verschiedensten Orten, wie zum Beispiel in Berlin, komprimiert eingekapselt ist: Tegelijk was en is Berlijn een stad die slingerend door de tijd beweegt, als een op hol geslagen treinstel van de Ringbahn. Halverwege de twintigste eeuw, in de jaren vijftig, kon éénzelfde bejaarde Berlijner vertellen over de slaperige negentiende-eeuwse provinciestad van zijn kindertijd, over het keizerlijke Berlijn van zijn jonge jaren, het hongerende Berlijn van 1915, het losgeslagen Berlijn tien jaar later, het nazi-Berlijn van zijn kinderen, het kapotge-

99 „Wie zich midden in historische ontwikkelingen bevindt, moet altijd weer zoekend zijn weg vinden“ (IE-N 14, Textpassage in der deutschen Übersetzung nicht vorhanden). 100 „[d]e wereldorde van de twintigste eeuw [...] voorbij“ sein (IE-N 16, IE-D 16). 101 „we zullen allemaal, of we willen of niet, de verbijsterende twintigste eeuw met ons meedragen“ (IE-N 17, IE-D 16). 102 (in der deutschen Übersetzung wird aus „jeder“ bezeichnenderweise „jeder Student“): „Natuurlijk, en iedereen kan het rijtje opnoemen: Romeinse Rijk, Renaissance, Reformatie, Verlichting, 1914, 1945, 1989“ (IE-N 14, IE-D 13).

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schoten Berlijn van 1945, over het herbouwde, verscheurde Berlijn van zijn kleinkinderen. Allemaal één stad, één mensenleven.¹⁰³(IE-N 63)

Das „eine Menschenleben“, dessen Länge all die genannten Veränderungen in Berlin umfasst, verdeutlicht einmal mehr, dass diese Geschichte (noch) in einem deutlichen Bezug zur Gegenwart steht. Aus diesem engen Bezug ergibt sich eine sinngebende Kreisbewegung: In der Gegenwart des reisenden Ichs können in Bezug auf die Dramaturgie des zwanzigsten Jahrhunderts historische Ereignisse und Phänomene eingeordnet und mit Bedeutung versehen werden. Dieser Bedeutungsgebungsprozess führt umgekehrt auch dazu, dass die so interpretierte Vergangenheit Sinn und Position der Gegenwart bestimmt. Für das zwanzigste Jahrhundert haben in der Darstellung dieses Textes Geschichte und Gegenwart eine gemeinsame Grundlage. So kann im „London von 1900 [...] das zwanzigste Jahrhundert bereits voll anwesend“¹⁰⁴ sein. Überall finden sich Vorboten für spätere historische Entwicklungen, deren Grundlage für das reisende Ich schon in den bereisten Hauptstädten der Jahrhundertwende deutlich präsent ist. In London bestimmen um die Jahrhundertwende die „Massen“ das Stadtbild und kündigen so das zwanzigste Jahrhundert an: „Die Masse sollte die zentrale Kraft hinter der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts werden.“¹⁰⁵ In Wien verdichten sich solche Vorzeichen: „Fast alles, was das 20. Jahrhundert prägen sollte, war in Wien um 1900 im Keim schon vorhanden.“¹⁰⁶ Der Text führt dies anhand der Beschreibung der Vertreter verschiedener politischer Strömungen vor, die alle in Wien wirkten: der Sozialist Victor Adler, der Nationalist Georg von Schönerer, der Populist Karl Lueger, der Zionist Theodor Herzl (vgl. IE-N 91 ff.. IE-D 75 ff.). Abgeschlossen wird diese Reihe von einem „anonymen Zuschauer und Beobachter, eine[m] Tagträumer, Obdach- und Besitzlosen, de[m]

103 „Zugleich war und ist Berlin eine – wie ein führerlos dahinrasender Zug der Ringbahn – sich taumelnd durch die Zeit bewegende Stadt. In den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts konnte ein und derselbe alte Berliner von der verschlafenen Provinzstadt seiner Kindertage berichten, vom kaiserlichen Berlin seiner Jugendzeit, dem hungernden Berlin des Jahres 1915, dem wilden Berlin zehn Jahre später, dem Nazi-Berlin seiner Kinder, dem zerstörten Berlin des Jahres 1945, dem wiederaufgebauten und geteilten Berlin seiner Enkel. Und das alles in einer einzigen Stadt, in einem einzigen Menschenleben“ IE-D 51). 104 „Londen van 1900 [...] de twintigste eeuw al volop aanwezig“ (IE-N 43, Textpassage in der deutschen Übersetzung nicht vorhanden). 105 „De massa zou de centrale kracht worden achter de geschiedenis van de twintigste eeuw“ (IE-N 48, Textpassage in der deutschen Übersetzung nicht vorhanden). 106 „Bijna alles wat de twintigste eeuw zou bepalen was in het Wenen van 1900 al in de kiem aanwezig“ (IE-N 91, IE-D 75).

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gescheiterten Kunstmaler Adolf Hitler“,¹⁰⁷ der verschiedene der zuvor genannten Strömungen vereint. Seine Kurzbiografie schließt das erste Kapitel von In Europa ab. Das Grab von Hitlers Eltern ist der letzte Ort der ersten Reise. Verschränkt mit dem Bericht über einen rassistischen Terroristen aus einer aktuellen Tageszeitung wird eine Art Geist Hitlers heraufbeschworen, der sich bis in die Gegenwart des zwanzigsten Jahrhunderts zieht (vlg. IE-N 99/100, IE-D 80/81). In Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent funktioniert der Rückbezug der Geschichte auf die Gegenwart anders. Dies deutet sich schon in der Kontextualisierung der Fotografien an, die in den Text eingefügt sind. Zur Fotografie der Frauenrechtsaktivistin Lillian Lenton findet sich folgender Kommentar: Die Polizei [...] überwachte die Aktivistinnen, die [...] heimlich photographiert worden waren. Eines dieser „gestohlenen“ Photos von der radikalen Lillian Lenton zeigt die junge Fau auf dem Gefängnishof, die Haare offen und über die Schultern fallend [...], das Gesicht hager, aber ruhig und entschlossen, ein frappierendes Bild, das aussieht, als wäre es drei Generationen später gemacht worden. (TK 264)

Der versteckte Blick des Polizisten durch die Kamera wird hier parallelisiert mit dem Blick des Historikers, der in seiner Aufzeichnung einerseits sein historisches Gegenüber kontrollieren möchte, sich andererseits gerade von dessen Unkontrollierbarkeit angezogen fühlt. Die frappierende Ähnlichkeit der abgebildeten Frau (vgl. TK 265) mit einer Frau, die möglicherweise auch in der Gegenwart leben könnte, macht das zwischen dem Foto und der Gegenwart liegende Jahrhundert zunichte und scheint die historische Zeit direkt mit unserer zu verbinden: Ein Kontakt scheint möglich. Gleichzeitig dokumentiert das Foto eine spezifische historische Situation, die als Teil der englischen Frauenbewegung einen eigenständigen und in der Form singulären Teil der Geschichte bildet. Die zahlreichen Abbildungen im Text stellen somit oft eine Brücke zur Gegenwart her, handelt es sich doch um Fotografien, deren frappierender Bezug zur Gegenwart betont wird. Der Erzähler fordert schon in der Einleitung dazu auf, die Zeit zwischen 1914 und 2000 vollständig auszublenden und die erzählte Zeit gerade nicht vor dem Hintergrund der „monströsen Verbrechen“ des zwanzigsten Jahrhunderts (denen direkt auch die „monumentalen Leistungen“ des zwanzigsten Jahrhunderts gegenübergestellt werden) zu beurteilen beziehungsweise sie nicht anhand dieser einzuordnen. Blom begründet die Nachteile einer teleologischen Sicht damit, dass eine solche Einordnung des Jahrhundertbeginns vergleichbar mit einer Perspektive auf die Neunzigerjahre sei, die diese nur im Hinblick auf den 11. Sep-

107 „anonieme toeschouwer van dit alles, de dagdromer, de dakloze pauper, de hopeloze kunstschilder Adolf Hitler“ (IE-N 97, IE-D 79).

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tember 2001 interpretierten (TK 15). Genau wie in In Europa zählt der Erzähler wichtige Momente des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa auf, doch nicht um sie in Erinnerung zu rufen, sondern um sie auszublenden, denn die Jahre von 1900 bis 1914 sollen gerade ohne historisches Vorwissen betrachtet werden (vgl. 8.2.1). Es sollen also auch Elemente vorgeführt werden, die sich nicht in den weiteren Verlauf der Geschichte einordnen lassen, die nicht als „Vorboten“ für später Geschehenes gelesen werden können (vgl. 7.3.2). Diese – fingierte – ‚offene Zukunft‘ der Jahre 1900 bis 1914 kappt jedoch gerade nicht jeden Bezug zur Gegenwart, sondern schafft im zweiten Schritt den Eindruck einer Nähe zur erzählten Geschichte. Denn die Gegenwart nach dem Jahr 2000 bis zum Erscheinen des Buches 2008 gehört eben nicht zum ausgeblendeten Zeitabschnitt. Und sie teilt mit der unter diesen Bedingungen erzählten Geschichte zwischen 1900 und 1914 die (in diesem Falle nicht fingierte) Offenheit der Zukunft. Blom setzt diese Offenheit der Zukunft gegen lange Passagen im zwanzigsten Jahrhundert wie den Kalten Krieg ab, in denen es „keine offene Zukunft“ gegeben habe (TK 14). Auf diese Weise werden die beiden Jahrhundertbeginne des zwanzigsten Jahrhunderts und des einundzwanzigsten Jahrhunderts parallelisiert, anstatt sie durch eine Zwischengeschichte zu verbinden. Die „Unsicherheit und Erregtheit“, von welcher der Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aller nostalgischen Verklärung zum Trotz geprägt war, sei „unserer eigenen in vielerlei Hinsicht ähnlich“ (TK 12): Damals wie heute waren tägliche Gespräche und Presseartikel dominiert von neuen Technologien, von der Globalisierung, von Terrorismus, neuen Formen der Kommunikation und den Veränderungen im Sozialgefüge; damals wie heute waren die Menschen überwältigt von dem Gefühl, daß sie in einer sich beschleunigenden Welt lebten, die ins Unbekannte raste (TK 12).

Das Motto „damals wie heute“ radiert die Verbindungslinien, die in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Verknüpfung zwischen den beiden Jahrhundertbeginnen herstellen, aus. Gerade dadurch wird deutlich, dass der Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als Parallele zu unserer Gegenwart wahrgenommen werden kann, anstatt ihn als Vorgeschichte zum zwanzigsten Jahrhundert letztlich von der Gegenwart abzukoppeln. Übereinstimmungen der Jahrhundertbeginne werden hervorgehoben. Der taumelnde Kontinent versucht diese Übereinstimmungen erfahrbar zu machen, etwa in der Begeisterung des Fotografen Lartigue für schnelle Autos, die den Fortschrittsglauben der Zeit widerspiegelt (vgl. 8.2.1). Außerdem werden explizit Parallelen hergestellt, wie zum Beispiel in Bezug auf die Verschiebungen im Verhältnis zwischen Mann und Frau, die zur Zeit der Jahrhundertwende Geschlechtsidentitäten nachhaltig erschütterten (vgl. TK 12). Obwohl „heute Identitäten anders hinterfragt“ werden (TK 12), sei

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auch unsere Welt „geprägt vom Sexus, von in Frage gestellter Männlichkeit“ (TK 12), etwa in der Wut über den Westen, der „andere Regionen der Welt ökonomisch und kulturell ‚kastrieren‘“ will (TK 13). In der heutigen „hysterischen Polemik über die Geburtenraten von muslimischen Immigranten in Europa“ erkenne man die eugenischen Diskussionen über den „Rückgang der Geburtenraten, besonders in der bürgerlichen Schicht“ zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts (TK 13) wieder. Ganz umgeht Der taumelnde Kontinent die Retrospektive nicht. Der Erzähler stellt heraus, dass „alles, was im zwanzigsten Jahrhundert wichtig werden sollte – von der Quantenphysik bis zur Frauenrechtsbewegung, von abstrakter Kunst bis zur Genetik, von Kommunismus und Faschismus bis zur Konsumgesellschaft, vom industrialisierten Mord bis zur Macht der Medien –, zwischen 1900 und 1914 erstmals seine Massenwirkung entfaltete oder sogar erfunden wurde“ (TK 14). Jedoch ist gerade dies die Motivation dafür, die Jahrhundertwende mit einer erzählerisch simulierten Unwissenheit über die weiteren Entwicklungen zu untersuchen, um so nicht nur Aspekte der genannten Phänomene zu beschreiben, die in Hinblick auf diese Entwicklungen wichtig sind. Der taumelnde Kontinent und In Europa führen also zwei Arten der Annäherung von Gegenwart und Vergangenheit vor, die über Aus- und Einblendung von geschichtlichen Verbindungslinien die Relevanz der Jahrhundertwende zum zwanzigsten Jahrhundert herausstellen wollen.

8.3.3 Speaking with the (nearly) dead: Zeugen der Geschichte Der Umgang mit der Vergangenheit ist bestimmt von dem Bedürfnis, mit den Toten zu reden. Stephen Greenblatt hebt dieses „desire to speak with the dead“¹⁰⁸ hervor und nimmt es als Ausgangspunkt für eine Methode zur Erschließung historischen Kontexts im New Historicism. In den Geschichtserzählungen Maks und Bloms wird das Bedürfnis, mit den Toten zu reden, weniger methodisch als erzählerisch ausgestaltet. Die Texte loten Wege aus, das Gespräch mit den Toten erzählerisch zu ermöglichen und begeben sich dabei wiederum in den ‚Borderlinebereich‘ zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen. „[S]tumme[] Zeugen“¹⁰⁹ reichen dabei nicht, wie in In Europa symbolisch deutlich wird, wenn der IchErzähler am Grab einer Selbstmörderin auf dem Friedhof der Namenlosen in Wien eine Blume niederlegt, weil er um das unumkehrbar Verschwundene trauert (vgl. IE-N 90, IE-D 73/74). In In Europa und Der taumelnde Kontinent soll ein Kontakt 108 S. Greenblatt, S. 1. 109 „stille getuigen“ (IE-N 11, IE-D 11).

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mit lebenden wie toten Zeugen der Geschichte hergestellt werden, was vor allen Dingen dadurch realisiert wird, dass sie im Text ‚auftreten‘. So führt der Erzähler in der Einleitung zu Der taumelnde Kontinent Henry Adams beiläufig als einen Zeitzeugen ein, „dem wir [...] begegnen werden“ (TK 14). Neben kanonisierten Persönlichkeiten, die für ihre schriftlichen Zeugnisse bekannt sind (vgl. etwa Walter Benjamin, Stefan Zweig und Käthe Kollwitz in In Europa und Sigmund Freud, Arthur Schnitzler und Ernst Mach in Der taumelnde Kontinent), werden auch immer wieder weniger bekannte Zeitgenossen wie die Feministinnen Emily Davison (vgl. IE-N 55 ff., IE-D 45 ff.) oder Hanna Mitchel (TK 255 ff.) herbeizitiert, um das Gespräch mit den Toten zu ermöglichen. Bei der Inszenierung des Auftretens dieser historischen Personen bedienen sich Bloms und Maks Texte Erzählstrategien, die klassischerweise eher mit dem fiktionalen Erzählen assoziiert werden. Der Eindruck der Fiktionalität ergibt sich dabei aus dem Herstellen einer Präsenz, die auf Kosten der Belegbarkeit des Erzählten hergestellt wird (vgl. 3.2.1). Die Toten der Geschichte werden zu Erzählern, ihre Gefühls- und Gedankenwelt wird offengelegt und sie treten als Figuren auf. Narratologisch geht dies vor allen Dingen mit Erzählverfahren des intradiegetischen Erzählens (hier behandelt anhand von In Europa), der angedeuteten internen Fokalisierung und dem szenischen Erzählen (hier behandelt anhand von Der taumelnde Kontinent) einher. Im intradiegetischen Erzählen treten historische Personen als Erzähler auf. Besonders der Text In Europa widerlegt dabei Genettes Feststellung, intradiegetisches (also eingebettetes) Erzählen unterlaufe den Erzählanspruch des faktualen Erzählens (vgl. 3.1.3).¹¹⁰ Genette geht es darum, dass intradiegetisches Erzählen auf eine imaginierte Erzählinstanz verweise und damit den faktualen Erzählanspruch unterlaufe. Wenn jedoch in In Europa Zeugenfiguren auftreten, die von der Geschichte berichten, bekräftigt dieses eingebettete Erzählen die Authentizität des Erzählten. Eine für In Europa wichtige Erzählstrategie des intradiegetischen Erzählens könnte in Anspielung auf Stephen Greenblatt als „Speaking with the Nearly Dead“ bezeichnet werden. Dabei geht es um noch lebende Augenzeugen, die ihr Wissen über die Geschichte mitteilen können. Sowohl im Prolog als auch im behandelten ersten Kapitel werden sehr alte Menschen der Gegenwart herangezogen, die als ‚Augenzeugen‘ über eine logischerweise nicht länger als ein Menschenleben zurückliegende Periode berichten. Diese aus der „Oral History“ bekannte Methode legt den Akzent auf den direkten mündlichen Kontakt mit Menschen, die von bestimmten historischen Ereignissen und Zuständen berichten können. Von der

110 G. Genette, Fiktion und Diktion, S. 79.

8.3 Annäherung |

259

Geschichtswissenschaft als unzuverlässige Methode kritisiert,¹¹¹ erfreut sich die Oral History vor allen Dingen in Forschungsansätzen großer Beliebtheit, die die Wichtigkeit eines Zugangs zur Geschichte außerhalb offizieller und schriftlicher Quellen betonen. Geschichtsdidaktisch gesehen ist der Authentizitätseffekt des ‚Ich bin dabei gewesen‘ zuträglich für die Vermittlung von Geschichte. Auch in In Europa ist es dieser letztere Effekt, der für die Erzählung als Annäherung an die Vergangenheit wichtig ist. Eindrücklichstes Beispiel dafür ist das Herbeizitieren einer Art ‚Jahrhundertmannes‘ zu Beginn der Reise (vgl. 8.3.2). Mit ihm führt das reisende Ich den „ältesten Niederländer, [...] den ich kannte“¹¹² ins Feld, der „das ganze Jahrhundert erlebt [hatte]“.¹¹³ In der Begegnung mit diesem Mann erhält das zwanzigste Jahrhundert einen Körper und eine Stimme und wird so (be-)greifbar. Dieser Effekt der Anwesenheit einer abstrakten Größe in einem lebendigen Menschen übersteigt den Informationswert, den die Wiedergabe des Gespräches mit dem ‚Jahrhundertmann‘ bewirkt (über einen kurzen Eindruck der Kindheit in der noch nicht motorisierten Stadt Nimwegen werden stakkatoartig verschiedene Themen äußerst kurz angerissen: „Die soziale Frage“ [...] „Die Technik“¹¹⁴). Schon im Prolog werden die „einfachen Leute“, welche ihre Eindrücke zum Zeitpunkt großer historischer Ereignisse umreißen, nicht wegen der Informationshaltigkeit ihrer Aussagen zitiert, sondern um eine Nähe zum Geschehen zu erzeugen (vgl. IE-N 14/15, IE-D 14). Die Tatsache, dass sie aus ihrer eigenen Erfahrung eine persönliche Erzählung dessen liefern können, was in den Geschichtsbüchern steht, ist wichtiger als der Inhalt ihrer Erzählung selbst. Der Erzähler leitet sie in ihren Erinnerungserzählungen durchaus an, so dass ihre Erzählungen zu einer Bestätigung

111 Grundlegendes Problem der Oral History sei, dass nachträglich Zeugnisse produziert werden, anstatt Quellen aus dem behandelten historischen Zeitraum zu verwenden. Es wird vor der Gefahr gewarnt, dass Interviewte sich in zeitlich großem Abstand beeinflusst von Medien und anderen Einflüssen nicht mehr genau oder anders erinnern. Zudem könne der Interviewer das Interview so steuern, dass eine Manipulation der Erinnerung und damit des untersuchten historischen Gegenstandes stattfinde. Vgl. Markus Behmer, Quellen selbst erstellen. Grundzüge, Anwendungsfelder und Probleme von Oral History in der medien- und kommunikationsgeschichtlichen Forschung. In: Kommunikationsgeschichte. Positionen und Werkzeuge. Ein diskursives Hand- und Lehrbuch, hg. von Klaus Arnold, Markus Behmer und Bernd Semrad, Kommunikationsgeschichte 26, Berlin 2008, S. 353–355. Teilweise wird dieses Dilemma dadurch umgangen, dass Oral History eher der Erinnerungsforschung als der Geschichtsforschung zugeschrieben wird: Alistair Thomson, Memory and Remembering in Oral History. In: The Oxford Handbook of Oral History, hg. von Donald A. Ritchie, Oxford 2011, S. 90–91. 112 „de oudste Nederlander die ik kende“, (IE-N 24, IE-D 22. 113 „die de volle eeuw had doorleefd“, (IE-N 24, IE-D 22). 114 „De sociale kwestie“ [...] „De techniek“, vgl. IE-N 24, IE-D 22).

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der offiziellen Geschichtsversionen werden. So ragen sie in einer metonymischen Figur wie ein lebendiger Teil der Vergangenheit in die Gegenwart. Neben dieser speziellen Form, die Geschichte ‚zu Wort‘ kommen zu lassen, kann die interne Fokalisierung, also die Perspektivierung der Erzählung aus einer Figur heraus, eine ‚subjektive‘ Sicht auf die Geschichte ermöglichen. Diese Ermöglichung einer Innensicht auf die Geschichte zählt wie die Abkehr vom Covert Narrator im expliziten Auftreten einer Erzählerfigur (vgl. 8.3.1) zu den wichtigen Subjektivierungsstrategien im historischen Erzählen. Erzähltheoretisch verbindet sich die interne Fokalisierung mit der Frage nach der Legitimität solcher Erzählverfahren in historisch erzählenden (oder anderen faktualen) Texten. Interne Fokalisierung scheint zunächst ein zweifelhaftes Element im historischen Erzählen zu sein, drückt sie doch genau das aus, was im historischen Erzählen nicht sein kann: Die unbelegte Sicht der unerreichbaren Toten. In der Beschreibung eines historischen Sachverhalts aus der Perspektive einer historischen Person, die in diesem Moment zu einer erzählerisch konstruierten Figur wird, zeigt sich die Ambivalenz der ‚Allwissenheit‘ für das historische Erzählen als faktuales Erzählen: In Bezug auf das ‚Verstecken‘ einer Erzählerfigur kann die Suggestion von ‚Allwissenheit‘ sich konstruktiv auf den für das faktuale Erzählen zentralen Wirklichkeitsbezug des Erzählten auswirken, weil der dem Erzählen zugrundeliegende Selektionsvorgang kaschiert und der Eindruck erweckt wird, es werde eben alles gewusst und erzählt, was sich ereignet habe (vgl. 3.2.2).¹¹⁵ Allwissenheit, die sich in Form von interner Fokalisierung historischer Personenfiguren äußert, kann hingegen die Faktualität des Erzählens angreifen, da sie in ‚illegitimer‘ Weise über das, was mit einer auf historischer Forschung basierten Erzählinstanz assoziiert wird, hinausgeht. Denn in einer solchen Form der Allwissenheit drängt sich der Verdacht einer imaginierten Erzählinstanz auf. Streng genommen muss interne Fokalisierung im faktualen Text „durch den Verweis auf eigene Recherchen, Dokumente o.ä. als plausible Vermutungen faktual [legitimiert]“ werden.¹¹⁶ Solche ‚Rechtfertigungen‘ scheinen jedoch für das faktuale Erzählen nicht so obligatorisch zu sein wie angenommen. In Bloms Text findet sich ein impliziter Verweis auf die Untermauerung von Gedanken- und Gefühlswiedergabe durch Quellen, allerdings muss dieser Verweis für den gesamten Text herhalten: „Heute sehen wir die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs

115 R. Barthes, Die Historie und ihr Diskurs, S. 177. 116 C. Klein und M. Martínez, S. 3. Genette merkt wie selbstverständlich an, dass die faktuale Erzählung sich „einer psychologischen Erklärung nicht zu enthalten braucht, aber eine jede durch Quellenangabe [...] rechtfertigen oder abschwächen und sie, genauer, durch ein vorsichtiges Eingeständnis der Unsicherheit und der Vermutung [...] modalisieren muß“, G. Genette, Fiktion und Diktion, S. 77.

8.3 Annäherung |

261

oft als Idyll [...]. Die meisten Menschen, die das Jahr 1900 erlebt haben, wären sehr erstaunt über diese nostalgische [...] Interpretation ihrer Zeit. Ihren eigenen Briefen, Tagebüchern, Zeitungen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Romanen nach zu urteilen war ihre eigene Erfahrung dieser Zeit gekennzeichnet von Unsicherheit und Erregtheit [...]“ (TK 12). In diesem Abschnitt wird deutlich, in welchem Umfang sich die Erzählinstanz eine Nähe zum Erzählten erlaubt: Die im Irrealis gehaltene These über das Empfinden der inzwischen verstorbenen Menschen – „Die meisten Menschen [...] wären sehr erstaunt“ – wird gestützt auf die schriftlich erhaltenen Zeugnisse. Durch sie ist eine Erzählinstanz, die keine Allwissenheit beanspruchen kann, erzählerisch in der Lage, Nähe zum Erzählten erzeugen – im Rest des Textes auch ohne ständigen Verweis auf die Quellen. Abgesehen von der faktualen ‚Rechtfertigung‘ gibt der Verweis auf das Erleben der Zeitgenossen jedoch vor allem den Zweck der Innensicht im historischen Erzählen an. Es wird auf den Unterschied zwischen zeitnaher Innen- und zeitlich weit entfernter Außensicht verwiesen: Der Beurteilung der Zeit aus der Zeit heraus, in der der Text entsteht („Heute sehen wir die Zeit [...] als Idyll“), wird die zeitgenössische Sicht konträr gegenüber gestellt („gekennzeichnet von Unsicherheit und Erregtheit“).¹¹⁷ In dieser Gegenüberstellung geht es um die Zeiterfahrung: In der internen Fokalisierung verschiebt sich die Frage danach, wie eine bestimmte historische Zeit war, dahin zu fragen, wie eine bestimmte Zeit erlebt wurde. In dieser Einordnung wird die interne Fokalisierung und ihr Immersionspotential nicht als fiktional vom faktualen Erzählen getrennt, sondern als Mittel zur Erreichung eines bestimmten historiografischen Erzählziels legitimiert. Der traditionell als Unterscheidungskriterium für fiktionale und faktuale Texte angenommene Modus erweist sich demnach als nicht so trennscharf wie zunächst angenommen.¹¹⁸ Letztlich wird in Der taumelnde Kontinent über das Zeiterleben in der internen Fokalisierung die Übereinkunft zwischen der Zeit, in welcher erzählt wird, und der Zeit, von welcher erzählt wird, hergestellt: Das Zeiterlebnis einer sich rasant verändernden und verunsichernden Zeit ist laut Der taumelnde Kontinent zu Beginn beider Jahrhunderte gleich (vgl. 8.3.2).

117 Ein weiteres Beispiel für eine Gegenüberstellung, bei der aber die gegenwärtige Perspektive glaubwürdiger als die historische präsentiert wird, ist die Korrektur von Henry Adams zeitgenössischer Bewertung des Dynamos im Gegensatz zur Jungfrau. Adams wird zunächst als historischer Zeitzeuge zitiert (TK 36), dann widerspricht der Erzähler ihm jedoch: Die „neue Kraft“ stamme nicht allein von den technischen, sondern auch von den gesellschaftlichen Entwicklungen wie den sich verschiebenden Geschlechterverhältnissen (vgl. TK 37). In dieser Form kommt ein Dialog mit den Toten zustande. 118 Vgl. S. Jaeger, S. 125–126.

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Schon die eingangs zitierte Eröffnungspassage über das Wettrennen in Der taumelnde Kontinent enthält neben der Perspektive des Fotografen (vgl. 8.2.1) eine weitere interne Fokalisierung, die das Miterleben des Erzählten auf Kosten seiner Belegbarkeit erleichtert: „Sie stehen entlang einer baumgesäumten Straße [...] voller Erwartung. In der drückenden Sommerhitze blicken sie die gerade Linie der Landstraße entlang, die sich am Horizont verliert. Ein leises Summen wird hörbar. Ein Auto erscheint zwischen den Baumkolonnen [...], größer werdend, immer größer, mit jeder Sekunde. Es rast auf die Betrachter zu [...]“ (TK 11). In dieser Passage sind die „Betrachter“ sowohl Objekt von Fokalisierung („Sie stehen entlang einer baumgesäumten Straße“) als auch Fokalisatoren, wenn das Nahen des Autos aus ihrer Sicht beschrieben wird („voller Erwartung“, „Ein leises Summen wird hörbar“, „größer werdend, immer größer“). In diesem Text, der das Erzählte ungefähr zeitgleich erzählt, steht nicht zufällig das (in diesem Falle ungeduldig-erwartungsvolle) Erleben von Zeit im Vordergrund. Neben dem zeitgleichen Erzählen fällt die Betonung der Sinne („blicken sie“, „in der drückenden Sommerhitze“, „Summen wird hörbar“) auf, die im ‚Miterleben‘ wiederum Nähe zu den „Betrachtern“ herstellt. Die zitierte Passage zeigt, dass interne Fokalisierung oft mit einer Form des szenischen Erzählens zusammenfällt, das die Figuren erst konstruiert, aus deren Sicht dann erzählt werden kann. Eine mit emersiven Erzählstrategien kompatible Integration von interner Fokalisierung ist die Wiedergabe persönlicher Perspektiven durch das Zitieren aus schriftlichen Quellen. Dies ist die vorrangige Art der internen Fokalisierung in Der taumelnde Kontinent. Im folgenden Beispiel verknüpft sie sich mit dem szenischen Erzählen: Nie ist St. Petersburg schöner als an einem klaren, milden Wintermorgen, wenn sich die farbigen Fassaden der Gebäude von der weißen Schneedecke abheben. Der 9. Januar 1905, ein Sonntag, war so ein Morgen. Sergei Julewitsch Witte, ein hochgewachsener Mann von sechsundfünfzig Jahren, stand aus seinem Bett auf und trat ans Fenster seiner großen Wohnung, die einen der elegantesten Boulevards der Stadt überblickte. „Ich sah eine Menschenmenge aus Arbeitern, Intelligentii, Frauen und Kindern, die mit Kirchenbannern, Ikonen und Fahnen den Kamenno-Ostrowski-Prospekt entlangmarschierten“, notierte er später. (TK 151)

Die Passage setzt ein mit einer allgemeinen Betrachtung der Stadt Petersburg, die in ihrer Überzeitlichkeit historische Belegbarkeit umgeht. Mit dem konkreten Datum des 9. Januar 1905 verbindet sich dann eine szenische Wiedergabe, die sich genauer Belegbarkeit entzieht. Das Zitat, welches sich an diese szenische Wiedergabe anschließt, streicht die Wahrnehmung Sergei Julewitsch Wittes heraus und sorgt so für interne Fokalisierung. Anschließend wird auf die schriftliche Quelle verwiesen – das Zitat funktioniert hier immersiv durch das direkte Folgen auf die szenische Beschreibung und wird darauffolgend emersiv verankert.

8.3 Annäherung |

263

Dieses Verfahren kommt in Der taumelnde Kontinent vielfach zum Einsatz, etwa in den unterschiedlichen Frauenporträts, die das Kapitel über die weiblichen Emanzipationsbewegungen illustrieren (vgl. Kapitel „1908: Neue Frauen“ 251-286). Allerdings verläuft die geschickte Kombination immersiven und emersiven Erzählens nicht immer entlang klarer Grenzen von belegbarer Fokalisierung. Dies zeigt sich blitzlichtartig in kurzen Passagen wie der Beschreibung der Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett Le sacre du printemps, welche durch die Verschränkung der Sätze „Skandal! Schon während der Aufführung verließen Menschen den Saal [...]“ beinahe unmerklich die Perspektive des Publikums in einer direkten Gedankenwiedergabe präsentiert, die nicht durch eine Quelle belegt ist. Doch auch längere Textpassagen entziehen sich den Ansprüchen emersiven Erzählens. Wenn in dem Satz „Als Freud 1902 endlich seine Professur erhielt, hatte er bereits jahrelang darauf gewartet“ (TK 95) die Erzählung Freuds Perspektive einnimmt, geschieht dies nicht in direktem Verweis auf eine Quelle. Zwar wird kurz danach Freuds sarkastische Reaktion in einem direkten Zitat wiedergegeben. Der folgende Absatz stützt sich in seiner internen Fokalisierung jedoch nirgendwo auf autorisierende Quellen: „Was Freud besonders erbitterte, war die Tatsache, daß er trotz seiner wissenschaftlichen Verdienste seine Beförderung nur der Protektion einiger vornehmer Patientinnen verdankte“ (TK 95). Der Absatz schließt mit einem Erzählerkommentar: „Obwohl seine Arbeit über das Unbewußte auf den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen [...] beruhte, war seine Gedankenwelt doch auch eine Kreatur ihrer eigenen Umgebung und ihrer Zeit“ (TK 95). Eben jene „Gedankenwelt“ wird direkt darauffolgend beschrieben: Jeder Untertan des Habsburgerreiches hatte etwas von einem Ödipus, der von der überwältigenden Vaterfigur des Kaisers unterdrückt wurde. Jeder Spaziergang durch die Fassaden der Stadt verstärkte die Vorstellung, daß hier ein gefährlicher Unterschied zwischen innen und außen, geheimem und öffentlichem Leben bestand. Jeder Beamte, der mit seiner Bartmode seinem Kaiser nacheiferte, war ein lebendes Beispiel für sublimierte Gefühle, jedes süße Mädel im Prater war Beweis dafür, daß diese Gefühle sich nicht völlig unterdrücken ließen. (TK 95)

Was hier wiedergegeben wird, ist Freuds „Gedankenwelt“ in Form einer indirekten Bewusstseinswiedergabe, die sich einer inhaltlichen Paraphrase dieser „Gedankenwelt“ bedient. Die Passage löst sich aus einem klar Quellen zuweisbaren Zusammenhang, indem die Gedanken, die Freud zugeschrieben werden, so präsentiert werden, als würden sie sich auf Freuds Wahrnehmung (der „Fassaden“, des „Beamten“, des „Mädels“) berufen. Die interne Fokalisierung legitimiert sich hier nicht emersiv, sondern immersiv. Wie in Barthes Die helle Kammer wird die „Gewalt“ dieser Überzeugungsstrategie dadurch abgemildert, dass sie auf der

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emersiv verbürgten Textumgebung aufbaut (vgl. 4.2.2). Zugleich distanziert sich die Erzählinstanz durch stilistische Elemente von der Freud zugeschriebenen Perspektive, indem sie in der Wiederholung „jeder“/“jedes“ auf die generalisierenden und schematisierenden Eigenschaften dieses Denkens verweist. Auch unabhängig von der internen Fokalisierung kommt szenisches Erzählen in Der taumelnde Kontinent vielfach vor (so etwa oft zu Beginn eines Kapitels, vgl. beispielhaft TK 39, 97 ff., 120, 181 und 453). Im Vergleich zum Erzählverfahren in In Europa geht Der taumelnde Kontinent damit weiter im Einsatz immersiver Erzählstrategien. Dies lässt sich an konkreten Beispielen nachvollziehen: Wo in In Europa etwa vom Tod der englischen Königin Viktoria in ihrem (europäischen) Familienkreis durch das Zitieren eines Augenzeugens, durch emersiv legitimiertes intradiegetisches Erzählen also, wiedergegeben wird (vgl. IE-N 44, IE-D 36), wird die Szene in Der taumelnde Kontinent ohne Quellenverweis als kleine Episode inszeniert (TK 39 ff.). An anderer Stelle werden in In Europa die abenteuerlichen Piloten der ersten flugtauglichen Flugzeuge anhand einer Beschreibung von Fotos nähergebracht (IE-N 41, IE-D 34/35) – in Der taumelnde Kontinent tritt einer von ihnen kurzerhand selbst auf: Der Pilot Louis Blèriot wird nicht nur direkt zitiert, sondern auch zum Protagonisten einer kleinen, inszenierten Episode: „Der Pilot nahm seine lederne Fliegerkappe ab und kletterte aus dem Cockpit seiner selbstgebauten Maschine...“ (TK 287). Das Verfahren der Kombination von Szene und Zitat ist dem der Kombination von Foto und inszeniertem Entstehungskontext in der Einführung zu Der taumelnde Kontinent vergleichbar: Die immersive szenische Rekonstruktion dockt sich wiederum an die emersive Glaubwürdigkeit einer Quelle an (vgl. 4.2.1).

8.4 Zusammenfassung In der Analyse von Geert Maks In Europa und Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent nimmt die Studie die Dynamik zwischen Immersion und Emersion im faktualen Erzählen in den Blick. Das faktuale Erzählen rückt dabei als Erzählform neben dem intensiv erforschten fiktionalen Erzählen in den Fokus und wird daraufhin untersucht, inwiefern sich die Dynamik zwischen emersiven und immersiven Erzählverfahren im faktualen Erzählen – auch in Bezug auf das Hervorheben des Illusionscharakters – von der des fiktionalen Erzählens unterscheidet: Immersives Erzählen wird emersiv begründet, dabei steht weniger sein Illusionscharakter als sein emersives Potential im Vordergrund. In Hinblick auf die skizzierten konventionalisierten Signale faktualen Erzählens (vgl. 3.1.3) wird herausgestellt, inwiefern sich die Erzählkonventionen faktualen Erzählens in modernen Geschichtserzählungen verändern: Subjektivierende, immersive

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Erzählstrategien wie Sekundärillusion, intradiegetisches Erzählen, interne Fokalisierung und szenisches Erzählen treten verstärkt auf. In der Analyse von Der taumelnde Kontinent fällt direkt auf, dass immersives Erzählen auch in aktuellen Geschichtserzählungen zu den gängigen Erzählverfahren zählt. Ganz ähnlich den Verfahren der Verschränkung von Immersion und Emersion im fiktionalen Erzählen wird die Erlebnisillusion genutzt, um verschiedene Arten textueller Emersion vorzuführen und dadurch implizit auszustellen: So setzt Der taumelnde Kontinent mit der szenischen Wiedergabe einer Fotoaufnahme ein, die Möglichkeiten, ein dynamisches Geschehen realistisch wiederzugeben, implizit reflektiert. Diese implizite Reflexion wird im Prolog zu einem expliziten metahistoriografischen Kommentar ausgearbeitet, der auseinandersetzt, in welcher Weise in der vorliegenden Geschichtserzählung der Verweis auf die vergangene Wirklichkeit gestaltet werden soll: Die Hervorhebung einzelner Momente soll in der „damaligen Lebenserfahrung“ die Dynamik des beschriebenen Jahrhundertbeginns zugänglich machen. Die Erzählerstimme distanziert sich dafür von der für das historische Erzählen typischen Hervorhebung der retrospektiven Dimension des Erzählens und favorisiert die Simulation eines ‚gleichzeitigen‘ Erzählens, bei dem das Wissen über den Verlauf der historischen Entwicklungen möglichst ausgeblendet werden soll. Dieses Erzählverfahren blockiert die für das historische Erzählen wichtige Einordnung von Ereignissen in Entwicklungsabläufe, die in Narrativen wie etwa dem über Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs organisiert sind und versagt so eine wichtige Orientierungshilfe (vgl. 8.2.1). Wird so einerseits die emersive Einordnung des Erzählten erschwert, erleichtert diese Form des Erzählens andererseits die Erlebnisillusion. So wird letztlich eine Parallelisierung von Vergangenheit und Gegenwart erreicht, indem die Jahrhundertbeginne des zwanzigsten und des einundzwanzigsten Jahrhunderts – unter Ausblendung der zwischenliegenden historischen Entwicklungen inklusive zweier Weltkriege – nebeneinander gestellt werden. Auf diese Weise erzeugt Bloms Text eine Nähe zwischen dem Zeiterleben beider Jahrhundertbeginne und kommuniziert sie durch eine immersive Repräsentation der Zeit um 1900. Geert Maks In Europa hingegen ordnet die Wiedergabe der Jahrhundertwende vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert in die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ein und schreibt so auf die Gegenwart hin, die als Ergebnis dieser Geschichte einen Bezug zur Vergangenheit als ihrer Vorgeschichte herstellt. Nähe wird hier darüber erreicht, dass die erzählte Geschichte als Vorgeschichte Teil der gegenwärtigen Identität wird (vgl. 8.3.2). Sowohl in Bloms Der taumelnde Kontinent als auch in Maks In Europa wird der Status von Geschichtsschreibung zwischen vorgegeben Bedeutungsstrukturen und Möglichkeiten der Bedeutungszuweisung reflektiert. In In Europa soll der Bedeutung, welche die

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großen geschichtlichen Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts auf individueller Ebene hatten, mehr Raum gegeben werden. Der taumelnde Kontinent will die Dynamik des Jahrhundertbeginns wiedergeben, so dass dieser nicht zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs erstarrt. Die Texte weisen eine Spannung zwischen diesen Erzählanliegen und dem Erzählen, das von vorgegebenen Bedeutungsstrukturen – Topoi wie der Pariser Weltausstellung als Beginn des Jahrhunderts – gesteuert ist, auf. Zudem wird deutlich, wie ein Erzählinteresse die Selektion und Repräsentationsart des Wiedergegebenen beeinflussen kann: Auch in der wiedergegebenen Geschichte werden die Differenzen zwischen Individualität und Kollektivität, zwischen Dynamik und Statik hervorgehoben (vgl. 8.2.2). Der taumelnde Kontinent und In Europa zeigen eine erhöhte Sensibilität für ihre Erzählsituation mit den ihr eigenen Beschränkungen. In In Europa tritt der Erzähler selbst prominent in den Vordergrund. Es entsteht eine Sekundärillusion auf extradiegetischer Ebene, die durch die inszenierte Reise demonstrativ ausgestaltet wird: Der Covert Narrator wird zum Overt Narrator und nimmt dadurch emersive objektive Distanz zurück. Das reisende Ich inszeniert sich damit nicht als allwissender Erzählschöpfer, sondern hebt sein Eingebundensein in ein bereits vorhandenes Wissensnetz hervor, das seine Erzählung steuert wie die Verkehrsinfrastruktur seine Reise durch Europa. Der taumelnde Kontinent stellt die dem eigenen Erzählen zugrundeliegenden Selektionsprozesse aus. Beide Texte unterstreichen die Macht von Denkstrukturen, die das menschliche Handeln und Sprechen steuern und unter deren Einfluss sowohl die Produktion von Geschichtserzählungen als auch die erzählte Geschichte selbst stehen (vgl. 8.2.3). In In Europa wird die Akzentuierung der eigenen Erzählsituation in einer Sekundärillusion durch eine Betonung des Räumlichen weiter verstärkt. In der Verquickung der Reise durch den Raum mit einer Zeitreise durch die geschichtliche Zeit wird das Abstraktum der Vergangenheit in einer Erlebnisillusion erfahrbar. Indem die Vogelperspektive auf einen Raum mit dem konkreten Erfassen des Raums im Durchschreiten abgewechselt wird, entsteht ein Geschichtsbild das zwischen Nähe und Distanz, zwischen Erlebnis und informativer Übersicht balanciert. Im Nebeneinander des Raumes wird einerseits die Geschichte bestimmende Linearität der Zeit aufgelöst: Dies ermöglicht dem Erzähler ein homodiegetisches Erzählen. Andererseits ergibt sich durch die Reisebewegung des Erzählers eine neue Linearität, welche die Erzählung organisiert (vgl. 8.3.1). Beiden Geschichtserzählungen gemein ist neben der szenischen Inszenierung von Geschichte, die vor allem in Der taumelnde Kontinent auftaucht, die Ausgestaltung von historischen Personen zu (Erzähl-)Figuren. Einerseits sind damit Zeitund Augenzeugen gemeint, die wie in In Europa auf die Geschichte hin befragt werden können, so zu intradiegetischen Erzählern werden und ihre eigenen Geschichtserfahrungen wiedergeben. Andererseits können historische Personen in

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den Geschichtserzählungen zu Figuren werden, durch deren Innensichten den Lesenden die Geschichte nähergebracht wird. Auf diese Weise machen immersive Erzählstrategien einen Dialog mit den Toten möglich, der in der Lektüre die Referenzillusion verstärkt (vgl. 8.3.3).

9 Die sublime historische Erfahrung: Historisches Erzählen jenseits der Geschichte 9.1 Hinführung: Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten und Peter Verhelsts Zwerm Das letzte Analysekapitel dieser Arbeit rückt in den analysierten Werken, Zwerm: Geschiedenis van de wereld¹ von Peter Verhelst und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten² von Christian Kracht, thematisch an die jüngste Zeitgeschichte heran. Damit ist ein Grad der Annäherung an die Gegenwart erreicht, der sich auch in der Gestaltung der Texte niederschlägt. ‚Nähe‘ ist hier nicht als harmonischer Kontakt zu begreifen, bei dem Vergangenheit und Gegenwart versöhnlich miteinander verfließen. Vielmehr tritt in beiden Texten die Kategorie des ‚Traumas‘ hervor, welches eine schmerzhafte und unfreiwillige Form des Kontaktes darstellt (vgl. 9.3.1). Mit ihm verknüpfen sich in beiden Texten auch die traumatischen Weltkriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts. Im letzten der vier Analyseschritte, dem jüngsten Teil der behandelten Geschichte, ist die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart eine Katastrophe, die keine Ordnung mehr zulässt, nicht einmal die Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In einem unentwirrbaren Chaos scheint alles miteinander verbunden. Kein hoffnungsvoller Blick auf die Zukunft ist mehr möglich, Utopien erweisen sich als sinnlos oder unglaubwürdig. Die Medien, welche die Vergangenheit in der Gegenwart wachhalten, stören und kontrollieren, anstatt zu informieren (vgl. 9.2.3). Die Konstruktion von Geschichtserzählungen erweist sich im Chaos dieser Textwelt als beinahe unmögliches, aber nötiges Unterfangen. Die Vergangenheit muss aus der Gegenwart herausgetrennt werden, auch wenn dieser Prozess der Ablösung so schmerzhaft ist wie die Entfernung eines Messers aus der Wunde. In Verhelsts Zwerm sorgt eine ‚virale‘ Geschichtsphilosophie dafür, dass man sich nicht von der Vergangenheit lösen kann. Das Virus lässt keine Metaphern, keine Vergleiche, kein ‚ist gleich‘ und damit keine Repräsentation zu. Als ständig mutierendes Gebilde hat es keinen greifbaren Kern. Die in Zwerm dargestellten Computerviren etwa sind dem Virus nicht vergleichbar wie die Übertragung des

1 Peter Verhelst, Zwerm. Geschiedenis van de wereld [„Schwarm: Geschichte der Welt“], Amsterdam 2005, S. 620. Im Folgenden abgekürzt als „ZW“. 2 Christian Kracht, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, Köln 2008. Auch in niederländischer Übersetzung erschienen: Christian Kracht, Ik zal hier zijn bij zonneschijn en schaduw, übersetzt von Hans Hom, Amsterdam 2010. Der deutsche Originaltext wird im Folgenden unter der Abkürzung „IWHS“ geführt.

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medizinischen Begriffes in die Informatik suggeriert. Vielmehr wütet das Virus in der konkreten Verknüpfung von organischem und anorganischem Material, dem Biocomputer, in ganz unübertragenem Sinn in der Elektronik. Ebenso ist die Vergangenheit nicht indirekt, durch Worte und Erzählungen, die Vergleichswerte für das Geschehene zu finden suchen, sondern direkt, in Form des Virus in der Gegenwart anwesend. Die Erzählung sperrt sich gegen Figuren der Übertragung, gegen (sprachliche) Indirektheit und erprobt im mutierenden Virus eine Form des ‚direkten‘ Kontakts. Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten inszeniert die Flucht aus einer zerstörten Welt, allerdings ist diese Welt eine entstellt unerkennbare, die durch eine kontrafaktische Geschichte von der uns bekannten Geschichte abgetrennt ist (vgl. 9.3.1). Das kontrafaktische Erzählen von Geschichte spielt einen anderen Geschichtsverlauf durch, der – obwohl er ohne die beiden uns bekannten grausamen Weltkriege auskommt – wenn möglich noch traumatischer ist und in einem noch größeren Krieg endet als der belegte Verlauf der westlichen Geschichte im 20. Jahrhundert. Das kontrafaktische Erzählen verweist im regelhaften Abweichen vom bekannten Geschichtsverlauf auf die Interdependenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und zeigt auf, dass jedes einzelne vergangene Ereignis in dem Sinne in der Gegenwart anwesend ist, als auch die kleinste Veränderung in der Vergangenheit eine Veränderung in der Gegenwart beziehungsweise Zukunft hervorrufen würde. Die beiden Texte Verhelsts und Krachts lassen sich aufgrund der Verquickung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit dem Label der ‚sublimen historischen Erfahrung‘ versehen, das im Zuge postmodernen Referenzbegehrens zu einem wichtigen geschichtstheoretischen Konzept wurde. Die sublime historische Erfahrung bezeichnet eine Grenzüberschreitung, bei der die gängigen Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben werden (vgl. 9.3.1). Zurückgehend auf den Historiker Johan Huizinga behauptet der niederländische Geschichtstheoretiker Frank Ankersmit unter Verwendung dieses Konzepts die Möglichkeit eines direkten Kontaktes mit der Geschichte.³ Bart Vervaeck überträgt diese geschichtstheoretische Idee, die erkenntnistheoretische Konzepte durch den Begriff der Erfahrung zu umschiffen sucht, auf die Betrachtung von historisch erzählender Literatur.⁴ Er spricht von einer „Korrespondenz“ zwischen bestimmten (narrativen) Phänomenen in der Literatur und den von Ankersmit entwickelten geschichtstheoretischen Kategorien.⁵ Literarische Texte

3 Frank R. Ankersmit, De sublieme historische ervaring, S. 71–72. 4 B. Vervaeck, Werken aan de toekomst, S. 34–39. 5 B. Vervaeck, Werken aan de toekomst, S. 20.

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drücken laut Vervaeck bestimmte historische Erfahrungen aus, die sich anhand von Ankersmits Geschichtstheorie kategorisieren lassen. Ankersmits unterteilt die „historische Erfahrung“ in eine objektive, eine subjektive und eine sublime historische Erfahrung. Diese Einteilung lässt sich an Ankersmits Modell der drei Sinnbildungsebenen der Geschichtsschreibung erläutern.⁶ Die erste Sinnbildungsebene nach Ankersmit entspricht einem Verständnis von Geschichtsschreibung, das auf einer Beschreibung der Wirklichkeit, also einem mehr oder weniger direkt bestimmbaren Wirklichkeitsbezug, beruht. Die Vergangenheit ist objektiv erschließbar. Die zweite Sinnbildungsebene stimmt mit dem Konzept der Repräsentation überein, bei dem Referenz und Prädikation nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, und die Organisation des Textes selbst und nicht sein Bezug zur Wirklichkeit zum Orientierungspunkt wird. Historikerinnen und Historiker sind sich darüber im Klaren, dass die Geschichte anhand der Begriffe entsteht, die sie bildet. Auf diese beiden Ebenen sattelt Ankersmit noch eine dritte Ebene, die als von ihm erarbeitetes Konzept das poststrukturalistische Sprachgefängnis des 20. Jahrhunderts sprengen soll: die sublime historische Erfahrung. Laut Ankersmit können sich Historikerinnen und Historiker nicht damit abfinden, dass im Zuge der poststrukturalistischen Sprachphilosophie das Repräsentierte gänzlich ausgeschaltet wird.⁷ In der historischen Erfahrung ist ein direkter, übersprachlicher Zugang zur Vergangenheit möglich, der analog zur ästhetischen Erfahrung eines Kunstwerks funktioniert. Diese Erfahrung kann sprachlich nicht vermittelt werden, sie ist jedoch die Grundlage der historischen Praxis und der Paradigmen, unter denen diese sich vollzieht.⁸ Vervaeck nun überträgt dieses Dreistufenmodell Ankersmits auf die Literatur, indem er historische Romane als ein-, zwei- oder mehrdimensional beschreibt. Beim eindimensionalen historischen Roman gibt es nur eine Zeitschicht, nämlich die Vergangenheit, welche scheinbar objektiv dargestellt wird: Wie in der traditionellen historischen Erzählung tauchen keine Hinweise auf die Erzählinstanz und die gegenwärtige Perspektive, aus der erzählt wird, auf (objektive historische Erfahrung).⁹ Im zweidimensionalen historischen Roman wird die Erzählung der Vergangenheit eingebettet in eine erzählerische Gegenwart, die mehr oder weniger deutlich von der Vergangenheit getrennt werden kann (z.B. dadurch, dass

6 Frank R. Ankersmit, Die drei Sinnbildungsebenen der Geschichtsschreibung. In: Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, hg. von Klaus E. Müller, Hamburg 1997, S. 98–117. 7 F.R. Ankersmit, Die drei Sinnbildungsebenen der Geschichtsschreibung, S. 106–107. 8 F.R. Ankersmit, Die drei Sinnbildungsebenen der Geschichtsschreibung, S. 109–115. 9 Diese Art des historischen Erzählens in der Literatur entspricht dem klassischen historischen Erzählen, wie es Barthes in „Die Historie und ihr Diskurs“ beschreibt.

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der Geschichte schreibende Erzähler selbst als Figur im Roman auftritt). Diese Verfahrensweise markiert, dass es sich bei der erzählten Vergangenheit nur um eine subjektive, sprachlich vermittelte Wahrnehmung handelt (subjektive historische Erfahrung). Im mehrdimensionalen historischen Roman werden mehrere Zeitschichten kombiniert, die sich zudem gegenseitig durchdringen. Je größer die Vermengung der Zeitschichten ist, desto kleiner wird der Glaube an eine rekonstruierbare Vergangenheit. Die Geschichte wird zu einer Aufstapelung nicht klar abgrenzbarer Schichten, die nur in der Projektion der Betrachtenden einen Sinn ergeben. Erfahren wird nicht das Jetzt oder das Damals, sondern der Zwischenraum zwischen allen möglichen Zeitschichten (sublime historische Erfahrung). Die Geschichte wird zu einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einholenden Überschwemmung wie in Ich werde hier sein und Zwerm.¹⁰ Peter Verhelst ist in Flandern als experimenteller Lyriker und Romancier bekannt. Er publiziert seit den frühen Achtzigerjahren sowohl Poesie als auch Prosa und erlebte mit dem Roman Tongkat (1999)¹¹ seinen Durchbruch als Romanautor. In diesem Roman schwingt schon eine Untergangsstimmung mit, die auch den Roman Zwerm kennzeichnet. Der Roman Zwerm, der nicht auf eine kohärente Handlung abzielt, verknüpft das Grauen der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg mit dem Schrecken des Terrors der Gegenwart. Ein Guerillakrieg tobt zwischen Geheimdiensten, die hemmlungslos biologische und chemische Waffen einsetzen. Der doppelgesichtige ‚Herr H‘ beziehungsweise ‚Herr J‘ (die Initialen lassen sich frei mit den größten Gegensätzen wie ‚Hitler‘ und ‚Judentum‘ assoziieren) entpuppt sich schließlich als großer Strippenzieher hinter dem Geschehen – er wird als Holocaustüberlebender angetrieben von der Rache an den Tätern, denen gegenüber er vor keinem Mittel zurückschreckt und damit auch die von Naziärzten in Konzentrationslagern (im Roman treten die Nachfahren des KZ-Arztes Mengele auf) durchgeführten Menschenexperimente weiterführt. Verschiedenste Verschwörungstheorien können auf diese Art und Weise angedeutet werden. Auch die Geheimdienste der verschiedenen Staaten wie Israel oder die USA versuchen ihre Macht auszuüben und ersetzen den Kalten Krieg mit einem Kampf gegen den Terror, in dem alle Mittel erlaubt sind. Gegen diesen übermächtigen, undefinierbaren Gegner steht eine Gruppe Coming-of-Age-Figuren, die sich am Rande der Gesellschaft befinden: die magisch begabte Klavierspielerin Pearl, der Obdachlose Angel, das fahrradfahrende Mädchen Kimpoek, der Montagespezialist Rimbaud und das Computergenie Abel. Greifbarer Gegner ist der verhasste ‚Bürgermeister‘, welcher gewaltsam

10 B. Vervaeck, Werken aan de toekomst, S. 36–39. 11 Peter Verhelst, Tongkat. Een verhalenbordeel, Amsterdam 1999.

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die Ruhe bewahren möchte, auch wenn sich überall Zeichen des Verfalls (Infektionswellen, Übergriffe, Verschwinden von Obdachlosen) zeigen. Unterbrochen wird dieser chaotische Kriegszustand immer wieder von der typografisch abgehobenen Erzählstimme eines Vietnamsoldaten, der von seinen traumatischen Kriegserfahrungen erzählt: Er wurde selbst als ‚Virusbombe‘ eingesetzt, welche die lokale Bevölkerung durch Infektion besiegen sollte. Der Vietnamsoldat fällt schließlich mit der Figur des ‚Angel‘ zusammen. Der Roman endet in dem stark an das World Trade Center erinnernden ‚Silberfarbenen Komplex‘, in dem eine Orgie ungekannten Ausmaßes stattfindet, bei dem Menschen mit kleinen biologischen Computern infiziert werden. Diese sagenhafte Katastrophe wird in die Beschreibung der historischen Ereignisse von 9/11 übergeleitet, die sie somit als Inspiration für die schreckliche Fantasiewelt des Romans markiert. Sie werden damit, obwohl sie zu Ende geschildert werden, zum Ausgangspunkt, zum „Beginn“ (ZW -6) des Romans. Folgerichtig zählt der Roman rückwärts von Seite 666 bis Seite 0, woraufhin die 9/11-Seiten auf sechs „Minusseiten“ angeschlossen werden. Das historische Ereignis der Zerstörung der Twin Towers in New York wird damit zur Legitimation einer radikalen Umdeutung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft. In der Literaturkritik wird diese wilde Mischung aus Figuren, Themen, Verschwörungstheorien, historischen Daten (vor allem des 20. Jahrhunderts), intermedialen Verweisen und philosophischen Versatzstücken ambivalent bewertet, was typisch für die Reaktion auf den „Priester-Dichter“¹² Verhelst ist.¹³ Während einige Rezensierende die komplexe Struktur Zwerm loben,¹⁴ finden andere den

12 „priester-dichter“, Jeroen Overstijns, Geniale vervreemdende vorm. In: De Tijd, 10. September 2012, LexisNexis, Web, 6. Juni 2012. 13 Zusätzlich zu dieser ambivalenten Einordnung Verhelsts spielt auch die Reaktion der Literaturkritik in den Niederlanden im Gegensatz zu Flandern eine Rolle. Ihr wird immer wieder eine grundsätzlich andere Einordnung dieses flämischen Schriftstellers unterstellt: Bert Bultinck weist darauf hin, dass der Grachtengürtel (gemeint sind die Intellektuellen Amsterdams) nicht hingerissen ist von Verhelsts megalomanem Eifer, vgl. Bert Bultinck, Een storm in een glas water. In: De Morgen, 5. Oktober 2005, LexisNexis, Web, 6. Juni 2012. 14 Jan Bettens spricht von „einer neuen Art von Fiktion, die seinen [Verhelsts] realistischen Visionen eine perfekte Form gibt“ („een nieuw soort fictie, dat zijn realistische visioenen perfect vormgeeft“), vgl. Jan Bettens, Zwerm: Geschiedenis van de wereld. In: De Leeswolf, 7, April 2006, LexisNexis, Web, 6. Juni 2012. Thomas van den Berg nennt Zwerm ein „in jeder Hinsicht extremes Buch“, seiner Meinung nach „weckt der monomane Eifer, mit dem dieser Schriftsteller seine Themen immer wieder vertieft, Bewunderung“ (een „in alle opzichten extreem boek“/“...wekt de monomane ijver waarmee deze schrijver zijn thema’s blijft uitdiepen bewondering“), vgl. Thomas van den Bergh, Een kilo meer. In: Elsevier, 17. September 2005, LexisNexis, Web, 6. Juni 2012. Für Jeroen Overstijns ist das Buch „mindestens bahnbrechend und in mancherlei Hinsicht

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Roman prätentiös.¹⁵ Einig sind sich die Rezensentinnen und Rezensenten darin, dass in Zwerm die Macht von Bildern in verschiedener Form, wie etwa in der literarischen Nachahmung des Films, thematisiert wird.¹⁶ Zudem wird dem Roman

auch genial“ („minstens baanbrekend en in sommige opzichten ook geniaal“), er vergleicht es mit Libeskinds Gebäude für das Jüdische Museum in Berlin, das oft unverstanden bliebe, vgl. J Overstijns, Geniale vervreemdende vorm. 15 Filip Rogiers deutet eine Widersprüchlichkeit zwischen Verhelsts Bedürfnis nach einer großen Erzählung und dem Prinzip des „schön gestörten Googelns“, („prettig gestoord googelen“) das dem Buch zugrunde liege, an, vgl. Filip Rogiers, Alles is besmet. In: De Morgen, 31. August 2005, LexisNexis, Web, 6. Juni 2012. Arie Storm nennt den Untertitel des Romans, „Geschichte der Welt“ „prätentiös“ und spricht von Verhelsts „Anstellerei“ („pretentieus“/“aanstellerij“), vgl. Arie Storm, Talent of oplichter? In: Het parool, 15. September 2005, LexisNexis, Web, 6. Juni 2012. Bultinck beurteilt den Roman stellenweise als „pubertär“ und insgesamt als ermüdend: „[I]n Zwerm wird der Exzess auf allen Ebenen (Plot, Figuren, Gewalt, Erotik, Metaphorik, Apokalyptik) so lang und so explizit ausgedehnt, dass das Einzige, das nach den ersten paar Hundert Seiten noch droht, nichts anderes als die Langeweile ist“(„[I]n Zwerm wordt het exces op alle vlakken (plot, personages, geweld, erotiek, metaforiek, apocalyptiek) zo lang en zo expliciet opgerekt dat het enige wat na de eerste paar honderd pagina’s nog dreigt niets anders dan de verveling zelf is“.), vgl. B. Bultinck, Een storm in een glas water. Arjan Peters zufolge kommt Verhelsts Sprache an seine Ambition, eine neue Ausdrucksform für eine neue Zeit zu finden, nicht heran und lässt sich einreihen in das typisch moderne Formexperiment, vgl. Arjan Peters, Is het aftellen begonnen? In: De Volkskrant, 16. September 2005, LexisNexis, Web, 6. Juni 2012. 16 Arjen Fortuin spricht davon, dass Verhelsts Sprache in Zwerm so „kahl wie die eines Filmskripts“ sei („kaal als die van een filmscript“). Allerdings sei undeutlich, was „die Kakophonie an Bildern (in der sich schöne Funde und muffige Klischees abwechseln) und Eindrücke genau ausdrücken soll“ („die kakofonie aan beelden (waarin mooie vondsten en muffe cliches elkaar afwisselen) en indrukken precies wil zeggen“), vgl. Arjen Fortuin, Zet nooit de motor af. Peter Verhelst neemt een aanloop naar de Apocalyps. In: NRC Handelsblad, 9. September 2005, LexisNexis, Web, 6. Juni 2012. Van den Bergh liest den Roman als „Kommentar auf die Bildkultur“ („commentaar op de beeldcultuur“), vgl. T. van den Bergh, Een kilo meer. Laut Rob Schouten bedient sich der Roman „Pixeln, der modernen Ikone des Verfalls“ („Pixels, het hedendaagse icoon van vergruizeling“), um den „Einfluss von Fernsehbildern und Internetinformation“ („invloed van televisiebeelden en internetinformatie“) zu verdeutlichen, vgl. Rob Schouten, Groots, ambitieus – maar saai. Een allesomvattende roman van Peter Verhelst. In: Trouw, 24. September 2005, LexisNexis, Web, 6. Juni 2012. Bultinck charakterisiert Zwerm als einen „Virus von bekannten, aber wuchernden Bildern“ („virus van bekende, maar woekerende beelden“), vgl. B. Bultinck, Een storm in een glas water. Bettens vergleicht die kurzen, kräftigen Prosafragmente, aus denen der Roman bestehe, mit „Pixeln eines allesumfassenden Bildes, das nie klar und geräuschlos wird“ („pixels van een allesomvattend beeld dat nooit helder en ruisloos wordt“), vgl. J. Bettens, Zwerm. Geschiedenis van de wereld.

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recht einstimmig die Betonung von Ängsten vor Terror, Biokrieg oder ständiger Überwachung, welche die Gegenwart bestimmen, attestiert.¹⁷ Zwerm als umfangreichem Romanprojekt auf 666 + 10 Seiten steht mit Krachts Ich werde hier sein zunächst einmal ein schlankes Büchlein gegenüber, das keine Gemeinsamkeiten vermuten lässt. Mit Ich werde hier sein legte Christian Kracht einen historischen Roman vor, dem 2012 der historische Roman Imperium¹⁸ folgte.¹⁹ In dem kurzen Werk Ich werde hier sein wird die Weltgeschichte dergestalt auf den Kopf gestellt, dass die Schweiz zur sozialistischen Weltmacht aufsteigt, weil Lenin durch einen fiktionalen Kunstgriff die Schweiz im Ersten Weltkrieg nicht verlässt. Dies muss allerdings mit einem Krieg erkauft werden, der bis in die Gegenwart des Romans (zeitlich ungefähr übereinstimmend mit der Gegenwart seines Erscheinens im Jahr 2008) reicht. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive eines von den Schweizern rekrutierten afrikanischen Soldaten, der in das Zentrum der Macht, das in den ausgehöhlten Alpen gelegene Réduit, vordringt, nur um dort festzustellen, dass das Schweizer Reich von innen her zerfällt.²⁰ In einer Fluchtbewegung begibt sich der Erzähler daraufhin in seine afrikanische Heimat zurück und hofft auf das utopische Ende des Weltkrieges. Als wichtige Nebenfiguren treten Oberst Brazhinsky und der Engel Uriel auf, die dem Ich-Erzähler die Aussichtlosigkeit seiner Lage bewusst machen.

17 Exemplarisch sei hier Overstijns zitiert, der den Roman Zwerm als Mittel sieht, Verhelsts „Empfinden der modernen Welt darzustellen: das Chaos des Terrorismus zum Beispiel, die ganz neue Art der Erreichbarkeit und Kommunikation, die das Internet geschaffen hat, die Ängste, die es mit sich bringt, wenn man nach 9/11 und 7/7 die Metro nimmt, in einer Welt zu leben, die einen neuen Weg sucht“ (Verhelsts „aanvoelen van de moderne wereld te verbeelden: de chaos van het terrorisme bijvoorbeeld, de hele nieuwe manier van bereikbaarheid en communicatie die het internet gecreëeerd heeft, de angsten die het met zich meebrengt om na 9/11 en 7/7 de metro te nemen, in een wereld te leven die een nieuwe weg zoekt“.), vgl. J. Overstijns, Geniale vervreemdende vorm. 18 Christian Kracht, Imperium, Köln 2012. Wie die in dieser Studie besprochenen Romane Schutzgebiet und Tinpest widmet sich Krachts Roman der kolonialen Geschichte. Robin Hauenstein bespricht Imperium als postmoderne historische Fiktion zwischen kolonialem und postkolonialem Diskurs: Robin Hauenstein, Historiographische Metafiktionen. Ransmayr, Sebald, Kracht, Beyer, Würzburg 2014, S. 120–151. 19 Zuvor griff er in seinem Roman 1979 mit der islamischen Revolution im Iran schon ein historisches Ereignis der jüngsten Geschichte auf. Christian Kracht, 1979, Köln 2001. 20 Eva Behrendt verweist auf die Parallele zu Joseph Conrads Roman Heart of dearkness, wobei Ich werde hier sein mit dem afrikanischen Ich-Erzähler wiederum eine der kontrafaktischen Schreibweise entsprechenden Verschiebung vornimmt: Eva Behrendt, Gewaltig west es im Berg. Christian Krachts sozialistischer Schweiz-Apokalypse fehlt das Kichern. In: Frankfurter Rundschau, 23. September 2008, Web, 10. März 2012.

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In der Rezeption der beiden Romane fallen Ähnlichkeiten der auf den ersten Blick so unterschiedlichen Texte auf: Beide Romane entzögen sich einer Lektüre, die den Text erschließen, den „Code knacken“ wolle.²¹ Die Konstruktion einer überzeugenden Handlung sei nebensächlich, während der Stil beziehungsweise die Form des Textes in den Vordergrund trete.²² Beide Texte werden also, wenn sie gewürdigt werden, als formal experimentell gelobt. Neben dieser Übereinkunft auf formaler Ebene, die, wie gezeigt werden soll, in beiden Romanen sehr unterschiedlich ausgestaltet ist, zeigen sich in der Literaturkritik Hinweise in Bezug auf vergleichbare Elemente in der Art und Weise, Geschichte zu verarbeiten. Dietmar Dath verweist in Bezug auf Krachts „historischen Roman“ explizit auf das Genre der „Phantastik“,²³ ohne das man keinen Zugang zum Text finden könne.²⁴ Auch in Bezug auf Zwerm hebt etwa Rezensent Arjan Peters die Rolle von Zukunftsbildern hervor und spricht (wenn auch eher abfällig) von „Science Fiction“.²⁵ Dies weist auf ein grundlegendes Verfahren hin, das beide Texte gemeinsam haben: die Verquickung von Versatzstücken aus der Vergangenheit mit bedrohlichen Zukunftsvisionen, welche beiden Texten schnell den Vorwurf einhandelt, sie seien nicht ernst zu nehmen. Beide Romane fröhnen somit einer Zerstörungswut, die sich auf gefestigte Geschichtsbilder bezieht.²⁶ Zusammenhänge werden aufgelöst wie in Zwerm oder verflacht wie in Ich werde hier sein, so dass die prä-

21 Vgl. z.B. in Bezug auf Zwerm A. Fortuin, Zet nooit de motor af. 22 „Wenn es noch irgendjemanden gibt, der Literatur um des Stils und nicht um der Information willen liest, aus purer Freude an der Wirkung von Sätzen, Rhythmen und Adjektiven, hier findet er seinen Text“ ruft etwa der Rezensent Gustav Seibt in Bezug auf Ich werde hier sein aus, vgl. Gustav Seibt, Die Sowjetrepublik von Schweizerisch-Salzburg. Totalitarismus-Nippes im schönsten, elegantesten Deutsch, das derzeit zu lesen ist: Christian Krachts neuer Roman. In: Süddeutsche Zeitung, 20. September 2008, Süddeutsche Zeitung Archiv, Web, 10. März 2012. 23 Dietmar Dath, Ein schöner Albtraum ist sich selbst genug. Christian Krachts Antihistorienspiel ‚Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten‘. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Oktober 2008, Web, 10. März 2012. 24 Damit relativiert er Reaktionen auf den Text wie die Roman Buchelis, der Ich werde hier sein auf das Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz in der Gegenwart zu beziehen versucht: Roman Bucheli, Frodo bei den Helvetiern. Christian Kracht verwandelt die Schweiz in eine düster-dekadente Sowjetrepublik. In: Neue Zürcher Zeitung, 13. Oktober 2008, Web, 10. März 2012. Auch Dieter Hildebrandt findet keinen Zugang zu dem Text und fragt sich, „ob uns ein ebenso zynischer wie virtuoser Prosaist vorführen will, wie man schreibt, wenn man die Welt mal kurz aus den Angeln gehoben hat und dann nicht mehr mit ihr spielen will“, Dieter Hildebrandt, Stahlgewitter für die VIP-Lounge. Christian Krachts quicker Untergang des Abendlandes. In: Die Zeit. 16. Oktober 2008, Web, 10. März 2012. 25 Vgl. A. Peters, Is het aftellen begonnen? 26 Vgl. B. Bultinck, Een storm in een glas water. Vgl. auch D. Dath, Ein schöner Alptraum ist sich selbst genug.

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sentierte Geschichte eher ‚getötet‘ denn verlebendigt wird – sie tritt höchstens wie in Zwerm in viraler (also lebloser) Form in Erscheinung. Auch Wiebke Porombkas Beobachtung in Bezug auf Ich werde hier sein lässt sich ohne weiteres auf Zwerm übertragen: Wo die Darstellung oberflächlich beziehungsweise zusammenhanglos wird, kommt dem Rausch eine kompensatorische Rolle zu, der nicht vorhandene Zusammenhänge künstlich herstellt.²⁷ In der Rezeption beider Romane wird deutlich, welche Rolle die Referenzillusion im Sinne der Suggestion von Beziehbarkeit eines Textes auf ‚unserere‘ Wirklichkeit für Diskussionen um die ethische Dimension der Romane spielt. Während Zwerm trotz seiner Eindeutigkeit zurückweisenden Form oft als Kritik etwa an der Rolle der Medien in der Gegenwart (zum Beispiel als Überwachungssysteme nach 9/11) gelesen und damit zumindest indirekt auf die Wirklichkeit bezogen wird, taucht in Bezug auf Ich werde hier sein zunächst einmal die Frage auf, ob der Text auf die Wirklichkeit bezogen werden kann und welche Wertungen sich damit verbinden könnten. „[H]insichtlich einer Ironie im Sinne einer Selbstreflexivität in Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten [ist] an dieser Stelle wenig zu sagen“,²⁸ stellt Ingo Vogler diesbezüglich fest. Inga Ketels hingegen betont das „Moment des Politischen, das den Bruch mit dem System markiert und so den Weg weist zu einer möglichen Emanzipation“,²⁹ sie liest den Roman als Kritik an der Gegenwart: „[D]urch die literarische Ausgestaltung von Zwangs- und Überwachungssystemen [wird] warnend aufgezeigt, welche Konsequenzen einige Entwicklungen der Gegenwart, wie etwa die derzeitige Überbetonung der Sicherheit gegenüber der Freiheit [...] haben können.“³⁰ Auch Julian Reidy hebt die ethische Komponente für das gesamte Schreiben Krachts hervor, sieht diese in Ich werde hier sein aber gerade in der Selbstreflexivität des Textes verwirklicht, die er als Metakritik an der Geschichts-

27 Vgl. Wiebke Porombka, Christian Krachts neues Werk. In: TAZ, 20. September 2008, Web, 10. März 2012. 28 Ingo Vogler, Die Ästhetisierung des Realitätsbezugs. Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zwischen Realität und Fiktion. In: Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen der Postmoderne?, hg. von Birgitta Krumrey, Ingo Vogler und Katharina Derlin, Heidelberg 2014, S. 173. 29 Inga Ketels, Der Einzug des Politischen in die Gegenwartsliteratur. Imaginierte Alternativen als Neuverhandlung von Möglichkeitsräumen bei Christian Kracht, Juli Zeh und Dorothee Elminter. In: Imagining Alternatives. Utopias – Dystopias – Heterotopias, hg. von Gillian Pye und Sabine Strümper-Krobb, Special Issuie of the Yearbook of the German Studies Association of Ireland 9 (2014), S. 112. 30 I. Ketels, S. 120.

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schreibung wahrnimmt.³¹ Einen ähnliche Interpretationsrichtung, die gerade in der Erschwerung eines deutlichen Wirklichkeitsbezugs durch Selbstreflexivität, Ironie und einen unernsten Umgang mit Zeichen eine Metaebene identifiziert, die über einen Umweg eine Entsprechung von Text und Wirklichkeit mit kritischen Unterton wieder ermöglicht, schlägt Moritz Baßler ein. Im Baßlerischen Deutungskosmos besteht die Leistung von Ich werde hier sein gerade darin, dass es „schwere Zeichen“ wie die Apokalypse oder „Auschwitz“ (die bei Baßler ausschließlich semiotisch-erzähltheoretisch als Beglaubigunsstrategien für einfach strukturierte Erzählwelten definiert werden) so in ihr Erzähluniversum zu integrieren weiß, dass sie als „absolute Bezugspunkte“ relativiert werden.³² Auf einer Metaebene sieht Baßler gerade in dieser Relativierung eine Entsprechung mit den „medialen Paralogien der Jetztzeit“.³³ Ganz im Gegensatz dazu sträubt sich Jan Süselbeck gegen die Aufgabe absoluter Bezugspunkte in der Lektüre von Krachts Werken. Er wundert sich, wie „unkritisch“ die Literaturkritik über „die [...] bei Kracht seit Anbeginn auffällige Koketterie mit der Faszinationskraft des Totalitären, Militärischen und der Gewalt“³⁴ schreibt. Für Süselbeck werden durch die „verwirrende Vielfältigkeit“³⁵ von Krachts Erzählwelten zweifelhafte Elemente wie „die übliche Verschwörungstheorie von Holocaust-Leugnern“³⁶ nicht wahr- beziehungsweise ernstgenommen. Aus der Perspektive dieser Studie zeigt sich in dieser widersprüchlichen Rezeption von Kracht und Ich werde hier sein wiederum das Paradox, dass, je stringenter die Organisation einer Erzählung ist, sie desto eher ein ‚totalitäres‘, weil alle Elemente in ein Ganzes unterordnendes Prinzip in die eigene Struktur inkorporiert, welches zugleich zumindest auf thematischer Ebene auf kritischer Distanz gehalten werden soll (vgl. 6.3.2, 6.3.3 und 7.2.1). Sowohl Ich werde hier sein als auch Zwerm flirten nicht nur auf thematischer Ebene in Militarismus oder

31 Julian Reidy, Sonnenschein oder Schatten? Zur Entwicklung ethischer Reflexion in Christian Krachts Faserland, 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. In: Glossen 37 (2013), Web, 15. Januar 2014. 32 Moritz Baßler, ‚Have a nice apocalypse!‘ Parahistorisches Erzählen bei Christian Kracht. In: Utopie und Apokalypse in der Moderne, hg. von Reto Sorg und Stefan Bodo Würffel, München 2010, S. 257–272. 33 M. Baßler, ‚Have a nice Apocalypse!‘, S. 272. 34 Jan Süselbeck, „‚Ich komme nur ganz kurz hierher‘. Emotionale Strategien der ‚filmischen‘ Schnitt- und Überwältigungsästhetik in Christian Krachts Kriegsroman ‚Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten‘ (2008). In: Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, hg. von Søren R. Fauth, Kasper Green Krejberg und Jan Süselbeck, Göttingen 2012, S. 237. 35 J. Süselbeck, S. 252, 36 J. Süselbeck, S. 251.

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Gewaltexzessen, sondern auch auf formaler Ebene etwa durch Pathos und suggestive Bilder mit diesem Totalitären, so dass oft nicht mehr deutlich ist, ob hier etwas praktiziert oder vorgeführt wird. Diese immersive Verstörung zieht wiederum eine emersive Störung nach sich, da weiterhin unklar ist, ob und in welcher Form sich die Texte gegenüber der Wirklichkeit positionieren.

9.2 Distanzierung 9.2.1 Kontrafaktische Geschichtsschreibung „Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind, von den gelegentlich erwähnten Personen des öffentlichen Lebens abgesehen, frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen ist unbeabsichtigt“ (IWHS 7). Diese Bemerkung zu Beginn von Ich werde hier sein soll den Roman aus jedem faktualen Zusammenhang rücken und verweist auf eine rein fiktionale Erzählung. In der Tat fällt es schwer, das im Roman Erzählte mit bekanntem Weltwissen in Einklang zu bringen. Dennoch wird während der Lektüre des Romans schnell deutlich, dass die Erzählung wesentlich auf – indirekten - Verweisen auf eine belegte, vergangene Wirklichkeit basiert. Diese Indirektheit wird durch das Erzählverfahren des kontrafaktischen Erzählens erreicht, in dem sich das ‚frei Erfundene‘ in einer „Ästhetisierung des Realitätsbezugs“³⁷ auf besondere Weise auf vorgegebenes, bekanntes Faktenwissen stützt. Eine Analyse des kontrafaktischen Erzählens in Ich werde hier sein soll herausarbeiten, wie es in einer doppelten Bewegung durch das Abweichen von bekannten faktualen Narrativen eben diese bestätigt. Dabei zeigt das kontrafaktische Erzählen als Negativfolie zugleich Zusammenhänge von Immersion und Emersion auf. ‚Kontrafaktische Geschichtsschreibung‘ kann als spezielle Form des historischen Revisionismus betrachtet werden.³⁸ Das auch „uchronisch“ genannte kontrafaktische Erzählen kennzeichnet sich dadurch, dass es von belegtem his-

37 I. Vogler, S. 161–178. 38 „Revisionismus“ ist vielfach und auf unterschiedliche Weise definiert worden. Harold Bloom ordnet den Revisionismus im Rahmen seiner „anxiety of influence“-Theorie psychoanalytisch als Teil des Konflikts zwischen (Dichter-)Sohn und (Dichter-)Vater ein, während dessen sich der Dichter von seinem Vorbild und Mentor klar abzusetzen versucht, vgl. Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York/Oxford 1973. Vgl. auch Harold Bloom, Agon. Towards a Theory of Revisionism, New York/Oxford 1982. An marxistische Theoriebildung anschließend wurde der Begriff des „Revisionismus“ nach dem Ende des Sozialismus in den Neunzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts auch in der Geschichtswissenschaft für eine Revidierung traditioneller Sichtweisen auf bekannte geschichtliche Ereignisse verwendet, vgl.

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torischen Wissen, den ‚Fakten‘ abweicht.³⁹ Christian Krachts Ich werde hier sein ist in diesem Sinne ein Paradebeispiel für kontrafaktische Geschichtsschreibung.⁴⁰ Der Text konstituiert zunächst indirekt eine andere, frühere Zeit, die aufgrund von schwer spezifizierbaren Elementen wie dem „grauwollene[n] Nachthemd“ (IWHS 11) des Protagonisten nur vage assoziiert werden kann.⁴¹ Das kontrafaktische Erzählen intensiviert im weiteren Verlauf der Erzählung den so geweckten Eindruck einer ‚anderen Zeit‘ auf eine befremdende Weise: Die Andersartigkeit der beschriebenen Vergangenheit (im Vergleich zur Gegenwart) verstärkt sich in dem Sinne, als dass sie sich nicht in bekannte geschichtliche Verläufe einordnen lässt. So ist die Selbstbeschreibung des Ich-Erzählers schwerlich mit bekannten Fakten aus der Schweizer Geschichte zu vereinbaren: „Ich war Parteikommissär in NeuBern, an meiner Mütze steckte das weiss-rote Zeichen. Unsere 5. Armee hatte die Stadt vor einer Woche wieder eingenommen“ (IWHS 12). Vom „Revolutionskomitee in Schweizerisch-Salzburg“ ist die Rede, das sich an den „Sowjet“ Neu-Bern richtet (IWHS 14). Auch der Verweis auf den „hindustanischen“ „General Lal“, den „Bezwinger des Westens“ mit seinen „grausamen Sinti-Divisionen“ in ihren

Steven Ellis, Revisionismus. In: Kompass der Geschichtswissenschaft, hg. von Joachim Eibach und Günther Lottes, Göttingen 2002, S. 342–354. Explizit in den Kontext postmoderner Literatur gerückt wird der Revisionismus zum Beispiel von Brian Mc Hale und Ansgar Nünning, die Revisionismus im literarischen Sinne in den kritisch-reflexiven Umgang mit der Referentialität von Geschichte einordnen, vgl. Brian Mc Hale, Postmodernist Fiction, London/New York 1987, S. 90– 93. Vgl. A. Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, Bd. I („Fiktive Gegengeschichten: Merkmale des revisionistischen historischen Romans“), S. 268–275. Das „kontrafaktische Erzählen“ als Unterkategorie des Revisionismus wurde im deutschsprachigen Raum u.a. von Christoph Rodiek und Andreas Martin Widmann ausgearbeitet, vgl. Christoph Rodiek, Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur, Frankfurt am Main 1997. Vgl. Andreas Martin Widmann, Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr, Studien zur historischen Poetik 4, Heidelberg 2009. Im niederländischsprachigen Raum widmete sich Elisabeth Wesseling dem kontrafaktischen Erzählen, vgl. E. Wesseling, S. 100–115. 39 Die Faktizität der Geschichte beruhe immer auf dem „enzyklopädischen Wissensbestand des Lesers“: C. Rodiek, S. 32. Vgl. 3.1.2. 40 Auch in Zwerm können Ansätze des Kontrafaktischen nachgewiesen werden. Bert Bultinck verweist auf die Rolle der Negation in dem Roman, nach der ein bereits beschriebener Verlauf plötzlich verneint wird. Auf diese Art und Weise wird die Vielzahl der Möglichkeiten eines Ablaufes betont, die nicht mit dem tatsächlichen geschichtlichen Verlauf übereinstimmt. Vgl. B. Bultinck, Een storm in een glas water. 41 Gustav Seibt weist auf die Dichte des historischen Verweises in dieser Szene hin: „[...] so genügt diesem Virtuosen ein kleiner Akkord von Eindrücken - grauwollenes Nachthemd, Flöhe, Menschengeruch -, um alles heraufzurufen, was wir von den totalitären Schrecken des 20. Jahrhunderts im Kopf haben“, vgl. G. Seibt, Die Sowjetrepublik von Schweizerisch-Salzburg.

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„orangefarbenen Uniformen“ (IWHS 16) erleichtern Referenzen auf die allgemein bekannte Weltgeschichte nicht. Neben der zeitlichen Verunsicherung beginnen sich hier auch bekannte räumliche Grundkoordinaten wie das die Geschichte bestimmende Verhältnis zwischen West und Ost, später auch das Verhältnis zwischen Nord und Süd, zu verschieben. Sie sind ‚verrutscht‘ wie das Herz des Protagonisten, das sich auf der falschen Seite befindet (vgl. IWHS 56). Im kontrafaktischen Erzählen präsentiert sich damit eine Erzählwelt, die Immersion durch ihre emersive Zwiespältigkeit stört: Es handelt sich weder um eine eindeutig fiktive, noch um eine faktische Welt. Ex negativo demonstriert das kontrafaktische Erzählen, wie Immersion und Emersion im fiktionalen Erzählen zusammenhängen. Das Aufrufen einer Referenzillusion im fiktionalen Text erschöpft sich nicht im Verweis auf einzelne faktische Elemente, sondern aktiviert durch diese Elemente ein faktuales Narrativ, an dem die Erzählung trotz ihrer Fiktionalität gemessen wird. Im Unterlaufen dieses Narrativs (etwa die mit dem Namen ‚Lenin‘ aufgerufene Geschichte des Kommunismus in Russland, die der Roman in die Schweiz verlegt) konstituiert sich das kontrafaktische Erzählen, auch wenn oder gerade weil es nichtsdestotrotz faktische Elemente aufruft. Zwar liegt im kontrafaktischen Erzählen das genuin Literarische laut Rodiek mit der Terminologie Leibniz’ in dem Erschaffen möglicher Welten, die „zum größten Teil Leihgaben aus dem Bezugsrepertoire der realen Welt beziehungsweise des Wissens über diese Welt“⁴² sind. Das Ausgehen von dieser „realen Welt“ beziehungsweise dem Wissen über sie funktioniert jedoch im Negieren der aufgerufenen Zusammenhänge anders als in einem fiktionalen Text, der die immersionsfördernde Kohärenz seiner Erzählung dadurch stärkt, dass emersiv ein ‚intakter‘ faktualer Referenzrahmen evoziert wird. Die dadurch hervorgerufenen Immersionsstörungen zeigen, dass das Aufrufen einer bestimmten Referenz im fiktionalen Text sich nur dann verstärkend auf die Erlebnisillusion auswirkt, wenn diese Referenz sich in bestehende faktuale Narrative einordnen lässt. Andernfalls mindert die verwirrende Mischung aus faktualem und fiktionalen Erzählen die Immersion,⁴³ bis sich eine aus dem emersiven Zusammenhang (teilweise) losgelöste Erzählwelt etabliert hat. Obwohl das kontrafaktische Erzählen jedoch bekannte und belegbare faktuale Narrative zurückweist, gehört es zu seinen verkehrenden Eigenschaften, dass es eben diese Narrative durch die Verneinung bestätigt. Das Abweichen von den ‚Tatsachen‘ bedeutet immer auch einen, wenn auch indirekten, Bezug auf

42 C. Rodiek, S. 32. 43 Wolf spricht von einem „Sonderfall“ der „Nichterfüllung formaler Konzepte“ – der „Kontamination außerliterarischer Realität und textueller Fiktion“: W. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 349–356.

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sie. Dies führt zu dem widersprüchlichen Umstand, dass das kontrafaktische Erzählen als solches nur identifiziert werden kann, wenn die historiografische Vorlage (etwa wichtige historische Eckdaten des 20. Jahrhunderts), von der es abweicht, bekannt ist. Damit rückt das kontrafaktische Erzählen in die Nähe der Parodie⁴⁴ beziehungsweise kann, bei Voraussetzung eines erweiterten Textbegriffs, als spezielle Form des intertextuellen Verweises von einem Hypertext auf einen Hypotext verstanden werden.⁴⁵ Als spezielles „Verfahren der Bezugnahme“ ist das kontrafaktische Schreiben laut Rodiek „der spielerischen Verwendung vorgegebenen (narrativen) Materials strukturell verwandt und muß insofern vor dem Hintergrund jener vielfältigen intertextuellen Prozeduren vom Typ ‚Play it again, Sam‘ gesehen werden, die sich Mitte des 20. Jh.s ganz außerordentlicher Beliebtheit erfreuen“.⁴⁶ Diese Form des ‚Sampling‘ im historischen Erzählen ruft in neuen Konstellationen immer wieder die ihm zugrunde liegenden Narrative auf. Der Roman Ich werde hier sein konstruiert mit der größten Selbstverständlichkeit eine jeder bekannten Historizität widersprechende, verrückte Welt, in deren Gesetzmäßigkeiten die Leserinnen und Leser Schritt für Schritt eingeführt werden. Man raucht die universale Zigarettenmarke „Papierosy“ (vgl. z.B. IWHS 19), befindet sich im Herrschaftsbereich der ‚SSR‘ (‚Schweizer Sowjetrepublik‘, vgl. z.B. IWHS 20), weiß von bekannten Größen wie dem „Grossaustralischen Reich“ (vgl. IWHS 27) oder den „Amexikaner[n], [die] den Impfstoff [gegen Malaria, BvD] mit Heissluftballons über Afrika abgeworfen hatten, bevor sie ihre Grenzen für immer geschlossen hatten und jener schreckliche Bürgerkrieg der gefiederten Schlange dort zu wüten begann, von dem man nur sehr wenig hörte und dann nur Schreckliches“ (IWHS 55/56). Nachdem so wenige Nebensätze eine bekannte Weltmacht von der Weltkarte wischen (wobei die kolonialen Verhältnisse zwischen Siedlern und Indianern zuvor aus dem Gleichgewicht gebracht werden), können die mit Lenins Konterfei bedruckten Schweizer Banknoten (IWHS 41), die als gängiges Kampfmittel gebrauchten Luftschiffe (vgl. IWHS 63, 105, 132, vgl. 7.3.2) und der Umstand, dass der englische König sich mit „den Faschisten, den Deutschen“ verbündet habe, um „ein dekadentes Grossreich zu schaffen“ (IWHS 58-59) nicht mehr sonderlich überraschen. Die Stilisierung einer schweizerischen kommunistischen Weltmacht ist eine Satire auf die bestehenden Mächteverhältnisse und ihre geschichtliche Entwicklung. Die Widersprüchlichkeit dieser schwer in Übereinstimmung zu bringenden

44 E. Wesseling, S. 105ff. 45 Vgl. C. Rodiek, S. 9–10 im Verweis auf die Terminologie Genettes: G. Genette, Palimpseste, S. 14–15. 46 C. Rodiek, S. 10.

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Zeichen gipfelt in dem anachronistischen Bild von Soldaten, die „vorne auf die Sättel ihrer Pferde schwere Maschinengewehre montierten, so dass sie während des Reitens schiessen konnten“ (IWHS 16). Die Kombination des Pferdes als altmodischem militärischen Transportmittel mit der einigermaßen modernen Waffe des Maschinengewehrs stellt auch den historisch verortbaren technischen Fortschritt auf den Kopf. Ähnlich wie im Verlauf einer Erzählung mit allen Erzählgriffen wie Vor- und Rückblenden die eigentliche Geschichte (story/récit) entsteht, ruft dabei jedoch jeder Schritt des Verrückens die ihm zugrunde liegende Ordnung auf, welche die Verkehrung der Zusammenhänge erst verständlich macht. Das wilde Durcheinanderwerfen von Versatzstücken des 20. Jahrhunderts lenkt den Blick auf den ‚tatsächlichen‘ historischen Verlauf, der in seiner (Un-)Wahrscheinlichkeit mit dem kontrafaktischen verglichen werden kann. Die im kontrafaktischen Erzählen geschaffene Welt entwickelt ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten.⁴⁷ Durch den Bezug auf einen faktualen Zusammenhang reduzieren sich auch in der Verkehrung dieses Zusammenhanges die Erzählmöglichkeiten. Dieses Ausgehen von einem bekannten Grundgerüst an historischen Fakten macht die kontrafaktische Geschichte von einer imaginären Geschichte abgrenzbar, die eine nicht mehr auf überlieferte Daten basierte Geschichte entwirft.⁴⁸ Das kontrafaktische Erzählen geht auch nicht von rein fiktiven Elementen aus, da es sich teilweise einer faktualen Glaubwürdigkeit verpflichtet weiß.⁴⁹ So ordnet Elisabeth Wesseling die „uchronische Fiktion“ als eine Mischform von historischem Material und utopischen Fantasien ein.⁵⁰ In Ich werde hier sein zeigt sich deutlich, dass das kontrafaktische Erzählen trotz der veränderten Oberflächenstruktur auf der Ereignisebene bestehende Strukturen bestätigt. Erst nach dem ersten Drittel des Romans wird den Leserinnen und Lesern der ‚missing link‘ geboten, der all die verwirrenden Verschiebungen und Kombinationen historisch als ‚what-if-History‘ verständlich macht. Der Ich-Erzähler erwähnt im Zusammenhang seiner Ausbildung mit afrikanischen Rekruten, welche sich die Schweizer für ihren Weltkampf in Afrika zur militärischen Unterstützung heranziehen, die Entstehungsgeschichte dieses Reiches:

47 Rodiek gibt das Beispiel, dass mit einem bei Waterloo siegreichen Napoleon nur ein Wellington einhergehen kann, der Verlierer der Schlacht ist: C. Rodiek, S. 32. 48 Vgl. C. Rodiek, S. 44. So kann eine Geschichtserzählung im Konjunktiv Imperfekt als Vorstufe des kontrafaktischen beziehungsweise uchronischen Erzählens gesehen werden, da sie den Indikativ der „tatsächlichen“ Geschichte immer voraussetze, vgl. C. Rodiek, S. 46–47. 49 A.M. Widmann, S. 35–36. 50 E. Wesseling, S. 100ff.

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Wir hörten die in Wachs eingebrannten Stimm-Schriften⁵¹ von Karl Marx und die Geschichte des grossen Eidgenossen Lenin, der, anstatt in einem plombierten Zug in das zerfallende, verstrahlte Russland zurückzukehren, in der Schweiz geblieben war, um dort nach Jahrzehnten des Krieges den Sowjet zu gründen, in Zürich, Basel und Neu-Bern. Russland war durch die Folgen der ungeklärt gebliebenen Tunguska-Explosionen von Zentralsibirien bis nach Neu-Minsk viral verseucht worden. (IWHS 57/58)

Das Zitat skizziert das Bruchmoment, von dem aus sich alle im Roman genannten Verschiebungen herleiten lassen: Durch den Verbleib Lenins in der Schweiz wird mit Russland nicht nur eine weitere historisch bekannte Weltmacht von der Landkarte gewischt, sondern die Schweiz zum westeuropäischen Zentrum des Kommunismus erhoben (vgl. die Gründung des Schweizer Sowjets, IWHS 93). Mit dieser fundamentalen Umlenkung einer ideologischen Strömung gestaltet sich in Ich werde hier sein der Verlauf der Weltgeschichte radikal um: Die traumatische Zäsur des Zweiten Weltkrieges im 20. Jahrhundert entfällt, beziehungsweise weitet sich zu einem das ganze Jahrhundert umfassenden Weltkrieg aus. An diesem Punkt zeigt sich die skizzierte Ambivalenz der kontrafaktualen Geschichtsschreibung: Zunächst einmal findet eine radikale Distanzierung von der bekannten Geschichte statt. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass in der Konstruktion der an einem veränderten Punkt der Geschichte ansetzenden Erzählung dennoch nicht jede Kausalität aufgehoben ist. In der „Ästhetisierung des Realitätsbezugs“ tritt die „Realhistorie“ wieder hervor.⁵²Ein Weltkrieg, wie er auch den ‚tatsächlichen‘ Verlauf der westlichen Geschichte zweifach bestimmt hat, scheint auch im kontrafaktischen Geschichtsverlauf unvermeidbar. Der Weltkrieg ist also nicht abhängig von bestimmten Ereignissen, die genau so und nicht anders verlaufen mussten, sondern beruht auf strukturellen Elementen der gesellschaftlichen Situation der europäischen Nationen, die im Text überdeutlich heraus gestellt werden: Auch die Schweizer Sowjet Republik ist von dem Rassismus, Imperialismus und Kolonialismus geprägt, der für wesentliche Teile des 19. und 20. Jahrhundert bestimmend war. Dies zeigt sich im Roman etwa im, wenn auch versteckten, Kolonialismus gegenüber den als Kanonenfutter eingesetzten afrikanischen Rekruten. Gerade in seiner kontrafaktualen ‚Verkehrtheit‘ suggeriert der Roman dabei den Vorrang von Strukturen vor dem Einfluss einzelner geschichtlicher Ereignisse.

51 Aufgrund des allgemeinen Schriftverlusts sind archaische Tonbänder, die „Stimm-Schriften“ ein beliebtes Medium im Roman, vgl. 9.2.2. 52 I. Vogler, S. 176.

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9.2.2 Tabula rasa: Zerstörung und Referenzbegehren Mit Schlagworten wie Desintegration, Dezentrierung, Diskontinuität oder Dekonstruktion, die allesamt die Verkehrung eines (scheinbar) stabilen Zustands in sein Gegenteil bezeichnen, grenzen sich postmoderne Konzepte auch bezüglich der Geschichtsschreibung von modernen Konzepten ab. Anhand von Peter Verhelsts Zwerm und Christian Krachts Ich werde hier sein lässt sich zeigen, wie Auflösungserscheinungen, Endzeiterwartungen und Bewegungen vom Zentrum in die Peripherie so ins Extrem geführt werden, dass aus der beschriebenen desolaten Lage ein Referenzbegehren, ein Bedürfnis nach Wahrheit und Bedeutung erwächst. Dieses Bedürfnis nach Bedeutung scheint im Roman jede Katastrophe zu überwinden, gerade weil es nie befriedigt werden kann. Es prägt auch das Erzählen: Stefan Bronner spricht in Bezug auf Ich werde hier sein von einer „Poetik des Verschwindens“, die in der Selbstreduktion zu einer „Sprache der Oberfläche“ wird und trotzdem Realitätseffekte zu erzielen sucht.⁵³ Die Erzählwelt in Krachts Ich werde hier sein ist vermint wie die Gegend, durch welche ihr Ich-Erzähler im Laufe der Geschichte reitet (vgl. IWHS 52). Der beinahe hundert Jahre andauernde Krieg hat für einen allgemeinen Verfall gesorgt, bei dem das unverbundene Nebeneinander von heterogenen Elementen die Wahrnehmung bestimmt: „Es war notwendig, dass der Krieg weiterging. Er war der Sinn und Zweck unseres Lebens, dieser Krieg. Für ihn waren wir auf der Welt. Ein Pferd stand unangebunden an einem Haus“ (IWHS 21). Das Bild des verlorenen Pferdes, das ohne Überleitungen auf die Überlegungen zum Krieg folgt, macht die Notwendigkeit des Krieges zweifelhaft: Der Krieg scheint einfach da zu sein wie das Pferd, ohne sich in überzeugender Weise an irgendetwas ‚festmachen‘ zu lassen.⁵⁴ Kracht verarbeitet den Verfall weiterhin unter dem explizit geäußerten Label der „Dekadenz“ (IWHS 120). Zu Beginn des Romans wird ein allgemeiner Sittenverfall etwa in der regulären Bestechung und Unterschlagung innerhalb von Dienstverhältnissen (vgl. das Gespräch des Ich-Erzählers mit dem Telegrafenbeamten, dessen Uhr er selbstverständlich an sich nimmt, IWHS 13-20), in dem weit

53 Vgl. Stefan Bronner, Das offene Buch – Zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit in Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. In: Deutsche Bücher, 39/2, 2009, S. 104–108. 54 Paweł Wałowski sieht „zwei schockierend unvereinbare, scheinbar zufällig gewählte Bilder [...] ohne Nachdruck einander gegenüber[ge]stellt“ als „schriftstellerische Signatur schlechthin von Kracht“: Paweł Wałowski, (Ver)Störungen in der anti-utopischen Zwischenwelt von Christian Krachts ‚Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten‘ (2008). In: Störungen im Raum – Raum der Störungen, hg. von Carsten Gansel und Paweł Zimniak, Heidelberg 2012, S. 426.

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verbreitetem Drogenkonsum (vgl. IWHS 15 beziehungsweise die seltsame Praxis der „Aurotherapie“ IHWS 115/116) oder in der Verrohung der Umgangsformen (vgl. z.B. im Militär IHWS 17) entworfen. Diese Auflösungerscheinungen gipfeln im sogenannten „Réduit“, in dem der Ich-Erzähler feststellen muss, „dass hier oben etwas zu Ende ging, dass eine füchterliche [sic] und allumfassende Dekadenz des Geistes betrieben wurde, die sich durch die Bergfestung selbst manifestierte“ (IWHS 120). Diese Erkenntnis ist um so niederschmetternder für den Ich-Erzähler, als das Erreichen der Festung den Höhepunkt seiner Reise auf dem Weg von der Peripherie ins Zentrum darstellen sollte: „Ich lief Schritt für Schritt hinauf, nicht ohne Ehrfurcht und eine leise Verzagtheit; meine Jahre als Offizier hatten mich kaum auf die Erhabenheit dieses Augenblicks vorbereitet. [...] Hier in dieser unscheinbaren Schlucht begann also das Réduit, das Jahrhundertwerk der Schweizer – Kern, Nährboden und Ausdruck unserer Existenz“ (IWHS 98). Das „Réduit“ als Kern des schweizerischen Weltreiches ist ein imposantes Projekt, das der Roman als Höhepunkt der Kontrafaktion entwirft (vgl. 9.2.1), auch wenn im Sinne des Kontrafaktischen diese fantastische Idee einen Anhaltspunkt in der nachweisbaren Schweizer Geschichte findet, zu der das Projekt eines „Réduits“ in Form von militärischen Verteidigungsanlagen in den Schweizer Alpen gehört. Im Roman wird dieses Projekt ins Extrem überführt: Über einen Zeitraum von hundert Jahren (vgl. IWHS 48) wurden die kompletten Alpen mit unzähligen Tunnels und Hallen durchzogen, um so eine Bergfestung ungekannten Ausmaßes zu erschaffen (vgl. IWHS 104). Einerseits Ausdruck der Stärke, beinhaltet das Projekt als „Menetekel“ (IWHS 137) von vornherein den Vorgang des Untergrabens und Aushöhlens, der schließlich in einer Schwächung der starken Basis resultiert. Dies muss auch der IchErzähler erkennen, denn als er in der Bergfestung ankommt, stellt er fest, dass sich das Massiv der politischen Organisation, deren höchstes Gremium er hier vermutete, entzieht: „Das Revolutionskomitee des Réduits gibt es nicht“, erzählt ihm Oberst Brazhinsky, „Der Sowjet weiss nicht, was wir hier oben tun. Und es interessiert ihn auch nicht“ (IWHS 109). Das Réduit habe sich eben „verselbständigt“, wie Brazhinsky es ausdrückt (IWHS 109), oder es herrsche schlichtweg „Anarchie“, wie der Ich-Erzähler schlussfolgert (IWHS 120). Im Réduit als leerem Zentrum verbindet sich also der Problemkreis des allgemeinen Verfalls mit dem der Bewegung vom Zentrum in die Peripherie, die der Ich-Erzähler als Protagonist der Erzählung schließlich selbst vollzieht: „Nichts funktioniert. Es ist alles nur Propaganda, es ist alles schon lange kaputt. Das Bombastische des Réduits ist ein magisches Ritual, ein leeres Ritual. Es war immer leer, es wird immer leer sein“ (IWHS 127). Das Réduit spiegelt damit eine Post-Struktur der „fluktuierende[n]

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Zentren“ (IWHS 29) wider, in der es keinen zentralen Punkt der Sinngebung mehr gibt.⁵⁵ In Zwerm findet sich ein ähnliches Leitmotiv einer solchen Poststruktur. Bei Verhelst steht der titelgebende „Schwarm“ für eine Bewegung weg vom Zentrum hin zur Peripherie. Als schwer fassbares Gebilde hat er keinen Kern und formiert sich in immer neuen Konturen, so dass eine ständige Fluktuation zwischen Mitte und sich verändernden Rand stattfindet.⁵⁶ Der Roman bietet weitere Randgebiete an. Neben der kontrollierbaren und architektonisch beherrschten Stadt mit verwundbarem Zentrum wie dem „silberfarbenen Komplex“ stellt der Text dezentrale, nicht so leicht zu überschauende Orte bereit, allen voran den Wald, welchen Angel gerne als Rückzugsraum nutzt (vgl. z.B. ZW 555 „am Rand eines Sees, tief im Wald“⁵⁷). Als Obdachloser (vgl. z.B. ZW 647) repräsentiert er die sozialen Randgebiete der Gesellschaft. Mit dem Gedanken „Nicht das Zentrum, sondern den Rand“,⁵⁸ entzieht sich Angel programmatisch für den Roman dem zentrierten Denken, während er „versucht, einen Stadtplan an Hand von Verkehrsschildern, Pfeilen, die auf das Zentrum zuschwirren, zu rekonstruieren“.⁵⁹ Als Figur steht er programmatisch für Bewegungen, die sich dem Sog hin zum Zentrum zu entziehen versuchen. In der Vermittlung dieser desintegrierten Erzählwelt lässt sich dieselbe Zurückweisung einer Zentralperspektive nachweisen. Die visuelle Filmästhetik in Zwerm (vgl. 9.2.3) findet hierfür ein Bild: „Eine Hand breitet sich über der Linse aus und taucht den Bildschirm in eine Dunkelheit, in der jeder Muster zu entdecken versucht, Bedeutungsgewebe, Botschaften, eine übergeordnete Erzählung, ein Netzwerk.“⁶⁰ Die typische Geste, mit der sich Menschen des öffentlichen Lebens von Reporterkameras abzuschirmen versuchen, verursacht ein undeutliches Kamerabild, in dem dennoch eine übergeordnete Erzählung gesucht wird. So entsteht eine undeutliche Dunkelheit, im Roman symbolisiert durch die „schwarzen

55 Brigitte Krüger spricht von einem „hohlen Raum“: Brigitte Krüger, Intensitätsräume. Die Kartierung des Raumes im utopischen Diskurs der Postmoderne – Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. In: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, hg. von Gertrud Lehnert, Bielefeld 2011, S. 270–271. 56 Vgl. B. Vervaeck, Werken aan de toekomst, S. 38. 57 „Aan de rand van een meer, diep in het woud“ ZW 555. 58 „Niet het centrum, maar de rand ZW 566. 59 „probeert een stadsplan te reconstrueren aan de hand van de verkeersborden, pijlen die op het centrum afzoeven“ ZW 566. 60 „Een hand spreidt zich over de lens en dompelt het scherm in een duisternis waarin iedereen patronen probeert te ontdekken, betekenisweefsel, boodschappen, een overkopelend verhaal, een netwerk“ (ZW 463).

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Löcher“,⁶¹ der keine klare Bedeutung mehr abzuringen ist, obwohl sich gleichzeitig unendlich viele Bedeutungsmöglichkeiten andeuten: Die Unübersichtlichkeit wird in Zwerm zum Erzählprinzip erhoben, der Roman wird zu einem nicht zu knackenden Code, der dem „eingebauten Bedeutungswillen“⁶² (ZW 65) der Lesenden widerstrebt. Sie bleiben allein mit ihrer „Dickköpfigkeit, Sinn finden zu wollen in etwas, das so manifest Sinn abweist“⁶³ (ZW 65). Vor allem durch das Erzählprinzip, heterogene Erzählwelten wie sie in Zwerm an die verschiedenen Figuren gekoppelt sind, unkommentiert nebeneinander zu stellen, kann kein einheitlicher Handlungsfaden entstehen. Die Geschichte zerfällt in Einzelteile, die kein Gesamtbild ergeben. In der Literaturkritik wird dafür ein Zitat aus dem Roman angeführt:⁶⁴ „Er is geen geheel. Er zijn alleen druppels, en elke druppel bevat een gigantische hoeveelheid informatie die veranderlijk is van vorm. Er zijn zo veel druppels, er is een hele oceaan“ (ZW 439).⁶⁵ Die Schilderung der verschiedenen Mikrokosmen verhindert eine Sicht auf das Ganze, das nur über seine unübersichtlichen Einzelteile kommunizierbar ist. In Ich werde hier sein verweist schon die Erzählerfigur selbst auf die Peripherie: Der Ich-Erzähler von Ich werde hier sein ist ein von den Schweizern rekrutierter Afrikaner (vgl. IWHS 56), der das schweizerische Weltreich vom Rand her betrachtet und auch zu diesem Rand zurückkehrt.⁶⁶ So wie sich der vom Ich-Erzähler angeprangerte Antisemitismus hält (vgl. IWHS 34/35), ist auch die Diskriminierung der Afrikaner an der Tagesordnung (vgl. IWHS 99) und macht den Erzähler zu einer Randfigur. An zwei Stellen löst sich die auf den Ich-Erzähler beschränkte Erzählperspektive auf: einmal in der Zukunftsvision eines Heilers im afrikanischen Heimatort des Ich-Erzählers (IWHS 74-78) und im letzten Kapitel des Romans, das den völligen Zusammenbruch des von den Schweizern errichteten afrikanischen Reiches beschreibt. Was für das Schweizer Reich gilt, gilt auch für die Ich-Erzähler-Stimme des Romans: Ihre Gültigkeit zerfällt durch die im letzten Kapitel neu eingeführte totale Sicht auf die Dinge, welche eine dem Ich-Erzähler übergeordnete Erzählinstanz andeutet. Wie ein über den Dingen stehender Chronist, vergleichbar mit der Stellung des Heilers, konstatiert diese

61 Vgl. Bart Vervaeck, Peter Verhelst. Zwerm. In: Lexicon van literaire werken, 2010, S. 87. 62 „ingebouwde betekeniswil“. 63 „koppigheid om zin te willen vinden in iets wat zo manifest zin afwijst“. 64 B. Bettens, Zwerm. Geschiedenis van de wereld. 65 Zum „Tropfen“ als Symbol für das Wuchern von Bedeutung vgl. Bart Vervaeck, Het verdriet van de wereld. Zwerm van Peter Verhelst. In: Ons erfdeel, 49/1, 2006, S. 58–61. 66 Die von den Schweizern (nur scheinbar integrativ) initiierte Bewegung von Afrikanern in das Zentrum des Reiches, die Schweiz, macht sich auch im Sprachgebrauch bemerkbar, in dem etwa Kinder mit dem afrikanischen Begriff „mwana“ angedeutet werden (vgl. z.B. IWHS 21).

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übergeordnete Erzählinstanz den Zusammenbruch der Welt, die den Ich-Erzähler vor seiner Flucht bestimmte. Der Ich-Erzähler wird zur Figur in der Geschichte von jemand anderem, zum Teil einer Vision, die im Gestus eines Märchens erzählt wird, das fantastische Elemente als Selbstverständlichkeiten präsentiert. Das Zusammengehen der finalen Katastrophe mit einer übergeordneten Erzählperspektive in Ich werde hier sein deutet an, dass in der Totalität der Zerstörung ein Bedürfnis nach einer neuen, grenzüberschreitenden Bedeutungsqualität zum Ausdruck kommt. In Zwerm wird dies sinnfällig an der zersetzenden Macht des Virus, das die Grenze zwischen Organischem und Anorganischem, zwischen Leben und Tod, überschreitet (vgl. 9.3.2). Seine Lebensbedrohlichkeit übertrifft die Bedrohlichkeit bekannter viraler Infektionen. So verschwinden rätselhafterweise Menschen (vgl. ZW 617), „als ob eine Selbstmordepidemie ausgebrochen ist!“⁶⁷ Das Virus entfaltet sowohl physisch als auch psychisch seine Wirkung auf die Menschen, welche im gesamten Text von einer durch Mutation des Vogelpestvirus verursachten, weltweiten Epidemie bedroht werden (vgl. ZW 499/500). Ihnen bleibt wie in Ich werde hier sein nur die verzweifelte Selbstmedikation (vgl. z.B. ZW 511). Die virale Verseuchung wird selbst auf den Bereich des Wissens und der Information ausgeweitet (vgl. 9.3.2). Als kontaminiertes Medium wird das Internet zum Medium für Gewalt (vgl. z.B. ZW 463) und Pornografie (vgl. z.B. ZW 621 und 586). Das Virus macht alle Grenzen durchlässig und überträgt sich problemlos vom lebenden Körper auf die Maschine, um von da aus die menschliche Psyche zu infizieren: Overal in de stad staan computers te zoemen – duizenden overbevolkte bijenkorven. Je opent de mailbox en je ontvangt berichten van mensen die je meent te kennen. Nietsvermoedend open je het attachement, een foto spreidt zich over het scherm uit, je hoort jezelf zeggen: „Oh my God.“ De foto is op geen enkele manier nog te verwijderen. [...] De enige manier om het weg te krijgen: trek de stekker uit het stopcontact. Maar zelfs dan blijft het nog in je oog doorgaan, ’s nachts, als je de oogleden sluit, overdag, als je om je heen kijkt, altijd zie je dat trillende ding. Straks begint het in mij te ademen. [...] Duizenden computers. Besmette bijenkorven. En de bijen vliegen alle richtingen uit. De epidemie. De plaag. (ZW 457/56)⁶⁸

67 „Alsof er een zelfmoordepidemie is uitgebroken!“ ZW 652. 68 „Überall in der Stadt summen Computer – tausende überbevölkerte Bienenstöcke. / Du öffnest die Mailbox und empfängst Nachrichten von Menschen, die du zu kennen meinst. Nichts ahnend öffnest du das Attachement, ein Foto breitet sich über dem Bildschirm aus, du hörst dich selbst sagen: ‚Oh my God.‘ Das Foto lässt sich auf keine Weise mehr löschen. / [...] Die einzige Art es weg zu bekommen: Zieh den Stecker aus der Steckdose. / Aber selbst dann wirkt es noch in deinem Auge nach, nachts, wenn du die Augenlider schließt, tagsüber, wenn du um dich schaust,

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Der Text selbst verdeutlicht die äußerst verletzliche Situation, welche das Virus erzeugt: Leser und Leserin werden in einem für Zwerm typischen, unerbittlichen Erzählgestus angesprochen mit einem jegliche Indirektheit verhindernden „du“: Die Erzählung betrifft sie direkt und versucht sich von den Buchseiten auf sie zu übertragen wie das Virus vom Computer auf die Nutzerin und den Nutzer. Ein weiterer Schwarm, dieses Mal bestehend aus summenden Bienen, stürzt sich in alle Richtungen. Die virale Infektion zieht sich in den Text: Die Computer sind nicht wie Bienenstöcke, in der syntaktischen Nebeneinanderstellung sind sie Bienenstöcke. Die Eindringlichkeit der Erzählstimme lässt selbst eine metaphorische Übertragung zu schwach erscheinen: Im Zeichen des Virus reichen auch implizite Vergleiche nicht aus, das Virus wird das Andere, welches man nur zu kennen meint. Es überträgt sich mühelos vom organischen in den anorganischen Bereich. Die unmögliche Verbindung von Organischem und Anorganischem ist auch in Ich werde hier sein Ausdruck einer bedrohlichen Desintegration: Sie markiert die beunruhigende Grenzüberschreitung zwischen Leben und Tod. Allen voran steht dafür die vom Ich-Erzähler mehrmals beschriebene schockierende Erkenntnis, dass Menschen seines Umfeldes Maschinen zu sein scheinen: „Neben ihrer Achselhöhle war eine Steckdose in die Haut eingelassen, wie die Schnauze eines Schweins“ (IWHS 46, vgl. auch IWHS 129). Das Schockierende an dieser Erkenntnis ist der ‚machine in the ghost‘- Effekt.⁶⁹ Das erschreckende Moment besteht demnach in der Erkenntnis, dass man es augenscheinlich mit einer Maschine zu tun hat, die täuschend echt wie ein Mensch agiert und damit etwas „geisterhaftes“ bekommt, also die für gewöhnlich angenommene Grenze zwischen Leben und Tod verschiebt. Es ist diese Grenze zwischen Anorganischem, unbelebten Material und Organischem als lebendem Stoff, die in beiden Texten als Markierung eines Zustandes der Desintegration undeutlich beziehungsweise überschritten wird. Dieser Effekt wird in Ich werde hier sein auch in umgekehrter Form vorgeführt: Denn das bedeutungsgeladene Réduit erscheint dem Ich-Erzähler zunächst „auf eine furchterregende Weise organisch“ (IWHS 104). Nachdem der Ich-Erzähler diesen Eindruck zunächst wieder beiseite schiebt („doch je höher man kletterte, desto anorganischer und steriler wurde alles“, IWHS 104), belehrt ihn Brazhins-

immer siehst du das zitternde Ding. / Bald beginnt es in dir zu atmen. / Tausende Computer. Infizierte Bienenstöcke. Und die Bienen fliegen in alle Richtungen. Die Epidemie. Die Plage.“ 69 Slavoj Žižek beschreibt ihn unter dem Nenner „Moving statues, frozen bodies“ in Bezug auf die sich bewegenden Statuen: „[W]hat provokes horror is [...] the discovery that what we took for a living human being is a dead mechanical doll (Hoffmann’s Olympia) [...] So we have [...] the ‚machine in the ghost‘ (a ship which sails by itself, with no crew; an animal or a human being which is revealed to be a complex mechanism of joints and wheels)“: Slavoj Žižek, Fetishism and its Vicissitudes. In: Žižek, The Plague of Fantasies, London/New York 1997, S. 111–112.

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ky eines besseren: „Sehen Sie, das Réduit hat sich verselbständigt. Es ist immer grösser geworden, es wächst immer noch weiter“ (IWHS 109). Das Réduit als wachsendes, selbstständiges Wesen entspricht dem Bild des „erstarrten Körpers“, der ebenso schockierend ist wie die „sich bewegende Statue“: „the traumatic discovery that what we took for a dead entity (a house, the wall of a cave...) is actually alive [...] So we have [...] the ‚ghost in the machine‘ (some sign of plus-de-jouir in the machine giving rise to the effect of ‚It’s alive!‘)“⁷⁰ Die Grenzüberschreitung ist hier ebenso gegeben wie beim Menschen, der Maschine ist: Die Erwartung an das, was anorganisch ist und sich damit den Kategorien des Sterblichen entzieht und an das, was organisch ist und damit sterblich, wird umgekehrt. In dieser Transgression liegt die Verunsicherung, aus der es auch nicht mehr undenkbar ist, dass die Geschichte aus toten Buchstaben auf unheimliche Weise lebendig werden könnte. Eine den toten Buchstaben überschreitende Form der Kommunikation ist in Ich werde hier sein dementsprechend Thema. Im Zeichen der Dekadenz wird die Sensualität der Sprache gegenüber ihrem Informationswert betont.⁷¹ In den zu Salons umfunktionierten Maschinenräumen des Réduits befindet sich alles mögliche, nur keine Bücher (vgl. IWHS 120/21). Die Geschichte der Schweiz wird in Bildern präsentiert, sie besteht aus „an der Wand sich entlangziehende[n] Reliefarbeiten, welche im Stil des sozialistischen Realismus die Geschichte der Schweiz erzählten“ (IWHS 101). Die Geschichte soll im Medium der Bilder vor dem Verschwinden im Schriftverlust gerettet werden, eine neue Erzählmöglichkeit von Geschichte wird ausgetestet. In ihrer visuellen Vermittlung von Geschichte betonen die Bilder das von der Schrift schlechter transportierte Moment der Sensualität, die auf Kosten der Differenziertheit der Darstellung geht. Dementsprechend beschränkt sich die durch die Bilder erzählte Geschichte auf Szenen, Gesten (wie den „Schweizer Gruss“) und bekannte historische Personen (wie Ulrich Zwingli, vgl. IWHS 101). Die Geschichte wird dadurch mythologisiert und macht den geistigen Fortschritt „Vom Mythos zum Logos“⁷² rückgängig.

70 S. Žižek, Fetishism and its Vicissitudes, S. 112). 71 Zur „Sensibilität und Reizsucht“ in der Décadence-Dichtung vgl. Wolfdietrich Rasch, Die literarische Décadence um 1900, München 1986, S. 62–66. 72 Vgl. Wilhelm Nestles These von der Ablösung des mythologischen Denkens durch das rationale Denken im Griechenland des 6. und 5. Jahrhunderts vor Christus. In Bezug auf die Geschichtsschreibung bedeutet dies das Abweichen von mündlich tradierten Erzählungen als Erklärungen für historische Zusammenhänge, so habe Herodot als Vertreter dieser neuen Geschichtsschreibung „nicht bloß Geschichten, sondern wirklich Geschichte geschrieben: [...] Diese Richtung auf die Ergründung der Ursachen und die Herausschälung der Wirklichkeit aus sagenhafter oder anekdotenhafter Überlieferung ist das Kennzeichen wissenschaftlichen Geistes

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Die Betonung der Sinne im Gegensatz zum Intellekt entspricht der im Symbolismus programmatisch proklamierten Synästhesie, die oft auch mit der Dekadenzliteratur in Verbindung gebracht wurde.⁷³ Sie wird im Roman musterhaft verkörpert von dem Künstler Nicholas Roerich, der kurzerhand von der Realhistorie in das Schweizer Réduit verlegt wird (vgl. IWHS 117). Während er an seinen farbigen Ölbildern malt, kaut er unaufhörlich auf „eingefärbten Zuckerstückchen“ und verknüpft damit konsequent Geschmacks- und Sehsinn (vgl. IWHS 117/118). Gleichzeitig steht seine künstlerische Arbeit als „Hervorbringen von Nichtanwesendem ins Anwesende“ (IWHS 119) gleichwertig neben der theoretischen und praktischen Arbeit am Schweizer Weltreich, die Brazhinsky mit dem schier unmöglichen Versuch „das Réduit zu entbergen“ (IWHS 118) umschreibt. In Brazhinskys eigenartiger neuer „Rauchsprache“ (IWHS 42) wird schließlich selbst das gesprochene Wort über den Klang hinaus sinnlich: „Das Sprechen war sehr gegenständlich; die Emotionen, die die Worte begleiteten, waren farbig und aromatisch in ihrer Intensivität. Ich bemerkte, dass ich die Worte, Sätze und Gedanken im Raum nach vorne schieben, ja in gewisser Weise projizieren, einfach in den physischen Raum hineinstellen konnte“ (IWHS 125). Im „Verlernen des Schreibens“ und der Betonung der sensuell verstärkten Sprache liegt „ein Prozess des absichtlichen Vergessens“ (IWHS 43), mit dem traumatische Kriegsgeschichte auf Abstand gehalten werden soll. Gerade dieses Vergessen ermöglicht jedoch einen (furchtbaren) Kontakt mit der Vergangenheit (vgl. 9.3.1). So stellt auch der Schreibverlust in Ich werde hier sein eine weitere Form der Figuration von Auflösungsprozessen dar, mit denen Verhelsts und Krachts Romane ähnlich wie Tinpest und Schutzgebiet (vgl. 7.2.2) eine tabula rasa schaffen, die zur Projektionsfläche für neue Formen von Wahrhaftigkeit und Direktheit wird (vgl. 9.3.2 und 9.3.3).

9.2.3 ‚Ein Film aus Buchstaben‘ : Filmisches Erzählen Die beiden analysierten Romane verbinden das historische Erzählen mit anderen Medien, Ich werde hier sein andeutungsweise mit Film und Theater, Zwerm intensiv mit dem Film. Besonders anhand der vielfachen Evozierung des Films und des filmischen Erzählens in Zwerm soll hier gezeigt werden, wie das Thema

und genügt schon allein, um Herodot des Ehrennamens des ‚Vaters der Geschichte‘ würdig zu erweisen“. Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940, S. 504. 73 Vgl. die deutsche Rezeption des Begriffes „décadence“ bei Erwin Koppen, Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle, Berlin/New York 1973, S. 47–53.

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der Glaubwürdigkeit zwischen Immersion und Emersion thematisiert wird: Simulierte Filmbilder sind in Zwerm suggestiv und von hoher emotionaler Wirkung, so dass sie eine Erlebnisillusion verstärken. Gleichzeitig schürt der Text das Misstrauen in die Wahrhaftigkeit des Mediums Film, das über Fernsehen und Internet eine Unzahl Bilder schafft, deren referentieller Status unsicher ist. In diesem Kontext macht gerade seine Zugänglichkeit das filmische Erzählen gefährlich. Neben Verweisen auf Filme ist in Zwerm die Tendenz identifizierbar, mit textuellen Strategien danach zu streben, ein anderes Medium wie den Film im Medium der Schrift zu evozieren. Verhelst selbst spricht von Zwerm als einem „Film aus Buchstaben“.⁷⁴ In der Literaturkritik ist die Rede davon, dass das Buch „ein tollkühn montierter Film“ sein will.⁷⁵ Im Rahmen dieser Studie soll diese Nachahmung eines anderen Mediums als ‚Intermedialität‘ verstanden werden. ‚Intermediale Bezüge‘ werden also so definiert, dass entweder explizit auf die Funktionsweise eines anderes Mediums (wie z.B. durch die Beschreibung einer Kamera) verwiesen oder dessen Funktionsweise mit textuellen Mitteln nachgeahmt wird. Intertextuelle Bezüge beziehen sich hingegen auf die vermittlungsunabhängigen Elemente anderer Texte, aber auch anderer Medien, wie z.B. die Kriegsthematik im Roman Zwerm und im Film Apokalypse Now.⁷⁶ In Krachts Ich werde hier sein fungiert der Verweis auf das Theater als Mittel, die Künstlichkeit des Textes zu unterstreichen und damit immersionsstörenden Abstand zum Erzählten zu kreieren. Laut dem Ich-Erzähler habe das Kriegsszenario in der Schweiz etwas Theatralisches: Der Weg zum Bahnhof schien jeden Morgen wie eine Theaterkulisse; erst ging es an mit Rauhreif überzogenen Wellblechhütten vorbei, dann kam ein Gatter, Bäume, immer wieder schwarze Vögel, die gerade so aufflatterten, als ziehe sie ein unsichtbarer Bühnenmeister an einem Bindfaden durch die Szenerie. (IWHS 13)

Der Bezug zum Theater bleibt hier im Rahmen des Vergleichs: Der Weg erscheint „wie eine Theaterkulisse“, die Vögel bewegen sich „als ziehe sie ein unsichtbarer Bühnenmeister“. Trotzdem führt dieser Vergleich dazu, dass Zweifel an der

74 „film van letters“: Bert van Raemdonck, Ik ben een homo met het virus. In: Rekto Verso. Tijdschrift voor cultuur en kritiek, 14, 2005, Web, 13. Juli 2012. 75 „een roekeloos gemonteerde film“: Jan Bettens, Verontrustende film van de werkelijkheid. In: De leeswolf, 11/7, 2005, S. 530. 76 Zur Wichtigkeit der Qualität des medialen Bezuges, speziell in der „verdeckten Intermedialität“, die ein Medium in einem anderen Medium ikonisch nachahmt, und in der „intermedialen Thematisierung“, welche auf ein anderen Zeichen referiert, vgl. Werner Wolf, Intermedialität. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar 2008, S. 729–731.

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Authentizität der Landschaft aufkommen, da sie nur als Dekor für die Handlung erscheint.⁷⁷ Die erzählende Hauptfigur, die an der Echtheit ihrer eigenen Umgebung zweifelt, ist ein metafiktionaler Effekt, der in Bezug auf ein anderes Medium, nämlich das Theater, zustande kommt (vgl. auch IWHS 26).⁷⁸ Bei Verhelst funktioniert die Bezugnahme auf den Film anders. Der Text stellt nicht nur Vergleiche mit dem Film an, sondern versucht mediale Eigenheiten des Films in den Text zu transportieren. Filmische Inszenierungstechniken werden sprachlich umgesetzt, um im Kopf der Lesenden einen Film entstehen zu lassen. Dabei geht es vor allem um ebenso bewegte wie bewegende Bilder, die große Emotionen transportieren. Exemplarisch kann dabei die letzte Szene vor dem Einsturz des Silberfarbenen Komplexes dienen: Auf dem höchsten Punkt des Silberfarbenen Komplexes sehen Trinity und Carlo das Flugzeug kommen. Die Soldaten schauen auf den Bildschirm. Der Pixel pulsiert immer heftiger, als ob er sich für den neuen Urknall bereit macht. Ein Soldat schließt Herr J’s Augen. Trinity legt eine Hand über Carlos Augen – eine Geste der Liebe. Die Kamera zoomt rasendschnell auf ihren Mund ein. Die Kamera gleitet in ihren Mund. In ihren Hals. Tiefer. Bis dahin, wo der Urschrei entsteht: O O O O O O.⁷⁹ (ZW 1)

Der Text simuliert den visuellen Effekt von filmischen Szenen. Die letzten Buchstaben („O O O O O O“) wirken ikonografisch: Sie sind unter einander abgedruckt und werden immer größer, so dass sie die Bewegung des immer kleiner werdenden Abstandes einfangen und so eine Kamerabewegung ins Buch zu überführen versuchen (siehe Abbildung). Der Text zeigt also nicht nur filmische Bilder, sondern auch ihr Entstehen. Auffällig und für den Roman typisch ist der wiederholte Verweis auf das Sehen: Die Figuren Trinity und Carlo sehen das Flugzeug kommen, die Soldaten schauen auf den Schirm, der im pulsierenden Pixel die Bewegung des Flugzeugs wiedergibt. Auf diese Weise kann gleichzeitig auf die Sehenden wie auf das Gesehene verwiesen werden. Die Visualität macht die Textstelle leicht als Filmsequenz vorstellbar, in der die Szene der sehenden Soldaten mit der der Sehenden Trinity und Carlo montiert wird (eine Montagetechnik

77 Brigitte Krüger spricht vom „Raum als Theaterkulisse“: B. Krüger, S. 268. 78 Wiebke Porombka weist auf die Theaterkulissenhaftigkeit von Ich werde hier sein hin, vgl. W. Porombka, Christian Krachts neues Werk. 79 Op het hoogste punt van het Zilverkleurig Complex zien Trinity en Carlo het vliegtug komen. / De soldaten kijken naar het scherm. De pixel pulseert almaar heviger, alsof die zich opmaakt voor een nieuwe oerknal. / Een soldaat sluit Meneer J’s ogen. / Trinity legt een hand over Carlo’s ogen – een gebaar van liefde. / De camera zoomt razendsnel op haar mond in. De camera glijdt haar mond in. Haar keel in. Dieper. Tot waar de oerschreeuw ontstaat: O O O O O O.“

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Abb. 9.1. Zwerm: Seite 1

wie sie in 9/11-Filmen wie United 93⁸⁰ vorkommt, wenn die Bilder der Flugzeuge und ihre Visualisierung auf Schirmen im Kontrollturm nebeneinandergestellt werden). Auf die Szenen des Anblicks des Grauens folgen zwei Szenen des Augenschließens, in denen filmischem Erzählgestus entsprechend eine Geste (das Schließen der Augen von jemand anderem) den Vorgang des Schließens überdeutlich macht. Das Schließen der Augen erhält eine überhöhte, vom eigentlichen Kontext abgekoppelte Bedeutung. Der Text erreicht über das ‚filmische‘ Erzählen einen pathetischen, gefühlsbetonten Zugang zum Erzählten und fördert die Immersion.⁸¹ Ein ähnliches Verfahren attestiert Jan Süselbeck auch Ich werde hier sein in einer „postmoderne[n] Ästhetik des Zappings durch altbekannte Kriegsbilder“,⁸² auf deren „sofortige und stets ambivalente Faszinationskraft“ der Roman setze, um „Gefühle des Erhabenen“ hervorzurufen.⁸³ In unterschiedlichem Maß ermöglicht filmisches Erzählen beziehungsweise die Anspielung auf filmische

80 Paul Greengrass (Regie), United 93, 2006. 81 Zur pathetischen Semiose im Film, bei der ein Bild zunächst entkonkretisiert und dann mit Bedeutung aufgeladen wird vgl. Christian Schmitt, Kinopathos. Große Gefühle im Gegenwartsfilm, Diss., Berlin 2009, S. 37ff. und S. 63–64. 82 J. Süselbeck, S. 242. 83 J. Süselbeck, S. 247.

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Bilder in beiden Romanen das Aufrufen großer Gefühle, die in Zwerm jedoch wieder gebrochen werden, während in Ich werde hier sein das Unauthentische des Zitats als Distanzierungsstrategie herhalten müsste.⁸⁴ Kennzeichnend für Zwerm ist, dass das filmische Erzählen das Medium Film gleichzeitig thematisiert und reflektiert und somit Immersion ebenso ermöglicht wie stört. Mit der Evozierung eines filmischen Bildes wird gleichzeitig der filmische Konstruktionsprozess offengelegt. Dies beginnt schon auf den ersten Seiten, in denen der Text einem Drehbuch gleicht („Es ist schon ein Schimmern, eine Falte in der Luft, aber wir können noch nicht sehen, was es ist.“⁸⁵) und zugleich die Entstehung eines Filmes am Filmset beschreibt („Eine Stimme sagt: ‚Ruhe am Set! Kamera! Action!‘“⁸⁶). In der zitierten Textpassage über Trinity und Carlo tritt das Medium der Visualisierung selbst auf: die Kamera. In der Beschreibung ihrer Bewegung vollzieht der Text das Heranzoomen einer Kamera, das sich in einer Kamerafahrt in den Körper Trinitys brutal steigert. Die Kamera rückt ihr buchstäblich zu Leibe, das Filmen wird zu einem aggressiven Zugang: Es drängt sich auf. Hier zeigt sich die Ambivalenz des Mediums Film, das die ‚Dinge‘ nicht näher heranbringen könnte und gerade in dieser Nähe unheimlich wird. Weder bei der Filmbeschreibung zu Beginn des Romans noch in der Szene mit Trinity und Carlo wird deutlich, ob hier ein Film und/oder seine Entstehung beschrieben wird oder ob der Roman seine eigene Handlung auf filmische Art und Weise präsentiert. Zu Beginn des Romans werden die Lesenden mit zwei Realitäten konfrontiert: der fiktiven Welt des Films und der ‚realen‘ Welt des Filmsets, die aber wiederum in einem Roman fiktionalisiert wird. Im weiteren Verlauf wird nicht mehr deutlich werden, wo die ‚wirkliche‘ Welt der Entstehung des Films endet und wo der künstlich produzierte Film beginnt. So werden einzelne Szenen des Buches immer wieder in der Form von Filmszenen dargestellt (vgl. z.B. ZW 569). Als wäre sie ein Film, wird die Handlung beliebig vor und rückspulbar (vgl. z.B. ZW 65). Mit dem Satz „Wir sind alle Figuranten [...] in tausenden von Filmen, von denen neunundneunzig Prozent ein paar Tage nach unserem Erscheinen gelöscht werden“⁸⁷ macht Angel die Botschaft des Buches überdeutlich: Im Zeitalter der allgegenwärtigen medialen Reproduktion wird die Grenze zur virtuellen

84 Süselbeck sieht die Suggestivität der filmischen Bilder in Ich werde hier sein als ungebrochen und hebt hervor, wie sie in ihrer „verwirrende[n] Vielfältigkeit“ eine „isolierte interpretatorische Betrachtung“ erschweren: S. Süselbeck, S. 252. 85 „Er is al een glinstering, een vouw in de lucht, maar we kunnen nog niet zien wat het is“, ZW 666. 86 „Een stem zegt: ‚Stilte op de set! Camera! Actie!‘’“ ZW 665. 87 „We zijn allemaal figurant [...] in duizenden films, waarvan negenennegnetig procent enkele dagen na onze verschijning wordt gewist“, ZW 314/15.

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Wirklichkeit verwischt. Der Montagespezialist Rimbaud hantiert demnach nicht mit Filmmaterial, sondern schafft Welten, deren Wirklichkeitsgrad nicht mehr bestimmbar ist (z.B. ZW 628). Das Medium des Films, das ebenso verführerisch wie gefährlich dargestellt wird, kann im Kontext einer kapitalismuskritischen Vorführung des Zwangs zum Konsum gelesen werden.⁸⁸ Nicht nur die Erzählinstanz inszeniert sich als (Film-)Rezipient, sondern auch die zahlreichen Figuren rezipieren unzählige Medien wie (Pop-)Musik oder das Internet, die sich oft eher aufdrängen, als dass die Rezeption freiwillig geschähe. Das Aufgehen in der Rezeption ähnelt der Einnahme einer Droge. So kann Angel den Pop Song „Ace of Spades“, der lautstark im roten Mustang ertönt, nicht mehr ausschalten (ZW 573 und 563). Louis Armstrongs Lied „What a Wonderful World“ erscheint ob des apokalyptischen Settings, in dem es auftaucht, wie eine Glückspille, die verabreicht wird, um von der tatsächlichen Situation abzulenken (vgl. ZW 250).⁸⁹ Ganz ähnlich wird auch der biblische Psalm 23 als ‚christliche Popmusik‘ eingesetzt (vgl. ZW 223). Diese Art von Musik ist damit eher ein Konsumprodukt, das sich aufdrängt, die Rezipienten zudröhnt und beruhigende Schlaflieder bietet, wo äußerste Aufmerksamkeit gefragt wäre. Auch im Gebrauch des Internets besteht immer die Gefahr, sich vereinnahmen zu lassen, wo selbstständige Reflexion gefragt ist. Es ist ein beliebtes Medium der Manipulation (vgl. ZW 463). Jegliche Rezeptionssituation im Roman ist damit der Rezeption eines Filmes im Sinne einer simulierten Wirklichkeit ähnlich.⁹⁰ Die Kamerabilder haben nicht nur eine informative Funktion, sondern werden im Roman auch immer wieder als Mittel der Bedrohung und der Kontrolle vorgeführt. Eine Furcht einflößende Szene ist die Beschreibung der Übertragung von Kamerabildern einer Webcam, die eine Folterszene erahnen lässt (vgl. ZW 455). Während die Polizei in der Reaktion auf diese Bilder versucht, den Erstellern des Videos auf die Spur zu kommen, setzt sie selbst überall Kameras zur

88 Vgl. an dieser Stelle auch Sven Vitses Analyse von Zwerm, nach der die Strukturprinzipien des Romans (Zirkularität, Wiederholung und Netzwerke) unkontrollierbar Bedeutung generieren und damit das kapitalismuskritische Prinzip der Krise durch Überproduktion darstellen, vgl. Sven Vitse, Loutering door exces? Economie en literatuur in Zwerm van Peter Verhelst. In: Parmentier, 18, 2009, S. 45–54. 89 Rob Schouten weist auf die „feelgood-evergreens“ hin, welche dem Chaos des Erzählens nur unüberzeugende Pausen abgewinnen, vgl. R. Schouten, Groots, ambitieus – maar saai. 90 Auch das intertextuelle Verweisuniversum, das im Text aufgerufen ist, ruft mit Vorliebe Filme auf. Stark frequentierte Intertexte sind dabei Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968), Franklin J. Schaffners Planet of the Apes (1968), Francis Ford Coppolas Apokalypse Now (1979) und Paul Thomas Andersons Magnolia (1999). Den Filmen ist gemein, dass sie passend zum Rahmen des Romans entweder einerseits die Entstehung von Welten thematisieren oder andererseits ein apokalyptisches Kriegsszenario inszenieren.

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Überwachung der Bürgerinnen und Bürger ein. Vor allen Dingen die Figur Angel ist davon betroffen, da sie anhand eines selbst konstruierten Fotos als Staatsfeind gesucht wird. Dieses Foto ist im Fernsehen zu sehen, wo es „immer wieder neu erscheint“.⁹¹ In seiner wilden Flucht sind die omnipräsenten Kameras Angels Feinde: „Angel jagt das Auto durch den Verkehr. [...] Kameras an der Autobahnbeleuchtung oder an Ampeln, Kameras in Einkaufszentren, Parkhäusern, Geldautomaten. Kameras in den Händen von Touristen.“⁹² Auch Lieutenant Calley ist von den Kameras betroffen: „Ich durfte zu abgesprochenen Zeiten Geld aus einem Geldautomaten in der Wand eines Supermarktes abheben. [...] Später begriff ich warum: Jeder Geldautomat hat eine Kamera, mit der alle Kunden gefilmt werden. Jeder Supermarkt hat ein Bewachungssystem, das von jedem Hacker kontrolliert werden kann.“⁹³ In diesen Szenen wird deutlich, dass niemand nur Konsument von Kamerabildern ist, sondern immer gleichzeitig unfreiwillig selbst zum Aufnahmeobjekt von Kameras wird. Durch perfektionierte Mittel der Überwachung werden die Möglichkeiten der Medien in Zwerm von ihrer bedrohlichen Seite gezeigt: Die Kameras ermöglichen eine ständige Überwachung aller Bürgerinnen und Bürger, deren Daten unablässig gesammelt werden. Der Text führt die zweifelhafte Funktion von (Film-)Bildern vor, welche Beobachterinnen und Beobachter an einem Geschehen zu beteiligen scheinen, das doch nur virtuell anwesend ist. Von Beginn an sind die Kameras selbstverständlicher Bestandteil der Geschichte, zunächst als Mittel der Berichterstattung über den „Silberfarbenen Komplex“: „Auf der Straße schultern die ersten Kamerateams Kameras und richten sie auf Journalisten, die ihr Gesicht in eine beruhigende Falte ziehen. [...] Ab und zu schweift eine Kamera zum Komplex ab. [...] Bald werden Kameras unerreichbare Etagen einzoomen und singende Gesichter in den Close-Up nehmen.“⁹⁴ In den Close-ups sind die Kameras im Stande Bilder zu generieren, welche in der normalen Sinneswahrnehmung nicht möglich wären. Am Ende des Romans wird erneut auf die verfälschende mediale

91 „telkens opnieuw verschijnt“ (ZW 600). 92 „Angel jaagt de auto door het verkeer. [...] Camera’s aan verlichtingspalen op de snelweg of aan verkeerslichten, camera’s in winkelcentra, parkeergarages, geldautomaten. Camera’s in de handen van toeristen“(ZW 314). 93 „Ik mocht op afgesproken tijdstippen geld halen uit een geldautomaat in de muur van een supermarkt. [...] Later begreep ik waarom: elke geldautomaat heeft een camera waarmee alle klanten worden gefilmd. Elke supermarkt heeft een bewakingssysteem dat door iedere hacker kan worden gekaapt“ (ZW 431). 94 „Op straat schouderen de eerste tv-ploegen camera’s en richten die op journalisten die hun gezicht in een geruststellende plooi strijken. [...] Af en toe dwaalt een camera af naar het Complex. [...] Weldra zullen camera’s op onbereikbare etages inzoomen en zingende gezichten in close-up nemen“ (ZW 664).

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Präsenz von Kameras hingewiesen, deren Bilder vom brennenden, zerfallenden und schließlich zerstörten Komplex die Rezeption lenken: Satellietenkameras zoomen ein und zeigen unerkennbare Dinge, Verwüstungen, für die neue Wörter gefunden werden müssen [...]. Die Kamera zoomt auf Details ein. Ein Kinderschuh. Das ist es, was einen in Schluchzen ausbrechen lässt. Wir können die grobkörnigen Bilder von Menschen, die hinter Fenstern mit weißen Tüchern winken, nicht vergessen. [...] Die Kamera zoomt auf den Krater ein. Die Hitze ist so immens, dass die Bilder flüssig werden [...].⁹⁵ (ZW -2)

Die Kamerabilder können hier nicht erklären, was passiert ist, sondern zeigen „unerkennbare Dinge“. Sie bieten weniger einen rationalen Zugang zum Geschehen, als einen emotionalen, wie z.B. durch die Aufnahme eines Kinderschuhs. Durch den dem menschlichen Auge unmöglichen ‚Zoom‘ werden Dinge sichtbar, die schwer zu verarbeiten sind. Die Kameras bringen ein traumatisches Ereignis so nahe an die Zuschauenden heran, dass diese sich an dem Ereignis beteiligt fühlen, ohne dabei anwesend zu sein. Dadurch etabliert sich das im Rahmen der Geschichtsschreibung relevante Thema der Zeugenschaft durch Medien, das Zwerm anhand des Films verhandelt. Zwerm wird von zwei Erzählstimmen dominiert – die des extradiegetischen Rahmenerzählers, der den Roman eröffnet, und die traumatisierte intradiegetische Erzählstimme des Vietnamsoldaten, der sich später als Angel entpuppt (vgl. 9.3.1). Figuren wie Pearl, Abel oder Kimpoek werden im personalen Erzählstil zwar intern fokalisiert, sie sind von kleinen Redebeiträgen abgesehen jedoch keine Erzählinstanzen. Erst am Ende des Romans tritt der Erzählsituation in Ich werde hier sein vergleichbar eine übergeordnete visionäre Stimme auf, die einen Neubeginn postuliert und gleichzeitig die Erzählung wieder erneut in Gang setzt (vgl. 9.3.3). Die zwei Erzählstimmen des extra- und des intradiegetischen Erzählers werden einander in einem entscheidenden Punkt angenähert: Beide Erzählstimmen stellen die Zeugenschaft erzählerisch in den Mittelpunkt. In Bezug auf die intradiegetische Erzählstimme des Vietnamsoldaten geschieht dies im ständigen Verweis

95 Satellietcamera’s zoomen in en laten onherkenbare dingen zien, verwoestingen waar nieuwe woorden voor moeten worden gevonden [...]. / De camera zoomt in op details. Een kinderschoen. Dat is het wat in snikken doet uitbarsten. / We kunnen de korrelige beelden niet vergeten van mensen die achter ramen met witte doeken staan te wuiven. [...] / De camera zoomt op de krater in. De hitte is zo immens dat de beelden vloeibaar worden [...] / Nog tijdens de evacuatie verschijnen foto’s en ooggetuigenverslagen op het Web, woorden en beelden die al een nieuw leven leiden, die zich losmaken van de gebeurtenissen zelf. Ze haken zich in het geheugen vast, want waarom schrikken we weken later nog wakker?“

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auf die eigene Wahrnehmung (vgl. die in 9.3.1 aufgeführten Zitate des Soldaten: „Ich habe Dinge gesehen...“, ZW 656.). Es geht diesem Erzähler darum, dass er „Dinge gesehen“ hat, also Augenzeuge von einem (grausamen) Geschehen war und dieses Augenzeugenwissen durch seinen Text vermitteln möchte. Die visuelle Dimension wird damit wiederum wichtig, der Soldat ist im doppelten Sinne ‚infiziert‘ – einerseits als biologische Kampfwaffe (vgl. 9.3.1), andererseits durch die schrecklichen Bilder, die er sehen musste. Dabei ist das schrecklichste wahrgenommene Bild nicht umsonst das weltweit bekannte Bild des vietnamesischen Mädchens Kimpoek, das mit verschmortem Rücken während eines amerikanischen Anschlags im Vietnamkrieg zu fliehen versucht.⁹⁶ Der Vietnamsoldat ist infiziert mit einem Bild, das sich weltweit auf den Netzhäuten eingebrannt hat, er personalisiert damit eine kollektive Erfahrung, die nicht authentisch ist, sondern auf der Wahrnehmung eines Bildes beruht.⁹⁷ In der auf Bildern anstatt auf eigener Erfahrung beruhenden Zeugenschaft wird im intradiegetischen Erzählen ein Thema behandelt, das auch im extradiegetischen Erzählen vorkommt, da es den Text über weite Strecken filmisch zu inszenieren versucht. Das filmische Erzählen ermöglicht der extradiegetischen Erzählstimme eine scheinbare Zurücknahme ihrer allmächtigen Erzählposition. Die Erzählinstanz wird zum Beobachter beziehungsweise Wahrnehmer, die ‚nur‘ über das, was sie sieht, berichtet: Sie folgt der Kamera und gibt deren Bildausschnitte wieder (vgl. ZW 665). Sie wird zum Zeugen des (filmisch präsentierten) Geschehens, scheinbar ohne Einfluss nehmen zu können. Dieser Effekt wird erzeugt durch die Quasiobjektivität der (Film-)Bilder, die beschrieben werden. Durch das Beschreiben (des Zustandekommens) eines Films verwischt die Grenze zwischen homodiegetischem und heterodiegetischem Erzählen. Einerseits ist die Erzählinstanz unbeteiligt, sie nimmt als Figur nicht am Geschehen teil. Andererseits nimmt sie als Wahrnehmungsinstanz der Bilder eine Zeugenfunktion ein, wie sie dem homodiegetischen Erzählen eigen ist. In diese Zeugenposition werden die Lesenden mit einbezogen: Die Wahrnehmung geschieht kollektiv in der ersten Person Plural (vgl. z.B. ZW 487). Diese Gleichsetzung von individueller und kollektiver Ebene wird innerhalb der Handlung des Romans paradoxerweise immer wieder kritisiert (vgl. z.B: ZW 332). Die Wahrnehmung der Bilder ist keine individuelle Erfahrung, sondern eine kollektive, welche die Wahrnehmenden in der

96 Dieses Mädchen taucht in Zwerm als Figur der fahrradfahrenden Mangaschönheit Kimpoek auf, die wiederum Filmrollen mit der „Geschichte der Welt“ (ZW 102) in verschiedenen Schließfächern verstreut, so dass eine Botschaft aus diesen historischen Fetzen nicht herzuleiten ist. 97 Der Prozess, in dem ein Foto zur Ikone wird, die auch unabhängig vom Anlass ihres Entstehens eine Bedeutung entwickeln kann, thematisiert der Roman ausführlich, vgl. ZW 450 ff.

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Wahrnehmung bindet.⁹⁸ Die Lesenden sind also letztlich aufgefordert, auch der im Roman angebotenen Erlebnis- und Referenzillusion zu misstrauen: Zwerm bedient sich filmischer Repräsentation zur affektiv geladenen Repräsentation und schafft zugleich Distanz durch Reflexion dieses Verfahrens.

9.3 Annäherung 9.3.1 Schmerzhafter Kontakt: Wunde/Trauma Im Zustand der Auflösung und Desintegration (vgl. 9.2.2) konfrontieren uns Krachts und Verhelsts Romane mit einer kaum zu bewältigenden Menge an Schmerz, Schrecken und Verwundung, die Figuren entweder selbst erfahren oder deren Zeuge sie werden (vgl. 9.2.3). Allgegenwärtig sind in Ich werde hier sein die Betäubungsmittel, mit denen die gesamte Bevölkerung ihren augenscheinlich konstanten Schmerz unterdrückt (vgl. etwa die überall herumliegenden Morphiumampullen, IWHS 12). In Ich werde hier sein ist es der Ich-Erzähler selbst, der Zeuge zahlloser unkontrollierbarer Gewaltausübungen wird. So muss er die Ermordung zweier Männer, seiner „Appenzeller“ Spurensucher, hinnehmen, die sich auf unheimliche Weise andeutet: „Drei Paar Fussspuren führten in den Wald, nur ein Paar wieder heraus [...]“ (IWHS 67/68). Im Wald findet er die entstellten Leichen der Männer vor: „Leicht in der Hocke an den Baumstamm gelehnt, stand einer meiner Appenzeller Rotgardisten und sah mich an [...] sein Oberkörper war bläulich angefroren und mit Eisstaub überzogen. [...] Sein linkes Ohr fehlte, dort hatte der Mörder die Waffe angesetzt und abgedrückt“ (IWHS 69/70). Auch am eigenen Leibe erfährt der Ich-Erzähler (lebens-)bedrohliche Situationen, die sich völlig seiner Kontrolle entziehen. Eine Schlüsselszene stellt dabei der Moment dar, in dem er auf eine Tretmine tritt:⁹⁹ Auf halbem Wege hinüber zum Dorf blieb ich stehen. Unter meinem rechten Stiefel hatte es metallisch geklickt. Ich schloss die Augen. Ein kleines Rinnsal hinter meinem Ohr, in den Nacken hinein. Eis. Minen. Ein Minenfeld. Mir war, als leerte sich meine Blase. Der Urin durfte nicht meine Beine herablaufen. [...] Ich durfte mich nicht bewegen, das war alles, was ich tun musste. Das zweite Klicken würde ich nicht mehr hören. [...] Ich unterdrückte

98 Eine weitere Art, die Lesenden einzubeziehen und gleichzeitig auch die extradiegetische Erzählinstanz selbst zum Wahrnehmungsobjekt der eigenen Wahrnehmung zu machen, ist das Erzählen in der „du“-Form, wie es schon auf den ersten Seiten geschieht. Vgl. ZW 664. 99 Bezeichnenderweise ist auch in Verhelsts Zwerm eine vergleichbare Minenszenen zu finden, in der ein Soldat „stocksteif“ wird, als er auf eine Mine tritt und letztlich durch sie stirbt, vgl. ZW 522.

9.3 Annäherung |

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den unmenschlich starken Wunsch, laut zu schreien. Meine Beine begannen zu zittern, erst kaum merklich innen, dann immer stärker. Ich hielt mir die Schenkel fest, sie waren wie aus Kautschuk. Die Mine pochte unter meinem Stiefel. (IWHS 85)

Der Text inszeniert in stakkatoartigen Einwortsätzen ein Schockerlebnis. In einer Abwehrreaktion versucht der Ich-Erzähler sich vor der Gefahr in innerlichem Rückzug abzuschirmen („Ich schloss die Augen“). Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die inneren und körperlichen Vorgänge, innerhalb der Person beginnt ein Kampf um die gedankliche und körperliche Selbstkontrolle. Wie in Zwerm gestaltet sich hier eine (grausame) Grenzerfahrung. Die Szene potenziert sich in ihrer Schreckenhaftigkeit, wenn der Ich-Erzähler aus dieser Position heraus mit einem weiteren Gewaltakt konfrontiert wird, dessen Täter ihm selbst in Bezug auf seine lebensbedrohliche Situation davon provozierend erzählen: „Steht wie festgenagelt auf seiner eigenen Schweizer Mine! [...] Weisst du was, Untermensch? Wir haben uns an einem kleinen Schweizer Mädchen vergangen da im Haus, hörst du, Neger? Wir haben sie auch ganz schön festgenagelt. Sie war viel zu eng für uns beide. Jetzt ist sie tot. Ich habe sie totgebissen“ (IWHS 87). Der Ich-Erzähler wird sowohl selbst Opfer von Gewalt als auch Zeuge von Gewalt an anderen. Angesichts dieser geballten Gewalt- und Schmerzerfahrungen stellt sich die Frage nach der Rolle dieser Szenen. Ihnen ist über das Konzept des Traumas auf die Spur zu kommen, das eine bestimmte Form der psychischen Verletzung bezeichnet. Eine ‚traumatisierte‘ Stimme meldet sich in Zwerm zu Wort. Es ist die Stimme des Vietnamsoldaten, welche den Erzählfluss wie mit unzähligen Nadelstichen stört, indem auf dem blendenden Weiß einer ganzen freigelassenen Seite typografisch abgehoben Hilferufe stehen, mit denen diese Erzählerstimme ihrem nicht zu bewältigenden Schmerz Ausdruck zu geben versucht: „Ich habe Dinge gesehen“ (ZW 656). [...] „Alles habe ich ausprobiert um zu vergessen. Alle möglichen Cocktails“ (ZW 646). [...] „Es ist unmöglich zu vergessen“ (ZW 638). [...] „Niemand glaubt mir“ (ZW 620). [...] „Der Traum sich selbst zu sehen in einem Körper, der nicht von einem selbst ist“ (ZW 602). [...] „Dinge, die sich unter meiner Haut bewegen. Die aus meinen Poren kommen wie Schweißtropfen. Aber es sind keine Schweißtropfen. Es sind kleine Scherben“ (ZW 599). [...] „So viel Schmerz“ (ZW 596). [...] „Hilf mir. Erlöse mich.“ (ZW 590).¹⁰⁰

100 „Ik heb dingen gezien“ (ZW 656). [...] / „Alles heb ik uitgeprobeerd om te vergeten. Alle mogelijke cocktails“ (ZW 646). [...] / „Het is onmogelijk om te vergeten“ [...] / „Niemand gelooft me“ (ZW 620). [...] / „De droom jezelf te zien in een lichaam dat niet van jou is“ (ZW 602). [...] / „Din-

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Dem Soldaten steckt die nicht zu bewältigende Vergangenheit wie kleine Scherben unter der Haut, er wünscht sich einen anderen Körper. Die auf diese Weise unangenehm anwesende Vergangenheit versetzt ihn in einen Zustand permanenten Schmerzes, den er nicht bewältigen kann. Selbst ohnmächtig, muss er auf Erlösung hoffen. Sein Erlösungswunsch steht der Tatsache gegenüber, dass er seine Schmerzerfahrung niemandem glaubwürdig machen kann. Der Soldat ist ein früh im Buch auftretendes Musterbeispiel für eine traumatisierte Figur. Das Trauma definiert sich als „ [...] ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“.¹⁰¹ Wichtige Elemente stellen nach dieser Traumadefinition die (Lebens-)Bedrohlichkeit einer Situation und die gleichzeitige Hilflosigkeit, mit der jemand dieser Situation ausgeliefert ist, dar. Sie erzeugt die „dauerhafte Erschütterung von Selbstund Weltverständnis“, die sich mit der irreversiblen Veränderung des traumatisch verwundeten Körpers vergleichen lässt. Wichtig für die Figur des Traumas innerhalb des historischen Erzählens ist, dass das Trauma auf einen – wenn auch grausamen und schmerzhaften – Kontakt mit dem Anderen hinweist. Die potenzierten Szenen der Gewaltausübung, die Situationen der Lebensbedrohung, der körperlichen Verwundung bis zum Tod und der Vergewaltigung aufhäufen, setzen sich auf allen Ebenen mit dem Prozess der Verletzung auseinander, der einen Zustand (körperlicher und seelischer Gesundheit) nachhaltig stört. Die Verwundung als Penetration und Zufügung von Schmerzen stellt in Ich werde hier sein eine Szene zwischen dem Ich-Erzähler und Brazhinsky exemplarisch zur Schau: Mit der Spitze einer Ahle, die er ebenfalls aus der Dunkelheit seines Bettes zog, berührte er meinen Brustkorb – auf der linken Seite, dort, wo er mein Herz vermutete. [...] Brazhinsky bohrte mit der Ahle durch mein Uniformhemd, kaum berührte die Spitze meine Haut, war sie auch schon durchbrochen, Blut quoll erst tröpfchenweise hervor, dann färbte sich das Hemd vorne dunkel. Der Schmerz kam in Wellen und wusch mich. (IWHS 130)

Wie in Zeitlupe wird hier der Vorgang einer Verletzung vorgeführt: die Berührung und schließlich Durchstoßung der Haut durch einen Fremdkörper, das Hervor-

gen die onder mijn vel bewegen. Die uit mijn pori¨’en komen als zweetdruppels. Maar het zijn geen zweetdruppels. Het zijn scherfjes“ (ZW 599). [...] / „Zo veel pijn“ (ZW 596). [...] / „Help me. Verlos me“ (ZW 590). 101 Gottfried Fischer und Peter Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, 4. Aufl., München/Basel 2009, S. 84.

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treten von Blut und der mit diesem Eindringen einhergehende Schmerz. Durch den besonderen Umstand, dass das Herz des Ich-Erzählers ‚nicht auf dem rechten Fleck‘ ist (IWHS 56), wird diese Situation entgegen der Intention des Verletzers nicht lebensbedrohlich. Sie scheint für den Verwundeten eine geradezu läuternde Wirkung zu haben, da er sich im Schmerz „rein waschen“ kann. Durch die Berührung und Durchdringung entsteht hier auch ein schmerzhafter Kontakt zwischen Täter und Opfer. Die Verwundung zeichnet den Körper (vgl. die Tätowierung in 7.3.1), der eine bleibende Veränderung erfährt. In der gewaltsamen Körperöffnung entsteht eine durch Vernarbung bleibende Wunde, deren griechische Bezeichnung „Trauma“ die Gewalt- und Verletzungsszenen in beiden Romanen in einen größeren Rahmen einordnet. Dieser zweite Rahmen des Traumas wird für das historische Erzählen besonders relevant. Die beiden Texte verhandeln Traumata nicht nur auf einer individuell-psychologischen Ebene als Ausdruck persönlichen Leids, sondern thematisieren das Trauma als kollektives Phänomen. Während das psychologische Trauma auf individueller Ebene die Konfrontation mit extremen, lebensbedrohlichen Situationen bedeutet, die das Selbstverständnis erschüttern und nicht auf die gewöhnliche Art und Weise psychisch verarbeitet werden können, müssen auf kollektiver Ebene in Bezug auf das Gedächtnis einer ganzen Gesellschaft einige Modifikationen vorgenommen werden.¹⁰² Gemeinsam ist dem psychologischen und dem kollektiven Trauma die Situation einer Grenzüberschreitung, durch die ein (psychischer oder gesellschaftlicher) Zustand derart gestört wird, dass eine Rückkehr in den vorhergehenden, unversehrten Zustand nicht mehr möglich ist. Frank Ankersmit unterscheidet jedoch diese beiden Arten des Traumas in einem zweiten Schritt. Während beim psychologischen Trauma die Identität zwar grundlegend gestört wird, jedoch intakt bleibt, wird beim kollektiven Trauma eine alte Identität restlos aufgegeben und durch eine neue ersetzt.¹⁰³ Eine Rückkehr zu der alten Identität ist also beim kollektiven Trauma nicht möglich, da es zu einem irreversiblen Bruch mit der Vergangenheit gekommen ist. Im psychologischen Trauma ist der vom Trauma ausgelöste Bruch hingegen nicht absolut, so dass zumindest das Bedürfnis bestehen kann, zu werden wer man früher war – eine Sehnsucht wieder in dem alten Zustand zu sein. Im kollektiven Trauma ist der Verlust der alten Identität irreversibel und wird grundlegender Bestandteil der

102 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Frank R. Ankersmits Konzeptualisierung des Traumas in Frank R. Ankersmit, De sublieme historische ervaring, Kapitel „De sublieme historische ervaring“, S. 348–407 (in englischer Sprache: Frank R. Ankersmit, The sublime historical experience, Kapitel „Sublime historical experience“, S. 317–368). 103 F.R. Ankersmit, De sublieme historische ervaring, S. 359ff.

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neuen Identität.¹⁰⁴ Als Beispiel nennt Ankersmit den durch die französische Revolution ausgelösten Bruch, der eine Rückkehr zum gesellschaftlichen Zustand der vorrevolutionären Zeit unmöglich gemacht habe. An dieser Stelle überschneidet sich – und dies ist für beide Romane, da sie Geschichte verhandeln, grundlegend – das kollektive Trauma mit Ankersmits Konzept der „sublimen historischen Erfahrung“.¹⁰⁵ Im Gegensatz zu Auffassungen, welche die Erinnerung an die Geschichte als grundlegend für die (kollektive) Identität betrachten,¹⁰⁶ ist im Kontext der sublimen historischen Erfahrung das Vergessen konstitutiver Bestandteil der Identität.¹⁰⁷ Die sublime historische Erfahrung setze voraus, dass eine alte Identität in dem Sinne vergessen sei, dass sie gänzlich unerreichbar geworden ist. Dennoch ist dieser Verlust als Spur in der neuen Identität anwesend, da nicht vergessen ist, dass vergessen wurde. In Zwerm wird dieser Zustand mit dem Phänomen des „Phantomschmerzes“ zum Ausdruck gebracht: „Vielleicht hat der Juckreiz, den ich manchmal verspüre, damit zu tun: Phantomschmerz.“¹⁰⁸ Die Erinnerung an das Vergessen ist eine Verlusterfahrung, die dadurch kompensiert wird, dass man soviel wie möglich über die alte Identität wissen möchte. Dieses Bedürfnis befriedigt die Geschichtsschreibung und bestätigt dabei paradoxerweise einmal mehr, dass der alte Zustand unwiderruflich vorüber ist, da er zu einem Untersuchungsgegenstand geworden ist, der nur noch über Quellen erreichbar ist.¹⁰⁹ Die Unterscheidung zwischen psychologischem und kollektivem Trauma ist produktiv für die Analyse der beiden hier behandelten Texte, da sie davor bewahrt, die Texte auf die beschriebenen psychologischen Traumata ihrer Figuren zu beschränken und hilft, den Bezug der geschilderten Traumaerfahrung zur (kollektiven) Geschichte herzustellen. Die literarische Verarbeitung des (psychologischen und kollektiven) Traumas wurde sowohl literatur- als auch kulturwissenschaftlich ausdifferenziert. Ein großes Forschungsfeld sind die Darstellungsformen und -möglichkeiten des Traumas in der Literatur. Die Forschung sieht sich dabei mit dem widersprüchlichen Umstand konfrontiert, dass das Trauma als unerzählbar definiert wird und den Erzählfluss per se stört. Das Trauma

104 F.R. Ankersmit, S. 358. 105 Vgl. zur Konzeption des Traumas in Zwerm und Ankersmits Geschichtsphilosophie B. Vervaeck, Werken aan de toekomst, S. 24–25. 106 F.R. Ankersmit, De sublieme historische ervaring, S. 350 im Verweis auf Ranke, Lübbe und Rüsen. 107 Ankersmit verweist in diesem Zusammenhang auf Nietzsches Ermahnung, dass gerade das Vergessen handlungsfähig mache: F.R. Ankersmit, De sublieme historische ervaring, S. 352. 108 „Misschien heeft de jeuk die ik soms voel daarmee te maken: fantoompijn“ (ZW 137). 109 F.R. Ankersmit, De sublieme historische ervaring, S. 363.

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stellt die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit dadurch, nicht vergessen zu haben, dass man vergessen hat, auf inkohärente Weise her. Während die Geschichtsschreibung die Vergangenheit erzählt und auf diese Weise zumindest kognitiv beherrscht, stört die sublime historische Erfahrung diesen Erzählfluss wie die Hilferufe des Vietnamsoldaten und sucht nach dissoziierenden Elementen, welche die eigene Geschichte als die von jemand anderem erscheinen lassen.¹¹⁰ Gerade durch die Betrachtung der eigenen Geschichte ‚von außen‘ kann paradoxerweise eine Erfahrung der Nähe entstehen, die jenseits des kognitiven Wahrnehmungsapparates und der Repräsentation liegt: Es geht um eine neue Erkenntnis der eigenen, früheren Identität, zu der man im vorhergehenden Zustand nicht fähig gewesen wäre.¹¹¹ Die narrative Inszenierung des Traumas kommt besonders in zwei Formen zum Ausdruck: einerseits durch verschiedene Formen der Bildsprache, welche Imaginationen des Traumatischen evozieren, andererseits in der ‚Abbildung‘ des Traumas in einer gestörten Erzählstruktur selbst.¹¹² Zwerm besteht aus ungeordnetem, versatzstückartigem Erzählen und spiegelt so das dissoziierende Trauma. Die Verbindung zwischen individuellem und kollektivem Trauma wird in der Erzählwelt am deutlichsten anhand der Figur des vietnamesischen Mädchens Kimpoek, das mit einem rätselhaften Datenvorrat konfrontiert ist: Elke avond scrollt ze na de yoga-oefeningen door de bestanden, alsof ze in de geschiedenis van de wereld bladert. Een overzicht van alles wat de homo sapiens met de Homo sapiens

110 F.R. Ankersmit, De sublieme historische ervaring, S. 375ff. 111 Für Ankersmit entstehen kollektive Traumata nur dann, wenn davon die Rede sein kann, dass eine alte Identität auf gesellschaftlicher Ebene vollständig abgelöst wurde, wie zum Beispiel im traumatischen Ereignis der französischen Revolution. Ankersmit vertritt diesen Standpunkt so extrem, dass er dem Holocaust den Status eines so definierten kollektiven Traumas aberkennt, da nicht von einem Paradigmenwechsel die Rede sei, der die Gesellschaft nachhaltig geprägt habe: F.R. Ankersmit, De sublieme historische ervaring, S. 386ff. Ein solcher radikaler Bruch führe immer dazu, dass eine mythologische (Vor-)Vergangenheit entstehe, die auf einer Grenze angesiedelt sei: der zwischen einem zeitlosen Urzustand und einer von historischen Entwicklungen gekennzeichneten Geschichte. Eine solche verlorene Vergangenheit kann überall da angesiedelt werden, wo die Geschichte in einer nostalgischen Sehnsucht als „unhistorisch“ idealisiert werden kann (z.B. die Zeit vor der industriellen Revolution). Im Gegensatz zum psychologischen Trauma ist es im kollektiven Trauma also möglich, dass eine Gesellschaft ihre Identität mehrmals vollständig verliert: F.R. Ankersmit, De sublieme historische ervaring, S. 405ff. Die abgelegten Identitäten bleiben jedoch als Abwesenheit anwesend in den Elementen, die mythologisiert werden. 112 Vgl. Birgit Neumann, Trauma und Literatur. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar 2008, S. 728–729.

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kan uitrichten. Maar ze weet dat het uiteindelijk haar eigen geschiedenis is die ze pixel na pixel reconstrueert. Haar dorp. De koningsvarens. Het hout dat geschikt wordt onder een waterketel. [...] Af en toe dropt ze een van de harde schijven in een locker, samen met een sleutel en een blad. En met elke harde schijf die ze afstaat, breekt ze haar eigen geschiedenis weer af. Want dat is waar het op aankomt: vergeten. Eén lange oefening in vergeten.¹¹³

Kimpoek, Namensträgerin des Mädchens, das durch ein vietnamesisches Kriegsfoto berühmt wurde, verfügt mit den mysteriösen Festplatten über die „Geschichte der Welt“, welche aus den Gräueltaten besteht, die Menschen einander angetan haben. Ihre eigene, individuelle Vergangenheit ist untrennbar mit diesem Weltschicksal verknüpft, das sie zu dissoziieren versucht, indem sie die Daten auf verschiedene Schließfächer verteilt, um sich so im Vergessen zu üben. Sie vollzieht damit den traumatischen Prozess der sublimen historischen Erfahrung, die Vergangenheit von sich abspaltet und gleichzeitig ein besonderes Bewusstsein für sie entwickelt. In Ich werde hier sein generalisiert der Ich-Erzähler seine Situation, indem er von sich selbst verallgemeinernd als „man“ spricht. Der Sommer ist eine in unerreichbare Ferne gerückte Erinnerung: Wie war es nur im Sommer gewesen, als die Erde weich und krumig lag? Man konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie man sich auch nicht an Gesichter erinnern konnte. Die Jahreszeiten verschwanden, es gab kein Auf und Ab mehr, kein bemerkbarer Wechsel, ebenso keine Gezeiten, keine Wogen, keine Mondphasen, der Krieg ging nun in sein sechsundneunzigstes Jahr. Wie war es im letzten Sommer gewesen, wie im Sommer davor, wie noch letzten Vollmond? Der Fluss der Zeit hatte es aus der Erinnerung gewaschen. [...] Man erinnerte sich nicht mehr. Es waren nun fast einhundert Jahre Krieg. Es war niemand mehr am Leben, der im Frieden geboren war. (IWHS 12-13)

Der traumatische Zustand eines Krieges, der alle Erinnerung an Frieden ausgelöscht hat und sich endlos fortzusetzen scheint, bestimmt von vornherein den Roman. Einerseits sind natürlich alle in und während dieses Krieges lebenden Menschen individuell betroffen (vgl. IWHS 95), andererseits äußert sich der Krieg in einem Prozess des kollektiven Vergessens, wie er im allgemeinen Verlernen der Schrift zum Ausdruck kommt: „Unser Verlernen des Schreibens ist, wenn Sie 113 „Jeden Abend scrollt sie nach den Yogaübungen durch die Datenbestände, als ob sie durch die Geschichte der Welt blättert. Eine Übersicht von allem, was der Homo Sapiens mit dem Homo Sapiens anrichten kann. Aber sie weiß, dass es schlussendlich ihre eigene Geschichte ist, die sie Pixel für Pixel rekonstruiert. Ihr Dorf. Die Königsfarne. Das Holz, das unter einem Wasserkessel zurecht gerückt wird. [...] Ab und zu legt sie eine der Festplatten in einem Schließfach ab, zusammen mit einem Schlüssel und mit einem Blatt. Und mit jeder Festplatte, die sie abgibt, bricht sie ihre eigene Geschichte wieder ab. Denn das ist es, worauf es ankommt: Vergessen. Eine lange Übung des Vergessens.“ (ZW 102).

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so wollen, ein Prozess des absichtlichen Vergessens“ (IWHS 43). Durch das bewusste Verlernen der Schrift wird Vorkriegsvergangenheit dissoziiert, aus dem Gedächtnis verbannt. Diese Zurückweisung der kognitiven Aufarbeitung, wie sie die Geschichtsschreibung leistet, ermöglicht zugleich die sublime historische Erfahrung. In ihr wird die durch die Geschichtsschreibung geförderte Trennung von Gegenwart und Geschichte aufgelöst, so dass anstatt eines zeitlichen Nacheinanders Gleichzeitigkeit entsteht (vgl. 9.3.2) wie in den Höhlenzeichnungen des Réduits, welche die schriftliche Darstellung durch eine „Dekadenz der Darstellung“ (IWHS 121) ersetzen (vgl. 9.2.2): Die Geschichte der Schweiz, die durch die Fresken erzählt wurde, schien hier oben ins Stocken gekommen zu sein; die lineare Abfolge von Ereignissen, Schlachten, Aufmärschen, Paraden – denn es war naturgemäss eine Geschichte des Krieges – wurde nach und nach von einer sonderbaren Gleichzeitigkeit der Darstellung abgelöst [...] es zeigte sich eine regelrechte Abstrahierung. Je weiter ich Raum für Raum den Verlauf der Arbeiten abschritt, desto weniger realistisch wurde die Kunst [...] [wir] waren tatsächlich wieder bei den vertiginösnausealen Kreisen [...] meiner Kindheit angelangt. (IWHS 122)

Es geht hier nicht mehr um eine adäquate Abbildung der (vergangenen) Wirklichkeit, sondern um abstrakte Figuren der Simultanität, die einen kindlich-direkten Zugang ermöglichen. Der allgegenwärtige Schmerz in Ich werde hier sein ist eine ebensolche unmittelbare Erfahrung, die jedoch zeigt, dass die Direktheit der Erfahrung eine intakte Identität stört. Vor allen Dingen in traumatischen Situationen neigt der Ich-Erzähler dazu, sich selbst als jemand anderen wahrzunehmen (vgl. z.B. IWHS 112) und sich daher immer wieder seiner selbst vergewissern zu müssen: „Ich bin an diesem Ort“ (IWHS 25). Gleichzeitig versucht er immer wieder, seine Wahrnehmung zu filtern, wofür das Öffnen und Schließen der Augenlider steht, wie in einer Kindheitserfahrung deutlich wird: „Ein Falter hatte sich auf mein Augenlid gesetzt, er hatte sich in die Bewegung der Wimper verliebt, zeitgleich mit dem Öffnen und Schliessen des Auges schlug er seine Flügel“ (IWHS 73). Eine ununterbrochene Wahrnehmung scheint hier lebensbedrohlich, das Öffnen und Schließen der Augen hält genau wie das Öffnen und Schließen der Flügel des Schmetterlings lebensfähig, da es die erhabene Situation eines Schwebezustands ermöglicht. Das Öffnen und Schließen spiegelt den kollektiven Vorgang der Assoziation mit und Dissoziation von der Vergangenheit als sublimer Erfahrung.

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9.3.2 Geschichte als Mutation: Die Poetik des Virus Die traumatische Erfahrung wird auch als „Fremdkörper im Gedächtnis, als ‚verkörperte‘ Erinnerung“, konzeptualisiert.¹¹⁴ Das Bild von der traumatischen Erfahrung, die als Fremdkörper eindringt, etabliert eine Ähnlichkeit zwischen traumatischer Erfahrung und Virus. Das Virus als „phobisches Grundmodell“¹¹⁵ ist eine zeitgenössische Trendmetapher, derer sich die besprochenen Romane unterschiedlich intensiv bedienen: Während Ich werde hier sein das Virus thematisiert, arbeitet Zwerm es zu einer Poetik des Virus aus. Der Vergleich der traumatischen Erfahrung mit einem Virus unterstreicht einerseits ihre zerstörerische Kraft und andererseits ihre angsterregende Unkontrollierbarkeit, denn Viren wurden in Abgrenzung zu Bakterien als „unsichtbare, nicht filtrierbare und nicht züchtbare“ Krankheitserreger definiert.¹¹⁶ Wesentliche Übereinstimmung ist dabei, dass weder Virus noch traumatische Erfahrung repräsentierbar (im Falle der traumatischen Erfahrung narrativierbar)¹¹⁷ sind. Sie entziehen sich den gängigen Darstellungsmechanismen. Das Virus ist kein Lebewesen und hängt daher von einem Wirt ab.¹¹⁸ Der traumatischen Erfahrung vergleichbar nistet sich das Virus als Fremdkörper in den Körper dieses Wirtes ein und kann sich erst über dessen Stoffwechsel vermehren. Während das Virus also selbst kein Lebewesen ist, nutzt es die biologischen Funktionen eines Lebewesens, das es dann auch kontrollieren kann: Durch Penetration und Schädigung einer Wirtszelle kann es die Produktion von Nachkommenviren auslösen.¹¹⁹ Die traumatische Erfahrung materialisiert sich wie das unsichtbare Virus im Körper beziehungsweise im Gedächtnis des ‚Wirts‘ und wird in unkontrollierbaren körperlichen und psychischen Reaktionen sicht-

114 Vgl. Birgit Neumann, Trauma und Traumatheorien. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar 2008, S. 729–731. 115 Martin Kiel, Virales und Latenz. Gedanken zur Nützlichkeit eines handlungshermeneutischen Kunstgriffs. In: Ästhetik & Kommunikation, 41, 2010, S. 57. 116 Herbert Hof und Rüdiger Dörries, Medizinische Mikrobiologie, 4. Aufl., Stuttgart 2009, S. 144. Die Definition bezieht sich auf den Beginn der Virologie um die Jahrhundertwende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Inzwischen können Viren im Elektronenmikroskop sichtbar und mittels spezieller Verfahren gezüchtet werden. 117 Vgl. B. Neumann, Trauma und Traumatheorien, S. 730. 118 H. Hof und R. Dörries, S. 144. 119 H. Hof und R. Dörries, S. 145. Da Viren nicht zur eigenständigen Replikation fähig sind, sind sie auch völlig unempfindlich gegenüber medizinischen Eingriffen wie Behandlung durch Antibiotika, vgl. H. Hof und R. Dörris, S. 148.

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bar. Durch die Koppelung des Traumas an die „fantastische Metaphernwelt“¹²⁰ des Virus wird die furchteinflößende Direktheit des Kontakts in der sublimen historischen Erfahrung noch einmal potenziert: Sie wird zur irreversiblen Infektion. Bei Verhelst durchzieht das Virus als ‚verkörperte‘ Ideologie sich durch den ganzen Text, der angelehnt an große literarische Vorbilder wie Ovids Metamorphosen (vgl. ZW 651) den ewigen Wandel zelebriert. Dabei ist die ständige Mutation keine Fantasie, sondern nimmt in der konkreten Bedrohung durch einen Biokrieg Form an. Im Zeichen dieses Krieges verwandelt sich alles in ein düsteres Vorzeichen der zerstörerischen Veränderung durch das Virus, wie in der Wahrnehmung des Holocaust-Mahnmals in Berlin im Verweis auf ein geschichtliches Ereignis besonders extrem deutlich wird: „Ein Architekt [sieht] wie sich im Schatten des Brandenburger Tores 2.100 Balken aus dem Boden aufrichten, zum Gedenken an Millionen Juden – als ob der Beton des Bunkers von Hitler und Goebbels, der am gleichen Ort versunken liegt, im Berliner Boden auszutreiben beginnt.“¹²¹ Das Mahnmal ist hier nicht nur statisches Monument zur Erinnerung an eine grausame Vergangenheit, sondern verbindet sich durch das Stilmittel des Vergleichs dynamisch mit eben dieser Vergangenheit, die damit alles andere als abgeschlossen ist. Auch diese Bewegung funktioniert über das Organisch werden von eigentlich anorganischen Elementen, dem Austreiben der Betonblöcke: Das Trauma der Shoa materialisiert sich in ihnen und beeinflusst die Gegenwart. Die Vergangenheit lebt im Virus auf unheimliche Weise und verbindet sich mit der Gegenwart zu einem bedrohlichen Kriegsszenario.¹²² Denn direkt neben das Bild des Holocaust-Mahnmals als Auswuchs des Hitlerbunkers wird das Bild eines palästinensischen Selbstmordattentäters gestellt: „Ein junger Mann befestigt einen Zündungsmechanismus an einem Gürtel voll mit Dynamitstäben, posiert für ein Foto – so möchte er von seinem Volk erinnert werden – die Hand ruhend auf einem Maschinengewehr, den Blick extatisch auf einen Punkt gerichtet, an dem Schmerz keine Rolle mehr spielt.“¹²³ Wesentlich für die Bedeutung dieser Textstelle ist die Doppeldeutigkeit des Wortes „ontsteking“ des Kompositums

120 Andreas Galling-Stiehler, You affect me, you infect me. Angesteckte Autoren. In: Ästhetik & Kommunikation, 41, 2010, S. 18. 121 „[E]en architect [ziet] in de schaduw van de Brandenburger Tor 2.100 balken uit de grond oprijzen, ter nagedachtenis van miljoenen joden – alsof het beton van de bunker van Hitler en Goebbels, die op dezelfde plek verzonken ligt, in de Berlijnse grond begint uit te botten“ (278). 122 Bart Vervaeck spricht von der Geschichte als einem Schwarm Bakterien (eigentlich: Viren), mit welcher Menschen infiziert werden, vgl. B. Vervaeck, Werken aan de toekomst, S. 24–25. 123 „Een jongeman bevestigt een ontstekingsmechanisme aan een gordel vol dynamietstaafjes, poseert voor een foto – zo wil hij herinnerd worden door zijn volk – de hand rustend op het machinegeweer, de blik extatisch gericht op een punt waar pijn er niet meer toe doet“ (278).

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„ontstekingsmechanisme“ im Niederländischen, das sowohl „Zündung“ im pyrotechnischen Sinne als auch „Entzündung“ im medizinischen Sinne bedeutet. Die Entzündung wird zu einem mechanisch auslösbaren Prozess. Hier verbindet sich wie beim Holocaust-Monument eine anorganische und eine organische Dimension, die Infektion verbreitet sich mühelos von der Vergangenheit in die Gegenwart und von dort aus in die Zukunft, in welcher der Selbstmordattentäter erinnert werden möchte. „Metastase“, also die Ausweitung eines bösartigen Tumors oder Infektionsherdes wird zum „geheimen Namen der Welt selbst“:¹²⁴ „In einem Flüchtlingslager springen Dutzende junger Männer auf und ab. Sie johlen wie Besessene: ‚Jihad, jihad, jihad!‘ Überall auf der Welt wird der Schrei übernommen, überall erscheinen dunkle Flecken auf den Landkarten, die an Leuchtplatten gehängt werden, und ein Arzt, der sagt: ‚Metastase‘.“¹²⁵ Als beschwörendes Schlüsselwort bezeichnet der Begriff „Metastase“ die Ausbreitung eines besessenen Kriegsgedankens, wie so oft in dem Roman werden geistige und körperliche Ansteckung gleichgeschaltet. Über die körperlichen Kriegsfolgen der Veteranen des Vietnamkriegs ist der Krieg ohnehin untrennbar mit Krankheit verbunden (vgl. ZW 499). In dem im Roman entfesselten Krieg werden sowohl „experimentelle Ornithologie“ (ZW 274) als auch „experimentelle Zoologie“ (ZW 269) zum Einsatz gebracht, um den Terror zu bekämpfen. Das „Sinai Mountain Medical Center“ als Zentrum für die Entwicklung von chemischen und biologischen Waffen breitet sich selbst tumorhaft unter und über der Erde aus (vgl. ZW 342–341). Eine weitere unheimliche Eigenschaft, die das Virus mit der traumatischen Erfahrung teilt, ist seine große Anpassungsfähigkeit durch Mutation, die es ihm ermöglicht, durch Kopierfehler alte Identitäten abzulegen und sie durch neue zu ersetzen. Nur durch diese Anpassungsfähigkeit können Viren sich dem Selektionsdruck, der von der zellulären Immunantwort ihres Wirtes bewirkt wird, entziehen („immune evasion“).¹²⁶ Auch die traumatische Erfahrung zeichnet sich, bezogen auf das Kollektiv nach Ankersmit, dadurch aus, dass sie eine alte Identität, die vortraumatische, restlos zerstört und zum Aufbau einer neuen Identität zwingt, in der das Trauma nur als Abwesenheit anwesend ist. Bezogen auf ein individuelles Trauma wird die traumatische Erfahrung ebenfalls

124 [„‚Metastase‘, zegt hij. Hij spreekt het woord uit als was het] de geheime naam van de wereld zelf“ (ZW 456). 125 „In een vluchtelingenkamp staan tientallen jongemannen te springen. Ze tieren als bezetenen: ‚Jihad, jihad, jihad!‘ Overal ter wereld wordt die schreeuw overgenomen, overal verschijnen donkere vlekken op landkaarten die tegen lichtbakken worden gehangen, en een arts die zegt: ‚Metastase.‘“ (ZW 456). 126 H. Hof und R. Dörries, S. 151.

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durch Mutation bestimmt: Sie äußert sich nicht in konkreten Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis, sondern bricht „von der urspr[ünglichen] Erlebniskonstellation losgelöst“¹²⁷ in unerwarteter Form hervor. „Mutation“ wird hier zu einem übergreifenden, identitätsbedrohenden Thema, das sowohl die traumatische Geschichtserfahrung als auch die Funktionsweise des Virus umfasst. Damit ergeben sich weitere Parallelen zwischen der Konzeption des Virus und der Konzeption des Traumas: Der oder die Traumatisierte hatte Kontakt zu einer lebensbedrohlichen Gefahr, was einer Situation der Ansteckung mit dem Virus vergleichbar ist. Die Erinnerung an diese traumatische Situation kann nicht in herkömmlicher Weise verarbeitet werden, sie wird zu einem Fremdkörper im Gedächtnis genau wie das Virus als Fremdkörper im menschlichen Körper wirkt. Die traumatische Erinnerung wird verkörpert in dem Sinne, dass sie sich verselbstständigt in Körper und Psyche des oder der Traumatisierten festsetzt – sie kann also auch körperliche oder psychische Prozesse hervorrufen, die sich der Kontrolle der oder des Traumatisierten entziehen (z.B. in der panischen Reaktion auf das Wehen eines Vorhangs, ohne dass dem/der Betroffenen der Bezug zur eigentlichen traumatischen Erfahrung deutlich wäre). Die Vergangenheit wird lebendig gehalten beziehungsweise durch die Verkoppelung mit körperlichen und psychischen Vorgängen ‚verlebendigt‘. Das Virus mutiert, um sich der körperlichen Abwehr zu widersetzen, genau wie die traumatische Erfahrung sich in immer wieder anderer Form äußert, so dass sie von Psyche und Körper nicht in herkömmlicher Weise psychisch beziehungsweise körperlich verarbeitet werden kann. Auf diese Weise kann sie ähnlich der vom Virus hervorgerufenen Schädigung des Körpers die ‚Wunde‘ beziehungsweise das Trauma in Stand halten. In Zwerm wird diese Verknüpfung von Geschichtserfahrung und viraler Infektion programmatisch zu einer eigenen Geschichtsphilosophie ausgearbeitet. Dies geschieht explizit auf fünfzehn schwarz eingefärbten Seiten in der Mitte des Romans, auf denen dieses Programm in einer Mischung kulturgeschichtlicher und philosophischer Bezugnahmen von Ovid bis Agamben unter Einsatz von Typografie und Bildsprache ausgearbeitet wird (ZW 331-317). Von vornherein geht es dabei um die Wandlungsfähigkeit des Virus als grundlegende Eigenschaft für die Geschichte: „Veränderung ist der Motor der Geschichte, der Beweis von Kraft.“¹²⁸ Im Verweis auf die Konzeptkünstlerin Jenny Holzer wird der Gedanke, dass irgendetwas unverändert bleiben könnte, direkt zu Beginn als Mythe verworfen (vgl. ZW 330). Wie immer wieder betont, seien die Möglichkeiten zur Veränderung auch in der Geschichte verschwenderisch groß und endlos (vgl. ZW 325), wobei im Gegen-

127 B. Neumann, S. 730. 128 „Verandering is de motor van de geschiedenis, het bewijs van kracht“ (ZW 330).

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satz zur Ideologie des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert kein Ziel mehr verfolgt werde, sondern in einem radikal kapitalistischen Kontext eine unkontrollierbare Dynamik entstehe, bei der Wandlungsfähigkeit ohne höhere Zielsetzungen ein Wettbewerbsvorteil sei (vgl. ZW 324). Die Ideologie des Virus ist nicht besser als die ihr vorausgehenden Ideologien.¹²⁹ Innovationen beruhten auf von der Wirtschaft dafür eigens „geschaffenen Bedürfnissen“ (ZW 324). Diese illusionslose und unidealistische Art, mit Veränderung umzugehen, Veränderung sozusagen um ihrer selbst willen, löse die alte Bestrebung, mit als „Entwicklung“ begriffener Änderung ein Ziel zu erreichen, ab: Ein Traum des zwanzigsten Jahrhunderts, nämlich der des „reinen Körpers“,¹³⁰ welcher sich mit einem einzigen gültigen System und einer einzig gültigen Wahrheit verbindet (vgl. ZW 329), erweise sich als unhaltbare Illusion – „der Tausendjährige Körper der alten Welt“ befinde sich auf der „Intensivstation“.¹³¹ An die Stelle dieses alten, idealisierten Körpers tritt ein neuer, betont materieller Körper, der sich dem Virus völlig hingibt.¹³² Die Unvollkommenheit dieses Körpers wird hervorgehoben: „Aber was Materie ist, untersteht dem Gesetz der Materie: Verfall ist die Essenz der Materie. Materie ist per Definition dekadent, entropisch, selbstmörderisch.“¹³³ Im „Selbstmörderischen“ der Materie liegt auch die ständige Veränderungsbereitschaft, die der Text auf die Gesellschaft und ihre Individuen ausweitet. Niemand kann sich „reinhalten“: Das Bestreben einen „keimfreien Raum“¹³⁴ zu schaffen, führe unweigerlich dazu, dass „das Virus [...] sich einen Weg durch den auf Wehrlosigkeit

129 Vgl. B. Vervaeck, Het verdriet van de wereld, S. 62. 130 Vgl. hierzu die Theorie des italienischen Gegenwartsphilosophen Giorgio Agamben, der Foucaults Beobachtungen über die Überwachungsmöglichkeiten des modernen Staates in Bezug auf den Körper weiter ausarbeitet: Der reine Körper ist bei ihm Metapher für die politische Gemeinschaft, die durch politische und biologische Kontrollmechanismen ihre Mitglieder diszipliniert oder eben als sogenannte Homo Sacer ausschließt: Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übersetzt von Hubert Thüring, Frankfurt am Main 2002, [1995]. 131 „Het oudwereldlijke Duizendjarig Lichaam bevond zich op de intensive care“ (ZW 328). 132 Zur philosophischen Positionierung des Romans vgl. Ignaas Devisch und Aukje van Rooden, Het tijdperk van de dingen. Een filosofische lectuur van Peter Verhelsts Zwerm. In: Parmentier, 17, 2008, S. 78–86. Devisch und Van Rooden betonen die im Roman ausgedrückte Überforderung des Menschen durch die Konfrontation mit „Dingen“, also der als feindlich und fremd wahrgenommenen Welt, der sich jedoch niemand entziehen kann. Die Öffnung hin zu dieser Welt bleibt die einzige Möglichkeit, auch wenn kein schließenden System entworfen werden kann, das diese endgültig fasst. 133 „Maar wat materie is, ondergaat de wet van de materie: verval is de essentie van materie. Materie is per definitie decadent, entropisch, suïcidaal“ (ZW 328). 134 „kiemvrije ruimte“ (ZW 328).

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reduzierten Körper [frisst]“.¹³⁵ Mit dem Virus kommt der Zwang zur Veränderung und dazu, sich dem zuvor gemiedenen Anderen restlos hinzugeben, denn „[d]as Virus muss inkorporiert werden“.¹³⁶ Eine Kenntnis des Anderen allein reicht nicht aus: Laut Zwerm wäre dies die Funktionsweise der „ersten Sprache“ der Wiederholung, die angeregt vom Anderen ähnliche Konzepte innerhalb der eigenen Vorstellungswelt bildet.¹³⁷. Auch der Versuch, anderes zu denken, ist noch ungenügend: Gemeint ist damit die „zweite Sprache“ der Metamorphose, die aus der eigenen Vorstellungswelt heraus zu treten versucht.¹³⁸ Erst in der dritten Sprache der „MUTATION“¹³⁹ findet ein tatsächlicher Kontakt mit dem Anderen statt, bei dem es nicht darum geht, das Andere zu kennen, sondern es zu sein (vgl. Ankersmits Traumakonzeption in 9.3.1). Wie das Virus zwar unsichtbar, aber tatsächlich und nicht nur symbolisch in den Körper eindringt, kann so eine direkte, unmittelbare Kommunikation – auch zwischen Geschichte und Gegenwart in der traumatischen Erfahrung – zustande kommen.¹⁴⁰ Das in aller Zerstörung genährte Referenzbegehren wird eingelöst (vgl. 9.2.2). Diese ‚tatsächliche‘ Berührung ist schmerzhaft wie das Eindringen eines Messers in die Wunde oder eben die traumatische Erfahrung, doch sie muss in der „Ideologie des VIRUS“¹⁴¹ ausgehalten werden: „Aus dem Körper muss eine Mutationsmaschine gemacht werden, endlos sich verändernd, wie das VIRUS selbst. [...] Was uns nicht zerstört, macht uns stärker.“¹⁴² Diese traumatische Identität, welche immer auf ihrem eigenen Verlust aufbaut, wird als neuer Idealzustand propagiert, da sie das Motto „Lass dich berühren vom Anderen“¹⁴³ einlöst, auch wenn sie dadurch in ständigem Konflikt mit sich selbst steht (vgl. ZW 323). Die neue „Ideologie des Virus“ ist durch ihre besondere körperliche Verankerung nicht mehr bloß als ein „Traum“ zu bezeichnen. Einen Traum zu haben, bedeutet

135 „het Virus [...] zich een weg door het tot weerloosheid gereduceerde lichaam [vreet]“ (ZW 328). 136 „Het Virus moet worden geïnkorporeerd“ (ZW 327). 137 „De eerste taal heet HERHALING (ZW 327). 138 „De tweede taal heet METAMORFOSE“ (ZW 329). 139 „De nieuwste taal heet MUTATIE“ (ZW 329). 140 Verhelsts eigener Sprachgebrauch wird oft als an Körperlichkeit grenzendes sinnbetonten Sprechen umschrieben. Kim Gorus umschreibt die Ambivalenz dieses Erzählens, das wie in Zwerm Direktheit und Unmittelbarkeit sucht und zugleich problematisiert: Kim Gorus, Het oude verhaal van vlees en woord. De taal als (anti)lichaam in het werk van Peter Verhelst. In: Neerlandistiek.nl, 1, 2005, S. 1-9, Web, 3. Juni 2012. 141 „ideologie van het VIRUS“ (ZW 326). 142 „Van het lichaam moet een mutatiemachine worden gemaakt, eindeloos veranderend, als het VIRUS zelf. [...] Wat ons niet vernietigt, maakt ons sterker“ (ZW 326). 143 „Laat u aanraken door het vreemde“ (ZW 326).

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in dieser Auffassung, der Traum geworden zu sein: „Wir haben einen Traum./Wir haben in diesem Traum Platz genommen./Wir sind der Traum geworden./Und der Traum heißt VIRUTOPIA.“¹⁴⁴ Das alte Bild eines autonomen Menschen ist damit hinfällig geworden, der neue Mensch wird als „HOMO INVICTUS VIRALIS“ (ZW 320) als dem Virus ausgeliefert präsentiert, denn wie der Roman in großer Geste und großen Buchstaben über zwei Seiten beschreibt: „DER NEUE MENSCH WIRD VIRAL SEIN ODER ER WIRD NICHT SEIN.“¹⁴⁵ Sowohl bei Kracht als auch bei Verhelst ist es wesentlich, dass das Virus eine Kommunikation möglich macht, die über eine rein symbolische Ebene hinaus geht. Brazhinskys neue Sprache, die keiner gesprochenen Worte mehr bedarf, scheint einen direkten Kontakt zwischen den Sprecherinnen beziehungsweise Sprechern herzustellen. Diese Sprache wird in einem ironischen Gestus sehr sachlich explizit mit einem Virus verglichen: „Psylocibine sind Pilze, wie Sie wissen“, sagte Brazhinsky, „sie kommen überall in der Natur vor. Jedoch [...] deren Sporen sind aus den Tiefen des Kosmos mit Hilfe von Asteroiden auf die Erde gebracht worden, diese schlummerten nach dem Einschlag Jahrmillionen, bis die Menschheit ebenjenen Punkt ihrer Evolutionsgeschichte erreicht hat, sprich klug genug geworden ist, deren Erbmasse durch Einnahme dieser Pilze in ihren Körper aufzunehmen. Unsere neue Sprache ist ebenso ein Virus“ (IWHS 126). In der Welt des Romans ist dieses als wahnsinnig markierte Konzept der materiellen, viralen Sprache wirksam (vgl. z.B. IWHS 125). In der Rezeption des Romans werden dem Roman selbst Anklänge einer solchen Sprache bescheinigt, wenn er in einer „Sprache der Oberfläche“ durch die „Vermischung von ‚realen‘ und ‚surrealen‘ Elementen [...] mit dem ‚Außen‘ der Welt in Verbindung steht.¹⁴⁶ Hier ergeben sich auffällige Parallelen zum fantastisch-oberflächlichen Erzählen in Tinpest und Schutzgebiet (vgl. 7.3.2), das Wirklichkeitsbezug herstellt, dadurch dass es ihn offenlässt. In Zwerm wird eine Urszene der Infektion gleich zu Anfang des Romans mit Hilfe des Vogelschwarmbildes inszeniert.¹⁴⁷ Auf dem „silberfarbenen Komplex“, der am Ende des Romans gemäß dem gängigen Verfahren des Textes durch die Be144 „Wij hebben een droom./Wij hebben in de droom zelf plaatsgenomen./Wij zijn die droom geworden. En die droom heet VIRUTOPIA“ (ZW 322). 145 „DE NIEUWE MENS ZAL VIRAAL ZIJN OF ZAL NIET ZIJN“ (ZW 319/318). 146 Vgl. S. Bronner, S. 107. 147 Der titelgebende Schwarm ist in Zwerm auch im Hinblick auf das Virus Bedeutungsträger. Denn er setzt sich aus Vögeln zusammen, die im Verlaufe des Buches als Krankheitserreger gebrandmarkt werden, so wie sich Vögel im westlichen kulturellen Gedächtnis nach dem Zweiten Weltkrieg als unheimliche, unkontrollierbare Macht etabliert haben, etwa in Alfred Hitchcocks stilbildenden Thriller The Birds von 1963, der die Bedrohung der Vögel, obwohl sie ‚natürlich‘ und keine Monster sind, als Horror inszeniert: Zu Vögeln als Horrorsymbol Cynthia Freeland, Natural

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schreibung als „unbekannte Zellstruktur“¹⁴⁸ von Anorganisch zu Organisch transformiert wird, lässt sich ein Vogelschwarm nieder: „Ein Vogelschwarm lässt sich nieder und versilbert den ersten Turm des Komplexes.“¹⁴⁹ Dieses leichte Bild entpuppt sich als bedrohlich, wenn der silberfarbene Komplex schließlich attackiert wird (vgl. ZW 1). Der Roman fügt dem Virus eine wesentliche Bedeutungsebene hinzu, wenn er es auch auf den Bereich der Informationsdistribution überträgt: Die eigentliche Infektion findet nicht im Niederlassen des Vogelschwarms statt, sondern im Moment der Verbreitung von Information über dieses Ereignis: Nog tijdens de evacuatie verschijnen foto’s en ooggetuigenverslagen op het Web, woorden en beelden die al een nieuw leven leiden, die zich al losmaken van de gebeurtenissen zelf. Ze haken zich in het geheugen vast, want waarom schrikken weken later nog wakker? Dingen die we zien of lezen als we door het Web dwalen, besmetten ons. Vanaf nu is de virtuele wereld onlosmaklijk een deel van ons. Genetisch materiaal.¹⁵⁰ (ZW -2)

Neben dem konkreten biologischen Krieg ist es also die Verbreitung von Informationen, durch die der „Text selbst [...] Wirt“¹⁵¹ wird. Die narrative Verarbeitung von Ereignissen, in der „ein Ereignis [...] vor anderen und für andere [...] artikuliert, in erzählerische Form transformiert und ins Zirkulieren gebracht“¹⁵² wird, stellt einen viralen Angriff auf den Einzelnen dar, wie im symbolhaft benutzten, übergroßen Buchstaben „V“ zum Ausdruck kommt, der folgendermaßen erklärt

Evil in the Horror Film. Alfred Hitchcock’s The Birds. In: The Changing Face of Evil in Film and Television, hg. von Martin F. Norden, Amsterdam/New York 2007, S. 55–69. In Zwerm sind die Vögel infiziert: „Gesänge rollen über uns hinweg, werfen uns auf den Boden und nehmen Gras, Sträucher, Gebäude in Besitz. Millionen Vögel werden sich auf der Welt niederlassen – die Innenseite ihre Schnäbel glänzt – Millionen Wündlein.“ („Gezangen rollen over ons heen, gooien ons op de grond en nemen bezit van gras, struiken, gebouwen. Miljoenen vogels zullen over de wereld neerstrijken – de binnenkant van de snavels glanst – miljoenen wondjes“ (ZW 657).) Mit den Vögeln als „Wunden“ wird der Schwarm als geballte Virenschleuder beschrieben (vgl. ZW 152/51), deren Gefährlichkeit im Szenario des Buches sich durch das Aufleben einer eigentlich ausgestorbenen Art (vgl. ZW 214) beziehungsweise durch das Zurückmutieren von Vögeln in frühere Formen (vgl. ZW 212-211) potenziert. Der Schwarm ist das Hindernis auf dem gradlinigen Weg von A nach Z (vgl. ZW 199), er ist Symbol für ein fremdes Element, das die Welt heimsucht (vgl. ZW 653/52). 148 „onbekende cellenstructuur“ (ZW -2). 149 „Een vogelzwerm strijkt neer en verzilvert de eerste toren van het Complex“ (ZW 665). 150 „Noch während der Evakuation erscheinen Fotos und Augenzeugenberichte im Netz, Wörter und Bilder, die schon ein neues Leben führen, sich lösen von den Ereignissen selbst. Sie haken sich im Gedächtnis fest, denn warum schrecken wir noch Wochen später aus dem Schlaf auf? Dinge, die wir sehen oder lesen, wenn wir durch das Netz irren, stecken uns an. Von nun an ist die virtuelle Welt unwiderruflich ein Teil von uns. Genetisches Material.“ 151 Thomas Düllo, Ansteckendes Erzählen. In: Ästhetik & Kommunikation, 41, 2010, S. 30. 152 T. Düllo, S. 31.

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wird: „V: (Aussprache: vie) ein Bedeutungskomplex, übertragen durch symbiotische Ansteckung des Wirtes (m/w). V ändert menschliches Verhalten, zwingt den Wirt das V zu verbreiten. Typische V’s: Slogans, Oneliners, Melodien, Ikonen, Hypes. Alles weitergegebene Wissen ist in gewissem Sinn V-ähnlich. Alles Wissen ist ansteckend.“¹⁵³ Das Wissen selbst ist damit ansteckend, wobei schon der Satz „Alles Wissen ist ansteckend“ genau wie der Buchstabe V als Slogan beziehungsweise Ikone zu den hier beschriebenen typischen Virusherden gehört. Das Erzählen des Romans kann sich aus den Verfahren, deren Gefahr es vorführt, einmal mehr nicht herausbewegen. Auch für die Konstellation des ansteckenden Wissens ist die immer wieder im Roman vorgeführte Verschränkung von Anorganischem und Organischem, in diesem Fall dem Wissen und dem Gehirn, das es verarbeitet, grundlegend. Symbolträchtig ist hier der traumatisierte Soldat, der schließlich den Kern seines Traumas enthüllt: „Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die ich als Kind gelesen hatte. Ein Brief, der im Mittelalter von einem Befehlshaber zum anderen reiste und beim Adressierten Tod und Verderben brachte. Tagelange hatte der Brief auf einem Pestkranken gelegen bis er von der Krankheit durchtränkt war. Wir waren Pestbriefe.“¹⁵⁴ Die Information des Briefes wird in dieser Erinnerung ganz konkret zur Krankheit, die einen Körper infizieren kann. Auch Leutnant Calley fungierte im Vietnamkrieg ohne sein Wissen als menschliches Übertragungsmedium von Krankheiten. Auf diese Weise wird Leutnant Calley zum ‚lebenden Beweis‘, zur lebenden Information, welche die Verlebendigung unlebendiger Dinge einmal mehr vorführt. Immer wieder tauchen Bilder dieser unmöglichen Kombination von Organischem und Anorganischem im Text auf, wie zum Beispiel im immer wieder genannten „hautfarbenen Telefon“ (vgl. ZW 597) oder im „Biocomputer“, der Technik und Biologie in der Form vereint, dass seine Software aus DNA und seine Hardware aus Enzymen besteht (vgl. ZW 178, s.o.). Vordergründig ist dieses Gerät zur Bekämpfung von Krebs im Körper gedacht, aber natürlich kann es auch als Biowaffe eingesetzt werden. In der Verbindung von organisch und anorganisch ist durch den Biocomputer die virale Übertragung möglich, die sich

153 „V: (uitspraak: vie) een betekeniscluster, overgedragen door symbiotische besmetting van gastheer (m/v). V wijzigt menselijk gedrag, dwingt de gastheer het V te verspreiden. Typische V’s: slogans, oneliners, melodietjes, iconen, hypes. Alle doorgegeven kennis is in zekere zin Vverwant. Alle kennis is infectueus.“ (ZW 109) 154 „Ik herinnerde me een verhaal dat ik als kind had gelezen. Een brief die in de Middeleeuwen van de ene bevelhebber naar de andere reisde en dood en verderf zaaide bij de geadresseerde. Dagenlang had de brief op een pestlijder gelegen tot die van de ziekte doordrenkt was. Wij waren pestbrieven (ZW 501).“

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dadurch auszeichnet, dass sie direkt und nicht nur indirekt/symbolisch stattfindet. Das Virus wird so zur wirkmächtigen Metapher. Sie löst das Konzept einer teleologisch verlaufenden Geschichte in eine unendliche Mutation auf, die eine Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überflüssig macht: Das Virus baut immer wieder auf dem eigenen Verlust auf. Gleichzeitig verleiht das Virus diesem abstrakten Konzept einen Körper, wenn auch nicht seinen eigenen: Unsichtbar stellt es eine direkte Kontaktmöglichkeit zwischen Körpern her, welche die Abstraktion sprachlicher Kommunikation umgeht. In der Übertragung dieser viralen Kommunikation auf die Produktion und Rezeption von Texten ist ein Versuch zu lesen, die Unzuverlässigkeit der Sprache aufzuheben und die Eigenwirklichkeit von Texten hervorzuheben. Im Virus fällt die Eigenwirklichkeit des Textes mit ‚der‘ Wirklichkeit zusammen. Diese Gleichsetzung von Immersion und Emersion ermöglicht einen direkten Kontakt mit der Geschichte, aber auch eine grenzenlose Manipulation durch Texte.

9.3.3 Jenseits der Geschichte: Endzeit Eine aus der Gegenwart heraus beschreibbare Vergangenheit ist eng gebunden an ein lineares Zeitkonzept, das Momente deutlich in ein ‚vorher‘ und ‚nachher‘ teilt und damit einen Verlauf der Zeit konzeptualisierbar macht. Die Romane Zwerm und Ich werde hier sein konfrontieren mit anderen Zeiträumen, welche die Trennbarkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Frage stellen. Dadurch wird eine Annäherung von Gegenwart und Vergangenheit gesteigert in ein Zusammenfallen aller in der Linearität künstlich getrennten Zeitschichten. Wie schon in Tinpest und Schutzgebiet entsteht hier eine Zirkularität der historischen Zeit, die mit westlichen Geschichtsvorstellungen schwer in Einklang zu bringen ist (vgl. 7.3.3). Zwerm und Ich werde hier sein betonen dabei paradoxerweise den apokalyptischen Aspekt, also einen ultimativen Endpunkt, der allerdings in die zirkuläre Endlosschleife mit hineingeholt wird. Das Verlangen nach der Apokalypse kann dabei ähnlich wie die in der Postmoderne gesuchte sublime historische Erfahrung als ultimes Referenzbegehren aufgefasst werden, dessen Umsetzung jedoch immer in der Schwebe bleibt.¹⁵⁵ Wie hier nachgezeichnet werden soll, entwerfen

155 Bart Vervaeck, Het einde in zicht. Het postmodernisme en de apocalyps. In: Neerlandici aan het woord. Handelingen van de bijeenkomst van universitaire docenten Nederland in het Duitse taalgebied: Zürich, 17-19 maart 2006, hg. von Jelle Stegemann, Münster 2007, S. 101–121. Vervaeck ordnet Zwerm in diesem Zusammenhang als apokalyptisch durch eine Überproduktion an Bedeutung ein.

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Zwerm und Ich werde hier sein die Suche nach der ‚endgültigen‘ Wahrheit in einem ‚anderen‘ Zeitraum, der Linearität außer Kraft setzt. Die Apokalypse wird dabei trotz und gerade durch alle schrecklichen Endzeitsignale zur Offenbarung einer neuen Zeit.¹⁵⁶ Bei Kracht hat der Titel des Romans im Verweis auf die irische Abschiedsballade „Danny Boy“ die Form einer Prophezeiung: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Eine Prophezeiung ist eine Form des früheren Erzählens, bei dem eine Aussage über die Zukunft getroffen wird.¹⁵⁷ Damit kehrt die Prophezeiung die gewöhnliche Erzählrichtung, nämlich das Erzählen über vergangene Ereignisse, um. Das, was erzählt wird, ist nicht bereits passiert, sondern muss noch passieren. Diese faktual zweifelhafte Form des Erzählens findet sich oft in religiösen Kontexten, wenn Propheten die Zukunft vorhersagen. Die Worte werden ihre Wirkmacht noch entfalten, sie bezeichnen nicht nur, sondern versprechen eine Umsetzung des Gesagten. Eine spezielle Erzählform des früheren Erzählens ist das apokalyptische Erzählen, bei dem vom Ende der Zeit in der Zukunft erzählt wird. Der Inhalt des Erzählten ist demnach bedrohlich, oft ist das Erzählte zudem verschlüsselt, so dass nicht genau deutlich ist, auf welchen Kontext sich die Erzählung bezieht, wann also das Ende der Zeiten beginnt (ein Rezeptionsproblem, das z.B. die Rezeption der biblischen Offenbarung des Johannes bestimmt). Die Prophezeiung, aus welcher Krachts Romantitel besteht, ist schwer einzuordnen: Es wird zwar eine feste Zusage gemacht („Ich werde hier sein“), jedoch sind die deiktischen Verweise nicht genau zu verorten, da unklar bleibt, wer „ich“ und wo „hier“ ist. Dadurch bleibt auch im Unklaren, ob die Zusage des „Hierseins“ in unterschiedlichsten Umständen (Sonnenschein und Schatten) bedrohlich im Sinne der umfassenden Kontrolle oder beruhigend in Form eines immer währenden Beistandes ist. Bronner spricht davon, dass schon im Titel das Erzählanliegen, „über das Ende, über die Vorstellung eines substantiellen Ichs, über alle Bedeutung, über den Horizont des Verschwindens hinauszublicken“, also über die Bedeutungsauflösung Referenz herzustellen, zum Ausdruck komme.¹⁵⁸ Eine ebenso große Unsicherheit, wie es der Titel in Bezug auf die Zukunft vermittelt, entsteht im Lesen des Romans auch im Bezug auf die Vergangenheit und illustriert so Elisabeth Wesselings Beschreibung des „writing history as a prophet“ im postmodernen historischen Roman.¹⁵⁹ Erzählt wird von einer Parallelgegen-

156 Wolfgang Welsch erörtert die ambivalente Angst vor und Sehnsucht nach Wahrheit in Bezug auf das postmoderne Reden von der Apokalypse: Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 2008, S. 143–148. 157 G. Genette, Die Erzählung, S. 156–157. 158 S. Bronner, S. 103–105. 159 E. Wesseling, S. 162–181.

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wart zur Gegenwart der Erscheinungszeit des Romans, die nicht denkbar ist ohne eine andere Vergangenheit. Alles, was als gesicherte Kenntnis über die Weltgeschichte und speziell die europäische Geschichte gilt, wird damit unsicher (vgl. 9.2.1). Die markanteste Verschiebung ist das Fehlen der beiden Weltkriege, die das 20. Jahrhundert bestimmten, und die im Roman vom immerwährenden Weltkrieg abgelöst werden. Diese mit Lenin im plombierten Eisenbahnwaggon entgleiste Geschichte ist genau so unbekannt und bedrohlich wie die unvorhersagbare Zukunft. Die Grundunterstellung, dass die gesamte Geschichte anders hätte verlaufen können, wenn Lenin nicht nach Russland zurückgegangen wäre, entreißt der Geschichte den Boden der Tatsachen und vermischt Zukunft und Vergangenheit wie die grammatische Form des Irrealis, welche die Vergangenheitsform in eine rückwärtsgewandte Zukunftsvision verwandelt.¹⁶⁰ In der Verknüpfung der zwei Zeitkonzepte Vergangenheit und Zukunft entsteht ein neuer Zeitraum, dessen Widersprüchlichkeit das Konzept der Zeit selbst anzutasten beginnt.¹⁶¹ In Zwerm setzt die Verkehrung der Zeit in den rückläufigen Seitenzahlen ein, die mit der symbolisch geladenen, apokalyptischen Zahl „666“ beginnen und bei „-6“ enden. Auf dieser letzten und in gewissem Sinne auch ersten Seite steht der

160 Moritz Baßler nennt diese Form des historischen Erzählens „parahistorisch“ und spricht ihr die Eigenschaft zu, ohne „absolute Bezugspunkte“ von der Vergangenheit erzählen zu können: M. Baßler, ‚Have a nice Apocalypse!‘, S. 269. Allerdings wird für Baßler diese Form des Erzählens „dem Apokalyptischen abhold“ (S. 269), da er die Apokalypse nicht als Aufhebung der uns bekannten Logik von Raum und Zeit definiert, sondern als „Kernelement einer starken narrativen Struktur mit Vorher und Nachher“ (S. 258) in einen linearen Fortschritt der Zeit einreiht. So wird in Baßlers Definition die Apokalypse ein „schwere[s] Zeichen“ mit „übersichtliche[r] Ordnungsfunktion“ (S. 270), das in der Populärkultur als erzähltechnische Voraussetzung für schlicht strukturierte Erzählwelten dienen kann. In der „E-Literatur“ (S. 257) (des deutschsprachigen Raums) fungiere „Auschwitz“ als „schweres Zeichen“ („Wer Auschwitz hat, braucht keine Apokalypse“, S. 257). Indem Ich werde hier sein im kontrafaktischen Erzählen zwar eine „Vergleichsebene zur uns bekannten Geschichte und Wirklichkeit“ etabliere, deren „‚Wahrheit‘ jedoch nicht mehr in Auschwitz beglaubigt werden“ müsse (S. 271), spiegele es in der Zurückweisung der „schweren Zeichen“ keine Ordnung vor und werde gerade dadurch einer vergangenen wie gegenwärtigen Wirklichkeit eher gerecht (S. 271–272). In der Analyse dieses Kapitels soll gezeigt werden, wie das Konzept der Apokalypse einem so definierten parahistorischen Erzählen nicht im Wege stehen muss, sondern sich gerade in das postmoderne „Paradigma des Nebeneinander“ (S. 259) einreihen lässt. 161 Ingo Irsigler betont, dass mit dieser Relativierung von historischen Konzeptualisierungen auch eine Relativierung von „Literatur als Medium von Geschichts- und Gegenwartsdeutungen“ einhergehe, vgl. Ingo Irsigler, World Gone Wrong. Christian Krachts alternativhistorische Antiutopie Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. In: Der historische Roman. Erkundung einer populären Gattung, hg. von Hans-Edwin Friedrich, Frankfurt am Main 2013, S. 185 in Bezug auf M. Baßler, ‚Have a nice apocalypse!‘ , S. 271.

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Satz „Eine Stimme antwortet: ‚Das ist der Anfang.‘“¹⁶² Ebenso wie im Titel Ich werde hier sein bleibt hier undeutlich, wer spricht. Die Stimme scheint im filmischen Sinne ‚aus dem Off‘ zu stammen, wie die eines Regisseurs, die eine Szene unterbricht, um auf einem Metaniveau das Geschehen zu kommentieren. Sie legt an unerwarteter Stelle einen Beginn fest. Dieser Beginn bezieht sich auf eine neue, dystopische Zeit, die sich wie in Ich werde hier sein schon im Verlauf des Romans ankündigt. In Ich werde hier sein sind es „der nahende Sommer, das Weichen der Kälte, das Schmelzen der Gletscher“, welche „die Offenbarung einer neuen Zeit“ darstellen (IWHS 138). Diese löst die alte „Schweizer Zeit“ ab, welche „aufgehört [hatte] zu sein“ (IWHS 143). In Zwerm kündigt sich die neue Zeit dramatischer an, indem explizit ein Reiter der Apokalypse auftritt, der jedoch gleich wieder „ausgeschaltet“ wird (vgl. ZW 78). Nur dreißig Seiten später beginnt jedoch das Weltende: „Die Welt ist gestorben. [...] Die Hölle bricht in aller Heftigkeit aus.“¹⁶³ In beiden Romanen brechen utopische beziehungsweise dystopische Zustände an, die sich in neuen Bewegungen wie dem Auszug aus den Städten und die Flucht auf das Land ausdrücken (IWHS 148/ZW -4). Der Anbruch einer neuen Zeit verknüpft sich mit einem religiös geprägten Szenario. So begibt sich der Ich-Erzähler in Ich werde hier sein auf seiner Reise ins Réduit durch eine verwüstete Landschaft. „[V]erwundete Soldaten unserer Armee, deren Gesichter mit Mullbinden bandagiert waren, [...] blonde Mwanas [gemeint sind: Kinder, BvD] in viel zu langen zerrissenen Mänteln [...], Velo fahrende Greisinnen, die noch nie den Frieden gesehen hatten [...], zerzauste Bettler“ (IWHS 21) bestimmen das Bild. Mit dem Engel Uriel, auf den der Ich-Erzähler während seiner weiteren Reise unfreiwillig trifft, tritt eine bekannte (wenn auch nicht kanonisierte) jüdisch-christliche Engelsfigur auf. Auch in Zwerm wird eine jüdisch-christliche Referenzwelt der Endzeit aufgerufen. Immer wieder werden christlich-religiöse Kontexte aktiviert – entweder beunruhigend wie der „Reiter der Apokalypse“ oder im Anklang an ein Heilsversprechen wie im biblischen Aufruf von Papst Johannes Paul II. „Fürchtet euch nicht“¹⁶⁴ oder der Benennung der Figur „Angel“. Letztlich wird auch die Philosophie des Virus in einen metaphysischen Zusammenhang gerückt, das Virus als Symbol für das „sich konstant verändernde Ding“¹⁶⁵ selbst wird metaphysisch (vgl. ZW 18). Der Homo Invicutus Viralis ist ein Bekehrter, ein „Engel der Ansteckung, ein Bräutigam des Virus“¹⁶⁶ Das Virus wird zur neuen Religion, die wie das Chris-

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„Een stem antwoordt: ‚Dit is het begin‘“ (ZW -6). „De wereld is gestorven. [...] De hel barst in alle hevigheid los“ (ZW 45). „Wees niet bang“ (ZW 614) „constant veranderende ding (ZW 18). Engel van de Besmetting. Bruidegom van het Virus“ (ZW 11).

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tentum Körperlichkeit und Geistiges verbindet. Verschwörungstheorien helfen, die christlichen Endzeitsymbole in die aktuellste Zeit hineinzulesen, etwa im Wiederfinden der Zahl 666 im Strichcode moderner Produkte (Offenbarung des Johannes 13,18) oder im „www“ des World Wide Web. Mit der religiösen Dimension der Apokalypse wird nur scheinbar eine lineare Geschichte beschrieben: die 666 Seiten laufen auf einen mit Christi Geburt vergleichbaren Punkt 0 hinaus (gekennzeichnet durch den Ausruf „Oh my God“ und den bedeutungsträchtigen Buchstaben „V“, den die Rauchwolken des einstürzenden World Trade Centers in New York ikonisch abbilden, vgl. ZW 0-(-1)). Von diesem Nullpunkt aus bewegen sich die Seitennummerierungen jedoch in den Minusbereich, (-1 bis -6). 9/11 wird zu einer Achse in der Geschichte, welche die Zeit zwar wieder in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ trennt, für dieses „Nachher“ jedoch eine bedrohliche Zukunft verspricht. Im Ende des Buchs kann der Beginn eines bösartigen Kreislaufes gesehen werden, denn die Aufforderung „Dies ist der Anfang“ lässt sich als Verweis auf den Romanbeginn auf Seite 666 lesen, an dem die Endzeit paradoxerweise wieder beginnt.¹⁶⁷ Der gnadenlose Verlauf der Geschichte vom „absoluten Beginn“ zum „definitiven Ende“ schlägt im Zusammenfallen der beiden in eine Zirkularität um, welche die Erzählung nicht zum Stillstand kommen lässt: Aukje van Rooden sieht hierin eine Hervorhebung der „Unmöglichkeit, unsere ‚flache‘ Existenz in eine abgeschlossene Erzählung zu fassen“.¹⁶⁸ Die apokalyptischen Elemente in beiden Texten inszenieren demnach nicht nur ein Endzeitszenario. Sie steigern die apokalyptische Erwartung an die ‚Endzeit‘, indem sie sie konkret als Ende der Zeit zu begreifen versuchen. Dem Verneinen linearer Konzepte entsprechend gibt es keinen konkreten Endpunkt, vielmehr unterläuft die Zirkularität immer mehr die Linearität der Zeit, um sie schließlich abzulösen in einem zeitlosen mythischen Zustand. In Ich werde hier sein bringt der immerwährende Krieg die Zeit durcheinander. Die Zeit wird ein formlos dahin fließender „Fluss“, dessen Verlauf endlos zu sein scheint (vgl. IWHS 13). Eine solche unförmige Zeit macht es den Schweizern schwer, ihr Ziel der Welteneroberung „geradlinig“ (vgl. IWHS 57) zu verfolgen. Wie schon in den Wandmalereien im Réduit deutlich wird (vgl. 9.2.2), beginnt eine unfreiwillige Kreisläufigkeit (vgl. 7.3.3). Im „tief vibrierende[n], geräuschlose[n] Summen der

167 Vgl. Sven Vitses Beobachtungen zum Prinzip der Zirkularität in Zwerm, das einen endlosen Prozess der Bedeutungsproduktion verdeutlicht, S. Vitse, Loutering door exces? S. 47–49. 168 Aukje van Rooden geht es um die Rückkehr großer Erzählungen im Zeichen postmoderner Verflachung: Aukje van Rooden, Plots van een platte aarde. Verhulsts, Verhelsts en Verhaeghens terugkeer naar het grote verhaal. In: Tijdschrift voor Nederlandse taal- en letterkunde, 128, 2012, S. 88.

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ungekannten Vergangenheit und der darin auftauchenden Zukunft“ (IWHS 144) löst sich die Linearität der Zeit auf. ¹⁶⁹ Alte Gesetzmäßigkeiten treffen nicht mehr zu und werden durch magische/mythische ersetzt. In seinem Gesamtverlauf schildert das Buch eine Fluchtbewegung, in welcher der Ich-Erzähler der traumatisch-sublimen Erfahrung zu entkommen sucht. Von Beginn an genießt er den Aufbruch: „Wie gut tat das Reiten! Heraus aus den engen Gassen der Stadt, weg von den Bettlern und den Verwundeten, weg von der Erinnerung“ (IWHS 50/51). Ziel dieser Flucht wird der warme Süden, materialisiert im Afrika der Jugend des Ich-Erzählers.¹⁷⁰ Wie der Soldat in Zwerm, der mit seinen Hilferufen immer wieder den Textverlauf ‚stört‘ (vgl. 9.3.1), zeigt der Ich-Erzähler in Ich werde hier sein in dieser Fluchtbewegung seine Erlösungsbedürftigkeit, die bereits in der Minenszene anklingt (IWHS 85, vgl. 9.3.1). Die ausweglose Lage des Ich-Erzählers auf der Mine wird zu einer Erlösungssitation, wenn der Engel Uriel zum wortwörtlichen Stellvertreter wird und für den Ich-Erzähler auf die Mine tritt. In deutlich christologischen Zügen nimmt der Engel Uriel das Leid des IchErzählers in einem Selbstopfer auf sich. Die Erlöserfigur des Uriel verknüpft sich dabei mit dem paradiesischen Afrika, da er die Muttersprache des Ich-Erzählers, Chichewa, spricht und die Bibel in dieser Sprache liest (IWHS 82/90). Der Roman vollzieht am Ende die Rückkehr in den paradiesischen Zustand, wenn der IchErzähler hinter seine Zeit zurückkehrt und in der südlichen Idylle ankommt (vgl. IWHS 135 ff.) Letztlich kehrt ganz Afrika wieder in den mythischen Naturzustand zurück (vgl. IWHS 148-149). Diese kollektive Selbstheilung ist im Erzählkontext des Romans ebenso unwahrscheinlich wie die Rettung des Ich-Erzählers von der Mine. Sie wird nur möglich in der Aufhebung aller geltenden Gesetzmäßigkeiten nicht nur in Bezug auf die Zeit, die sich in eine mythische Zeitlosigkeit wandelt, sondern in Bezug auf physikalische und gesellschaftliche Strukturen, die sich plötzlich auflösen. In Zwerm deutet sich schon im Titel an, dass die im Untertitel verkündete „Geschichte der Welt“¹⁷¹ nicht geradlinig erzählt werden kann, dass der „Schwarm“

169 Dieses Ende der Schweizer Zeit wird antizipiert von der rätselhaften Figur des „Heilers“ (vgl. 9.2.2). Er kann die Zukunft nicht nur voraussehen, sondern auch beeinflussen: „Dies alles sah der alte Heiler und baute lächelnd aus dem Uferlehm des Shire Kugeln von der Grösse seiner Faust, die schweben konnten, und er wünschte durch seinen Stab in einem Gesang, der nur wenige Momente der Geschichte dieser Welt dauerte, ein neues Menschengeschlecht herbei“ (IWHS 77/78). Ganz entsprechend dem Wunsch des Heilers, der demnach nicht nur Materie verzaubern, sondern auch den Verlauf der Weltgeschichte bestimmen kann, löst sich das Schweizer Weltreich am Ende des Romans in Luft auf, das uneinnehmbare Réduit wird erobert (vgl. IWHS 144/145). 170 Brigitte Krüger spricht von einem utopischen „Nicht-Ort“, an dem das Unbehagen gegenüber der westlichen Kultur zum Ausdruck kommt: B. Krüger, S. 271–272. 171 „geschiedenis van de wereld“.

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sie stört (vgl. ZW 456 und 199). Auch in Zwerm blockiert eine zirkuläre, mythische Zeit den linearen Ablauf der Ereignisse. Mit den Worten „ES WAR EINMAL“¹⁷² (z.B. ZW 290) werden verschiedene mythisch-zeitlose Geschichten in den Verlauf des Romans eingebaut: die Versuchung Jesu in der Wüste (ZW 290), die Legendenbildung um den Medientycoon Robert Maxwell (ZW 247), die Geschichte um den Leoparden und den Papagei über die Materie, welche keine Information vergisst (ZW 234), die auf Kubricks Space Odyssee anspielende Ursituation der Entdeckung des Bösen durch den Menschen (ZW 205), die griechische Mythe um Philoktetes (ZW 120) usw. Diese mythischen ‚Einspielungen‘ widmen sich bestimmten Urformen des menschlichen Handelns und Denkens, die außerhalb der Zeit zu stehen scheinen. Der gefürchtete Vietnamkommandant Luitenant Calley gerät gegen Ende der Erzählung in so einen mythischen Urzustand, wenn er den Dschungel betritt. Luitenant Calley wird in den Urzyklus des Lebens zwischen Zerstörung und Neubeginn aufgenommen: „Dies ist das Ende der Welt. Hier beginnt der Mythos. Leben oder Tod. Vermehrung von Zellen oder ihre Zerstörung. Alles ist Nahrung. Überall bohren Tiere sich durch Kadaver von anderen Tieren. Auf den unmöglichsten Orten schieben sich männliche und weibliche Tiere ineinander, bewegen sich kurz und fallen voneinander ab.“¹⁷³ Dieser Verlauf der mythischen Zeit verknüpft sich mit dem aktuellen Phänomen des Kapitalismus, der immer wieder als „verschwenderische Wiederholung“ bezeichnet wird (vgl. ZW 456). Schließlich wird alles zur Wiederholung (vgl. ZW 556), die der Text selbst lustvoll propagiert (vgl. ZW 405). Die Endzeit wird als Beginn einer mythischen Nichtzeit zelebriert. Im Aussetzen der Zeit wird eine fundamentale Ordnungskategorie der Wirklichkeitsrepräsentation neutralisiert. Im auf Leben und Tod reduzierten mythischen Zustand sind Repräsentationen unwichtig geworden: Die Erzählungen suchen eine Erzählwelt zu inszenieren, in welcher sie selbst als Repräsentationsform überflüssig geworden sind.

9.4 Zusammenfassung In der Analyse von Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten und Peter Verhelsts Zwerm wird die jüngste Geschichte des westlichen Kulturkreises aktuell. In beiden Romanen wird ein traumatischer Kontakt mit der

172 „ER WAS EENS“. 173 „Dit is het einde van de wereld. Hier begint de mythe. Leven of dood. Vermenigvuldiging van cellen of afbraak ervan. Alles is voedsel. Overal boren dieren zich door karkassen van andere dieren. Op de onmogelijkste plaatsen schuiven mannelijke en vrouwelijke dieren in elkaar, bewegen even en vallen van elkaar af“ (ZW 112).

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Vergangenheit in Form der ‚sublimen historischen Erfahrung‘ inszeniert. Dieser Kontakt wird nicht über Repräsentationen von Vergangenheit erreicht, sondern übersteigt die sprachliche Repräsentation in einer direkten Konfrontation, die allerdings nicht angenehm ist, sondern wie die Infektion mit einem Virus Schäden verursacht. Es sind die traumatischen Ereignisse der letzten hundert Jahre, allen voran der Zweite Weltkrieg, aber auch der Erste Weltkrieg und ‚9/11‘, die diesen Kontakt bestimmen. Die herkömmliche lineare Gliederung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie sie die Geschichtsschreibung bestimmt, wird in der sublimen historischen Erfahrung hinfällig: Es gibt keine zeitliche Ordnung mehr, vielmehr fallen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer beängstigenden Gleichzeitigkeit zusammen. In Ich werde hier sein beginnt eine Verunsicherung der historischen Ordnung, wie sie die Geschichtsschreibung etabliert hat, durch das kontrafaktische Erzählen. Das kontrafaktische Erzählen ist ein Verfahren, bei dem eine Rücknahme der Erlebnisillusion aufgrund der Erschütterung einer nur scheinbar etablierten Referenzillusion stattfindet. Ausgehend von den bekannten geschichtlichen Verläufen etabliert der Text einen neuen Verlauf der Geschichte, der die Lesenden zwar mit völlig anderen geopolitischen Machtverhältnissen wie der Schweiz als kommunistischer Weltmacht konfrontiert, strukturell jedoch den tatsächlichen Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts bestätigt, vor allem was die Unvermeidbarkeit eines Weltkrieges durch faschistische Strukturen betrifft (vgl. 9.2.1). In beiden Texten herrscht ein Zustand der Auflösung, der sich von der Erzählwelt auf das Erzählen überträgt: In Ich werde hier sein wird die Idee eines gut organisierten, zentral strukturierten Schweizer Reiches Schritt für Schritt widerlegt, in Zerm ist es das allgegenwärtige Virus, das seine zersetzende Wirkung entfaltet und sich selbst auf die Lesenden überträgt. Letztlich wird in beiden Romanen von dieser Desintegration jeglicher Ordnung auch die anthropologisch grundlegende Unterscheidung zwischen Leben und Tod unterlaufen. Gerade dadurch kann jedoch in der Erzählwelt der Romane die aus ‚toten‘ Zeichen bestehende Sprache ein Eigenleben entwickeln, in dem eine über eine bloße Verweisstruktur hinausgehende Direktheit des Kontakts durch Sprache erreicht wird (vgl. 9.2.2). Während die Auflösungserscheinungen in der Erzählwelt und in der Erzählung die Immersion behindern, wird vor allem in Zwerm durch die erzählerische Imitation filmischen Erzählens zunächst eine Erlebnisillusion evoziert. Doch in der Darstellung der Medien innerhalb des Romans erhält das filmische Erzählen in Zwerm ähnlich wie die Anspielungen auf das Theater in Ich werde hier sein eher verfremdenden Charakter: Der Roman führt vor, wie gerade die Suggestion und der scheinbare Realismus von Filmbildern sie zu einem manipulativen Instrument machen, dessen Glaubwürdigkeit mehr als zweifelhaft ist (vgl. 9.2.3).

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Wie schmerzhaft der Kontakt mit der Vergangenheit ist, führen beide Texte vor. Zunächst zeigen sie traumatisierte Figuren, die Gewalt und Verfolgung ausgesetzt sind. Das Trauma als individuelles Diskrepanzerlebnis wird so eingeführt. Eine exemplarische Verwundungsszene in Ich werde hier sein demonstriert, wie in einer Verletzung ein zwar direkter, aber äußerst schmerzhafter Kontakt zustande kommt. Dieser Art von Verbindung ist das Einbrechen der Vergangenheit in die Gegenwart vergleichbar: Es ist nicht die textuelle Erzeugung von Wissen über die Vergangenheit in der Geschichtsschreibung, die das Gefühl einer Annäherung an die Vergangenheit erzeugt, sondern eine unheimliche und schmerzhafte Konfrontation in der sublimen historischen Erfahrung, die sich nicht in Worte fassen lässt. So überträgt sich das individuelle Trauma der Figuren in ein kollektives Trauma, das durch Brüche in der Geschichte verursacht ist. Diese Brüche trennen die Vergangenheit einerseits unwiderruflich von der Gegenwart: Sie wird in einem bewusst initiierten Vergessensvorgang dissoziiert. Andererseits macht diese Dissoziation die Vergangenheit unberechenbar, sie kann unvermittelt in der Gegenwart auftauchen und ist in ihr auf unheimliche Weise präsent: Dadurch stört sie die vermeintlich stabile Identität der Gegenwart, die sich darauf gründet, sich von der Vergangenheit abzugrenzen (vgl. 9.3.1). Zwerm überträgt diese Dissoziation auf sein von Brüchen gekennzeichnetes Erzählverfahren, das die traumatische Erfahrung erzählerisch abzubilden versucht. Die sublime historische Erfahrung wird durch das konkrete Bild des Virus verdeutlicht, das wiederum die Grenze zwischen lebendig und tot überschreitet: Selbst kein Lebewesen, verdankt es seine Existenz dem Andocken an einen lebendigen ‚Wirt‘. In Zwerm ist es die Vergangenheit, die sich – scheinbar nur eine virtuelle Kopfgeburt der Gegenwart – in der Gegenwart manifestiert und einen zerstörerischen Einfluss auf sie ausübt. Im Roman wird eine Ideologie des Virus entfaltet, in der das Virus eine ständige Mutation antreibt: In stetiger Veränderung wird die Gegenwart immer wieder zur Vergangenheit, legt die vergangenen Identitäten aber nie restlos ab. Wie ein Virus frisst sich die Vergangenheit unmittelbar in die Gegenwart. Im entfesselten Mutationsvorgang lassen sich Vergangenheit, Gegenwart und (apokalyptische) Zukunft nicht mehr trennen. Entscheidend ist, dass das Virus keinen indirekten Kontakt herstellt, wie etwa in der textuellen Repräsentation von Vergangenheit in einem Text. Das Virus sorgt dafür, dass Texte ihre Leserinnen und Leser infizieren, sie also direkt mit etwas konfrontieren können. Das Virus wird die Einlösung des Versprechens eines Referenzbegehrens, das einen unmittelbaren Kontakt zur Vergangenheit herstellen will (vgl. 9.3.2). Für diese Unmittelbarkeit wird auch das Konzept der Zeit in einer apokalyptischen Vision außer Kraft gesetzt: Sowohl in Ich werde hier sein als auch in Zwerm wird eine mythische Zeitlosigkeit heraufbeschworen, in der die Worte noch eins sind mit den Dingen. Im direkten Erleben

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wird Referenz überflüssig: Die Erzählungen inszenieren einen Zustand, in dem sie selbst als Repräsentationen nicht mehr nötig sind (vgl. 9.3.3).

10 Fazit Den Ausgangspunkt dieser Studie bildete das Interesse am Zusammenspiel von Repräsentation und Präsentation im historischen Erzählen, das sich mit dem Erzählgegenstand der ‚Geschichte‘ auf die Vergangenheit bezieht. Repräsentation und Präsentation bezeichnen dabei die referentielle Ebene (Außenbezug) und inferentielle Ebene (Selbstbezug) des Erzählens: Das historische Erzählen will einerseits die vergangene Wirklichkeit wiedergeben (Referenz) und muss sich dazu selbst als Zeichensystem organisieren (Inferenz). Dabei wurde für das historische Erzählen vorausgesetzt, dass seine Produktion und Rezeption von dem Bedürfnis des Zusammenfallens von Inferenz und Referenz geprägt ist: Die Stimmigkeit einer Erzählung soll zur Übereinstimmung mit dem, worüber sie erzählt, führen. Im Kontext der Erforschung des historischen Romans wurde das Verhältnis von Präsentation/Stimmigkeit und Repräsentation/Übereinstimmung in Bezug auf die Kombination von ‚Fiktion‘ und ‚Historie‘ im fiktionalen Erzählen näher bestimmt. In der Forschungsgeschichte lag dabei zunächst der Fokus auf ‚annähernden‘ Verfahren, die bezüglich der Art beurteilt wurden, in der sie durch ihre Präsentation Vergangenheit evozieren. Im Kontext postmoderner Literaturtheorie verschob sich dieser Blickwinkel hin auf ‚distanzierende‘ Erzählverfahren, die eben diese erzählerische ‚Annäherung‘ an die vergangene Wirklichkeit problematisieren. Die vorliegende Studie rückte die Wechselwirkung zwischen ebenjenen annähernden und distanzierenden Verfahren in den Blick und versteht sich damit als Teil einer Strömung, die das Erzählen und die kritische Reflexion auf das Erzählen nicht mehr in eine der beiden Richtungen aufzulösen versucht. Es wurde angenommen, dass diese Tendenz auch einen Teil der Gegenwartsliteratur prägt. Die Studie erweiterte die literaturwissenschaftliche Perspektive auf das Erzählen im historischen Roman um eine Verortung des historischen Erzählens im fiktionalen wie im faktualen Erzählen, um es so breiter kontextualisieren zu können. Dazu wurde zunächst die Differenzierung von Erzählungen in faktual und fiktional in den Fokus gerückt. Das faktuale Erzählen zeigte sich dabei als die nicht bestimmte Seite der Unterscheidung zwischen Faktualität und Fiktionalität: Ebenso selbstverständlich, wie die Notwendigkeit erzählerischer Konstruktion im fiktionalen Kontext anerkannt wird, tritt sie bezüglich faktualer Erzählungen in den Hintergrund: Referenz scheint hier Inferenz abzulösen. Im Zuge des Linguistic Turn wurde jedoch gerade die erzählerische Verfasstheit auch des faktualen Erzählens hervorgehoben und dadurch die Notwendigkeit der Unterscheidung faktualen und fiktionalen Erzählens in Frage gestellt. Die Kritik an der Trennung von fiktionalem und faktualem Erzählen ging dabei von den gleichen Prämis-

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sen aus wie die kritisierte Unterscheidung selbst: Erzählerische Konstruktion und Wirklichkeitsbezug schließen sich aus (vgl. 3.1.1). Eine sprachpragmatische Bestimmung der Unterscheidung fiktionalen und faktualen Erzählens umgeht die unsicher gewordenen Unterscheidungskriterien des Wirklichkeitsbezuges und der erzählerischen Konstruktion insofern, als die beiden Erzählformen nicht aufgrund inhärenter Eigenschaften, sondern aufgrund ihrer Kontextualisierung innerhalb eines Kommunikationskontextes situiert werden. Faktuales und fiktionales Erzählen unterscheiden sich also nicht grundsätzlich durch wohl oder nicht vorhandenen Wirklichkeitsbezug (Referenz) oder die Notwendigkeit erzählerischer Konstruktion (Inferenz). Während sowohl faktuale als auch fiktionale Erzählungen von der Dynamik zwischen Inferenz und Referenz geprägt sind, trennt die Unterscheidung von Fiktionalität und Faktualität die Dimension, welche für die jeweils so unterschiedene Erzählung in der Produktion und Rezeption hervorgehoben wird: Bei faktualen Erzählungen steht die referentielle Dimension im Mittelpunkt, in fiktionalen Erzählungen hat die inferentielle Ebene Priorität (vgl. 3.1.2). In einer solchen sprachpragmatischen Unterscheidung kann grundsätzlich für alle Erzählungen die Entscheidung getroffen werden, sie faktual (referenzbezogen) oder fiktional (inferenzbezogen) einzuorden. Im konkreten Kommunikationskontext haben sich jedoch Signale faktualen und fiktionalen Erzählens etabliert, welche die eine oder die andere Einordnung nahelegen. Auch eine sprachpragmatische Unterscheidung muss also davon ausgehen, dass in der Kommunikation über den fiktionalen oder faktualen Status einer Erzählung konventionalisierte Signale für Fiktionalität beziehungsweise Faktualität auf paratextueller, textueller und thematischer Ebene eine Rolle spielen. Die Wahrnehmung solcher Signale steuert in der Rezeption von Erzählungen wesentlich, welchem Modus die Erzählungen primär zugeordnet werden, auch wenn diese Einordnung dynamisch ist und sich im Rahmen wandelnder Konventionen ändern kann. Gemeinhin beschäftigt sich die Erzählforschung mit den Eigenschaften fiktionalen Erzählens, anhand deren (Nicht-)Vorhandenseins Erzählungen als fiktional oder faktual eingeordnet werden. Um diese Zuordnung auch in umgekehrter Reihenfolge hervorzuheben, inventarisierte die vorliegende Studie auch die für das faktuale Erzählen konventionalisierten Merkmale. Als bestimmend für das faktuale Erzählen erwies sich die Inszenierung eines ‚niedrigschwelligen‘ Erzählens, das so wenig wie möglich Aufmerksamkeit auf den Erzählvorgang selbst richtet. Dazu stehen verschiedene Mittel zur Verfügung: Die Erzählinstanz kann mit dem Autor gleichgesetzt werden, um so eine natürliche Kommunikation zu simulieren. Absenderzeichen können auch getilgt werden, um so den Eindruck eines direkten Kontakts mit dem Erzählten herzustellen. Insgesamt werden Erzählverfahren ge-

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mieden, welche den Anspruch eines adäquaten Wirklichkeitsbezugs stören: Hier sind vor allem die interne Fokalisierung und das intradiegetische Erzählen hervorzuheben, die nur insofern eingesetzt werden können, als sie sich innerhalb des faktualen Kontextes belegen lassen (vgl. 3.1.3). Nach dieser Bestimmung des faktualen Erzählens im Verhältnis zum fiktionalen ordnete die vorliegende Studie das historische Erzählen in den Kontext faktualen Erzählens ein. Es wurde hervorgehoben, dass das historische Erzählen oft als Beispiel für das faktuale Erzählen fungierte. So setzt Aristoteles die Geschichtsschreibung pars pro toto für faktuale Erzählformen ein, um die Dichtung als fiktionale Erzählform von ihr zu emanzipieren. Dabei konnte das historische Erzählen erst deshalb als faktuale Erzählform dem fiktionalen literarischen Erzählen gegenübergestellt werden, weil ihm mit der vergangenen Wirklichkeit als nicht anwesendem Bezugspunkt überhaupt erst die Notwendigkeit erzählerischer Konstruktion zugesprochen werden konnte. Während Aristoteles den Wirklichkeitsbezug des historischen Erzählens voraussetzt, wird das historische Erzählen bei Roland Barthes und Hayden White ein Exempel dafür, dass das faktuale Erzählen nicht als eine Erzählform gesehen werden kann, bei dem von Wirklichkeitsbezug selbstverständlich ausgegangen werden kann. Roland Barthes wies darauf hin, dass sich das historische Erzählen realistischer Erzählverfahren bediene, die aus der Literatur bekannt sind, um den Eindruck zu erwecken, dass der Erzählgegenstand mit der Wirklichkeit zusammenfalle. Hayden White betont die sprachlichen Strukturen, welche Geschichtsschreibung in vorgegebenen Schemata steuern, so dass nicht ihr Wirklichkeitsbezug sondern ihre Erzählmöglichkeiten sie bestimmen. Barthes und White pointieren also die inferentielle Dimension auch historischen Erzählens und führen anhand des historischen Erzählens beispielhaft die Gebundenheit auch des faktualen Erzählens an Inferenz vor. Im Rahmen des sprachpragmatischen Ansatzes dieser Studie wurde diese wichtige Betonung der ‚Gemachtheit‘ auch der Geschichte im historischen Erzählens verbunden mit einer Aufrechterhaltung des Referenzanspruchs historischen Erzählens in einem kommunikativen Kontext. Auch wenn dieser beanspruchte Wirklichkeitsbezug nie selbstverständlich und unmittelbar ist, spielt er im Zusammenhang der Rezeption und Produktion faktualer Erzählungen eine wesentliche Rolle (vgl. 3.2.2). Während das historische Erzählen sowohl in Bezug auf die Selbstverständlichkeit erzählerischen Wirklichkeitsbezugs als auch in Hinblick auf die poststrukturalistische Infragestellung desselben als Fallbeispiel faktualen Erzählens figurierte, wurden im Rahmen dieser Studie Merkmale historischen Erzählens herausgestellt, die es als spezielle Form faktualen Erzählens markieren. Wenn die Abwesenheit eines Referenten nicht als Grundkondition allen, auch faktualen Erzählens, verallgemeinert, sondern mit Michel de Certeau in Bezug auf das his-

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torische Erzählen als die Rezeption dieser Erzählform wesentlich bestimmende, spezielle Eigenschaft herausgearbeitet wird (vgl. 3.3.1), kommt gerade in dieser für die Unterscheidung faktual/fiktional gefährlichen Übereinstimmung zwischen historischem und (literarisch) fiktionalem Erzählen zugleich ein grundlegender Unterschied zwischen historischem als faktualem und literarischem als fiktionalem Erzählen zum Vorschein: Die Abwesenheit dessen, wovon erzählt wird, führt innerhalb des historischen Erzählens zu einer starken Akzentuierung der ‚Ernsthaftigkeit‘ dieses Erzählens, wie Johan Huizinga im Zusammenhang mit seiner Definition von Geschichte herausstellt. Paul Ricœur formuliert diese Ernsthaftigkeit als „Schuld“ des Historikers gegenüber (den Toten) der Vergangenheit, die sein Erzählen bestimme (Repräsentanzfunktion) (vgl. 3.3.2). Johan Huizinga hebt hervor, dass das Erzählen das Bedürfnis eines direkten Wirklichkeitsbezugs zwar nicht befriedige, gerade in der Verbindung der Geschichte als Formgebung der Vergangenheit mit der Logik des Erzählens jedoch die Sinngebung als vorrangiges Ziel der Geschichtsschreibung ermögliche: Da Geschichtsschreibung Vergangenheit auf menschliches Handeln bezogen konzipiert, bietet sich das Erzählen als Form der Wissensorganisation für die Geschichtsschreibung an, die Sachverhalte durch die Einordnung in einen Handlungskontext verständlich macht (vgl. 3.3.3). Indem so das historische Erzählen als faktuales Erzählen näher bestimmt wurde, rückte die Studie das historische Erzählen im fiktionalen Kontext in den Mittelpunkt. Bezüglich des historischen Erzählens im fiktionalen Kontext wurde dabei zunächst die Frage relevant, inwiefern von einer Kombinierbarkeit faktualen und fiktionalen Erzählens (Kompositionalismus) ausgegangen werden kann oder ob der fiktionale und der faktuale Diskurs grundsätzlich voneinander getrennt werden müssen (Autonomismus). Es wurde eine Zwischenposition zwischen diesen beiden Richtungen erarbeitet, in der das Zusammenspiel von Inferenz und Referenz als Grundvoraussetzung allen Erzählens vom Wirklichkeitsbezug auch im fiktionalen Erzählen ausgeht, ohne dass dadurch die Fiktionalität dieses Erzählens in Frage gestellt würde. Fiktionales Erzählen kann also durchaus faktische Elemente enthalten, ausschlaggebend ist der fiktionale Zusammenhang, in den diese faktischen Elemente gestellt werden: Wird eine Erzählung als fiktional rezipiert, stuft man sie insofern als ‚unernst‘ ein, als dass zwar von einem Wirklichkeitsbezug ausgegangen wird, das Erzählen sich aber nicht dem Ziel einer adäquaten Repräsentation dieser Wirklichkeit verpflichtet (vgl. 4.1.1). Dabei kann Wirklichkeitsbezug sowohl in faktualen als auch in fiktionalen Erzählungen verschieden indiziert werden. Während Konventionserwartungen an faktuale Erzählungen im Zusammenhang des historischen Erzählens explizite Signale wie Jahreszahlen oder Quellenverweise voraussetzen, wird dem fiktionalen Erzählen neben dieser Form des expliziten Verweises auch eine implizite Signalisierung zugestanden. Gerade durch die Konventionalisierung der dem faktualen und dem

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fiktionalen zugeschriebenen Eigenschaften kann jedoch Wirklichkeitsbezug im fiktionalen Zusammenhang auch durch die Integration von als faktual etablierten Erzählstrategien angezeigt werden (vgl. 4.1.2). Neben diesen Formen der Etablierung des Wirklichkeitsbezugs war es eine wesentliche Prämisse der vorliegenden Studie, dass in der erzählerischen Verarbeitung dieses Wirklichkeitsbezugs die Betonung der Präsentation oder der Repräsentation unterschiedliche Erzählanliegen signalisiert: Sie impliziert einen ‚ernsthaften‘ oder ‚unernsten‘, also einen mehr oder weniger auf adäquate Repräsentation ausgerichteten Umgang mit diesem Wirklichkeitsbezug. Beide Erzählmodi wurden anhand einer exemplarischen Analyse von Roland Barthes Die helle Kammer vorgeführt: Während in der Repräsentation die faktuale Kontextualisierung des Erzählten im Mittelpunkt steht, rückt in der Präsentation der Ereignischarakter des Erzählten in den Vordergrund, dessen Geschehen simuliert wird. Die Simulation der Präsenz des Erzählten lässt sich dabei durch einen in der Repräsentation etablierten Wirklichkeitsbezug intensivieren, ist aber immer an die innere Stimmigkeit der Erzählung, die Signifanzfunktion im Sinne Ricœurs, gebunden (vgl. 4.2.1 und 4.2.2). In der Gegenüberstellung von Repräsentation und Präsentation wurden die das historische Erzählen in der Literatur wesentlich bestimmenden Parameter angesprochen. In Werner Wolfs Konzepten der Erlebnisillusion und Referenzillusion, in dieser Studie auch unter den Begriffen der Immersion und Emersion geführt, konnten diese Erzählmodi weiter spezifiziert werden: Die Erlebnisillusion versucht die Erzählung selbst als Wirklichkeit glaubhaft zu machen, während die Referenzillusion auf Glaubwürdigkeit einer Entsprechung der Erzählung mit der außersprachlichen Wirklichkeit abzielt. Im Rahmen des ästhetischen Kontexts hebt Wolf die der Erlebnisillusion als ästhetischer Illusion inhärente Distanz hervor, die durch Illusionsstörungen innerhalb von Erzählungen bestätigt wird. Wolf unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass sich die Erlebnisillusion insofern von der nicht vorrangig ästhetischen Referenzillusion dadurch unterscheide, dass Störungen sie nicht grundsätzlich in Frage stellten, da im ästhetischen Kontext ein gewisser Abstand zum Simulierten bestehe (vgl. 4.3.1). Hier etablierte sich ein Forschungsinteresse dieser Arbeit, welche Immersion und Emersion in Bezug auf Illusionsbildung und -störung im historischen Erzählen untersuchte. Sie ging von einer Interdependenz zwischen beiden Illusionsformen aus. Die Dynamik von Immersion und Emersion wird nicht nur im fiktionalen, sondern auch im faktualen Erzählen und somit im ästhetischen wie im nichtästhetischen Kontext angesiedelt. Für die Analysen unterstellte die Studie, dass im ästhetischen Zusammenhang literarischen fiktionalen Erzählens nicht nur der Illusionscharakter der Erlebnisillusion stärker hervortritt, sondern auch der Illusionscharakter der Referenzillusion geradezu ‚vorgeführt‘ wird.

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Während so die Dynamik zwischen Immersion und Emersion im ‚unernsten‘ Zusammenhang literarischer Fiktion spielerisch geprüft werden kann, hat diese Dynamik im historischen Erzählen im faktualen Zusammenhang ein anderes Gewicht. Wie anhand von Paul Ricœurs Ausführungen zum historischen Erzählen als analogem Erzählen zwischen Identität und Alterität dargelegt wurde, gerät die immersive Glaubwürdigkeit im faktualen historischen Erzählen in Konflikt mit der emersiven Glaubwürdigkeit, da ihr Illusionscharakter zu sehr in den Vordergrund treten kann (vgl. 4.3.3). Mit der im fiktionalen und im faktualen Kontext modifizierten Dynamik zwischen Immersion und Emersion wurde ein die Studie bestimmender Analyseparameter herauspräpariert, der die ‚Annäherungs-‘ und ‚Distanzierungsbewegung‘ des historischen Erzählens zu differenzieren hilft. Die Annäherungs- und Distanzierungsbewegung wurde dabei als ein sich im Rahmen konfligierender Überzeugungsstrategien etablierendes Zustandekommen oder Abnehmen von immersiver beziehungsweise emersiver Glaubwürdigkeit einer Erzählung begriffen. Die Glaubwürdigkeitsstrategien der Emersion und der Immersion können sich dabei auf verschiedene Arten gegenseitig intensivieren oder stören. Die Ergebnisse der Analysen in Bezug auf diese Wechselwirkung fasst ein zwischen theoretische Auseinandersetzungen und Analysen geschaltetes Kapitel zusammen (Kapitel 5). Es bietet eine schematisierende Übersicht der Dynamik von Immersion und Emersion, indem es die gegenseitige Intensivierung von Immersion und Emersion und die wechselseitige Störung der beiden Illusionsformen in den Blick nimmt. Dabei differenziert es die Intensivierung beziehungsweise Störung der Immersion durch Emersion und umgekehrt und teilt sich daher in vier beschriebene Ausformungen der immersiv-emersiven Dynamik auf. So lassen sich die Analyseergebnisse in Bezug auf diese Dynamik zusammenfassend überblicken. An dieser Stelle sollen daher allgemeinere Schlussfolgerungen, die sich aus dieser Übersicht ergeben, festgehalten werden. Grundsätzlich unterscheidet sich die Dynamik von Immersion und Emersion im faktualen und fiktionalen Erzählen darin, dass im faktualen Erzählen eine vorrangige Referenzillusion immersiv gestützt und im fiktionalen Erzählen eine vorrangige Erlebnisillusion emersiv intensiviert wird. Im Dominantwerden der jeweils nicht prioritären Illusionsform lässt sich ein Umschlagen von Intensivierung der Glaubwürdigkeit in ihre Störung identifizieren. Die Referenzillusion lässt sich innerhalb einer immersiv aufgebauten Erzählwelt auf verschiedene Weise reflektieren, so dass sich ein auf Emersion stützendes immersives Erzählen die eigene emersive Grundlage entziehen kann. Jedoch ist auch in den analysierten faktualen Geschichtserzählungen die Reflexion der eigenen Erzählverfahren nicht außergewöhnlich. Dabei werden durchaus auch Grenzen und Beschränkungen emersiven Erzählens diskutiert. Außerdem werden die Möglichkeiten

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immersiver Erzählstrategien zur Verstärkung emersiven Erzählens reflektiert. Wolfs These, dass das Distanzbewusstsein in Bezug auf die Referenzillusion weniger stark ausgeprägt sei als hinsichtlich der Erlebnisillusion, lässt sich daher nur teilweise bestätigen. Dass Störungen der Referenzillusion im fiktionalen Erzählen eine stärkere Wirkung haben als immersive Störungen, erwies sich als nicht konsequent nachweisbar: Vielmehr treten Störungen beider Illusionsformen in unterschiedlichen Schattierungen auf. Das kontrafaktische Erzählen etwa ist ein Beispiel dafür, wie sich Immersion letztlich auch auf einer verunsicherten Referenzillusion aufbauen kann. Das Herausstreichen der emersiv-immersiven Wechselwirkung sowohl im fiktionalen als auch im faktualen Erzählen sollte zeigen, dass beide Erzählmodi im fiktionalen wie im faktualen Zusammenhang auftreten können. Den Analyseergebnissen dieser Studie zufolge erweist es sich daher als wenig sinnvoll, den fiktionalen oder faktualen Status an das (Nicht-)Vorhandensein der Glaubwürdigkeitsstrategien von Immersion beziehungweise Emersion zu binden. Die Verfahrensweise der analysierten faktualen Erzählungen fordert eine Änderung der konventionellen Auffassung von Eigenschaften faktualen und fiktionalen Erzählens ein: Immersive Erzählstrategien weisen nicht automatisch auf eine fiktionale Erzählung hin und emersive Erzählstrategien sind nicht direkt als faktual einzuordnen. Die beiden Erzählmodi müssen vielmehr als Glaubwürdigkeitstrategien begriffen werden, die in verschiedenen Mischverhältnissen sowohl fiktionales als auch faktuales Erzählen in der Verfolgung der unterschiedlichen Erzählinteressen stützen. In der Art des Einsatzes und der Reflexion auf die beiden Illusionsformen lässt sich allerdings sehr wohl der Einfluss der Produktionsund Rezeptionserwartungen an faktuales und fiktionales Erzählen festmachen. Die Analysen zeigen daher diese unterschiedliche Einbettung von Immersion und Emersion in das fiktionale und das faktuale Erzählen auf. Gleichzeitig sind die im Rahmen dieser Studie erfolgten Analysen faktualer und fiktionaler Geschichtserzählungen der Gegenwart mehr als die bloße Inventarisierung von immersiven und emersiven Erzählstrategien sowie deren Wechselwirkung und Einbettung. Die Annäherungs- und Distanzierungsbewegung des historischen Erzählens lässt sich anhand des Zusammenspiels von Immersion und Emersion anschaulich präzisieren, dennoch ist die konkrete Ausgestaltung dieses Zusammenspiels im Kontext einer spezifischen Erzählung immer mehr als die Anwendung bestimmter Techniken. Im Erzählen zwischen Immersion und Emersion erkunden die einzelnen Geschichtserzählungen die Möglichkeiten der Bezugnahme auf die jeweils verhandelte historische Zeit: Sie changieren auf unterschiedliche Weise zwischen kritischer Distanzierung und identifikatorischer Annäherung. Die Analysen (Kapitel 6-9) schließen jeweils mit kurzen Zusammenfassungen ab, die ein Bild dieses Wechselspiels in Bezug

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auf die jeweils erzählte historische Epoche geben. Das hier gezogene Fazit kann sich daher auch hinsichtlich der Analysen auf das Herausstreichen wichtiger Tendenzen beschränken. Dies soll den erzählerischen Umgang mit Geschichte auf die in der Einführung für die Gegenwartsliteratur behauptete Praktik des ‚(Sprach-)Handelns trotz Krisenbewusstseins‘ zuspitzen, durch welche sich die Geschichtserzählungen ins Verhältnis zur erzählten Geschichte setzen. Mit dem Ausdruck des ‚(Sprach-)Handelns trotz Krisenbewusstseins‘ wurde ein Erzählen angedeutet, das die erzählerische Konstruktion von Illusion und deren Reflexion oder Störung nicht (mehr) als vorrangig antagonistische Erzählverfahren konzeptualisiert. Die Erzählungen über die Aufklärung in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt und Atte Jongstras De avonturen van Henry II Fix (Kapitel 6) etwa setzen sich beide mit Verfahren emersiven Erzählens auseinander. In Die Vermessung der Welt wird das klassische historische Erzählen in der Literatur zunächst etabliert, dann jedoch langsam zurückgenommen. Zudem wird innerhalb der Erzählwelt das menschliche Bedürfnis, die Wirklichkeit zu erfassen, im kritischen Bezug zu Illusion und Selbsttäuschung verhandelt. In De avonturen van Henry II Fix etabliert der Paratext eine Diskussion der Signalisierung faktualen Erzählens und führt innerhalb der Erzählwelt verschiedene Formen des Bezugs vom Teil zum Ganzen vor, der auch das historische Erzählen bestimmt. Weder die Auseinandersetzungen mit Faktualität und historischem Erzählen in Die Vermessung der Welt noch in De avonturen van Henry II Fix tasten die Erzählungen über Gauß und Humboldt beziehungsweise Fix jedoch so an, dass den Romanen ein vorrangiges Interesse an geschichtstheoretischen Fragen, wie sie etwa für den postmodernen Roman angenommen werden (vgl. 1.2), zugeschrieben werden könnte. Vielmehr könnte von einem erzählerischen Interesse an Konstruktionsprozessen gesprochen werden, das nicht bei einer kritischen Analyse der Konstruktion stehenzubleiben versucht, sondern diese Analyse als produktive Grundlage für die eigene Involviertheit in immer neue Konstruktionsprozesse einsetzt. Auch die erzählerische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet und Louis Ferrons Tinpest (Kapitel 7) signalisiert durch einen ‚oberflächlichen‘ Erzählstil eine Distanzierung von einem selbstverständlichen Realismus und ähnelt in diesem Erzählverfahren dem Roman Die Vermessung der Welt. Es ist charakteristisch, dass die Erzählungen sich in diesem Erzählduktus von einem naiven Wirklichkeitsbezug absetzen, ihn zugleich jedoch nicht ausschließen: Sie loten die Möglichkeiten des eigenen Imaginationspotentials aus. Dabei beleuchten sie nicht nur kritisch die Bildung und Funktion von Illusionen, sondern überbieten sich selbst in der Konstruktion von Illusion, ohne diese Konstruktionen als Verneinung eines Wirklichkeitsbezugs zu markieren: Emersive Erzählstrategien werden nicht grundsätzlich zurückgewie-

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sen, sondern als Faszinosum durchgespielt. In Schutzgebiet wird innerhalb der Erzählwelt die Effektivität und Wirkkraft von Immersion vorgeführt: Diese kann in zweifelhaftem Zusammenhang wirken wie im ‚Menschenzoo‘ auf der Weltausstellung, aber auch positiv wie in der Körpergeschichte, wo sie sich produktiv mit Emersion verbindet. Ein ‚oberflächliches‘ Erzählen kann somit als eine in dieser Untersuchung festgestellte Tendenz in Bezug auf das historische Erzählen in der Literatur eingeordnet werden, wobei eine breitere literaturgeschichtliche Kontextualisierung dieser Tendenz innerhalb anderer literarisch-fiktionaler Erzählformen und Gattungen aussteht. Was die Analysen faktualer Geschichtserzählungen der Gegenwart in dieser Untersuchung betrifft, wäre eine breitere Erforschung des historischen Erzählens in (populärer) Geschichtsschreibung ebenfalls ein Forschungsdesiderat. So lassen sich etwa in David van Reybroucks Congo¹ auffällige Parallelen in Bezug auf Subjektivierungsstrategien, etwa im Aufbau von Sekundärillusion und im Einsatz des intradiegetischen Erzählens (auch in Congo wird das zwanzigste Jahrhundert in der Stimme einer Figur verkörpert) finden, wobei sich die Thematik der Geschichtsrepräsentation wie in Schutzgebiet und Tinpest in Congo mit postkolonialer Thematik verbindet. In Bezug auf Geert Maks In Europa und Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent (Kapitel 8) konnte jedoch bereits herausgearbeitet werden, dass die metahistoriografische Reflexion des eigenen Erzählens auch in faktualen Geschichtserzählungen eine wichtige Rolle spielt. Streng genommen kann Metahistoriografie auch nur im Rahmen einer ihre eigenen Erzählverfahren reflektierenden faktualen Erzählung auftauchen, da hier im Gegensatz zur historiografischen Reflexion im fiktionalen Zusammenhang die Voraussetzung der Selbstreferentialität gegeben ist. An der Art der metahistoriografischen Reflexion in In Europa und Der taumelnde Kontinent lässt sich ablesen, dass hier immersive Erzählstrategien in einen übergeordneten emersiven Rahmen eingeordnet werden, also emersiv legitimiert werden müssen. Die metahistoriografischen Reflexionen stellen ihr eigenes Erzählen nicht so radikal in Frage, wie dies in metafiktionalen Reflexionen oder Erzählebenendurchbrechungen etwa in Die Vermessung der Welt im fiktionalen Erzählen der Fall sein kann. Dennoch klingen Distanzierungen vom eigenen Wirklichkeitsbezug des Erzählens an, wenn etwa Erzählentscheidungen ausgestellt und Selektionsmechanismen offengelegt werden. In Europa und Der taumelnde Kontinent zeigen, wie sich im faktualen Erzählen Erzählstrategien etablieren, die traditionell nicht dem faktualen Erzählinstrumentarium zugerechnet werden: das Aufbauen einer Sekundärillusion in

1 David van Reybrouck, Congo. Een geschiedenis, Amsterdam 2010.

336 | 10 Fazit

der Ausgestaltung der Erzählinstanz zur Figur, die interne Fokalisierung, sowie intradiegetisches und szenisches Erzählen. Schließlich demonstrierten die Analysen von Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten und Peter Verhelsts Zwerm (Kapitel 9), wie mit Hilfe immersiver Erzählverfahren das emersive Ziel direkten Wirklichkeitsbezugs im Rahmen der sublimen historischen Erfahrung durchgespielt werden kann: Die Romane entwerfen Erzählwelten, in denen in einem Zustand allgemeiner Auflösung Formen ‚direkter‘ Kommunikation möglich sind, die allerdings im Rahmen apokalyptischer Endzeit bedrohliche Züge annehmen. Da sich die sublime historische Erfahrung im kollektiven Trauma gründet, ist dabei schmerzhafte Verwundung eine Vorraussetzung dafür, der Vergangenheit direkt ausgesetzt zu sein. Das Erreichen des Ziels emersiver Repräsentation – mit Huizinga gesprochen „die totale Wirklichkeit der Vorzeit“ zugänglich zu machen (vgl. 3.3.3) – wird daher zweifelhaft. Zwerm führt neben dieser kritischen Auseinandersetzung mit emersiven Erzählverfahren, die sich selbst aufzuheben versuchen, zugleich vor, dass auch immersiven Erzählstrategien gegenüber Misstrauen geboten ist, besonders wenn sie sich mit emersiven Überzeugungsstrategien verbinden. Wiederum ist es charakteristisch, dass der Roman die suggestiv-immersive Wirkung von Filmbildern und Slogans, die sich wie Viren übertragen, innerhalb der eigenen Erzählwelt als einerseits zersetzend markiert. Andererseits praktiziert der Text diese affektive Form des Erzählens mit Wirklichkeitsanspruch selbst zu einem hohen Grad: Es gehört nicht zu den Möglichkeiten der Erzählung, sich aus dem herauszubewegen, was sie kritisch reflektiert. So kann der für diese Studie titelgebende Hilferuf des „Niemand glaubt mir“ (ZW 620), geäußert von einer traumatisierten Figur in Zwerm, als Äußerung einer Erzählstimme gelesen werden, die um die Unzulänglichkeiten und Gefahren der eigenen Glaubwürdigkeitsstrategien weiß und trotzdem alles daran setzt, Annäherung im Sinne der Glaubwürdigkeit zu erreichen. Fiktionale Erzählungen können diese Verstrickung in die eigenen Möglichkeiten und Beschränkungen spielerisch austesten oder exzessiv ihre Grenzen suchen. In jedem Fall ist in ihnen eine Annäherungsbewegung an die Vergangenheit im Sinne des Suchens und Evozierens von immersiver und emersiver Glaubwürdigkeit ebenso präsent wie die Distanzierung in der Illusionsstörung, so dass nur im Wechselspiel von Annäherung und Distanzierung die Dynamik des historischen Erzählens zwischen Immersion und Emersion erfasst werden kann: Dies gilt für fiktionale wie für faktuale Geschichtserzählungen.

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Abbildungen Abb. 8.1. Hester Schaap, Karte zu Beginn des ersten Kapitels. In: Geert Mak. In Europa. Reizen door de twintigste eeuw, Amsterdam/Antwerpen 2004, S. 21. Mit freundlicher Genehmigung von Hester Schaap. Abb. 9.1. Peter Verhelst, Zwerm. Geschiedenis van de wereld, Amsterdam 2005, S. 1. Mit freundlicher Genehmigung von Peter Verhelst.

Sachregister Überstrukturierung 101, 161, 162, 164 übereinstimmen/Übereinstimmung 3–15, 61, 79–81, 84, 89, 97, 125, 208, 256, 273, 280, 325, 328 – von Namen 36–37 Abwesenheit (im historischen Erzählen) 40, 47–51, 58, 167, 309, 327–328 Alltagswissen 33, 36 anachronistisch/Anachronismus 44, 214–215, 280 Aneignung 166–167, 173, 180, 218 Annäherung 116, 120, 154, 230, 334 – an Gegenwart 267 – an Vergangenheit 8, 12, 120, 144, 164, 203, 205, 214, 218, 249, 259, 323 – Definition 90 – Dynamik zwischen Annäherung und Distanzierung 5, 19–20, 82, 87, 90–100, 111, 116, 127, 139, 153, 162, 163, 166, 169, 172, 184, 225, 251, 325, 330, 331, 334 – gewaltsame 173 – in Bezug auf Immersion und Emersion 91 – von Gegenwart und Vergangenheit 257, 316 Apokalypse 316–322 Aufklärung 109 Aufklärungskritik 12, 111, 138 Autobiografie 62, 112, 114–124, 134, 142, 145–146, 148, 163, 223 Autonomismus 16, 59–63, 328 Beschreiben/Beschreibung – im faktualen Erzählen 41, 69–70, 72, 130, 155, 159, 196, 198, 269, 316 Distanzierung 100–106, 126, 140, 282 – Dynamik zwischen Distanzierung und Annäherung 5–20, 82–87, 90–91, 93, 111, 116, 127, 139, 166, 169, 172, 184, 225, 251, 330, 331, 334 – in Bezug auf Immersion und Emersion 90 Emersion – Definition 77–81

Enzyklopädie 64, 121–124 Erfahrung 49 – eigene Erfahrung 33, 49, 59 – Erfahrungswissen 35, 64 – Geschichtserfahrung 224, 250, 266, 310 – sublime historische Erfahrung 11, 12, 68, 268–270, 302–307, 322–324, 334 – traumatische Erfahrung 20, 307–324 Erinnerungskultur 3 Erlebnisillusion 77–81 Erster Weltkrieg 95, 169, 170, 206, 225, 226, 229, 231, 260, 265, 273, 322 Erzählen 14, 15, 25 – bei Huizinga 56 – fantastisches 85, 101, 200–210 – in Bezug auf Vergangenheit 3 – intradiegetisches 297, 298 – intradiegetisches (im faktualen Erzählen) 327, 333 Erzähllogik 57 – als Inferenz 72 – bei Culler 56 – narrative Logik 57, 136 evidentia 74 Evokation von Vergangenheit 1–4, 164 Expertenwissen 33, 36, 59, 64, 130 Faction 224 Fakt – Definition 30 faktisch/Faktizität – Definition 30 faktual/Faktualität – Definition 29 faktuales Erzählen 28 – Analyse 221–266 – im Unterschied zum fiktionalen Erzählen 28–30 – in Bezug auf Immersion und Emersion 77–81, 94 – Signalisierung 35–39 – sprachpragmatische Definition 32 – Unbestimmtheit 29

354 | Sachregister

Fantasie 85 Fiktion – Definition 30 fiktional/Fiktionalität – Definition 29 fiktionales Erzählen 28 – Definition 59, 71 – in Bezug auf Immersion und Emersion 77–81 – in der Literatur 59 – sprachpragmatische Definition 32 fiktiv/Fiktivität – Definition 29 Fokalisierung – interne 297 – interne (im faktualen Erzählen) 38, 327, 333 Geschichte – Definition 26 Geschichtsbewusstsein 2, 166, 167 Geschichtserzählung – Definition 26 Geschichtsschreibung 2, 10, 12, 18–20, 49–50, 54, 71, 72, 76, 83, 89, 96, 102, 103 – alternative 6 – anachronistische 44 – bei Ankersmit 45, 269 – bei Aristoteles 40–42 – bei De Certeau 51, 57–58 – bei Huizinga 55–57 – bei Ricœur 51–87 – bei White 44 – kontrafaktische 277–282 – neuere 47 Glaubwürdigkeitsstrategie 72–74, 87, 103, 331, 334 Halluzination 75 Historie – Definition 26 historische Erzählung – Definition 26 historisches Erzählen – als faktuales Erzählen 40, 50 – als fiktionales Erzählen 70–72 – bei Barthes 42–43

– bei Ricœur 52–53 – Definition 26 – Dynamik 82–88 – im fiktionalen Erzählen 63 Historizitätsregime 2 Illusion 75 – ästhetische Illusion 75–76, 82, 84 – bei Ricœur 86–87 – Illusionscharakter 17, 70 – illusionsstörend/Illusionsstörung 4, 17, 75 – im faktualen Erzählen 76–77, 81 – im fiktionalen und im faktualen Erzählen 89–90 illusion of life 77–81 illusion of reality 77–81 Immersion – Definition 77–81 Inferenz – Definition 28 – im faktualen Erzählen 30, 46, 327 – im fiktionalen Erzählen 30–34, 59–62, 326 – im sprachpragmatischen Kontext 32 – in Bezug auf Immersion/Erlebnisillusion 78, 89 – Zusammenspiel mit Referenz 14, 15, 34, 35, 46, 47, 58, 66, 89, 325, 326, 328 Jahreszahl als textuelles Signal 65, 69, 98–99, 159, 187, 213, 231, 328 Körpergeschichte 103, 192–200 Kommunikation – Kommunikationssituation 32–37, 163 – Metakommunikation 33 Kompositionalismus 16, 59–63 kontrafaktisch/Kontrafaktualität 105, 268, 277–282 Linguistic Turn 11, 30, 55, 60, 245, 325 Mechanismus 148, 151 metafaktual/Metafaktualität 101 metafiktional/Metafiktion/Metafiktionalität 8, 75, 76, 101, 102, 104, 128–131, 135, 136, 138, 164, 185–192, 219, 291, 333

Sachregister |

metahistoriografisch/Metahistoriografie 75, 94, 101, 102, 131, 135, 227, 229, 265, 333 Metamodernität 109 Monstrosität 123 Narrative Turn 56 New Journalism 224 niedrigschwellig/Niedrigschwelligkeit 37–39, 60, 326 Oberfläche/Oberflächlichkeit 96, 101, 103, 151–162, 164, 179–185 Organismus 148–151 Panfiktionalismus 31 paratextuell/Paratext 15, 35–36, 59, 99, 114–124, 163–164, 326, 332 performativ/Performativität/Performanz 42, 71–72 period rush 1, 97 peritextuell/Peritext 36–39, 117–124, 126, 139, 144 postkolonial 12, 20, 174, 333 – Post-Colonial Studies 166–169 Postmoderne 2–13, 152, 179 – Literaturauffassung 11 – Literaturbeschreibung 72 – Literaturtheorie 325 – postmoderne Ästhetik 179, 181 – Postmodernekritik 155 – Referenzbegehren 268, 316 – Umgang mit Geschichte 152 poststrukturalistisch/Poststrukturalismus 5, 31, 32, 58, 269, 284, 327 Präsentation – in Bezug auf historisches Erzählen 72 Präsentismus – passive Präsenz 68 – präsente Vergangenheit 1–3, 71, 87, 267, 323 Pragmatik – Sprachpramatische Unterscheidung von Fakt und Fiktion 31–34 Projektion 168, 183–186, 196, 219, 270, 290 punctum – bei Barthes 68–71

355

Raum/Raumrepräsentation 96, 104, 135–136, 155–156, 159–160, 168, 237, 244–251, 266 Realismus 42, 55, 79, 103, 135, 164, 186, 200, 228, 289, 323, 332 Reenactment 1–3, 83, 197 Referenz – als Vergangenheit 48 – Definition 28, 31 – im faktualen Erzählen 28–34, 46, 69, 81 – im fiktionalen Erzählen 59–62, 279 – in Bezug auf Emersion/Referenzillusion 78, 79, 81, 90 – in Repräsentation 269 – Referenzbegehren 268, 283, 324 – Zusammenspiel mit Inferenz 14, 15, 34, 35, 46, 47, 58, 66, 89, 325, 326, 328 Referenzillusion 77–81 Reflexion 5, 104, 152 – Geschichte als Reflexionsbegriff 26 – historiografische Reflexion 102–104, 163, 164, 185–192, 217, 219, 229, 333 – in Bezug auf Erzählen 5, 14, 91, 94, 101, 102, 131, 135, 136, 192, 219, 228, 229, 265, 298, 325, 330–333 Repräsentanzfunktion 16, 52, 73, 85, 328 Repräsentation – in Bezug auf historisches Erzählen 72 Roman – historischer Roman 3–17, 25, 61, 62, 75–77, 79, 99, 110, 132, 133, 269–270, 273, 317 – Romanverfahrensweise 92–94, 106 Sachbuchforschung 221 Schmerz/Schmerzerfahrung 158, 159, 181, 200, 267, 299–306 Schuld – im fiktionalen Erzählen 73 – in der Geschichtsschreibung 52–53, 56, 82–83, 87, 183, 328 Sekundärillusion 97, 102, 238, 244, 264, 266 selbstreferentiell/Selbstreferentialität 4, 48, 71, 131, 333 Signifikanzfunktion 16, 73, 74 Spatial Turn 245 Spiel 80, 85 – in Bezug auf Erzählen 53–54

356 | Sachregister

stimmig/Stimmigkeit 1, 4, 72, 87, 89, 94, 97, 162, 165, 190, 325, 329 studium – bei Barthes 68, 69 szenisch/szenische Darstellung 13, 39, 65, 70, 75, 94, 99, 173, 227, 229, 258, 262, 264–266, 333 Topographical Turn 245 Trauma 267, 299–306 unmittelbar/Unmittelbarkeit 1, 2, 7, 38, 42, 211, 219, 229, 235, 243, 306, 312, 324, 327 Unterstrukturierung 101 Verfremdung 4, 104, 192, 214 Vergangenheit – Abwesenheit im historischen Erzählen 48 – als das Analoge 83

– als das Andere 83–84, 167–168 – als das Selbe 83 – als Zeitregime 2–3 – bei Huizinga 55–56 – bei Lukács 7 – bei Ricœur 86 – bei White 44–46 – definiert durch menschliches Handeln 56–58, 71 – Definition 26 Verlebendigung 3, 7, 74, 95, 133, 144, 145, 148, 151, 161, 164, 315 – Umcodierung 153 – verlebendigen 146, 274, 310 Virus 267–268, 286–288, 306–315, 319, 322–324 Zeitregime 2–3 Zweiter Weltkrieg 1, 18, 20, 170, 214, 226, 232, 253, 270, 282, 313, 322

Personenregister Adams, Henry 258 Adler, Victor 254 Adorno, Theodor W. 152 Alkibiades 41 Ankersmit, Frank R. 12, 45, 159, 268–269, 302, 309, 311 Aristoteles 16, 40–42, 51, 80, 185 Armstrong, Louis 295 Ashcroft, Bill 166–167

Genette, Gérard 35–39, 60, 100, 116–119, 139 Geppert, Hans Vilmar 7–9, 13–14, 76–91 Gerstenberger, Katharina 156 Goethe, Johann Wolfgang von 114, 127 Gombrich, Ernst 77 Goodman, Nelson 64 Graetz, Paul 192 Greenblatt, Stephen 3, 144, 257, 258 Griffiths, Gareth 166–167

Bachmann-Medick, Doris 245 Bahr, Hermann 243 Barbaz, Abraham Louis 119 Barthes, Roland 16, 30, 38, 42–44, 46, 47, 56, 66–73, 79, 118, 125, 223, 327, 329 Bellamy, Edward 252 Benjamin, Walter 217, 248, 258 Blom, Philipp 225 Blume, Peter 31, 61, 63, 64 Braun, Rebecca 127 Bronner, Stefan 283

Haasse, Hella 92 Hartog, François 2–3 Heirbrant, Serge 6 Herodot 41 Herzl, Theodor 254 Heumakers, Arnold 215 Hirsi Ali, Ayaan 109 Hitler, Adolf 255 Hobsbawm, Eric 233 Hofmannsthal, Hugo von 243 Holzer, Jenny 310 Horkheimer, Max 152 Huizinga, Johan 16, 54–58, 68, 199, 268, 328, 334 Humboldt, Alexander von 114

Cäsar 213 Certeau, Michel de 18, 48–50, 57–58, 167, 218, 327 Cohn, Dorrit 50 Culler, Jonathan 56

Ireton, Sean Moore 156

Daguerre, Louis 114 Dath, Dietmar 274 Davison, Emily 258

Jaeger, Stephan 49 Jameson, Frederic 152 Jongstra, Atte 111

Eco, Umberto 64 Elias, Amy J. 11–13, 20, 109, 132, 248 Feith, Rhijnvis 144 Ferron, Louis 170 Fowles, John 75 Freud, Sigmund 231, 235, 242, 258, 263 Friedrich, Caspar David 117 Frye, Northrop 44, 45

Kehlmann, Daniel 111 Kierkegaard, Søren 119 Kilcher, Andreas 121–122 Klein, Christian 31, 36, 38, 224 Koller, Catharina 206 Kollwitz, Käthe 258 Koschorke, Albrecht 25, 46, 53, 80, 89 Koselleck, Reinhart 2–3, 25–26 Kracht, Christian 273

Gauß, Carl Friedrich 114

Lartigue, Jacques Henri 228–229, 257

358 | Personenregister

Lefebvre, Henri 245 Leibniz, Gottfried Wilhelm 279 Lenin, Wladimir Iljitsch 273, 279–282, 317 Lenton, Lillian 255 Loos, Adolf 235–236 Lowenthal, David 167 Lueger, Karl 254 Lukács, Georg 6–17 Mach, Ernst 243, 258 Mainberger, Sabine 123 Mak, Geert 222–224, 226 Martínez, Matías 31, 36, 38, 224 Marx, Karl 57, 281 Mauthner, Fritz 243 Maxwell, Robert 321 Mengele, Josef 270 Mersch, Dieter 68 Missinne, Lut 62 Mitchel, Hanna 258 Nünning, Ansgar 9 Napoleon 60–62, 66 Oever, Hendrick ten 134 Paul, E.T. 240 Peters, Arjan 274 Platthaus, Andreas 214 Porombka, Wiebke 274 Preußer, Heinz-Peter 152, 153 Putnam, Hilary 64 Ranke, Leopold von 174

Reybrouck, David van 333 Ricœur, Paul 16, 52–53, 56–58, 72–74, 82–87, 328–330 Roerich, Nicholas 289 Sandig, Barbara 127–128 Sauvage, Jean 240 Schönerer, Georg von 254 Schnitzler, Arthur 258 Schopenhauer, Arthur 188 Scott, Walter 6–14 Steinaecker, Thomas von 171 Strawinsky, Igor 263 Taft, William Howard 213 Ten Kate, J.J.L. 122 Tiffin, Helen 166–167 Verhelst, Peter 270 Verne, Jules 185–187, 205, 206, 219 Vervaeck, Bart 12, 110, 145, 151, 268–270 Victoria (Queen) 250, 264 Walton, Kendall L. 75 Wesseling, Elisabeth 9–11, 281, 317 White, Hayden 16, 30, 43–47, 56, 148–149, 153, 165–167, 218, 327 Wilhelm II. (Kaiser) 243–244 Witte, Sergei Julewitsch 262 Wolf, Werner 75–81, 90, 105, 329, 330 Zipfel, Frank 29, 46, 50, 61, 63 Zweig, Stefan 258