Geschichte des ungarischen Mittelalters: Band 1 Von den ältesten Zeiten bis zum Ende des 12. Jahrhundert [Reprint 2019 ed.] 9783111406411, 9783111042930

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Table of contents :
BÁLINT HÓMAN
INHALTSVERZEICHNIS
ERSTES BUCH
ERSTES KAPITEL. URSPRUNG UND URHEIMAT
ZWEITES KAPITEL. DIE VÖLKERWANDERUNG
DRITTES KAPITEL. AN DEN UFERN DER MAEOTIS
VIERTES KAPITEL. DIE VORFAHREN DER UNGARN
FÜNFTES KAPITEL. DIE ERBEN DER AWAREN
SIEBENTES KAPITEL. FELDZÜGEN ACH DEM WESTEN UND DEM BALKAN
ACHTES KAPITEL. DER ZUSAMMENBRUCH DER STAMMESORGANISATION
ZWEITES BUCH
ERSTES KAPITEL. DAS CHRISTLICHE KÖNIGREICH DES MITTELALTERS
ZWEITES KAPITEL. DIE KÄMPFE DER KAISER UM DEN BESITZ UNGARNS
DRITTES KAPITEL. DER AUFBAU DES LANDES
VIERTES KAPITEL. NEBENLÄNDER
FÜNFTES KAPITEL. BYZANZ UND UNGARN
SECHSTES KAPITEL. DAS UNGARISCHE REICH BÉLAS III
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Geschichte des ungarischen Mittelalters: Band 1 Von den ältesten Zeiten bis zum Ende des 12. Jahrhundert [Reprint 2019 ed.]
 9783111406411, 9783111042930

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GESCHICHTE DES U N G A R I S C H E N M I T T E L A L T E R S I.BAND

BÀLI NT

HÓMAN

GESCHICHTE D E S U N G A R I S C H E N MITTELALTERS I. B A N D VON DEN Ä L T E S T E N

ZEITEN

BIS ZUM ENDE DES XII. J A H R H U N D E R T S

Mit 7 Tafeln und i Karte

1940 V E R L A G W A L T E R D E G R U Y T E R & CO • B E R L I N W 35

Übersetzt im Auftrage des Ungarischen Instituts an der Universität Berlin von H i l d e g a r d v o n R o o s z und L o t h a r Überprüft und eingeleitet von Prof. Dr. K o n r a d

Saczek Schünemann

A r c h i v - N r . 41 37 40 / D r u c k v o n W a l t e r d e G r u y t e r S: C o . , Berlin W

35

B Ä L I N T HÖMAN Die ungarische Kulturpolitik ist seit dem Weltkrieg — von kurzen Unterbrechungen abgesehen — von Historikern geleitet worden. Graf Kuno Klebeisberg, der fast ein Jahrzehnt an der Spitze des ungarischen Kultusministeriums stand, zählte sich selbst zu den Historikern, und wenn er sich auch nicht mit fachwissenschaftlicher Kleinarbeit befaßte, so nahm er doch als Präsident der Ungarischen Historischen Gesellschaft, durch die Gründung des nach ihm benannten Ungarischen Historischen Instituts in Wien und durch die Anregung und Ausrichtung zahlreicher und umfassender historischer Forschungen, deren Veröffentlichung eine imponierende Reihe füllt, stärksten Einfluß auf die Entwicklung seiner Wissenschaft. Bälint Höman aber, der 1932 nach kurzem Zwischenspiel sein Nachfolger wurde und 1939 nach halbjähriger Pause das Ministerium aus den Händen des Geographen und neuen Ministerpräsidenten Paul Teleki wieder übernahm, ist ein Historiker, der nicht nur in großzügiger Schau historische Zusammenhänge dargestellt hat. Er ist aus dem engsten Kreis der ungarischen historischen Fachwissenschaft hervorgegangen und hat sich gerade in einer der historischen Hilfswissenschaften durch eine auf sorgfältigster Kleinarbeit beruhende große wissenschaftliche Leistung die ersten Lorbeeren des Forschers geholt. Er ist auch dann der historischen Wissenschaft durchaus nicht untreu geworden, als seine politische Laufbahn ihn bis an die Spitze des Kultusministeriums führte. Im Gegenteil: Er selbst hat den Wert geschichtlicher Erkenntnis für die praktische Politik nachdrücklich bewiesen und betont. Als er Anfang Oktober 1932 zum ersten Mal sein Ministerium übernahm, gab er seiner Überzeugung Ausdruck: „daß in kritischen Zeiten die Erziehung der Seele und die Kulturpolitik in erster Linie nicht eine politische, sondern eine wissenschaftliche Arbeit sei". Die Geschichte der ungarischen Kulturpolitik habe erwiesen, daß zwar für die tägliche Kleinarbeit die Wirksamkeit von Juristen in der Unterrichtsverwaltung unentbehrlich, für die Lösung der großen pädagogischen Probleme in den leitenden Stellen hingegen die Arbeit von wissenschaftlichen Fachleuten erforderlich sei. „Gerade der Historiker, der den Schatz der Erfahrungen der Vergangenheit verwaltet, ist für kulturpolitische Aufgaben besonders gut gerüstet." Die gegenseitige Befruchtung von politischer und wissenschaftlicher Tätigkeit kommt in der Persönlichkeit Bälint Hömans zu vollster Wirkung. Er tritt hierin gleichsam eine väterliche Erbschaft an. Otto Höman, der 1870 in Göttingen promovierte, wurde kurz danach Universitätsprofessor in Klausenburg und erwarb sich durch seine Pindar-Forschungen und seine organisatorische Arbeit entscheidende Verdienste um die Entwicklung der klassischen Philologie in Ungarn. 1885 trat er in die Schul Verwaltung über und leitete

VI

Bälint Höman

später die Abteilung für höheres Schulwesen im ungarischen Kultusministerium. Die gleiche Verbindung von wissenschaftlicher Betätigung mit staatlichem Verwaltungsdienst beginnt bei Bälint Höman schon im Anfang seiner Laufbahn, die ihn zunächst in den Bibliothekarsdienst führte, in dem er 1922 zum Bibliotheksdirektor aufstieg, eine Stellung, die er schon im nächsten Jahre mit der des Generaldirektors des Ungarischen Nationalmuseums vertauschte. 1925 wurde er außerdem Ordinarius für mittelalterliche Geschichte an der Budapester Universität, im Oktober 1932 übernahm er das ungarische Kultusministerium. So hielten sich in der Wirksamkeit Hömans administrativ-politische und Lehr- und Forschungstätigkeit lange die Wage, wenn auch das Schwergewicht sich in den letzten Jahren, wie nicht anders zu erwarten, auf die Seite der Politik verlagern mußte. Staatsdienst und wissenschaftliche Tätigkeit standen sich bei Höman nicht — wie sonst so häufig — gegenseitig im Wege, sie kamen vielmehr einander zugute. Die Überschau der Vergangenheit seines Volkes bestimmte die Zielsetzung seiner Kulturpolitik, und die praktisch-politische Erkenntnis förderte das Verständnis für historische Vorgänge der Vergangenheit. Kulturpolitik und Ausrichtung der Geschichtsschreibung gehen miteinander Hand in Hand. Höman übernahm das Kultusministerium 1932 in der Zeit der schwersten wirtschaftlichen Krisis, die damals nicht nur Ungarn, sondern Europa und die ganze Welt bedrängte. Den großzügigen wissenschafts- und kulturpolitischen Plänen seines Vorgängers Graf Klebelsberg drohte damals völlige Preisgabe, denn die öffentliche Meinung verlangte äußerste Sparsamkeit und Bescheidung in allem, was im unmittelbaren Lebenskampf der Nation scheinbar entbehrlich war. Höman hat sich diesen Strömungen einer kulturellen Verzichtspolitik mutig entgegengestellt, weil er als Historiker in der Lage war, klar zu erkennen, wie sehr die politische und wirtschaftliche Entwicklung von der ganzen Geisteshaltung des Volkes abhängig ist. Und diese Erkenntnis des Historikers verstand er in seiner Politik und vor der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. „Die Lösung der die Welt überflutenden wirtschaftlichen, sozialen, politischen und der diesen zur Basis dienenden seelischen Krise ist in erster Linie ein Erziehungsproblem. Das Leben der Nation kann nur dann gesund sein, nur dann in richtiger Richtung fortschreiten, wenn die Einheit der nationalen Erziehung, die Gleichrichtung der nationalen Weltanschauung gesichert ist. Die Vorbedingung dafür aber ist die Einheit der Schulerziehung, die bewußte Ausrichtung des öffentlichen Unterrichts". So schrieb Höman 1935. Und die gleiche Überzeugung hat ihn schon in seiner ganzen vorausgehenden wissenschaftlichen und kulturellen Tätigkeit beherrscht.

Bälint Höman

VII

Als er das Ministerium übernahm, erklärte er in der Abschiedsrede an die Beamten des Ungarischen Nationalmuseums, er habe das Portefeuille übernommen in der Überzeugung, daß in kritischen Zeiten die Erziehung der Seele und die Kulturpolitik in erster Linie nicht eine politische, sondern eine wissenschaftliche Arbeit sei. Der Historiker kann die Ursachen der Krise erkennen und aus dem Schatz der historischen Erfahrungen die Heilmittel ausfindig machen. Unangebrachte Sparsamkeit in der Kulturpolitik, so erklärte er in seiner Programmrede vom 10. Oktober 1932 vor der ungarischen Presse, müsse sich bitter rächen. Der Nährboden der Krise ist die seelische und Vertrauenskrise. Zu ihrer Behebung ist es erforderlich, die Regenerierung der nationalen Seele vorzubereiten und auf das Erstehen einer einheitlichen und festen ungarischen Weltanschauung zu wirken. Dieses Ziel, die Erweckung der nationalen Kräfte aus dem Boden einer geschlossenen historischen und politischen Weltanschauung des Ungartums, hat nicht nur den Politiker nach der Übernahme seines Ministeriums, sondern schon viele Jahre vorher auch den Historiker Höman beherrscht. Auch er weist die Scheinobjektivität der bis zum Weltkrieg in der Geschichtswissenschaft vorherrschenden Richtung zurück, die unter dem nach außen zur Schau getragenen Verzicht auf nationale Lobpreisung oder Apologetik in Wirklichkeit in den Banden der eigenen Weltanschauung erst recht nicht von den verschiedenartigsten Vorurteilen frei gewesen ist. Gemeinsam mit den seinem Kreise angehörenden ungarischen Gelehrten erhob Höman die Stärkung des historischen Selbstbewußtseins der ungarischen Nation als das seelische Rückgrat ihrer Leistungsfähigkeit zur vornehmsten Aufgabe für die ungarische Geschichtswissenschaft. Erst von hier aus kann neben seiner kulturpolitischen auch seine wissenschaftliche Leistung recht gewürdigt werden. Die ungarische Nation ist für ihre Selbstbehauptung noch stärker auf ein entwickeltes historisches Bewußtsein angewiesen als andere Nationen. Die Zahl der mit Ärpäd ins Land gekommenen Magyaren war nicht so groß, daß die gemeinsame Abstammung des heutigen Volks ein hinreichend festes Band zwischen den Gliedern der Nation bilden könnte. Die konfessionelle Trennung in Katholiken, Reformierte und Lutheraner schneidet mitten durch das Volk hindurch. Soziale Unterschiede und parteipolitische Gegensätze drohen weitere Bruchlinien zu schaffen. Selbst die Sprache kann als Mörtel der Nation nicht die erforderlichen Dienste leisten, weil sie unterschiedslos wertvolle und verderbliche Neubürger in den Kreis der magyarisch Sprechenden einbezogen hat. Das kräftigste Bindemittel ist die gemeinsame Geschichte, aber nicht die Kette der nüchternen Tatsachen im Ablauf der Ereignisse, sondern ihre Umformung und Deutung im ungarischen Geschichtsmythos, der — in seinen Anfängen bis weit ins Mittelalter zurückreichend — von Generation zu Generation weitergegeben und weitergebildet, als reale Kraft weiterwirkt.

VIII

Bälint Höman

Dieser ungarische Geschichtsmythos ist Ungarns wichtigste Waffe im Kampf um die Wiederherstellung des historischen Staates, und die Politik, die für den auswärtigen Kampf eine geschlossene Nation hinter sich haben muß, hat diesen Geschichtsmythos als verläßlichen Rückenschutz unbedingt notwendig. Es ist also ein höchst wichtiges staatspolitisches Interesse der ungarischen Volksführung, das historische Bewußtsein, das sich keineswegs auf die sogenannte Intelligenzschicht beschränkt, sondern Gemeingut des ganzen Volkes ist, zu erhalten und zu fördern. Daraus folgt, daß die ungarische Wissenschaftspolitik auf dem Gebiet der Geschichte möglichst traditionsgebunden sein muß. Nicht farblos kritische Wissenschaft, die ihren Standpunkt außerhalb des eigenen Volkes sucht, wird gebraucht, sondern eine Wissenschaft, die zwar kritisch, aber zugleich volksund traditionsgebunden ist. Die Schau der ungarischen Geschichte, wie sie von alters her in den breitesten Schichten des ganzen Volkes lebendig ist, muß auch von der kritischen Geschichtsforschung soweit geschont werden, wie es sich nur irgend wissenschaftlich verantworten läßt. Es versteht sich von selbst, daß das Werk des ungarischen Kultusministers, das bestimmt ist, der ungarischen Öffentlichkeit eine moderne Geschichtsdarstellung des ungarischen Mittelalters zu schenken, sich seiner volkspolitischen Mission auf jeder Seite bewußt ist. Das bedeutet nun aber keineswegs, daß das Werk in Inhalt und Formgebung nicht in jedem einzelnen Abschnitt die höchst persönliche Leistung seines Verfassers darstellt. Im Gegenteil. Bälint Höman ist in der Lage, seine Darstellung in fast ununterbrochener Folge auf eigener Einzelforschung aufzubauen, deren Ergebnisse er im Laufe von drei Jahrzehnten in größeren und kleineren Abhandlungen niedergelegt hat. Die Prägung durch die Persönlichkeit seines Verfassers, die das Werk schon durch diese Tatsache in hohem Grade erhält, wird noch unterstrichen durch die einheitliche Weltanschauung, von der das Ganze erfüllt ist. Hömans Forschungen erstrecken sich durch den ganzen Bereich des ungarischen Mittelalters hindurch und greifen hier und da auch noch bis weit in die Neuzeit hinüber. Nach der horizontalen Seite dehnen sie sich über fast alle Teilgebiete der Geschichtswissenschaft aus. Quellenkritische, literaturgeschichtliche, genealogische, numismatische, heraldische, wirtschafts- und siedlungsgeschichtliche Arbeiten stehen neben denen zur politischen Geschichte. Es ist kennzeichnend für die Befähigung des Verfassers zu mühevoller und exakter wissenschaftlicher Kleinarbeit, daß an Umfang und Wert unter seinen älteren Arbeiten sein numismatisches Hauptwerk weit an der Spitze steht. Die Schwierigkeiten, die die Zeit der Abfassung mit sich brachte — es erschien mitten im Weltkrieg im Jahre 1916 — sind dem Werk nicht anzumerken, obwohl sehr umfangreiche metrologische Untersuchungen anzustellen

Balint Höman

IX

und zahlreiche Urkundensammlungen durchzuarbeiten waren. Kennzeichnend für den Verfasser ist schon hier immer wieder das Bestreben, vom Einzelnen zu den großen Linien der ungarischen und gesamteuropäischen Geschichte vorzustoßen. So wird zunächst die „Münzgeschichte" zur „Geldgeschichte", und darüber hinaus zu einer unentbehrlichen Grundlage für jede Darstellung der ungarischen Wirtschaftsgeschichte, die auch für die Wirtschaftsgeschichtsschreibung Deutschlands und anderer europäischer Länder von beträchtlichem Nutzen sein kann. Gleich in den ersten Kapiteln wird das ganze europäische Maßsystem eingehend dargestellt, so daß auf dieser Grundlage deutlich herausgearbeitet werden kann, worin auf diesem Gebiet die ungarische Entwicklung unter deutschem oder sonstigem auswärtigen Einfluß stand, und wie weit sie eigene Wege ging. Diesem Verfahren bleibt der Verfasser auch in den übrigen Teilen des Werkes treu. Betonung der eigenen Leistungen des Ungartums auf der einen Seite und Aufdeckung der Entlehnungen und der Gemeinsamkeiten mit dem christlich-katholischen Nachbarn im Westen bleiben — entsprechend seiner Weltanschauung — auch für die ganze weitere Geschichtsschreibung des Verfassers kennzeichnend. Gleich die Anfänge der ungarischen Münzprägung, die Halbdenare, die König Stephan der Heilige unter der Einwirkung der Münzreform seines deutschen Schwagers, Kaiser Heinrichs II., prägen ließ, deuten dem Verfasser gleichsam die wirtschaftlich-kulturelle Anlehnung an den christlichen Nachbarn im Westen, den Eintritt in die deutschitalienische Interessensphäre an, durch den die ungarischen Verhältnisse — unbeschadet der zeitweilig recht großen geldgeschichtlichen Eigenbedeutung und Fernwirkung des Landes — auch weiter weitgehend bestimmt worden sind. Die allgemeingeschichtliche Auswertung der hilfswissenschaftlichen Einzeluntersuchungen finden wir auch in anderen Kapiteln des Werks, in den Ausführungen über das Münzregal, die Organisation der Münzprägung und des Geldwechseins, die Nationalität der Münzpächter und Münzpräger, die wichtige Beiträge für die mittelalterliche Sozial- und Volkstumsgeschichte darstellen. Von besonderem Wert sind schließlich die „Beiträge zu einer mittelalterlichen Preisstatistik Ungarns", die — auf umfangreichem Urkundenmaterial aufgebaut — auch vom deutschen Wirtschaftshistoriker nicht übersehen werden dürfen. Ein anderes Werk Hömans, das gleichfalls auf mühevoller Kleinarbeit beruht, sind seine Textvergleichungen ungarischer Geschichtsquellen, durch die er seinen Beitrag zur Lösung der alten Streitfrage nach dem komplizierten Verhältnis der ungarischen Chroniken zueinander gibt und aus diesen und anderen Quellen ein verlorenes Geschichtswerk aus der Zeit König Ladislaus' des Heiligen herauszuschälen sucht. Auch hier tut der Verfasser den Schritt vom Einzelnen zum größeren historischen Zusammenhang, indem er die rekonstruierte Quelle in die gesamte Geschichtsschreibung des 11. Jahrhunderts

X

Bàlint Höman

einzuordnen unternimmt. Auf der anderen Seite gehört dies Werk auch in den Zusammenhang der Bestrebungen, die heimische Tradition zu stärken und gegen die sie gefährdende Kritik in Schutz zu nehmen. Denn durch die Rekonstruktion einer Quelle vom Ende des 11. Jahrhunderts wird ein großer Teil der Angaben der ungarischen Chroniken verhältnismäßig dicht an die Zeit der dargestellten Ereignisse herangerückt. In der gleichen Richtung sind auch eine Reihe von weiteren Arbeiten Hömans wirksam. Hierher gehört sein Versuch, bei den Ungarn des Mittelalters eine eigene Hunnentradition nachzuweisen, die unabhängig von der deutschen und westeuropäischen Geschichtsschreibung von den landnehmenden Ungarn schon in die neue Heimat mitgebracht worden sei. Das Kernstück dieser Tradition bilde die Herleitung des ungarischen Königsgeschlechts der Ârpâden vom Hunnenkönig Attila. Durch diese These würde eine aus den spätmittelalterlichen Chroniken weit ins ungarische Volksbewußtsein gedrungene liebgewordene Tradition wenigstens in gewissem Sinne gerechtfertigt erscheinen. In den gleichen Zusammenhang gehört die Herleitung des ungarischen Volksstammes der Székler in Siebenbürgen von den Awaren. Auf diese Weise würde die Überlieferung, daß die Ungarn bei ihrer Landnahme die Székler schon vorgefunden hätten, gerechtfertigt werden. Die siedlungsgeschichtliche Untersuchung über die Ansiedlung der einzelnen ungarischen Stämme der Landnahmezeit findet besonders an Hand des Ortsnamenmaterials manche Angabe des anonymen Notars König Bêlas oder der ungarischen Chroniken bestätigt. Das gleiche gilt auch in gewissem Sinne für Hömans Darstellung der Landnahme im Handbuch der ungarischen Geschichtswissenschaft. Außer den selbständig erschienenen Werken hat Höman eine Fülle von wissenschaftlichen Aufsätzen publiziert, die sich mit Einzelfragen der ganzen mittelalterlichen Geschichte Ungarns beschäftigen. Die Ungarische Historische Gesellschaft hat diese in Zeitschriften zerstreuten Arbeiten ihres Präsidenten zusammen mit seinen Reden neu in drei Bänden herausgegeben. Die hier vereinigten Arbeiten und Vorträge Hömans beginnen mit den Fragen der ungarischen Urgeschichte und führen bis ins Ende des 15. Jahrhunderts, teilweise auch noch darüber hinaus in die Neuzeit hinein. Als wissenschaftlich besonders wertvoll können auch hier die geld- und steuergeschichtlichen Arbeiten gelten, die z. T. als Ergänzungen seines geldgeschichtlichen Hauptwerkes gelten können, so die Darstellung der für seine Zeit sehr fortgeschrittenen Steuerpolitik des Königs Koloman zu Beginn des 12. und des ebenfalls im Sinn der Zeit recht „modernen" Staatshaushalts König Karls I. zu Beginn des 14. Jahrhunderts, zur Goldkrise des 14. Jahrhunderts usw. Unter den letzten Arbeiten Hömans treten naturgemäß die Einzelforschungen zugunsten zusammenfassender Darstellungen und Würdigungen zurück. Es sind einmal die großen Führergestalten des ungarischen Katholizismus, denen

Baiin t Höman

XI

•sich sein Interesse, nicht nur das des Wissenschaftlers, sondern auch des Kulturpolitikers, zugewandt hat. König Stephan den Heiligen feiert er in einem am Stephanstag 1936 gehaltenen Rundfunkvortrag als den ersten ungarischen Europäer und zugleich als den größten Ungar aller Zeiten, dessen Bund mit dem Westen und dem Christentum durch die ungarische Geschichte hundert- und tausendfach besiegelt worden sei. 1939 widmet er dem ersten Ungarnkönig ein ganzes Buch. In der gleichen Linie liegt die Würdigung der Verdienste des Benediktinerordens um die Bekehrung der Ungarn und die Würdigung des heiligen Emmerich, des vor dem Vater gestorbenen Sohnes Stephans des Heiligen, als beispielgebendes Vorbild für die ungarische Jugend. Außerdem hat sich Hömans Interesse in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Abschluß seiner ungarischen Geschichte des Mittelalters besonders spätmittelalterlichen Gestalten und Zeiträumen zugewandt: dem Angiovinen Ludwig dem Großen, dem Luxemburger Siegmund und dem letzten großen Ungarnkönig, Matthias Corvinus. Für die Cambridge Medieval History verfaßte er die Darstellung des ganzen Abschnitts von 1301—1490. Schließlich sind es die grundlegenden Linien der politischen Geschichte Ungarns und seine Stellung zu den großen europäischen Mächten, die dem Politiker Höman am Herzen liegen. Die 900 Jahre alte historische Freundschaft zwischen Ungarn und Polen auf der Grundlage der gemeinsamen Zugehörigkeit zum westeuropäischen, lateinisch-christlichen Kulturkreis und der beiden Völkern zusammen mit den Kroaten gemeinsamen Verteidigungsstellung an der Grenze dieser Kultur den östlichen Kulturkreisen gegenüber läßt ihn eine weitgehende Parallelität in der Geschichte beider Völker finden (1936). Ahnliche Gedanken entwickelt Höman in seinem Vortrag auf dem Warschauer Historikerkongreß von 1933, der in erweiterter Form 1934 nochmals publiziert wurde (Entre l'orient et l'occident). Eine Orientierung Ungarns nach dem Osten entspringe einem romantischen Irrealismus. Zwei Möglichkeiten gebe es für die Völker in der Grenzzone der westlichen Kultur: Entweder Defensive gegen Deutschland mit einem französischen Bündnis als Rückenstärkimg und gleichzeitigem expansiven Vordringen nach Osten, oder aber Bündnis mit dem römisch-deutschen Reich, d. h. für die Gegenwart mit den Achsenmächten, ein Bündnis, das im Fall einer von Osten drohenden Gefahr für Ungarn und die in gleicher Lage befindlichen Völker lebensnotwendig ist. Konrad Schünemann.

INHALTSVERZEICHNIS

E R S T E S BUCH I. Kapitel URSPRUNG UND URHEIMAT

Seitc

i

Urgeschichte. Das finnougrische Urvolk. Prämagyaren. Ogur-türkiscbe Kulturwörter. Das Hunnenreich in Asien. Die ogurischen Völker. Onoguren-Magyaren. II. Kapitel DIE VÖLKERWANDERUNG

17

Die Ausbreitung Roms und Chinas. Die Anfänge der großen Völkerwanderung. Attilas Hunnenreich. Attilas Erben. Der häufige Wechsel der Völkernamen. Die Völker des Pontus im 5 . - 9 . Jahrhundert. III. Kapitel AN D E N U F E R N D E R M A E O T I S

32

Das hunnisch-bulgarische Reich Irniks. Uturguren und Kuturguren. Unter awarischer und türkischer Herrschaft. Das onogurisch-bulgarische Reich Kurts. Der Zerfall des Onogurenreiches. Unter chasarischer Herrschaft. Das Chasarenreich. Der Zerfall der chasarischen Macht. Die Befreiung der Onogur-Magyaren. Der Angriff der Petschenegen. Etelköz. Die Wahl des Fürsten. Blutsvertrag. Westliche Politik. IV. Kapitel DIE VORFAHREN DER UNGARN

57

Körperform und Charakter. Die Sprache. Gesellschaftliche Organisation : Sippengemeinschaft. Die Schichtung der Gesellschaft. Politische Organisation: Stamm und Stammverband. Erbliches Fürstentum. Kriegsorganisation und Kriegführung. Die wirtschaftliche Kultur. Wohnung und Lebensweise. Gewerbe und Handel. Nomadentum. Religion, Urglaube. Monotheismus. Sagen und Märchen. Die Kenntnis der Schrift. V. Kapitel D I E E R B E N D E R AW A R E N Awaren und Szekler. Bulgaren und Bulgaroslawen. Slowenen, Kroaten, Serben. Slowaken, Mährer, Weißkroaten, Tschechen. Deutsche und Romanen. Die Kultur der Slawen. Die bulgarische Herrschaft in der Theißgegend. Die Karolinger

84

XIV

Inhaltsverzeichnis

in Pannonien. Das mährische Fürstentum. Das pannonische Herzogtum Privinas. Rastislaw, Fürst von Mähren. Kozel, Fürst von Pannonien. Swatopluk, Fürst von Mähren. Der Karolinger Arnulf und die Slawen. VI. Kapitel DIE LANDNAHME Der Krieg mit den Bulgaren und der Angriff der Petschenegen. Die Landnahme. Die Eroberung Pannoniens. Die Ansiedlung der Stämme. Die Szekler. Doppelsiedlung. Militärische Planmäßigkeit bei der Niederlassung. Die geschichtliche Bedeutung der Ansiedlung. Fürst Arpäd. Die Schlacht im Inntal. VII. Kapitel F E L D Z Ü G E NACH DEM WESTEN UND DEM B A L K A N

116

Verteidigung gegen den Osten. Bayrisch-ungarisches Bündnis. Lombardischungarisches Bündnis. Merseburg 933. Otto I. und die Herzöge. Heinrich, Herzog von Bayern, und Horka Bulcsu. Auf dem Lechfelde. Streifzüge nach Byzanz. Charakter der „Streifzüge". Der politische Hintergrund der Streifzüge. Dauerhafte Verbindungen. VIII. Kapitel D E R Z U S A M M E N B R U C H DER S T A M M E S O R G A N I S A T I O N

138.

Außenpolitische Situation. Der Verfall der Zentralmacht. Die Herrschaft der Heerführer. Bulcsu. Gyula. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandlungen. Die Verbreitung des Christentums. Geisas erste Bekehrungsaktion. Das innere Organisationswerk. Westliche Verbindungen. Herzogin Gisela. Der heilige Adalbert. Adalbert in Ungarn. Geisas geschichtliche Rolle. Der Aufstand Koppänys. Gyula-Ajtony. Stephans Königskrönung.

Z W E I T E S BUCH I. Kapitel DAS C H R I S T L I C H E K Ö N I G R E I C H D E S M I T T E L A L T E R S Kirche und Staat im Mittelalter. Reformbestrebungen. Die cluniazensische Bewegung. Der Einfluß Clunyis auf Ungarn. Stephan, der erste christliche König. Die Heilige Krone. Kirchliche Organisation. Christliche Kultur. Regnum und Patrimonium. Der königliche Hof. Die Komitate. Grenzgespanschaften. Der Staatshaushalt. Das Heer. Die gesellschaftliche Gliederung. Die Geschlechter. Die Organisation der Rechtsprechung. Der Palatinus. Die Kanzlei. Der königliche Rat. Die Schranken der königlichen Gewalt: Religion und Consuetudo. Die Gesetze Stephans. Lehenswesen und Zentralgewalt. Krieg mit Deutschland. Herzog Emmerich. Die Tragödie des Väszoly. Kandidierung des Thronfolgers, der Tod des Königs. Das Werk Stephans des Heiligen.

175

Inhaltsverzeichnis

XV

II. Kapitel D I E K Ä M P F E DER K A I S E R U M D E N B E S I T Z U N G A R N S

243.

Die Orseolos. Der Eroberungsversuch Konrads II. König Peter. Samuel Aba. Das Vasallenkönigtum Peters. Die Söhne Vâszolys in der Verbannung. Heidnischer Aufstand. Die Thronbesteigung Andreas' I. Die Ansprüche Kaiser Heinrichs III. auf Lehnshoheit. Das Herzogtum Bêlas. Die Eroberungsversuche Heinrichs III. Der Zwist zwischen Andreas und Béla. Béla I. König Salomon. Einbrüche der Uzen und Petschenegen. Der Streit des Königs mit den Herzögen. König Géza I. Ladislaus' Aufstieg, Salomons Sturz. Östliche und westliche Gefahr. III. Kapitel D E R A U F B A U DES L A N D E S

284

Innere Verhältnisse. Die Strafgesetze des Hl. Ladislaus. Die Heiligsprechung König Stephans. Der fromme König Ladislaus. Die Anfänge der ungarischen Geschichtsschreibung. Die Chronik und Gesta des Mittelalters. Die Gesta ungarorum. Das Königsideal der Gesta. Der Abschluß der Kirchenorganisation. Der Ausbau der Komitats- und Grenzgebietsorganisation. Kirchliche Gesetzgebung. Die Ehelosigkeit der Priester und das Eherecht. Die Investitur. Die Gesetze König Kolomans. Die Strafgesetze. Die Reform der Rechtspflege. Die königlichen Güter. Das Erbrecht. Der Kriegsdienst. Die Besteuerung. Ismaeliten und Juden. Die Konskription der Knechte und Freigelassenen. Die Legende Hartwigs. Ladislaus und Koloman. Gesetzgebende Synoden. IV. Kapitel NEBENLÄNDER

336.

Die außenpolitische Lage. Die Organisierung der Gebiete des „Gyepüsaumes". Die territoriale Organisation Slawoniens. Die Entwicklung der kroatischen Macht. Das Königreich der Trpimiroviéi. Innere Organisation. Die Kämpfe der lateinischen und slawischen Partei. Das päpstliche Lehenskönigreich Zwojnimirs. Die Anfänge der ungarisch-kroatischen Staatsgemeinschaft. Der Zusammenstoß Ladislaus' mit dem Heiligen Stuhl. Der Tod des Hl. Ladislaus. Der Durchzug des ersten Kreuzheeres. Koloman und der Heilige Stuhl. Ungarisch-normannisch-italienisches Bündnis. Russische und tschechische Angelegenheiten. Koloman, König von Ungarn, Kroatien und Dalmatien. Die Regierung Kroatiens. Die Unterwerfung der dalmatinischen Städte. Verzicht auf die Investitur. Koloman und Âlmos. V. Kapitel BYZANZ UND UNGARN Krieg mit den Griechen. Die Regierung des Banus Belos. Ungarisch-französisches Bündnis. Russische Kriege. Weltherrschaftspläne Manuels. Griechisch-ungarische Kriege. Stephan III. und die Thronprätendenten. Der Plan einer griechischungarischen Union. Weitere griechische Kriege. Ungarisch-griechisches Bündnis. Das Ende der Weltmachtträume.

379.

XVI

Inhaltsverzeichnis

VI. Kapitel DAS U N G A R I S C H E R E I C H BÉLAS III Das Glaubensleben. Neue Mönchs- und Ritterorden. Das Vordringen der französischen Kultur. Magister P., der Notar König Bêlas. Wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Die königlichen Finanzen. Königliche Einkünfte. Glänzende Hofhaltung. Die Hofkanzlei. Das Heer. Die königliche Macht. Die Jugend Bêlas I I I . und seine Thronbesteigung. Neue Außenpolitik. Der Durchzug des dritten Kreuzzugheeres. Das ungarische Reich Bêlas I I I .

ERSTES

BUCH

ERSTES KAPITEL URSPRUNG UND URHEIMAT In derselben Zeit, in der das fränkisch-römische Reich Karls des Großen zerfällt und deutsche, französische und italienische Nachfolgestaaten entstehen, taucht in Südosteuropa ein neuer Völkername auf: der Name des bis dahin im Westen, ja selbst in Byzanz unbekannten Volkes der Magyaren oder Ungarn. Schon um die Mitte des 9. Jahrhunderts beginnen arabische Reisende an den nördlichen Küstengebieten des Pontus das „magyarische" Volk zu erwähnen. Im Jahre 862 hörte man auch schon im Westen Europas von den Verwüstungen des „unbekannten ungarischen Feindes", der bis in die östlichen Grenzgebiete des Frankenreiches seine Streifzüge unternahm. Drei Jahrzehnte später greifen die Ungarn als Verbündete des Frankenkönigs und des Kaisers von Byzanz die Mährer und Bulgaren an. Nach dem unglücklich verlaufenen bulgarisch-petschenegischen Kriege übersteigen sie die Karpathen; im Herbst des Jahres 895 nehmen sie das Erbe des Hunnenkönigs Attila und das der awarischen Chagane in Besitz und hundert Jahre nach dem Zusammenbruch der awarischen Herrschaft in Pannonien lassen sie sich endgültig in ihrer neuen Heimat nieder. Die aus dem Donau-Theiß-Gebiet Jahr für Jahr nach Westen und Süden streifenden Reiterhorden verschaffen dem „früher nie gehörten" Namen bald einen furchtbaren Ruf. Die frommen Mönchschronisten der westeuropäischen Völker, die vor einem Wiederaufleben hunnischer und awarischer Zeiten erzitterten, betrachteten und verewigten mit Grauen und Furcht — nach dem Beispiel der römischen Schriftsteller, die von den gotischen, keltischen und germanischen Barbaren berichten, — das furchterregende Auftreten des neuen barbarischen Feindes und seine in blutigen Kriegen ausgetragenen Kämpfe. Seit dieser Zeit kennen wir die Ereignisse der Geschichte des ungarischen Volkes in lückenloser Folge. Nach der allgemeinen Auffassung beginnt das geschichtliche Zeitalter des ungarischen Volkes und der ungarischen Nation mit diesen Aufzeichnungen aus dem 9. Jahrhundert, nach den neueren Ergebnissen der Wissenschaft jedoch schon mit den Angaben aus dem 5. Jahrhundert, die sich auf die Onoguren beziehen. URGESCHICHTE

Die Ereignisse der Frühzeit sind in völliges Dunkel gehüllt. Trotzdem kann sich der Erforscher der Vergangenheit nicht allein mit der Erforschung der Ereignisse, die ihm aus gegebenenfalls noch erhaltenen schriftlichen Quellen r

H 6 m a n , Geschichte des u n g .

Mittelalters

2

Das finnougrische Urvolk

bekannt sind, und mit der Untersuchung der Geschichte der vollständig zu einer ethnischen und politischen Einheit verschmolzenen Nation begnügen. Er muß sich mit der Frage des Ursprungs beschäftigen und den verwickelten Problemen des Ethnikums sowie der Entstehung der gesellschaftlichen und politischen Organisation nachgehen. Er muß erforschen, wer die Vorfahren des magyarischen Volkes waren, woher sie kamen, welchen Namen sie trugen, welche Faktoren bei der Ausbildung ihrer kulturellen und politischen Organisationen mitgewirkt haben. Die Antwort auf diese Fragen gibt die Urgeschichte. Die Urgeschichte ist die Familiengeschichte der Nation. Ohne ihre Kenntnis können wir die Geschichte der Nation ebensowenig verstehen wie die Auffassungen, die Weltanschauung, die Zielsetzungen eines Individuums, wenn wir seine Abstammimg, die Umstände seiner Erziehung, sein Milieu und die gesamten Faktoren, die auf seine körperliche und geistige Entwicklung Einfluß haben, nicht kennen. Die Forscher, die sich mit der ungarischen Urgeschichte befaßten, tasteten lange Zeit hindurch in völligem Dunkel, sie haben sich oft geirrt und sind manchmal gestrauchelt. Seit den gelehrten Theorien des Mittelalters, die die Ungarn mit längst verschwundenen Völkern identifizierten, sind die Ursprungstheorien zahllos, die das ungarische Volk mit allen nur vorstellbaren östlichen Reitervölkern in Verbindung brachten. Der gemeinsame Fehler dieser oft ganz phantastischen Versuche ist, daß ihnen die feste Grundlage einer wissenschaftlichen Methode fehlt. Heute können wir uns schon auf Grund des durch die verwandten Wissenschaften aufgespeicherten reichen Quellenmaterials und der die Grundprobleme klärenden und zahlreiche Teilprobleme lösenden Forschungen ein zusammenhängendes und im ganzen verläßliches Bild vom Ursprung von Volk und Nation der Ungarn, von ihrer Kindheit und Jugendzeit machen. DAS F I N N O - U G R I S C H E URVOLK

Die erste und wichtigste Frage der Urgeschichte ist die Frage des Ursprungs. Wir müssen das Verhältnis des magyarischen Volkes zu den übrigen Völkern kennen und seine Stellung in der großen Völkerfamilie der Welt bestimmen. Unser Wegweiser ist hierbei die Feststellung der methodischen Sprachwissenschaft vom finno-ugrischen Ursprung der magyarischen Sprache und ihren ogur-türkischen Beziehungen. Die Urstruktur der magyarischen Sprache und die Grundschicht ihres Wortschatzes ist finno-ugrisch. Die ältesten Lehnwörter aus dem Begriffsbereich der Kultur sind ogurtürkischen Ursprungs. Wir müssen also die Vorfahren des Volkes unter den ural-altaischen Völkern suchen.

Das finno-ugrische Urvolk

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Das finno-ugrische Urvolk hat Jahrtausende vor Christi Geburt in den waldigen Gebieten am Mittellauf der Wolga und an deren Nebenflüssen — an der Oka, Kama und Bjelaja — gelebt. Hierhin weisen die archäologischen Funde und die aus der finno-ugrischen Grundsprache stammenden Tier- und Pflanzennamen (der Name des Renntiers, der Biene, der Tanne, der Zirbelkiefer und der Name der Sumpfbrombeere), aber hierhin weisen auch das spätere Verbreitungsgebiet der eine finno-ugrische Sprache sprechenden Völker und die gemeinsamen indoiranischen Lehnwörter des Magyarischen und der finno-ugrischen Sprachen (hundert, Waise, Haus, Wasser, Himmel, Kupfer, Eisen, Gold, Silber, Färse, Biene, Krähe, Honig usw.). Das finno-ugrische Urvolk hat sich vor langer Zeit — wenigstens 2000 Jahre vor Christi Geburt — in einen östlichen und einen westlichen Zweig gespalten, die sich später auch in sprachlicher Hinsicht voneinander abgesondert haben. Der westliche Zweig teilte sich später in neue Äste und wurde zum Ahnen der heutigen permischen — syrjänischen und wotjakischen — Völker, der in den Gebieten der Urheimat wohnenden Wolga-Völker — der Tscheremissen und Mordwinen — und der nach dem Nordwesten sich erstreckenden finnischen Völker, zu denen neben den estnischen, finnischen und karelischen Völkern auch jenes Urvolk gehörte, das den ursprünglich anderssprachigen primitiven Lappen seine Sprache gab. Von dem östlichen Zweig, von dem in derWissenschaft gewöhnlich als ugrisch bezeichneten, sich selbst aber mänsi ( > mögyi > mägy) nennenden Urvolk spalteten sich die Wogulen und Ostjaken ab, die aus der Gegend der Tschussowaja, der Kama und Bjelaja, ihrer ugrischen Urheimat, schon in historischer Zeit nach dem Nordosten zogen und im 13.—14. Jahrhundert das nördliche Uralgebirge überquerten und an dessen östliche Abhänge und in die Gegend des Ob-Flusses gelangten 1 ). Aus demselben Stamme wie diese ob-ugrischen Völker entstammt — wie die Sprache einwandfrei bezeugt — jenes Volk, von dem die Magyaren ihre Sprache geerbt haben, und das wir zum Unterschied von dem später entstandenen historischen magyarischen Volk als prämagyarisches oder mägyi-Volk bezeichnen wollen. Heute ist in der Wissenschaft der Name „ugrisch", der ursprünglich für die türkstämmigen und türksprachigen Völker verwendet wurde, für die Be1

) Die Wogulen und Ostjaken haben schon im J.—10.

Jahrhundert unter ogurischer

(wolgabulgarischer) Herrschaft gestanden, und die Russen und Syrjänen nannten sie auch nach ihren Herren Oguren oder Ugoren (jugra, ugra), und diese Bezeichnung blieb in der Form „ugrisch" auch in der Sprachwissenschaft für ihre Sprache bestehen. Im historischen Sinne ist der Ogur- oder Ugor-Name vom 2. Jahrhundert vor Christi bis zum 7. Jahrhundert nach Christum der Sammelname der Turkvölker, die zum westlichen Zweige gehörten, und wird später von dem Namen „Bulgaren" abgelöst. 1*

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Prämagyaren

Zeichnung der östlichen Abzweigung der zur uralischen Rasse gehörenden finno-ugrischen Völkergruppe gebräuchlich. Ich selbst gebrauche die Namen ugrisch und finno-ugrisch im sprachwissenschaftlichen Sinne zur Bezeichnung der Völker, die zur uralischen Völkerund Sprachfamilie gehören, während ich zur Bezeichnung der zu den altaischen Turkvölkern gehörenden einstigen ogurischen oder bulgarischen Völker die archaistische Form „ogurisch" beibehalte.

PRÄMAGYAREN

Das finno-ugrische Urvolk und die Völker, die sich aus dieser Gemeinschaft herausgelöst haben, standen — mit Ausnahme der schon früh unter germanischen Einfluß gelangenden Finnen und Esten — bis in die neueste Zeit auf einer sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftlich sehr niedrigen Stufe der Entwicklung. Auf diesem Niveau konnte freilich keine Rede sein von einem raschen Ortswechsel, einem bewußten Heimatsuchen und Landnehmen, wie es für die Wanderungen arischer und türkischer Völker charakteristisch ist. Die von dem finno-ugrischen Urvolk sich abspaltenden Völkerschaften stießen nur langsam vor. Sie mieden die südlich liegende Steppe, die ihnen sowohl wegen ihrer Öde als auch wegen der flinken und kriegerischen Einwohner gleichermaßen unsicher erschien, sie fischten in den Flüssen, jagten in den dichten Wäldern, zerstreuten sich nach Osten und nach Westen und machten so den hinter ihnen in gleichem Tempo vordrängenden verwandten Völkern Platz. Das Ergebnis des langsamen, allmählichen Ortswechsels und der natürlichen Zerstreuung ist, daß die heutige räumliche Lage, beziehungsweise das geographische Verhältnis der finno-ugrischen Völker zueinander ganz genau dem Grade ihrer Sprachverwandschaft entspricht und ein treues Bild der früheren Wohnplätze gibt, deren Grenzen sich nur in östlicher und westlicher Richtung verschoben haben. Die ugrischen Völker findet man östlich der Urheimat, die einzelnen Nachkommen des in permische, wolgaländische, finnische und lappische Gruppen geteilten finnisch-permischen Zweiges aber in der Gegend der Urheimat am Mittellauf der Wolga und von dort nach Nordwesten auch heute noch in der Reihenfolge ihrer Sprachverwandtschaft. Nach den Ergebnissen der sprachwissenschaftlichen Forschungen ist das Volk der Mägyi, das den Magyaren die Sprache gab, das äußerste Glied des östlichen Zweiges der finno-ugrischen Sprachfamilie gewesen, und deshalb müssen wir seine Heimat jenseits seiner nächsten Verwandten, also südlich oder östlich von der Urheimat der Ostjaken und Wogulen suchen. Nach Süden führen keine Spuren. Es ist auch gar nicht wahrscheinlich, daß dieses

Prämagyaren

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an das Waldleben gewöhnte Fischer- und Jägervolk sich nach den Ebenen der Steppengegend, die tausend Gefahren in sich bargen und die seiner Lebensweise völlig widersprachen, gesehnt hätte. Um so mehr Spuren weisen nach Osten. In der Urheimat der Mänsi haben die archäologischen Ausgrabungen Überreste einer eigenartigen Urkultur zutage gefördert, die aus dem 7.—2. Jahrhundert vor Chr. stammen. Diese Kultur wurde nach der ersten Fundstätte Ananjino-Kultur genannt. Die Resultate dieser Ausgrabungen, die Grabfelder und kleinen Festungen, die man nach den darin gefundenen Knochenwerkzeugen Knochen-Gorodischtsche nennt, gehören zwei verschiedenen Kulturen an. Die mit Bronzegegenständen reich ausgestatteten Grabfelder weisen auf eine höhere Kultur hin; und wenn wir aus den Angaben Herodots auf das Vorhandensein solcher Ansiedlungen schließen dürfen, so sind das wahrscheinlich die Grabstätten fremder, in diese Gegend gelangter skythischer oder ogur-türkischer Pelzjäger; allerdings könnten es auch die Begräbnisplätze einer höheren Schicht der autochtonen Einwohnerschaft sein, die unter einem fremden Kultureinfluß gestanden haben mag. Hingegen sind die kleinen Festungen, die in ihrer Bauweise den heutigen Befestigungen der Ob-Völker ähnlich sind, mit den in ihnen gefundenen primitiven Knochenwerkzeugen zweifellos die Spuren der einstigen Kultur des finno-ugrischen Volkes, das vor Jahrtausenden dieses Gebiet bewohnte. Das Zentrum der Ananjino-Funde, die die zweieinhalbtausend Jahre zurückliegende Kultur des Finnougriertums illustrieren, ist das Gebiet zwischen der Tschussowaja, der Kama und der Bjelaja, also die europäische Urheimat der Ostjaken und Wogulen. Gegen Westen hin erstreckt sich diese Kultur längs der Kama und Wolga über die damaligen Wohnplätze der benachbarten permischen Völker — der Syrjänen und Wotjaken — sowie der Wolga-Tscheremissen und Mordwinen, gegen Osten aber über das Ural-Gebirge hinweg bis in die Gegend der in den Tobol mündenden Flüsse Tura, Pyschma und Isset, also bis in das östlich von der einstigen europäischen Heimat der Ostjaken und Wogulen liegende sibirische Gebiet. Die Träger dieser westsibirischen Kultur um das 7.—2. Jahrhundert vor Chr. können weder die bis zum 13. Jahrhundert nach Chr. diesseits des Ural lebenden Ostjaken und Wogulen, noch weniger aber die von ihnen westlich wohnenden verwandten finnischen Völker gewesen sein, sondern nur ein von dort später verschwundenes finno-ugrisches Volk, und zwar nach den Ergebnissen der methodischen Sprachforschung das als der äußerste östliche Zweig dieser Völkerfamilie bekannte Volk der Mägyi. Das Volk, das später den Magyaren die Sprache übermittelte, mag ungefähr 500—1000 Jahre vor unserer Zeitrechnung nach den östlichen Abhängen des Ural gezogen und dann allmählich bis zum Tobolflusse vorgedrungen sein. Ein Bild von der Kultur dieses Volkes erhalten wir, abgesehen von den archäologischen Funden aus der Ananjino-Zeit, durch jene Kulturwörter, die der

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Prämagyaren

magyarische Sprachschatz noch aus der Zeit der Märiii-Sprachgemeinschaft bewahrt hat 1 ). Das Volk der Mägyi hatte ein schon sehr entwickeltes Familienleben, und auch die Familiengründungen der Jungen haben keinerlei Lockerung der wirtschaftlichen und rechtsgemeinschaftlichen Bindungen zur Folge gehabt. Die verwandten Familien waren in der auf dem Wege der natürlichen Vermehrung entstandenen größeren Blutsgemeinschaft, der Sippe (had), zusammengefaßt. Die Sippen, die unter der Herrschaft des mit unumschränkter patriarchalischer Macht ausgestatteten Sippenoberhauptes (ür) standen und die sich meistens um eine primitive Befestigung, Erdburg, Schanze oder Graben gruppierten, führten ein selbständiges Leben. Wenn auch durch Heirat, durch ein gemeinsames Unternehmen oder durch einen feindlichen Angriff zeitweise so etwas wie eine freundschaftliche oder bündnisartige Beziehung zwischen den gleichsprachigen benachbarten Sippen zustande kam, so war sie doch nicht von langer Dauer. Wir finden auch keine Spur einer entwickelteren politischen Organisation, eines mehrere Geschlechter in einer politischen Gemeinschaft zusammenschließenden Stammes, eines Stammes Verbandes und von Machtbefugnissen eines Stammesoberhauptes oder Herrschers. Das höchste gesellschaftliche Gebilde ist die auf den Banden des Blutes beruhende Sippe. Es gibt auch keine Spur einer den Rahmen der Sippe überschreitenden militärischen Organisation, obwohl die Sippen untereinander das bei primitiven Völkern eine so große Rolle spielende Urrecht der Blutrache ausübten und sich sicherlich ebenso bekriegten wie ihre Verwandten, die Mordwinen, im 13. Jahrhundert. Unter dem Einfluß dieser Blutrachefehden der Sippen verwandelte sich das ursprünglich „Sippe" bedeutende Wort „had" in einen militärischen Fachausdruck. Ihre Wirtschaftsform war die Sammelwirtschaft, die in einem einfachen Verwerten der Naturprodukte bestand. Von einer Produktion kann kaum die Rede sein. Ihre Nahrung verschafften sie sich durch Fischfang, durch das Sammeln von wildem Honig, Eiern, wildem Obst und genießbaren Wurzeln. Ihr erstes Haustier war der Jagdhund. Das Renntier, später das Schaf, kannte man schon in der finno-ugrischen Urzeit, auch trank man deren Milch. Das Pferd lernten sie erst nach ihrer Trennung von den westlichen finnischen Völkern kennen. Die alten Volksgesänge der Ob-Ugrier erwähnen das Pferd als ein Götter tragendes, „flügelfüßiges, schönes Tier" und außerdem noch als Opfertier. Wenn sich auch ab und zu ein Sippenoberhaupt, sei es aus Luxus, sei es zu Opferzwecken, ein Pferd hielt, und obwohl sie zur gleichen Zeit durch Die aus der Zeit der Sprachgemeinschaft stammenden alten Kulturwörter und die aus den verschiedenen Sprachen übernommenen Lehnwörter geben wir (in Klammem) in Kursiv-Schrift. Bei den ausgestorbenen Wörtern oder bei Wörtern, die einen Bedeutungswandel durchgemacht haben, gebe ich auch die frühere Bedeutung an.

Prämagyaren

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ihre südlichen Nachbarn auch das Rind kennen lernten, so hatten sie doch noch keine systematische und intensive Viehzucht und keine ausgedehntere Hirtenwirtschaft. Noch weniger Spuren finden sich für den Ackerbau. Einige verschwommene Anzeichen, so der Name der Hirse und die in den Grabfunden von Ananjino vertretene Bronzesichel ist alles, was darauf hinweist, daß auch bei ihnen eine ähnliche primitive Pflanzenproduktion bekannt war wie bei den anderen Sammelvölkern der Urzeit, bei denen als Frauenarbeit eine Art Hackbau vorkommt. Von einem regelrechten Gewerbe oder Handel kann auf einer so niedrigen Stufe der Kultur gar keine Rede sein. Die zum täglichen Leben benötigten Waffen, Werkzeuge, Gefäße und Kleidungsstücke wurden durch Hausindustrie hergestellt. Jedenfalls waren sie in Holz- und Knochenarbeiten, im Schnitzen, Netzknüpfen, in der Lederverarbeitung, in der Töpferei und später auch in der Schmiedekunst bewandert. Metalle lernten sie durch fremde Kaufleute, durch die arischen (indo-iranischen) Nachbarvölker kennen, sie gebrauchten Metalle aber nur sehr vereinzelt. Ihre Geräte und Werkzeuge sind primitiv; ihre Pfeilspitzen, Messer, Pfriemen, Nadeln, Beile sind selten aus Bronze, meistens werden sie aus Knochen hergestellt, obwohl der Gebrauch von Steinwerkzeugen noch keineswegs aus der Mode gekommen ist. Als Verkehrsmittel war schon in der finno-ugrischen Urzeit der Schneeschuh bekannt und eine Art von primitivem, aus einem Baumstamm ausgehöhltem Boot. Das Wohnhaus war eine in die Erde eingelassene Hütte mit Holzgerüst und Erdbewurf. Das einzige Möbelstück war eine Lagerstätte aus Tierhäuten und Pflanzen. Die Kleidung bestand aus einem aus Tierhäuten verfertigten, mit Ärmeln versehenen, über die Hüften reichenden Gewand und aus Ledersandalen, die man mit aus Tiersehnen und Pflanzenfasern geflochtenen Fäden zusammennähte. Sie genossen ihre Nahrung, indem sie sie entweder roh verzehrten oder im Kochkessel, in kesselartigen Holz- oder Tongefäßen kochten oder auf dem Rost brieten, dazu tranken sie auch irgendein gegorenes Getränk. Die Kenntnis des Dezimalsystems, ebenso die Verwendung von Metallen wie die auf Kauf und Verkauf sich beziehenden finno-ugrischen Urwörter weisen auf das Vorhandensein irgendeines primitiven Tauschhandels hin. Auf ihre religiösen Vorstellungen können wir mit Ausnahme von einigen Wörtern von unklarer Bedeutung nur durch Analogie Schlüsse ziehen. Die Hauptelemente ihrer Religion waren primitiver Seelenglaube, Animismus und der Glaube an Zauberei. Sie glaubten an die an den Körper gebundene lebenspendende Seele und die befreite Schattenseele der Verstorbenen. Im Zusammenhang damit betrieben sie einen entwickelten Totenkult und es ist wahrscheinlich, daß auch bei ihnen die bei den verwandten Völkern nachweisbare totemistische Tierverehrung ausgeübt wurde. Sie glaubten an mit

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Ogur-türkische Kulturwörter

Zauberkraft ausgestattete gute und böse Geister und an menschliche Zauberkräfte. Aber sie glaubten auch an den Herrn des Himmels, der Natur oder der Lüfte, dessen Untertanen die Geister des Lichtes, der Wärme, des Regens, der Erde und des Wassers sind. Von ihrer geistigen Kultur haben wir sonst weiter keine Angaben. Es ist ohne Zweifel anzunehmen, daß auch sie ähnlich den Wogulen Volksmärchen und Lieder besaßen, aber von diesen sind alle Überreste gänzlich verloren gegangen. Alles was wir von der Kultur des Mägyi-Volkes, das im Ananjino-Zeitalter, also im 7.—2. Jahrhundert vor Chr. lebte, auf Grund der alten ungarischen Kulturwörter und der archäologischen Funde wissen, entspricht genau dem, was wir von seinen verwandten Völkern aus mittelalterlichen und neuzeitlichen historischen Quellen erfahren und bei den Wogulen und Ostjaken heute noch beobachten können. Es weicht aber gänzlich von jenem Bilde ab, das uns die glaubwürdigen und verläßlichen Quellen 1000 Jahre später von der politischen und militärischen Organisation, der Tierzucht und stellenweise auch von der schon mit dem Ackerbau vertrauten Kultur, der Lebensweise und von der Prachtentfaltung der Ungarn der Landnahmezeit geben. OGUR-TÜRKISCHE

KULTURWÖRTER

Jene Hypothese, die annimmt, daß der östliche Zweig der Finno-Ugrier noch zur Zeit der ostjakisch-wogulisch-magyarischen Sprachgemeinschaft eine ungeheure kulturelle Entwicklung durchgemacht habe, die Ostjaken und Wogulen aber einen erstaunlichen kulturellen Rückgang erlitten hätten, und das unorganisierte, von der Sammelwirtschaft lebende Urvolk der Mägyi sich in ein tierzüchtendes, kriegerisches Reitervolk verwandelt hätte, ist unhaltbar. Die Geschichte kennt keine solchen Sprünge. Die primitive Kultur des Mägyi-Volkes konnte nur unter dem nachhaltigen und intensiven Einfluß einer auf höherem Niveau stehenden fremden Kultur eine so großzügige und in jeder Hinsicht bedeutsame Entwicklung durchmachen. Auf die Quelle dieses kulturformenden fremden Einflusses weisen die Lehnwörter der magyarischen Sprache hin, die altaischen, nämlich türkischen Ursprunges sind und die sich schon Jahrhunderte vor der Landnahme in der Grundschicht der magyarischen Sprache abgelagert haben. Die Grundbegriffe der Familien- und Sippenverhältnisse waren schon in finno-ugrischer Zeit bekannt. In dieser Begriffsgruppe finden wir auch kaum Worte türkischen Ursprungs. Das Entstehen einer großen Anzahl von neuen Wörtern beweist demgegenüber die immer stärkere Entwicklung der gesellschaftlichen, politischen und militärischen Organisation, das beweisen unter anderem die Wörter: gyüles = Versammlung, sereg = Heerhaufen, hadosztäly = Truppenabteilung, beke = Friede, törveny = Gesetz, bako = Henker, bilincs = Fessel, vagyon = Vermögen, ber = Pacht, Zins.

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Am auffallendsten ist die schnelle Vermehrung der Wörter, die das Wirtschaftsleben betreffen. Neben der Bereicherung an jenen Begriffen, die sich auf die Sammelwirtschaft beziehen, entfaltet sich nun der ganze Begriffskreis der Tierzucht und Landwirtschaft und bereichert die auf diesem Gebiete bettelarme Sprache durch wichtige, neue Kulturelemente. Neue, vollkommenere Instrumente für den Fischfang tauchen jetzt auf und neue Fischarten. Neben dem schon länger bekannten Haushund treten jetzt auch die den berittenen Jäger begleitenden Jagdhunde, der Spürhund und Windhund, auf. Die Vögel werden jetzt nicht nur mit Pfeilen erlegt, sondern auch lebend in der Schlinge gefangen, der Falke wird sogar nach dem Vorbilde türkischer Völker für die Jagd auf andere Vögel abgerichtet. Die auf die Tierzucht sich beziehenden Wörter umfassen fast den ganzen Begriffskreis der in der Mägyi-Zeit unbekannten systematischen Hirtenwirtschaft. Pferd, Schaf und Rind werden sogar nach Alter und Geschlecht unterschieden. Auch neue Haustiere werden gehalten, so das Schwein, die Ziege, das Kamel, das Huhn. Das Schwein wird richtig gemästet, das Schaf geschoren und seine Wolle verarbeitet. Den Tieren wird gesondert von den menschlichen Behausungen ein Obdach errichtet, der Stall, und die aus der Hürde karäm = Pferch hierher getriebenen Rinder, Pferde, Ziegen, Schafe werden gemolken und ihre Milch verarbeitet, Rind und Pferd werden eingespannt. Zahlreiche neue Ausdrücke beweisen die Kenntnis des Ackerbaus und den ständigen Genuß seiner Erträge. Neben der ärmlichen Hirse tauchen edlere Getreidearten auf, so der Weizen und die Gerste, die systematisch angebaut und zu Mehl verarbeitet werden. Neben dem Getreide kultiviert man auch andere Nutzpflanzen, den Flachs, die Brennessel, den Hopfen, den Pfeffer, Erbsen, den Meerrettich; von den Obstarten den Apfel, die Birne, ja sogar schon die Traube, aus der man Wein keltert. Mit der Entwicklung der Wirtschaftskultur steigern sich auch die Ansprüche, die an Luxus und Bequemlichkeit gestellt werden. Man macht schon Unterschiede zwischen der an einen Ort gebundenen ständigen Wohnung, dem Haus, und dem bei den Wanderungen während des Sommers benutzten tragbaren Zelt. Die Wohnungen stattet man mit Möbelstücken aus, man kennt die Bank, die Wiege, und hat Kerzenbeleuchtung. Man gräbt Brunnen. Die Küche erhält neue Ausrüstungsgegenstände: den Trog, den Bottich, die Kanne. Die Kleidung wird schmucker. Außer Leder verarbeitet man auch schon pflanzliche Stoffe zu Kleidungsstücken, man trägt Pelzjacke, Mantel, Mütze und Sandalen; man legt Schmucksachen an und benützt schon den Spiegel. Mit dem Wachsen der täglichen Ansprüche entstehen neue Handwerkszweige, so die Tischlerei und Kürschnerei, und neue Werkzeuge: die Schaftlochaxt, das Schnappmesser, die Spitzhacke.

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Auf die Entwicklung der geistigen Kultur weist die Bereicherung des Wortschatzes durch abstrakte Begriffe hin, so die Bezeichnung für Zahl, Zeit, Mittag, Alter, ewig, Wind, Wort, Verdienst, klug, sündig, Kraft, Nachricht, Verzeihung, außerdem ist jetzt die Schrift bekannt. Auch hat sich der Begriffskreis der Religion erweitert: a bölcs = der Zauberer, egy, id = heilig, egyhäz (Kirche), idnap = Festtag, bü = Zauber, bübäj = Verzauberung, büvöl, bäjol, igez = bezaubern, verhexen, Hexe, Mahl, Trauer, Sarg. An Hand der türkischen Lehnwörter aus der Zeit vor der Landnahme können wir, verglichen mit der Kulturstufe der Mägyi-Epoche, eine recht hoch entwickelte Kultur feststellen. Das Bild, das sich ergibt, entspricht schon in allem jenem, das die Schriftsteller jener Zeit von den in einer Stammesgemeinschaft lebenden, Tierzucht, ja zum Teil auch schon Ackerbau treibenden berittenen und kriegerischen Ungarn der Landnahmezeit geben, und dessen Spuren auch in den späteren Institutionen und Gebräuchen zu erkennen sind. Auf Grund der Sprachbeweise ist einwandfrei bewiesen, daß die primitive Kultur des zur finno-ugrischenVölkerfamilie gehörenden Mägyi-Volkes sich unter türkischem Einfluß gewandelt hat, und dank der Lauteigentümlichkeiten der Lehnwörter können wir auch das kulturvermittelnde türkische Volk feststellen. Die überwiegende Mehrheit der zur altaischen Völkerfamilie gehörenden türkisch-tatarischen Völker — die Hunnen, Awaren, das zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert lebende Volk der Türken, von dem die ganze Völkerfamilie den Namen erhalten hat, die Chasaren, Uiguren, Petschenegen (Uzen, Kumanen), Seldschuken, Osmanen, Kirgisen, Turkmenen usw. — spricht die sogenannte gemeintürkische oder oguzische Sprache. Dagegen sprachen die ogur-türkischen Völker, die zwischen dem 5.—9. Jahrhundert lebenden ogurischen oder bulgarischen Völker und die von den WolgaBulgaren abstammenden heutigen Tschuwaschen, die westtürkische oder ogurische (bulgarische) Sprache, deren spezielle Lauteigentümlichkeiten — nach dem Zeugnis der übereinstimmenden Wörter der mit der urtürkischen Sprache in Berührung gekommenen mongolischen Sprache — ein archaistisches Gepräge tragen. Dieselben Lauteigentümlichkeiten charakterisieren auch die alten türkischen Lehnwörter der ungarischen Sprache. Diese ogurischen (oder bulgarischen) Lautformen der türkischen Lehnwörter aus der Zeit vor der Landnahme liefern uns den einwandfreien Beweis, daß die urtürkischen Elemente der ungarischen Sprache aus dem westlichen, ogurischen Sprachzweig der türkischtatarischen Völkerfamilie in die Sprache der Prämagyaren übergegangen sind. Diese Lehnwörter sind allerdings nicht auf einmal und nicht zu einer Zeit in die ungarische Sprache übernommen worden. In der großen Gruppe jener Wörter der ungarischen Sprache, die ogurischen Ursprungs sind, kann man

Das Hunnenreich in Asien

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vom Gesichtspunkt der Lautlehre zwei Schichten unterscheiden, die zwei verschiedene, zeitlich stark getrennte Stufen der Sprachentwicklung widerspiegeln und demnach zu verschiedenen Zeiten in die ungarische Sprache gelangt sein müssen. Die Lautformen jüngeren Ursprungs kommen im 5.—6. Jahrhundert nach Christi in die ungarische Sprache; auf Grund der Pflanzen- und Tiergeographie müssen wir die Gegend, in der sich diese Übernahme vollzog, in dem Gebiet zwischen Kaukasus und Don suchen, wo die Ungarn in der Nachbarschaft der Oguren (Bulgaren) lebten. Die ältere Schicht ist jedoch noch im Norden, in der Ural-Gegend, in die Sprache der Prämagyaren eingedrungen, die dort in unmittelbarer Nachbarschaft der Ogur-Türken saßen. Die Schichtung des türkischen Wortschatzes unserer Sprache aus der Zeit vor der Landnahme zeigt, daß die ungarische Sprache schon Jahrhunderte, bevor sie im Kaukasusgebiet unter bulgarischen Einfluß kam, unter einem anderen, früh-ogurischen Kultureinfluß gestanden haben muß. Das bezeugt auch die Kultur der Mägyi-Völker. In ihrem primitiven Urzustand konnten sie keinesfalls das Steppengebiet zwischen Ural und Kaukasus durchquert haben. Die an Wild, an Wäldern und Holz arme Ebene mit ihren kriegerischen sarmatischen, germanischen und türkischen Bewohnern bedrohte mit tausend Gefahren das an das Dickicht der Wälder, an den Schutz des Gebirges, der Bäume und Sümpfe gewöhnte Fischer-Jägervolk. Die Geschichte der ihnen verwandten Völker und ihre Jahrhunderte währende, langsame Zerstreuung beweisen, daß ihre Unorganisiertheit und ihre Lebensweise einen raschen Ortswechsel nicht zuließen, noch ihnen die Überwindung großer Weiten und schwerer Naturhindernisse gestatteten oder sie gar zu ernsten militärischen Kraftanstrengungen befähigten. Wenn sie auf fremden Druck hin gezwungen waren, ihre alten Wohnplätze zu verlassen, wie die vor den Germanen und Russen weichenden Finnen, Ostjaken und Wogulen es taten, dann zogen sie sich lieber in die nördlichen kalten und unfruchtbaren Gebiete zurück, als daß sie in der fremden und furchterregenden Steppe Gott versuchten.

DAS H U N N E N R E I C H IN ASIEN

Den Ort der durch den ersten Einfluß der ogurischen Sprache bestimmten Kulturumwandlung müssen wir nördlich im Uralgebiet suchen, und um die Quellen dieses Einflusses zu erforschen, müssen wir die damaligen Nachbarvölker des Mägyivolkes einer Betrachtung unterziehen. Die Siedlungsplätze des am Ostabhang des Uralgebirges und an den Nebenflüssen des Tobol wohnenden Volkes waren im Westen begrenzt vom Uralgebirge, und hier waren die zurückgelassenen Wogulen und Ostjaken ihre nächsten Nachbarn, im Norden jedoch waren es die Vorfahren der

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Das Hunnenreich in Asien

Samojeden. Im Süden und Südosten kamen sie mit ogurischen Völkern in Berührung. Das altaische oder türkisch-tatarische Urvolk muß — nach dem Zeugnis der Urelemente der altaischen Sprachen — sich einst in Urzeiten von der mit dem uralischen Urvolk gemeinsamen Wurzel getrennt haben und ist vielleicht aus dem Uralgebiet in die Gegend des Altai-Gebirges gezogen und so in die Nachbarschaft der ostasiatischen (mongolischen) Völker gelangt. Seine blutsmäßige wie sprachliche Verwandtschaft mit den Mongolen ist jedenfalls sehr alt und weist auf eine mehrere Jahrtausende währende intensive Berührung und auf eine feste Lebens- und Sprachgemeinschaft hin, in der die ursprünglich uralischen Turkvölker mongolische Rassenmerkmale annahmen. Diese Jahrhunderte, ja selbst Jahrtausende währende urtürkisch-mongolische Sprachund Lebensgemeinschaft hatte allerdings schon im zweiten Jahrtausend vor Christo aufgehört. Tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung haben Zweige der Mandschu, der Mongolen, der Ost- oder Gemeintürken (Hunnen, Oguzen oder Turkvölker) und der westlichen Türken (der Oguren oder Bulgaren) voneinander getrennt die mächtigen Gebiete nördlich und nordwestlich vom chinesischen Reich, die sich zwischen der Halbinsel Korea und dem Ural erstrecken, bevölkert. Unter ihnen waren es die Oguren, die am Anfang unserer Zeitrechnung in Westsibirien lebten. Die Kultur der steppenbewohnenden altaischen Völker stand auf einer viel höheren Stufe als die der waldbewohnenden Finno-Ugrier. Schon Jahrhunderte vor Christi Geburt hatten sie sich ihre eigenen politischen und militärischen Organisationen geschaffen und unter Aufrechterhaltung des Sippenverbandes sich zu Stämmen und Stammes verbänden zusammengetan. An ihrer Spitze stand meistens schon ein gewählter Heerführer oder ein erblicher Herrscher. Der mächtigste Zweig dieser Völkerfamilie, der in den zeitgenössischen chinesischen Annalen unter dem Namen Hiung-Nu verzeichnet ist, hat in dem Jahrtausend vor Christi Geburt mit seinen Kriegszügen und Plünderungen das chinesische Kaiserreich sehr beunruhigt. Ihr hervorragender Herrscher, Motun tanhu, „der Sohn des Himmels", der im Jahre 209 v. Chr. den Thron bestieg, unterjochte alle verwandten Stämme und Völker und hat — wie später Attila und Turnen, der türkische Kagan, oder Dschingiskhan — die zwischen der Halbinsel Korea und dem Uralgebirge lebenden mongolischen und türkischtatarischen Völker in einem großen Reiche vereint. Das Nomadenreich der Hunnen hat von nun ab fast zwei Jahrhunderte hindurch den Kaisern von China schwere Sorgen verursacht. Den hundertfachen Feindseligkeiten und den dauernden diplomatischen Beziehungen ist es zu verdanken, daß die chinesischen Geschichtsschreiber und Staatsmänner der Geschichte der Hunnen reges Interesse entgegenbrachten und, geleitet von politischen Gesichtspunkten, sich eingehend mit den inneren Angelegenheiten des Hunnenreiches

Die ogurischen Völker

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beschäftigt haben. Auf Grund ihrer Berichte können wir uns ein Bild von der staatlichen und militärischen Organisation der Hunnen sowie von ihrer wirtschaftlichen und geistigen Kultur machen. DIE OGURISCHEN

VÖLKER

Aus zeitgenössischen chinesischen Annalen wissen wir auch, daß von den Völkern des Hunnenreiches die im Jahre 177 v. Chr. dem Hunnenkönig sich unterwerfenden ogurischen (ö-k'-ut) Völker zu Beginn unserer Zeitrechnung im Westen von Asien, in dem Gebiet zwischen dem Balkasch-See, der Dschungarei, dem Tarbagatai- und Altai-Gebirge gewohnt haben. Ihre Siedlungsplätze befanden sich am Oberlauf der Flüsse Irtysch und Ischim, in der Gegend, in der sich heute die Städte Semipalatinsk und Akmolinsk befinden, und erstreckten sich nach dem Nordwesten hin über das fruchtbare Gebiet des Irtysch und Ischim bis zum Tobolfluß und den Ausläufern des Uralgebirges. Die wirtschaftliche Kultur der ogurischen Völker war entwickelter als die ihrer östlichen Verwandten. Während diese hauptsächlich viehzüchtende Hirten waren, waren die Onoguren schon im 5.—6. Jahrhundert, die Wolgabulgaren aber und die von bulgarischen Elementen stark durchsetzten Völker des Chasarenreiches im 8.—9. Jahrhundert durch ihren Pelz- und Lederhandel weithin bekannt. Im 9.—13. Jahrhundert durchquerten die wolgabulgarischen Händler mit ihren Waren ganz Ost- und Mitteleuropa. Die hohe Stufe ihrer Ackerbaukultur beweisen die aus der Zeit vor der Landnahme in die ungarische Sprache eingedrungenen ogurischen Kulturwörter und die Angaben der Chronisten aus dem 8.—9. Jahrhundert. Schon die fruchtbaren Flußtäler Westsibiriens haben sie auf den Ackerbau hingewiesen. Diese friedlichen Beschäftigungen konnten sie jedoch nicht ihrer kriegerischen Gewohnheiten entwöhnen. Welch hohe Stufe die militärische Organisation der Oguren erreicht hatte, beweist vor allem die Tatsache, daß ihre Herrscher zur Zeit der Unruhen, die um die Mitte des ersten Jahrhunderts vor Christi ausbrachen, sich stark genug gefühlt haben, den Titel des „Tanhu", der dem Hauptkönig der Hunnen zukam, für sich in Anspruch zu nehmen. Die Zahl ihrer Reiter ist nach einer chinesischenSchätzung wenigstens auf 20000 anzusetzen. Das aus der Tobolgegend stammende, zum ogurischen Volke gehörende, „Eichhörnchenfell" tragende Volk (ting-ling) ist schon im 2.Jahrhundert v.Chr. durch seinen Pelzhandel berühmt. Sie handelten mit Polarfüchsen — in ihrer eigenen Sprache kursu oder kursi genannt — und mit Zobelfellen, und nach chinesischen Aufzeichnungen konnte dieses Volk im 3. Jahrhundert nach Christi im Kriegsfalle 60000 Reiter aufbringen. Diese Zahl wirft, selbst wenn sie übertrieben ist, ein bezeichnendes Licht auf die Ausmaße ihrer pferdezüchtenden Weidewirtschaft.

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Onoguren-Magyaren ONOGUREN-MAGYAREN

Die ältesten türkischen Lehnwörter der magyarischen Sprache spiegeln die schon am Anfang unserer Zeitrechnung in voller Blüte stehende Kultur der Oguren, des westlichen Zweiges der asiatischen Türken, wider. Nachdem wir die geographische Lage der westsibirischen Oguren, ihre wirtschaftliche Kultur und ihre Pelzjägerei, die auf eine gute Kenntnis der Waldgebiete schließen läßt, kennen, kann darüber kaum ein Zweifel bestehen, daß sie es waren, die ihre Nachbarn beeinflußt und deren Kultur geformt haben. Jene tiefgehende Kulturumwandlung, die das Mägyi-Volk erlebt haben mußte, wie das die ogurischen Worte unserer Sprache beweisen, kann durch die einfache Tatsache der Nachbarschaft nicht erklärt werden. Die Vermittlung einiger Kulturwörter und der dazu gehörenden Begriffe kann auf dem bloßen Wege der Nachbarschaft, einer flüchtigen Berührung geschehen, aber die Übernahme ganzer Kulturzweige, so von Begriffskreisen, die Tierzucht und Ackerbau erschöpfend umfassen, kann nur durch ein längeres Zusammenleben erklärt werden. Wir dürfen nicht vergessen, daß keines der finno-ugrischen Völker, obwohl sie Jahrhunderte hindurch in der Nachbarschaft iranischer, türkischer, germanischer, slavischer Hirten- und Ackerbau-Völker gelebt haben, eine solche Kulturumwandlung durchgemacht hat, ausgenommen die Finnen und Esten, die sich mit den Germanen vermengt haben. Die Kulturwörter der Mägyi-Sprache, die mit ogurischen Kulturelementen gesättigt ist, lassen auf ein langwährendes, intensives Zusammenleben und eine starke Vermischung schließen. Auf eine Rassenmischung weisen auch die Resultate der anthropometrischen Untersuchungen hin, die an magyarischen Knochenfunden aus der Zeit der Landnahme durchgeführt wurden, ferner der an Individuen und Gruppen des heutigen Magyarentums gleichermaßen erkennbare Dualismus der mongolischen (t.) und ostbaltischen (f.-u.) Eigentümlichkeiten, der türkische Charakter der Kultur des landnehmenden Magyarentums, seiner Kriegsorganisation und seiner Lebensweise, die vielen türkischen Personennamen sowie die Aufzeichnungen der arabischen und byzantinischen Schriftsteller des 9. Jahrhunderts, die die Ungarn zur türkischen Rasse rechnen und sie unter dem Namen „Türken" erwähnen. Für den Sprachwechsel größerer Volksschichten finden wir zahlreiche Analogien in der Geschichte der übrigen türkischen Völker. Das Beispiel der in China sich assimilierenden Mongolen, Mandschus und Türken, die Slavisierung der über die Slaven herrschenden Bulgaren, die schnelle Magyarisierung der in einer geschlossenen Einheit angesiedelten Kumanen, das völlige Aufgehen der Awaren, Uzen und Petschenegen in fremden Völkern und die bei den türkischen Völkern beliebte Zweisprachigkeit — auch die Magyaren haben im 10. Jahrhundert zwei Sprachen gesprochen — weisen auf eine auch bei den

Onoguren-Magyaren

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erobernden germanischen Völkern häufig vorkommende Neigung zum Sprachwechsel hin. Es ist ganz offensichtlich, daß der eine Stammeszweig der Oguren im Laufe desl.—4. Jahrhunderts auf einer seiner Pelzjagden in das benachbarte Waldgebiet eindrang und das Mägyi-Volk in der Tobol-Gegend unterwarf. Am Anfang dieser Berührungen haben die ogurischen Jäger während der Jagdzeit, weit von ihren Familien und ihren in der freien Ebene mit Hirtenwirtschaft beschäftigten Stämmen herumstreifend, oft jahrelang auf Jagdplätzen in den fernen Wäldern gewohnt, von ihren Rassenverwandten getrennt, zusammen mit ihren fremdsprachigen Knechten gelebt und nicht selten deren Frauen geheiratet. Später kamen finno-ugrische Knechte in die entfernten ogurischen Siedlungen, andrerseits drangen auch Oguren in größeren Massen in die Waldgebiete ein. Zwischen den beiden Völkern entwickelte sich ein dauerhaftes Zusammenleben und die ogurischen Herren lernten von ihren für die Spracherlernung weniger empfänglichen Frauen und von ihren Knechten deren Sprache, während diese von ihren Herren neue, entwickeltere Begriffe kennen lernten und für deren Bezeichnung die von ihren Herren gehörten ogurischen Wörter gebrauchten. Die ogurischen Eroberer haben das Volk mit dem aus der Zeit der wogulisch-ostjakisch-prämagyarischen Gemeinschaft stammenden mänsi- oder mägyi-Volksnamen ( = mogy- > magy-) durch Hinzufügen des türkischen eri ( = embir-Mensch) mit dem nun so entstandenen ogurischen Worte mägyi-eri ( > mogy-eri > mogyeri > magyeri) benannt. Später, als als Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung die durch ogurische Lehnwörter bereicherte magyarische Sprache entstanden war, und die magyarische Urkultur, die zweifellos türkischen Charakters war, und die magyarische Volksindividualität sich herausgebildet hatte, die die beiden Urcharakterzüge und -Fähigkeiten in sich vereinigte, da verschmolz das „Magyeri-Wort" zusammen mit den übrigen ogurischen Lehnwörtern mit der magyarischen Sprache und wurde nach Beendigung der Völkervermischung, zum Namen des einen Stammes und bald zum Namen des ganzen Volkes. Während dieser Völkername die Erinnerung an die Vermischung des MägyiVolkes mit den Ogur-Türken aufrechterhält, bewahrt der andere Name, den die Magyaren selbst Jahrhunderte hindurch gebrauchten, mit dem sie auch heute noch in den fremden Sprachen benannt werden und der mit dem Namen „Magyar" völlig gleichbedeutend ist, der Name onogur > ongur > ungur > ungr > ungar > Hungr > Hungar, das Andenken an die ogur-türkischen Ahnen des magyarischen Volkes. Die an den östlichen Abhängen des Uralgebirges und an den Ufern des Tobol und seiner Nebenflüsse wohnenden Nachbarn des Mägyi-Volkes waren bis zum 3. Jahrhundert nach Christi, wie dies auch aus den chinesischen Annalen hervorgeht, die Oguren. Zwei Jahrhunderte später taucht südlich

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Onoguren-Magyaren

von der Heimat der Prämagyaren des Ananjino-Zeitalters das Pelzjäger- und Pelzhändler-Volk der Onoguren auf. Die Onoguren zogen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nach Süden und ließen sich in der Gegend des Kaukasus und des Schwarzen Meeres nieder, und die mit ogurischen Elementen gesättigte Sprache des Mägyi-Volkes und sein an die Vermischung der beiden Völker erinnernder magyarischer Stammes- und Volks-Name löste sich am Ende des 9. Jahrhunderts aus dem onogurischen Stammesverband und wurde uns durch den nach Westen ziehenden Stammesverband der Magyaren bis in unsere Zeit überliefert. Die Onoguren wurden vier Jahrhunderte hindurch von fremden Schriftstellern unter verschiedenen politischen, geographischen und ethnischen Sammelnamen angeführt. Aber neben diesen Sammelnamen, Hunnen, Kimmerier, Oguren, Bulgaren, Uturguren, Turk-Chasaren, ist während des 5. bis 7. Jahrhunderts ihr alter, nur ihnen zukommender Volksname — Onoguren (Hunugur, Unuogundur, Hungur, Hungar-ijje) — immer wieder aufgetaucht und auch weiterhin immer gebräuchlich geblieben. Der Geograph von Ravenna im 8. Jahrhundert nennt jenes Gebiet des Kaukasusgebirges, der Flüsse Kuban, Don und des Asowschen Meeres Onogurien. Als dieses Gebiet im Jahre 680 zusammen mit seinen Einwohnern unter chasarische Herrschaft gelangt, verschwindet der onogurische Volksname für anderthalb Jahrhunderte, denn die Völker, die in die chasarische oder türkische Staatsorganisation Aufnahme gefunden hatten, wurden von den Fremden nicht mehr als eine besondere Volksindividualität erkannt. Der syrische Patriarch Michael sagt das ganz klar : „Die in Nachbarschaft der Alanen wohnenden Bulgaren und Uguren" — d. h. Onoguren — „werden, nachdem sie unter fremde Herrschaft gekommen sind, Chasaren genannt". Jedoch in der Mitte des 9. Jahrhunderts nach dem Verfall der chasarischen Macht kommt von neuem der alte Name der Onoguren in Gebrauch in der aus Ongur > Ungur regelrecht entwickelten Form ungr- > ungar zur Bezeichnung des Volkes am Pontus, das in der byzantinischen Literatur noch unter dem Namen „türk", bei den zeitgenössischen Arabern jedoch schon mit dem Namen „magyar" erwähnt wird. Diese Ungren oder Magyaren sind also die direkten Nachkommen jener Onoguren, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung mit Elementen des mägyi-Volkes vermischt in dem Gebiete am Tobolflusse lebten, im 5. Jahrhundert nach Süden zogen, am Ende des 7. Jahrhunderts unter chasarische Herrschaft gelangten und in ihrer pontischen Heimat neue türkische — sabirische, türkchasarische, bulgarische — Elemente in sich aufnahmen 1 ).

') Aus all dem geht auch klar hervor, daß die Bedeutungen der beiden Bezeichnungen „magyar" und „ungar" sich vollkommen decken und die in der deutschen Literatur neuerdings gebräuchliche Unterscheidung durchaus falsch ist.

Die Völkerwanderung / Die Ausbreitung Roms und Chinas

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Die Geburtsstätte des historischen ungarischen Volkes ist also das Grenzgebiet der westsibirischen Waldzone und der eurasischen Steppe. Hier haben sich ähnlich den westeuropäischen Völkervermischungen, die die aus lateinischen und germanischen Abzweigungen des arischen Stammes entsprossenen Völker zusammenfaßten, zwei Glieder der ural-altaischen Völkerfamilie, die von dem östlichen Zweig der Finno-Ugrier und dem westlichen der Türkengruppe abgespaltenen Mägyerier und Onoguren, zu einer neuen, dauerhaften Blutsgemeinschaft verbunden. Vielleicht können wir die eine Ursache für die Lebensfähigkeit des ungarischen Volkes in dieser in Urzeiten vollzogenen Blutsmischung, in der Vereinigung zweier Völker von verschiedenem Temperament und Charakter, die sich einander glücklich ergänzen, suchen. Vielleicht ist es dieser Vermischung zu verdanken, daß das ungarische Volk — im Gegensatz zu seinen finno-ugrischen Verwandten — schon frühzeitig eine Kation bildete, einen Staat begründete und eine hohe Kulturstufe erreichte, und daß es — im Gegensatz zu seinen türkischen Verwandten — die einmal geschaffenen Organisationen und Einrichtungen den Verhältnissen behutsam anzupassen und zu festigen vermochte und daß das ungarische Volk diese Errungenschaften, indem es alle Schicksalsschläge erfolgreich überwand, ein Jahrtausend hindurch aufrechterhalten konnte.

ZWEITES DIE

KAPITEL

VÖLKERWANDERUNG

Als die Urahnen des ungarischen Volkes noch in den Urwäldern des Ural und in den fruchtbaren Gefilden Westsibiriens ihrer eintönigen Lebensweise nachgingen, setzten sich an den Ost- und Westgrenzen des Eurasischen Kontinents schon jene ersten Wellen des Völkerwanderungstromes in Bewegung, der alte Welten zerbrach und neue errichtete. DIE AUSBREITUNG

ROMS

UND

CHINAS

Um die Mitte des 1. Jahrhunderts vor Chr. erreichte an den Gestaden des Mittelmeeres jener tausendjährige Kampf sein Ende, den die drei mächtigen Zweige des Menschengeschlechts, die Söhne Sems, Hams und Japhets, um den Besitz der Handelswege ausfochten, die in die Vorratskammern der mediterranen Welt, nach Mesopotamien, in das Niltal und nach Indien führen. — Gleichzeitig fiel die Entscheidung über die Hegemonie in einem Gebiete, in dem sich drei Weltteile trafen. Auf den Trümmern der assyrisch-babylonischen, ägyptischen, iranischen und hellenistischen Reiche, deren Kulturen und Über2

H 6 m a n , G e s c h i c h t e des u n g .

Mittelalters

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Die Ausbreitung Roms und Chinas

lieferungen es sich aneignet und deren verschiedenrassige Völker es in eine große politische Einheit fügte, näherte sich das nach Weltherrschaft strebende Rom seinem letzten Triumphe. Im fernen Osten, in Innerasien, in dem mächtigen Gebiet, das sich vom Stillen Ozean bis zum Hoang-ho und dem TarimBecken hinzieht, breitet sich zur selben Zeit das chinesische Reich, das einer neuen Blütezeit entgegengeht, mit bewußter Planmäßigkeit nach Norden und Westen aus. Auf dem nördlichen Teile des Kontinents — jenseits der römischen und chinesischen Schutzlinie — lebten schon seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden von ihren indoeuropäischen, uralischen und altaischen Völkerfamilien abgetrennte und von ihrer Urheimat mehr oder weniger entfernte Völkergruppen. Unter diesen nördlichen Völkern entstand in den Jahrhunderten unmittelbar vor Christi Geburt infolge einer Veränderung der Naturverhältnisse, der starken Volksvermehrung, der Verkleinerung der Wirtschafts- und Lebensmöglichkeiten, oder aber wegen des natürlichen Dranges nach dem Süden, wahrscheinlich aber aus dem Zusammenwirken aller dieser Faktoren eine innere Bewegung, die dann ständig anhielt. Ein Volk nach dem anderen brach auf und begab sich auf die Suche nach neuen Wohnplätzen. Die im Innern des asiatischen Kontinents wohnenden Völker und Rassen kamen durch langsames Vordrängen, ihre Nachbarn vor sich her treibend, mit ihnen vermengt oder zwischen sie eingekeilt, in ihre neue Heimat. Die an den östlichen und westlichen Grenzen des Kontinents, an den Ufern der Ozeane wohnenden Rassen jedoch konnten sich, von ihren Nachbarn gleichsam an die Wand gedrückt, viel schwerer neue Gebiete erobern. Der natürliche Weg der Ausbreitung führte nach Süden, und schon am Anfang des 1. Jahrhunderts vor Christi Geburt haben die Grenzverletzungen und die Plünderangszüge der nördlichen Barbaren Rom, das sich dem Gipfelpunkte seiner Macht näherte, große Sorgen verursacht. Unter ähnlichen Umständen kamen im fernen Osten die Hunnen mit den nördlichen Provinzen des chinesischen Reiches in Berührung. Die Gefahr war hier wegen des hohen Standes der politischen und militärischen Organisationen der Angreifer noch größer und nahm mit dem A u f b a u des ersten Hunnenreiches im 3. Jahrhundert vor Chr. katastrophale Ausmaße an. Die militärischen Kräfte des chinesischen Reiches waren den mit großer Stärke und Begeisterung vordringenden Barbaren nicht gewachsen und konnten sie nicht aufhalten. Ein neues Verteidigungssystem war notwendig und das wurde von Kaiser Schi-Hoang-Ti (259—210 v. Chr.), der das Reich neu organisierte, verwirklicht. Er ließ den an der Nordgrenze sich entlangziehenden künstlichen Schutzwall, die berühmte chinesische Mauer, errichten, aber trotzdem konnten die Kaiser Jahrzehnte hindurch nur durch schlaue Diplomatie und durch jährliche, „Unterstützungsgelder" ge-

Die Ausbreitung Roms und Chinas

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nannte Steuern den auch in das Reichsgebiet eindringenden gefährlichen Nachbarn im Zaume halten. Um die Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. wandte sich das Glück. Die beiden südlichen Reiche gingen fast gleichzeitig mit gewaltiger Kraft gegen die Angreifer vor. Julius Cäsar, der größte Feldherr des nach Weltherrschaft strebenden Rom, beendete 52 v. Chr. die Eroberung Galliens und setzte seinen Fuß auch über den Kanal nach Britannien. Die römische Großmacht legte sich schwer auf die einer dauernden Kraftanstrengung nicht gewachsenen Kelten und schob seine Vorposten bis zu den südwestlichen Grenzen des Siedlungsgebiets der unabhängigen germanischen Stämme vor, um in den nächsten vier Jahrzehnten endgültig alle von den Kelten bewohnten Gebiete bis zur RheinDonau-Linie, ja sogar die südwestlichen Gebiete Germaniens in Besitz zu nehmen. Seit dieser Zeit steht Rom an der Rhein-Donau-Schutzlinie den ihm bei der Verteidigung ihrer Grenzen und ihres Lebens wagemutig entgegentretenden lebensstarken, jungen germanischen Völkern feindlich gegenüber. Kaum ein Jahrhundert später erleiden die am unteren Lauf der Donau in dem Gebiete zwischen der Theiß und den Ost-Karpathen lebenden thrakogetischen Völker dasselbe Schicksal wie die Kelten. Die Grenzen des auf dem Höhepunkte seiner Macht stehenden Reiches erstrecken sich bis an die Wohngebiete der in dem Donau-Theiß-Winkel und den Ebenen Südrußlands zeltenden gefürchteten sarmatisch-skythischen Stämme und der mit ihnen kulturverwandten Parther aus dem Tigris-Euphrat-Gebiet. Die jenseits der Grenzen der römischen Kolonien lebenden Germanen, Sarmaten und Parther versuchten Jahr für Jahr, die römische Front zu durchbrechen. Ihre Angriffe prallten jedoch um die Wende des 1. und 2. Jahrhunderts nach Chr. an der planmäßig ausgebauten römischen Mauer (limes) und an der ehernen Wand der grenzbeschützenden Legionen ab. In der gleichen Zeit, in der sich das römische Weltreich so schnell ausbreitete, ereignete sich derselbe Vorgang in den südöstlichen Gebieten des eurasischen Kontinentes. Das in den letzten zwei Jahrhunderten von seinen barbarischen Nachbarn viel heimgesuchte chinesische Reich ging einer neuen Blütezeit entgegen und begann mit bewußter Planmäßigkeit seine Grenzen nach Norden und Westen hinauszuschieben. Zur gleichen Zeit, in der Cäsar seine Feldzüge in Gallien unternahm, hat das chinesische Reich einen entscheidenden Sieg über die Hunnen erfochten, von denen es fortwährend beunruhigt und gedemütigt worden war. Im Jahre 54 v. Chr. brach das Nomadenreich der Hunnen, das die Völker zwischen dem Gelben Meer und dem Ural-Gebirge umfaßte, unter den chinesischen Waffen und den Kampfmitteln der schlauen kaiserlichen Diplomatie zusammen. Der König der Osthunnen leistete dem Kaiser den Treueid und die nördlich und nordwestlich vom Hoang-ho leben2«

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Die Anfänge der großen Völkerwanderung

den hunnischen Völker gelangten unter chinesische Oberhoheit. Der König der Westhunnen widersetzte sich zwar, aber er konnte der durch die Truppen seines Brudervolkes vergrößerten chinesischen Heeresmacht keinen Widerstand leisten; deshalb wich er dem mächtigen Nachbarn aus. Aber 20 Jahre später stürzte auch das westasiatische Hunnenreich, das sich von dem Quellgebiet des Ob bis zum Aral-See und Uralgebirge erstreckte, unter den Angriffen der Vasallen und Verbündeten des chinesischen Kaiserreiches, dessen Macht bis zu den südöstlichen Abhängen der das sibirische Steppengebiet begrenzenden Gebirge reichte, zusammen. Anderthalb Jahrhunderte später — als im Westen das römische Kaiserreich den Gipfelpunkt seiner Macht erreicht hatte — begann das chinesische Kaiserreich, das seine eroberten Gebiete mit bewußter Planmäßigkeit organisiert hatte, die mongolisch-türkischen Verbündeten seine erdrückende Macht fühlen zu lassen. Die unter der jahrhundertelangen Hunnenherrschaft an Gehorsam gewöhnten Völker ertrugen anfangs friedlich den Druck der neuen Herrschaft und obzwar sie, da sie ihre militärischen Organisationen aufrechterhielten und ihre Rasse rein bewahrten, nicht das Schicksal der romanisierten Kelten erlitten, ließen sie sich trotzdem gegen ihre rasseverwandten Brüder und früheren Herren verwenden. Der Druck der chinesischen Macht, die die Kräfte der Barbaren gut einzusetzen verstand, wurde aber jetzt für die Hunnen, die vor kurzem noch die halbe Welt beherrscht hatten, untragbar. Da ihre geschwächten Kräfte zu einem Angriff und zum Siege nicht ausreichten, reifte in ihnen langsam der Plan, dieses Gebiet zu verlassen. Es ist ein eigenartiges Spiel des Zufalls, daß an den beiden äußersten Punkten des Südteiles des eurasischen Kontinents zu gleicher Zeit — aber unabhängig voneinander — zwei mächtige Kulturnationen — die lateinische und die chinesische — sich zur Welteroberung anschickten und mit fast bis in die Einzelheiten gleichen Mitteln und Methoden daran gingen, ihre Reiche auszubauen. Im Osten und im Westen findet sich dieselbe, auf Teilung des Feindes hinzielende, den Zerfall herbeiführende, heuchlerische Diplomatie, dieselbe vorsichtige und umsichtige Art der Kriegsführung und hier wie dort stand dieselbe meisterhaft ausgebaute, dreifache Schutzlinie — hier der römische Limes, dort die chinesische Mauer, hier die Legionen, dort die Provinztruppen, hier der Wall der Kelten, Thraker, Griechen und Iranier, dort jener der hunnisch-türkischen Vasallen — der jenseits der Grenzen beginnenden Welt der Barbaren gegenüber. DIE A N F Ä N G E DER G R O S S E N

VÖLKERWANDERUNG

Die beiden nach Weltherrschaft strebenden Kaisermächte haben infolge ihrer keine Grenzen kennenden Ausbreitungssucht und ihrer keinen Widerstand duldenden Organisationskraft schon um die Mitte des ersten Jahrhunderts

Die Anfänge der großen Völkerwanderung

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vor Christo wie mit den riesigen Armen einer Zange die nördlichen Völker umfaßt. Ende des ersten und Anfang des zweiten Jahrhunderts beginnt diese Zange sich zusammenzuziehen und infolge dieses Druckes kommen alle lebensstarken und tatkräftigen Völker, die weder sterben noch sich unterwerfen wollten, in Bewegung. Zur selben Zeit begann im Osten und Westen das große Abwandern der Völker nach anderen Weltgegenden. Im Jahre 90 nach Christus brach das seit anderthalb Jahrhunderten unter chinesischem Joche lebende, aber diese Fremdherrschaft nur schwer ertragende, zur Herrschaft geborene Volk der Hunnen — das heißt die nördlichen und westlichen unabhängigen Stämme des hunnischen Volkes — auf und verschwand, einige verwandte Stämme mit sich reißend, andere durchbrechend, endgültig aus den Augen der Chinesen. Hundert Jahre später finden wir sie schon auf europäischem Gebiete, zwischen Ural und Wolga, in südwestlicher Nachbarschaft der ogur-türkischen Völker, die in der Gegend des Tobol und des Irtyschflusses ansässig waren. Gleichzeitig mit dem Erscheinen der Hunnen in Europa um 180 nach Christus setzte sich auch der nordöstliche, politisch am besten organisierte Zweig der Germanen, der in den Küstengebieten der Ostsee und an den Ufern der Oder und Weichsel lebte, in Bewegung. Die Führerrolle nahm das Gotenvolk ein, das sich an Stelle des früheren losen Stämmebundes unter monarchischer Führung zu einem Volk entwickelt hatte. Der unmittelbare Grund zu ihrem Aufbruch waren die Kriegszüge des Kaisers Marc Aurel (164—180). Als Reaktion auf die Einbrüche der nach Süden drängenden Barbaren überquerte der Kaiser die Donaulinie, bereitete den dem Kaiserreich unmittelbar benachbarten Stämmen am Mittellauf der Donau eine schwere Schlappe und schnitt ihnen damit den Weg der Ausbreitung nach Süden ab. Bei den am römischen Limes lebenden und nun jeder Ausbreitungsmöglichkeit beraubten germanischen Völkern ist nach diesem Ereignis ein stärkerer Expansionsdruck an Stelle der bisher nur in kleineren Ausbrüchen sich äußernden Stoßkraft zu spüren. Die von den Römern bedrängten südlichen Stämme drückten auf ihre nordöstlich-nördlichen Nachbarn und dieser Druck verdichtete sich am oberen Lauf der Weichsel und Oder zu einem starken Vorstoß. Zur selben Zeit begann auch der vor den Wolga-Hunnen nach Westen ziehende sarmatische und slawische Volksstrom die Goten, die an der Weichsel ihre Wohnplätze hatten, zu bedrängen, die nun, durch diesen doppelten Druck gezwungen, weichen müssen und, gefolgt von einer Gruppe der benachbarten germanischen Stämme, nach Südosten ziehen. Sie durchbrechen den Ring der unorganisierten slawischen Völkerschaften und erreichen das Quellgebiet des Dnjestr und Dnjepr und dringen am Anfang des 3. Jahrhunderts, immer am Lauf dieser Flüsse entlang ziehend, bis an die Ufer des Schwarzen Meeres und an den Don-Fluß vor.

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Attilas Hunnenreich

Die Hunnen, die sich bis zur Wolga hin ausbreiteten, und die bis an die Ufer des Don vorstoßenden Goten — diese beiden politisch und militärisch hoch entwickelten Zweige des Türken- und Germanentums — wurden im Westen Asiens und im Osten Europas zu Begründern zweier großer Militärmächte. Die Hunnen organisierten im Laufe von zwei Jahrhunderten die Völker diesseits des Altai, die nach altem Recht unter ihre Oberhoheit gehörten, und begründeten in dem vom Ob, der Wolga, dem Kaspischen Meer und dem iranischen Hochplateau begrenzten Gebiete das neue westliche Hunnenreich. Die Goten errichteten, nachdem sie die thrakischen, sarmatischskythischen und alanischen Stämme der südrussischen Steppe unterworfen hatten, zwischen dem Don und der unteren Donau ihren Kriegerstaat. Diese beiden Reiche lebten zunächst in Frieden miteinander. Die Expansion der Hunnen richtete sich nach Iran, dem Wohngebiet des südlichen persischen Nachbarn. Die Goten beunruhigten die römischen Provinzen am unteren Lauf der Donau. Die Lage der beiden Völker zueinander trug aber den Keim großer Zusammenstöße in sich. Hunnen und Goten waren jetzt nämlich nur mehr durch einen schmalen Landstreifen — durch die Steppe zwischen dem Don und der Wolga — voneinander getrennt. Die wie zwischen den riesigen Armen einer Zange zusammengepreßten Völkerschaften benötigten nur mehr eines kleinen Anstoßes, um dann die Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern und die natürliche Ordnung, die sich in der Siedlungslage der Völker und Rassen bisher zeigte, umzustoßen und die Geschichte der ganzen Menschheit in eine neue Richtung zu drängen. Dieser Anstoß ließ auch nicht lange auf sich warten. Das Abwandern der Hunnen und Goten aus der Nachbarschaft ihrer Rasseverwandten brachte den nördlichen Völkern keine Ruhe. Das Wirken der natürlichen und politischen Faktoren, die sie zu langsamem Vordringen, zur Ausbreitung und kriegerischer Verteidigung zwangen, verringerte sich jetzt nicht, sondern erfuhr im Gegenteil noch eine Steigerung. Um die Mitte des 4. Jahrhunderts gründen die in chinesischen Quellen unter dem Namen ZuanZuan erwähnten Awaren an den nördlichen Grenzen des chinesischen Reiches in der Gegend des Altai-Gebirges ihr mächtiges Nomadenreich und drängen die jenseits des Irtysch-Flusses und des Balkasch-Sees wohnenden Völker nach Westen. Diese Bewegung, dieser Druck von Osten her, veranlaßte die schon vor zweieinhalb Jahrhunderten bis zur Wolga vorgedrungenen Hunnen zum Verlassen ihrer bisherigen Wohnplätze. Indem sie jetzt in das Herz Europas vordringen, zerstören sie endgültig das Gleichgewicht der Völker. ATTILAS

HUNNENREICH

Im Jahre 372 überschritt der Hunnenkönig Balamber mit seinem Volke die Wolga, drang bis zum Kaukasus vor und zwang die in der Gegend des Kaukasus wohnenden Alanen sowie die sarmatisch-skythischen Stämme aus der

Attilas Hunnenreich

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Wolga-Don-Gegend zur Unterwerfung. Drei Jahre später errang er mit Hilfe der von den Goten zu ihm übergelaufenen Roxolanen einen entscheidenden Sieg über die Heere der zwischen Don und Dnjestr herrschenden Ostgotenkönige Hermanarich und Witimir. Der Gotenkönig Gesimund unterwarf sich, und Balamber schickte bald — wie das bei den östlichen Heerführern Sitte war — die Ostgoten, Alanen und Roxolanen als Vortruppen seines Hauptheeres in den Krieg gegen ihre jenseits des Dnjestr wohnenden Stammesverwandten, die Westgoten und Gepiden. Der Zusammenstoß der hunnischen und gotischen Macht ließ aus dem jahrhundertelangen langsamen Vordringen der östlichen und westlichen Barbarenvölker einen grauenhaften mörderischen Kampf der Völker und Rassen auf Leben und Tod werden. Die durch die germanischen und sarmatischen Völker der Pontus-Gegend verstärkte Macht der Hunnen drang mit einer keinen Widerstand duldenden Kraft auf die zwischen dem Dnjestr, dem unteren Lauf der Donau und der Theiß siedelnden Westgoten ein, überrannte diese und stieß zu den Gepiden und den Völkern der Donau-Theiß-Gegend vor. Der Angriff der Hunnen besiegelte endgültig das Schicksal des verfallenden römischen Reiches und legte die Keime zu neuen Nationen- und Staatenbildungen in Europa. In dem großen Kampf zerrissen die alten politischen Bindungen und es traten neue an ihre Stelle. Stämme, Stammesverbände, Nationen, ja ganze Rassen gingen zugrunde, machten neuen Verbänden und Nationen Platz, die die Überreste der alten schnell aufsaugten und in sich einschmolzen. Die keltischen, thrakischen, sarmatisch-skythischen Zweige der indoeuropäischen Völkerfamilie verschwinden von der Erdoberfläche. Sie gehen ganz in den germanischen und türkisch-hunnischen Völkern auf. Bei den auf römischem Gebiete siedelnden Germanen begann jedoch eine die Sprache, das Brauchtum, Sitten und Kultur umformende Romanisierung. Am Anfang des 5. Jahrhunderts war das ethnographische Bild Europas völlig verändert. Die westlichen römischen Provinzen, Africa, Hispania, Gallia, Raetia, Germania und Britannia, gelangten alle in germanischen Besitz und die auf römischem Gebiete mit dessen lateinischer und romanisierter keltischer Einwohnerschaft vermengten und mit lateinischer Bildung gesättigten Germanen wurden später die Begründer der christlichen Staaten des Mittelalters in Westeuropa. Die herrenlosen Donauprovinzen, Dacien, Pannonien und Noricum und das Gebiet zwischen der Donau und Theiß, werden schon im 4. Jahrhundert von den Hunnen und den unter ihre Oberhoheit gehörenden germanischen Völkern überschwemmt. In unmittelbarer Nachbarschaft Italiens, in den zwischen den Alpen und der Donau sich erstreckenden Gebieten von Noricum und Pannonien, am Laufe der oberen Donau und am Fuße der Nordkarpathen, im heutigen böhmisch-mährischen Bergland saßen die dem Hunnenkönig untertänigen Rugier, Heruler, Skiren und andere suebische

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Attilas Hunnenreich

Stämme. Im heutigen Siebenbürgen und in dem Gebiet zwischen der unteren Donau und dem Prath, das die Provinz Dacien darstellte, siedelten die Gepiden. Im Norden und Westen, den Sueben benachbart, wohnten am Oberlauf von Oder und Weichsel die südwärts drängenden Langobarden und die von den keltischen Bojern zugleich mit dem Lande auch den Namen erhaltenden markomannischen Bayern. Der Hunnenkönig schlug seinen Sitz am linken Ufer der mittleren Theiß, im Gebiete der Körös-Mündung — zwischen dem heutigen Törökszentmiklos und Szentes — auf. Um seinen Sitz herum, in der Ebene an beiden Ufern der Theiß, siedelte der herrschende Stamm, das Volk der „königlichen Hunnen", eingekeilt in die östlich und westlich von ihm wohnenden verbündeten oder, besser gesagt, abhängigen Völker der Markomannen, Sueben, Gepiden und Ostgoten. Die große Ebene vom Pruth und Dnjestr bis zum Ural hin wurde von den unter hunnischer Oberhoheit lebenden Ostgoten, sarmatischskythischen und germanischen Völkertrümmern und hunnischen Stämmen bewohnt. In der Blütezeit des Hunnenreiches hören wir von diesen östlichen Völkern nicht viel. Die zeitgenössischen Schriftsteller fassen dieseVölker mit den zum Hunnenreich gehörenden germanischen und sarmatisch-iranischen Volksteilen unter dem Namen Hunnen zusammen. Die westlichen und südlichen Nachbarn wußten nicht viel von der inneren natürlichen Gliederung der Völker des Hunnenstaates, denn ihnen gegenüber traten sie nur als Glieder einer festgefügten politischen und kriegerischen Organisation, zu einer völligen Ganzheit zusammengeschweißt, in Erscheinung. Ihr volkliches Sonderdasein zeigte sich erst nach demTode desWelteroberers Attila und dem darauf folgenden inneren Zerfall. Attilas Macht hatte von der oberen Donau, der Drau und den Alpen bis zur Wolga, ja vielleicht auch noch darüber hinaus gereicht. Der Beherrscher dieses riesigen Reiches war der unumschränkte Herr über seine Völker. In die schwere Last des Herrschens und Regierens jedoch teilte er sich wie die übrigen Herrscher der Nomadenreiche des Ostens — die alten Könige der Osthunnen, die türkischen Chagane des 6.—8. Jahrhunderts und die tartarischen Chane des 13. Jahrhunderts — mit seinen Familienmitgliedern. Das weitausgedehnte Hunnenreich gliaderte sich in zwei Landesteile, in das östliche und westliche Königreich. Die dem gefährlichen römischen Nachbar benachbarte westliche Provinz wurde von dem Hauptkönig regiert, während die östlichen Landesteile von seinem Bruder oder Sohne beherrscht wurden. Zur Zeit Attilas wurden die östlichen Provinzen von seinem Bruder Bleda, nach dem Jahre 448 aber von seinem Sohne Ellak beherrscht. Dieser traditionelle Brauch der Reichsteilung barg schon den Keim zum späteren Zerfall der Nomadenreiche und zu gefährlichen Zusammenstößen in sich, denn die schwächeren Herrscher konnten den Abfall ihrer von fremden Mächten aufgewiegelten Mitregenten nicht verhindern.

Attilas Hunnenreich

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Die ersten Anzeichen dieser Gefahr zeigten sich im Hunnenreich schon zu Attilas Lebzeiten. Die über die Akaziren herrschenden Hunnenstämme wollten sich um 448 auf Zureden des oströmischen Kaisers, der ihnen ein Bündnis versprach, von Attila losreißen und es scheint, daß der auf seinen Bruder eifersüchtige Bleda dieser Bewegung nicht fernstand. Mit eiserner Hand unterdrückte Attila diese Empörung. Seinen Bruder ließ er hinrichten und an seine Stelle setzte er an die Spitze der Akaziren und der Völker des Pontus seinen Sohn Ellak. Die Gegensätze, die zum Bruderkampf und zur Empörung geführt hatten, konnte er jedoch nicht beseitigen. Die Völker der östlichen und westlichen Provinzen wurden durch eine immer tiefer gehende Kluft voneinander getrennt. Im Westen, im Herrschaftsbereich Attilas und an seinem Hofe, haben die Fürsten der ihm untertänigen verbündeten germanischen Völker und andere „indigenae" führende Rollen innegehabt. Neben den zu seiner unmittelbaren Umgebung zählenden hunnischen Vornehmen besaßen einen sogar noch größeren Einfluß als diese der Gepidenkönig Ardarich, der über eine große Streitmacht verfügte, die Ostgotenkönige Walamir und Theodomir, der Grieche Onegesios und der Lateiner Orestes. Mit dem Anwachsen des römischen und germanischen Einflusses verbreiteten sich auch fremde Sitten und Gebräuche in immer größerem Maße. Dieses Vordringen der Fremden wurde von den Hunnen der Ostprovinzen und vor allem von ihren dadurch zurückgesetzten Stammeshäuptlingen und Herrschern mit scheelen Augen betrachtet. Diese hielten sich für die Hauptstützen des mächtigen Hunnenreiches, hatten doch Attilas Vorfahren, gestützt auf die Stärke der seit drei Jahrhunderten zu einer engen politischen und militärischen Einheit zusammengefügten hunnischen Völker, den Grund zur Macht der Hunnen in Europa gelegt. Römer und Germanen jedoch — wenn sie auch vor der großen Persönlichkeit Attilas wortlos das Knie beugten — haßten die ihnen rassefremden und in ihren Sitten andersartigen, für ihre Begriffe häßlichen Hunnen. Auf ihre Freiheit sehr bedacht, warteten sie nur auf die Gelegenheit, sich von ihren unangenehmen Herren zu befreien. Dieser Augenblick war mit dem Tode Attilas im Jahre 453 gekommen. Der zur Machtübernahme von Osten in das Theißgebiet ziehende Ellak und die ihn begleitenden Osthunnen wurden von seinen Brüdern und den zum Schein auf ihrer Seite kämpfenden, aber im geheimen auf die Befreiung ihrer Völker wartenden germanischen Fürsten mit blankenWaffen empfangen. In dem ungewöhnlich blutigen Kampfe erlitt Ellak eine Niederlage und fiel, aber mit ihm fielen auch seine Brüder und das hunnische Weltreich. Die um die Hauptmacht streitenden hunnischen Königssöhne waren gezwungen, vor den Gepiden, Sueben und den nach Westen drängenden Ostgoten zu fliehen. Der Rest des auch sonst zahlenmäßig nicht allzu starken Hunnenvolkes aus dem Theiß-Donau-Gebiet zog sich mit ihnen in das Gebiet der unteren Donau und in die große pontische Steppe zurück.

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Attilas Erben ATTILAS

ERBEN

Das große Hunnenreich war nach 70 jährigem Bestehen auseinandergefallen. Die Hunnen zogen sich hinter die Ostkarpathen zurück. In dem an Ausbreitung noch immer ansehnlichen Reich hatte Attilas zweiter Sohn Dengisik, der bis zu seinem heldenhaften Ende um 469 seine Völker in dem Gebiete des Don und Dnjepr regierte, die Hauptmacht an sich gerissen. Die Kämpfe der Hunnen, die sie gegen Gepiden, Goten und das oströmische Kaiserreich führten, bezeugen, daß sie sich in die veränderte Lage nicht fügen wollten. Im Jahre 468 unternahm der hunnische Führer Hormidak, ein Jahr danach Dengisik persönlich einen Feldzug gegen Byzanz. Diese Unternehmungen endeten aber — nach einem nicht wieder gutzumachenden Blutverlust — mit einer vollständigen Niederlage und nach dem Tode Dengisiks verschwand das einst die Welt unterjochende Volk der Hunnen, der einst gefürchtete Feind des chinesischen und römischen Reiches, von der Bühne der Weltgeschichte. Seine diesseits des Dnjepr lebenden Volksreste verschwanden, wurden von den sie umgebenden, an ihre Stelle tretenden Völkern aufgesaugt. Verfallsund Untergangserscheinungen sind hier dieselben wie bei dem späteren Zerfall der awarischen, petschenegischen, chasarischen, kumanischen und tatarischen Macht. Viele Hunnen traten als Söldner in römischen Dienst und einer von Attilas Enkeln erhielt sogar die römische Feldherrn würde. Andere schlössen sich den früheren gepidischen Untertanen an. Eine größere Gruppe zog sich in das Don-Gebiet zurück und wurde im 6.—7. Jahrhundert der Begründer der ogurischen oder bulgarischen Macht in Osteuropa, während die zwischen dem Dnjepr und der unteren Donau ansäßigen Ostgoten bald darauf nach Pannonien zogen. Während so das eigentliche Hunnenvolk aufgerieben wurde und in den auf Attilas Tod folgenden Kämpfen sich ganz auflöste, entstanden auf dem Gebiete des früheren Hunnenreiches und im fernen Asien neue Mächte. Im Rugierland, im Gebiete des heutigen Österreich, formten sich die aus dem suebischen Verband ausgetretenen Rugier und Heruler und nördlich und östlich von diesen die Langobarden zu einem Volke. Den südlichen Teil Pannoniens nahmen die Ostgotenkönige in Besitz. Am Ufer der Save ließen sich suebische und markomannische Stämme nieder. In dem Gebiete zwischen der Theiß, der unteren Donau und den Ostkarpathen machte sich das Königreich der Gepiden unabhängig. Zur selben Zeit begann das langsame Vordringen der unorganisierten, zur Knechtschaft neigenden slawischen Völker nach dem Süden und Südosten. Diese slawische Völkergruppe, die in zeitgenössischen Quellen unter dem Namen „Anten" erwähnt wird, dringt um die Wende des 5. und 6. Jahrhunderts längs des Laufes des Dnjestr und Dnjepr bis zur pontischen Ebene vor. Im 7. Jahrhundert finden wir schon zahlreiche

Der häufige Wechsel der Völkernamen

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slawische Siedlungen auf dem Gebiete Pannoniens, und sogar in Noricum und Moesien. Jenseits der Ostgrenzen des Hunnenreiches breitete sich um die Mitte des 5. Jahrhunderts das Volk des Awarenreiches im Altai-Gebiete aus irgendeinem Grunde nach Westen hin aus und vertrieb die sibirischen Sabiren aus ihren Wohnplätzen. Diese überfielen die im Ob-, Irtysch-Gebiet wohnhaften Oguren, die nun wiederum, ihre saragurischen Verwandten vor sich hertreibend, nach Westen drängten und dann den Fluß Jaik und die Wolga überschritten. Die Sabiren griffen jetzt auch die am Ischim und am oberen Laufe des Tobol wohnenden pelzjagenden Onoguren an und auch diese überschritten, in südwestliche Richtung gedrängt, den Jaik und die Wolga. Ein bis zwei Jahrzehnte früher wäre der Angriff der Sabiren vielleicht an der militärischen Kraft des Hunnenreiches zerbrochen. Jetzt jedoch drangen die Sabiren und die vor ihnen flüchtenden Saraguren, Oguren und Onoguren — wie ihre Gesandten um 465 in Byzanz angaben — nach Westen und Südwesten vor, erreichten, ohne Widerstand zu finden, das Gebiet des in Auflösung begriffenen Reiches und überfluteten die zwischen Wolga und Dnjepr sich hinziehende große Ebene. Um die Mitte des 6. Jahrhunderts fegte eine neue Völkerwelle über die sarmatische Steppe dahin. Die vor der im Altai-Gebiet neu erstarkten türkischen Macht fliehenden Awaren nahmen — nach einer kurzen Rast in den Gebieten an der Wolga, dem Kaspischen Meer und dem Kaukasus — das pannonische Erbe Attilas in Besitz. Die westlichen Stämme des mächtigen altaischen Türkenreiches jedoch breiteten sich bis zur Wolga hin aus und dehnten ihre Oberhoheit auch bis auf die zwischen Wolga und Dnjepr wohnenden Völker aus. Von dieser Zeit bis zur Zeit der Landnahme der Ungarn hat sich das ethnographische Bild Osteuropas kaum geändert.

DER HÄUFIGE WECHSEL DER

VÖLKERNAMEN

In den vier Jahrhunderten, die auf den Zerfall des Hunnenreiches folgen, tauchen in der byzantinischen, armenischen, arabischen und westlichen Literatur immer neue Namen für die Völker zwischen Dnjepr und Wolga auf und verschwinden wieder. Die mächtigen Stöße der Völkerwanderung und die Machtbestrebungen der Soldatenmonarchen, die die Herrschaft über verwandte Völker an sich rissen, zerstörten oft Jahrhunderte alte Beziehungen und ließen neue entstehen. Nomadenreiche und Stammesverbände zerfielen und an ihre Stelle traten neue. Ethnologisch eng zusammengehörende Völker und Stämme gingen auseinander und wurden zerstreut; weitläufig verwandte und einander fremde benachbarte Stämme verbanden sich zu festen Bündnissen. Diese politischen Veränderungen spiegeln sich in den Quellen aus

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Der häufige Wechsel der Völkernamen

dem 5.—9. Jahrhundert in den sich kaleidoskopartig verändernden Völkernamen, dem Prüfsteine der an den Buchstaben sich klammernden Gelehrten. Der neue Name bedeutet nicht immer ein neues Volk; meistens zeugt er nur von einer neuen politischen Konstellation, von einer neuen Gruppierung der Stämme und Völker. Auch das Verschwinden des Volksnamens muß keineswegs den Untergang des betreffenden Volkes bedeuten, sondern ist häufig nur auf das zeitweilige Einordnen in ein neues politisches Gefüge, in den Rahmen der nach dem Sturz des Hunnenreiches entstandenen Nomadenreiche und kleineren und größeren Stammesverbände zurückzuführen. In die eine Gruppe der Völkernamen gehören die Sammelnamen mit politischer und ethnischer Bedeutung. Der dauerhafteste von diesen war der allgemein gebrauchte Name „Hunnen", der in der Blütezeit des Reiches als Sammelbegriff der dazugehörigen Völker im politischen Sinne gebraucht wurde. Nach dem Zusammenbruch wurde er — ähnlich wie die Namen der Skythen, Sarmaten, Germanen, Slawen — zu einem ethnischen Sammelbegriff. Die Byzantiner nannten im 5.—7. Jahrhundert alle auf dem Gebiete des einstigen Hunnenreiches lebenden und dort eingedrungenen, sogar alle asiatischen turkstämmigen Völker „Hunnen", ohne Rücksicht darauf, ob diese jemals unter hunnischer Herrschaft gelebt hatten. Enger begrenzt, aber ein ähnlicher ethnischer Begriff ist der Name Ogur oder Gur, mit dem die Saraguren, Ütschoguren, Altiagiren, Kuturguren, Beschguren und Onoguren, also alle sibirischen Völker, die zwischen Dnjepr und Wolga saßen, bezeichnet wurden. Seit dem 6. Jahrhundert ist der Name Ogur viel weniger gebräuchlich und tritt gegenüber der Bezeichnung Bulgare immer mehr in den Hintergrund. Der Name „Bulgare", der ursprünglich „Mischung" bedeutet, taucht zum erstenmal im Jahre 481 auf, und zwar zur Bezeichnung der jenseits des Dnjepr wohnenden ogurischen Völker, und obwohl erst parallel zum Namen „Hunnen" gebraucht, verdrängt er diesen und den Namen Ogur nach und nach. Auch dies ist ein Sammelname zur Bezeichnung mehrerer Völker. Sein Gebrauch hängt mit den politischen Veränderungen zusammen, die nach Attilas Tode eintraten, wie das auch der Bedeutungswandel des „Hunnen"Namens, der früher politische Bedeutung hatte, und das Verschwinden des das Volkstum bezeichnenden Namens Ogur beweisen. Zu einem politischen Sammelnamen wurde mit der Zeit auch der Name des um die Mitte des 6. Jahrhunderts auftauchenden Türk-Volkes, ja sogar der Name des chasarischen Stämmeverbandes, der sich um die Wende des 6. und 7. Jahrhunderts aus den westlichen Stämmen des Türkenreiches gebildet hatte. Da zur Zeit des Vordringens der Araber die Chasaren und Türken die Nachbarn des bis an den Kaukasus und Chovarezm reichenden Kalifats waren, nennen die arabischen Chronisten seit dieser Zeit die westlich vom Kaspi-

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Der häufige Wechsel der Völkernamen

sehen Meer wohnenden Völker konsequent Chasaren, die östlich vom Kaspischen Meer hingegen Türken. Diese Terminologie übertragen sie auch auf frühere Zeiten, als es in diesen Gebieten weder Türken noch Chasaren gab. Die Araber des 9.—13. Jahrhunderts nennen die Sahiren der alten persischen Quellen Chasaren, die Hunnen und andere östliche Völker jedoch Türken. Aber die byzantinischen Chronisten gebrauchen den Namen „Türken" auch zur Bezeichnung der Völker des einstigen Türkenreiches, so bis um 800 auch zur Bezeichnung der Chasaren, dann der Magyaren. In einer anderen Gruppe der Völkernamen begegnen wir dem Namen Ogur ( = Oguz=ok=Stamm) in allen seinen Zusammensetzungen. Der Name Saragur ( = weiße Oguren) bezeichnet ähnlich den Bezeichnungen weiße Hunnen, weiße und schwarze Chasaren, schwarze Kirgisen, weiße und schwarze Rumänen, weiße Bulgaren einen Zweig des ogurischen Volkes. Häufig ist die Verbindung des Namens Ogur mit dem Zahlwort, das den Umfang der Stämme angibt. Die regelmäßige Wiederholung der Zahlen (5-10-30, 3-6-9, 4-8) macht die Annahme wahrscheinlich, daß dies nicht ursprüngliche und auf organischem Wege entstandene politische und gesellschaftliche Bildungen und selbständige Völkergebilde waren, sondern — wie das auch chinesische Chronisten feststellten — durch die herrschende hunnische Macht ins Leben gerufene künstliche Gebilde zu militärischen Zwecken sind. Ohne Zweifel wurde die Gesamtheit der unter eine einheitliche Führung gelangten Stämme — genau so wie die Völker der großen Nomadenreiche — aus militärischen und ' ) So der Name der Onoguren ( = zehn Oguren = zehn Stämme), Beschguren ( = fünf Oguren), Tukurgur ( =

neun Oguren), Altiogur ( = sechs Oguren),

( = drei Oguren), Uturgur ( =

Ütschogur

dreißig Oguren) ähnliche Volksnamen finden wir

auch bei den osttürkischen Völkern (on-ogus, tokus-ogus, alti-ogus, ütsch-ogus; on-uigur, tokus-tatar, otus-tatar; tokus erschim; alti-tchub; ütsch-kurikan; säkis-ogus =

acht Ogusen), und aus den chinesischen Quellen des V I I . Jahrh. wissen wir,

daß das Volk der westlichen türkischen Chagane sich in zehn Stämme oder Völker gliederte und man sie deshalb Zehnstamm (Onogusen) nannte. Innerhalb dieses Stammesverbandes bildeten je fünf geographisch zusammenhängende

Stämme

zwei

kleinere Einheiten und an der Spitze jedes Stammes stand ein Führer. Wir kennen die neun Provinzen des chasarischen Reiches im 9. Jahrh., die je drei Stämme der Wolga-Bulgaren und der an die Magyaren sich anschließenden Kabaren, die erst drei, dann sechs Geschlechter der Szekler und die acht Stämme der in je zwei Gruppen von vier Stämmen gegliederten Petschenegen. Die Varianten des durch die Feder ausländischer Chronisten umgewandelten Namens onogur

sind

Hunugur,

Hangar-ijje,

unnogundur

( = Onogor-dor = Onoguren),

ungur, die von Kuturgur sind Kutrigur, Kotragir, Kotzagir. Alzidzur ist die Variante von Altiogur, Ulzingur und Ulzindzur die von Ütschogur, Bittogur die von Beschgur und Utigur die von Uturgur. Kuturgur ist übrigens eine durch Methatese gebildete Namensform aus dem ursprünglichen *Tukurgur.

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Die Völker des Pontus im 5.—9. Jahrhundert

verwaltungstechnischen Gründen künstlich in zwei Teile geteilt. Im Laufe der Zeit begannen diese mit der Zahl neun und zehn bezeichneten Stämmegruppen unter ihrem eigenen Herrscher ein selbständiges Leben zu führen; durch äußere Einmischungen räumlich voneinander getrennt, mit fremden Elementen durchsetzt oder durch die Zwistigkeiten ihrer Herrscher miteinander verfeindet, bildeten sie sich zu eigenen Völkern aus, wie das das Beispiel der vollkommen voneinander getrennten Onogusen und Tokus-Ogusen zeigt. Auch die kleineren Einheiten dieser neuen Völker — die fünfer, dreier und sechser Stammesgemeinschaften —wandelten sich häufig in selbständige Völker um, wie das bei den Wolga-Bulgaren und Baschkiren eintrat, oder sie schließen sich, wie es das Beispiel der Kabaren, die sich den Ungarn der Landnahmezeit anschlössen, zeigt, nachdem sie sich aus ihrem eigenen Stammesverband gelöst haben, einem anderen mächtigeren Verbände an. Die aus dreißig Stämmen gebildeten größeren Verbände entstanden durch Vereinigung mehrerer Völker. Die Völkernamen, die aus der Verbindung O g u r mit verschiedenen Zahlwörtern entstanden sind, bezeichneten auch ursprünglich keine verschiedenen Völker, sondern je eine Stammesgruppe der Oguren, die eine militärische und verwaltungstechnische Einheit bildete. DIE VÖLKER DES PONTUS IM 5.-9. J A H R H U N D E R T

Die von der Mitte des 5. Jahrhunderts bis zum Ende des 9. Jahrhunderts zwischen Wolga und Dnjepr auftauchenden Völkernamen bezeichnen — mit Ausnahme des Namens der im 6. Jahrhundert hier durchziehenden Awaren — alle dieselben sechs Völker, beziehungsweise deren Überreste, die vier Jahrhunderte hindurch die ständigen Bewohner dieses Gebietes waren. In der byzantinischen und arabischen Literatur, welche die Veränderungen der osteuropäischen Verhältnisse immer mit wachsamer Aufmerksamkeit verfolgte und die uns auch genau über die Wohnplätze der Völker unterrichtet, steht nichts über die Niederlassung fremder Völker bis zum Auftauchen der Petschenegen. Die Akaziren (agatscheri = Waldmenschen) wohnten im 5.—6. Jahrhundert in der Nachbarschaft ihrer estnischen (aesti) Verwandten am rechten waldigen Ufer der Wolga. Ebenso finden wir hier im 9. Jahrhundert ihre Nachkommen, die südlich vom Barsilstamme der Wolgabulgaren wohnenden Burtassen, die Ahnen der heutigen Mordwinen. Die Sahiren (oder Sabender) ließen sich um die Mitte des 5. Jahrhunderts am westlichen Ufer des Kaspischen Meeres und in der Gegend des Kaukasus in der Nachbarschaft der Alanen und des Neupersischen Reiches der Sassaniden nieder und wohnten hier bis zu ihrem Zerfall, der hundert Jahre später eintrat, als einige kleinere Gruppen nach Armenien zogen, andere sich

Die Völker des Pontus im 5 . - 9 . Jahrhundert

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mit den Onoguren vereinigten. Auf ihrem Gebiete ließen sich um die Mitte des 6. Jahrhunderts die durchziehenden Awaren für einige Jahre nieder. Später, als diese nach Westen abgezogen waren, wurde es zum Aufmarschgebiet plündernder türkischer Haufen, bis es endlich im 7. Jahrhundert von den chasarischen Stämmen, die sich aus dem Türkenreich herausgelöst hatten, in Besitz genommen wurde. Um 465 ließen sich die Saraguren an den Ufern der mittleren Wolga nieder und kämpften schon um 468, nachdem sie die Akaziren bezwungen und unterjocht hatten, gegen die Perser. Später sind sie unter dem Namen Barsil (Barsula, Bagarsiq) bekannt und begründen, nach Norden ziehend, am Zusammenfluß der Wolga und Kama den Staat der Wolgabulgaren. Südlich von den Akaziren wohnten die Pontusbulgaren, aus deren Heimat an der Küste des Schwarzen Meeres einst „zum großen Schrecken der Völker die Hunnen hervorgebrochen sind". Von den Völkern der pontischen Bulgaren ließen sich die Altiagiren ( = sechs Stämme) zwischen Dnjepr und Don nieder. In ihrer Nachbarschaft wohnten die Ütschoguren ( = drei Stämme), mit denen vereinigt sie im 6.—7. Jahrhundert unter dem Namen Kuturguren oder Tukurguren ( = neun Stämme) eine Rolle spielen. Ihre unmittelbaren Nachbarn gegen Südwesten waren die Gepiden und die römischen Provinzen an der unteren Donau, später seit 545 die an der unteren Donau siedelnden Slawen. Im Nordwesten breiteten sie sich bis zu den Slawen des DnjestrGebietes, im Süden bis zur griechischen Kolonie der Krim, im Osten bis zum Don aus. Aus diesem Gebiet zogen sie 679 nach dem Balkan, wo sie unter dem Namen Bulgaren zu Begründern des Staates der Donaubulgaren wurden. Ihre östlichen Nachbarn, die Onoguren ( = zehn Stämme), nahmen im 5. Jahrhundert das Gebiet am östlichen Ufer des Asowschen Meeres von der Mündung des Don bis nach Alanien und dem kleinen Lande der unter römischer Oberherrschaft stehenden Lasen und Ziehen in Besitz, in dessen waldigem Gebiet sie auch ihrer Pelzjägerei nachgehen konnten. Im Süden waren sie den Alanen und Lasen und jenseits von diesen Byzanz und den armenischen Provinzen des persischen Reiches benachbart. Um die Mitte des 7. Jahrhunderts gehören sie zusammen mit den sich ihnen anschließenden sabirischen Stämmen zur Stammesgemeinschaft der Uturguren ( = dreißig Stämme), um dann ein Jahrhundert später als das Führervolk des onogurischen Bulgarenreiches aufzutauchen. Ende des 7. Jahrhunderts gelangen sie unter chasarische Herrschaft. Ein aus fünf Stämmen bestehender Zweig der Onoguren, die Bittogoren (Beschgur = fünf Stämme), spielen schon im 5. Jahrhundert unter diesem Namen eine Rolle; sie ziehen um die Mitte des 9. Jahrhunderts in das Gebiet von Wolga und Jaik südlich von den Wolgabulgaren und leben dort unter dem Namen Beschgur > Baschgurd > Baschkir

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An den Ufern der Maeotis / Das hunnisch-bulgarische Reich Irniks

weiter. An der Spitze des anderen Zweiges stand der Stamm der Magyaren, der auch bald dem Volke einen neuen Namen geben sollte; dieser Stamm breitete sich nach dem Abwandern der Bulgaren nach Westen aus und drang bis zum Dnjepr vor.

DRITTES

KAPITEL

AN DEN UFERN DER

MAEOTIS

Um 448 hatte Priskos Rhetor, der sich in der Begleitung des byzantinischen Gesandten am Hofe Attilas aufhielt, gehört, daß nach einer Prophezeiung Irnik, der jüngste Sohn, der Erbe und Erhalter des Namens, der Familie und der Macht des mächtigen Hunnenkönigs werden solle. Die Prophezeiung hat sich auch wunderbarerweise erfüllt. Das Hunnenreich zerfiel, aber auf seinen Trümmern bildete sich unter Irniks Führung das ogurische oder bulgarische Reich im Pontus-Gebiet. DAS H U N N I S C H - B U L G A R I S C H E REICH

IRNIKS

Nach dem Fall des Reiches zog Irnik in das Gebiet der unteren Donau, nach Klein-Skythien, und verschwand bald ganz aus dem Gesichtskreis der Byzantiner. Die letzte Nachricht über ihn meldet, daß er sich den Kriegsplänen Dengiziks, die gegen das Reich gerichtet waren, widersetzte. Über sein weiteres Schicksal unterrichtet uns das altbulgarische Königsregister, das um 765 auf Grund der Aufzeichnungen des 7. Jahrhunderts über die bulgarischen Könige angefertigt wurde. An der Spitze dieser Ahnenreihe steht Irnik, Avitochols (Attila) Sohn, als der Ahne der bulgarischen Dschulo oder Dschula (ogurisch: Gyula)-Dynastie. Nach der Zeitrechnung dieses Registers fällt der Zeitpunkt von Irniks Thronbesteigung genau in die Epoche von Attilas Söhnen und in die Zeit, da die ogurischen Völker Gesandte nach Byzanz schickten. Die ogurischen Völker — Saraguren, Onoguren, Tukurguren — schickten, obwohl sie früher Untertanen der hunnischen Könige gewesen waren, von sich aus eine bündnisheischende, Frieden erbittende Gesandtschaft zum oströmischen Kaiser, als sie zum Schwarzen Meer und zum Kaukasus vordrangen. Dengizik, der zu dieser Zeit sich schon auf den großen Balkanfeldzug (468—469) vorbereitete, sah dieses selbständige Unterfangen sehr ungern. Das byzantinisch-ogurische Bündnis bedrohte die sinkende Macht der Hunnen mit ernster Gefahr. Zur Zeit eines Feldzuges — wenn das Hauptheer gerade fern der Heimat weilte — konnte sich diese Gefahr zu einer Katastrophe auswachsen. Deshalb hat Dengizik, nach dem Beispiele Motuns und

TAFEL

Bild i .

Hunnischer Opferbronzekessel.

(Ung.

Nat.-Mus.)

i

TAFEL x

Bild 2.

Schmuckstücke eines ungarischen Führers der Landnahmezeit. (Mus. zu Nyiregyhäza.)

Das hunnisch-bulgarische Reich Irniks

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Attilas, die ihre eigenen Familienmitglieder an die Spitze der verbündeten Völker gestellt hatten, seinen Bruder Irnik, der zur Friedenspartei gehörte, an die Spitze der Oguren gesetzt. Irnik zog mit seinen Hunnen von der unteren Donau in das Don-Gebiet, um als Führer des ogurischen Völkerverbandes die nach dem Balkan vordringenden Truppen gegen einen Rückenangriff zu sichern. Ob Irnik so an die Spitze der Oguren gekommen ist oder nach dem Tode Dengiziks nach der Übernahme der Hauptmacht, ist unbestimmt, sicher ist nur, daß er der Begründer der bulgarischen Macht des 5.—7. Jahrhunderts war. Die katastrophale Niederlage und der Tod Dengeziks, die Vernichtung der Elite des hunnischen Heeres (469), war ein furchtbarer Schlag für die durch Bruderkriege und dauernde Kämpfe schon recht geschwächten Hunnen. Obwohl die Führung auch weiterhin in den Händen der hunnischen Dynastie verblieb, wurde das hunnische Volk doch ganz von dem an Zahl viel stärkeren Volke der Oguren aufgesogen. Irnik und seine Nachfolger haben ihre Macht nicht mehr auf die eigentlichen Hunnen, sondern auf die Oguren, die von den Schauplätzen der großen westlichen Kämpfe entfernt lebten und infolgedessen auch nur wenig Blutverluste gehabt hatten, gegründet. Sie sind von nun an keine Hunnenkönige mehr, sondern die Beherrscher der mit den Hunnen aus dem Wolga-Don-Dnjestr-Gebiet vermengten ogurischen Völker. Die aus hunnischem Blute stammenden Beherrscher dieses „bulgarischen" oder „Mischvolkes", die Nachfolger Irniks also, konnten eine Zeitlang die Einheit des hunnisch-bulgarischen Reiches am Don aufrechterhalten, und so benennen die byzantinischen Schriftsteller in dieser Zeit die pontischen Völker mit dem zusammenfassenden Namen „Hunnen" und „Bulgaren". Um 525 schloß Gorda, der König der dem Krimer Bosporus am nächsten wohnenden Hunnen, mit Kaiser Justinian ein Bündnis, ließ sich in Konstantinopel taufen und wollte, nach Hause zurückgekehrt, auch sein Volk bekehren. Aber die götzenanbetenden Hunnen empörten sich auf Betreiben ihrer heidnischen Priester gegen ihn, setzten seinen Bruder Mogyer auf den Thron, und dieser griff die römischen Wachen am Bosporus an und metztelte sie nieder. Erst nach hartem Kampfe gelang es den kaiserlichen Truppen, Mogyer zu schlagen und ihn zum Rückzug zu zwingen. Mogyers Name ist mit dem Volksnamen mogyer > magyar identisch, Gorda scheint aus ogur > ogor, kürzer gur > Gor (pl. On-gur) gebildet zu sein, dessen vollständige Form Ogor-da und Ongor-da lauten kann. Seit 1241 trägt der tatarische Chan Scheiban den Titel eines „Königs von Ungarn" und seinem für den ungarischen Thron bestimmten Sohn und Enkel gab er den Namen Magyar (Madzsar). Einer der Fürsten der Petschenegen aus dem 11. Jahrhundert, die über die Chasaren herrschten, trug den Namen Chasar. Auf die gleiche Weise mögen die Mitglieder von Irniks hunnischer Dynastie, die an der Spitze des onogurischmagyarischen Volkes standen, den Namen Ongorda und Mogyer erhalten 3

Homan,

G e s c h i c h t e des u n g .

Mittelalters

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Uturguren und Kuturguren

haben. Ihr Auftauchen am Ufer der Maeotis und ihre Beziehungen zu dem hunnischen Hause der Dschula und den Bulgaren machen die Annahme wahrscheinlich, daß die ungarische Heldensage in den zusammen mit den Königen Dula (Gyula) und Belar (Bolga) auftretenden Königen Hunor und Mogyer diese historischen Gestalten zu den namengebenden Ahnen des Hunnen- und Ungarn-Volkes erhoben hat. Um die Mitte des 6. Jahrhunderts trat in den Machtverhältnissen eine wesentliche Wandlung ein. Die Macht der Sahiren, die über die Onoguren gesiegt hatten und noch im vierten Jahrzehnt des 6. Jahrhunderts in der Gegend der Wolgamündung, des Kaspischen Meeres und des Kaukasus eine große Rolle gespielt haben, wurde 545 in dem Feldzuge, den der Perserkönig Chosru I. gegen die nördlichen Völker führte, vernichtet. Einige Überreste der Sahiren flüchteten auf die andere Seite des Kaukasus und siedelten sich in den folgenden Jahrzehnten im persischen und römischen Armenien, im Gebiete des Kur-Flusses an. Diesseits des Kaukasus aber verschwindet zu dieser Zeit die Volksbezeichnung „Sahiren" und „Onoguren". An ihrer Stelle beginnt man die Uturguren zu erwähnen. UTURGUREN UND

KUTURGUREN

Das Auftauchen des neuen Namens der Uturguren, der den Namen der Onoguren und Sahiren verdrängte, hängt mit der Niederlage der Onoguren und dem Zusammenbruch der sabirischen Macht zusammen. Der größte Teil des sabirischen Volkes vereinigte sich nach diesem Ereignis mit den Onoguren aus der Kuban-Dongegend zu einem Stammesverband. Eine Folge dieser Vereinigung war das Verschwinden der Namen der Sahiren und Onoguren ( = zehn Stämme) und das Entstehen der in dreißig Stämme gegliederten, aber unter einem Herrscher vereinigten Stammesgemeinschaft der Uturguren ( = dreißig Stämme). Der Name Uturgur hatte kein langes Leben; im 7. Jahrhundert taucht der individuelle Name der Onoguren wieder auf, aber auch die Erinnerung an das einstige Aufgehen der Sahiren ist lebendig geblieben. Die Magyaren kannten noch im 10. Jahrhundert diese Beziehungen. Ihre Gesandten erzählten dem Kaiser Konstantinos, daß ihr Volk einstmals das starke sabirische (Iccßap-roi aaxpaAoi) genannt wurde und daß ihre gegen Persien hin wohnenden Verwandten auch jetzt noch diesen Namen trügen. Zugleich mit dem Namen Uturgur taucht der zur Bezeichnung der Altiagiren gebräuchliche, umfassendere Name Kuturgur ( = Tukurgur = neun Stämme) auf. Es ist offensichtlich, daß unter der Wirkung der Vereinigung von Onoguren und Sahiren auch die beiden Zweige des alten tukurgurischen Verbandes, die in den Quellen seit dieser Zeit nicht mehr erwähnten Altiagiren ( = sechs Stämme) und Ütschoguren ( = drei Stämme), die Vereinigung ihrer

Unter awarischer und türkischer Herrschaft

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Kräfte für nötig hielten und deshalb von neuem in ein engeres Verhältnis zueinander traten. Im Jahre 547 taucht in Byzanz der Name der Uturguren und Kuturguren auf, die früher unter dem Sammelnamen Hunnen und Bulgaren bekannt waren, und kaum einige Jahre später stehen sich die beiden Völker einander gegenüber. Im Jahre 552 schließt Justinianus, empört über den Angriff der Kuturguren, denen unter dem Titel Hilfsgelder ständig Steuern gezahlt wurden, mit Sandil, dem König der Uturguren, ein Bündnis, der nach Überschreiten des Dons einen großen Sieg über die Kuturguren errang. Um 558 hatte der Kaiser einen neuen Zusammenstoß mit den Kuturguren. Ihr Fürst Zabergan brach in Thrakien ein und drang von dort weiter nach Byzanz vor, während sein anderes Heer die griechischen Städte der Krim belagerte. Den Verwüstungen der Kuturguren auf dem Balkan machte der greise Beiisar ein Ende, indem er das Heer Zabergans von den Mauern von Byzanz zurücktrieb, während Sandil mit seinen Uturguren die daheimgebliebenen Kuturguren überfiel. Nachdem deren zurückgelassenes Volk und ihr Hab und Gut vernichtet und geplündert worden waren, wandten sich die Uturguren gegen das heimkehrende Heer. Der Kampf endete mit der völligen Niederlage Zabergans. Das Eingreifen der Awaren jedoch setzte den Kämpfen der beiden Völker bald ein Ende. UNTER AWARISCHER U N D TÜRKISCHER

HERRSCHAFT

In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts errichtete der Chagan Bumin oder Tu-men, der in den chinesischen Annalen unter dem Namen „Tukiu" auftritt und sich selbst in den Kerbschriftinschriften des Orkhon-Gebietes einmal „kök-Türke", Blau- oder Himmelstürke nannte, an den nördlichen Grenzen Chinas ein mächtiges Reich. Diese neue Macht versetzte der seit anderthalb Jahrhunderten in dem Gebiete zwischen Altaigebirge undBalkasch-See blühenden Awarenherrschaft den Todestoß. Die Awaren und ein großer Teil der ihnen untertänigen Völker unterwarfen sich dem türkischen Chagan. Der andere Teil — den die Türken zum Unterschied von den herrschenden Awaren Warkhon (ouapxwv = Awaro-Hunnen ?) nannten — überschritt den Jaik und die Wolga und ließ sich am Ufer dieses Flusses und am westlichen Ufer des Kaspischen Meeres, dem einstigen sabirischen Gebiet, nieder. Im Jahre 558 baten sie den Herrscher der ihnen am Kaukasus benachbarten Alanen, bei Kaiser Justinianus für ihre Gesandten eine Audienz zu erwirken. Die römischen Kaiser schlössen seit dem 6. Jahrhundert häufig Bündnisse mit den jenseits ihrer unmittelbaren Nachbarn wohnenden Barbarenfürsten, die sie auf Grund ihres Prinzips: „divide et impera" gegen die die Sicherheit des Kaiserreiches gefährdenden, benachbarten Barbaren verwandten. Sie 3*

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Unter awarischer und türkischer Herrschaft

schützten so mit fremdem Blut und fremden Kräften die Sicherheit ihrer eigenen Grenzen und schwächten dabei gleichzeitig die Kräfte sowohl der Verbündeten wie der feindlichen Barbaren. Diese Politik hatte Justinian zu einem System entwickelt. Er zahlte den Fürsten der benachbarten Völker eine ständige Beihilfe, gleichsam einen Sold, damit sie sein Reich in Frieden ließen, den entfernteren aber zahlte er, damit sie jene beunruhigten. In den ersten Jahren seiner Herrschaft benutzte er so die Sahiren gegen die auf Seiten der Perser stehenden Onoguren, die die Provinzen des Kaukasus beunruhigten, später die aus der sabirisch-onogurischen Vereinigung entstandenen Uturguren gegen die Kuturguren. So wollte er auch die ein Bündnis erbittenden Awaren gegen die Kuturguren und gegen die nach dem Siege gefährlich werdenden uturgurischen Verbündeten ausspielen. Nach Menander „glaubte er, ob die Awaren siegten oder unterlagen, das Endergebnis in beiden Fällen für ihn nur von Vorteil sein könne". Aber der große Diplomat irrte sich diesmal, denn er hatte nicht mit der Macht der Awaren gerechnet. Er hatte nicht erkannt, daß er es diesmal nicht mit einem der seit hundert Jahren im Gebiet des Don und der Wolga seßhaften und an die Heimat sich klammernden bulgarischen Völker zu tun hatte, sondern mit einem Volk, das sich vor einem mächtigen Feinde auf der Flucht befand und weit nach Westen vorstoßen wollte. Er nahm die Worte des awarischen Gesandten Kandik nicht ernst, der ihm nicht nur ein Bündnis anbot, sondern auch Land von ihm verlangte, wo sich sein Volk ansiedeln könne. Sein Irrtum rächte sich. Der awarische Chagan nützte dieses Bündnis zu seinem eigenen Vorteile aus und nahm, anstatt die Feinde des Reiches — die Kuturguren — im Zaune zu halten, sehr schnell die Huldigungen Zabergans an, schloß mit ihm ein Bündnis und unterwarf mit seiner Hilfe die zwischen Wolga und Don siedelnden Saragur-Barsilen und Uturguren und die zwischen Dnjepr und Dnjestr lebenden Anten, um dann bis in die Nachbarschaft des römischen Reiches vorzudringen. Der Chagan Bajan schickte im Jahre 562 schon aus dem Gebiete der unteren Donau — dem späteren Etelköz — seine Gesandten zum Kaiser, ein zur Niederlassung geeignetes Gebiet zu erbitten. Justinian verhandelte mit ihnen über die Überlassung von Pannonia Secunda, das seit der Abwanderung der Heruler und Ostgoten unbevölkert war. Ob er ernstlich daran dachte, die Awaren als Gegengewicht gegen die erst vor kurzem nach Pannonien eingedrungenen Longobarden und die bis zur Donau sich ausbreitenden Gepiden zwischen diesen Völkern und dem Reich anzusiedeln oder ob er nur Zeit gewinnen wollte, wissen wir nicht, sicher aber ist, daß die Verhandlungen ergebnislos blieben. Seit dieser Zeit standen die Awaren dem römischen Reiche feindlich gegenüber. Vorläufig aber verwandten sie ihre Kräfte zu anderem. Nachdem sie die nördlich und westlich der Karpathen wohnenden Slawen

Unter awarischer und türkischer Herrschaft

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der Weichsel-, Elbe- und Oder-Gegend unterworfen hatten, strebten sie nach Westen. Mehrere Male drangen sie bis zum Rhein vor und maßen dort ihre Kräfte mit Sigebert I., dem König der austrasischen Franken. Diese Kriege haben nach Sigeberts Niederlage (566) zu einem awarisch-fränkischen Bündnis geführt. In derselben Zeit brach mit ganzer Kraft der Kampf zwischen den schon seit 20 Jahren in Pannonien ansässigen Longobarden und ihren Nachbarn, den Gepiden, aus. Kunimund, der König der Gepiden, wurde von Justin II. unterstützt, während der Longobarde Alboin sich an Bajan um Hilfe wandte. Der awarische Chagan nahm das Bündnis an, aber im Falle eines Sieges forderte er das Land der Gepiden bis zur Donau-Linie für sich. Der große Kampf wurde um 567 entschieden. Die Gepiden wurden vernichtet, der König fiel, sein Land fiel in die Hände der Awaren, der Rest seines Volkes gelangte unter die Herrschaft des Chagans. Ein Jahr später besetzte Bajan auch das Gebiet der nach Italien ziehenden Longobarden und begründete auf dem Gebiete Ungarns das zwei Jahrhunderte hindurch blühende Awarenreich. Kaiser Justin II. sah sich gezwungen, die schmachvollen Friedensbedingungen des mächtigen Barbaren (570) anzunehmen und sich zur Zahlung einer Unterstützung von jährlich achtzigtausend Goldstücken zu verpflichten. Mit der Besetzung Pannoniens war Attilas einstiges Reich fast in seiner ganzen Ausdehnung unter die Herrschaft des awarischen Chagans gekommen. Sein Reich erstreckte sich von der Elbe, den Alpen und dem Savetale bis zum Don. Er beherrschte die das Gebiet der unteren Donau, des Dnjestr und des Dnjepr bewohnenden und die aus dem heutigen böhmisch-mährischen Gebiet in das Donau-Gebiet herübergesiedelten Slawen, die zwischen Dnjepr und Don wohnenden Kuturguren samt den Resten der in das Theiß-DonauGebiet verschlagenen Kuturguren und Uturguren, aber die Uturguren aus dem Don-Kuban-Gebiet (Onoguren) gehörten nicht mehr unter seine Oberhoheit. Targit, der awarische Gesandte, der sich um 568 in Byzanz aufhielt, erwähnt unter den Untertanen Bajans noch die Uturguren, aber gegen Ende desselben Jahres finden wir die Völker des „uturgurischen" Stämmebündnisses schon unter türkischer Herrschaft. In dieser Zeit stand das köktürkische Reich auf der Höhe seiner Macht. Chagan Turnen (546—552) und dessen Bruder, der über die westlichen Gebiete herrschende Istemi (553—576), breiteten die Grenzen des Reiches bis zum Meerbusen von Korea und dem „westlichen Meere", d. h. bis zum Pontus aus. Istemi — nach griechischen Quellen Chagan Dizabul (Silzibul) — kämpfte um 562 schon an den östlichen Ufern des Kaspischen Meeres mit den sog. Weißen Hunnen (Hephthaliten). Nach glücklicher Beendigung dieses Krieges wollte er seine nach Westen geflohenen Untertanen, die europäischen Awaren, angreifen. Um 568 überquerte er mit seinen Truppen die Wolga,

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Das onogurisch-bulgarische Reich Kurts

griff die Alanen, Uturguren und den König von Kolchis an, die nach einem heldenhaften und erbitterten Kampf sich den Türken unterwarfen. Während der von 568 bis etwa 620 dauernden türkischen Herrschaft wurden die mit den Sahiren vereinigten Onoguren (Uturguren) von einem von den westlichen türkischen Chaganen eingesetzten Fürsten beherrscht. Der Name des einen wurde auch aufgezeichnet, nämlich der Name des uturgurischen Fürsten Anagai, der um 576 an der Belagerung von Bosporus teilgenommen hat. Hierbei hören wir zum letzten Male den Volksnamen der Uturguren. In demselben Jahr noch werden sie im Gefolge der Alanen wieder unter dem Namen Onoguren erwähnt, und von dieser Zeit ab wird die Bezeichnung Türke (ToüpKoi) als politischer Sammelname auch auf die Onoguren als auf ein unter türkischer Herrschaft stehendes Volk angewandt. Unter diesem Namen werden auch die Onoguren aus dem Kaukasus-Kuban-Gebiet in dem suanischen Feldzuge des Kaisers Maurikios vom Jahre 586 erwähnt. In derselben Zeit verschwindet der kuturgurische Name der jetzt schon unter awarischer Herrschaft lebenden und teilweise nach Pannonien gezogenen tukurgur-bulgarischen Stämme, um endgültig dem Sammelnamen „Bulgare" zu weichen. Schon im Jahre 597 werden die Kuturguren unter diesem Namen erwähnt und seit dieser Zeit wird die Bezeichnung Bulgare allgemein gebraucht. Die uturgurischen und kuturgurischen Stammesverbände verschwanden nach dreißigjähriger Existenz von der Bühne der Weltgeschichte. Die Völker selbst warteten unter türkischer, beziehungsweise awarischer Herrschaft auf eine Besserung ihres Schicksals. Diese Wendung trat um 620 ein. DAS O N O G U R I S C H - B U L G A R I S C H E REICH

KURTS

Dank der Wühlarbeit der chinesischen Diplomatie trat gegen Ende des 6. Jahrhunderts im Innern des asiatischen Türkenreiches derselbe Zerfallsprozeß ein, der im 1. Jahrhundert zum Fall des mächtigen Hunnenreiches geführt und die hunnischen Völker gezwungen hatte, nach Westen zu ziehen. Die Fürsten, die die einzelnen Provinzen des ausgedehnten Reiches beherrschten, empörten sich — wie einst die hunnischen Teilkönige — gegen den Hauptkönig, dem es zwar 597 gelang, die Empörung zu unterdrücken, der aber den Zerfall nicht mehr aufhalten konnte. In den folgenden drei Jahrzehnten entfernen sich die Ost- und West-Türken immer mehr voneinander und die an der Mündung der Wolga zeltenden Stämme des westlichen türkischen Reiches beginnen von dieser Zeit ab unter dem Namen Chasaren eine selbständige Rolle zu spielen. Ihr Oberhaupt greift um 589 vom Kaukasus aus Persien an, während die türkischen Truppen Khorassan und die Byzantiner die westlichen Provinzen Persiens bedrängen. Trotzdem erkannte der chasarische Chagan bis 630 die Oberhoheit des westlichen türkischen Chagans an. Der

Das onogurisch-bulgarische Reich Kurts

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Bruch wurde erst dann vollständig, als die West-Türken, die den Unterwerfungsbestrebungen der seit 619 in China herrschenden Tang-Dynastie nicht mehr Stand halten konnten, sich dem chinesischen Kaiser unterwarfen und später unter tibetanische und arabische Herrschaft gelangten. Die inneren Wirrnisse des Türkenreiches haben die Onoguren unter der Führung eines hervorragenden Nachkommen des Irnik zu ihrem eigenen Vorteil ausgenutzt. Die Onoguren (Uturguren) waren vor dem Erscheinen der Türken zwanzig Jahre hindurch die Verbündeten des Kaisers von Byzanz gegen die Bulgaren (Kuturguren). Zur Zeit des Kaisers Herakleios (610—641) wurde dieses Verhältnis ein noch engeres. Der dem hunnischen Gyula-Geschlecht entstammende onogurische Fürst Kurt (619—678) hielt sich als Geisel längere Zeit in Konstantinopel auf, ließ sich dort 619 taufen und hielt mit dem Kaiser ein freundschaftliches Verhältnis aufrecht. In seine Heimat, nach Onogurien, zurückgekehrt, entriß er der von der Gnade des türkischen Chagans abhängigen Ermi-Sippe die Macht. Er befreite seine Untertanen von der türkischen Herrschaft, bekehrte wenigstens einen Teil zum Christentum und diese den Alanen benachbarten Bulgaren und Uguren (nämlich die Onogur-Magyaren) bleiben — wie in der Chronik des syrischen Patriarchen Michael berichtet wird — bis zu ihrer Unterwerfung durch die Chasaren (um 680) auch tatsächlich Christen. Im Jahre 626, als Herakleios im Bündnis mit den Chasaren seinen entscheidenden Kampf gegen den persischen König Chosru II. führte, waren die KuturgurBulgaren noch nicht die Untertanen des kaiserfreundlichen Kurt. Diese werden unter dem Namen Bulgaren im Gefolge der Awaren unter den Verbündeten des persischen Königs erwähnt. Zusammen mit den Awaren plünderten sie die Balkanprovinzen des Kaisers. Ihre Unterwerfung muß ein Jahrzehnt später um 630—635 erfolgt sein, als Herakleios und Kurt, ihr altes Bündnis besiegelnd, in eine enge Waffenbrüderschaft traten. Dieses Bündnis richtete sich einerseits gegen die dem Kaiser viel Schaden und Sorgen verursachenden Awaren, andrerseits gegen die mohammedanischen Araber, die das SassanidenReich unterworfen hatten und im Jahre 636 schon die kaukasischen Provinzen — Armenien und Asserbeidschan — eroberten. Das Ergebnis dieses Bündnisses war die Unterwerfung der Bulgaren und die Vereinigung der Onoguren, Kuturguren und Saragur-Barsilen in einem Reiche, dem onogurisch-bulgarischen Reiche Kurts. Kurt stellte zwischen 630 und 635 das im Don-Gebiet liegende Bulgarenreich seines Ahnen Irnik, des Sohnes Attilas, wieder her. Er hatte jedenfalls auch seine Hand im Spiel gehabt bei der Empörung der pannonischen Onoguren und Bulgaren, die sich nach einem Herrscher aus eigenem Blute sehnten und dabei sicherlich an Kurt dachten. Sein Ziel war — so scheint es — die Wiederherstellung des Reiches seines Ahnen Attila. Einer seiner Gesichts-

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Der Zerfall des Onogurenreiches

punkte war wohl auch der Gedanke einer Abwanderung aus der Nähe der zwar in ihrer Macht geschwächten, aber noch immer gefährlichen Türken (Chasaren) und der die Gegend des Kaukasus beunruhigenden Araber. Sein Bestreben fand Verständnis und Billigung bei seinem kaiserlichen Bundesgenossen, der — da er ohnehin im Osten beschäftigt war — sicherlich lieber den ihm verbündeten, christlichen Kurt im Besitze Pannoniens und Dakiens gesehen hätte als den dem Reich so viel Sorgen und Schaden verursachenden awarischen Chagan. Aber der Aufstand endete ergebnislos. Die Awaren verloren zwar ihre Provinzen westlich des Marchfeldes und des Wiener Walds und östlich der Karpathen, aber sie siegten über das ihnen tributpflichtige bulgarische Volk im Donau-Theiß-Gebiet. Von diesen wurden zehntausend Familien aus Pannonien vertrieben, nachdem schon im Jahre 630 neuntausend Menschen, die nach Bayern geflüchtet waren, niedergemetzelt worden waren. Die vertriebenen Familien retteten sich unter Alsiks Führung zu den karantanischen Slawen (Slowenen), und nachdem sie hier viel Unbill erlitten hatten, zog ein Teil von ihnen um 665 nach Oberitalien. DER ZERFALL DES

ONOGURENREICHES

Mit dem Siege der Awaren wurden Kurts Pläne zunichte gemacht. Später — so scheint es — verhinderten ihn die Kämpfe mit den Arabern an seinen westlichen Unternehmungen. In den Kämpfen um Baiandschar in den Jahren 640—650 glauben wir unter den mit den Chasaren kämpfenden Türken Kurts Onoguren zu erkennen. Einige Jahrzehnte später zerfiel sein Reich infolge des Angriffs der zu den Völkern des westlichen Türkenreichs gehörenden Chasaren. Die Chasaren, die zwischen 670 und 680 aus dem Gebiete des Jaik und der Wolga aufgebrochen waren, nahmen die Ostprovinzen des Reiches Kurts, der um diese Zeit starb, in Besitz, um sich dann nach Westen zu wenden, den Don zu überschreiten und ihr von nun ab dreieinhalb Jahrhunderte blühendes Reich zu begründen. Der Zerfall von Kurts Reich und das Entstehen der chasarischen Macht trennte die seit Jahrhunderten in unmittelbarer Nachbarschaft und oft in engem politischem Bündnis lebenden bulgarischen Völker voneinander. Die Onoguren, an deren Spitze — wie die späteren byzantinischen Historiker melden — Kurts Sohn Bat-Bajän stand, wurden gezwungen, dem chasarischen Chagan zu huldigen. Der andere Sohn, Isperich, zog an der Spitze derKuturgur-Bulgaren zuerst in das Gebiet zwischen dem Dnjepr und der unteren Donau, um dann, nachdem er im Jahre 679 vom Kaiser die Erlaubnis zur Ansiedlung erhalten hatte, die Donau zu überschreiten, die in östlicher Nachbarschaft der Serben wohnenden slawischen Sippen zu unterwerfen und das balkanbulgarische Reich zu begründen. In das verlassene Gebiet zogen die den Don überschreitenden

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onogurischen Stämme ein. Der dritte Zweig der Bulgaren, die Saraguren, zogen sich nordwärts, in das Gebiet nördlich der Städte Samara und Pensa zurück, ein Gebiet, das von Wolga, Kama und Sura umschlossen wurde und wo wir nach Jahrhunderten noch den Barsil-Stamm der Wolga-Bulgaren finden. Die Vorfahren der links der Wolga wohnenden Bulgaren und Esgelen haben sich gleichzeitig mit den Barsilen in das Gebiet nördlich der Flüsse Kama, Wjatka, und Bjelaja zurückgezogen. Seit dieser Zeit trennt sich die Geschichte der in ein verschiedenes Milieu und unter verschiedenen Kultureinfluß geratenen drei Völker, ihre wirtschaftliche und geistige Kultur, ja sogar ihre Rasseeigentümlichkeiten entwickeln sich in verschiedener Richtung. Die Donaubulgaren, die in unmittelbarer Nachbarschaft des oströmischen Reiches angesiedelt wurden, schließen sich bald an den griechisch-slawischen Kulturkreis des Balkans an und da sie sich mit ihren an Zahl ihnen weit überlegenen slawischen Knechten vermengten, werden sie während dreier Jahrhunderte zu Christen und völlig slawisiert. An ihrem Staatsgebilde, ihren Bräuchen und an den einzelnen Individuen sind auch noch später die Merkmale ihrer ursprünglichen Rasse zu erkennen, aber ihre bulgarisch-türkische Sprache haben sie schon im 10. Jahrhundert endgültig mit der slawischen vertauscht. Das Ackerbau und Handel treibende Volk der Wolga-Bulgaren, das sich zwischen die zur Feldarbeit wenig geeigneten, mit der Reitkunst und militärischen Tugenden nicht sehr vertrauten, waldbewohnenden Finnougrier gedrängt hatte, lernte im 9. Jahrhundert durch arabische Kaufleute, dann durch Missionare den Islam kennen und schloß sich dem mohammedanisch-arabischpersischen Kulturkreis an. Ihre Nachkommen, die unter tatarischer, später russischer Herrschaft standen, leben auch heute noch unter dem Namen Tschuwaschen in der Wolga-Gegend. Die Onoguren haben, trotzdem sie in ihrer Heimat an der Mäotis seit den ältesten Zeiten mit den Byzantinern in freundschaftlichen Beziehungen gestanden hatten und obwohl die christlichen Lehren bei ihnen zuerst auf fruchtbaren Boden fielen, nämlich in der Zeit Gordas und Kurts, trotz ihrer finnougrischen Sprache am treuesten den ogurischen Charakter ihrer alten Kultur bewahrt. Diese Kultur erweiterte sich im 6.—9. Jahrhundert dank der Nachbarschaft und der ständigen Berührung mit den iranischen (alanischen und persischen), byzantinischen und arabischen Kulturelementen, aber diese fremden Kultureinflüsse wurden durch die sich immer wiederholenden türkischen Einflüsse ausgeglichen. Da sie im 1.—4. Jahrhundert mit den Hunnen, zur selben Zeit und später bis zum Ende des 7. Jahrhunderts mit ihren ogurischen Verwandten, vom 5. Jahrhundert ab mit den Sahiren und dann von der Mitte des 6. Jahrhunderts mit den Türken (Chasaren) in Nachbar-

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Unter chasarischer Herrschaft

schaft und enger politischer Verbindung lebten, hat sich ihre Kultur auch mit neuen türkischen Elementen bereichert. Zur Zeit des uturgurischen Bündnisses vermischten sie sich mit den Sahiren, die eine ausgesprochen türkische Kultur besaßen, während der langen türkisch-chasarischen Herrschaft aber mit anderen türkischen Volkselementen. Dieser ständigen Berührung und Vermischung ist es zuzuschreiben, daß sie, während ihre bulgarischen Verwandten auf dem Balkan und an der Wolga sich schon im 8. Jahrhundert an fremde Kulturkreise angeschlossen hatten, auch weiterhin zu dem osteuropäischen, eigenartig bulgarisch-türkischen Kulturkreis gehörten. Ein Zweig von ihnen, die Beschguren ( = fünf Stämme), wurde — vielleicht schon zur Zeit des chasarischen Einfalls — nach Nordosten gedrängt und ließ sich in der Nachbarschaft der Wolga-Bulgaren am rechten Ufer des Jaik-Flusses nieder. Die mit den Tataren vermischten Nachkommen dieses onogurischen Volksrestes sind die heutigen Baschkiren. UNTER CHASARISCHER

HERRSCHAFT

Die Chasaren siedelten an der Wolga-Mündung und an den westlichen Ufern des Kaspischen Meeres, dem einstigen sabirischen Gebiet. Ihr Chagan ließ sich mit seinem Stamme im Delta der unter dem Namen Atil oder Itil erwähnten Wolga auf der Insel, die von den Armen des Flusses und vom Meer gebildet wird, nieder. Die nach dem Fluß Itil, bei anderer Gelegenheit Kasara, Alkasar ( = chasarische Stadt) oder Chamlik ( = Wohnung des Chan) genannte Hauptstadt, die von den Flußarmen in drei Teile geteilt wurde, ist laut persischen Überlieferungen von dem Perserkönig Chosru I. (531—578) erbaut worden. Die Stadt hatte dieselbe Bestimmung wie die griechischen Städte am Schwarzen Meer, sie war die Vermittlungsstation für den auf dem Wasserwege über die Wolga und das Kaspische Meer gehenden Pelz- und Häutehandel aus dem Norden. Außer der Hauptstadt lagen noch zwei andere Städte an den Ufern des Kaspischen Meeres. Nördlich von der arabischen Grenzfestung al-Bab wal-Abwab lagen die früher unter persischer, später unter sabirischer Herrschaft stehenden Städte Semender und Baiandschar. Baiandschar war der Sitz des Führers der südlichen Truppen, der nach dem Chagan der Hauptwürdenträger des Landes war. Ihre vierte Stadt war die am unteren Laufe des Don am Endpunkte des von den Slawen kommenden Wasserhandelsweges schon auf onogurischem Gebiete erbaute „weiße Burg", türkisch Sarkel oder Sarischen, arabisch al-Baida, russisch Belawasa genannt, die zur Zeit Kaiser Theophils (829—842) mit Hilfe der von ihm erbetenen Baumeister zu einer mächtigen Festung ausgebaut wurde. Wahrscheinlich war dies das ständige Hauptquartier der chasarischen Truppen, die die Onoguren im Zaume hielten. Im Süden breitete sich das

Das Chasarenreich

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Reich bis zu den arabischen Grenzfestungen im Kaukasus und den griechischen Besitzungen der Krim aus, östlich erstreckte es sich bis zum Jaik-Fluß, im Norden bis zum Siedlungsgebiet der Wolga-Bulgaren, nordwestlich und westlich aber bis zum Dnjepr. Für die Größe des Reiches ist bezeichnend, daß die Araber bis zum Ende des 9. Jahrhunderts das Schwarze Meer als chasarisches Meer bezeichneten; mit dem Zerfall ihrer Macht aber ging dieser Name auf den Kaspisee über. Die Bewohner dieses mächtigen Reiches waren nur zum kleineren Teile Chasaren. In ihrem Verbände lebten die onogurischen und sabirischen Stämme, weiter die am Nordabhang des Kaukasus lebenden iranischen und kaukasischen Völkerreste, dann die Burtassen rechts der Wolga und die slawischen Stämme aus dem Dnjepr-Donez-Gebiet und im 9. Jahrhundert gab es unter den Einwohnern der Hauptstadt viele andre Fremde. DAS

CHASARENREICH

Die Chasaren treten als ein Reiter-, Krieger- und Hirtenvolk mit typisch türkischer Kultur auf. Im 8. Jahrhundert waren sie die Erben und Erhalter der alten hunnisch-türkischen kriegerischen Traditionen in Europa. Ihre Plünderungen und Streifzüge und ihre systematischen Kriegszüge beunruhigten bis zum Ende des 8. Jahrhunderts die arabischen Provinzen des Kaukasus und nicht selten drangen sie bis in das Herz des Kalifenreiches vor. Die gegen den Islam geführten Kämpfe haben den chasarischen Chagan zum natürlichen Verbündeten des byzantinischen Kaisers gemacht, dessen östliche Provinzen die Araber zum Teil schon besetzt hatte, zum anderen Teil ernsthaft gefährdeten. Von 680 bis zum Ende des 8. Jahrhunderts häufen sich die Kriegszüge der mit Byzanz verbündeten Chasaren, die die kaukasischen Provinzen der Araber verwüsten und plündern. Um 799 führen sie noch einen empfindlichen Schlag gegen das nördliche Heer des Kalifen. Damit aber finden die großen militärischen Unternehmungen ein plötzliches Ende und ein Jahrhundert später sind die Nachkommen dieser verwegenen Krieger schon friedliche Kaufleute und Ackerbauer geworden. Diese Umwandlung war die Folge eines fremden Einflusses und der geographischen Lage. Die den Chasaren benachbarten bulgarischen Völker waren seit Urzeiten durch ihren Pelz- und Häutehandel berühmt. Bei den ogurischen „Pelzhändlern" entwickelte sich die ursprünglich auf die Befriedigung der täglichen Bedürfnisse gerichtete Jagd schon in den Jahrhunderten vor Christi zum regelrechten kaufmännischen Erwerbszweige. Diese Handelsbetätigung stand bei den onogurischen und den — früher unter saragurisch-bulgarischer Herrschaft stehenden — burtassischen Untertanen des chasarischen Chagans und den nördlich benachbarten Wolga-Bulgaren in vollster Blüte. Die Felle des schwarzen und roten Burtas-Fuchses und das bulgarische Leder (Bagaria)

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Das Chasarenreich

waren weithin ein gesuchter Handelsartikel. Außer mit Tierhäuten handelten die Bulgaren noch mit Honig, Wachs und Mehl. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts ließen sich nordwestlich von den Wolga-Bulgaren, an der oberen Wolga und in der Gegend der großen Seen, die von den skandinavischen Warägern stammenden Normanno - Russen nieder und begannen einen lebhaften Handel mit den benachbarten und entfernteren Völkern. Ihre Haupthandelsartikel waren das Biberfell, das Schwarzfuchsfell und das zweischneidige, gerade Warägerschwert. Die Onoguren brachten ihre Waren, Marder- und Fuchsfelle, Getreide, Wein und Sklaven in die ihnen unmittelbar benachbarten griechischen Städte am Pontus und der Krim. Die Waren der Russen, Bulgaren und Burtassen gelangten auf den Karawanenwegen, die zur Krim, nach dem Kaukasus und nach Chowaresm führten, sowie auf dem Wasserwege der Wolga und des Don nach dem Süden. Der Weg der Russen und Bulgaren, die aus dem Norden Waren brachten, und der Weg der arabischen, persischen, griechischen und jüdischen Kaufleute, die kamen, um diese Waren einzuhandeln, führte durch das Reich der Chasaren, und so wurden die Städte an der Mündung des Don und der Wolga — Itil und Sarkel — die Knotenpunkte und gleichzeitig die Marktplätze des nördlichen Handels. In diesen Städten tauchen unter den Chasaren recht früh fremde — christliche, jüdische, persische und mohammedanische — Kaufleute und Gewerbetreibende auf, ja einige waren schon vor den Chasaren in den alten persischen bzw. griechischen Siedlungen ansässig gewesen. Gegen Ende des 8. Jahrhunderts kommt eine größere jüdische Kolonie nach Itil, der später eine Menge von mohammedanischen, arabischen und persischen Händlern folgen. Die Chasaren, die dem Handel bisher gleichgültig gegenübergestanden hatten, wurden mit den Vorteilen des Umschlagshandels und den Annehmlichkeiten des Stadtlebens bekannt. Der Herrscher und die Vornehmen erkannten, wie man den im eigenen Lande sich abwickelnden Handel der Staatskasse nutzbar machen und mit den aus dem Süden kommenden Handelsartikeln das Leben luxuriöser und die Hofhaltung prächtiger gestalten konnte. Das durch den Vermittlungshandel leicht verdiente, sichere Einkommen ließ viele Chasaren zu Händlern werden, während andere von den Erträgnissen des Ackerbaues lebten. Im Gebiete Baiandschars und Semenders wurde Gartenbau und Weinkultur getrieben. Die arabischen Reisenden des 9. und 10. Jahrhunderts berichten mit großer Anerkennung von den gut gepflegten Weingärten, während sie die die türkischen Völker kennzeichnende Hirtenwirtschaft nicht einmal der Erwähnung für wert halten. In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts war die Hauptbeschäftigung der auf 20000 Einwohner angestiegenen Bevölkerung der zu einem mächtigen Handelzentrum gewordenen chasarischen Hauptstadt Handel und Ackerbau, während die Weidewirtschaft vollständig vernachlässigt wurde.

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Der Zerfall der Chasarischen Macht

Gleichzeitig mit der wirtschaftlichen Umwandlung trat auch eine seelische Veränderung ein. Die in Religonsfragen ziemlich gleichgültigen türkischen Völker besaßen zu dieser Zeit schon eine große Empfänglichkeit für monotheistische Offenbarungsreligionen. Schon seit dem 6. Jahrhundert gab es unter ihnen Anhänger des Christentums. Um die Wende des 9.—10. Jahrhunderts werden auch unter den Einwohnern der chasarischen Hauptstadt viele Christen erwähnt, wenn auch die seit dem Ende des 7. Jahrhunderts mit schönem Erfolg in Angriff genommene Christianisierung auf viele Schwierigkeiten stieß. Vom Kaukasus und Chovaresm drang die Lehre Mohammeds zu den türkischen Völkern und fand in der Seele der morgenländisch-fatalistischen und kriegerischen türkischen Völker einen starken Widerhall. Aber bei den Chasaren konnte sie keinen vollständigen Erfolg erringen. Die Mohammedaner, die anläßlich des 873 erfolgten Angriffes der Petschenegen in größerer Zahl aus Chovaresm gekommen waren, mußten hier nicht gegen das gleichgültige Heidentum und nicht gegen das mit Christi Waffen kämpfende Christentum zu Felde ziehen, sondern gegen das fanatische Judentum, das im 8. Jahrhundert schon den Chagan und die Vornehmen zu seinem Glauben bekehrt hatte. Der Kampf der semitischen Religionen, die den „Glaubenslosen" verachteten und ihn erbarmungslos aus der Gemeinschaft ausstießen, blieb unentschieden. Das chasarische Volk zerfiel in religiöser Hinsicht, und die religiösen Gegensätze verursachten bisher unbekannte gesellschaftliche, stammesmäßige und politische Gegensätze zwischen dem herrschenden Element und den Untertanen. DER ZERFALL DER C H A S A R I S C H E N

MACHT

Das Bauern- und Hirten-Volk des Landes blieb dem heidnischen Glauben seiner Ahnen treu, aber der Chagan und sein Hof lebten seit dem Ende des 8. Jahrhunderts im jüdischen Glauben. Das Söldnerheer, das in der Hauptstadt nahezu 10000 Mann betrug, war seit 873 mohammedanisch. Die arme Stadtbevölkerung und die mazedonischen und griechischen Kaufleute hingen der christlichen Lehre an. Am Anfang des 10. Jahrhunderts betrug die Zahl der Juden 4000, von denen ein großer Teil eingewanderte semitische Juden waren, bis sich dann die Zahl der Juden um die in der Mitte des 10. Jahrhunderts aus Arabien einwandernden Elemente — angeblich 40000 Familien — vermehrte. Seit der Mitte des 9. Jahrhunderts kamen auch normannorussische Heiden und slawische Kaufleute in die Hauptstadt. Der Chagan wohnte mit den Juden in einem Stadtteil, der im Westen von starken Mauern, im Osten aber von einem Flußarm umgeben war. Das Kriegsdienste leistende und Naturalsteuern zahlende mohammedanische Volk bewohnte den den Steppenvölkern zugewandten östlichen Stadtteil, von wo aus es seit der Mitte des 9. Jahrhunderts seine petschenegischen Nachbarn syste-

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Der Zerfall der chasarischen Macht

matisch beunruhigte. In einem anderen Stadtteil wohnten die heidnischen Russen und Slawen und wieder in einem anderen die Christen. Die verschiedenen nach Religion, Stamm, Wohnort gesonderten Gruppen lebten nach ihren eigenen Gesetzen. Von den neun Richtern der Hauptstadt richteten zwei nach den Gesetzen der jüdischen Thora, zwei nach denen des Koran, zwei nach christlichen Gesetzen, zwei nach dem alten chasarischen Gewohnheitsrecht und einer nach den Gesetzen der Russen und Slawen. Infolge der nationalen, religiösen und gesellschaftlichen Gegensätze waren Zwistigkeiten an der Tagesordnung und die Durchführung des Willens der Zentralgewalt stieß auf große Schwierigkeiten. Der Chagan und die Vornehmen stützten sich in ihrer Herrschaft auf die mohammedanischen Söldner, die — durch ihren Glauben — mit stärkeren Banden dem arabischen Erbfeind des chasarischen Reiches verbunden waren als ihren eigenen jüdischen Herrschern und Führern. Von einer Fortsetzung des Krieges gegen das Kalifat konnte keine Rede sein, denn die mohammedanischen Truppen weigerten sich, gegen die Anhänger des Islams zu Felde zu ziehen. Das mohammedanische Heer hat auch dem Chagan gegenüber seinem Willen Geltung zu verschaffen gewußt, und der Herrscher konnte nur mit Hilfe von Kompromissen sein Ansehen und seine Macht aufrechterhalten. Das Ergebnis des Zusammengehens des jüdischen und mohammedanischen Elementes war die Einstellung des seit Jahrhunderten gegen das Kalifat geführten Krieges. Die jüdische herrschende Klasse hielt, auf die fremden Mohammedaner gestützt, die christlichen und heidnischen Chasaren im Zaum. „Wenn sich die Mohammedaner und Christen einmal zusammenschließen würden — schreibt Mas'üdi — dann würde der König der Chasaren keine Macht über sie haben." Aber die Zeit einer Verständigung kam niemals, denn das bei Mohammedanern und Juden führende eingewanderte semitische Element, vor allem die Priester, eiferten ihre Gläubigen zu einer Zusammenarbeit gegen die christlichen und heidnischen Chasaren an. Die Juden und Mohammedaner hatten zwar viele Streitigkeiten, aber den anderen gegenüber waren sie immer solidarisch, wie ja auch die Mauren und Juden des Emirats von Cordoba im Kampf gegen das spanische Christentum einig waren. Die wirtschaftliche und religiöse Umwandlung brachte zwangsläufig auch eine Veränderung des Lebensstils mit sich. Mit dem wachsenden Reichtum und der Niederlassung in der Stadt steigerten sich auch die Ansprüche an Luxus und Bequemlichkeit. Der jüdische Chagan hatte selbst nach orientalischen Begriffen eine prunkvolle Hofhaltung. Mit seinem Harem von 60 Frauen wohnte er in einem mächtigen Ziegelpalast. Sich von seinen in Zelten, Holzhäusern und Lehmhütten wohnenden Untertanen immer mehr abschließend, wurde er zum Sklaven seiner Genüsse und die wirkliche Macht lag in den Händen des Isa oder Chagan Bhu, des Oberbefehlshabers des Heeres, und

Die Befreiung der Onogur-Magyaren

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gegen Ende des 9. Jahrhunderts herrscht der Chagan nur mehr dem Namen nach über seine Völker. Monatelang verläßt er seinen Palast nicht, wo er wie ein Gott verehrt wird und ein verweichlichtes Leben führt. Er trägt nur den Titel seiner tatkräftigen, kriegerischen und politisch begabten Vorfahren, den der die Perser und Araber besiegenden Chagane, aber deren Macht auszuüben, ist er nicht mehr fähig. Aber auch die Sitten und Gebräuche seiner Untertanen machen eine Wandlung durch. Obwohl ihr Wohnhaus — das der Vornehmen ausgenommen — ein primitives Zelt oder ein hüttenartiger Holzbau ist, sind sie doch schon Stadtbewohner geworden. Die Landwirte ziehen im Winter in die Städte, wo sie in den Bazaren, auf den Märkten, in den öffentlichen Bädern Gesellschaft und Zerstreuung finden. Das Leben auf der Steppe, das Krieger- und Hirtenleben wird ihnen lästig, denn es geht auf Kosten der zur Gewohnheit gewordenen Bequemlichkeit. Es ist bezeichnend, daß sie den Kriegsdienst den Fremden überlassen. Die Hauptarmee des Chagans bestand aus 10—15000 mohammedanischen Söldnern, die zum großen Teil aus den chowaresmischen Einwanderern bestanden. Demgegenüber schickten die erst vor kurzem von der chasarischen Herrschaft befreiten Magyaren gegen Ende des 9. Jahrhunderts gewöhnlich 20000, die von den Chasaren unterworfenen Burtassen jedoch 10000 Reiter in den Krieg. Zeitgenossen betonen den Mut der chasarischen Krieger, ihre gute Haltung und ihre Waffen und ihre strenge Disziplin, die die Überläufer mit dem Tode bestrafte. Trotzdem ist es offensichtlich, daß der Chasarenstaat des 9. Jahrhunderts nicht mehr der alte Kriegerstaat ist. Die ständigen Streifzüge hatten aufgehört, das Heer diente nur noch der Verteidigung des Landes und der Abwehr äußerer Angriffe. Der als Folge des wirtschaftlichen Aufschwunges eingetretene Luxus und die religiöse und gesellschaftliche Spaltung führten zum Verfall der Zentralgewalt, zur Schwächung der Kräfte. Ein Zeichen des inneren Zerfalls war die beginnende Organisierung und das Streben nach Selbständigkeit der beiden Völker, die seit anderthalb Jahrhunderten mit dem chasarischem und türkischem Sammelnamen bezeichnet wurden und die den Chasaren unterworfen waren. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts werden zum ersten Male die Nachkommen der vor zwei Jahrhunderten verschwundenen Akaziren unter dem Namen Burtassen erwähnt. Um diese Zeit taucht auch der Name Beschgure (Baschgird), der schon im 5. Jahrhundert zur Bezeichnung eines Stammes der Onoguren verwandt wurde, in der Reisebeschreibung des jenseits des Kaukasus reisenden Dolmetschers Sallam wieder auf (842). Und gleichzeitig erscheinen in der alten Heimat der Onoguren die Ungren oder Magyaren. DIE BEFREIUNG DER

ONOGUR-MAGYAREN

Der Heilige Cyrill, der Apostel der Slawen, begegnete, als er im Jahre 860 eine Reise zum chasarischen Chagan unternahm, in der Gegend von Cherson

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Die Befreiung der Onogur-Magyaren

einer von Osten her kommenden und dort herumstreifenden Gruppe von „Ungren", welche — so scheint es — zum Heere der Chasaren, die zur selben Zeit die griechischen Städte der Halbinsel Krim belagerten, gehörten. Ein arabischer Reisender, dessen Erzählung durch Vermittlung Dsaihanis bei Ibn Rusta, Gardesi und Al-Bekri erhalten ist, hat um 885 die nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres und die nördlich davon liegenden Gegenden bereist. In der Nachbarschaft der an den Ufern des Jaik zeltenden Petschenegen und der Wolga-Bulgaren, also am linken Ufer der Wolga, traf er auf die ersten „Magyaren", offenbar die Ahnen der gegen Norden ziehenden BaschkirMagyaren, die auch Bruder Julian im 13. Jahrhundert in dieser Gegend vorfand. Ihre tatarisierten Nachkommen leben heute noch dort in der Nachbarschaft der von den Bulgaren abstammenden Tschuwaschen. Die übrigen „Magyaren" wohnen nach Angabe des genannten Reisenden am Ufer des Schwarzen Meeres und ihr Land wird im Süden vom Kaukasus begrenzt. Ihre auf den Kriegszügen erbeuteten Gefangenen tauschten sie in der byzantinischen Hafenstadt, in der Stadt Karkh (Cherson) auf der Halbinsel Krim, gegen römische Waren um. Ihr Land wird von zwei Flüssen durchzogen: vom Etül (Itil) und der Duba, von denen der eine größer ist als der DshaihunFluß bzw. als der Amu-Darja. Der Dubafluß ist offensichtlich der 400 Kilometer lange östliche Arm der unteren Wolga, der heutige Ak-Tuba, der tatsächlich größer als der Amu-Darja ist. Der Etül (Itil) ist aber wohl der Don, der von den ungarischen Chronisten und den Tataren der Krim noch im 14. Jahrhundert Etül genannt wurde. Die Araber haben außer derWolga auch den Don Etül genannt, denn sie hielten den Don für eine Abzweigung der Wolga. Kaiser Konstantinos Porphyrogennetos erfuhr von den ihm im Jahre 950 besuchenden Magyaren, daß die Magyaren (ToüpKoi) früher gegen Persien zu, in der Nachbarschaft der Chasaren in der nach ihrem Führer Leved Levedia benannten Provinz wohnten und daß sie aus diesem Gebiet von den Petschenegen vertrieben wurden, die seit 895 auf dem einstigen magyarischen Gebiet — dem nach der ungarischen Tradition des 11. Jahrhunderts Dentü Mogeria, Dontövi Magyarorszäg genannten Lande — den Uzen, die über die Wolga gekommen waren, dem Chasarenreiche, Alanien und der Krim-Provinz benachbart waren. In die Gegend des Kaukasus weist auch der bei Konstantinos erwähnte alte Name der „starken Sahiren" (Zccßap-roi acrcpaAoi). Diesen Namen trugen ihre am Ende des 9. Jahrhunderts nach Persien flüchtenden Reste noch ein halbes Jahrhundert lang. Das Land dieses sabirischen Volksrestes im KurGebiet hieß im 11. Jahrhundert Sabir-Land (Sevortik), zweihundert Jahre später aber magyarisches Gebiet (Madsaragadzor). In der Sprache der Magyaren, in ihrer alten Kunst und auch in ihren körperlichen Eigentümlichkeiten in der Landnahmezeit spiegelt sich der

Die Befreiung der Onogur-Magyaren

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Einfluß ihres recht langen Aufenthalts im Kaukasus-Gebiet. Aus pflanzenund tiergeographischen Gründen konnten sie nur im Kaukasus-Gebiet die große Zahl von Pflanzen- und Tiernamen übernommen haben (szölö = Traube, bor = Wein, alma = Apfel, körte = Birne, gödeny = Pelikan, borz = Dachs usw.), die — da sie viel jüngeren Ursprungs sind als die erste ogurisch-bulgarische Lehnwörterschicht — zur zweiten bulgarischen Lehnwörterschicht gehören. Hier gelangten auch die Lehnwörter aus der Sprache der Alanen, die Jahrhunderte hindurch den damaligen Onoguren und Sahiren benachbart waren, in die magyarische Sprache (vert = Harnisch, Panzer, kard = Schwert, üveg = Glas, väm = Zoll, Md = Brücke, asszony = kirdlynö = Königin, fizet = zahlen, gazdag = reich, kert = Garten, tnereg = Gift, tölgy = Eiche usw.). Hierhin weisen die sassanidisch-persischen Motive in den Ornamenten der Waffen und anderer Gegenstände aus der Landnahmezeit, ebenso die ausgesprochen iranischen Züge an mongoloid-türkischen Schädeln aus den Gräbern vornehmer Magyaren. Die Ungarn wohnten um die Mitte des 9. Jahrhunderts in dem zum Chasarenreich gehörenden Küstengebiete des Schwarzen Meeres, das sich vom Kaukasus bis zur Krim erstreckte, also in dem Gebiete des Kuban, Don und Dnjepr, an derselben Stelle, wo im Jahre 680 die Onoguren und die um 545 mit ihnen vereinigten Sahiren verschwanden. Die anderthalb Jahrhunderte dauernde Nichterwähnung ihres Namens findet in der chasarischen Oberherrschaft ihre Erklärung. Die chasarischen Chagane haben nach dem Beispiel ihrer türkischen Vorgänger und der übrigen Herrscher von Nomadenstaaten die unterworfenen Völker in die politische und militärische Organisation des Chasarenstaates miteinbezogen. Die Abkömmlinge des aus der alten Herrscherfamilie, dem GyulaHaus, stammenden Kurt bewahrten ihre alten Traditionen, ihre Abstammung von Attila und die Erinnerung an die Verbindung mit dem Gyula-Haus, aber ihre politische Macht hörte auf, d. h. sie ging auf ihren eigenen Stamm, den magyarischen Stamm über. Auch die politische Selbständigkeit der onogurischen Stämmegemeinschaft hörte auf. Sie hatten keinen Herrscher. In Kriegszeiten stand ein Vertrauensmann des Chagans, einer der ihm ergebenen Stammeshäuptlinge, als Feldherr an ihrer Spitze. Im Frieden wurden sie nur durch das Bewußtsein der blutsmäßigen Zusammengehörigkeit zusammengehalten. Das Gefühl einer Verwandtschaft gründete sich in der onogurischen Grundschicht des Volkes auf die Sprachgemeinschaft und das Geschichtsbewußtsein, bei den später aufgesogenen sabirischen und anderen türkischen Elementen bildete sich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit dank eines jahrhundertelangen Zusammenlebens heraus. Die ethnische Einheit war eine vollständige, aber die Volksindividualität konnte nach außen, da ihr die politische Selbständigkeit fehlte, nicht zur Geltung kommen. Die unter einem chasari4

Höman,

Geschichte des u n g . M i t t e l a l t e r s

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Die Befreiung der Onogur-Magyaren

sehen Feldherrn im chasarischen Heere kämpfenden und unter chasarischer Herrschaft lebenden Onoguren kannte man im Auslande nur unter türkischem oder chasarischem Namen und die byzantinischen Schriftsteller — Leo der Weise, Konstantinos und seine Zeitgenossen — nannten sie noch im 9. und 10. Jahrhundert Türken (ToüpKoi). Gleichzeitig mit dem Schwinden der chasarischen Macht um die Mitte des 9. Jahrhunderts begann die politische Neuorganisation der OnogurMagyaren. Die ersten Zeichen eines politischen Daseins sind die selbständigen kriegerischen Unternehmungen. Bis zum Ende des 8. Jahrhunderts nahmen die Vorfahren der Magyaren an den Kriegszügen der Chasaren im Kaukasusgebiet teil, ohne daß ihr Name genannt wurde. Der Feldzug an der unteren Donau (839), die Plünderungszüge gegen die Slawen des Dnjepr-DonGebiets (um 870—880) aber waren bereits selbständige Unternehmungen der Magyaren und nicht mehr der Chasaren. Ihr erster Streifzug nach Pannonien hat im Westen kein größeres Aufsehen erregt. Erzbischof Hinkmar registriert unter den Ereignissen des Jahres 862 ganz trocken den Einfall des „unbekannten ungarischen Feindes". Niemand hatte eine Ahnung, welches Entsetzen diese vier Jahrzehnte später bei ihrer Niederlassung in Pannonien erregen würden. Doch ihr Name wurde bekannt. Die benachbarten und entfernteren Völker, die die Stärke ihrer Waffen spürten, erkennen die besondere Volksindividualität und beginnen wieder ein politisches Gebilde in dem lange unter fremder Herrschaft und fremdem Namen lebenden onogurisch-magyarischen Stammesverband zu erblicken. An der Spitze des Stammesverbandes stand zwar noch immer der von dem chasarischen Chagan ernannte Feldherr, der Kende oder Kündü, aber neben ihm erscheint jetzt der Gyula (Dsula, yuAccs) als eine neue Würde, den die Fremden für den wirklichen Herrscher des Volkes ansehen. Zur selben Zeit taucht neben dem Türk-Namen, der die alte Verbindung zwischen Onoguren (Ungri), Beschguren und Chasaren bezeichnete, auch der Volksname Mogyer auf. Die Macht des Kende Elöd gründete sich nur auf seine Beziehungen zu den Chasaren, auf das Vertrauen des Chagans. Die wirklichen Kräfteverhältnisse in der Stämmegemeinschaft haben den Magyar - (Mogyer)Stamm und den Gyula, der in gemeinsamen Angelegenheiten der Stämme das entscheidende Wort hatte, zur Führung prädestiniert. Die Verwandtschaft, die zweifellos zwischen dem Gyula-Titel (Dschula) und dem Dschula-Namen des hunnisch-bulgarischen Königshauses bestand und die Hunnentradition des Arpadenhauses, die die Könige Bular ( = Bulgar) und Dula erwähnt, beweisen, daß das Volk im Gyula Älmos als dem Nachkommen des seit Irnik (469) über Mogyer (um 530) bis Kurt (620—670) und Batbajan (670—680) — mit kurzer Unterbrechung — zwei Jahrhunderte lang herrschenden hunnisch-magyarischen Fürstengeschlechtes seinen natürlichen und gesetzmäßigen Herrn sah.

Der Angriff der Petschenegen

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Die Macht der Chasaren stand der alten Tradition und der Anerkennung der tatsächlichen Kräfteverhältnisse noch im Wege, aber innerhalb der Stämmegemeinschaft hatte schon der Magyar-Stamm das Übergewicht. In diesem Stadium einer selbständigen politischen Organisation erlitten die Ungarn den vernichtenden Uberfall der vor den Us-Stämmen weichenden Petschenegen. DER A N G R I F F DER

PETSCHENEGEN

Die Stämme der Petschenegen, die zu den Ost- oder Oguztürken gehörten, waren einst Untertanen des Turkreiches, doch un} die Mitte des 8. Jahrhunderts unterwarfen sie sich mit den übrigen Oguz-Stämmen der auf den Trümmern des Turkreiches entstandenen Macht der Uiguren. Diese ogusischen Völker streiften in der Nachbarschaft des Kaspischen Meeres und des Aral-Sees, auf der großen Ebene östlich des Jaik-Flusses, in der Nähe der persischen Provinzen des arabischen Reiches herum. Ihre westlichste Gruppe, der aus acht Stämmen bestehende Verband der Petschenegen, überschritt — wahrscheinlich infolge der im Reiche der Uiguren um 840 beginnenden Auflösung — den Jaik und drang bis in die Nachbarschaft des Chasarenreiches vor. Durch wiederholte Plünderungszüge verursachte dieser Stammesverband seit 870 dem Chagan immer größere Sorgen, der schließlich die diesem Stamme benachbarten Us- oder Gus-(Ogus-)Stämme zu Hilfe rief. Dieses Bündnis sollte für die Macht der Chasaren schwere Folgen haben. Durch den Angriff der Usen zur Flucht gezwungen, überquerten die Petschenegen um 885—890 den unteren Lauf der Wolga und ließen sich auf dem Gebiete der Chasaren nieder. Wie alle aus Asien kommenden türkischen Völker — Hunnen, Oguren, Awaren, Türken — drangen auch die Petschenegen gegen Süden vor. Erst als sie auf den für sie unübersteigbaren Kaukasus stießen, bogen sie nach Westen bzw. nach Nordwesten ab. Ihr Angriff traf die Ungarn, die sie schon früher von ihrem Brudervolk, den Beschguren an der Wolga, getrennt hatten, am oberen Laufe des Kuma- und Kuban-Flusses. Der Vorstoß der Petschenegen hat einige Volkssplitter sabirischen Ursprungs gegen Süden, in das Gebiet des KurFlusses gedrängt, wo sie sich in der Nachbarschaft des schon vor Jahrhunderten abgetrennten sabirischen und bulgarischen Brudervolkes niederließen. Noch im 10. Jahrhundert standen die pannonischen Ungarn durch ihre Gesandten mit den von ihnen abgetrennten Volkssplittern, die nach Persien zu abgewandert waren und den alten sabirischen Namen trugen, in Berührung. Die an Zahl sehr zusammengeschmolzenen sieben Stämme der Ungarn aus dem Gebiete der Flüsse Kuban, Don, Dnjepr, von denen die Stämme der Magyari, Kürtgyarmat, Jenö, Tarjän, Ker nach der Abspaltung des Stammes der Beschguren (Fünf-Stamm) beisammengebliebene onogurische Stämme 4*

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Etelköz

waren, während die Keszi ( = Teil) und Nyek-Stämme offenbar sabirische Splitter waren, die man alle zusammen seit dieser Zeit die „Siebenungarn" nannte, konnten sich in keinen Kampf mit den an Zahl und Stärke überlegenen Petschenegen einlassen. Um dem sicheren Verderben zu entgehen, waren sie gezwungen, ihre an der Küste der Maeotis gelegene Heimat zu verlassen und nach Westen zu wandern. Mit ihnen flüchtete der mit der jüdischen herrschenden Schicht unzufriedene Teil des Volkes des Chasarenchagans, die drei kriegerischen, heidnischen Stämme der Kabaren (Aufständische), die wahrscheinlich ebenfalls sabirischen Ursprungs waren. Die Erinnerung an diesen Zusammenschluß lebte lange in der ungarischen Überlieferung weiter, doch die die Überlieferung aufzeichnenden Chronisten des 12. Jahrhunderts ließen sich durch die Rolle der Kumanen, die diese später in der ungarischen Geschichte einnahmen, beirren und hielten die Chasaren, die sich an Arpäds Volk angeschlossen hatten, für Kumanen. Zwischen Wolga und Dnjepr ließen sich Petschenegen nieder und trennten damit die Chasaren von ihren bisherigen Untertanen. Das Chasarenreich wurde damit auf das Gebiet zwischen dem Wolga-Delta und dem Kaukasus zurückgedrängt. Damit begann sein langsamer Todeskampf. Kaum hundert Jahre später eroberte Fürst Swjatoslaw von Kiew (964—972) die an der Mündung des Don auch nach der Niederlassung der Petschenegen noch in chasarischem Besitz verbliebene Festung Sarkel und verheerte, bis zum Kaukasus vordringend, das Land der Chasaren. Diesen Schlag konnten die den fortwährenden Angriffen der Petschenegen und der über das Eis der Wolga kommenden Uzen ausgelieferten und durch innere Streitigkeiten erschöpften Chasaren nicht überstehen. Bald darauf fielen sie den von Osten her vordringenden Steppenvölkern zum Opfer. In dieser Zeit begannen ihre einstigen Untertanen in der Ebene zwischen Donau und Theiss den Grundstein zu dem prächtigen Gebäude des ungarischen Königreiches zu legen.

ETELKÖZ

Die vor dem Ansturm der Petschenegen gegen Westen fliehenden Ungarn retteten sich in das Gebiet zwischen dem Dnjepr und der unteren Donau und nannten das von Flüssen durchschnittene ebene Land in ihrer Sprache Etelköz. „Etelköz", ein seit Jahrhunderten herrenloses Gebiet, ist die letzte Station der nach den römischen Provinzen ziehenden Barbarenvölker gewesen. Die Goten, Hunnen, Awaren, Kuturgur-Bulgaren lagerten auf ihrem Wege nach Moesien, Thrakien, Pannonien alle einige Jahre in Etelköz. Hier ruhten sie von den Kämpfen und Strapazen des Weges aus und sammelten Kräfte zu den bevorstehenden Kämpfen. Von hier sandten sie plündernde Scharen zur

Die Wahl des Fürsten

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Ausspähung des benachbarten Gebietes, Gesandte, um Verbindungen anzubahnen, Land zu erwerben und Niederlassungsverträge abzuschließen. Doch als Heimat betrachtete niemand dieses nach allen Seiten offene, schwer zu verteidigende und schwer zu haltende Gebiet. Sie warteten hier nur auf die Gelegenheit zum Weiterziehen, um dann schleunigst mit ihrem ganzen Volke und Tierbestand ihre in Aussicht genommene neue Heimat zu besetzen. Auch die Ungarn hatten nicht die Absicht, sich in Etelköz dauernd niederzulassen, wo ihre Lage vom militärischen Standpunkt geradezu verzweifelt war. Ihre Nachbarn im Osten waren die durch Tapferkeit und Grausamkeit bekannten Stämme des Kangar-Zweiges des petschenegischen Bundes, durch die sie aus ihrer alten Heimat verdrängt worden waren, im Norden das junge normannisch-russische Reich, das die Slawen aus dem Dnjepr-Gebiet mit germanischer Gründlichkeit organisiert hatte, im Süden der schon seit einigen Jahrzehnten christliche Staat der Bulgaren, der eben seine erste Blütezeit unter der eisernen Regierung des Zaren Simeon erlebte, der sich der byzantinischen kaiserlichen Macht kühn entgegenstellte. Drei gefährliche Nachbarn bei offenen Grenzen und nirgends einen Freund! Wenn von den drei Nachbarn nur zwei sich verbündet und ihre Angriffe die Ungarn unvorbereitet getroffen hätten, so wäre die endgültige Vernichtung unausbleiblich gewesen. Schnelles Handeln, eine schnelle Organisation der Verteidigung und die Vorbereitung des Weiterwanderns waren nötig. Die Führer des ungarischen Volkes erkannten die Lage und strebten danach, ihren Aufgaben zu entsprechen. Sie schufen die zur Verteidigung notwendige militärische und politische Einheit und bereiteten den Weg zum Weiterwandern vor. DIE WAHL DES

FÜRSTEN

Die Heerführer der sieben ungarischen Stämme — Nyek, Megyer, Kürtgyarmat, Tarjän, Jenö, Ker und Keszi — und ein Heerführer der ihnen angeschlossenen drei Stämme der Kabaren, die sich als achter ungarischer Stamm ihnen zugesellt hatten, wählten zum Erbfürsten den laut Familienüberlieferung von Attila und dem bulgarischen Gyula-Geschlecht abstammenden Sohn des Heerführers Almos: Ärpäd. Die Fürstenwahl wurde — wie Konstantinos Porphyrogennetos berichtet — auf Rat des chasarischen Chans vorgenommen, der den Oberfeldherrn Elöd (Leved > Eleud) aus der fernen Gegend zu sich beschied. Nachdem dieser die Reise nach Chasarien mit dem Schiff zurückgelegt hatte, suchte er den Chan auf, der ihn zur Errichtung eines Erbfürstentums bewegen wollte. Elöd jedoch lehnte für seine Person die Annahme der Erbfürstenwürde ab und schlug den ihm im Rang folgenden Heerführer Älmos oder dessen Sohn Ärpäd vor. Auf Veranlassung des chasarischen Chagans wählten dann die Ungarn Ärpäd zu ihrem Fürsten.

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Blutsvertrag

Die ungarische Überlieferung hält — entgegen den Ausführungen des gelehrten Kaisers — den legendären Ahnen des Fürstenhauses, Älmos, für den ersten Fürsten. Die Überlieferung führt diese Wahl, abgesehen von der persönlichen Berufenheit, auf das historische Recht und die militärische Macht zurück, da sie seine Abstammung von den Königen Magyar (Mogyer) und Attila betont, Ärpäd unter den landnehmenden Feldherrn als den „reichsten und mächtigsten" bezeichnet und die ehrwürdige Gestalt des Almos in den Mittelpunkt wunderbarer Ereignisse stellt, die seine göttliche Berufung bezeugen sollen. Er erhielt den Namen Almos, weil seine schwangere Mutter im Traume eine Erscheinung in Gestalt eines Turulvogels hatte, der sich in ihrem Schoß niederließ und sie befruchtete. Gleichzeitig schien es ihr, als entspringe eine Quelle aus ihrem Leibe und als entsprössen aus ihrem Schöße heilige Könige, die sich aber nicht in ihrem eigenen Lande vermehren würden."

BLUTSVERTRAG

Bezüglich der Fürstenwahl sowie ihres Zeitpunkts und der Person des Fürsten muß man dem sich auf eine gute Quelle — auf den Bericht des Tormäs aus dem Hause Ärpäd — stützenden Bericht des Konstantinos Glauben schenken. Die Beweggründe der Fürstenwahl, besonders aber der Wahl der Person des Fürsten, kennt jedoch die heimische Überlieferung besser. In der Erzählung des byzantinischen Kaisers fließen zwei Ereignisse, die zeitlich auseinander liegen, zusammen : die Ernennung des Kende Elöd und die Fürstenwahl in Etelköz. Der chasarische Chagan hatte Elöd noch in der alten Heimat zum Oberfeldherrn über die damals noch unter seiner Oberhoheit stehenden Ungarn ernannt, doch konnte er den aus seiner Nachbarschaft weit nach Westen abgewanderten Ungarn bei der Fürstenwahl nicht mehr hineinreden. Diese Wahl war nicht das Ergebnis eines auf den Rat des Chagans hin plötzlich gefaßten Entschlusses, sondern eine bewußte politische Handlung, die das politische Recht des aus einem alten Herrscherhaus stammenden Almos, das Ansehen und die Macht des unter seiner Führung stehenden Magyar-Stammes, die persönlichen Fähigkeiten und Talente Ärpäds in Betracht zog und die auf freiem Entschluß der magyarischen Heerführer, aber hauptsächlich Ärpäds beruhte. Kende Elöd aber, der die für ihn so wertvolle Unterstützung der von Etelköz so weit entfernt wohnenden Chasaren verloren hatte, verzichtete von politischer Einsicht geleitet für seine Person auf die Herrschaft und gab so den Weg dem historischen Recht, den Kräfteverhältnissen unter den Stämmen und dem militärischen Genie frei. Die Einsetzung des erblichen Fürstentums wurde nach altem Brauch unter den allgemein bekannten Zeremonien des Abchlusses der symbolisch vollzogenen Blutsverwandtschaft besiegelt. Die Heerführer ließen bei dieser Gelegenheit

Westliche Politik

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ihr Blut in einen Kelch tropfen und wurden, nachdem sie dieses vermischte Blut getrunken hatten, nach ihrem Glauben zu Blutsverwandten. Der Abschluß eines solchen Verwandtschaftsverhältnisses verhinderte nach ihrer Auffassung, da unter Blutsverwandten die Blutrache und überhaupt jeder Kampf verboten war, innere Kämpfe und Zusammenstöße zwischen den Stämmen. Durch diesen symbolischen Akt des Abschlusses der Blutsverwandtschaft erkannten die Heerführer Arpäd und seine Nachfolger als ihre blutsmäßigen Herrn und als das natürliche Haupt der zu einer Familie gewordenen acht Stämme an. Dieser Zeremonie folgte — nach chasarischer Sitte — die bei Konstantinos erwähnte Schilderhebung bzw. die feierliche Ausrufung zum Fürsten. WESTLICHE

POLITIK

Mit der Ausrufung Ärpäds zum Fürsten erreicht die vor einem halben Jahrhundert begonnene innerpolitische Entwicklung und die selbständige Organisation des von dem Drucke der Chasaren befreiten ungarischen Stämmeverbandes ihren natürlichen und notwendigen Abschluß. In der Außenpolitik brachte die Person des neuen Fürsten eine vollkommene Kursänderung. Die alten Verbindungen mit den Chasaren hatten in Etelköz keinen Wert mehr. Schon allein die Entfernung erschwerte das Zusammenwirken, die außenpolitische Lage der Chasaren aber machte es geradezu unmöglich. Die Petschenegen waren durch das unbedachte Bündnis des Chagans mit den Uzen auf die Ungarn gehetzt worden und nach deren Abzug geriet er selbst in die schwierigste Lage. Nachdem er seine besten Kämpfer, die Kabaren und seine ungarischen Verbündeten, verloren hatte, war er gegen die in der Nachbarschaft ansässig gewordenen Petschenegen zu dauernder Verteidigung gezwungen, ebenso gegen die Uzen, die in das Wolga-Gebiet eingedrungen waren und sich ihm feindlich gegenüberstellten. Das chasarisch-ungarische Bündnis wurde durch den Wegzug der Ungarn, den Anschluß der Kabaren und Elöds Zurücktreten zunichte gemacht. An Stelle dieses Bündnisses suchte Ärpäd im Westen neue wertvollere Verbindungen. Die mächtigen Herrscher von Ost und West, die chinesischen und römischen Kaiser, die persischen Könige, arabischen Kalifen redeten sich ein, daß sie ihre „barbarischen" Nachbarn, die Germanen, Skythen, Sarmaten und türkischen Völker, politisch dirigieren und zwingen könnten, ihren eigenen Interessen zu dienen. China entwickelte schon einige Jahrhunderte vor Christus, Byzanz seit dem 6. Jahrhundert die barbarische Diplomatie zu einer richtigen Wissenschaft, auf diesem Wege siegten sie nicht nur einmal entscheidend über die kriegerisch ihnen überlegenen Nachbarn. Das Schicksal der Reiche der Hunnen, Awaren und Türken, der Macht Attilas, der kuturgurischen und uturgurischen Reiche des 6. Jahrhunderts und der übrigen nomadischen Reiche

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Westliche Politik

wurde zwar durch Bruderkrieg und innere Zwietracht besiegelt, doch die Katastrophe war vorbereitet durch die heimtückische diplomatische Wühlarbeit der chinesischen und byzantinischen Kaiser. Die Barbaren waren aber trotzdem — zahlreiche historische Beispiele beweisen es — nicht die seelen- und willenlosen Werkzeuge der kaiserlichen Diplomatie. Diese barbarischen Fürsten besaßen — wie es die Zeugnisse ihrer Zeitgenossen beweisen — einen viel zu gut entwickelten politischen Sinn, einen viel zu bewußten außenpolitischen Kurs, als daß ihre Bündnisse mit den fremden Mächten allein deren Interessen gedient hätten. Dem Aufbruch der von Osten nach Westen und von Norden nach Süden vordringenden Völker gingen der Abschluß von Verträgen und Plünderungszüge voraus, die ein Beweis für die zielbewußte Politik der Barbarenvölker sind. In den Bündnissen suchten sie Deckung für die Feldzüge; während der Feldzüge spürten sie geeignetes Land zur Besetzung aus und bereiteten so den Weg zur Weiterwanderung vor. Das Zielbewußtsein und die Planmäßigkeit dieser Politik läßt sich am klarsten in den Bündnissen des awarischen Chagans Bajan, die dieser vor der Besetzung Pannoniens schloß, und in seinen Feldzügen erkennen, aber darauf lassen auch die kriegerischen und diplomatischen Unternehmungen der Goten, Langobarden, Hunnen, Turkmenen und anderer Kriegervölker schließen. Auch Fürst Ärpäd verbündete sich mit den beiden Kaisern nicht vorübergehender Ziele wegen, nicht um Sold und Beute und nicht deshalb sandte er seine Truppen sofort nach seiner Wahl auf Beutezüge aus. Das deutsche Bündnis von 892 und das byzantinische von 895 war gleichbedeutend mit dem Abbrechen der nun wertlos gewordenen Beziehungen zum Osten, mit der Hinwendung zu einer bewußten Westorientierung der Außenpolitik. Das Ziel war die Beseitigung der Hindernisse, die sich dem Weiterwandern in den Weg stellten. Die Bündnisse mit den mächtigsten Nachbarn der zur Niederlassung geeigneten Gebiete gewährten ihnen schon vor der Landnahme und auch unmittelbar darauf während ihrer Beutezüge, die sie zur Auskundschaftung geeigneter Gebiete unternahmen, Schutz, für die Zukunft aber sicherten sie ihnen die ungestörte Inbesitznahme der neuen Heimat. Nach mittelalterlicher ungarischer Überlieferung hatte sich Älmos schon in der Urheimat die Wiederbesetzung des Erbes des Hunnenkönigs Attila zum Ziele gesetzt und Ärpäd — gestützt auf das historische Recht seiner Familie — besetzte nach einem glorreichen Feldzug das westliche Reich seines glorreichen Ahnen. Im Gegensatz zu dieser Auffassung beweisen die zeitgenössischen Geschichtsquellen, daß das ungarische Volk durch äußeren Zwang veranlaßt aufbrach und nach Westen wanderte. Die der Landnahme unmittelbar folgenden deutschen und italienischen Feldzüge lassen aber vielleicht darauf schließen, daß die Ungarn das Endziel ihrer Wanderung gar nicht im

Die Vorfahren der Ungarn

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Donau - Theiß - Gebiet, sondern wie die Awaren im entfernteren Westen suchten und erst, als sie auf die in festen Staatsgebilden lebenden seßhaften Völker des Westens prallten, erkannten, daß sie in Pannonien das Ende ihrer Wanderung erreicht hatten. Der schöne Gedanke der Wiedererwerbung des Erbes wurde auf dem Gebiete der neuen Heimat in die Familientradition des Ärpädenhauses aufgenommen, das die Erinnerung an die Abstammung von Attila treu bewahrte. Die Landnahme war aber auch nicht ziellose Flucht oder Wanderung, war keine Tat einer vor den Feinden flüchtenden Nomadenhorde oder einer abenteuerlustigen Räuberbande. Die Schaffung einer politischen Einheit, die im erblichen Fürstentum ihren sichtbaren Ausdruck erhielt, und die Streifzüge nach dem Westen, die mit der Landnahme verbunden wurden, beweisen den klaren Blick der Führer des ungarischen Volkes sowie das Gefühl für Realpolitik und die diplomatische Begabung ihres Fürsten Ärpäd. Das aus der alten Heimat nach Etelköz gedrängte ungarische Volk wandte sich mit dem Fürsten Arpäd an der Spitze mit bewußter Überlegung nach Westen und suchte eine neue Heimat, in der es sich gegen seine mächtigen östlichen Feinde erfolgreich verteidigen konnte. Gleich nach seinem Regierungsantritt, im Jahre 892, schloß Fürst Ärpäd mit Arnulf, dem König des" ostfränkischen Reiches, ein Bündnis gegen den mährischen Fürsten Swatopluk und kämpfte noch in demselben Jahre sowie zwei Jahre später im Donaugebiet. Der Grund dieser Streifzüge war nicht bloße Raublust der Ungarn, sondern der Wunsch, aus der Nachbarschaft der Petschenegen herauszukommen. Ziel dieser Feldzüge war nicht, Beute zu machen, sondern die angrenzenden Gebiete, insbesondere das einstige Reich der Awaren, auszukundschaften.

VIERTES

KAPITEL

DIE VORFAHREN DER

UNGARN

Nachdem wir das dichte Dunkel, das die Vorzeit der Ungarn umgibt, durchdrungen und ein Jahrtausend Geschichte überflogen haben, haben wir eine Vorstellung von den Erscheinungen der Entwicklung des ungarischen Ethnikums, der Urkultur und der politischen Einrichtungen aus der Zeit vor der Landnahme erhalten. Wir haben das ungarische Volk auf seinen Wanderwegen begleitet, die es von der westsibirischen Steppe durch das Waldgebiet des Urals bis zum Fuße der Karpathen zurückgelegt hat. Am äußersten Ende dieses langen und kampfreichen Weges erscheint nun vor uns, bestrahlt vom klaren Glänze der Geschichtsquellen, der Ungar der Landnahmezeit.

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Körperform und Charakter

KÖRPERFORM

UND

CHARAKTER

Das ungarische Volk war aus der Vermischung der seit uralten Zeiten nebeneinander lebenden Völker der Finno-Ugrier und der Ogur-Türken entstanden; im Laufe der späteren Jahrhunderte wurden noch vereinzelt kaukasische und iranische Elemente eingeschmolzen. Obgleich es also ein Mischvolk war, fügte es sich schon in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts zu einer festen ethnischen Einheit zusammen, doch trägt es den Stempel dieser in Urzeiten erfolgten Rassenvermengung. Ihre KörperbeschafFenheit zeigt die Merkmale finnischer oder türkischer Abstammung, ihre Sprache ist finnisch-ugrisch, ihre Kultur türkisch, aber an Körper, Sprache und Kultur treten gleichzeitig die vom andern Zweig ererbten Züge auf, ebenso sind Spuren des späteren türkischen und kaukasischen Einflusses zu erkennen. An den Knochenfunden der Ungarn aus der Landnahmezeit sind verschiedene Rassenmerkmale festzustellen. Am häufigsten sind die ostbaltischen (finno-ugrischen) und die mongoloiden (türkischen) Typen. Letztere sind nicht reinrassige Mongolen, sondern Vertreter eines durch Vermischung mit Kaukasiern und Balten entstandenen verfeinerten mongolischen oder türkischtatarischen Typus. Daneben finden wir auch Knochenüberreste, die die Merkmale der kaukasischen Rasse (Alanen, Persier, Armenier) an sich tragen. Die Ungarn waren im allgemeinen von kleinem Wuchs, obzwar sich unter den Vornehmen, besonders unter den Mitgliedern der Fürstenfamilie, bei denen die Heirat mit fremden Herrscherhäusern üblich war, auch viele hochgewachsene Gestalten fanden. König Ladislaus der Heilige überragte sein Volk um Haupteslänge, das Skelett Bêlas III. ist zwei Meter lang. In den Gräbern aus der Landnahmezeit fand man auch Skelette, die eine gute Mittelgröße (168—172 cm) hatten, doch die durchschnittliche Größe der untersuchten Skelettreste kann man bei den Männern auf 163, bei den Frauen auf 153 cm festsetzen. Wenn wir von den ausnahmsweise hochgewachsenen Vornehmen absehen, beträgt die durchschnittliche Größe der großen Masse 158—160 cm, die der Frauen 150—152 cm. In Westeuropa fand man die kleinen Reiter von mongolischem Typus, besonders die im ungarischen Heer kämpfenden Petschenegen, Uzen und Kabaren außerordentlich häßlich. Der Perser Gardesi jedoch spricht von „gut aussehenden" Ungarn. Die übrigen arabischen, persischen, syrischen und armenischen Geschichtsschreiber erwähnen ihr Äußeres überhaupt nicht, da die Eigentümlichkeiten des türkisch-mongolischen Gesichtsschnittes bei den östlichen Völkern eine gewohnte Erscheinung waren, die weiter nicht auffiel. Die zeitgenössischen Chronisten und auch Leo der Weise, der kaiserliche Verbündete Ârpâds, werfen den Ungarn Verschlagenheit, Eidbruch, List und Tücke, Unbeständigkeit, Habsucht und Grausamkeit vor und halten die Ungarn wegen ihrer Hinterlist jedes Vertrauens für unwürdig. Diese Charakterisierung

Körperform und Charakter

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paßt zweifellos auf die mit den Fremden in politischer und kriegerischer Berührung stehenden Ungarn ebenso wie auf die Hunnen, Awaren, Türk-Völker und ihre übrigen türkischen Verwandten. Doch darf man nicht vergessen, daß die Lehrmeister der von Natur aus offenherzigen und ehrlichen türkischen Völker, gerade was Hinterlistigkeit, Intrigenspinnerei und Grausamkeit betrifft, die Herrscher von China, Byzanz und Persien und die Diplomaten und Heerführer der stolzen Kulturvölker waren, die alle auf diese Barbaren herabsahen. Turxanth, der türkische Chagan, hat nicht grundlos den Ausspruch getan, daß die Romäer zehn verschiedene Zungen hätten, aber nur eine Verschlagenheit, und daß sie ihre zehn Zungen nur dazu verwenden, um jeden damit zu betrügen. So handelte auch Leo der Weise, der sich über die Hinterlist der Ungarn beklagte und der ebenfalls seine gegen die Bulgaren aufgehetzten ungarischen Verbündeten betrog. Solche Erfahrungen machten auch aus den unverdorbenen Barbaren hinterlistige, tückische, unzuverlässige Diplomaten. So handelten Attila, Bajan, die Turkchagane und auch die Anführer der Ungarn, ohne daß wir daraus auf den Volks Charakter schließen dürfen. Selbst die allerfeindlichsten Chronisten berichten mit der größten Anerkennung von der Heldenhaftigkeit der Ungarn, von ihrer unerschrockenen Tapferkeit, von ihrer jeder Entbehrung trotzenden, jede schwere Arbeit überwindenden Energie. Nach den Berichten Leos des Weisen ertragen sie standhaft jede Mühe und jede Arbeit, glühende Hitze und grimmige Kälte sowie jegliche Entbehrung. Sie sind freiheits- und prunkliebend und legen größtes Gewicht darauf, sich vor den Feinden heldenhaft zu zeigen. Der Perser Gardesi berichtet von ihnen, daß sie außerordentlich tapfer und ansehnlich seien. Heribald von Sankt Gallen lernt die offenherzigen und umgänglichen Ungarn bei fröhlichem Gelage und Gesang kennen. In der Sage von den „Sieben Ungarn" spiegelt sich die Verachtung über die an den eigenen Waffengefährten begangene Untreue und Feigheit. Dem Bischof Otto von Freising fällt die bedächtige und den öffentlichen Angelegenheiten gegenüber aufgeschlossene Art der ungarischen „Ungeheuer" auf. Genau so werden im allgemeinen die übrigen türksichen Völker von den zeitgenössischen Chronisten charakterisiert. Nach Michael, dem Patriarchen von Syrien, sind die türkischen Völker, selbst wenn sie intrigieren, noch anständig und aufrichtig, in ihrem Selbsterhaltungstrieb vernünftig und schlau, doch lieben sie das viele Reden nicht. Al-Maq-disi hebt ihre Herzensgüte hervor; sie töten ihre Kriegsgefangenen nicht, ja sie pflegen sogar ihre Verwundeten. Mas'üdi nennt den türkischen Chagan den „König der wilden Tiere und der Pferde", denn kein König habe mutigere Kämpfer als er und wie Löwen kämpfende Helden, und keiner bessere Pferde. Diese meist aus feindlich gesinnten Quellen stammenden mosaikartig zusammengetragenen Angaben geben im ganzen genommen ein fast vollständiges Bild des Ungarn der Landnahmezeit.

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Die Sprache DIE

SPRACHE

Die Umgangssprache der Ungarn der Landnahmezeit war die auch noch heute gebräuchliche, um die ogurischen, türkischen und alanischen Lehnwörter bereicherte ungarische Sprache finno-ugrischen Ursprungs. Der Dominikanermönch Julian konnte sich, als er im 13. Jahrhundert auf die Nachkommen der vor der Landnahme von ihren Brüdern getrennten Ungarn traf, ohne jede Schwierigkeit mit diesen seit viereinhalb Jahrhunderten von den pannonischen Ungarn getrennten Verwandten verständigen. Neben dieser Umgangssprache wurde aber von den Ungarn der Landnahmezeit noch eine andere Sprache benutzt. Kaiser Konstantinos, der mit den um die Mitte des 10. Jahrhunderts an seinen Hof gekommenen Ungarn persönlich in Berührung kam, schreibt, daß die Ungarn zwei Sprachen sprechen, von denen die eine die Umgangssprache der den Ungarn angegliederten Chasar-Kabaren, also eine türkische Sprache sei. Er erklärt diese Erscheinung durch den Anschluß der Kabaren. Diese Zweisprachigkeit hat aber eine ganz andere Ursache. Die im ungarischen Herrscherhause, in den vornehmen Familien und auch im Volke gleicherweise oft vorkommenden türkischen Personen- und Geschlechternamen (Ärpäd, Älmos, Zulta, Tas, Taksony, Üllö, Kaplony, Bors, Kartal, Äkos, Ajtony, Ond, Bulcsu, Gyula, Sarolt, Turul, Baja, Kurt usw.) sowie auch die in den Gräbern des 10. Jahrhunderts in großer Zahl gefundenen mongoloiden Schädel beweisen, daß die Ungarn in ihren breiten Schichten, aber vor allem die Vornehmen auch der Abstammung nach Türken waren. Zur Zeit des Zusammenschlusses mit den Sabiren, dann unter der Herrschaft der Turk-Chasaren hat sich das türkische Element noch vermehrt und die ursprünglich sicher in größerer Zahl vorhandenen finno-ugrischen Bestandteile zurückgedrängt. Es ist also nichts Erstaunliches, wenn die seit Jahrhunderten mit türkischen Völkern und unter türkischen Herrschern lebenden Ungarn, die ja auch selbst türkischer Abstammung waren, neben ihrer Gemeinsprache auch die türkische Sprache beherrschten, welche als amtliche diplomatische, militärische und Handelssprache diente und vielleicht auch irgendwie einen Schein der Vornehmheit gab. Für eine solche Zweisprachigkeit finden wir zahlreiche analoge Fälle bei den alten türkischen Völkern. Nach dem Zeugnis Mahmud AI Kasgharis aus dem 11. Jahrhundert sprachen die Uiguren und mehrere Stämme der Tartaren, die Quai, Basmil, Jobaqu- und CumulVölker, außer dem amtlichen Türkisch noch ihre eigene Volkssprache. Diese Doppelsprachigkeit gibt uns auch die Erklärung dafür, daß die arabischen und byzantinischen Chronisten die Onogur-Ungarn für ein Türk- oder türkisch-sprachiges Volk hielten.

Gesellschaftliche Organisation : Sippengemeinschaft GESELLSCHAFTLICHE

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ORGANISATION:

SIPPENGEMEINSCHAFT

Die Grundlagen der uralten gesellschaftlichen Organisation des ungarischen Volkes, das schon am Ende des 9. Jahrhunderts eine vollkommen zusammengefügte ethnische Einheit darstellte, sind die Bande des Blutes. Die Organe dieses gesellschaftlichen Zusammenlebens sind die Familie (familia) und die Sippe (genus) gewesen. Die Familie ist die unter der väterlichen Gewalt stehende blutsmäßige Gemeinschaft. Aus der Familie entstehen durch die Verheiratung der erwachsenen Familienmitglieder neue Familien, in denen das Gefühl der blutsmäßigen Verbundenheit weiterlebt und selbst die auf der Blutsverwandtschaft beruhenden Bande der Wirtschafts-, Rechts- und Kultgemeinschaft bestehen bleiben. Die Familie wird auf dem Wege der natürlichen Vermehrung zu einem erweiterten Gebilde, sie erweitert sich zu einer Sippe, einem Geschlechtsverband. Der Geschlechtsverband — in der Völkerkunde mit dem Ausdruck Clan bezeichnet — ist die auf natürliche Weise zustandegekommene Vereinigung der von einem gemeinsamen Ahnen in der männlichen Linie abstammenden Familien und trägt meist den Personennamen des bedeutendsten gemeinsamen Ahnen. Mit dem Anwachsen der Mitglieder einer Sippschaft kommt es vor, daß sie in Zweige zerfällt, die sich später zu selbständigen Sippen oder Geschlechtsverbänden ausbilden. Nach der ungarischen Tradition sollen mit Ärpäd einhundertacht dieser Sippen in die neue Heimat gekommen sein. Die Mitglieder der Sippen (nem) sind die nemesek, die in demselben Geschlechtsverband in Wirtschafts-, Rechts- und Kultgemeinschaft leben. Die minderrangigen Elemente, die zwar nicht zur Sippe gehörten, doch von ihr abhängig waren, die Fremden, Knechte und die wegen eines Vergehens aus der Sippe Ausgestoßenen, also die Gesamtheit der sogenannten „nemtelenek", konnte kein Vermögen erwerben und war rechtlos. Die Wirtschaftsgeräte, Waffen, Kleider, Haushaltungs- und Luxusgegenstände, das Zelt oder Haus, der Haussklave sind das Privatvermögen des Einzelnen oder der Familie. Aber das die Grundlage der Wirtschaft bildende Gesamtvermögen, das Knechtsvolk, das den Acker bebaute, das Vieh weidete, das fischte und jagte, die Pferde-, Rinder-, Schweine- und Schafherden, später der Grund und Boden, mit einem Wort alles, was als Besitz bezeichnet wird, ist das gemeinsame Eigentum der Sippe. Das Vermögen des Geschlechtsverbandes gehörte den Mitgliedern der Sippe gemeinsam. Zur völligen Aufteilung kam es erst Jahrhunderte nach der Einführung des neuen Systems des Privatvermögens. Die Mitglieder einer Sippe leben in einer Rechtsschutzgemeinschaft unter der Gerichtsgewalt des Sippenoberhauptes, das die volle familienväterliche

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Gesellschaftliche Organisation : Sippengemeinschaft

Gewalt ausübte. Streitigkeiten und Prozesse, die unter ihnen entstanden,, bringen sie vor den Richterstuhl des Sippenoberhauptes. Die Vergeltung einer von außen, von dem Mitglied einer andern Sippe zugefügten Beleidigung ist die gemeinsame Pflicht des ganzen Geschlechts, ebenso auch die Aussöhnung. Bei einem solchen Rechtsstreit steht nicht Individuum dem Individuum gegenüber, sondern Geschlecht dem Geschlecht, obwohl die Rache im Namen des Geschlechts von dem Beleidigten oder seinem nächsten Angehörigen dem alten Recht der Blutrache gemäß ausgeübt wird. Als sich das System der Ablöse durchsetzte, lastete anfänglich die Pflicht der Zahlung der Lösegelder offenbar gemeinsam auf allen Mitgliedern der Sippe. Ein wichtiges verbindendes Element war neben der Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft noch die religiöse Verehrung der gemeinsamen Ahnen, die Kultgemeinschaft der Sippe. In der primitiven Entwicklungsstufe der Sippe leben die Geschlechter in geschlossener gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, rechtlicher und religiöser Gemeinschaft voneinander abgesondert ohne jede politische Beziehung nebeneinander. Jedoch später — bei den türkischen Völkern schon Jahrhunderte vor Christi Geburt — fügen sich die Geschlechter in den Rahmen höherer Gemeinschaftsgebilde, in Stämme und Stammesverbände, ein. Aber die Entstehung dieser Organisationen mit politischer Zielsetzung berührte das Dasein der Geschlechter und ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Selbstverwaltung nicht. Der Geschlechtsverband als gesellschaftliches Gebilde lebte weiter und wirkte im Rahmen des Stammverbandes und überlebte sogar dessen Verfall. Das Königtum brachte auch nur insofern eine Veränderung, als es neben der Sippe der Entstehung anderer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gebilde den Weg ebnete. Die in Stammesverbänden lebenden Ungarn — so berichtet Leo der Weise — bebauen ihr Land und weiden ihre Herden in Geschlechter und Stämme geteilt, und die Nachkommen der Ungarn der Landnahmezeit, der Adel urungarischer Herkunft, leben noch zur Zeit des christlichen Königtums im Rahmen der Geschlechterverbände. Der alte eroberte Besitz war jahrhundertelang das ungeteilte Besitztum der Sippe, und als im 12. und 13. Jahrhundert die Teilung erfolgte, waren die besitzenden Familien oder Individuen nur die Nutznießer der einzelnen Besitzteile. Veräußert oder vererbt werden konnte ein Besitztum nur mit Einwilligung sämtlicher Mitglieder der Sippe und nach Aussterben der Nachkommen eines dieser mit Besitz ausgestatteten Individuen fielen die betreffenden Besitzanteile an die Sippe zurück. Diese einstige Wirtschaftsgemeinschaft kam auch noch nach der im 14. Jahrhundert erfolgten endgültigen Aufhebung des gemeinschaftlichen Besitzes im adligen Erbrecht, in der sogenannten Avitizität, zum Ausdruck. Ähnlich finden wir bis ins 14. Jahrhundert hinein Spuren der in der Rechtsgemeinschaft der Sippe

Die Schichtung der Gesellschaft

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wurzelnden Blutrache und vor allem des darin wurzelnden Ablöseverfahrens, obwohl die Entwicklung des Strafrechtes schon zur Zeit der Stämmegemeinschaft eine ausgesprochen öffentlichrechtliche Richtung genommen hatte. Der bis in die christliche Zeit hineinreichende Überrest der einstigen Kultgemeinschaft ist die Verehrung des Sippenklosters oder der Kirche, die aus den Mitteln der Sippe erbaut und über welche die gemeinsame Patronatsherrschaft ausgeübt wurde.

DIE S C H I C H T U N G DER

GESELLSCHAFT

In der Urgesellschaft waren die einzigen Organe des Zusammenlebens und der Gruppenbildung, der Wirtschaft und des Kultes die Geschlechts verbände. Zwischen Ungar und Ungar gab es einen Unterschied nur in Hinsicht seiner Blutszugehörigkeit; die Gesellschaft der freien Ungarn, d. h. der Adligen (nemesek), war sonst einheitlich. In den geschlossenen Gemeinschaften der Sippe war — abgesehen von der priviligierten Stellung der Sippenoberhäupter und Familienväter — das Entstehen gesellschaftlicher Unterschiede dank verwandtschaftlicher Bindungen und der Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft unmöglich. Das älteste gesellschaftliche Gebilde kannte wegen des Betonens der blutsmäßigen Zusammengehörigkeit keine Klassenunterschiede. Aber die Entwicklung der Stammesorganisation brachte notwendigerweise auch die gesellschaftliche Differenzierung mit sich. Unter den Sippen entstanden Unterschiede. Die Sippen des Fürsten, der Heerführer (Herzöge), der Kriegshelden, der gut Wirtschaftenden erhoben sich durch ihr Vermögen oder ihr Amt über die anderen. Die mit dem Zeichen ihrer Amtswürde geschmückten, soldatischer Verdienste oder ihrer wirtschaftlichen Lage wegen hervorragenden Sippen erhoben sich allmählich zu einer abgesonderten, vornehmeren Schicht. In dieser Schichtung müssen wir den ersten Kern einer nach dem Sturz der Stammesorganisation einsetzenden neuen Klassenbildung sehen. Auch die zweite Vorbedingung zu einer neuen Klassenbildung erfüllte sich durch die Vermehrung der außerhalb der Gesellschaft stehenden Volkselemente. In der Wirtschaft und Haushaltung der ungarischen Sippen hatten noch in der alten Heimat die Knechte, die Vorfahren der späteren unteren Volksschichten, die sich aus den Elementen der unterworfenen Völker und aus Kriegsgefangenen zusammensetzten, eine wichtige Rolle eingenommen. Der Knecht war kein Mitglied der Gesellschaft. Als Vermögensgegenstand gehörte er zu dem unbeschränkten Eigentum der besitzenden Sippe oder des Einzelnen. Sein Herr verfügte über sein Leben und über seinen Tod, aber als wertvolle Arbeitskraft genoß er auch dessen Schutz. Das Los der innerhalb des Haushalts arbeitenden Knechte war schwer; aber die in der Landwirtschaft arbeitenden Knechte, denen Ackerbau und Hirtenamt oblagen, genossen nach Abgabe der

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Politische Organisation : Stamm und Stammverband

Erntesteuer im Kreise ihrer Familie und unter dem Schutz ihres Herrn die Früchte ihrer Arbeit. Außerhalb der Gesellschaft stand auch das bei den hunnischen, turkmenischen und anderen türkischen Fürsten und Vornehmen unter ihrem Schutz lebende fremde kaufmännische und gewerbliche Element: Araber, Juden, Perser, Griechen. Bei den Chazaren genossen sie schon vollkommene Gleichberechtigung. Von bulgarischen und jüdischen Händlern, die unter den Ungarn lebten, hören wir zum erstenmal in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Sie sind die Ahnen des späteren Gastelementes (hospites).

POLITISCHE ORGANISATION: STAMM UND

STAMMVERBAND

Der Stamm (Tribus) war eine mehrere Sippen umfassende Gruppe, zu deren Bezeichnung man auch das Wort „Heer" (had), das früher „Sippe" bedeutete, gebrauchte. Während die Sippe durch das Anwachsen der Familie zustande kam, also ein natürliches gesellschaftliches Gebilde war, war der Stamm der militärische Zusammenschluß ethnisch verwandter Sippen, also ein künstliches politisches Gebilde. Die öffentliche Meinung jener Zeit machte aber noch keinen Unterschied zwischen gesellschaftlichen und politischen Funktionen. In der Zeit der reinen Sippenorganisation ist die Sippe zugleich ein politisches Organ, das mit seinen Nachbarn Kriege führen und Frieden schließen kann. Als die Stämme sich jedoch herausgebildet hatten, übernahmen die neuen politischen Organe diese Funktionen. Das Volk kennt nur die blutsmäßige Bindung als einzigen gesellschaftsbindenden Faktor und bekleidet deshalb notwendigerweise die neue Bildung, den Stamm, mit dem Charakter der Blutsverwandtschaft. In den zu einem Stamm gehörenden Sippen entsteht ein Gefühl blutsmäßiger Zusammengehörigkeit, der Glaube an die Abstammung von einem gemeinsamen Ahnen. An der Spitze des Stammes steht das Stammesoberhaupt, mit seinem alten ungarischen Namen Herzog = hadnagy (Heerführer), (slavisch: Woiwode), das entweder das Haupt eines mächtigen, die übrigen Sippen unterjochenden Geschlechtsverbandes ist oder von den einzelnen Sippenoberhäuptern beim Zusammenschluß zu einem Stamm gewählt wurde. Mit der Entstehung des Glaubens an die Verwandtschaft wird die Herzogswürde der an der Spitze des Stammes stehenden Sippe erblich, deren Oberhaupt aber als der über magische Kräfte verfügende, direkte Nachkomme des gemeinsamen Ahnen oder des Begründers des ganzen Stammes verehrt wird. Mit der Entstehung der militärischen und politischen Organisation war die Ordnung der Rechtsverhältnisse der Sippen notwendig geworden. Die neue politische Gemeinschaft kann gegen den äußeren Feind nur dann Erfolge erzielen, wenn sie ihre vollkommene Einigkeit und ihren inneren Frieden bewahrt. Deshalb müssen die inneren Kämpfe verhindert werden und dem Ab-

Politische Organisation : Stamm und Stammverband

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lösungs- oder Kompositionssystem die Wege geebnet werden. Das Vergehen gegen das Individuum wird auch weiterhin als privatrechtliches Vergehen betrachtet, und die Rache bleibt auch weiterhin lebendiger Rechtsbrauch. Aber die Verletzung kann nach Erfüllung bestimmter Vorbedingungen und Zeremonien durch Abzahlung des durch die Stammesgewalt bestimmten „Blutspreises" — richtiger Ablösungspreises — beigelegt werden. Dieses System machte den Parteien die Aussöhnung nicht nur möglich, sondern direkt zur Pflicht. Die natürliche Folge des Ablösungssystems war die Entstehung des richterlichen Aufgabenkreises der Stammesoberhäupter. Die Herzöge sind im Frieden die entscheidenden, friedenstiftenden Richter über die Zwistigkeiten der Sippen, im Kriege die unbeschränkten Richter über das Volk ihres Stammes. Über Diebstahl, Raub und andere Vergehen gegen das Eigentum richten die Sippen und Stammesoberhäupter auf Grund des „Gesetzes", d. h. des Gewohnheitsrechtes. Der Frauenraub, der Blutrache herausfordert und so den inneren Frieden der Stämme gefährdet, wird von dem Frauenkauf abgelöst. Das Heiratsgeschenk des Bräutigams, d. h. der Kaufpreis der Braut, war abhängig von der Schönheit des Mädchens und der Größe der Mitgift. Durch die Ehe trat die Frau in die Familie des Gatten ein und wurde, falls sie Witwe geworden war, auf Grund des Gewohnheitsrechtes des Levirats von ihrem Schwager oder von einem andern Verwandten ihres Mannes zur Frau genommen. Stephan der Heilige war gezwungen, diese Sitte durch ein Gesetz zu verbieten. Neben ihrer Gattin hielten sie sich auch Konkubinen, die sie sich aus den Reihen der im Kriege erbeuteten oder gekauften Sklavinnen auswählten. Sonst duldeten sie aber keine Unzucht. Vergewaltigung wurde wie Mord bestraft, Mädchenraub zog Blutrache bzw. die Verurteilung zu einem Ablösepreis nach sich. Im Falle eines Ehebruches hatte der Mann auch das Recht, seine schuldige Frau zu töten. Anfänglich leben die Stämme — so wie einst die Sippen — voneinander getrennt nebeneinander und verbünden sich höchstens zeitweise mit anderen verwandten Stämmen, um einzelne kriegerische Unternehmungen abzuwickeln. Auf einer späteren Entwicklungsstufe schließen sich die ethnisch verwandten, ja manchmal auch die einander rassefremden, aber benachbarten Stämme aus militärischer Zielsetzung zu ständigen Bündnissen zusammen. Die voneinander abgesondert lebenden Stämme der Germanen gruppieren sich am Anfange unserer Zeitrechnung zu solchen Stammverbänden. Die Türken z. B. lebten schon Jahrhunderte früher im Verband des östlichen Hunnenreiches in solchen Stammesverbänden. Die sich ständig wiederholende Anzahl der Stämme der verschiedenen türkischen Stammes verbände (zehn Oguren, zehn Ogusen, zehn Uiguren; neun Oguren, neun Ogusen, neun Uiguren; dreißig Tataren, dreißig Oguren usw.) und die einschlägigen historischen Quellenangaben zeigen, daß die Entstehung 5

Koman,

G e s c h i c h t e des ung.

Mittelalters

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Politische Organisation: Stamm und Stammverband

der türkischen Stammesverbände nicht bloß das Resultat innerer Entwicklung gewesen ist, sondern das Werk der in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung ein mächtiges Reich begründenden hunnischen Herrscher war. Im Rahmen dieser künstlich entstandenen Stammesverbände sandten die Stämme, da sie Heereseinheiten darstellten, ursprünglich die gleiche Anzahl von Kriegern in den Kampf. Dieser Urzustand ist es, der sich in der mittelalterlichen ungarischen Tradition widerspiegelt, die in den sieben ungarischen Stämmen sieben gleichmäßig aus dreißigtausend Reitern bestehende Heerhaufen sieht und sie so bezeichnet, wobei die Zahl dreißigtausend unbedingt übertrieben ist. Während der Blütezeit des Hunnenreiches war die größte militärische Einheit ein „Tömeny", das in dem ungarischen Wort „Tömenytelen" (unzählig, zahllos) noch heute weiterlebt; diese Einheit bestand aus zehntausend Mann und entsprach ursprünglich — wie es scheint — einem Stamm oder Stammverband. Im Laufe der Zeit entwickelten sich die nur als Heereseinheit dienenden Stämme und Stammverbände zu dauernden politischen Gemeinschaften, und es trat auch in der Verhältniszahl der Mitglieder der Stämme eine Veränderung ein. Es kam vor, daß unter dem Zwange der Verhältnisse, infolge eines äußeren Druckes oder innerer Zwistigkeiten, Bündnisse von Stämmen, die seit Jahrhunderten miteinander verbunden waren, mit einem Male zerfielen und die zu dem Verband gehörenden Stämme sich in verschiedene andere Verbände einfügten. Die jahrhundertelang im Stammverband der Onoguren lebenden Stämme der Ungarn gehörten um die Mitte des 6. Jahrhunderts zum Verbände der Uturguren, der sich später in zwei bzw. drei Teile auflöste. Die sieben Stämme, die nach Westen zogen und das heutige Ungarn in Besitz nahmen, bildeten den neuen, nach seinem Führerstamm „Het magyar" (Sieben Ungarn) benannten Stammesverband. In den längere Zeit in einem Verband zusammenlebenden Stämmen entstand im Laufe der Zeit — genau wie bei den zu Stämmen zusammengeschlossenen Sippen — der Glaube an die blutsmäßige Zusammengehörigkeit. Das Bewußtsein der Abstammung von einem gemeinsamen Ahnen vererbte sich auch vom Stamm auf den Stammesverband, wie es sich früher von der Sippe auf den Stamm vererbt hatte. Nachdem dies eingetreten war und eine über entsprechende Fähigkeiten verfügende Persönlichkeit oder Sippe sich an die Spitze der Bewegung gestellt hatte, wurde das lockere Bündnis ähnlich dem auf symbolischer Blutsverwandtschaft beruhenden Stamme zu einer fester gefügten Organisation, das Volk des Stammverbandes verdichtet sich zu einem Volk im politischen Sinne, zu einer Nation. Dieser Prozeß begann bei dem onogur-ungarischen Stammverband, der im 8. Jahrhundert sein Nationalbewußtsein unter der Fremdherrschaft eingebüßt hatte, im 9. Jahrhundert von neuem. Die Begleiterscheinungen dieses Vorgangs sind das Hervortreten des Magyar - Stammes, der Gebrauch seines Namens zur Bezeichnung des

Erbliches Fürstentum

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ganzen Volkes und die Erhebung seines legendären Ahnen zum namengebenden Helden des Volkes. In den türkischen Nomadenreichen wählte gewöhnlich der Fürst des herrschenden Volkes die Führer der Stammverbände aus, die seiner Herrschaft unterstanden. Solch ein Führer war der „Kende" Elöd, der den Stammverband der Ungarn aus dem Reiche des chasarischen Chagans in den Krieg geführt hatte. Um die friedliche Schlichtung der Streitigkeiten innerhalb des Stammes zu ermöglichen, wird dem Führer richterliche Gewalt verliehen, oder es bildet sich—wie es bei den Ungarn geschah — eine besondere Richterwürde heraus. Die Entwicklung des Richteramtes des Gyula (Dsula) weist darauf hin, daß man den vom chasarischen Reich für dieses Amt bestimmten Heerführer für ungeeignet hielt. Anstatt an ihn wandte man sich an das Oberhaupt der alten fürstlichen Sippe, das das Vertrauen des ganzen Volkes genoß und über magische Kräfte verfügte. ERBLICHES

FÜRSTENTUM

Die nächste Stufe der Entwicklung ist die Begründung des erblichen Fürstentums. Im ungarischen Stammesverband fand dies unmittelbar vor der Landnahme in Etelköz statt, obwohl die Ungarn schon früher — bis zu ihrer Unterjochung durch die Chasaren — seit Jahrhunderten unter der Herrschaft von erblichen Fürsten lebten. Die Fürstenweihe vollzog sich unter den Zeremonien einer symbolischen Blutsbrüderschaft (Blutsvertrag) und mit diesem Akt war die Umwandlung der lockeren Organisation des Stammverbandes zu einer politischen Nation besiegelt. Im Sinne des Vertrages wird die Fürstenwürde in der Familie Arpads erblich. Bei den türkischen Völkern war die Erbfolge nicht genau festgesetzt, der Fürst bestimmte selbst seinen Nachfolger, aber bei dieser Auswahl kam meist das Senioratsprinzip zur Anwendung, demzufolge das älteste Familienmitglied das Erbe des verstorbenen Fürsten oder Stammesoberhauptes antrat. Nach diesem Rechtsbrauch kamen die Herrscher der hunnischen und türkischen Reiche, Jahrhunderte später auch die der tartarischen und osmanischtürkischen Reiche auf den Thron. Das Seniorat wurde auch — offenbar unter türkischem Einfluß — die Grundlage des Erbfolgerechtes in den russischen Fürstentümern, die im 9. und 10. Jahrhundert entstanden waren. Ein großer Vorteil dieser Senioratserbfolge — die später die Ursache so vieler blutiger Thronstreitigkeiten geworden ist — war vor allem die Tatsache, daß die Führung ein erfahrener, bereits im Mannesalter stehender Herrscher in die Hand bekam, der schon früher — nach türkischem Brauch — in irgendeiner Form an der Regierung, vor allem an militärischen Unternehmungen teilgenommen hatte.

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Erbliches Fürstentum

Die Begründung des erblichen Fürstentums hatte die Festigung des Stammesverbandes zu einer ständigen Institution zur Folge, bedeutete aber keineswegs den Sturz der alten politischen und gesellschaftlichen Organisation. Da das Fürstentum eine Einrichtung war, die sich auf eine in der Familie des Fürsten erbliche Zaubermacht, gleichsam auf eine göttliche Auserwähltheit berief, sich auf wirkliche oder fiktive blutsmäßige Bande gründete und eine aus der Würde des Familienvaters, des Sippen- und Stammeshäuptlings abgeleitete Würde darstellte, stand sie in keinem Gegensatz zu der auf blutsmäßigen Banden beruhenden alten Organisation. Der Inhaber der gesamten zur Verfügung stehenden Macht des Stammesverbandes war — wie spätere ungarische Geschichtsschreiber, so z. B. Simon von Kéza und die übrigen sich auf ihn stützenden Chronisten des 14. Jahrhunderts berichten — die Gemeinschaft aller freier Ungarn, der Adeligen, d. h. die Communitas ; sie entschied über Krieg und Frieden. Die Zeitgenossen wissen fast gar nichts von dieser Institution, die die Auffassung der sich schon nach Komitaten organisierenden Kommunitäten der Adligen des 13. Jahrhunderts wiederspiegelt. Selbst der anonyme Notar König Bêlas, der die älteren Überlieferungen in ursprünglicherer Form bewahrt hat, weiß nichts davon. Dieser in der Atmosphäre des christlichen Königtums des 12. Jahrhunderts aufgewachsene Historiker sieht in Arpad noch einen unumschränkten Herrscher. Soll ein Gesetz geschaffen werden, so versammelt er seine Adligen in Puszta-Szer, wie es die Könige des 11. und 12. Jahrhunderts auch getan haben, vor seinen Anordnungen hört er, ähnlich wie diese, den Fürstenrat an, dessen Mitglieder er selbst bestimmt, verfügt aber dann nach seinem eigenen Willen. Die einzige Beschränkung seiner Macht liegt in der Unmöglichkeit, die sieben vornehmen Personen, die den Fürsten zu wählen haben, die Nachkommen der sieben Herzöge, aus dem Rat auszuschließen. Der Anonymus spricht zweifellos auf Grund der verfassungsrechtlichen Auffassung seiner eigenen Zeit von einem dem „königlichen Rat" nachgebildeten „fürstlichen Rat", aber in der Rolle der Nachkommen der Sieben Ungarn müssen wir eine Reminiszenz der alten Überlieferung sehen. Den Zeitgenossen ist der Rat der Stammesherzöge als das Forum, das in den die gesamte Nation berührenden Fragen zu entscheiden hat, bekannt. Im 10. Jahrhundert richten die byzantinischen Kaiser ihre Briefe an „die Herzöge der Ungarn", obwohl sie die Einrichtung des erblichen Fürstentums kennen. Über Krieg und Frieden entschied der Rat der Herzöge und innerhalb dieses Rates war das Wort der persönlich hervorragendsten Herzöge das ausschlaggebende. Eine so mächtige Herrscherpersönlichkeit, als die Arpâd seinem kaiserlichen Verbündeten und dessen Sohn bekannt war, konnte seinem eigenen Willen wohl Geltung verschaffen und wie ein echter militärischer Autokrat regieren, aber schon zur Zeit seiner schwachen Nachfolger rissen drei mächtige Stammesführer — der dem Namen nach

Kriegsorganisation und Kriegführung

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nicht bekannte Richter (Gyula), der Horka Bulcsu und der Herzog Lei — die Führung der Nation an sich. KRIEGSORGANISATION UND

KRIEGFÜHRUNG

In Kriegszeiten hatte der Führer des Heeres — gleichviel, ob es der Fürst oder dessen Sohn oder einer der Herzöge war, der diese Würde innehatte — unbeschränkte Gewalt über sein Heervolk, das er durch strenge Disziplin im Zaume hielt. Bei der Disziplinierung und Führung des Heeres halfen ihm die einzelnen Herzöge, die den Truppenkörpern, Tausendschaften, Hundertschaften und Zehnerschaften vorstanden. Die leichte Reiterei zog mit Bogen, Pfeilen, Schleuder, kurzem, einschneidigem, krummen Säbel, Axt oder Streithammer, Lanze und Lederschild gut ausgerüstet und angetan mit einem Lederwams in den Krieg. Diese Ausrüstung wurde durch den Steigbügel ergänzt, der seit der Hunnenzeit in Gebrauch war und aus welchem man stehend auch bequem nach hinten Pfeile abschießen konnte. Die Bewaffnung der Vornehmen, ihre Kleider und Pferdegeschirre waren prächtig, sogar prunkvoll; ihren Körper, oftmals auch ihre Pferde schützten sie häufig durch einen mit Metallplatten ausgelegten Lederpanzer. Zum Erstürmen von Burgen und Holzwehren hatten sie auch Sturmgeräte, doch konnten sie diese bei festeren Steinburgen kaum mit Erfolg anwenden. Das in den Krieg ziehende Heer wurde von leichten Wagen und Handpferden, die das Gepäck führten, und der zur Verpflegung bestimmten Rindviehherde begleitet. Wenn die Ungarn ein Lager aufschlugen, bauten sie ihre Zelte auf; die Pferde wurden in der Nähe angebunden. Das Lager wurde nicht durch Gräben geschützt, sondern durch eine Schutzmauer aus den Lastwagen gesichert. Im Kampfe vermieden sie nach Möglichkeit das Handgemenge. Wenn sie in die Nähe des Feindes gelangt waren, eröffneten sie den Kampf mit Pfeilen. In der Regel suchten sie geschützte Stellungen hinter Flüssen, zwischen Sümpfen und in Wäldern auf und eröffneten von dort aus einen Platzregen von Pfeilen und Schleudersteinen auf den Feind. Nach dem Pfeilkampf formierten sie sich, indem sie zwischen den Tausendschaften nur einen schmalen Trennungsabstand ließen, zu einer dichten Schlachtfront und stürmten im Galopp gegen den Feind vor, die feindlichen Kämpfer mit ihren Spießen von den Pferden stoßend. Gegenüber den mit langen Speeren und schweren Schwertern ausgerüsteten, gepanzerten westeuropäischen Kriegern erwies sich als ausgezeichnete Waffe der zur Zeit der Hunnen und Awaren noch unbekannte kurze, krumme Säbel; der Panzer wurde mit der Axt und dem Streithammer gespalten. Im übrigen kam die Streitaxt und das Schwert nur bei der Verfolgung des Feindes oder bei der eigenen Verteidigung zur Anwendung. Nach einem erfolglosen Überfall oder halbem Erfolge nahmen sie gern ihre Zuflucht zu

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Kriegsorganisation und Kriegführung

einer List. Nach der Gewohnheit der leicht berittenen Steppenvölker täuschten sie eine Niederlage vor und zogen sich plötzlich zurück, lockten dadurch die hinter ihnen her galoppierende schwere Reiterei in die Sümpfe und Wälder, wo der dann an jeder Bewegung gehinderte Feind ein Opfer der Angriffe der ungarischen Abteilungen wurde, die aus ihren Verstecken heraus ihre Pfeile und Schleudersteine abschössen. Da sie ausgezeichnete Reiter und Schützen waren, bestanden sie sogar oftmals mit Erfolg den Kampf gegen eine mehrfache Übermacht, und die den Rückzug deckenden, vom Pferde aus nach rückwärts schießenden Bogenschützen verwandelten mehr als eine Niederlage in einen Sieg. Das Fußvolk und die schwere gepanzerte Reiterei des Mittelalters erwiesen sich den leichtbeweglichen, aus dem Sattel stehend schießenden Ungarn gegenüber weit im Nachteil. Holzpallisaden, Erdwälle, Gräben, sogar die größeren Flüsse boten keinen Schutz gegen die im Sattel so sicheren, jedes Hindernis nehmenden, Gräben und Wälle überspringenden, Berge ersteigenden und Flüsse durchschwimmenden Ungarn. Ihre Heldenhaftigkeit, die kein Hindernis kennt, und ihr unerschrockener Wagemut wird selbst von den feindlich eingestellten und voreingenommensten Chronisten bereitwillig anerkannt. Doch klagen sie allgemein über die den Siegen unmittelbar folgenden schonungslosen Verwüstungen und Plünderungen. In christlichen Ländern litten besonders die Kirchen unter ihren Überfällen, da sie hauptsächlich nach Gold- und Silbergegenständen fahndeten. Viel litt auch das Landvolk unter ihren Einfällen, da die Bauern als Gefangene verschleppt wurden, um dann im Haushalt als Knechte Verwendung zu finden oder als Sklaven verkauft zu werden. Die in den Kriegszügen in der Heimat, an der Mäotis und in Etelköz erbeuteten slawischen und anderen Gefangenen verkauften sie gewöhnlich auf den Märkten der griechischen Städte der Krim. Die im 10. Jahrhundert auf den westlichen Kriegszügen gemachten Gefangenen wurden nicht selten in den nahen Städten oder auf den Märkten, die sie bei der Heimkehr berührten, verkauft. Die Ungarn waren gleich ihren östlichen Verwandten geborene Krieger; sie führten Kriege nicht nur aus einer Notwendigkeit heraus, sondern aus Lust am Kampfe. Manch einer trat um Sold und Beute in fremde Dienste; aber die rasch aufeinander folgenden Plünderungszüge erfolgten nicht nur der Beute wegen. Die Ungarn waren bestrebt, die Geländeverhältnisse der Nachbarländer kennen zu lernen, um im Ernstfalle den Kampf gegen ihre Nachbarn mit Erfolg aufnehmen zu können. Diese fortwährenden Streifzüge ersetzten ihnen die militärische Ausbildung und die Kriegsübungen der heutigen Zeit. Hier erprobten sie ihre Kräfte und Fähigkeiten, hier wurden ihre Söhne an den Kampf, an Mühen und Entbehrungen gewöhnt. Diese Plünderungszüge erzogen sie zu unüberwindlichen Kämpfern, und so erreichte ihre Kriegskunst das von den damaligen westlichen Völkern so bewunderte und beneidete Niveau.

Die wirtschaftliche Kultur

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Neben dem Angriffskampf wurde auch auf die Verteidigung großes Gewicht gelegt. Gegen plötzliche und überraschende Angriffe der Nachbarn schützten sie sich — ähnlich wie die Awaren, Chasaren und andere Steppenvölker — durch künstliche Verteidigungswerke, Wälle (Awarenring), Gräben und durch die Aufrechthaltung eines ihre Wohnsitze umgebenden unbewohnten, neutralen Gebiets. Diese natürliche und künstliche Schutzlinie, die sich innerhalb der neutralen Zone erstreckte, nannten sie Gyepü (Verhau), das jenseits der Schutzlinie befindliche Gebiet Gyepüelve, das man nur durch das Gyepütor, das sog. Landestor, betreten konnte. Arabische Reisende, die Ende des 9. Jahrhunderts die südrussische Ebene bereisten, erzählen, daß die Völker dieser Steppengegend, darunter auch die Ungarn, durch ein unbewohntes Gebiet im Ausmaße von zehn bis fünfzehn Tagereisen voneinander getrennt werden. Nach dem Bericht von Konstantinos Porphyrogennetos lebten die Petschenegen im 10. Jahrhundert vier Tagereisen von ihren nächsten Nachbarn, den Ungarn, entfernt. Diese Art der Verteidigung war auch anderswo nicht unbekannt. Im Anfange unserer Zeitrechnung waren die Siedlungsgebiete der einzelnen germanischen Stämme durch neutrale Waldgebiete voneinander getrennt, und die Größe und Ausbreitung dieses Waldgebietes war der Gradmesser der Macht und des Ansehens des betreffenden Stammes. Die Art der Kriegführung, die Entwicklung der Heeresorganisation und der Kriegswaffen — von den Keulen, Steinäxten und Schleudern der wilden Völker bis zu den modernen Artilleriewaffen, den Tanks und Flugzeugen — war immer der Ausdruck der jeweiligen allgemeinen Zivilisationshöhe. Die Kriegskunst der Ungarn der Landnahmezeit ist ebenfalls das Resultat einer Jahrhunderte, ja vielleicht Jahrtausende währenden kulturellen Entwicklung, innerhalb deren auch ihre wirtschaftliche und geistige Kultur eine gewaltige Umwandlung erlebte. DIE WIRTSCHAFTLICHE

KULTUR

Die landnehmenden Ungarn standen wirtschaftlich auf einer viel höheren Stufe als ihre von Beute, Fischerei und Jagd lebenden finno-mägyi-Vorfahren, ja ihre wirtschaftliche Kultur war auch höher entwickelt als die der reine Hirtenwirtschaft treibenden verwandten nomadischen türkischen Völker. An der Fischerei hatten sie große Freude, doch — zum Unterschied von richtigen Fischervölkern — betrieben sie den Fischfang lieber im Winter, wenn sie aus den Gebieten des Getreideanbaus und der Heugewinnung sich an das Ufer des Meeres und der Flüsse zurückzogen. Sie schlugen Löcher in das Eis und lauerten mit wahrhaft östlicher Ruhe auf das Zittern der Netzschnur. Im Frühjahr und Herbst zogen sie die aufregenderen Freuden der Jagd vor. Nach Art berittener Hirtenvölker zogen sie mit Bogen, Jagdhund und

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Die wirtschaftliche Kultur

Falken auf die Jagd und erlegten das Wild vom Pferde aus. Das Wildbret wurde gern gegessen, das Fell zu Kleidern und Sandalen verarbeitet, doch diente die Jagd nicht nur der Beschaffung von Kleidern und Lebensmitteln, sondern auch zu Handelszwecken. Die westsibirischen Onoguren waren schon in den Jahrhunderten vor Christi Geburt, die Onoguren der Mäotis und deren bulgarische Verwandte an der Wolga waren schon seit dem 5. Jahrhundert durch ihren Pelzhandel berühmt, und die Ungarn der Landnahmezeit haben gleich den Russen und Südslawen im Handelsverkehr Pelze und Tierhäute als Geld benutzt. Neben Fischerei und Jagd betrieben sie auch eine systematische Produktionswirtschaft. Ihre Hauptbeschäftigung war die Viehzucht; der Pferde- und Rinderbestand je einer Sippe belief sich auf Tausende, ja sogar Zehntausende. Die ersten Spuren des Ackerbaues weisen schon in die westsibirische Urheimat. An den Ufern der Mäotis wurde der Acker schon regelmäßig bebaut und zwar durch die slawischen Knechte der Sippe, da die Landarbeit — nach Auffassung der nomadisierenden Hirtenvölker — eines freien Mannes unwürdig war. Nach Berichten der orientalischen Reisenden, die Ende des 9. Jahrhunderts bei ihnen weilten, besaßen sie „viel Ackerfeld" und außer Weizen, Gerste } Hirse wurden auch schon Hülsenfrüchte wie Linsen, Erbsen, Bohnen, außerdem Zwiebeln, Meerrettich, Pfeffer, Hopfen, Hanf, ja sogar Wein angebaut. Der durch Sammel- und Hirtenwirtschaft natürlich bedingten nomadisierenden Lebensweise wurde durch die Landwirtschaft schon Schranken gesetzt. Die Ungarn sind niemals in weiten Gebieten ziellos herumschweifende nomadisierende Hirten, sondern — ähnlich den Chasaren des 9. Jahrhunderts und den Bulgaren des 6. Jahrhunderts — auf dem Wege der Seßhaftwerdung befindliche, Viehzucht und Ackerbau treibende Nomaden gewesen. Zur Ansiedlung suchten sie ein für Landwirtschaft geeignetes, an Wiesen und Weiden reiches fruchtbares Gebiet, verzichteten aber auch nicht auf zur Jagd und Schweinezucht geeignetes Waldgebiet. Gern wandten sie sich bewohnten Gebieten zu, deren unterjochte Bevölkerung sie dann zur Landarbeit verwandten. Sie hatten — wie die türkischen Völker und die Nomaden überhaupt — doppelte Wohnsitze. Im Winter zogen sie an das Ufer des Meeres, in die Nähe der Flüsse, und lebten dort von ihrem aufgespeicherten Getreide und sonstigen Vorräten und von der Fischerei und Jagd. Im Frühjahr zogen sie auf die weniger nassen Wiesen und die zur Weide und Ackerbau geeigneten fruchtbaren Hochflächen und blieben dort bis zum späten Herbst, indem sie in der Nähe des bebauten Feldes, der Weideplätze der Schaf-, Pferde- und Rinderherden ihre Zelte aufschlugen. Noch im 12. und 13. Jahrhundert finden wir häufig Spuren solcher Doppel-Siedlungen, die in vielem an die heutige TanyaWirtschaft der ungarischen Tiefebene erinnern. Um die Wende des 11. und 12. Jahrhunderts mußte ein Gesetz erlassen werden, wonach das allzu entfernte

Wohnung und Lebensweise

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Siedeln von der Kirche verboten wurde, und Otto von Freising, der anläßlich des zweiten Kreuzzuges durch Ungarn zog, berichtet, daß die Ungarn im Sommer in Zelten, im Winter in Holz- und Schilf häusern wohnten. Die Angehörigen und Knechte der Sippen und Familien führten im Sommer zerstreut auf den weiten Weideflächen ein Nomadenleben, im Winter aber sammelten sie sich und bildeten ein richtiges Dorf, das den Personennamen des Sippenoder Familienoberhauptes führte. Solche Dörfer, die den Namen der Führer der Landnahmezeit und der Nachkommen Ärpäds bewahrt haben, sind die Orte Szabolcs, Teteny, Huba, Tas, Jutas, Taksony, Tevel, Tormäs, Kartal und viele andere uralte Ortsnamen, die von einem Personennamen abgeleitet sind. WOHNUNG U N D

LEBENSWEISE

Sie wohnten in Zelten und Häusern. In den als Haus bezeichneten Katen und Erdhütten, die aus nur einem Raum bestanden, in die Erde eingegraben und mit Holz, Schilf oder Stroh gedeckt waren, wohnten nur die Knechte, die Nachkommen slawischer und anderer Gefangener. Die Ungarn selbst waren zusammen mit ihren Vornehmen und Fürsten — wie alle türkischen Völker — Zeltbewohner. Wir dürfen aber dabei nicht an die den Zeltdächern ähnlichen primitiven Baugerüste denken, die die finno-ugrischen Jäger und Fischer über ihre in die Erde gegrabenen Hütten gelegt haben. Das bei den nomadisierenden Türken noch heute gebräuchliche, mit einem Stangengerippe versehene Filzzelt ist eigentlich ein leicht zerlegbares, tragbares, mit einem Holzgerippe ausgestattetes und mit Filz bespanntes Haus. Man kann diese Konstruktion geradezu als vollkommen bezeichnen, und seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden machte sie kaum eine Veränderung durch. Der Grundbau besteht aus einer mannshohen, senkrechten, kreisförmigen Holzgitterwand, seine Innenfläche ist durch Zusammenziehen, beziehungsweise Auseinanderschieben regulierbar, sein Durchmesser schwankt zwischen 3 und 10 Meter. Über diese kreisförmige Wand, die an eine Gitterlaube erinnert, wölbt sich eine kugel- oder kegelförmige Dachkonstruktion. Das Dachwerk besteht aus biegsamen Holzstangen, deren unteres Ende mit dem oberen Rand der Wand verbunden wird und zwar so, daß sich der Deckenring in einer Höhe von dreieinhalb, ja sogar vier bis fünf Metern über dem Fußboden befindet. Die Wände werden ringsherum mit Matten bespannt und dann werden Fußboden, Dachwerk und Wände mit dicken, aus Tierhaaren verfertigten Filzplatten ausgeschlagen. Der zum Lüften und Entweichen des Rauches angebrachte Ring ist mit einem Filzdeckel versehen, der mit Hilfe einer Schnur geöffnet und geschlossen werden kann. Der Filzbelag und das ganze Zelt wird mit Seilen und Riemen befestigt. Die Türöffnung wird durch eine Holztür oder einfach durch eine Filzplatte geschlossen. Sie verwandten viel Sorgfalt auf das Ausschmücken ihrer Wohnun-

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Wohnung und Lebensweise

gen, die viel geräumiger, luftiger und sauberer waren als die primitiven Hütten und einzimmerigen Holzhäuser der zeitgenössischen Slawen und anderer Völker. In ihren Zelten häuften sie das Privatvermögen der Familie bzw. des Familienoberhauptes an, das aus kostbaren Fellen und Lederzeug, bunten Wollteppichen, Seiden- und Brokatgeweben, Gold-, Silber- und Bronzegegenständen, Gefäßen, Geräten und Waffen bestand. All dies diente auch, teilweise freiliegend, teilweise in schöngeschnitzten und bemalten Truhen verstaut und auf Wandgestellen untergebracht, zum Schmucke des Zeltes. Außer der Feuerstelle bestand die Einrichtung des Zeltes aus einigen Wandbänken, Betten, Kinderwiegen und mehreren Truhen, die auch als Tische Verwendung fanden. Die Zelte der vornehmen türkischen Führer, der Fürsten — so beschreibt sie der Gesandte Semarkhos nach seiner Reise zu dem Chagan der Türken — befriedigten mit ihrem glanzvollen Pomp selbst den anspruchsvollen Geschmack der Byzantiner. Die Ungarn hatten überhaupt viel Lust und Freude an Pomp und Luxus, ausgeschmückten Wohnungen und reicher Kleidung. Ihre Lebensweise entsprach dem Niveau ihrer Wirtschaftskultur. Ihre Küche war abwechslungsreich. Ihr Hauptnahrungsmittel war Rind-, Schweineund Schaffleisch, aber sie verachteten auch Wildbret und Fisch nicht. Außer Fleisch kamen Weizenbrot, Mehlspeisen, Gries, Hirse, Gemüse, Butter, Käse, Eier und Honig auf den Tisch. Sie tranken Milch, Wein, Met und den aus Stutenmilch bereiteten „Kumys". Das Märchen von dem unter dem Sattel weich gerittenen Fleisch ist ein reines Mißverständnis. Die frommen Christen, die die Ungarn während des Lagerns beobachteten, verwechselten die Fleischund Schmerstücke, die als Heilmittel auf die vom Sattel herrührenden Wunden unter den Sattel gelegt wurden, mit dem geräucherten und getrockneten Fleisch, das die Ungarn als Proviant am Sattelknopf mit sich führten. Die Verwendung des Tierblutes als Nahrungsmittel — heute übrigens auch noch gebräuchlich — ist nichts außergewöhnliches. Ihre Kleidung verfertigten sie aus Leinen, das aus Hanffäden gewebt wurde, und aus Filz und Leder. Die weiten Hemden und Hosen, der grobe Kittel, Pelzrock und Lammfellmütze des ungarischen Bauern, ergänzt durch Filzsandalen, sind Reste der alten Tracht. Im Kriege trugen sie Lederkleidung, die, häufig durch Metallplättchen verstärkt, auch als Panzer diente. Die Vornehmen und deren Frauen kleideten sich in Stoffe und Brokate, die sie aus der Fremde bezogen, sie verzierten ihre Gewänder mit Pelz, ließen ihre Waffen und Pferdegeschirre mit Silber beschlagen, schmückten ihr Kriegsgewand mit Emaille-Plättchen, Gold- und Silberschuppen und Spangen. Die Bayern erzählten noch jahrzehntelang von dem kostbaren Kriegsgewand des nach der Schlacht auf demLechfeld gefangenen Herzogs Lèi, das mit Gold und Silber geschmückt war, von seinem Panzer und Geschmeide, aus denen man

Gewerbe und Handel

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drei Pfund Edelmetall herausschmelzen konnte. Die Frauen hatten an Bronze-, Silber- und Goldschmuck ihre Freude und schmückten sich mit Reifen, Ringen und Armspangen. GEWERBE U N D

HANDEL

Die Kleidungs-, Haushalts- und Wirtschaftsartikel wurden größtenteils in der Hausindustrie hergestellt, aber zur Verfertigung des Leders, zur Herstellung von Filz, Waffen, Metallgeräten und Töpferwaren gab es schon berufsmäßige Handwerker. Diese Kürschner, Waffenschmiede und Töpfer gingen zum großen Teil aus den Reihen der Knechte hervor, denn man betrachtete das Handwerk — ähnlich dem Ackerbau — als eine des freien Mannes unwürdige Beschäftigung. Eisen, Silber, Gold und Seidenstoffe, sowie andere Luxusgegenstände verschafften sie sich auf den Märkten der benachbarten alanischen, krimgriechischen und chasarischen Handelsstädte und auf demselben Wege veräußerten sie ihre eigenen für den Verkauf bestimmten Waren. Nach der Landnahme besuchten sie die der neuen Heimat benachbarten Marktplätze — so die bulgarische Hauptstadt Preslaw, Prag und Regensburg — und boten dort Silber, Pferde, Sklaven und andere Waren feil. Ihre Handelsverbindungen reichten im Osten bis nach China, von wo über das Gebiet der Onoguren schon im 6. Jahrhundert durch türkische Kaufleute Seide nach den Städten Persiens und des oströmischen Reiches gebracht wurde. Die Waren des Nordens wurden durch bulgarische und russische Händler vermittelt, die — nach AI Hamadani und anderen Autoren — schon Mitte des 9. Jahrhunderts ihre Waren auf Schiffen bis zur Mündung des Don brachten. Von Süden her suchten arabische, jüdische und armenische reisende Händler die ungarischen Pelzjäger auf. Bei ihren Handelsgeschäften gebrauchten sie als Zahlungsmittel meist Pelze, Tierhäute und Ochsen, doch war ihnen das Metallgeld auch nicht unbekannt. Das arabische und persische Silbergeld, das byzantinische Goldgeld, wurde von ihnen als Schatz gesammelt und als Schmuck getragen. Die Tribute, die sie im 10. Jahrhundert ihren besiegten Gegnern auferlegten, bestätigen ebenfalls, daß ihnen das Edelmetall bekannt war. Hugo und Berengar II. zahlten das Silber scheffelweise. Die Steuer, die Heinrich I. zu entrichten hatte, erschöpfte zwischen 924 und 932 Sachsens ganzen Silbervorrat. Auch auf ihren Heereszügen waren die Ungarn bestrebt, möglichst viel Gold und Silber zu erbeuten. Das erklärt auch ihre häufigen Überfälle auf Kirchen und Klöster. Die aus der Sprache der Alanen stammenden Lehnwörter: väm (Zoll), hid (Brücke), väsär (Markt), vasärnap (Sonntag = Markttag) zeugen von der Kenntnis bereits fortgeschrittener Handelsbegriffe, mit denen sie noch vor der Entwicklung des chasarischen und bulgarischen Handels während des 5.—7. Jahrhunderts durch Vermittlung ihrer kaukasi-

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Nomadentum

sehen Nachbarn bekannt wurden. Die sassanidisch-persischen Motive, die für die Ornamentik der archäologischen Funde aus der Zeit der Landnahme charakteristisch sind, weisen ebenfalls in jene Epoche und in das Gebiet des Kaukasus, während die auf einigen Gegenständen erkennbaren byzantinischen Merkmale sich infolge der fortgesetzten Handelsbeziehungen mit den griechischen Städten der Krim eingebürgert haben. NOMADENTUM

Die entwickelte Wirtschaftskultur der Ungarn stand in keinem Gegensatz zu ihrer halbnomadischen Lebensweise. Zwischen der Lebensweise seßhafter und nomadisierender Völker sieht die vergleichende Völkerkunde schon lange keinen Gradunterschied mehr, sie erblickt im Nomadentum nicht jene Stufe der Wirtschaftsentwicklung, die der Seßhaftigkeit vorausgeht. Das Nomadentum als wirtschaftliche Lebensform unterscheidet sich von der Wirtschaftskultur der seßhaften Völker nur der Art nach, da beide eine höhere oder niederere Stufe darstellen können. Die großangelegte NomadenhirtenWirtschaft der türkischen Völker entstand als das Ergebnis einer Jahrhunderte währenden politischen und wirtschaftlichen Entwicklung im Zusammenhang mit den im ersten Jahrtausend vor Christo einander ablösenden nomadischen Kriegerstaaten der asiatischen Steppen als deren Stütze und in ihrem Schutz. Bei primitiven anspruchslosen Völkern auf niederer Wirtschaftsstufe ist eine Produktionswirtschaft von solchenAusmaßen nicht vorstellbar. Wenn eine die großen Massen umfassende politische und militärische Organisation fehlt, werden die Völker, die nur durch Blutsbande zusammengehalten werden und deren Sippen voneinander getrennt leben und ganz auf sich selbst angewiesen sind, durch den Selbsterhaltungstrieb, die Rücksicht auf die Selbstverteidigung notwendigerweise an den Ort gebunden. Sie bebauen das Feld, jagen, weiden ihre Herden innerhalb eines ganz kleinen Kreises in der Nähe ihres gut geschützten Lagerplatzes, der anfänglich eine natürliche Zufluchtsstätte ist — eine Höhle, eine Grotte, ein enger Talkessel, ein dichter Wald, eine Insel, ein durch Wasser oder Sümpfe geschütztes Gebiet, später ein künstlicher, aus Erde aufgeworfener Wall oder eine Lehmfestung. Ihre Wirtschaft ist aus Gründen der Selbstverteidigung sehr begrenzt und außerdem auf Waldgebiete angewiesen, deshalb beschränkt sich die Viehzucht auf kleinere Haustiere — Schafe, Schweine, Ziegen und Geflügel, sowie Imkerei —, und so kommen sie sehr bald zur Bearbeitung des Bodens, zur bewußten Kultivierung der zur Ernährung nötigen Nutzpflanzen. Die die Sammelwirtschaft ablösende Wirtschaftsform der primitiven Viehzucht und des primitiven Ackerbaus, so z. B. die Produktions Wirtschaft der Slawen und der Finnougrier des 9. Jahrhunderts oder der heutigen primitiven außereuropäischen Völker, stellt eine viel tiefere

Religion, Urglaube

77

Stufe der kulturellen Entwicklung dar als die Hirtenwirtschaft der türkischen Nomadenvölker. Die Wirtschaft auf großen Gebieten, in weiten Umkreisen vom sicheren Zufluchtsort, das Nomadenleben im eigentlichen Sinne des Wortes, ist die Gewohnheit von Völkern, die den primitiven Zustand schon überwunden haben, politisch schon organisiert oder zum mindesten im Organisieren begriffen sind, und die auf ihre militärischen Kräfte vertrauen. RELIGION,

URGLAUBE

Ähnlich der Wirtschaftskultur stand auch die geistige Bildung der landnehmenden Ungarn bereits auf einer höheren Stufe der Entwicklung. Ihre Religion war dieselbe wie der Urglaube der türkischen Völker, der Turkmenen, Bulgaren und Chasaren. Eine große Rolle spielte darin der Geisterglaube, der aus der Zeit des primitiven Animismus stammt. Im Mittelpunkt des Sippenkultes stand die Verehrung der Geister der Ahnen, eine der wichtigsten gesellschaftsbildenden und zusammenhaltenden Kräfte. Der Geist, die Schattenseele des verstorbenen Ahnen, hatte nach ihrem Glauben Zauberkräfte und war der gute Geist, Beschützer und Erhalter der Nachfahren. Deshalb versuchten sie sein Wohlwollen mit allen Mitteln zu gewinnen. Mit dieser Verehrung hängen auch der Kultus der Feuerstelle des Geschlechts, der Götzen sowie die verschiedenen Begräbniszeremonien und die Sitte der Erinnerungsmahle zusammen, deren Spuren man sogar noch in der christlichen Epoche Jahrhunderte später begegnet. Den Seelen der Ahnen wurde täglich geopfert, indem das erste Stück der Speise in das ewig brennende Herdfeuer des Hauses geworfen wurde. Viel Sorgfalt wurde auf die Erhaltung des immerwährenden Feuers gelegt, dessen Erlöschen dem Hause Unglück gebracht hätte. Einmal im Jahr löschten sie es feierlich und entzündeten es dann von neuem. Um das Feuer haben sie ihre Sippen- und Familiengötzen (Bild, Grabmal), die häufig aus Gold und Silber verfertigt waren, aufgestellt. Solche wurden im 6. Jahrhundert von Gorda, dem Onogurenfürsten, zerstört und eingeschmolzen und wurden später vom hl. Gerhard (St. Geliert) als „skythische Götzen" bezeichnet. Diese Erscheinungen eines Urkultes wurden von den arabischen Reisenden mißverstanden, die deshalb die Ungarn Feuer- und Götzenanbeter nannten. Um das Wohlwollen der Verstorbenen zu erwerben, begruben sie sie zusammen mit Speise, Schmuck, Kleidern und Pferden; Fürsten mitunter sogar mit ihren am Grabe getöteten Dienern. Während ihrer Kriegszüge verbrannten sie die auf fremder Erde gefallenen Toten auf Scheiterhaufen, und da sie ihre Zeremonien nicht ausführen konnten, nahmen sie die Asche mit in die Heimat, wo sie dann unter Zeremonien beigesetzt wurde. Um die Seele des Toten zu versöhnen, veranstalteten sie am Grabe, später im Totenhause das Totenmahl (tor), mit dem ein Fest — der Totentanz — verbunden

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Religion, Urglaube

war. Zum Zeichen ihres Schmerzes zerschnitten sie sich das Gesicht mit dem Messer. Im Falle eines gewaltsamen Todes trat die Sühne durch Vollziehung der Blutrache, die sakralen Charakter trug, ein. Außer dem Totenmahl, das beim Begräbnis gehalten wurde, veranstalteten sie auch zu Ehren eines bereits früher verstorbenen lieben Toten Erinnerungsmahle. Der Sühnebrauch blieb bis heute im Volke lebendig, doch seit der Ausbreitung des Christentums trat an die Stelle der Menschenopfer und der Versorgung des Toten die Freilassung von Sklaven oder ihre Schenkung an die Kirche sowie die Verteilung von Almosen an Arme. Mit der Verehrung der Zauberkraft der Ahnen hängt die magische — wie man heute sagt: charismatische — Deutung der Würde des Stammesoberhauptes und Fürsten und der theokratische Anstrich ihrer Macht zusammen. Daraus folgt, daß der Stammesherzog, der Fürst, der Inhaber der in seiner Familie erblichen übermenschlichen Fähigkeiten und magischen Kräfte — des Charismas — ist. Darauf beruht ihre politische und priesterliche Macht und Würde. Die Urzeit, die infolge ihrer totemistischen Weltbetrachtung in den geheimnisvollen Erscheinungen der Natur noch die Offenbarung überirdischer Kräfte sieht, führt den Ursprung dieser übersinnlichen Fähigkeiten auf das heilige Totemtier des Geschlechtes zurück, das einst auf himmlisches Geheiß in das Leben der Familie eingegriffen hatte. Dieser mythische Totemahne erscheint als Traumbild in der Turulsage: Emese wird im Traume von dem auf göttlichen Befehl erscheinenden Turulvogel befruchtet, der so zum symbolischen Vater des Älmos wird, durch den das Königshaus wieder zur Macht gelangt und der sich gleichsam als Inkarnation des heiligen Totemahnen vor der Inbesitznahme der neuen Heimat opfern läßt, damit seine Zauberkraft und seine Fähigkeiten ungeschwächt auf seinen Sohn Arpäd übergingen. Dieser Glaube herrschte auch bei den Chasaren, die — wie zeitgenössische Chronisten berichten — ihren Chagan anläßlich seines Thronantrittes solange würgten, bis er ohnmächtig wurde. Als er wieder aus der Ohnmacht erwachte, wurde er befragt, wie lange er zu regieren gedenke, und das Wort, das er dann aussprach, besiegelte sein Schicksal, denn nach Ablauf des bezeichneten Jahres wurde er von seinem Nachfolger aufgeopfert, der dann Erbe seiner magischen Kräfte und seiner Zaubermacht wurde. Das Vorhandensein dieser totemistischen Religionselemente wird auch durch die Namen alter ungarischer Sippen belegt, die den Namen ihres Totemtieres trugen: Turul ( = Falke), Äkos ( = weißer Falke), Kartal ( = Geier), Bors ( = Panther), Kaplyon ( = Tiger). Die Tiefe dieses alten Kultes erklärt auch die religiöse Verehrung, die den Stammesherzögen und Fürsten von ihren Völkern gezollt wurde. Dies erklärt den autokratischen Charakter ihrer Macht, aber auch gleichzeitig, wie es — im Falle eines Sinkens des in ihre magischen Kräfte und ihre Auserwählt-

Monotheismus

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heit gesetzten Vertrauens und religiösen Glaubens — möglich war, daß die Fürsten in den Hintergrund gedrängt und andere Familienmitglieder zur Herrschaft gelangen konnten — z. B. der den Bleda verdrängende Attila — oder aber andere Stammesführer — z. B. zur Zeit von Ärpäds Nachkommen im 10. Jahrhundert Bulcsu und Gyula —, die sich das Vertrauen und die Verehrung des Volkes erworben hatten. Außer an die Seelen der Ahnen glaubten sie noch an gute und böse Geister, letztere brachten ihrer Ansicht nach Krankheiten, Zauber und Tod; sie nannten sie iz, hagy (hagymäz), ördög (Teufel) und boszorkäny (Hexe). Diesen Geistern schrieben sie Zauberkräfte und eine Verderben bringende Macht zu, und um ihre Gunst zu erlangen und Schädigungen zu entgehen, nahmen sie ihre Zuflucht zu Zaubermitteln und Opfern. Ihre Priester sind — außer den mit Zauberkraft ausgestatteten Stammes- und Sippenoberhäuptern — Medizinmänner und Ärzte, die durch Besprechung heilten und die krankheitsverursachenden Geister vertrieben, und die außerdem aus dem Innern, den Eingeweiden und Knochen der Opfertiere weissagten. Die mit den Schamanen des Ostens identischen Weisen, Priester und Zauberer (bölcsek, tältosok, bübäjosok) waren zaubermächtige Magier, die Regen, Blitz und Donner hervorrufen, Überschwemmungen und Brände fernhalten, den Feind durch Verhexung vernichten und den irdischen Menschen Nachrichten aus derGeisterwelt überbringen konnten. Während ihrer Zeremonien machten sie einen großen Lärm, trommelten, sprangen herum, brachen in wildes und lautes Rufen aus und sangen Zauberformeln. Sie versenkten sich in einen künstlichen Trancezustand, und indem sie in Kontakt mit den Geistern traten, gaben sie nach dem Erwachen weissagende Ratschläge. Die Opferhandlungen wurden am heiligen Brunnen, an der Quelle des Opferbrunnens, abgehalten, beim heiligen Baum (ügyfa = hl. Baum) und auf dem aus Steinen errichteten oder natürlichen Steinaltar (egykö = hl. Stein). Opfertiere waren Rinder, Schafe und Ziegen; bei festlichen schicksalsentscheidenden Anlässen nahm man schöne, starke, weiße Pferde, deren Fleisch bei dem Opfermahle, das auf die Opferzeremonie folgte, verzehrt wurde.

MONOTHEISMUS

Außer dem aus den ältesten Zeiten stammenden Animismus und den mit diesem verbundenen Zeremonien begegnen wir schon im 7. Jahrhundert entwickelteren Religionsanschauungen. Außer an die Geister, die menschlicher Abstammung waren, glaubten die Ungarn, die mit den türkischen Völkern gleichen Glaubens waren, an höhere überirdische Wesen, so an den Geist der Erde, des Wassers, der Luft, des Himmels, der Sonne, des Mondes und des Feuers; an diese übernatürlichen, abstrakten Allgötter richteten sie

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Monotheismus

Hymnen und brachten ihnen Opfer dar. Sie glaubten an einen über allem stehenden himmlischen Gott, den mächtigen Schöpfer und Herrn über Himmel und Erde, den sie allein Gott (Isten) nannten. Die sich von den Ungarn im 10. Jahrhundert lostrennenden Baschkiren haben — nach Ibn Fadhlan — außer der Verehrung von Schlangen, Fischen und Kranichen noch „zwölf göttliche Wesen verehrt, so den Gott des Winters, Sommers, des Regens, Windes, der Bäume, der Menschen, des Rindviehs, des Wassers, der Nacht und des Tages, des Todes, des Lebens und der Erde"; doch den im Himmel wohnenden Gott (Isten) hielten sie über alle diese Götter für erhaben. Neben dem alten Glauben an einen über allem stehenden himmlischen Gott war ihnen die Lehre der monotheistischen Offenbarungsreligionen nicht unbekannt. Die onogurischen Ahnen der Ungarn hatten durch ihre alanischen und armenischen Nachbarn, durch ihre byzantinischen Verbindungen und ihre Landsleute, die in römischem Sold kämpften, bereits in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts Kenntnis von der christlichen Religion. Schon um 530 haben armenische Bischöfe, so Quarduct und später Maq, am Ufer der Mäotis unter den Onoguren Bekehrungen vorgenommen. Zur selben Zeit nahm Fürst Gorda in Byzanz die christliche Religion an und ließ sich taufen. Gordas Bekehrungsversuche mißlangen vollständig; die durch die Einschmelzung ihrer Gold- und Silbergötzen ohnedies schon empörten Sippen wurden von ihren heidnischen Priestern zu einem Aufstand gereizt und an Stelle des ermordeten Fürsten wurde dessen jüngerer Bruder auf den Thron erhoben. Von größerem Erfolg gekrönt waren die Bekehrungsversuche des Fürsten Kurt um die Mitte des 7. Jahrhunderts, doch nach der Unterwerfung durch die Chasaren lebte der alte heidnische Glaube von neuem auf und wurde wieder stärker. Auch von den unter den Chasaren im Laufe des 9. Jahrhunderts mit großem Erfolge wirkenden mohammedanischen, jüdischen und christlichen Missionaren sind sicherlich mehrere bei den Ungarn gewesen. Der heilige Cyrill begegnete im Jahre 860 auf seiner Reise zum chasarischen Chagan einer Schar Ungarn, die ihn zuerst töten wollten, ihn aber, als sie seine Worte gehört hatten, in Frieden ziehen ließen. Ähnlich erging es 20 Jahre später dem Bruder Cyrills, dem hl. Method, bei dem Führer der Ungarn, die in der Donaugegend herumstreiften, der ihn zu sich einlud, ihm einen würdigen Empfang bereitete, seine Lehren anhörte und um sein Gebet für ihn bat. Um 926 war Bischof Prunwart in Sankt Gallen, 954 der heilige Wigbert in Belgien unter den dort lagernden ungarischen Kriegern mit großem Erfolg missionarisch tätig, und es ist kein Fall bekannt, daß unter den heidnischen Ungarn des 10. Jahrhunderts christliche Missionare ihres Glaubens wegen ihr Leben verloren hätten, was bei den Slaven im 9. und 10. Jahrhundert eine alltägliche Sache war.

Sagen und Märchen

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Die Ungarn der Landnahmezeit bewiesen dem Christentum gegenüber jedenfalls die größte Duldung. Die Vornehmen des Landes hörten mit Freude die Lehre der Missionare an. Diese Erscheinung steht keineswegs vereinzelt da. Seit dem Ende des 8. Jahrhunderts begann im Kreise der türkischen Völker der mohammedanische, christliche, ja sogar der jüdische Glaube mächtig Raum zu gewinnen. Bei den Chasaren wurde der alte Glaube sehr schnell in die Landgegenden zurückgedrängt. Die in der Nachbarschaft des byzantinischen Reiches lebenden Donaubulgaren traten zusammen mit ihren slavischen Unterworfenen mit Fürst Boris an der Spitze im Jahre 864 zum Christentum über. Einige Jahrzehnte später erschienen auch bei den Wolgabulgaren christliche, jüdische und mohammedanische Missionare, und im Jahre 921 trat das ganze Volk mit seinem Fürsten zum mohammedanischen Glauben über. Zur selben Zeit begann der Islam auch unter den türkischen Völkern Wurzel zu fassen. Unter den Osttürken verbreiteten sich die nestorianischen Lehren und die dualistischen Lehren des Manichäismus; jahrhundertelang machten diese Lehren dem Islam bei den türkischen Völkern den Sieg streitig. Die türkischen Völker des 9. und 10. Jahrhunderts, ebenso wie die ihrem Kulturkreis angehörenden Ungarn, hat ihr Glaube an den Herrn des Himmels, den allerschaffenden Gott, zur Annahme des monotheistischen Offenbarungsglaubens aufnahmefähig gemacht. Als die Awaren nach Europa kamen, stand ihnen die monotheistische Einstellung der Türken des 9. Jahrhunderts vollkommen fern; so konnten sie zweieinhalb Jahrhunderte eingekeilt zwischen christlichen Völkern leben, ohne daß sie jemals an einen Glaubensübertritt gedacht hätten. Auch die Volkssplitter, die die große Niederlage überlebten, konnten nur mit bewaffneter Gewalt zur Annahme der christlichen Religion gezwungen werden. Hingegen traten die Ungarn ohne jede größere Erschütterung nach kaum hundert Jahren zur christlichen Religion über, weil diese ihrer von Osten her mitgebrachten seelischen Disposition entsprach.

SAGEN UND

MÄRCHEN

Die Wurzeln der ältesten Dichtung des ungarischen Volkes reichen bis in die Welt der Religion und vor allem in die Welt des Urkultes zurück. Mit der Verehrung der Seelen der Ahnen war das Bewahren und Lebendigerhalten all ihrer Taten verbunden. Beim Leichenschmaus und auf den Erinnerungsmahlen wurden die bedeutendenTaten und Erlebnisse desToten, die mit wilden Tieren, Menschen und Elementen bestandenen Kämpfe, wiedererzählt. Die Abenteuer jener Helden, die sich bei Kampf und Jagd besonders hervorgetan hatten, später die Taten der Stammesoberhäupter, Fürsten und Heerführer, wurden — bereichert durch legendenhafte Elemente — in Form von einfachen Schilderungen, oft auch in rhythmischen Versreihen, erzählend, singend, de6

H ö m a n , Geschichte des u n g . Mittelalters

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Die Kenntnis der Schrift

klamierend von Mund zu Mund weitergegeben. Auf einer späteren Entwicklungsstufe tritt das religiöse Element in den Hintergrund und gibt dem Kriegsruhm Raum. So entwickelt sich die Heldensage. Auch von den Taten der lebenden Fürsten und Führer werden Heldenlieder und Gesänge verfaßt, und diese werden schon zusammen mit den die Ahnen preisenden Gesängen von Berufssängern und -erzählern bei Gelagen vorgetragen. Neben diesen Heldensagen entstehen im Volk die Märchen, in deren Mittelpunkt seltsame Naturerscheinungen, Greueltiere, die Schicksale der Menschen lenkende gute und böse Geister, Feen, Hexen, Teufel und die mit den bösen Geistern in Verbindung stehenden Zauberer stehen. Leider wurden diese alten Sagen und Märchen nach der Aufnahme der christlichen Religion durch neue verdrängt und nur wenige wurden durch die Geschichtsschreibung des Mittelalters bewahrt. Diese Perlen der ungarischen Dichtung der Heidenzeit — so die Ursprungssage, die die historische Überlieferung der hunnischen Abstammung des Herrscherhauses und die Erinnerung an die alte Sitte des Frauenraubs aufbewahrte, die von der Geburt und den Taten des Almos erzählende religiös gefärbte TurulSage, die Fürstenwahl und der Blutvertrag, das weiße Pferd, das Horn des Lèi, Botond der Starke und die wunderbare Sage der 7 Ungarn — zusammen mit den in späteren Sagen und Volksmärchen auftauchenden Motiven und Urelementen sind beredte Zeugen von dem Reichtum ungarischer Volksphantasie und der alten Sagen- und Märchenwelt. DIE K E N N T N I S DER

SCHRIFT

Diese stark mit märchenhaften Elementen durchwobenen Heldensagen und Volksmärchen — die ersten Zeugnisse der ungarischen Dichtung und Geschichte — wurden auf dem Wege der mündlichen Überlieferung von einer Generation an die andere weitergegeben. An eine Niederschrift dachte man nicht, obwohl ihnen die Kunst des Schreibens nicht fremd war. Die Worte Schrift (iräs) und Buchstabe (betu) sind bulgaro-türkische Worte aus der Zeit vor der Landnahme, und noch im 16. Jahrhundert war an vielen Orten des Landes noch die alte ungarische Kerbschrift bekannt und gebräuchlich, von der uns einige Denkmäler erhalten geblieben sind. Diese ungarische Schrift ist mit Ausnahme von zwei Buchstaben mit der Schrift der kök-türkischen Inschriften des 6.—7. Jahrhunderts identisch. Die Hunnen und Awaren und — nach Prokop — die hunnischen Völker des Pontus um die Mitte des 6. Jahrhunderts und die Uturguren und Kuturguren waren des Schreibens unkundig. Das erste türkische Volk, von dem wir geschriebene Dokumente besitzen, ist das um die Mitte des 6. Jahrhunderts auftauchende und nicht viel später die onogurischen Vorfahren der Ungarn besiegende Volk des köktürkischen Reiches. Ihre Schrift übernahmen noch in der Dongegend die Donaubulgaren, die Uiguren und die

Die Kenntnis der Schrift

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übrigen türkischen Völker. Es ist sicher, daß die Vorfahren der Ungarn von den im 6. und 7. Jahrhundert sie beherrschenden Türkvölkern die Kunst des Schreibens erlernt haben. Das türkische Alphabet ergänzten sie durch zwei darin fehlende Buchstaben (e und a). Diese zwei Buchstaben des ungarischen Alphabets decken sich mit den entsprechenden Zeichen der altslawischen Glagolitica, die Ungarn müssen also entweder in ihrer neuen Heimat von den Bulgaren, die schon damals die Glagolitica beherrschten, diese Schrift übernommen oder in ihrer Heimat am Ufer der Mäotis sie aus dem samaritanischen Abc entliehen haben. Die Buchstaben wurden mit Messern in Holzstäbe und auf Pfeile gekerbt. Aus dem 10. Jahrhundert berichtet An Nadim, daß der Hauptkönig der Türken, wenn er seinen Feldherrn eine Botschaft sandte, die Zeichen auf gespaltene Holzpfeile kerben ließ, die die Vornehmen des Stammes lesen konnten, und daß auch einer der kaukasischen Könige mit solchen Zeichen schrieb. Die Türk-Völker und Uiguren ließen später lange Aufschriften in Stein meißeln. Außer diesen spärlichen Denkmälern der geistigen Kultur der Vorzeit werfen noch die mit dem byzantinischen Hofe gepflogenen diplomatischen Beziehungen und das den Missionaren gegenüber bezeugte Interesse ein günstiges Licht auf die geistige Kultur der Vornehmen des ungarischen Volkes. Die eigentümliche türkische Kultur der Ungarn der Landnahmezeit mit ihren im Laufe der Jahrhunderte teils durch Vermittlung der Hunnotürken, teils unmittelbar übernommenen ostasiatischen, iranischen, arabisch-persischen und griechischen Elementen, die sie dank ihrer vierhundertjährigen osteuropäischen Kulturentwicklung aufgenommen hatten, stand nicht nur auf einer bedeutend höheren Kulturstufe als die ihrer finno-ugrischen Verwandten, von denen sie sich schon in der Vorzeit getrennt hatten und als die der im 9. Jahrhundert aus Asien vordringenden viehzüchtenden türkischen Völker — der Petschenegen, Uzen und Kumanen —, sondern auch höher als die Kultur ihrer slavischen Nachbarvölker. Das Erscheinen der Ungarn im Gebiet der neuen Heimat zwischen den im Rahmen einer fremden — fränkischen und bulgarischen — politischen Organisation in lockeren Gemeinschaftsgebilden lebenden, waldbewohnenden Slawen bedeutete den Anfang einer wirtschaftlichen Verwertung des bis dahin brachliegenden Bodens und infolge des Verfalls des Frankenreichs eine Neuorganisation auf politischem und militärischem Gebiete. Das im Laufe der Jahrhunderte stufenweise sich immer höher entwickelnde Kulturniveau der Ungarn der Landnahmezeit und ihre die die slawischen Nachbarvölker weit überragende politische und militärische Organisation befähigte sie zur Gründung des ungarischen Donau-Theiß-Staates und schuf die Vorbedingungen, denen sie später die bedeutende Rolle, die sie im Mittelalter im Leben Europas spielten, zu verdanken haben. 6*

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Die Erben der Awaren / Awaren und Szekler

FÜNFTES

KAPITEL

D I E E R B E N DER AWAREN Das Reich der awarischen Chagane im Gebiet zwischen Donau und Theiß, das schon seit anderthalb Jahrhunderten im Verfall begriffen war, fiel zwischen 796 und 803 den Angriffen des fränkisch-römischen Kaisers Karls des Großen und des bulgarischen Chans Krum zum Opfer. Der Untergang des Reiches bedeutete auch den Untergang des awarischen Volkes, von dem — wie ein späteres slawisches Sprichwort besagt — im 10. Jahrhundert „selbst die Erinnerung verloren ging". Die Volksreste, die diese große Vernichtung überlebten, wurden — zusammen mit den um 870 zum letzten Male erwähnten Gepiden — teils von den Slawen, von denen sie ein Jahrhundert hindurch systematisch verfolgt wurden, teils von den Magyaren, die bald darauf ihr Land in Besitz nahmen, aufgesogen. AWAREN U N D

SZEKLER

Ein Teil der Awaren aus Transdanubien wurde um 804 durch die Verfolgungen der Slawen gezwungen, nach Nordwesten zu ziehen und siedelte sich mit Erlaubnis Karls des Großen in dem Gebiet von Sabaria — dem heutigen Steinamanger — bis in die Gegend von Ödenburg und Wieselburg hin an. In diesem Gebiet — zwischen Hainburg und Raab — treffen wir noch im Jahre 875 die Nachkommen der zum Christentum bekehrten Awaren an. Seit der Landnahme der Ungarn fehlt über sie jede Nachricht, doch tauchen die seit 1116 erwähnten Szekler des Wieselburger Gebietes in eben dieser Gegend auf. Die ungarische Überlieferung aus dem 11.—13. Jahrhundert, die die Awaren nicht kennt, beziehungsweise sie mit den Hunnen identifiziert, hat auch das Siebenbürger Szeklertum für solch eine geflüchtete Volksgruppe gehalten. Dieser Überlieferung nach sollen die Szekler einst „König Attilas Volk" gewesen sein, das nach dem Tode Attilas, um den Verfolgungen der westlichen Völker zu entgehen, nach Siebenbürgen zog und zur Zeit der Landnahme, seine Söhne mit mannigfachen Geschenken freiwillig als Geiseln stellend, als Vortrupp in den Kampf zog. Nach der alten Überlieferung kann man als ziemlich sicher annehmen, daß die Siebenbürger Szekler zusammen mit jenen an der Westgrenze Abkömmlinge der Awaren oder eines unter awarischer Herrschaft stehenden östlichen Volksstammes waren, — vielleicht Splitter der Kuturgur-Bulgaren oder der Onogur-Ungarn, die mit der awarischen Landnahme hierher verschlagen wurden. Hierdurch läßt sich auch erklären, weshalb weder die ungarische Überlieferung noch die zeitgenössische westliche Literatur außer von dem noch um 875 auf dem Siedlungsgebiete der Wiesel-

Bulgaren und Bulgaroslawen / Slowenen, Kroaten, Serben

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burger Szekler erwähnten awarischen Volksreste von den Awaren oder Hunnen auf ungarischem Gebiet etwas zu berichten weiß. BULGAREN UND

BULGAROSLAWEN

Die Bewohner des östlich der Donau und des Sohler Waldes gelegenen Landesteils gehörten zum Stamm der Bulgaroslawen. Die Vorfahren der Bulgaroslawen bewohnten noch um 545 das Gebiet zwischen dem Dnjestr und der unteren Donau. Um dem awarischen Druck auszuweichen, zogen sie über die Donau nach Mocsien und Thrakien, wo sie unter die Herrschaft der Bulgaren, die gegen Ende des 7. Jahrhunderts auf dem Balkan vordrangen, gelangten. Ein anderer Teil der Bulgaroslawen kam — zusammen mit den Awaren — um die Mitte des 6. Jahrhunderts nach Siebenbürgen und in das Donau-TheißGebiet und lebte hier in zerstreuten Siedlungen, die sich um Erdwälle und primitive Lehmburgen in den Sumpfwäldern gruppierten. Im Norden drangen sie bis an die obere Theiß und das Donau-Knie vor. Die Erinnerung an sie bewahren die Fluß- und Ortsnamen bulgaroslawischen Ursprungs in diesem Gebiet (wie Labore, Tmava, Toplica, Zemplen, Csongräd, Nögräd, Bodrog, Haram) sowie die bulgaroslawischen Lehnwörter der ungarischen Sprache. Die türkischen Reste des östlichen Landesteils wurden seit der Eroberung durch Chan Krum zu Beginn des 9. Jahrhunderts durch Bulgaren ergänzt, die sich zu den Siedlungen der Theiß-Slawen hinzugesellten und vielen Flüssen und Ortschaften bulgarotürkische Namen gaben (Karasö, Küküllö, Bäcs, Gyalu). Das große Gebiet zwischen Donau und Theiß — mit Ausnahme der Ansiedlungen der Ost-Abodriten im südlichen Teile — war nahezu unbewohnt. Der englische König Alfred der Große berichtet am Ende des 9. Jahrhunderts von einer „Wüstenei", die sich zwischen Kärnten — d. h. dem Gebiete der Slowenen am Plattensee — und den Ländern der Bulgaren befinde. Und ein Jahrzehnt später nennt auch Regino Ungarn „das wüste Land der Awaren und Pannonier". SLOWENEN, KROATEN,

SERBEN

Transdanubien, d. h. das Gebiet des einstigen Pannonien ganz bis zu den Kärntner Alpen, wurde von den pannonischen Slowenen und den am Ende des 9. Jahrhunderts sich dazwischen ansiedelnden Slowaken bewohnt. Die Erinnerung an dieses slawische Volk, das auf ungarischem Gebiet ausgestorben beziehungsweise von den Ungarn aufgesaugt worden ist, wird durch eine große Anzahl slowenischer Lehnwörter in der ungarischen Sprache bewahrt. Jenseits der pannonischen Slowenen, im Gebiet zwischen der Drau und dem Kapela-Gebirge — der einstigen Pannonia Savia — haben ebenfalls Slowenen gewohnt, die seit dem Aufschwung der Nationalbestrebungen der Kroa-

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Slowaken, Mährer, Weißkroaten, Tschechen / Deutsche und Romanen

ten seit ungefähr 130 Jahren Kaj-Kroaten genannt werden. Im alten Liburnien und in Dalmatien, von der Kapela bis zur Cetina, sogar bis zur Narenta, von der Meeresküste bis zu den Flußtälern der Sana und des Orbas, ja bis zu dem Quellgebiet der Rama finden wir Kroaten, die lange den awarischen Chaganen Tribut zahlen. Südöstlich von diesen erstrecken sich in der alten Provinz Praevalis, im Tale der oberen Bosna, oberen Drina und des Limflusses gegen Südwesten bis zum Meere hin, bis zum Skutari-See und den albanischen Alpen die Niederlassungen der Serben, während die Gebiete östlich der Drina und des Lim bereits zum bulgarischen Reiche gehörten.

SLOWAKEN,

MÄHRER, WEISSKROATEN,

TSCHECHEN

Am linken Donauufer — nördlich einer gedachten Linie zwischen Neutra und Modern und westlich des großen Waldgebiets von Sohl — wohnten die Neutra-Slowenen oder „Toten". Ihre Nachkommen verschmolzen zum Teil mit den Ungarn der kleinen ungarischen Tiefebene, zum größeren Teil vereinigten sie sich jedoch mit den vom Norden her kommenden Weißkroaten und den aus dem Westen vordringenden Mährern und legten so den Grundstein zum Ethnikum des heutigen slowakischen Volkes. Westlich von den kleinen Karpathen, im Tale der March und in den Tälern ihrer Nebenflüsse Thaya und Schwarzawa finden wir schon mährische Slowenen; am rechten Ufer des nordwestlichen Teiles der Waag — im Grenzgebiet des heutigen Komitats Trentschin — aber Weißkroaten, die über Schlesien und Mähren vorgedrungen waren. Westlich und nordwestlich von den Mährern, im Gebiet der oberen Elbe, der Moldau und ihrer Nebenflüsse, saßen die Tschechen, die lange Zeit hindurch den awarischen Chaganen untertänig und tributpflichtig waren.

DEUTSCHE UND

ROMANEN

Die Bewohner des westlichen Landesteiles erhielten im 9. Jahrhundert durch deutsche und lombardische Ansiedler einen bedeutenden Zuwachs. Die Siedler kamen aus Bayern und der Markgrafschaft Friaul auf awarisches Gebiet. Auf dem Gebiete der Ostmark, das sich östlich der Enns an beiden Seiten der Donau erstreckte, und in jenen Teilen Kärntens, die einst unter awarischer Herrschaft gestanden hatten, entstanden im Laufe des 9. Jahrhunderts zahlreiche deutsche Siedlungen und militärische Wachtposten. Solche deutschen militärischen Kolonien waren Odenburch (Ödenburg), Guns (Güns), Miesiginburch (Wieselburg) und wahrscheinlich auch das seit der Mitte des 11. Jahrhunderts erwähnte Pereslavasburch (Preßburg). Im südlichen Teil Pannoniens, der noch im 12. Jahrhundert die „Weide der Römer" genannt wurde, wohnte ein romanisches Viehzüchtervolk, das aus der Lombardei und der Markgraf-

Die Kultur der Slawen

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schaft Friaul zugewandert war. Die ungarische Überlieferung erwähnt diese als „Römer" (pastores romanorum), mit einem slawischen Wort „olasz" (Blasii) oder als „Wallachen" (blachi, qui et pastores Romanorum), als die Nachkommen der alten römischen Bevölkerung von Transdanubien, die die hunnische Herrschaft überlebt haben. DIE K U L T U R DER

SLAWEN

Das Einsickern der in der südlichen Nachbarschaft lebenden Slawen in das Awarenreich begann in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts und nahm immer größere Ausmaße an. Die Awaren sahen dieses Eindringen der Slawen gern, allem Anschein nach haben sie sogar die zu landwirtschaftlicher Knechtsarbeit geeigneten Slawen angesiedelt, und wie einst die Hunnen die unterworfenen germanischen Völker und die Volksreste der Sarmaten und die Bulgaren ihre balkanisch-slawischen Unterworfenen, so haben auch die Awaren die zugewanderten Slawen unter ihren Schutz gestellt. In Haushalt und Wirtschaft brauchten sie deren Arbeitskraft und ihre aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen bestehenden Abgaben. Später haben die awarischen Chagane — ähnlich den bulgarischen Chanen des 8. Jahrhunderts — auch auf ihren Feldzügen zum Kriegsdienst gezwungene slawische Knechte verwendet, die neben den awarischen und bulgarischen Reitertruppen als Fußtruppen kämpften. Die Slawen duldeten friedlich das fremde Joch und dienten treu ihren awarischen Herren. Die große Mehrzahl der Slawen war sowohl in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung als in politischer Bedeutung weit hinter den zeitgenössischen germanischen und türkischen Völkern zurückgeblieben. Die russischen Slawen und die Balkan-Serben hausten — nach den Berichten arabischer Reisender, die zu dieser Zeit Rußland bereisten, und nach Leo dem Weisen — noch im 9. Jahrhundert in dichten Waldungen, um je eine primitive Erd- oder Sumpffestung gruppiert, in Geschlechtsverbände getrennt, unter der Herrschaft ihrer Sippenoberhäupter und Zupane. Ihre Hirtenwirtschaft umfaßte nur die Schaf- und Schweinezucht. Daneben betrieben sie noch Imkerei und bereiteten Honig und Honigbier. Pferde und Rinder gab es nur wenig, nur di& Vornehmen besaßen solche. Wein- und Ackerland hatten sie nicht; das einzige Getreide, das sie anbauten, ihr Hauptnahrungsmittel, war die Hirse. Sie waren genügsam und scheuten die schwere Feldarbeit und andere harte Arbeiten. Ihre Kleidung bestand aus einem hemdartigen Gewand und einer Sandalenart, die die Füße fast barfuß erscheinen ließ. Ihre Waffen waren eine lange Lanze und ein kurzer Wurfspieß, manchmal auch vergiftete Pfeile und ein Schild. Ihr Familienleben war rein. Die Gefangenen behandelten sie verhältnismäßig gut; sie waren gastfreundlich, da sie aber Blutrache übten, gab es unter ihnen viele Fehden.

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Die Kultur der Slawen

Schon auf höherer Kulturstufe standen die Bulgaroslawen, die pannonischen Slowenen, Mährer, Tschechen und vor allem die Kroaten. Die Lehren der christlichen Religion waren dank der italienischen, fränkisch-bayrischen und griechisch-bulgarischen Einflüsse auch schon zu diesen Völkern gedrungen, obzwar ihr Glaube — ausgenommen bei den wirklich innerlich bekehrten Kroaten — noch auf sehr schwachen Füßen stand. Ihre Priester waren Fremde, Deutsche, Italiener und Griechen, die nach dem Einbruch der Ungarn ihre neophytischen Anhänger verließen. Der Erzbischof von Salzburg klagt um 900 nicht ohne Grund, daß die Slawen ihre Religion verleugneten und den heidnischen Gebräuchen der Ungarn huldigen. Diese Völker waren größtenteils schon Ackerbauer, doch stand ihre landwirtschaftliche Kultur noch auf sehr primitiver Stufe. Charakteristisch dafür ist die Ansiedlung der Slowaken im Gebiet der heutigen Slowakei, im Gebiet von Liptau, Zips und Turöcz, während des 10.—12. Jahrhunderts, die die fruchtbaren, für die Landwirtschaft besonders geeigneten Flußtäler ohne Ausnahme unbesiedelt ließen. Diese fruchtbaren Flußtäler wurden im 12. Jahrhundert von den in Massen eindringenden ungarischen und sächsischen Siedlern in Besitz genommen, während sich das schon früher dort ansässige Slawentum um die am Rande des Waldgebietes erbauten primitiven Erdburgen scharte. Am auffallendsten ist die Zurückgebliebenheit der slawischen Völker hinsichtlich der politischen Organisation. Unter den Stämmen, die auf dem Gebiet des awarischen Reiches lebten und dem awarischen Chagan Tribut zahlten, bildete sich außer dem Bewußtsein einer gemeinsamen Abstammung und einer uralten volklichen Zusammengehörigkeit kein darüber hinausgehendes Gefühl einer politischen oder nationalen Gemeinschaft aus. Zur Ausbildung höherer politischer und militärischer Organisationsformen und zur Staatenbildung waren sie unfähig. Sie hatten nicht einmal die Fähigkeit, im Rahmen der einzelnen Stämme eine politische Einheit zu schaffen. Die auseinanderstrebenden und in starrer Absonderung lebenden slawischen Geschlechtsverbände, die untereinander in dauerndem Streit lebten und durch Blutrache stark verfeindet waren, hatten nur als Unterworfene der sie beherrschenden Awaren Anteil an einer größeren politischen Gemeinschaft. Zum Kampf gezwungen, erwiesen sie sich als tapfere Soldaten, doch ließen sie sich ungern auf selbständige kriegerische Unternehmungen ein. Sie neigten mehr zum Frieden und trugen geduldig das Joch der Knechtschaft. Die Organisation ihrer Stämme, Stammesverbände und Fürstentümer ist nicht das Resultat einer inneren Entwicklung, sondern es sind aus der Fremde eingeführte Einrichtungen. Die Vorbereitung einer politischen Organisation und der Ausbildung einer Nation ist bei ihnen das Verdienst der awarischen, bulgarischen, fränkischen und griechischen Reiche, die das Samenkorn eines eigenen politischen Bewußtseins, unter sie streuten.

Die bulgarische Herrschaft in der Theißgegend DIE BULGARISCHE HERRSCHAFT

IN DER

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THEISSGEGEND

Das Balkanreich der Bulgaren, die gegen Ende des 7. Jahrhunderts unter der Führung Isperichs nach Moesien und Thrakien gezogen waren, erlebte im 9. Jahrhundert seine erste Blütezeit. Der kriegerische Chan Krum (802—814) zog — den Sieg Karls des Großen über die Awaren ausnutzend und wahrscheinlich mit diesem im Bunde — sogar selbst gegen die Awaren, und indem er die jenseits der Theiß gelegenen Teile des awarischen Reiches eroberte, schob er die Grenzen seines Reiches bis zu den nordöstlichen und östlichen Karpathen vor. Chan Omortag (814—831), der mit dem byzantinischen Kaiser Frieden schloß, konnte sich auf seine kriegerischen Erfolge stützen und seine Herrschaft über ganz Thrakien ausdehnen. Omortag nahm im Jahre 824 auch das Land zwischen Donau und Theiß in Besitz, dessen slawische Bewohner — die östlichen Abodriten und die kutschanischen Slawen — seit dem fränkischen Theißfeldzug von 796 dem fränkisch-römischen Kaiser Untertan waren. In den folgenden Jahren drang er, über das Flußtal der Drau und Save vorstoßend, auch in Pannonien ein und nahm dessen längs der Drau gelegene Teile in Besitz. Doch schon im Jahre 830 war er gezwungen, sich hinter die Donaulinie zurückzuziehen; bloß Syrmien konnte er noch halten. Seit dieser Zeit bildete der Donauabschnitt zwischen Waitzen und Vukovar sowie das an der Westgrenze Syrmiens sich erstreckende Waldgebiet von Pozega die westliche Grenze der Nordprovinz des bulgarischen Reiches. Chan Presjan (836—853) schob die Grenzen des Reiches im Südwesten bis zum Wardar, zum schwarzen Drin und zum Gebiet von Prilep und Ochrida vor und brachte so ganz Slawisch-Makedonien unter seine Herrschaft. Unter seiner Regierung beginnt das Christentum sich in größerem Umfange auszubreiten. Sein Sohn und Nachfolger Chan Boris (853—888) — mit seinem christlichen Namen Michael — trat 865 zum Christentum über, wandte sich an den Papst und ließ sich mit der vom Papst Nikolaus erhaltenen Krone zum König — bulgarisch: zum Zaren — krönen. Gleichzeitig rief er lateinische Priester in sein Land. Als jedoch im Jahre 870 die Synode von Konstantinopel der neuen bulgarischen Kirche völlige Unabhängigkeit und auch slawischen Ritus zusicherte, löste er sich von Rom und schloß sich endgültig der griechischen Kirche an. In der Zeit des Sturzes des Photius und der Vereinigung der Kirchen kamen die aus Mähren vertriebenen Schüler des hl. Cyrill und Method nach Bulgarien, wo sie — nachdem sie die Oberhoheit des römischen hl. Stuhles anerkannt hatten — Apostel der bulgarischen Kirche mit slawischem Ritus wurden. Die Gründung der slawischen nationalen Kirche zog die vollkommene Slawisierung des herrschenden bulgarischen Elements nach sich. Boris' hochgebildeter und tatkräftiger Sohn, Zar Simeon (893—927), den die Bulgaren den Großen nennen, war einer der hervorragendsten Herrscher seiner Zeit. Er kämpfte

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Die Karolinger in Pannonien

erfolgreich gegen Byzanz und breitete die Grenzen seines Landes im Südosten und Süden bis Konstantinopel und zum Ägäischen Meere, im Westen bis zur Adria aus. Im Nordwesten reichte seine Macht bis zur Donaulinie, im Norden bis zum oberen Laufe der Theiß. Seit 917 nannte er sich: „Zar aller Bulgaren". Die spärlich bewohnten und zerstreuten Niederlassungen der Slawen, Bulgaren und Awaren im Theißgebiet und in Siebenbürgen wurden im 9. Jahrhundert durch die griechisch „Duka" genannten Organe des bulgarischen Zaren regiert. DIE KAROLINGER IN

PANNONIEN

Zu derselben Zeit kam das awarische Gebiet rechts der Donau unter fränkisch-deutsche Herrschaft. Die Ausbildung des karolingischen Weltreiches hatte auch im Donauraum eine neue Lage geschaffen. Die awarische Macht war 796, nach 300 jährigem Bestehen, den Waffen Karls des Großen erlegen. Die bis zur Theiß vordringenden Franken schlugen die mit dem bayrischen Herzog verbündeten Awaren, der Chagan wurde gefangen genommen, zum Christentum bekehrt und mußte Karl den Treueid leisten. Nachdem der erfolglose Aufstand des Jahres 803 blutig niedergeschlagen worden war, gab es noch fast ein Vierteljahrhundert lang christliche Awarenchagane unter den Lehenspflichtigen des Kaisers, doch gelang es ihnen nie mehr, größere Macht zu erlangen. Karl der Große schloß die westlich der Donau gelegenen Provinzen des Awarenreiches zusammen mit den dem Chagan tributpflichtigen Völkern — den Kroaten, den Slowenen in Pannonien und Neutra, den Mährern und Tschechen — an sein Reich an. Die östlich der Enns liegende Ostmark, zusammen mit dem nördlich des Plattensees bis zur Donau reichenden Teil des alten Pannonien, mit den Slowenen des Neutra-Gebietes und den mährischen Slawen gelangte unter die Oberhoheit des Markgrafen der Ostmark, das Gebiet Pannoniens südlich des Plattensees bis zur Save und Kapela, westlich bis zu den Alpen und die jenseits der Kapela wohnenden Kroaten kamen unter die des Markgrafen von Friaul. Die Aufgabe der beiden Markgrafen war der Schutz und die Organisierung der neuen Provinzen, die Bekehrung der slawischen Völker und der Awarenreste zum Christentum. Das Reich Karls des Großen hatte keine lange Dauer. Durch den Vertrag vonVerdun wurde es in drei Teile zerrissen, und nach der Teilung und dem Zerfall des Reiches wußten seine slawischen Lehensleute die inneren Zwistigkeiten gut auszunützen. Kaum einige Jahre nach Karls Tod waren schon Loslösungsbestrebungen am Werke. Die slawischen Sippenoberhäupter, die in die fränkische Verwaltung eingereiht waren, übten ihre Machtbefugnis ähnlich wie die Grafen und Herzöge des Reiches aus, indem sie die Oberhoheit des Kaisers dem Namen nach anerkannten, im übrigen aber nach der Errichtung einer

Das mährische Fürstentum

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selbständigen Fürstenmacht strebten. Als erster versuchte Liudewit 819 in dem Gebiet zwischen der Save und Kapela ein unabhängiges slawisches Land zu begründen. Es gelang ihm, seine Herrschaft, allerdings nur für kurze Zeit, auf das Gebiet zwischen Save und Drau und auf die rechts der Save und an der unteren Donau wohnenden Timotschanen und Branitschewatzen auszudehnen. Zur selben Zeit begann auch mit größerem Erfolg die Organisierung der südlich des Kapela-Gebirges wohnenden Kroaten durch ihre Fürsten Borna, Wladislaw und Moislaw.

DAS MÄHRISCHE

FÜRSTENTUM

Die Slowenen aus dem Gebiet von Neutra wurden von dem Stammesoberhaupt Privina organisiert, der auch das Christentum förderte. Als der mährische Fürst Moimir um 835 Privina angriff, ihn und seine Anhänger vertrieb und sein Volk unterjochte, war die Kirche von Neutra bereits von dem Erzbischof Adalram von Salzburg (821—836) geweiht worden. Viele der Vertriebenen suchten in Transdanubien eine Heimstätte und gründeten mehrere von einander getrennte slowakische Siedlungen (Gran, Visegrad, Tüskevär, Tihany, Karakö). Privina selbst flüchtete zu dem fränkischen Markgrafen Pannoniens, Ratpod, um später, nachdem er nach seiner Taufe auch mit diesem in Streit geraten war, zu den heidnischen Bulgaren zu fliehen. Der Name „Marawani", der vom Fluß March stammt, und zur Bezeichnung der dortigen Slowenen verwandt wurde, begegnet uns zum ersten Male im Jahre 822, als deren Abgesandte zusammen mit denen der Abodriten, Tschechen, Elbsorben und Wilzen in Frankfurt Ludwig dem Frommen huldigten. Moimir (830—846), der sich dem Kaiser zum Schein unterworfen hatte, beginnt kaum ein Jahrzehnt später selbst schon einen Eroberungsfeldzug. Privina machte sich nach der Einnahme seiner Provinz und der Unterwerfung der Slowenen von Neutra immer selbständiger und begann als ein vom Reiche unabhängiger Fürst über die Mährer und Slowenen von Neutra zu herrschen. Die nur durch eine lockere politische Beziehung verbundenen Geschlechtsverbände der Tschechen, die fast ein halbes Jahrhundert hindurch dem Reiche treu gewesen waren, lebten westlich von Mähren unter dem Schutze des Reiches und unter bayrischem Einfluß jahrzehntelang in Frieden und Ruhe; im Jahre 845 ließen sich sogar vierzehn vornehme tschechische Sippenoberhäupter in Regensburg in Anwesenheit des Königs taufen. 846 führte Ludwig der Deutsche ein großes Heer gegen den treulosen Moimir, entzog ihm seine Würde und setzte Rastislaw (846—870) zum mährischen Fürsten ein. Swatopluk, Moimirs Sohn, mußte sich mit dem Besitz einer Provinz — vielleicht der Neutragegend — zufrieden geben. Aber mit dem Personenwechsel war die Gefahr der Absplitterung nicht behoben, sondern eher

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Das Pannonische Herzogtum Privinas

noch gestiegen. Die heidnischen Tschechen — ohne Rücksicht auf den Treueid ihrer bekehrten Stammesbrüder — fielen dem heimkehrenden bayrischen Heer in den Rücken. Damit begann ein lOjähriger Kriegszustand, in den sich alle slawischen Stämme — Sorben, Wilzen, Dalaminzier, Mährer — zusammen mit Rastislaw einmischten, der die Hilfe des ihm verbündeten bulgarischen Chans Boris ausnützte und die Waffen gegen seinen Herrn erhob. Nur der von Neutra nach Transdanubien geflüchtete Privina blieb seinem Könige treu. DAS PANNONISCHE HERZOGTUM

PRIVINAS

Privina kam, nachdem er sich mit Ratpod versöhnt hatte, 840 nach Pannonien zurück und wurde mit der Herrschaft über die zwischen der Raab, dem Plattensee und der Drau wohnenden Slowenen betraut. Die nördliche Grenze der pannonischen Provinz war die südwestliche Abzweigung des Bakonyer Waldes und das Sumpfgebiet des Plattenseeufers. Im Osten zog sich die Grenze längs des Baches Koppäny bis zu den Sümpfen des Donauufers hin. Im Süden erstreckte sie sich bis zur Drau, im Westen bis Pettau und Ratkersburg. Der östliche Teil war ziemlich spärlich bewohnt, aber am Plattensee und westlich von diesem lagen die Niederlassungen der pannonischen Slowenen hintereinander, nur ab und zu von einem deutschen Ansiedlerdorf unterbrochen. Privina (847—862) regierte sein Reich von der Stadt Mosapurc aus ( = Sumpfstadt, Moorstadt), die in den Sümpfen des Zala-Flusses an der Stelle des späteren Zalavär lag. In kurzer Zeit baute er die Kirchenorganisation Pannoniens aus, indem er, unterstützt von dem Erzbischof von Salzburg, Liupram, eifrig christianisierte. Eine Kirche nach der anderen entstand in Pannonien. Die prächtigste dieser Kirchen in Mosapurc weihte Liupram selbst zu Ehren des hl. Hadrian. Die pannonischen Slowenen lernten unter dem Schutze des ostfränkischen Reiches, der Regierung Privinas und der Seelsorge der bayrischen Kirche, wie es die pannonisch-slowenischen Lehnwörter der ungarischen Sprache bezeugen, die kirchlichen, religiösen, christlichen Begriffe und die Einrichtungen des Frankenreiches kennen. Diese friedliche Organisationsarbeit wurde 861 von der Erhebung des Markgrafen Karlmann unterbrochen, der sich, unzufrieden mit seinem Wirkungskreis in der Ostmark und Karantanien, erhob und die Wiederherstellung des bayrischen Königtums — wie es unter seinem Vater zwischen 824—843 bestanden hatte — anstrebte. Das pannonische Fürstentum des seinem König treu ergebenen Privina stand ihm dabei im Wege. Deshalb nahm er Rastislaws Hilfe mit Freuden an, der 862 scheinbar im Interesse Karlmanns, im geheimen aber die Erweiterung seiner eigenen Macht erhoffend, über die Donau setzte und mit seinem Heer Privina angriff. Auf Rastislaws Aufforderung und ihm zu Hilfe kam auch jene ungarische Reiterschar aus der Dnjeprgegend, die 862

Rastislaw, Fürst von Mähren

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die Grenzgebiete Pannoniens verheerte. König Ludwig wandte sich an den bulgarischen Chan Boris um Hilfeleistung, nachdem es ihm schon vorher gelungen war, ihn von Rastislaw zu trennen. Der Heereszug endigte mit einem Siege der Verbündeten. Rastislaws Heere zogen sich aus Pannonien zurück und der König drang siegreich in Mähren ein. Der aufständische Karlmann geriet in die Gefangenschaft seines Vaters, Rastislaw gelobte dem Kaiser Treue, aber der treue Privina erlebte den Sieg seines Herrn nicht mehr, er fiel im Kampfe gegen die Mährer. Sein Sohn, Fürst Kozel (Chezil) (862—876), erbte seine Provinz. An die Spitze Karantaniens trat Graf Gundakar, aber schon nach zwei Jahren übernahm wieder Karlmann die Herrschaft über die Ostmark und Kärnten. RASTISLAW, F Ü R S T VON MÄHREN

Der Sieg des Königs war aber doch nicht vollständig. Rastislaw, der sich scheinbar unterworfen hatte, arbeitete weiter an der Verselbständigung seines Gebietes, und da er in der bayrischen Kirche, die auf Mähren einen großen Einfluß hatte, das Haupthindernis für die Verwirklichung seiner Pläne sah, trachtete er danach, seine Kirche unabhängig zu machen. Während bei den Tschechen durch den Bischof von Regensburg, in Privinas Fürstentum durch den Erzbischof von Salzburg die Leitung und Führung der Bekehrungsarbeiten und die Organisierung der Kirche vor sich ging, wurde in Mähren seit Jahrzehnten von den Priestern des Bistums von Passau christianisiert. Doch während die Tschechen und Privina infolge ihrer politischen Abhängigkeit an der kirchlichen Oberhoheit des bayrischen Bischofs nichts auszusetzen hatten, plante der nach politischer Unabhängigkeit strebende Rastislaw ähnlich dem Chan Boris von Bulgarien die Errichtung einer von der deutschen Kirchenorganisation unabhängigen, mährisch-nationalen Kirche mit slawischem Ritus. Er erwartete zunächst ebenso wie Boris von Papst Nikolaus die Errichtung des mährischen Erzbistums. Erst als er dort abgewiesen worden war, wandte er sich 863 nach Konstantinopel und erbat slawischsprechende Missionare. Kaiser Michael III. sandte ihm 864 Konstantinos, — den nachmaligen Heiligen Cyrill — und Method, das in Wissen und Glauben gleich starke thessalonische Bruderpaar. Cyrill, der das kirchenslawische (glagolithische) Schriftsystem begründet hat und die Bibel ins Slawische übersetzte, und Method, der sich während der Zeit, da er eine wichtige politische Mission unter den Slawen erfüllte, eine ausgezeichnete Kenntnis ihrer Sprache und Sitten erworben hatte, verschafften sich in Mähren große Volkstümlichkeit. Mit um so größerem Mißfallen wurde ihre Tätigkeit von der bayrischen Geistlichkeit und vom ostfränkischen Hof betrachtet. Die beiden Brüder wurden 867 von Papst Nikolaus I. nach Rom zitiert, wo sie sich wegen der schweren Anklage, den slawischen Ritus eingeführt zu haben, rechtfertigen sollten. Sie nahmen ihren

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Kozel, Fürst von Pannonien / Swatopluk, Fürst von Mähren

Weg durch das Gebiet Kozels und gewannen auch ihn für den Gedanken einer von der bayrischen Kirchenoberhoheit unabhängigen Kirche mit slawischem Ritus. KOZEL, FÜRST VON PANNONIEN

Kozel dachte ebensowenig an einen Abfall von der römischen Kirche wie Rastislaw oder Cyrill und Method. Das Zugeständnis des slawischen Ritus und die Befreiung von der Oberherrschaft der bayrischen Bistümer über die kirchliche Organisation der zum Christentum der Mutterkirche bekehrten slawischen Völker hatten sie erbeten : jene aus politischen Gründen, diese im Interesse einer erfolgreichen Bekehrung. In jedem Falle aber dachten sie an ein Ausschließen des deutschen Einflusses, was die Fürsten im Interesse der eigenen Unabhängigkeit, die griechischen Priester im Interesse des byzantinischen Kaiserreiches für wünschenswert hielten. Dieses bis dahin beispiellos dastehende Privilegium konnte die politische Befreiung der Mährer und Slowenen, schließlich die politische Unabhängigkeit der gesamten slawischen Völker und die Ausscheidung aus dem ostfränkischen Reiche nach sich ziehen oder doch zum mindesten vorbereiten. Aus diesen Gründen fanden sie bei Nikolaus I., der ein Freund des Königs und der bayrischen Geistlichkeit war, kein Gehör. Seine Nachfolger, die Päpste Hadrian II. (867—872) und Johann VIII. (872—882), schenkten ihnen ihr Wohlwollen, nachdem sie sich von der Reinheit des Glaubens dieser beiden Apostel und von ihrem Gehorsam dem hl. Stuhl gegenüber überzeugt hatten, da sie von ihnen die Bekehrung einer großen Anzahl heidnischer Slawen erhofften. Nachdem Cyrill in Rom gestorben war, kehrte Method 869 mit dem Titel eines Erzbischofs von Syrmien als Metropolit von Pannonien und Mähren zurück und brachte die an Rastislaw, Swatopluk und Kozel gerichtete Bulle des Papstes Hadrian über die Bewilligung des slawischen Ritus mit. So hatte er erreicht, was Bulgarien vom Papst Nikolaus nicht hatte erlangen können und was es erst ein Jahr später durch den Beschluß der von der römischen Kirche abgefallenen konstantinopolitanischen Synode bewilligt bekam. Pannonien und Mähren wurden von der bayrischen Kirche abgetrennt, die deutschen Priester verließen das Land. Methodius — unter dem Schutze Rastislaws und Kozels — ging mit großem Eifer an die Organisierung der slawischen Kirche.

S W A T O P L U K , F Ü R S T VON MÄHREN

Der Erzbischof von Salzburg und seine Bischöfe fanden sich nicht ohne weiteres mit der Verkleinerung ihres Wirkungskreises und ihrer Kirchensprengel ab. Es gelang ihnen, den König und dessen Söhne zum Kriege zu bewegen, während Rastislaw die Slawen zum Widerstand organisierte. 869 zogen

Swatopluk, Fürst von Mähren

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sämtliche slawischen Unterworfenen und Nachbarn des Reiches neuerdings in den Kampf. Jetzt stellte sich auch Kozel auf ihre Seite. Wenn er auch nicht aktiv an dem Kampfe teilnahm, so begleitete doch seine ganze Sympathie dieses kriegerische Unternehmen des für ihre kirchliche Unabhängigkeit kämpfenden slawischen Volkes. Rastislaw errang einen Sieg über das Reichsheer, doch gelang es Karlmann, Swatopluk zu gewinnen. Er unterwarf sich und lieferte 870 seinen Vetter als Gefangenen dem Feinde aus, sein Land — ausgenommen seine eigene Provinz — überließ er der Willkür des Feindes. Methodius geriet in Gefangenschaft und die bayrischen Bischöfe sorgten für den strengen Gewahrsam des sich in „fremde Kirchendiözesen drängenden" Griechen. Nicht viel später verließ auch Swatopluk seine Provinz, deren Hauptstadt wohl Neutra gewesen sein muß, weil der mißtrauische Karlmann ihn an seinem eigenen Hof als Geisel zu sehen wünschte. Mähren kam scheinbar in engere Abhängigkeit vom Reiche. Doch sein Volk empörte sich, und als der von Karlmann unerwartet abtrünnig gewordene Swatopluk sich an ihre Spitze stellte, errang er einen glänzenden Sieg über das bayrische Heer. In den nächsten Jahren gelang es dem König, die aufrührerischen tschechischen Stämme zu schlagen und sie zur völligen Unterwerfung zu zwingen, doch widerstand Swatopluk drei Jahre hindurch siegreich dem Reichsheer. Den mährischen Fürsten machten aber seine Siege keineswegs übermütig. 874 im Frieden zu Forchheim leistete er — an die innere Konsolidierung des Landes denkend — dem König den Treueid und verpflichtete sich zu jährlicher Tributzahlung. Es folgte nun ein fast zwanzigjähriger Friede. Swatopluk führte mit dem Reiche keinen Krieg, mischte sich bloß in die Kämpfe und Blutrachefehden der Grafen und Herzöge der benachbarten Provinzen ein, wenn sich dazu Gelegenheit bot. Andrerseits widmete er sich aber mit Eifer der inneren Organisation seiner Provinzen und der Vorbereitung seiner Eroberungspläne. Erzbischof Methodius wurde durch das energische Eingreifen des Papstes Johann VIII. noch vor dem Friedensschluß im Jahre 873 aus der Gefangenschaft befreit, und er begab sich in Kozels Provinz. Der slowenische Fürst empfing ihn gern, doch das strenge Auftreten des Erzbischofs Thietmar von Salzburg zwang ihn wieder zur Entfernung Methods. Nun kam er in Begleitung des Bischofs Paulus von Ancona, des päpstlichen Legaten, zu Swatopluk und setzte die Organisierung der mährischen Kirche fort. Seinem Wirken haben auch hier die bayrischen Priester viele Hindernisse entgegengesetzt und auch Swatopluk selbst war nicht sein wahrer Freund. Nach 6 jähriger Wirksamkeit mußte sich Methodius wieder in Rom gegen die ihm gegenüber erhobenen Anklagen und Beschuldigungen zur Wehr setzen, und obwohl sich Papst Johann mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität auf Methodius' Seite stellte, konnte sich dieser weder die Sympathie seiner deutschen Priester noch die seines Fürsten erringen. Mit den ihm unterstellten beiden Bischöfen, besonders.

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Der Karolinger Arnulf und die Slawen

mit dem Vertrauten Swatopluks, dem Schwaben Wiching, Bischof von Neutra, kam es zu heftigen Zusammenstößen. Die Organisierung der mährischen Kirche mit slawischem Ritus ging nur schwer vor sich und nach Methodius Tode wurde der slavische Ritus von Papst Stephan V. (885—890) wiederum verboten. Die slawischen Schüler Methods, an der Spitze der zur bischöflichen Würde ausersehene Gorasd, flüchteten auf bulgarischen Boden und wurden dort — unterstützt von Boris-Michael — die Apostel der bei den Ostslawen noch heute herrschenden griechischen Kirche mit slawischem Ritus. An die Spitze der mährischen Kirche trat der Neutraer Bischof, der Deutsche Wiching, der bis zum Jahre 893 diese Würde bekleidete, bis er, durch den Wechsel der politischen Verhältnisse gezwungen, auf deutschen Boden flüchten mußte. DER KAROLINGER

ARNULF

UND DIE

SLAWEN

Während Swatopluk die Oberhoheit des Ostfränkischen Reiches anerkannte und um die innere Festigung seines Landes bemüht war, kam die einstige Provinz Privinas unter die unmittelbare Herrschaft der Karolinger. Nach dem Tode Ludwigs des Deutschen teilten Karlmann, Ludwig der Jüngere und Karl III. das Reich ihres Vaters unter sich. Karlmann, bisher karantanischer und pannonischer Markgraf, gelangte an die Spitze der bayrischen Länder und leitete einen Rachefeldzug gegen die vom Reich abgefallenen Kroaten ein. In diesem Feldzuge verlor Kozel, Herzog von Pannonien, sein Leben, und Karlmann ernannte seinen von einer Bayerin stammenden natürlichen Sohn Arnulf zum Herzog von Karantanien und Pannonien; zum Markgrafen der Ostmark und des Traungaues ernannte er — unter Hintansetzung der Nachkommen der alten Grafen — den Grafen Aribo. Arnulf, der die Fähigkeiten der alten Karolinger geerbt hatte, nahm sein bis zur mittleren Donau und zur Save reichendes Land in Besitz und regierte es friedlich bis zum Tode Ludwigs III. Als aber Karl III. an die Spitze des ganzen ostfränkischen Reiches trat, ließ sich Arnulf — der schon damals einen Anspruch auf die ostfränkische Krone oder doch zum mindesten auf die bayrische Königswürde seines Vaters erhob — mit seinen unmittelbaren Nachbarn, dem Mährerfürsten und dem Grafen der Ostmark, in einen Kampf ein. 883 setzte Swatopluk über die Donau und führte zwei Jahre hindurch einen schonungslosen Vernichtungskrieg gegen Arnulfs Provinz. Das mährische Heer hielt die rechtsseitigen Brückenköpfe der Donau mehrere Monate hindurch besetzt, bis 884 — durch Vermittlung des mit der Kaiserkrone zurückkehrenden Karl — der Friede wiederhergestellt wurde. Ein Jahr später schlössen Arnulf und Swatopluk auch formal Frieden, weil Arnulf in dieser Zeit schon den deutschen Thron einnehmen wollte und bemüht war, nachdem er mit dem bulgarischen Zaren ein Bündnis geschlossen hatte, auch die Freundschaft des Mährerfürsten zu gewinnen.

Der Karolinger Arnulf und die Slawen

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In der königlichen Familie waren die Kämpfe und Streitigkeiten seit einem halben Jahrhundert an der Tagesordnung. Die Nachkommen Ludwigs des Frommen griffen mehrmals zu den Waffen und erhoben sich gegen Vater und Brüder, ihrem Beispiel folgten die Grafen, die mit dem Aufkommen des feudalen Geistes bestrebt waren, ihre Würden erblich zu machen. Die regionale Selbständigkeit förderte die partikularistischen Interessen und Bestrebungen, die während der starken Zentralregierung nicht aufkommen konnten, und erweckte — besonders in Bayern, das seine Selbständigkeit vor nicht allzulanger Zeit verloren hatte — das Stammes- und nationale Selbstbewußtsein. Arnulf, der mütterlicherseits selbst aus vornehmer bayrischer Familie stammte, verstand es gut, die Gefühle aufzustacheln, die Unabhängigkeitsbestrebungen zu beleben, und als die entfachten Leidenschaften sich dem Siedepunkte näherten, entrollte er die Fahne des Aufstandes. An der Spitze von Bayern und pannonischen Slowenen zog er gegen seinen Kaiser und König zu Felde und zwang Karl zur Abdankung, der in seiner schwachen Hand zum letzten Male das Weltreich Karls des Großen hatte vereinigen können. Den deutschen Königsthron bestieg nunmehr Arnulf (887—899), einer der fähigsten Karolinger. Im Jahre 890 huldigte Swatopluk in Omuntsberg (Omuntesperch) dem neuen König, der ihm angeblich den Tschechen gegenüber freie Hand gab. Ob in diesem Punkte zwischen Arnulf und Swatopluk tatsächlich eine Übereinkunft bestanden hat, ist nicht erwiesen. Fest steht jedoch, daß Swatopluk im Jahre 890 die Tschechen unterwarf und nach der Ausdehnung der Grenzen seines Landes mit fast königlicher Macht regierte. Arnulf konnte diese Übergriffe seines Lehensmannes nicht dulden, und ein Jahr später schickte er sich schon an, ihn in seine Grenzen zu weisen. Zur Bekräftigung des Friedensvertrages lud er Swatopluk zu einer Begegnung ein, als dieser jedoch unter verschiedenen Vorwänden die Zusammenkunft immer hinausschob, entschloß er sich zu einem bewaffneten Angriff. Diesen Feldzug des Jahres 892 hatte Arnulf gut vorbereitet. Vom Südwesten griff Arnulf selbst mit bayrischen, schwäbischen und fränkischen Truppen an. Vom Süden her brach das über die Donau setzende pannonische Heer unter der Führung des Fürsten Braslaw, der über die Slowenen zwischen Drau und Save herrschte, in Mähren ein; von Osten her aber drangen Arnulfs ungarische Verbündete in das Gebiet von Neutra vor. Der bulgarische Verbündete unterstützte auf Verlangen Arnulfs durch Einstellung des Handelsverkehrs auf der Donau, hauptsächlich aber durch das Einstellen der Salzausfuhr den König, doch griff er selbst nicht zu den Waffen. Dieser von drei Seiten auf einmal erfolgende Angriff fügte dem mährischen Fürsten großen Schaden und viele Verluste zu, doch eines vollständigen Sieges konnte sich Arnulf trotzdem nicht rühmen. Eines seiner Heere wurde von den Tschechen und Sorben sogar 7

H 6 m a n , G e s c h i c h t e des u n g .

Mittelalters

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Der Karolinger Arnulf und die Slawen

vollständig vernichtet. Der im nächsten Jahre wiederholte Feldzug endete mit einer völligen Niederlage, Arnulf selbst konnte kaum aus der seinem Heere gestellten Falle entkommen. Nach Swatopluks Sieg begannen für die Deutschen in Mähren schlechte Zeiten. Selbst des Fürsten langjähriger Vertrauter Wiching, Bischof von Neutra, wurde zur Flucht gezwungen und wurde Arnulfs Kanzler. Es ist möglich, daß damals in Swatopluk der Gedanke auftauchte, die Selbständigkeit der mährischen Kirche wiederherzustellen, diesen Plan bemühte sich dann später sein Sohn zu verwirklichen. Swatopluks Plänen aber wurde durch seinen plötzlichen Tod ein jähes Ende bereitet. Seine Söhne Moimir und Swatopluk teilten — unter Wahrung der Oberhoheit des Erstgeborenen — nach slawischem Brauch das Land ihres Vaters unter sich auf und schlössen noch im Herbst des Jahres 894 Frieden mit Arnulf, der eben zu dieser Zeit den dem tschechischen Gebiet benachbarten bayrischen Nordgau zusammen mit mehreren anderen Grafschaften seinem tapferen Verwandten, dem karantanischen Markgrafen Luitpold, zum Schutze anvertraute. An die Spitze Pannoniens aber trat der im mährischen Kriege von 892 bewährte Braslaw. Er war der letzte Beherrscher des einstigen Gebietes Privinas. Diesen Friedensschluß und seine Anordnungen beschleunigte wahrscheinlich auch das Erscheinen der Ungarn, welche — vielleicht auch diesmal auf Einladung Arnulfs — auf dem Wege, den sie auch schon vor zwei Jahren benutzt hatten, neuerdings nach Pannonien kamen. Da Arnulf sie diesmal nicht gegen die Mährer einsetzte, plünderten sie Pannonien und kehrten wieder nach Etelköz zurück. Mit dem Tode Swatopluks verstärkte sich Arnulfs Macht sehr. Kaum ein Jahr später erschienen bei ihm die Gesandten der tschechischen Stammesoberhäupter, die unter Führung der Söhne des Premysliden Borivoi, Spitignew und Wratislaw, die mährische Herrschaft abgeschüttelt hatten; sie huldigten Arnulf und erklärten feierlich, daß nur die Gewalt sie fünf Jahre hindurch zur Anerkennung der mährischen Herrschaft, also zum Treubruch gegen das Reich gezwungen hätte. Durch den Abfall der nun kaisertreuen Tschechen beginnt die Auflösung des Landes des ehrgeizigen Swatopluk und schon binnen eines Jahrzehnts war der vollkommene Zusammenbruch da. Die Vernichtung dieses slawischen Reiches wird gewöhnlich den verheerenden Überfällen der Ungarn zugeschrieben, obwohl die ungarischen Waffen dem auf schwankendem Boden erbauten mährischen Staate nur den Gnadenstoß versetzten. Das Mähren Swatopluks und auch die übrigen früheren slawischen Staatenbildungen waren nicht das Ergebnis einer der inneren Entwicklung entsprechenden politischen Entwicklung, sondern das persönliche, fremde Muster nachahmende Werk einer hervorragenden Herrscherpersönlichkeit. Von all diesen Staatsgebilden erwies sich nur das kroatische Fürstentum, das auf einem Gebiet

Die Landnahme / Der Krieg mit den Bulgaren und der Angriff der Petschenegen

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entstanden war, das von lateinischer, germanischer und griechischer Kultur beeinflußt wurde, als eine dauerhafte und organischer Entwicklung fähige Staatenbildung. Die anderen slawischen Länder, die politisch noch unreif und daher zur Staatenbildung unfähig waren, mußten notgedrungen den im Volkswesen liegenden auseinanderstrebenden Tendenzen zum Opfer fallen. Dieses Schicksal erlitt das Slawenreich des Franken Samo im 7. Jahrhundert, das Mähren Swatopluks, dann das im 10. Jahrhundert slawisierte bulgarische Reich und das Kiewer russische Großfürstentum Jaroslaws des Großen. Das Fehlen jedes politischen Gefühls und Verständnisses war der jeweilige Grund dieses Zerfalls. Diese innere Auflösung war es auch, die die Angriffe der Franken, Ungarn, Tataren und Griechen begünstigte. Eben denselben Erscheinungen begegnen wir auch im 10.—11. Jahrhundert in der krisenhaften Epoche der Entstehung der tschechischen und polnischen Fürstentümer, doch konnten hier die Fürsten, die den Schutz der deutschen Macht ausnützten, die zentrifugalen Kräfte bekämpfen, bis im 11. Jahrhundert die politische Einheit geschaffen wurde.

SECHSTES KAPITEL DIE LANDNAHME Die Ungarn kehrten aus ihrem mährischen Feldzuge des Jahres 892 und dem pannonischen Feldzug im Jahre 894 mit wertvollen Erfahrungen in die Heimat zurück. Sie hatten die strategischen und wirtschaftlichen Vorteile des von der mächtigen Kette der Karpathen geschützten Gebietes kennengelernt; über die politischen Verhältnisse und die militärische Stärke der Bewohnerschaft wußten sie Bescheid. Die schwachen pannonischen Slawen und die nach dem Tode Swatopluks in inneren Kämpfen sich aufreibenden Mährer hatten sich nicht als gefährliche Gegner erwiesen. Sie sahen, daß in dem Kampf, der um dieses nunmehr ausgekundschaftete Gebiet geführt werden mußte, nur die Franken bzw. die entstehende bayrische Macht und die bisher freundschaftlich gesinnten Bulgaren als ernste Gegner zählen würden. Um die Wende des neunten und zehnten Jahrhunderts war in Deutschland das bayrische Stammesherzogtum das mächtigste. Die Bulgaren aus dem Theißgebiet waren zwar allein nicht sehr mächtig, aber unterstützt von der Streitmacht des Zaren Simeon konnten sie den magyarischen Heeren Widerstand leisten. DER KRIEG MIT DEN U N D DER ANGRIFF DER

BULGAREN PETSCHENEGEN

Sicherlich haben diese Erfahrungen Ärpäd bewogen, mit dem byzantinischen Kaiser Leo, der sich auf einen Kampf gegen die Bulgaren vorbereitete, 7*

100

Der Krieg mit den Bulgaren und der Angriff der Petschenegen

ein Bündnis einzugehen. Offenbar erwartete er von einer Verminderung der Macht des Zaren Simeon auch eine Schwächung der Widerstandsfähigkeit der Bulgaren im Theißgebiet. Leo der Weise hatte noch im Jahre 894 die Magyaren zu einem Angriff gegen den bulgarischen Zaren Simeon aufgerufen, der die byzantinischen Truppen besiegt hatte. Die ungarischen Führer Arpad und Kusaly einigten sich rasch mit dem byzantinischen Gesandten und sandten unter der Führung Leventes, des Sohnes Ärpäds, ein größeres Heer in das bulgarische Gebiet. Die ungarischen Krieger wurden auf griechischen Schiffen die Donau hinauf an die bulgarische Grenze gebracht, während die kaiserlichen Truppen von Süden her gegen Bulgarien vordrangen. Levente errang einen vollständigen Sieg über Simeon. Er besetzte die Hauptstadt Peresljavec, durchstreifte mit seinen Reitern ganz Bulgarien, machte viele Gefangene und reiche Beute. Aber dieser Sieg sollte sich bald in eine Niederlage verwandeln. Simeon bot in seiner Bedrängnis dem Kaiser einen Sonderfrieden an. Dieser ließ nun seine Verbündeten im Stich und zog nicht nur seine Truppen zurück, sondern beorderte auch die zum Rücktransport der Magyaren bereitliegenden Schiffe nach Hause. Simeon wandte sich nun mit voller Kraft gegen Levente und vernichtete sein nach dem Siege sorglos lagerndes Heer in einem blutigen Kampfe. Die Reste des seiner Schiffe beraubten magyarischen Heeres retteten sich mit großer Mühe über die Donau, aber sie fanden ihre Heimat in Etelköz nicht mehr. Während sie nämlich auf bulgarischem Gebiet ihren schweren Kampf führten, wurde Fürst Arpäd mit den in ihrer Heimat gebliebenen Ungarn von den Petschenegen angegriffen; er wich diesen aus und zog mit seinem Volke nach Westen. In diesem zweiten petschenegischen Angriff sah man — auf Grund des Berichts des Kaisers Konstantinos — einen diplomatischen Erfolg des bulgarischen Zaren Simeon. Die Gründe dieses Erfolges liegen aber viel ferner. In den Kämpfen der Araber gegen ihre nördlichen Nachbarn drang im Jahre 893 ein arabisch-persisches Heer gegen die jenseits des Kaspischen Meeres wohnenden Karlukh-Türken vor, nahm deren König mit seiner ganzen Familie und 10000 Menschen gefangen und besetzte auch die Hauptstadt ihres Gebietes. Dieser für die Karlukhen ganz katastrophale Schlag brachte auch die benachbarten türkischen Völker in Bewegung und die Uzen, die vor einigen Jahren die Petschenegen bis zum Don gedrängt hatten, drangen, den Ural und sogar die Wolga überschreitend, nach Europa vor. Der Stammesverband der Petschenegen zog, indem er dem Druck, der auf den Stämmen aus demWolga-DonGebiet lastete, nachgab, nach Westen, drang bis zum Dnjepr vor, setzte auf die Kunde, daß die besten Kriegsscharen der Magyaren abwesend seien, auch über diesen Fluß, griff die Ungarn in Etelköz an und brachte ihnen große Verluste bei. Der Angriff der Petschenegen traf die zwischen Dnjepr und Dnjestr lagernden ungarischen Stämme aus südöstlicher Richtung. Die von dem plötzlichen

Der Krieg mit den Bulgaren und der Angriff der Petschenegen

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Angriff überraschten Stämme brachen mit Hab und Gut auf und flüchteten nach Westen. Ihr Weg führte nicht in gerader Richtung auf die Karpathen zu. Für ihre großen Viehherden, aber auch zum eigenen Bedarf brauchten sie Wasser; so zogen sie am Lauf der Flüsse entlang und drangen in nordwestlicher Richtung gegen die podolische Terrasse vor. Ihr östlichster Stamm zog an den Ufern des Dnjepr entlang und kam nach Kiew, während die mit ihm parallel vordringenden Stämme das Quellgebiet des Bug und Dnjestr erreichten. So gelangte der Großteil des Volkes unter Arpäds Führung bis zu den Russen und zog von hier in südwestlicher Richtung nach der Ebene im oberen Theißgebiet. Zu den Stämmen, die an den Ufern des Pruth, Sereth und der unteren Donau saßen, gelangte die Nachricht von diesem Angriff jedenfalls erst später, und der Nachricht folgten sogleich die petschenegischen Reiter, die die Ebene an der Meeresküste, die von den nach Nordwesten fliehenden Stämmen unbevölkert zurückgelassen war, rasch durchstreift hatten. Die Nachricht von dem Kommen des Feindes zwang sie zu schneller Flucht, sie flüchteten durch das Tal der Bistritz, der Tatros und anderer Gebirgsbäche hinauf auf die jäh aufragenden Höhen der Ostkarpathen. Unter tausend Gefahren und mit schweren natürlichen Hindernissen kämpfend überquerten sie die weglosen Schneeberge, durchzogen die durch ungeheure Wälder führenden Engpässe und schlugen sich so mühsam nach Siebenbürgen an den oberen Lauf der Maros und des Alt durch. Andere versprengte Teile — so die aus Bulgarien flüchtenden Scharen Leventes — flohen nach Westen und drangen am Eisernen Tor in das Tal der Cerna und von dort in das Tal der Temes ein. Jeder dieser von verschiedenen Seiten her ankommenden Stämme bewahrte die Erinnerung an seine Wanderung in seiner mündlichen Überlieferung. Die Überlieferung der Theißgegend spricht noch nach Jahrhunderten vom Eindringen durch den Vereckepaß, im Marosgebiet und in Transdanubien werden die Schwierigkeiten des siebenbürgischen Weges erwähnt. Der Angriff der Petschenegen auf Etelköz hat den Ungarn eine schwere Niederlage bereitet, aber dieser Schlag war lange nicht so katastrophal, wie das zwei Menschenalter später Kaiser Konstantinos — in einem seiner Berichte, in dem er übrigens auch die Ereignisse der bulgarischen und petschenegischen Kriege schief darstellt — angibt, wenn er von der vollständigen Vernichtung der in der Heimat zurückgebliebenen „Familien" der Ungarn spricht. An einer andern Stelle, auf Grund von zuverlässigen Quellen, sagt auch er nur so viel, daß die Petschenegen die Ungarn angegriffen und zusammen mit Ärpäd, ihrem Fürsten, aus ihrer Heimat in Etelköz vertrieben hätten. Die späteren Ereignisse widerlegen ganz entschieden die Annahme einer so katastrophalen Niederlage, denn eine solche hätte in einem nomadischen Stamm-

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Die Landnahme

verband unzweifelhaft zu einem völligen Zerfall und zur Vernichtung des seiner Frauen, Kinder und Herden beraubten Volkes geführt und das Einschmelzen in benachbarte fremde Völker begünstigt, wie wir das bei den Sahiren, Awaren, später bei den Petschenegen und Kumanen sehen. Der ungarische Stammverband hat dieses Schicksal nicht erlitten, im Gegenteil, er hat die Niederlagen in Etelköz und in Bulgarien bald verwunden. Die unmittelbar nach der Landnahme geführten siegreichen Kriegszüge und die Erscheinungen der Entwicklung im X . Jahrhundert beweisen die Unversehrtheit der militärischen und gesellschaftlichen Organisation. Das Zeugnis der großen Disziplin, die Äußerungen der moralischen und wirtschaftlichen Kraft sind ein Beweis dafür, daß sie kein Volk waren, das einen großen Blutverlust erlitten hat, das seiner Familien, Frauen und Kinder beraubt und geschlagen war. Aus allem folgt, daß der zweite petschenegische Angriff die Ungarn nicht völlig unvorbereitet traf und so auch ihren Aufbruch nach Westen nicht veranlaßt, sondern nur beschleunigt hat. Die Niederlage in Bulgarien hatte allerdings große Blutopfer gefordert, aber auch dieses Blut war nicht ganz umsonst geflossen. Denn die Verluste des siegreichen bulgarischen Heeres, die — wie die Zeitgenossen berichten — mit denen der besiegten Magyaren wetteiferten, verhinderten den Zaren Simeon, den von den landnehmenden Magyaren bedrängten Bulgaren im Theißgebiet zu Hilfe zu eilen. Wenn der Feldzug Leventes auch mit einer Niederlage endete, so hatte er doch politische Erfolge gezeitigt: er lähmte nämlich die Kraft des Volkes, welches allein die Besitznahme der Ebene am Fuße der Karpathen hätte verhindern können. Die Diplomatie und die Waffen des Fürsten Arpäd hatten zwar keinen vollständigen Erfolg erringen können, aber hatten dennoch jedes Hindernis aus dem Wege geräumt, das sich ihrem Weiterwandern und der Besitznahme der neuen Heimat hätte entgegenstellen können. DIE

LANDNAHME

Das ungarische Volk, das nach dem Angriff der Petschenegen nach Westen zog, — mit Frauen, Kindern und Sklaven mochte es ungefähr drei- bis fünfhunderttausend Menschen zählen — hat im Herbst des Jahres 895 die Pässe der Karpathen überschritten. Das Hauptheer zog — von Verecke her kommend — unter der Führung des Fürsten Ärpäd nach Süden am rechten Ufer des Theiß entlang und stieß, wie die Überlieferung aus dem X I I . Jahrhundert berichtet, in der Gegend von Alpär mit dem bulgarischen Führer Salan zusammen. Ein Stamm trennte sich noch am oberen Laufe der Theiß vom Hauptheer, überschritt die Theiß und nahm die große Ebene zwischen Theiß und Körös in Besitz, drang dann in die Szamos-Ebene ein, rückte bis in das Gebiet von Klausen-

Die Landnahme

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bürg und Gyalu vor und entriß dem dort herrschenden bulgarischen Führer Gyalu die Salzbergwerke von Torda (Thorenburg). Die Kabaren nahmen die nordöstlichen Teile in Besitz. Ein anderer Stamm trennte sich an der Theißkrümmung bei Csap von Ärpäd, rückte in den Flußtälern der Rima, Zagyva, Eipel und Gran bis zum Urwaldgebiet von Sohl (Zolyom) vor und drang dann, die Donau am Waitzener Knie berührend, bis zur Großen Schüttinsel und zum Neutraflusse vor. Die südlichen Stämme, die die Siebenbürger Gebirgspässe mühsam überschritten hatten, besetzten das Tal der Maros und das Gebiet zwischen Maros, Theiß und der unteren Donau und stießen in der Gegend von Szentes und Csongrad auf das Hauptheer. Diese Stämme des Hauptheeres hatten nach der Schlacht von Alpär den südlichen Teil des Gebietes zwischen Donau und Theiß in Besitz genommen. Die Führer der Bulgaren im Theiß-Gebiet wie in Siebenbürgen waren dem Ansturm der Ungarn, die um ihre Existenz und Zukunft kämpften, nicht gewachsen. Die ungarischen Scharen konnten nach kleineren Kämpfen und einigen ganz unbedeutenden Zusammenstößen, fast ohne auf ernsthaften Widerstand zu stoßen, bis zur Donau-Linie vordringen. Die herrschende Schicht, das eigentliche bulgarische Element, kam entweder im Kampfe um oder flüchtete nach Bulgarien. Ihre slawischen Untergebenen ergaben sich und gerieten nun im Sklavenlos unter ungarische Herrschaft. Die Erinnerung an diese später magyarisierten Slawen aus dem Theißgebiet bewahren die zahlreichen bulgarisch-slawischen Lehnwörter der ungarischen Sprache. Ein gleiches Schicksal wurde auch den spärlichen Überresten der Gepiden im Gebiet jenseits der Theiß zuteil, während nach der ungarischen Überlieferung die Szekler, die man hier vorfand und die sich Ärpäd freiwillig unterworfen hatten, unter völliger Bewahrung ihrer Selbständigkeit sich sozusagen als neunter Stamm den Ungarn anschlössen. Die ungarischen Stämme besetzten das Gebiet, das von den Urwäldern von Sohl, Nord-Gömör und Torna, den Waldkarpathen, Ostkarpathen und den Transylvanischen Alpen sowie vom Steppengebiet an der unteren Donau und dem zwischen Donau und Theiß begrenzt wurde. Im Vergleich zur Volkszahl erscheint dieses Gebiet nach heutigen Begriffen sehr groß, wenn wir es jedoch mit dem Wohngebiete der Ungarn an der Mäotis und in Etelköz vergleichen, so war es ein recht eng begrenzter Raum. Mit den bewaldet-gebirgigen sowie den sandigen und sumpfigen Gebieten ihrer neuen Heimat konnten die Magyaren nichts anfangen. Für ihre Hirtenwirtschaft, für die Versorgung ihrer Zehntausende starken Pferde- und Rinderherden benötigten sie riesige ebene Grasflächen oder ein sanftes Hügelgelände. Deshalb begannen sie nach einer zweijährigen Ruhezeit ihre Vorbereitungen für die Eroberung der nordwestlichen Gebiete und Transdanubiens zu treffen.

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Die Eroberung Pannoniens DIE EROBERUNG

PANNONIENS

Der deutsche König Arnulf, seit 896 Kaiser des ganzen Reiches, hatte sich für den Empfang seiner alten Verbündeten gut vorbereitet. Das einstige pannonische Territoiium Privinas gab er dem Fürsten Braslaw zu Lehen, der früher über die Slowenen, die im Gebiet zwischen der Save und Drau saßen, geherrscht hatte. Mit dem Schutze der Ostmark und Kärntens betraute er die Markgrafen Aribo und Luitpold. Andrerseits aber versicherte er sich der Ungarn, indem er, die alte Verbindung erneuernd, durch die bayrischen Grafen mit ihnen ein Bündnis gegen die Mährer schloß, wo die Zwistigkeiten der beiden Söhne Swatopluks den Zerfall herbeiführten. Die Bayern drangen, da sich der jüngere Swatopluk an den Kaiser um Hilfe gewandt hatte, unter der Führung des Markgrafen Luitpold um 898 in Mähren ein. Sie wurden unterstützt von den Tschechen, Sorben und anderen slawischen Stämmen, die sich von der mährischen Herrschaft befreit hatten. Die Magyaren — so scheint es — haben in diesem Feldzuge, vom Gebiet zwischen Gran und Zsitva ausgehend, die Gegend um den Neutra- und Waagfluß besetzt und die Mährer bis zu den Kleinen Karpathen beziehungsweise bis zur March zurückgedrängt. Die Slowaken und Weißkroaten, die nun aus der Oberherrschaft des mährischen Fürsten unter die der Magyaren gelangten, fügten sich diesem Wechsel gleichmütig und unterwarfen sich ohne Murren ihrem neuen Herrn. Eine andere Abteilung von Ungarn drang zur gleichen Zeit durch das Drauund Savetal und die venetische Ebene bis zur Brenta vor. Die pannonische Provinz Arnulfs verschonten sie noch, griffen aber zur Vorbereitung ihrer Eroberung im Frühjahr des folgenden Jahres Italien mit einem größeren Heere an. Die von den Slowenen bewohnten südlichen Gebiete ihrer bayrischen Verbündeten benutzten sie ohne jedes Hindernis als Durchzugsgebiet und verwüsteten die Lombardei. Eine Abteilung des 5000 Mann starken ungarischen Reiterheeres drang plündernd und raubend bis zu den Städten Bergamo und Vercelli und den westlichen Alpen vor. Eine andere Gruppe versuchte Venedig zu erobern, indem sie auf dem Rücken ihrer Pferde die Lagunen durchschwamm. Ihr kühnes Unternehmen konnte nur durch das Eingreifen der Kriegsflotte vereitelt werden. Markgraf Berengar von Friaul,. Herr der Lombardei und seit einem Jahr König von Italien, zog mit einem dreimal so starken Heer gegen die Ungarn. Doch diese, ermutigt durch die Sorglosigkeit der jenseits der Brenta lagernden und schmausenden feindlichen Truppen, gingen zu einem Sturmangriff über, durchschwammen die Brenta und vernichteten in einem plötzlichen Angriff am 24. September 899 das lombardische Heer. Dann wandten sie sich nach dem Innern Italiens und verwüsteten auch die rechte Poebene. Nachdem sie auf den fruchtbaren

Zu: Homan, Geschichte des Ungarischen Mittelalters I. 15°

Ungarn vorder Landnahme und der Angriff der Petschenegen im Oahre 895 100

200

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« 2 8 W ) 'Ittin,?\ w' / ban, wie Karl > Kral) und es gab — so scheint es — außerdem noch einen Ban von Bosnien, als dieses unter kroatische Herrschaft gehörte. An der Spitze der Grenzprovinz im Narentatal, des an der Küste liegenden Maronia, stand ein „Herzog". Diese Provinzen gliederten sich übrigens wie das Mutterland in Zupen oder Zupanate. Im Mutterlande gab es nachweislich seit der Mitte des X. Jahrhunderts elf Zupanate, größtenteils nach ihrem Sitz benannt, an der Küste: Nona, Luka (früher Nina) mit der Burg Karin (Kori), Sidraga mit der Burg Biograd, Bribir (Brebera), Drid oder Mosor, welches Kaiser Konstantinos unter dem Namen Parathalassia erwähnt, an den beiden Ufern der unteren Cetina Clissa oder Imota, im Tal der Cetina Cetina mit der Burg Stolac und Hlijevno (Livno), im Tale der Krka Knin (Tinin), jenseits der Dinarischen Alpen im Tale des oberen Vrbas Pleva, mit anderemNamen Zagorje ( = hinter dem Berge), im Quellgebiet der Una Pset. Der Gewalt des Bans unterstanden um die Mitte des X. Jahrhunderts die drei nördlichen Grenzzupen: Lika, Krbava und Gacka und die Zupen der später organisierten Provinzen. Jenseits des Velebitgebirges werden noch die Zupen Bocac, Buzan und Vinodol unter der Gewalt des Bans erwähnt, zwischen dem Kapelagebirge und der Save lagen Modrus, Podgoria, Gorica, Gora und Dubica, im Tale der Una nördlich von Pset Poljica und Sana, von

Innere Organisation

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diesen östlich Vrbas. Über die Zugehörigkeit der beiden letzteren zu Kroatien haben wir jedoch keine bestimmten Angaben. Auf dem Gebiete des Herzogtums Maronia, der südlichen Grenzprovinz des Narentanergebiets, lagen drei Zupen: Morska, d. h. das Küstengebiet mit den nahen Inseln Brazza (Brac) und Pharos (Hvar), Rastok und Dolje. Die kroatischen Bewohner der Inseln Arbe (Rab), Veglia (Krk) und Cherso lebten im Rahmen ähnlicher Zupen. Das kroatische Zupanat ist seinem Ursprung nach eine Verwandtschaftsoragnisation. Die Zupane waren auch hier wie in Slawonien und bei den Serben die an der Spitze der Geschlechtsgemeinschaft stehenden Sippenoberhäupter. Die kroatischen Könige fügten diese Geschlechtsformation in den Rahmen des nach fränkischem Muster ausgebauten Hofes und der Regierungsorganisation des Landes ein. Die Zupane spielten in der Hierarchie und in der Regierung dieselbe Rolle wie die durch den König ernannten fränkischen Gaugrafen oder die späteren ungarischen Burggespane, doch unterschieden sie sich wesentlich von diesen. Die Kroaten hatten keinen hl. Stephan, welcher die politische Macht der alten Geschlechtsverbandorganisationen hätte brechen können. Die kroatischen Herzöge und Könige einigten sich mit der bei den slawischen Völkern auf einem starken Gewohnheitsrecht beruhenden politischen Macht der Stämme und stellten die fränkische Gauorganisation auf eine verwandtschaftsorganisatorische Grundlage. Entsprechend den ursprünglichen elf Zupanaten und einem Banate gab es zwölf privilegierte kroatische Geschlechter und die Zupane und Bane wurden immer aus diesen Geschlechtern gewählt, die Würden wurden sogar — allen Anzeichen nach — innerhalb dieser Geschlechter vererbt. Die Grundlage der Macht der ersten Herzöge war die Unterstützung durch fremde Mächte. Gestützt auf fränkische oder byzantinische Hilfe regierten sie. Das ist der Grund, weshalb mit dem Aufsteigen und Verfall der fränkischen und byzantischen Macht bis zum Ende des X I . Jahrhunderts die Häupter verschiedener Geschlechter auf dem Herzogstuhl saßen. Wiseslaw war Zupan von Nona, Barna und Wladislaw waren die Zupane der Guduskaner oder von Gacka, Domagoj und Iljko waren aus der Gegend von Knin, Trpimir I. und Zdeslaw die Zupane von Clissa. Es ist das Verdienst der Nachkommen Trpimirs — Mutimir und Tomislaw —, daß dem ständigen Wettstreit der Geschlechter ein Ende gemacht wurde und sie sich im Rahmen der Verwandtschaftsorganisation, welche bei den übrigen slawischen Völkern fortwährend zu inneren Kämpfen und zum Verfall führte, sogar darauf stützten und eine neue Grundlage ihrer fast zwei Jahrhunderte lang blühenden Macht schufen. Diese Grundlage ist der unter der Führung der Trpimirovici zusammengeschmiedete Bund der Geschlechter des Küstengebiets, andererseits die auch durch den Papst anerkannte Gründung des christlichen Königreiches. Aus den Folgen zu schließen, sicherte der Bund ähnlich dem Blutsvertrag der ungarischen Führer in Etelköz das erbliche

350

Die Kämpfe der lateinischen und slawischen Partei

Fürstentum, die Krönung und den Königstitel und verschaffte den Trpimirovici den Rechtstitel der göttlichen Berufung. Ein Teil der nördlichen Geschlechter — so scheint es — widersetzte sich, wahrscheinlich trat deshalb der das Vertrauen des Königs genießende Banus als Exponent des Herrscherhauses an ihre Spitze. Seine Residenz war allem Anschein nach Krbava. Die 2upane aus dem Berglande — die von Knin, Pset und Pleva — schlössen sich nolensvolens dem Bunde an, weil sie seiner Macht gegenüber ohnmächtig wurden, ganz besonders seit Tomislaw für sich und seine Nachkommen die ständige Unterstützung und das Bündnis der dalmatinischen Städte gewonnen hatte. Seit dieser Zeit basierte die kroatische königliche Macht auf dem starken Bund der zwölf Geschlechter und der dalmatinischen Städte und war eher der beschränkten Macht der Fürsten der Stämmebündnisse, der serbischen Zupane und der Kiewer russischen Fürsten ähnlich als der unumschränkten Macht der christlichen Könige des Westens. Dem Willen des kroatischen Königs setzte bis zu einem gewissen Grade die politische Macht der zwölf vornehmen Geschlechter eine Grenze. Deren Unterstützung sicherte seine ungestörte Herrschaft. Die Trpimirovici taten gut, diese Unterstützung zu gewinnen und sie sich zu sichern, doch barg die politische Macht der Sippenverbandsorganisation den Keim schwerer Verwicklungen in sich, welche nach dem Aussterben des Herzoghauses zu Wirren führten. Die Vorboten des Sturms waren schon zu Lebzeiten Kresimirs fühlbar. Der Grund hierfür war kirchlicher Natur. DIE KÄMPFE DER L A T E I N I S C H E N

UND SLAWISCHEN

PARTEI

In den Kreisen der kroatischen Geistlichkeit war seit dem Ende des IX. Jahrhunderts ständig der Gedanke des Übertritts zum slawischen Ritus lebendig. An Abfall und Anschluß an die griechische Kirche dachten sie nicht. Sie strebten nach der ursprünglichen Lehre des Cyrill und Method, nach der Gründung einer unter der unmittelbaren Macht des Heiligen Stuhles stehenden, unabhängigen kroatischen Kirche mit slawischem Ritus. Die lateinische Geistlichkeit Dalmatiens widersetzte sich diesen Bestrebungen mit aller Kraft und wurde in ihrem Kampfe nicht nur vom Papst, sondern auch vom König unterstützt. Unter Tomislaw gelang es, durch radikale Verfügungen mit der Aufhebung des Nonaer Bistums die Frage scheinbar zu lösen, doch um die Mitte des XI. Jahrhunderts entflammte die Bewegimg mit erneuter Kraft. Die Synode von Spalato konnte die slawische Zeremonie nicht ausrotten. Sie hatte sehr viel aktive Anhänger, besonders unter den Priestern der entfernteren Gebirgsgegend, welche nur wenig lateinisch konnten. Daneben verbreiteten sich auch Ketzerei und Sittenlosigkeit in den Kreisen der Geistlichkeit. Die im Schöße der Kirche zur Macht gelangte strenge Richtung und die Beschlüsse der Reformsynode lösten deshalb große Erbitterung aus. Ein Teil

D i e Kämpfe der lateinischen und slawischen Partei

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der kroatischen Geistlichkeit widersetzte sich den Beschlüssen des Heiligen Stuhles, und selbst der kroatische Bischof von Knin stand dieser Auffassung nicht fern. Die im Frühling 1060 in Anwesenheit des päpstlichen Legaten Mainard abgehaltene Synode von Spalato stellte sich hingegen auf den allerstrengsten Standpunkt und verbot, noch über die allgemein gültigen Beschlüsse der Lateransynode des Jahres 1059 hinausgehend, ein für allemal die slawische Liturgie, die Verwendung der cyrillischen Schrift und die Priesterweihe der „nicht lateinisch sprechenden Slawen". Weiterhin verbot sie noch das Tragen der griechischen Bart- und Haartracht. Der slawische Ritus wurde durch die Synode streng gebrandmarkt und die Lehre Methods als Ketzerei erklärt. Infolge dieser Beschuldigung und des unbeugsamen Auftretens des neuen Erzbischofs von Spalato, Lorenz (1060—1099), kam es zu offenem Widerstand. Ein Teil der kroatischen Geistlichkeit forderte unter der Führung des im Jahre 1063 willkürlich auf den Bischofsstuhl von Veglia gesetzten Zdeda und des Priesters Wuk die Wiederherstellung des Zustandes von vor 928. Indem sie sich von der dalmatinischen Kirche lösten, wollten sie unter der unmittelbaren Herrschaft Roms die kroatische Kirche mit slawischem Ritus schaffen. Das Volk teilte sich in zwei Parteien, und die „slawische Partei" konnte gegenüber der „lateinischen Partei" selbst in den dalmatinischen Städten Anhänger finden. König Kresimir, der durch seine Mutter Jocela Orseolo selbst italienischer Abstammung war, unterstützte mit Leib und Seele die lateinische Reformpartei. Er unterdrückte den Aufstand mit Gewalt. Der Rädelsführer, der Priester Wuk, büßte mit zwölfjähriger schwerer Kerkerhaft. Die Macht des Königs verhalf der lateinischen Partei zum Sieg, doch die Bewegung war nicht vernichtet, sie schlummerte nur. Ihre Führer warteten auf den geeigneten Moment, um mit erneuter Kraft die Fahne des Aufstandes zu entrollen, und dieser Zeitpunkt ließ nicht lange auf sich warten. Kresimir starb im Jahre 1074 ohne Erben. Der einzige lebende Sproß der Dynastie, Herzog Stephan, war ein schwacher, kränklicher Mann und entschloß sich gerade in dieser Zeit, Mönch zu werden. Banus Zwojnimir, in welchem die lateinische Partei — getreu dem Willen ihres verstorbenen Königs — den Thronanwärter sah und den seine militärische Stärke und sein Bündnis mit dem mächtigen ungarischen König für den Thron prädestinierten, war — so scheint es — abwesend. Seinen Schwager Geza, der ihn vor kurzem gegen seine Feinde mit Waffen unterstützt hatte, hatte man gerade in dieser Zeit zum ungarischen König gekrönt, und er nahm wahrscheinlich an der feierlichen Zeremonie teil. Seine Abwesenheit erklärt es, daß der Narentanersproß Slawac, der „Herzog des Küstengebiets", der eigentlich gar kein Kroate war, mit Unterstützung der unzufriedenen Elemente plötzlich die Macht an sich riß. König Slawac (1074 —1075) fand bei den eingesessenen kroatischen Geschlechtern keine Anerken-

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Das päpstliche Lehenskönigreich Zwojnimirs

nung. Die dalmatinischen Städte und die Bürger der königlichen Residenzstadt Belgrad hingegen sahen sich im Einverständnis mit den kroatischen Herren der lateinischen Partei nach Hilfe um. Auf ihren Ruf kam Graf Amikus, einer der normannischen Vasallen des Heiligen Stuhles, aus Apulien nach Dalmatien und nach kurzem Kampf schlug er Slawac und nahm ihn gefangen. Nach dem Sieg setzte sich der normannische Führer in den dalmatinischen Städten fest und erst das bewaffnete Auftreten des die Gelegenheit rasch ergreifenden Venedigs konnte ihn zur Abreise bewegen. Der Doge Silvio Domenico unterwarf der Reihe nach die Städte und kehrte als Herzog von Dalmatien in seine Heimat zurück.

DAS PÄPSTLICHE LEHENSKÖNIGREICH

ZWOJNIMIRS

In Kroatien war Zwojnimir (1076—1088) Herr der Situation. Es ist möglich, daß auch ungarische Truppen bei der Sicherung seiner Herrschaft mitgeholfen haben. Da er sich nicht auf den Rechtstitel der Vererbung berufen konnte, übernahm er die Herrschaft als „Fürst von Kroatien und Dalmatien" und wandte sich nach Rom um eine Krone und um Anerkennung seiner königlichen Würde. Das Beispiel hierfür hatte er vor sich. Der Bruder seiner Frau, Geza, wurde erst kürzlich in seiner Anwesenheit mit der vom Papst erhaltenen Krone des hl. Stephan gekrönt. Er wußte, da ja die Legaten durch sein Territorium von Rom nach Gran reisten, daß Gregor VII. Geza gern gegen Salomon unterstützte, und auch das wuße er von den Legaten, daß der Papst — allerdings ergebnislos — die Vasallenhuldigung Gezas begehrte. Deshalb war er nicht überrascht, als der Heilige Stuhl seiner Bitte gern entsprach, doch die Erfüllung an ernste Bedingungen knüpfte. Seit Sylvester II. hatte sich die Lage ganz gewaltig geändert. Gregor VII. verstand die Herrschaft über die christliche Welt im engsten Sinne des Wortes, und wenn er auch gegenüber den nach alten Rechten regierenden Königen — so wie einige Jahre später bei Ladislaus dem Heiligen — auf die sofortige Geltendmachung der Ansprüche als Lehensherr verzichtete, so gab er neue Kronen und neue Titel nur solchen Fürsten, die seine Oberhoheit, seine Lehnsherrschaft ohne Vorbehalt anerkannten. Deshalb führte die Bitte König Michaels von Zeta, der die gesamten Serben vereinigt hatte, zu keinem Resultat, da er 1077 bei voller Anerkennung seiner staatlichen Unabhängigkeit Krone und Fahne erbat. Der Papst verlangte auch von Zwojnimir volle Huldigung, die ausgesprochene Anerkennung seiner Lehensherrschaft und als er das erhalten hatte, ließ er die feierliche Installierung durch den päpstlichen Legaten Gebizo noch im Oktober des Jahres 1076 in der Kathedrale des hl. Petrus zu Salona vornehmen.

Das päpstliche Lehenskönigreich Zwojnimirs

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Die zur Landessynode zusammengerufene Geistlichkeit und das Volk riefen auf die Anfrage Gebizos Zwojnimir einstimmig zum König aus, worauf der Legat mit der Übergabe der Abzeichen des Vasallentums und der Macht — der Fahne des hl. Petrus, des Schwertes, Szepters und der Krone — symbolisch das kroatische und dalmatinische Königreich übergab und Zwojnimir zum König beider Länder erhob und weihte. Zwojnimir übernahm die Abzeichen, leistete feierlich den Gehorsamseid und gab ein bindendes Versprechen, die in kirchlichen Abgelegenheiten herausgegebenen päpstlichen Erlasse unter allen Umständen zu erfüllen. Nachher verpflichtete er sich unter Einwilligung der Vornehmen zur Zahlung eines jährlichen Zinses von 200 Goldstücken („von seiten der Bewohner des ihm übergebenen Landes"). Zum Zeichen der Anerkennung der päpstlichen Macht in Kroatien übergab er das Kloster des hl. Gregor in Vrana — das spätere Templer-, dann JohanniterPriorat — dem Heiligen Stuhl als unumschränktes Eigentum, damit dort die päpstlichen Gesandten „auf dem eigenen Boden des hl. Petrus" eine ständige Wohnung fänden. Danach kam die feierliche Ablegung des Treueides in die Hand Gebizos. „Ich, Demetrius, auch Zwojnimir genannt — sagte er — durch Gottes Gnade und durch die Verleihung des apostolischen Stuhles König, werde meinem Herrn, dem Papst Gregor und seinen gesetzlichen Nachfolgern von dieser Stunde an treu sein", „das Königreich hingegen, welches mir durch Deine Hand — Herr Gebizo — übergeben wurde, werde ich treulich verwalten und dieses sowie das Hoheitsrecht darüber werde ich dem Heiligen Stuhl in keiner Weise entziehen. Wenn mein Herr, Papst Gregor und seine Nachfolger oder seine Gesandten in mein Reich kommen, werde ich sie mit Ehren empfangen, würdig bewirten und sie nach Hause ziehen lassen und ihnen, wann immer sie mich rufen und wenn es mir möglich ist, aufrichtig zu Diensten stehen." Die Zeremomie ist in allen ihren Einzelheiten identisch mit der allgemein anerkannten und ausgeübten Zeremonie der Installierung der Lehensfürsten. Die Abzeichen des Landes und der Macht übergab der Papst als Lehnsherr auf Grund der Wahl der Priester und des Volkes mit der der canonica electio verwandten Zeremonie; Zwojnimir aber übernahm sie als der belehnte Vasall seines Herrn unter Leistung des Treueides. Kroatien und Dalmatien wurden päpstliche Vasallenstaaten, so wie sie früher bis Kresimir, wenn auch zuletzt nur noch dem Namen nach, die Vasallenprovinzen des Kaisers von Byzanz waren. An der tatsächlichen Machtstellung des kroatischen Königs änderte dieser Treueid nichts. Im Gegenteil, er gewann noch damit, weil die zum Heiligen Stuhl haltenden dalmatinischen Städte dem neuen König, der die stärkste Stütze der lateinischen Partei war, schnell huldigten. Venedig fügte sich gezwungenermaßen in die veränderte Situation und versuchte erst 1085 seine Rechte geltend zu machen, als Kaiser Alexios 23

H o r n a n , Geschichte des ung. Mittelalters

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Die Anfänge der ungarisch-kroatischen Staatsgemeinschaft

Komnenos es für die Unterstützung des byzantinisch-normannischen Bündnisses mit der Regierung und dem Schutz der verlorenen dalmatinischen Provinz betraute. Damals nahm der Doge Vitale Falieri von neuen den Titel eines Herzogs von Dalmatien an, doch konnte er bis zum Tode Zwojnimirs in den dalmatinischen Städten nicht Fuß fassen. Zwojnimir stützte sich in seiner Regierung auf dieselben Elemente wie seine Vorfahren, doch mit dem Anwachsen des römisch-dalmatinischen Einflusses erstarkte der lateinische Geist noch. Sein oberster Ratgeber war Bischof Lorenz von Spalato, der großen Anteil daran hatte, daß das Lager der slawischen Liturgie vollkommen kraftlos und zur Einleitung einer ernsten Aktion vollkommen unfähig wurde. Der friedlichen Regierung Zwojnimirs setzte sein im Jahre 1088 plötzlich eintretender Tod ein Ende. Später wollte man wissen, daß er der Empörung des zum Kreuzzug aufgeforderten Volkes, das sich sträubte, in den Krieg zu ziehen, zum Opfer gefallen sei. Sein einziger Sohn starb schon vor ihm. Seine Witwe erhob — so scheint es — Anspruch auf den Thron, doch die Kroaten holten statt der ungarischen Frau den letzten Sproß des Hauses Trpimir aus der Klosterzelle. Von der kurzen Herrschaft König Stephans II. (1089—1090) blieb kaum eine Erinnerung. Im Norden dehnten der ungarische König, im Süden Bodin, der serbische König von Zeta, in dieser Zeit ihre Macht über die erst vor kurzem noch dem kroatischen König huldigenden Geschlechter Slavoniens bzw. Bosniens aus. Nach seinem Tode entstanden Unruhen und Parteizwistigkeiten. Die Kroaten der Gebirgsgegend wollte aus ihren Reihen einen König wählen. Die Anhänger der lateinischen Partei aus dem Litorale, die dalmatinischen Städte und die Bevölkerung der einstigen Banatprovinz Zwojnimirs scharten sich um die Königinwitwe Helene. Eine mächtige Partei war für den Gedanken des ungarischen Bündnisses, und Anfang 1091 gingen Gesandte aus Spalato und Krbava nach Ungarn, um König Ladislaus auf den verwaisten kroatischen Thron zu rufen. DIE ANFÄNGE DER UNGARISCH-KROATISCHEN

STAATSGEMEINSCHAFT

Ladislaus der Heilige machte sich noch im Frühjahr 1091 auf den Rufseiner „durch ihre Feinde heftig beunruhigten Schwester, der Witwe König Zwojnimirs" und der angesehensten Partei Kroatiens auf den Weg nach Kroatien. Zu dessen Erwerbung trieb ihn — nach dem zeitgenössischen Chronisten — „nicht seine Unersättlichkeit", sondern die Tatsache, „daß er der Verwandte ersten Grades des ohne Nachkommen verstorbenen Königs Zwojnimir war und so dessen Erbe nach königlichem Recht ihm gebührte". Im Widerspruch zur Auffassung des Heiligen Stuhles und Zwojnimirs, wobei er sich auf das Recht

D i e Anfänge der ungarisch-kroatischen Staatsgemeinschaft

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der Blutsverwandtschaft berief, erhob er unter dem Titel der Erbschaft Anspruch auf Kroatien und Dalmatien, und nachdem er diese „für seine Schwester zurückerobert hatte, übernahm er sie von ihr unter seine Herrschaft". Der Gedanke eines ungarisch-kroatischen Bündnisses und der Vereinigung unter einem Herrscher stellte sich mit der ganzen Kraft der historischen Notwendigkeit ein. Die als letzte vor seinem Untergang dem weströmischen Reiche verbliebene Provinz Dalmatien fühlte sich mit ihren lateinischen Kulturüberresten naturgemäß zum Westen hingezogen und auch die auf ihrem Boden angesiedelten Kroaten wurden, obwohl sie unter die Vormundschaft des östlichen Kaiserreiches und in den Anziehungskreis von Konstantinopel geraten waren, durch die Tradition dieses Bodens nach Rom gewiesen. Ihre Könige und Vornehmen und die mit den lateinischen Küstenstädten verkehrende Schicht erwarteten vom Westen, von der lateinischen Kirche und der italienischen Kultur die die Zukunft der Nation und eine gesunde Entwicklung sichernden Kulturwerte. Kroatien war im XI. Jahrhundert der letzte nach Osten vorgeschobene Vorposten Roms und der westlichen Kultur. Gegenüber der jenseits seiner Grenze beginnenden östlichen griechischen Welt spielte es dieselbe Rolle wie etwas mehr gegen Norden Ungarn gegenüber dem Griechentum und der aus Asien in immer neuen Schwärmen gegen Westen sich wälzenden türkischen Flut. Doch Kroatien konnte allein nur schwer den Verführungen der mit der Begünstigung des slawischen Ritus sich nähernden östlichen Macht widerstehen. Schon zur Zeit der alten Dynastie erhob der unter dem Schlagwort „lateinisch" und „slawisch" entflammte Kampf sein Haupt, und durch die Vakanz des königlichen Thrones bekam die nach Osten schauende Bewegung neue Kraft. Die lateinische Partei und der westliche Gedanke, der zum Eigentum der kroatischen Nation geworden war, brauchten neue Kräfte und neue Stützen, damit sie sich und ihre politische Richtung sichern und in die Zukunft hinüberretten konnten. Diese Kraft und diese Unterstützung konnte ihnen in der Nachbarschaft nur die ungarische Nation bieten. Die Gemeinsamkeit des Schicksals, der Interessen und der Politik wiesen die beiden Nationen aufeinander hin, und wenn auch Ladislaus und die ihn rufenden kroatischen Herren die Lage noch nicht so klar erkannten, so gehorchten sie doch nur dem gebieterischen Wort der historischen Notwendigkeit, als sie die Schaffung der ungarisch-kroatischen Lebensgemeinschaft anstrebten. Ladislaus gelangte auf der von der ungarischen Grenze nach Dalmatien führenden Heerstraße — über Agram, Sisak und Topusko — an die kroatische Grenze zur Petrova-Gora. Von hier stieg er unter Kämpfen mit der feindlich gesinnten Bergbevölkerung in das Tal der Una hinab und nahm dort die Befestigungen, darunter auch die Burgen Paljica und Pset, der Reihe nach ein. Irgendwo im Quellgebiet der Una vereinigte er sich jedenfalls mit den 23*

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Der Zusammenstoß Ladislaus' mit dem Heiligen Stuhl

Kroaten von Krbava, die ihn gerufen hatten, und mit ihnen zog er, vielleicht unter Umgehung Knins, längs der Zrmanja bis zur Küste. Die kroatischen Küstenstädte und Zupanate — Sidagra mit der königlichen Residenz Biograd, Bribir und Nona — huldigten Ladislaus, den sie selbst auf den kroatischen Thron gerufen hatten, mit Freuden. Von der Küste aus schickte er seine Gesandten zumPapst Urban II., dem LehnsherrnZwojnimirs, um seine kroatische Thronfolge anerkennen zu lassen. In dem durch seinen Gesandten Sorinus an den Abt Odiserius von Monte-Cassino gesandten Brief schreibt er, daß er „fast ganz Slawonien" — der Sammelname der Zeitgenossen für Kroatien und Dalmatien — „erworben habe und sie so jetzt", natürlich über das Meer, „als Nachbarn in Beziehung treten könnten". Die Antwort des Papstes und des Abtes traf Ladislaus nicht mehr in Kroatien an. Als Kaiser Alexius sah, daß seine dalmatinischen und kroatischen Pläne infolge der Besetzung durch die Ungarn in Gefahr geraten waren, hetzte er seine Verbündeten, die Kumanen, gegen die Ungarn. Die Kumanen hatte der Kaiser selbst im Frühjahr 1091 in sein Land gerufen, um den Aufstand seiner in den nördlichen Randgebieten wohnenden peschenegischen Untertanen im Bunde mit den Kumanen niederzuschlagen. Nach dem Siege schickte er sie gegen Ungarn. Eine ihrer Scharen brach in Siebenbürgen ein und gelangte in den Rücken der Burgen im Tale der Maros und Szamos und stürmte durch das Tor von Meszes nach Bihar. Ernsten Widerstand fanden sie auch hier nicht. Da ein Teil der ungarischen Burgmannen auf fremdem Boden beschäftigt war, konnten sie die Theiß ohne Hindernis überqueren und drangen längs der Donau und Theiß gegen Süden vor und verursachten furchtbare Verwüstungen. Nachdem sie sich ihrer Aufgabe entledigt hatten, zogen sie mit Beute und Gefangenen reich beladen über die Theiß und längs der Temes nach den siebenbürgischen Städten, als der von Kroatien heimeilende Ladislaus ihnen mit seinem Heer in den Rücken fiel. Die Schlacht endete mit der vollständigen Vernichtung des kumanischen Heeres. Der Führer des an der unteren Donau lagernden Hauptheeres bereitete sich auf einen Rachefeldzug vor, doch Ladislaus kam ihm zuvor. Im Tale der Temes und Cerna drang er bis Orsova vor, und hier an der Grenze des Landes verwundete er den Führer der Kumanen tödlich und führte einen entscheidenden Schlag gegen den Feind. DER

ZUSAMMENSTOSS

LADISLAUS' MIT DEM HEILIGEN

STUHL

Ladislaus ließ einen Teil seines Heeres zum Schutz seines neuen Landes zurück und betraute den jungen Herzog Älmos, den er zum König von Kroatien und Dalmatien ausersehen hatte, mit der Regierung des Landes. Die Obrigkeit

Der Zusammenstoß Ladislaus' mit dem Heiligen Stuhl

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der dem von den Ungarn eroberten Küstengebiet benachbarten Stadt Zara fand es für notwendig, Mitte des Jahres 1091 beim Datieren ihrer Urkunden nach dem Namen ihres kaiserlichen Lehnsherren zu erwähnen, daß „Ladislaus, der König der Pannonier, nach Kroatien vorgedrungen sei und an die Spitze des Königreiches seinen Neffen, den Herrn Älmos, als König gestellt habe". Die Erwähnung Älmos' als kroatischen König in der Formel, die für die Herrscher vorgesehen war, die die Oberhoheit über die dalmatinischen Städte innehatten, bedeutet nicht nur die Anerkennung dieser Würde, sondern ist zugleich der Ausdruck der Sympathie der Bürgerschaft von Zara. Die Regierung des ungarischen Königs hatte in Zara wie in Spalato und den übrigen dalmatinischen Städten viele Anhänger und die Städte huldigten, nur der Zwangslage gehorchend, dem nach demTode Stephans auf die dalmatinischeProvinz neuerlich Anspruch erhebenden und mit der alten kroatischen Opposition sich verbündenden Kaiser bzw. seinem normannischen Statthalter. Als Alexios Komnenos (1081—1118) von den kroatischen Vorfällen Kenntnis erhielt, ernannte er den in den süditalienischen Kämpfen ihm treu zur Seite stehenden Grafen Gottfried von Melf zum kaiserlichen Statthalter von Dalmatien. Der normannische Führer unterwarf an der Spitze seiner Flotte im Anfang des Jahres 1091 der Reihe nach die Städte und Inseln, nahm mit der Opposition gegen die bisher regierende Partei Fühlung und versuchte die Macht seines kaiserlichen Herrn auch auf Kroatien auszudehnen. Es gelang ihm auch, in der Gegend der Cetina und Krka Fuß zu fassen. Der Papst selbst förderte die Ausbreitung der griechischen Macht, als er sich der Weihe des Almos zum König in den Weg stellte. Der päpstliche Gesandte Teuzo kam nach Beendigung des kumanischen Krieges an den Hof Ladislaus' mit der Antwort des Papstes Urban, die nicht günstig war. Der Briefwechsel ist uns nicht erhalten geblieben; seinen Inhalt können wir aus den Folgen feststellen. Ladislaus der Heilige war bisher ein unerschütterlicher Anhänger und eine Stütze des Heiligen Stuhles gewesen. Gregor VII., Viktor (1087) und Urban II. unterstützte er mit voller Überzeugung. Mit den Führern der päpstlichen Partei in Deutschland, mit dem Gegenkönig Rudolf und seinem Sohn Bertold, hielt er seit 1077 nicht nur verwandtschaftliche Bande, sondern ein starkes Bündnisverhältnis aufrecht. In seiner Treue machte ihn auch das scheinbare Aufsteigen des Sterns des Kaisers nicht wankend. Drei Jahre nach dem Bußgang von Canossa trat der endgütige Bruch zwischen Gregor und Heinrich ein, und das Glück begünstigte bei dieser Gelegenheit Heinrich, und während die deutschen Anhänger des Papstes unter der Führung Hermanns von Luxemburg (1081—87) kämpften, fiel 1084 sogar Rom in die Hände Heinrichs. In der St. Peterskirche fand die Installierung des Gegenpapstes Klemens III. und danach die Kaiserkrönung Heinrichs statt. Der gesetzliche Papst ver-

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Der Zusammenstoß Ladislaus' mit dem Heiligen Stuhl

teidigte sich zuerst in der Engelsburg, dann floh er nach Salerno und starb dort am 25. Mai 1085 in der Verbannung. Heinrich stand auf dem Höhepunkt seiner Macht und die katholische Kirche kämpfte noch Jahre hindurch mit wechselndem Glück ihren Freiheitskampf mit der größten weltlichen Macht Europas, Ladislaus aber unterstützte die Anhänger der Kirche. Bei der Beratung der deutschen Parteien in Speyer im Jahre 1087 versprach er zur Unterstützung des päpstlichen Thrones 20000 Reiter. In dem im Jahre 1091 von der Küste an Oderisius geschriebenen Brief zeigt er sich als der getreue Anhänger des Heiligen Stuhles und im November desselben Jahres nennt ihn der Papst Urban selbst seinen geliebten Sohn, welchen im Anfang dieses Jahres die kroatische päpstliche Partei — sicher nicht ohne Wissen des Papstes — nach Kroatien rief. Fünf Jahre später beklagt sich derselbe Papst in einem Brief an König Koloman trotzdem traurig, wenn er Ladislaus auch nicht persönlich beschuldigt, daß „das imgarische Volk schon lange auf Abwegen gehe, den wahren Hirten seines Heils verlassen und sich einer fremden Herde angeschlossen habe". Heinrich IV. hingegen wandte sich zur selben Zeit an Herzog Älmos, „an seinen treuesten und intimen Freund", berief sich auf ihre alte Freundschaft und das mit seinem Oheim geschlossene Bündnis und bat um seine weitere Unterstützung. Dieses Bündnis kam Ende des Jahres 1091 zustande, als Ladislaus gelegentlich der Weihnachtsfeiertage sich auch persönlich mit Heinrich treffen wollte. Die Begegnung verhinderte Weif, Herzog von Bayern das Bündnis aber wurde trotzdem geschlossen. Die Veränderung war zweifellos wegen der kroatischen Ereignisse eingetreten. Die enge verwandtschaftliche Verbindung, die Ladislaus mit der deutschen päpstlichen Partei knüpfte, wurde im Jahre 1090 unterbrochen. Seine Frau und sein Schwager — die Kinder Rudolfs von Rheinfelden — starben kurz hintereinander. Einige Jahre zuvor war auch Salamon, der Hauptgrund der Feindseligkeiten zwischen dem Kaiser und dem ungarischen König, gestorben. Seine Witwe nahm der Vetter Ladislaus', der polnische Herzog WladislawHermann, zur Frau. An die Spitze der an Slavonien und Kroatien grenzenden Markgrafschaften Istrien und Krain stellte Heinrich im Jahre 1090 die Neffen des Ladislaus — die Söhne Ulrichs von Weimar und Sophies von Ungarn. Die deutschen verwandtschaftlichen Beziehungen zogen Ladislaus jetzt eher zu Heinrich hin. Ihre Aussöhnung findet aber trotzdem in der kroatischen Lage ihre Erklärung. Ob das gerade in dieser Zeit beginnende freundschaftliche Verhältnis mit dem Kaiser von Byzanz oder die Weigerung Ladislaus', den die absolute Unterwerfung bedeutenden Treueid wie Zwojnimir abzulegen, Papst Urban verhinderte, die Aspirationen Ladislaus' anzuerkennen, wissen wir nicht. Sicher jedoch ist, daß die Antwort eine abweisende war. Ladislaus kam nicht mehr in der Hoffnung der sicheren Unterstützung des Papstes in ein Kroatien,

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das wahrscheinlich mit dessen Vorherwissen besetzt worden war; der erbitterte Älmos hingegen wandte sich an Heinrich IV. um Hilfe. Wie vor drei Jahren der serbische König Bodin von Zeta, der sich um die Organisierung der erzbischöflichen Provinz von Antivari bemühte, so erhoffte auch er von dem Gegenpapst Klemens III. die Befriedigung seiner Ansprüche und Wünsche. Die Vermittler waren sicher die Grafen Ulrich und Poppo von Istrien, und Älmos rechnete vor allen Dingen auf ihre Hilfe, als er die Erwerbung der in Gottfrids Hand befindlichen Teile der Cetina-Krka-Gegend plante. Aus dem Briefe Kaiser Heinrichs wissen wir, daß Älmos im Jahre 1092 oder 1093 zum Kampf gegen die Griechen rüstete, doch auf die Bitte Heinrichs, dessen Macht gerade in dieser Zeit erschüttert war, auf den Angriff verzichtete und den kärntener Anhängern des Kaisers Hilfe gegen die die Überhand gewinnenden Herren der päpstlichen Partei sandte. Graf Gottfrid, der griechische Statthalter von Dalmatien, zog zwar mit seinem normannischen Heer im Jahre 1093 aus Dalmatien fort, doch dadurch besserte sich die Lage des Älmos nicht. Alexios betraute jetzt den Dogen Vitale Falieri (1084—1096) mit dem Schutz Dalmatiens und des wieder als kaiserlichen Vasallenstaat betrachteten Kroatien. Die Heere Venedigs zogen wie einst zu Peter Orseolos Zeiten in das Küstenland Kroatiens. Der Doge nahm im Jahre 1094 nicht nur den Herzogstitel des von neuem unterworfenen Dalmatien an, sondern — zum erstenmal — auch den Titel „Herzog von Kroatien". Die von der normannischen Herrschaft befreiten Städte empfingen die Heere Venedigs mit Freuden, da Älmos infolge seiner kaiserfreundlichen Politik ihr Vertrauen eingebüßt hatte. Im Bergland riß in derselben Zeit, wahrscheinlich mit griechischer Unterstützung, der Zupan Peter die Macht an sich und begann in der Burg Knin als König zu regieren. Die Kroaten aus dem Bergland machten sich für einige Zeit von ihren Brüdern aus dem Küstengebiet unabhängig, und auf der Synode in Spalato 1095 konnte auch der kroatische Bischof von Knin nicht erscheinen. Das Land teilte sich in drei Teile. Im Küstenland herrschte der Doge von Venedig, im Bergland Peter und vom Velebit nach Norden war Älmos der Herr. Im Jahre 1094 beabsichtigte Älmos an dem vom hl. Ladislaus auf Aufforderung des Herzogs HerrmannWladislaw gegen Polen geführten Feldzug teilzunehmen, doch auf die Bitten Heinrichs und seiner durch die Feinde bedrängten Getreuen ließ er auch davon ab. Er zog sich vom Velebit nach Norden in das Gebiet des einstigen Banats zurück und wartete allem Anschein nach eine Wendung zum Besseren in der Sache seines kaiserlichen Freundes und damit seiner eigenen ab. Der ungarische König hätte mit Einsatz seiner ganzen Kraft mit Leichtigkeit das nach seiner Auffassung ihm zu Recht gebührende Land in Besitz nehmen können, doch hatte Ladislaus keine Lust zu einem bewaffneten Eingreifen. Der Bruch des mit dem Heiligen Stuhl seit zwanzig Jahren bestehenden engen Freundschafts- und Bündnisverhältnisses berührte ihn sicher unange-

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Der Tod des hl. Ladislaus

nehm, denn sein Herz trieb ihn, wie es auch aus dem an den Abt von MonteCassino gerichteten Brief klar hervorgeht, zum Festhalten an der päpstlichen Richtung. Wenn er auch auf den Rat von Älmos sich Heinrich näherte und zur kaiserfreundlichen Politik des Älmos beitrug, so wollte er sich doch nicht persönlich gegen den Willen des Papstes in die kroatischen Angelegenheiten einmischen. In seinen letzten Jahren beschäftigte ihn der auf die Bitte des polnischen Herzogs zur Beendigung der dortigen Thronzwistigkeiten eingeleitete Feldzug, dann die innere Organisation und die Regelung der Thronfolge. D E R T O D D E S HL. L A D I S L A U S

Die Mitglieder des Hauses Arpäd — mit Ausnahme des hl. Stephan, Andreas' II. und Bêlas IV. — erreichten kein hohes Lebensalter. Auch Ladislaus war noch nicht 50 Jahre alt, als er zu kränkeln begann. Wie schon viele der großen ungarischen Könige, so beschäftigte auch ihn in der letzten Minute seines Lebens die bittere Sorge der Thronfolge. Einen Sohn hatte er nicht. Von seinen Neffen stand ihm Älmos näher, ursprünglich hatte er ihn zu seinem Nachfolger bestimmt, während er seinen älteren Bruder zum Priester erzog. Koloman gab sich mit seiner kirchlichen Berufung nicht zufrieden, und wenn er auch seinem ihn mit väterlicher Liebe umsorgenden Oheim nicht offen gegenübertrat, so flüchtete er doch bei der Erkrankung des Königs nach Polen. Mit seinem Entschluß meldete er nicht nur den Rücktritt vom bischöflichen Stuhl, sondern auch seine Ansprüche auf den Thron an. Ladislaus war sich darüber klar, daß die Krone rechtlich dem älteren Koloman gebührte, und außerdem wurde auch sein Vertrauen in die Herrscherfähigkeiten Älmos' — so scheint es — erschüttert. Der leidenschaftliche Jüngling war ein ausgezeichneter Soldat, doch ein schlechter Diplomat. Seine durch Feuer und Wasser gehende kaiserfreundliche Politik brachte dem Lande auch nichts Gutes. In Kroatien und Dalmatien verschlechterte sie eher seine Lage. Den Nutzen aus einem Bündnis hatte nur Heinrich, dessen zusammenbrechende Macht in den Randgebieten von Kärnten von der ungarischen Hilfe gestützt wurde. Die Schlappe der kroatischen Politik des Älmos, das Überhandnehmen seiner auf die Nachricht vom Kreuzzuge hin wiedererwachten Gefühle für die päpstliche Partei und die Furcht vor einem Bruderkrieg brachten Ladislaus kurz vor seinem Ableben dazu, seine Absicht zu ändern. Er ließ Koloman aus Polen kommen und bestimmte den feierlich zurückgerufenen Herzog im Sinne des Rechts und des Gesetzes zu seinem Nachfolger. Die Rückberufung Kolomans und die Sicherung seines Erbes bedeutete von Seiten des Ladislaus eine Annäherung an den Heiligen Stuhl, die Rückkehr zu seiner ursprünglichen außenpolitischen Konzeption, weil man in dem kirchlich denkenden Herzog in Ungarn wie am päpstlichen Hofe das

Der Durchzug des ersten Kreuzheeres

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Haupt der päpstlichen Partei und den hingebenden Anhänger des Heiligen Stuhles sah. König Ladislaus starb am 29. Juli 1095. Nach dem Begräbnis in Wardein bestieg Koloman ungehindert den Thron. Auch Almos fügte sich scheinbar ins Unvermeidliche. Anstatt des noch immer unsicheren Thrones von Kroatien erhielt er das Herzogtum des unlängst verstorbenen Lampert, den einstigen Landesteil Bêlas und Gézas, mit voller Herrschermacht. DER D U R C H Z U G DES E R S T E N

KREUZHEERES

Der junge König stand gleich nach seiner Thronbesteigung dem vom wirtschaftlichen wie vom militärischen Standpunkt gleich schwierigen Problem des Durchzugs des Hunderttausende zählenden Kreuzheeres gegenüber. Papst Urban II. rief auf der Synode zu Clermont im November 1095 die Christenheit zur Befreiung des in die Hände der seldschukischen Türken geratenen Heiligen Landes auf, und ein halbes Jahr später, im Frühling des Jahres 1096, scharten sich die an den kriegerischen Worten sich begeisternden Franzosen, Normannen, Italiener und Deutschen schon zu Zehntausenden um das Zeichen des Kreuzes. Aus Frankreich und Deutschland zogen große Scharen nach Kleinasien, die ihren Weg, hauptsächlich die deutschen Heere, durch Ungarn nahmen, dessen eben verstorbener König — nach den heimatlichen Überlieferungen — als der Hauptführer des Heeres ausersehen war. Im Sinne des kriegerischen Aufrufes ließ Koloman Vortruppen, die noch vor Beginn des eigentlichen Feldzuges die Waffen ergriffen hatten, mit vollem Einverständnis ohne jeden Argwohn beim Wieselburger Landestor ein. Nur eins machte er zur Bedingung, daß sie ihren Bedarf gegen Barzahlung, auf dem Wege des Kaufes, erwerben sollten. Im Heere des Einsiedlers Peter von Amiens und des Walter von Poissy zogen ungefähr 50—60000 Menschen ohne Zwischenfälle durch das Land, doch an der südlichen Grenze bei Zimony geriet das undisziplinierte Volk mit der Burgwache in Kampf, besetzte die Burg und machte sich erst auf die Nachricht vom Nahen des ungarischen Heeres davon. Die undisziplinierten, plündernden Truppen des Priesters Gottschalk und des im Tale der Waag vorrückenden Folker von Orléans begannen schon beim Überschreiten der Grenze zu rauben und zu plündern und Gewalttätigkeiten zu begehen, sodaß Koloman gezwungen war, sie mit bewaffneter Macht aus dem Lande zu jagen. Kaum war diese Gefahr vorüber, da bat das unter der Führung des Grafen Emicho von Leiningen stehende 30000 Mann starke Heer, das aus allen Gegenden des Nordens und Westens zusammengewürfelt war und aus vielerlei Nationen bestand, um die Durchzugserlaubnis. Einen großen Teil von ihnen hatte nicht die Begeisterung für die Idee, sondern die Abenteuerlust und die

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Der Durchzug des ersten Kreuzheeres

Lust am Kriege in das Lager des Kreuzzuges gebracht, und schlimme Nachrichten über ihre Verheerungen eilten ihnen schon weit voraus. Koloman, durch seine bisherigen Erfahrungen gewitzigt, verweigerte ihnen den Durchzug. Die Deutschen griffen zu den Waffen und wollten sich den Weg mit Gewalt erzwingen. Wieselburg schien ihnen schon in die Hände zu fallen, doch in letzter Minute wandte sich das Glück. Die auf die Nachricht vom Vordringen der Ungarn entstandene Panik verursachte eine vollständige Auflösung, und sie flüchteten kopflos vor den sie verfolgenden ungarischen Truppen. Graf Raimond von Toulouse, der Schirmherr von Saint-Gilles, der Mutterabtei von Somogyvär, berührte mit seinem großen französischen Heere Ungarn nicht. Er zog aus der Lombardei über Istrien und das kroatische Küstenland nach Konstantinopel. In dem die zentrale Macht entbehrenden, in drei Teile zerrissenen Kroatien litt das Heer viel durch Hunger und durch Mangel an Unterstützimg, außerdem durch die meuchlerischen Überfälle des in die Berge geflüchteten Volkes und durch die schlechten Naturverhältnisse. Sie waren froh, als sie das herrenlose Land verlassen hatten und zu dem serbischen König Bodin nach Skutari kamen. Im Oktober kamen Gottfried und Balduin von Bouillon mit 30 000 Fußtruppen und 10000 wohldisziplinierten Reitern an die ungarische Grenze. Koloman nahm ihre Bitte um den Durchzug mißtrauisch entgegen, doch war seine Antwort nicht ablehnend. Er lud die Führer zu einer persönlichen Zusammenkunft ein, und die direkte Fühlungnahme zerstreute jedes Mißverständnis. Nach achttägiger Beratung im Kloster von Martinsberg kamen sie zu einer vollständigen Einigung. Die Führer gaben für die Aufrechterhaltung der Ordnung Garantien, und der König ermöglichte die ausreichende Verpflegung des Heeres. Herzog Balduin kam als Geisel zusammen mit seiner Gemahlin in das Lager Kolomans, der mit seinem ganzen Heer die Scharen bis zur Landesgrenze begleitete. Den Durchzug störte nichts. Das Heer setzte ohne Schwierigkeiten über die Save, und Koloman und Balduin schieden beim Abschied mit einem Freundschaftskuß. Die Kreuzritter gedachten auch später noch gern des ungarischen Durchzuges. Kolomans energisches Auftreten gegenüber den zügellosen Scharen, seine zuvorkommende, doch entschiedene Haltung gegenüber den Führern der disziplinierten Kreuzfahrertruppen begründeten auf einmal sein Ansehen und das war gerade jetzt sehr nötig. Die kroatische Frage und das Verhältnis seines Landes zum Heiligen Stuhl und zu den beiden Kaiserreichen wartete dringend auf Regelung; die ganze außenpolitische Konzeption des ungarischen Reiches drängte nach Revision. Es gab noch viele große, schwere, politischen Takt erfordernde Aufgaben, doch Koloman besaß die zu ihrer Lösung notwendige Kraft und Umsicht.

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Koloman und der Heilige Stuhl K O L O M A N U N D DER HEILIGE

STUHL

Almos — wie einst Andreas und Salamon — dachte im Schatten der kaiserlichen Macht den Weg zu seinem und seines Landes Gedeihen zu finden. Er setzte alles auf eine Karte und noch dazu auf eine schlechte. Er bedachte nicht, daß das westliche Kaiserreich schon lange nicht mehr die Macht war, die es zur Zeit Heinrichs III. oder selbst noch vor zehn Jahren gewesen war. Für das immer wertloser werdende Bündnis Heinrichs IV. war er bereit, gegen den gesetzlichen Papst, den griechischen Kaiser, gegen die allgemeine Stimmung der papstfreundlichen Mehrheit in Kroatien und der dalmatinischen Städte in den Krieg zu ziehen. Koloman erkannte die realen Kräfteverhältnisse und die aus dem Bündnis mit der trotz scheinbarer Erfolge doch sinkenden kaiserlichen Macht für sein Land entstehenden Gefahren, die steigende Tendenz der Macht des Papstes und des oströmischen Kaisers und das siegreiche Vordringen des französischen Geistes. Er wußte, daß die durch Geza und Ladislaus mit fast gefühlsmäßiger Vorahnung fast zwei Jahrzehnte hindurch befolgte Politik die richtige war, von deren Wegen der in der kroatischen Frage enttäuschte Ladislaus in den letzten Jahren seines Lebens auf die Ermunterung Almos' hin abgewichen war. Auf diesen Weg kehrte Koloman zurück, als er den zerrissenen Faden der Verbindung wieder anknüpfte. Zur Wiederherstellung des guten Verhältnisses tat Papst Urban den ersten Schritt, als er sich im Juli des Jahres 1096 in Saint-Gilles aufhielt und von dem Abt Odilo, der die kirchliche Oberhoheit über die Abtei von Somogyvär ausübte, von Kolomans kirchlicher Denkungsart und religiösen Gefühlen unterrichtet wurde. Er begrüßte Koloman brieflich gelegentlich seiner Thronbesteigung und forderte ihn auf, „er möge die glorreiche Fahne des katholischen Glaubens erheben, welche seinem Lande zusammen mit der weltlichen Fahne Sieg und Ruhm bringen werde". Er berief sich in seinem Brief auf König Stephan, „den gläubigen Fürsten", der sich von Rom „die Rechte der königlichen Würde verdiente". Er ermahnte ihn, seinem Beispiel zu folgen, von dem ketzerischen Guibert und Heinrich sich abzuwenden und sein Land und Volk zur Treue gegenüber dem hl. Petrus zurückzuführen. Er bittet ihn von seinen Absichten zu unterrichten und bietet seinerseits ihm „alle jene Würden und Ämter, welche einst sein Vorfahre Stephan vom Heiligen Stuhl sich verdiente", an. Zum Schluß bittet er um seine Einwilligung, daß er seinen apostolischen Gesandten in Begleitung des Abtes Odilo zum Heile seines Volkes zu ihm senden dürfe. Heinrich IV. wandte sich in dieser Zeit an Almos. Auf ihre alte Freundschaft sich berufend, bat er ihn, seinen Bruder zur Aufrechterhaltung des mit Ladislaus geschlossenen Bündnisses zu bewegen und zu versuchen, ihn von der Verbindung mit dem seiner herzoglichen Würde beraubten und der päpstlichen Partei angehörenden Herzog Weif von Bayern abzubringen. Koloman wählte die

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Ungarisch-normannisch-italienisches Bündnis

Freundschaft des Papstes und bat durch seine Gesandten noch Ende des Jahres 1096, spätestens aber zu Anfang des Jahres 1097, um die Hand der Tochter des Grafen Roger von Sizilien, des treuesten Anhängers des Papstes.

UNGARISCH-NORMANNISCH-ITALIENISCHES

BÜNDNIS

Dieser Gesandtschaft mußte die Ankunft der päpstlichen Gesandten vorangegangen sein, denn der Gedanke der Heirat konnte nur von dem Abt Odilo von Saint-Gilles stammen, den Papst Urban als einen der nach Ungarn reisenden Gesandten in seinem Briefe erwähnt. Die ältere Tochter Rogers war die Frau des Patronatsherrn Odilos, des Grafen Raimund von Toulouse und SaintGilles, während ihre Schwester seit dem Jahre 1095 die Frau des Sohnes Heinrichs IV. war, der sich dem Papst angeschlossen hatte. Der normannische Fürst, welcher seit dem Tode Robert Guiscards Herr über ganz Sizilien und die süditalienischen Normannen war, empfing die mit dem Antrag des Heiligen Stuhles erschienenen Gesandten sehr herzlich, doch die endgültige Antwort hob er für die feierliche Brautwerbedeputation auf. Zur Erwiderung sandte er selbst eine ähnliche Abordnung, und nachdem sich der König, Herzog Älmos und die Vornehmen des Landes vor diesen Gesandten für die Einhaltung des zugunsten der Königin gemachten Morgengabeversprechens eingesetzt hatten, schickte er die Gräfin Buzilla in Begleitung des Bischofs von Leoncastro und 300 Rittern nach Ungarn. Die Braut wurde an der kroatischen Küste in der Stadt Biograd vom Gespan Merkur, dem späteren Woiwoden von Siebenbürgen, an der Spitze von 5000 Bewaffneten empfangen, welche auf den unsicheren Bergwegen zur Begleitung der neuen Königin bestimmt waren. Die Heirat Kolomans mit der Enkelin Tankreds von Hauteville, mit der französischen Normannin Buzilla, war die erste westeuropäische Familienverbindung des Hauses Arpäd. Stephan der Heilige, Salomon und Ladislaus traten mit dem deutschen Hofe in Heiratsverbindungen, Andreas und Béla brachten aus der Verbannung ihre russischen bzw. polnischen Gemahlinnen mit. Gézas zweite Gemahlin war eine Griechin. Sie alle suchten mit den Höfen der unmittelbar an Ungarn angrenzenden Länder Verbindungen. Koloman schaute schon weit nach Südwesten. Der Umkreis der ungarischen Außenpolitik hatte sich erweitert. Die Spitze des durch die Heirat zustandegekommenen Bündnisses richtete sich ohne Zweifel gegen Venedigs kroatische Aspirationen. Der neue Herzog von Venedig, Vitale Michieli (1096—1101), unterwarf gerade in dieser Zeit auf Grund des vom Kaiser von Byzanz erhaltenen Auftrages seines Vorgängers die dalmatinischen Städte und Inseln von neuem, doch seine Ansprüche auf Kroatien konnte er nicht durchsetzen. Nach dem Abzug Almos' zog das jenseits des Velebit lagernde und sicher durch neue Truppen verstärkte ungarische

Ungarisch-normannisch-italienisches Bündnis

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Heer wahrscheinlich unter der Führung des Gespans Merkur ruhig zum Meeresufer hinunter. Die kroatische Hauptstadt Biograd empfing das Heer des zur päpstlichen Partei übergegangenen ungarischen Königs auf das herzlichste, und als die königliche Braut ankam, gehörte es bereits wieder zusammen mit dem benachbarten Küstengebiet „unter die Botsmäßigkeit des ungarischen Königs". Koloman wußte recht gut, daß es mit Venedig um den Besitz des Küstenlandes und der dalmatinischen Städte früher oder später zu einem bewaffneten Zusammenstoß kommen mußte, aber vorläufig vermied er eine Herausforderung, bis er eine klare Situation schaffen konnte. Nachdem er durch das normannische Bündnis gegen die Seemacht der ehrgeizigen Stadt eine gute Unterstützung gefunden hatte, verglich er sich auch mit Venedig friedlich. Den Vergleich betrieb der Doge selbst. Das Vordringen des ungarischen Heeres und das normannische Bündnis scheint ihn beunruhigt zu haben, und er war bestrebt, seine Herrschaft über Dalmatien auf friedlichem Wege zu sichern. Es folgte ein reger Gesandtenaustausch. Der Doge bot Freundschaft und Bündnis an, doch Koloman zögerte mit der endgültigen Antwort. Venedig dachte schon an eine List, als Kolomans Antwort im Jahre 1096 endlich eintraf. Die Verspätung entschuldigte er damit, daß er zu seiner Antwort die Einwilligung „des Rates seines ganzen Königreiches" erbitten mußte, da eine ohne den Rat zustandegekommene Bindung keine feste Basis besäße. Der wahre Grund war aber ein anderer. Koloman dachte schon damals an eine gründliche Regelung der kroatischen Verhältnisse, doch Herzog Älmos, der wahrscheinlich über die kroatischen Pläne des Königs entrüstet war, bereitete einen Aufstand vor. Der Widerstand der Herren verhinderte den Bruderkrieg, doch Koloman, der Böses ahnte, hielt es jetzt für richtiger, die Friedenshand des Dogen zu ergreifen. In seinem Brief betonte er seine unauflösliche ewige Freundschaft und hält es für wünschenswert, daß sie wechselseitig einen Eid leisten mögen, „in dessem Sinne sie sich in Gefahr gegenseitig Hilfe leisten und ihr Gebiet mit vereinter Kraft vermehren würden". Nicht viel später legten sie den Freundschaftsvertrag auch schriftlich nieder. Koloman und der Doge schwuren sich zusammen mit allen ihren Untertanen gegenseitig Freundschaft. Der „König der Ungarn" und der „Herzog von Venedig, Dalmatien und Kroatien" versicherten sich gegenseitig, daß „sie die ihrigen und sämtliche ihnen unterworfenen Städte, Kastelle und Ortschaften selbst und durch die ihrigen schützen werden, sich gegenseitig in Frieden lassen würden und wenn jemand von den eigenen Leuten die Leute des anderen stören oder beleidigen sollte, sie sich vom Tage des Empfanges der Nachricht an gerechnet binnen drei Tagen Genugtuung geben". Zu der den Text des Eides enthaltenen Schrift fügte Koloman jedoch noch als Klausel hinzu, daß „er und die Vornehmen und Alten des Landes Zweifel hätten, ob er den Herzog Herzog von Dal-

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Russische und tschechische Angelegenheiten

matien und Kroatien nennen könne und deshalb sei es sein Wunsch und Wille, daß bei Aufrechterhaltung des Freundschaftsvertrages mit vollkommner Sicherheit festgestellt werde, was dem einen oder anderen auf Grund des Rechts ihrer Vorfahren gebühre", damit nicht daraus einmal ein Mißverständnis oder Zwistigkeiten entstehen könnten. Da Koloman sicher wußte, daß seine Vorfahren Könige von Kroatien und Slavonien waren, wünschte er mit dieser Klausel den provisorischen und modifizierbaren Charakter des Vertrages zu unterstreichen. Er ließ einen Ausweg für den Fall, daß er einmal seine Ansprüche auf Dalmatien geltend machen wollte. Diese Zeit trat erst nach Jahren ein, weil mittlerweile die Angelegenheit der slawischen Nachbarn aus dem Norden Koloman beschäftigten.

RUSSISCHE UND TSCHECHISCHE

ANGELEGENHEITEN

In Polen schien seit der Einmischung des hl. Ladislaus im Jahre 1094 der innere Friede zwischen Hermann-Wladislaw und seinen Söhnen gesichert zu sein, und das herzliche verwandtschaftliche Verhältnis zwischen dem ungarischen und polnischen Herrscher wurde durch nichts gestört. Um so größere Unruhen herrschten in Rußland und in Böhmen. Die Söhne und Enkel Jaroslaws des Großen teilten sich nach alter normannischer und slawischer Sitte in das Land und regierten die kleinen Fürstentümer unter dem Großfürsten von Kiew, der unter dem Titel des Seniorates regierte und dessen Herrschaft einen rein nominellen Charakter trug. Zusammenstöße, Übergriffe, Bruderkämpfe und Grausamkeiten waren an der Tagesordnung. Ein Ereignis wie der infolge der ungerechten Blendung Wassilkos entstandene Bürgerkrieg bewog Koloman im Jahre 1099 zur Einmischung in den an der ungarischen Grenze wütenden Kampf. Großfürst Swjatopolk und seine Vettern Wladimir Monomachos und Oleg von Tschernigow baten um das Eingreifen Kolomans. Der ungarische König kam mit zweien seiner Bischöfe, mehreren Gespanen und einigen tausend Reitern nach Przemysl. Doch der Kampf ging ungünstig aus. Der plötzliche Überfall und die vorgetäuschte Flucht der kleinen Truppe der auf der Seite der Gegenpartei kämpfenden Kumanen brachte die der alten Kampfesweise bereits entwöhnten und auf deutsche Art kämpfenden, zum Teil auch schon gepanzerten Ungarn in Verwirrung. Wie einst die deutschen Truppen vor den herumstreifenden ungarischen Scharen, so suchten sie jetzt in wilder Flucht Rettung. Der Verlust war groß. Zwei Bischöfe und zwei Gespane fielen dem Überfall zum Opfer. Der König selbst wurde nur durch die Selbstaufopferung seiner Getreuen gerettet. Der erste bewaffnete Zug nach Rußland endete mit einer Schlappe, doch gab er den Nachkommen Ärpäds und Ruriks Gelegenheit zur Vertiefung ihrer Familienverbindungen. Herzog Älmos freundete sich bei Przemysl mit dem

Russische und tschechische Angelegenheiten

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Großfürsten Swjatopolk (1093—1113) an, dessen Sohn Jaroslaw vor dem Kriege Gesandter in Ungarn war. Die Freundschaft besiegelte einige Jahre später die Heirat des Älmos mit Predslava, der Tochter Swjatopolks. Koloman fühlte sich mehr zu dem gebildeten, großmütigen, weisen und heldenhaften Fürsten von Susdal, Wladimir Monomachos, hingezogen und nach dem Tode seiner normannischen Gemahlin nahm er im Jahre 1107 dessen Tochter zur Frau. In Böhmen war das System mit dem russischen identisch. Die Mitglieder des herzoglichen Hauses teilten die böhmischen und mährischen Länder unter sich und regierten unter der Oberhoheit des böhmischen Herzogs in Prag ebenfalls mit voller fürstlicher Gewalt. Reibereien und Bruderkriege waren auch hier an der Tagesordnung, doch das Übergewicht der herzoglichen Macht und die Furcht vor der Einmischung des kaiserlichen Lehnsherrn verhinderten lange Zeit hindurch ein Ausarten der Verhältnisse. Bretislaw I. und Wratislav II., der als Lohn für seine Treue für seine eigene Person von Heinrich den Königstitel erhalten hatte, verstanden es gut, die Kräfte im Gleichgewicht zu halten. Als jedoch Herzog Bretislaw II. (1091—1100) aus Ungarn zurückkehrte und sich vielleicht das Beispiel seines ungarischen Großvaters Andreas' I. vor Augen hielt und die alte Erbordnung umstieß und unter Umgehung des Seniors seinen eigenen jüngeren Bruder Boriwoj zum Nachfolger bestimmte, legte er den Keim zu einer vierzigjährigen Kriegszeit. Der böhmische und mährische Zweig der Przemysliden, die Nachkommen Wratislaws und Ottos, stritten jahrzehntelang um die Vormacht, bis endlich Sobieslaw I. (1125—1198), der Schwager des ungarischen Herzogs Älmos, und Wladislaw II. (1140—1173) den Kampf zum Stillstand brachten. Die ungarischen Könige mischten sich unter dem Titel der Nachbarschaft und Verwandtschaft mehrmals in die Familienzwistigkeiten ein. Ladislaus der Heilige wollte vor seinem Tode im Interesse seiner Neffen, der mährischen Herzöge Swatopluk und Otto II., eingreifen und Koloman zog im Jahre 1099 mit derselben Absicht an die mährische Grenze, der sich Herzog Bretislaw, der einstige Gast des Ladislaus, mit einem großen Heere näherte. Während der persönlichen Begegnung überzeugte sich Koloman jedoch davon, daß der Thron auch unter dem Titel des Senoriats nicht seinem Vetter gebühren würde, und seine Tante gab sich mit ihren Kindern mit der Nachfolge Boriwojs (1100—1107) zufrieden. Mit Bretislaw schloß er Frieden und Bündnis, doch auch seinen Vetter Swatopluk versicherte er seiner wohlgesinnten Freundschaft. Die Sicherung des Einflusses über die russischen Fürstentümer von Przemysl, später von Halicz und Lodomerien, schien vom ungarischen Standpunkt aus schon wegen der Erleichterung der Verbindung mit dem polnischen Verbündeten wie auch zur Abwehr der kumanischen Einbrüche wünschenswert. Trotzdem kann man nicht annehmen, daß Koloman diese in der Zeit Bêlas III. in den Vordergrund gelangenden Bestrebungen zur Einmischung bewogen. Von

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Koloman, König von Ungarn, Kroatien und Dalmatien

ihm läßt es sich auch nicht annehmen, daß er, um seine Kraft zu zeigen und um sein Ansehen zu begründen, sich in eine solche Unternehmung mit so zweifelhaftem Ausgang eingelassen hätte. Es ist sicher, daß er sich in die russischen und böhmischen Angelegenheiten wegen des Aufstandes des Almos einmischte. So sicherte er sich gegen Überraschungen während der Zeit seiner kroatischen Reise. Seinen Bruder konnte er nicht mitnehmen, weil diesen einerseits der Verlust der Hoffnung auf das kroatische Königreich verbittert hatte, andererseits, weil man auch dort den Freund des Kaisers nicht gern gesehen hätte. Deshalb suchte und fand er in der mit den Fürsten der dem Herzogtum Almos' benachbarten Länder geknüpften Freundschaft gegen einen eventuell mit ausländischer Hilfe unternommenen Aufstand Schutz. KOLOMAN, KÖNIG VON UNGARN, KROATIEN U N D

DALMATIEN

In der Nachbarschaft Kroatiens und in seiner Stellung vollzogen sich mittlerweile große Veränderungen. Das die gesamten Serben vereinigende und deshalb auf die Entwicklung der kroatischen Angelegenheiten einigen Einfluß ausübende serbische Königreich Zeta fiel mit dem Tode König Bodins im Jahre 1101 auseinander. In Dioklea stritten die Nachkommen Bodins mit den Nachkommen seines Vetters Branislaw um den Thron. In der Gegend von Rasa — dem heutigen Novipazar — legte der Großzupan Ulkan den Grundstein zur späteren serbischen Macht. Bosnien machte sich unter der Regierung eines besonderen Banus selbständig. Venedig war mit seinen östlichen Angelegenheiten beschäftigt, mit dem Transport der Kreuzzugsheere, mit ihrer Verpflegung und mit dem mit Pisa und Genua geführten Kampf um den Handel mit der Levante, und in Italien selbst verwickelte es sich in Kriege mit Ferrara, Padua und dem Bischof von Treviso. Infolge des Kreuzzugs wuchs die Macht der Normannen gefährlich an, deren Angriffe zur See den venezianischen Kaufleuten großen Schaden verursachen konnten. Der neue Doge Falieri Ordelafo (1101—1118) konnte deshalb nicht mit genügender Sorgfalt die dalmatinischen Ereignisse verfolgen und die Städte waren der ungarischen Propaganda sozusagen ausgeliefert. Noch weniger konnte sich sein griechischer Lehensherr um Dalmatien kümmern. Als Kaiser Alexios gegen die unter der Führung des Malek Schah in raschem Tempo vordringenden Seldschuken vom Papst Urban Hilfe erbat, rechnete er nicht mit den Ausmaßen und Folgen der westlichen Invasion. Die Hilfe traf ein, doch das Reich hatte keinen Nutzen davon. Auf dem von den Türken besetzten Gebiet entstanden neue christliche Mächte, so die Lehensstaaten der französischen und normannischen Ritter, das Königreich Jerusalem und die unter der nominellen Lehnsherrschaft des Königreichs stehenden Fürstentümer Tripolis und Antiochien sowie die Grafschaft

Koloman, König von Ungarn, Kroatien und Dalmatien

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Edessa, welche sehr bald einen Zusammenstoß mit dem oströmischen Reich hatten. Die Eroberungen der Franzosen hätte Alexios noch ertragen, doch mit Boemund, dem Führer der verhaßten süditalienischen Normannen, dem Fürsten von Antiochien (1098—1111), kam es schon im Jahre 1100 zum Bruch. Seit dieser Zeit sah Boemund den Kampf gegen den Kaiser von Byzanz als eine wichtigere Aufgabe an als die Vertreibung der Türken und nach seiner Rückkehr nach Italien schickte er das mit Hilfe seines Schwiegervaters, des Königs Philipp von Frankreich, und des Papstes Paschalis II. seit 1104 gesammelte neue Kreuzheer im Jahre 1107 nicht nach Antiochien, sondern an die Küste von Mazedonien undEprius. Der Kampf endete im Jahre 1108 mit dem Siege des Alexios, doch gelang es den Normannen, seine ganze Kraft auf zehn Jahre zu binden. Von dieser Seite drohte der kroatischen Aktion keine Gefahr. Auch der Papst hatte keine Bedenken mehr, empfing sogar freudig die Nachricht von Kolomans Bestrebungen. Paschalis II., welcher das Erbe des kriegerischen Urban II. angetreten hatte, erkannte den nominellen Charakter der kroatischen Lehnsherrschaft und statt der Herrschaft von Byzanz und Venedig hielt er es auch ohne den Vasalleneid für vorteilhafter, wenn der die Rechte des Heiligen Stuhls und die Interessen der dalmatinischen Kirche auf alle Fälle respektierende ungarische König die Macht ergriff. Bei der Vorbereitung der Besetzung Kroatiens erwies sich Koloman als ein ebenso ausgezeichneter und umsichtiger Diplomat wie er ein weiser Gesetzgeber und energ'ccher Regent war. Sein großer politischer Takt und seine kluge Mäßigung kamen schon bei der Besitzergreifung des Landes zur Geltung. Das ungarische Heer setzte sich am Anfang des Jahres 1102 über Agram, Sisak und Topusko auf der nach Süden führenden Heerstraße in Bewegung. An der kroatischen Grenze, an der PetrovaGora, ließen sich die Kroaten der Gebirgsgegend unter Führung des „König" Peter in einen Kampf mit den Ungarn ein, doch sie wurden geschlagen und auch Peter selbst fiel. Mehr Widerstand fand das ungarische Heer nicht und der dem Heere folgende König zog ohne Hindernis mit den Fähnlein von zehn Komitaten in die einstige Hauptstadt Kresimirs und Zvojnimirs ein. Koloman kam mit großem Gefolge. Obzwar Koloman über ein starkes Heer verfügte, trat er nicht als Eroberer, sondern als der Erbkönig des Landes auf. Seine Rechte wurden jetzt auch schon durch den Papst anerkannt, ohne daß dieser den Vasalleneid von ihm forderte. Nach dem Einzug sandte Papst Paschalis II. einen Sondergesandten nach „Dalmatien und Ungarn" in der Person des Kardinals Augustin, welcher sich auch im Jahre 1103 in Biograd aufhielt, wo Koloman sich noch im Jahre 1102 krönen ließ. Ob diese Krönimg ähnlich der Krönung der ungarischen Könige und der letzten kroatischen Könige ein einmaliger feierlicher Akt oder eine sich an den Hauptfesten des Jahres wiederholende Krönung war, wovon 24

H ö m a n , Geschichte des u n s . M i t t e l a l t e r s

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Die Regierung Kroatiens

die späteren Freibriefe der dalmatinischen Städte sprechen, ist aus den Quellen nicht festzustellen. Doch müssen wir es für wahrscheinlich halten, daß Koloman, welcher seit dieser Zeit den Titel „von Gottes Gnaden König von Ungarn, Kroatien und Dalmatien" führt, sich auch feierlich zum König seiner neuen Länder krönen ließ, weil diese Krönung am besten und verständlichsten die Gesetzmäßigkeit seiner Regierung und die tatsächliche Besitzergreifung seines Landes und seiner königlichen Rechte dokumentierte.

DIE REGIERUNG

KROATIENS

In die königlichen Burgen und Städte kam selbstverständlich eine ungarische Besatzung mit je einem Gespan an ihrer Spitze. Mit der Regierung des Landes und der ständigen Vertretung des Königs betraute Koloman einen besonderen königlichen Oberbeamten, welchen das Volk nach alter kroatischer Sitte Banus nannte. Dieser Titel bürgerte sich dann auch im amtlichen Verkehr ein. Der Banus von Kroatien, der Vertreter der Person des Königs und dessen Vertrauensmann, war selbstverständlich ein Ungar. Die ersten namentlich bekannten Bane waren Ugra oder Ugrin de genere Csäk (1105) und Keled de genere Gutkeled (1117). Ungarische Gespane waren auch die Führer der königlichen Heere und der Burgbesatzungen. Der Banus, die Gespane und das ungarische Militär waren die Regierungsund Verwaltungsorgane der zentralen ungarischen und jetzt auch gleichzeitig königlich kroatischen Macht und ihre Funktionen erstreckten sich demzufolge nur auf die Regierung des Landes, auf seinen Schutz, die Aufrechterhaltung seiner Ordnimg, auf die Bewachung und Verwaltung der königlichen Burgen und Güter und die Geltendmachung der sich daraus ergebenden königlichen Rechte. An die Gründung einer Burgorganisation wie es das Burgnetz Slawoniens war, dachte Koloman nicht, da er zu diesem Zwecke nicht über genügend Besitz und auch nicht über genügend Volk verfügte. Der Boden Slawoniens wurde bei der Besetzung samt allem zu königlichem Besitz, die Mitglieder der freien Geschlechter wurden bei der Organisierung der königlichen Verwaltung — obgleich ohne jeden Schaden an ihrer Freiheit — zu königlichen Rittern oder Burgsoldaten. In Kroatien wurde nur der königlich kroatische Besitz Eigentum des Königs. Der größte Teil der Bevölkerung blieb im Genuß seiner alten Rechte und Privilegien und lebte auch weiterhin nach den alten Geschlechtersitten. Die zwölf führenden Geschlechter, die vornehmsten Zupan-Familien, deren Mehrheit seinerzeit Ladislaus ins Land gerufen hatte und die jetzt in Koloman ihren Erbkönig begrüßten, behielten ihre privilegierten Stellungen bei. Nach einer Aufzeichnung aus dem XIV. Jahrhundert, die in Form und Text hier und dort etwas beanstandet werden kann,, doch im wesentlichen Glauben verdient, empfing Koloman die ihm huldigenden zwölf Geschlechtsoberhäupter, Zupane, mit Kuß als seine Getreuen und

Die Unterwerfung der dalmatinischen Städte

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bestätigte sie und ihre Angehörigen in allen ihren Besitzungen. Entsprechend ihren alten Privilegien anerkannte er ihre völlige Steuerfreiheit und ihre Kriegsverpflichtung setzte er im Falle eines Angriffes auf Ungarn auf das Stellen von zehn waffenfähigen Reitern pro Geschlecht fest. Die Kriegskosten erlegte er bis zur Drau den Geschlechtern auf, darüber hinaus hingegen nahm er sie auf sich. Auch die auf kroatischem Gebiet begüterten Kirchen bestätigte er im Genuß ihrer Besitzungen, so sicherte er gleich nach seiner Krönung den Besitz des Nonnenklosters zur Heiligen Jungfrau in Zara durch eine besondere Urkunde. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse des kroatischen Volkes wurden durch die Herrschaft des ungarischen Königs in nichts berührt. Hingegen wurde durch die Wiederherstellung der in den Unruhen der letzten Jahre erschütterten Ordnung und öffentlichen Sicherheit das Leben und die Bewegungsfreiheit erleichtert. Die Unsicherheit hörte auf, jeder konnte frei dorthin gehen, wohin er immer wollte, weil — nach den Worten der Fürstäbtissin Vekenega von Zara „auf göttliche Einwirkung der heilige König Koloman den Frieden der Erde und des Meeres zurückgegeben habe".

DIE U N T E R W E R F U N G DER D A L M A T I N I S C H E N

STÄDTE

In Kroatien war die normale Ordnung wiederhergestellt und Koloman kehrte nach der Durchführung seiner Aufgabe im Jahre 1103 nach Hause zurück. Im nächsten Jahr nahm er an dem Feldzug des mährischen Herzogs Swatopluk teil, den dieser zur Erlangung der Macht führte, dann bereitete er die Unterwerfung der dalmatinischen Städte vor. Er forderte Alexios zum Bündnis auf, und der Kaiser, den die Vorbereitungen Boemunds sehr beunruhigten, empfing mit Freuden die Annäherung des ungarischen Königs, der nach der Besitzergreifung der Küstenprovinz als ein nützlicher Verbündeter gegen die Normannen erschien. Sie schlössen das Bündnis und besiegelten es am Anfang des Jahres 1104 durch die Heirat des griechischen Thronfolgers Johann mit der Tochter des Heiligen Ladislaus, der am griechischen H o f unter dem Namen Irene bekannten Piroska. Bei den Verhandlungen kam die Angelegenheit Dalmatiens zur Sprache und Koloman erlangte — nach den Folgen zu schließen — vollkommen freie Hand, er verpflichtete sich aber, im Falle eines normannischen Angriffs Hilfstruppen zu senden. Nach der geschickten diplomatischen Vorbereitung machte sich Koloman im Frühling des Jahres 1105 mit einem größeren Heer von neuem auf den Weg zur Küste, um die dalmatinischen Städte zu unterwerfen. In seiner Begleitung waren Erzbischof Lorenz von Gran und Erzbischof Fulbert von Kalocsa, der Paladin Johann, Banus Ugra, fünf Bischöfe und sechs BurgGespane. Der Auszug der hohen Geistlichkeit war zur klaren und nicht mißzuverstehenden Bereinigung der Rechtsverhältnisse der imgarischen und dal24*

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D i e Unterwerfung der dalmatinischen Städte

matinisch-kroatischen Kirche notwendig. Die dalmatinische Geistlichkeit war mit Leib und Seele Anhängerin Kolomans, doch wachte sie eifersüchtig über ihre Privilegien und über ihre Unabhängigkeit und in dieser Beziehung wünschte sie nicht nur von dem König, sondern auch von den ungarischen Kirchenfürsten Garantien. Das ungarische Heer umschloß der Reihe nach unter der Führung des Banus Ugra die in das kroatische Gebiet gleich exterritorialen Inseln sich wie ein Keil einschiebenden Städte. Das kleine Sebenico und Trau unterwarfen sich sofort. Aber ein Teil der Bürgerschaft Zaras und Spalatos bereitete sich unter venezianischem Einfluß auf den Widerstand vor. Schon kam es an beiden Orten zu einer regelrechten Belagerung, als durch das Dazwischentreten der Bischöfe Gregor von Zara und Johann von Trau und des Erzbischofs Kreszenz von Spalato der Frieden zustandekam. Von den Inseln huldigten Brazza, Osero und Veglia freiwillig, die Bewohner von Arbe griffen zu den Waffen und schlugen die unter Führung des Gespans Sergius von Nona mit dreizehn Schiffen angreifenden ungarischen Krieger, doch später unterwarfen sie sich auch. Nach Beendigung der Kriegsoperationen hielt Koloman mit seinem Hofe feierlichen Einzug in Zara, doch bevor er das Tor durchschritt, schwor er auf die Aufforderung Bischof Gregors, indem er die Hand auf die Heilige Schrift legte, daß „er die Freiheit Dalmatiens in keiner Weise beeinträchtigen würde", zum Bischof nur solche ernennen oder solche bestätigen werde, die sie wählen. Dasselbe gelobten im Namen der ganzen ungarischen hohen Geistlichkeit Lorenz, Erzbischof von Gran, und Fulbert, Erzbischof von Kalocsa, die Bischöfe Marcel von Waitzen, Simon von Fünfkirchen, Mathäus von Veszprem, Georg von Raab und Sixtus von Wardein, weiter der Paladin Johann und die in Begleitung des Königs anwesenden Gespane. Zur Erinnerung an die Besitzergreifung Dalmatiens schenkte der König den Kirchen von Spalato, Zara und Arbe je ein wertvolles goldenes Kreuz. Die Güter und Privilegien der Bistümer hingegen sicherte er später in besonderen Urkunden. Die dalmatinischen Städte lebten nach dem römischen Munizipalrecht. Ihre Autonomie, Privilegien, ihre Verwaltungs-, Militär- und Regierungsmacht konnte nur mit den italienischen Stadtrepubliken verglichen werden, sie überschritt weit das Maß der Privilegien der zur gleichen Zeit gegründeten königlichen Städte. Diese weitgehende Autonomie sicherte ihnen auch Koloman, als er den Bürgern von Trau, Spalato und den übrigen Städten einen ständigen Frieden gelobte und ihre Rechte durch den Erzbischof Lorenz von Gran zusammen mit seinen Gespanen durch Eid bekräftigte. Er sicherte ihnen außer dem Gebrauch ihrer alten Gesetze das Recht der freien Bischofsund Comeswahl, das freie Auswandern der mit der Herrschaft des ungarischen Königs Unzufriedenen, das Entscheidungsrecht über die Aufnahme von

Verzicht auf die Investitur

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Ungarn oder Fremden, die Befreiung von Steuern und Zwangseinquartierung selbst für den Fall, daß der König zur Verhandlung der Landesangelegenheiten oder zur „Krönung", d. h. zur Feier der Hauptfeste, zu ihnen kommen sollte, wenn die hohe Geistlichkeit und die Vasallen die Krone mit feierlicher Zeremonie dem König, der zur Messe ging, auf das Haupt setzten. Nur ein Drittel vom Einkommen des durch die Fremden — größtenteils durch die auf den städtischen Markt kommenden Kroaten — einfließenden Zolles (Maut) behielt er für sich zurück, ein Drittel sicherte er dem Grafen der Stadt, dem Comes. Gegenüber dem wegen der Besetzung der dalmatinischen Städte mit Recht zürnenden Venedig berief sich Koloman auf die Klausel ihres Vertrages vom Jahre 1098, in dem er sich sein Recht für den Fall vorbehalten hatte, wenn es sich erweisen sollte, daß Dalmatien der Besitz seiner kroatischen Vorfahren war. Sein Vorgehen wurde in Venedig als Vertragsbruch angesehen, doch fügte man sich gezwungenermaßen darein, weil Kaiser Alexios — die Rechtsquelle der dalmatinischen Ansprüche Venedigs — Frieden wollte. Im Jahre 1107 verzichtete Falieri Ordelafo auf den Titel des Herzogs von Kroatien und Dalmatien und ein Jahr später transportierte er selbst die Truppen Kolomans nach Apulien. Er kämpfte mit ihnen zusammen im Bunde mit Alexios gegen den Normannen Boemund. Die Aussöhnung geschah nur zum Schein. Falieri wartete nur auf die Gelegenheit, das dalmatinische Küstenland wieder zu überfallen. Diese Gelegenheit bot sich im Jahre 1115, als das Verhältnis des ungarischen zum griechischen Hofe wegen der Zuspitzung der Streitigkeiten zwischen Koloman und Älmos erkaltete und es dem Dogen gelang, die Unterstützung beider Kaiser für seinen Plan zu gewinnen. Nach zweijährigen wechselvollen Kämpfen, deren Ende weder Koloman noch der Doge erlebten, huldigten die Städte bald der einen, bald der anderen Macht, doch zum Schluß gelangten sie im Sinne des im Jahre 1118 geschlossenen fünfjährigen Waffenstillstandes in die Hände Venedigs. Im Jahre 1124 unterwarf Stefan II. für kurze Zeit Spalato, Trau und Sebenico und das kroatische Biograd, doch im nächsten Jahr war Venedig schon wieder obenauf und ließ die treu zum ungarischen König haltende kroatische Krönungsstadt Biograd zerstören und unterwarf die lateinischen Städte auf weitere zehn Jahre seiner Herrschaft. VERZICHT AUF DIE

INVESTITUR

Das Übereinkommen mit der dalmatinisch-kroatischen Kirche bzw. die Sicherung der Privilegien der die ungarische Herrschaft unterstützenden lateinischen Geistlichkeit kam gleich der Besitzergreifung Kroatiens mit der Einwilligung des Heiligen Stuhles zustande. Der Preis der päpstlichen Einwilligung war die Aufgabe der bisher unabhängigen ungarischen Kirche, das Opfern der kirchlichen Hoheitsrechte. Die Erklärung in der Frage der Investi-

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Ungarisch-kroatisches staatsrechtliches Verhältnis

tur auf der Synode von Guastalla im Jahre 1106 sowie das Durchdringen des orthodoxen Standpunktes des Heiligen Stuhles auf der zweiten Synode von Gran standen in engem, ursächlichem Zusammenhang mit den dalmatinischen Ereignissen von 1105. Der Heilige Stuhl erhob keine besonderen Lehnsherrnansprüche gegenüber dem König von Kroatien und Dalmatien, doch der König verzichtete gegen den Rechtsverzicht von seiten des Papstes nicht nur in seinen neuen Provinzen, sondern auch in Ungarn auf die Ernennung von Bischöfen und auf die Ausübung der Investitur. Die kaiserfreundliche Politik Älmos' und Ladislaus' des Heiligen wurde von Koloman endgültig liquidiert und damit ebnete er einem immer mehr sich steigernden Wachsen des kirchlichen Einflusses den Weg. Dies ist eine der charakteristischsten Eigentümlichkeiten der Entwicklung des XII. Jahrhunderts.

UNGARISCH-KROATISCHES STAATSRECHTLICHES

VERHÄLTNIS

Um den Besitz der dalmatinischen Städte mußten die ungarischen Könige Jahrhunderte hindurch immer wieder schwere Kämpfe mit den kühnen Seefahrern der italienischen Inselstadt führen. Kroatien vereinigte sich auf Jahrhunderte in enger Staatsgemeinschaft mit Ungarn. Die zwei Länder und ihre Völker verknüpfte rechtlich nur eine Personalunion, doch diese persönliche Verbindung war in der Praxis gleichbedeutend mit einer vollständigen Realunion, weil im Mittelalter die Staatsgewalt von der privaten Macht des Königs unzertrennlich war. Der Begriff des Staates war gleichbedeutend mit dem Königreich, ja sogar mit der Person des Königs. Von einer besonderen kroatischen Staatsorganisation, einem kroatischen Hofe, einem kroatischen königlichen Rat, selbständigem Heer und Staatshaushalt konnte nicht mehr die Rede sein. Der Hof, die Regierung, das Heer und die Schatzkammer waren gemeinsam. In der Landesregierung, in dem Rate des Königs, konnten der Person nach auch kroatische hohe Geisüiche und Adlige teilnehmen und sie nahmen auch teil, wenn sich das Vertrauen des Königs ihnen zuwandte, doch im Rat war der amtliche Vertreter der kroatischen Interessen der das Vertrauen des Königs genießende ungarische, später auch aus den Reihen der kroatischen Herren ernannte Banus. Für die Kroaten war der Banus das Haupt der kroatischen Landesregierung, der Repräsentant des Königs, sein Statthalter und Vertreter, der wichtige staatsrechtliche Funktionen ausübte, doch sein Verhältnis zum ungarischen und gleichzeitig kroatischen König unterschied sich in nichts von dem der übrigen vom König persönlich abhängigen Würdenträger. Die Soldaten der königlich kroatischen Burgen und die zum Kriegsdienst verpflichteten Adligen kämpften unter der Führung des Banus im Heeres verbände des ungarischen Königs. Die aus

Ungarisch-kroatisches staatsrechtliches Verhältnis

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Kroatien einlaufenden königlichen Einkünfte flössen durch die Hand des Banus in die Schatzkammer des ungarischen Königs. Diese Regierungsverbindung wurde noch enger, als die ungarischen Könige — vielleicht schon Koloman selbst — die Regierung und Verwaltung des im ungarischen Staatsorganismus eine besondere Provinz bildenden, aber sich doch organisch einfügenden Slawonien zusammen mit Kroatien in der Hand des Banus von Kroatien und Dalmatien vereinigten, der außerdem regelmäßig noch der Burggespan eines ungarischen Komitats war. Kroatien wurde nicht ein Teil des imgarischen Königreiches, es wurde nicht seine Provinz, sondern ein unter der Regierung eines gemeinsamen Königs stehendes Nebenland, doch die Gemeinsamkeit der Person des Herrschers verschmolz die beiden Königreiche zu einer organischen Regierungseinheit, zu einem Staate. Die Rechtsverhältnisse des kroatischen Adels, der städtischen Bürgerschaft und der sonstigen Volkselemente im Privatleben und gegenüber der Staatsmacht änderten sich im Vergleich zurZeit des selbständigen kroatischen Königreiches überhaupt nicht, unterschieden sich aber von den Verhältnissen des ungarischen Adels und anderer ungarischer Volkselemente wesentlich. Kroatien blieb während des ganzen Mittelalters hindurch ein besonderes Verwaltungsund Rechtsgebiet, sein Volk lebte und diente seinem Herrscher nach seinen eigenen eigentümlichen Rechtsgebräuchen. Diese durch die königliche Macht anerkannte und privilegierte Lage und Sonderstellung bedeutete nach der partikularistischen RechtsaufFassung des Mittelalters keine größere Selbständigkeit im Staatsrecht als die Selbständigkeit anderer partikularistischer Rechtsgebiete oder Rechtsgemeinschaften, so Slawoniens, Siebenbürgens, der sächsischen Universität, der Szekler Gemeinschaft oder des ungarischen Adels — in historischem Sinne war sie jedoch gleichbedeutend mit der Sicherung des eigentümlichen, individuellen Lebens und der gegenseitigen Unabhängigkeit der beiden zu einer dauernden Lebensgemeinschaft vereinigten Nationen. Das im Privatgewaltcharakter des mittelalterlichen Königreiches wurzelnde eigentümliche staatsrechtliche Verhältnis Ungarns und Kroatiens wurde später nach dem Verblassen des Privatgewaltcharakters des Staates notwendigerweise erschüttert. Das führte in der neuesten Zeit durch den allmählichen Sieg der verfassungsmäßigen Rechte der Stände, dann des ganzen Volkes bald zur separatistischen Bewegung, welche die reine Personalunion, die absolute staatsrechtliche Unabhängigkeit Kroatiens und Slawoniens verkündigte. Die feste Grundlage dieser Bestrebungen und des während der Regierungszeit der ungarischen Könige seiner allmählichen Erfüllung entgegengehenden selbständigen staatlichen Lebens legten Koloman und seine Nachfolger, als sie das Kroatien jenseits der Kapela mit Slawonien unter einer Regierung vereinigten und dadurch die Kroatisierung der Slowenen, die während der türkischen Kriege und danach mit von Süden hereingewanderten

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Koloman und Almos

Kroaten sich vermischten und sich heute schon selbst Kroaten nennen, bzw. die politische, kulturelle und seelische Vereinigung mit dem Kroatentum förderten. Mit der Besitzergreifung Slawoniens drang das ungarische Königreich bis zu den südwestlichen natürlichen Grenzen vor. Die Erwerbung Kroatiens und Dalmatiens war schon eine expansive Ausdehnung. Ob Ladislaus und Koloman die große außenpolitische, militärische und wirtschaftliche Bedeutung der an der Küste liegenden Provinzen erkannten oder ob der Grund ihrer Eroberung nur die Vermehrung ihrer königlichen Macht, ihres Ansehens und ihrer Einkünfte war, wissen wir nicht. Sicher jedoch ist, daß der Besitz Kroatiens die Möglichkeit einer Ausbreitimg am Balkan sicherte, seine Erwerbung aber war das erste Moment der nach Süden gerichteten Eroberungspolitik der Ärpäden. Der ungarische König konnte sich im Westen auf das Küstenland und auf seine kroatische Provinz stützen, die jede von der Adria her drohende Gefahr aufhielt, und konnte so seinen Einfluß während einiger kurzer Jahrzehnte über die gesamten kroatischen und serbischen Gebiete, dann über den ganzen Balkan ausdehnen. KOLOMAN UND

ÄLMOS

Wenn sich auch Herzog Älmos scheinbar in die Herrschaft Kolomans fügte, so hatte er doch niemals seinen Ansprüchen auf den Thron entsagt. Er konnte es nicht vergessen, daß Ladislaus ihn einst zum Nachfolger bestimmt hatte. Der Besitz von einem Drittel des Landes, seine Macht als regierender Herzog und seine bevorzugte Lage ließen ihn die Zeit nicht vergessen, in der er als Herr von Kroatien und Anwärter des ungarischen Thrones mit der Billigung seines Oheims als selbständiger Herrscher die Außenpolitik des Landes selbst gelenkt und in unmittelbarer Fühlung und Freundschaft mit Kaiser Heinrich, dem Herrscher der westlichen Welt, gestanden hatte. In Koloman sah er nur einen der Herrschaft unwürdigen Krüppel, einen verschlagenenPfaffen, der sich auf den königlichen Thron verirrt hatte, welcher — wenn ihm auch infolge seiner Abstammung und seines Alters die königliche Würde gebührte — seine ritterliche, kriegerische Herrscherpersönlichkeit arglistig in den Hintergrund gedrängt und den Thron seiner Väter eingenommen hatte. Die Erfolge des mit seiner Politik brechenden und andere Wege beschreitenden Koloman steigerten das Gefühl umgangen worden zu sein bis zur Erbitterung, ja fast bis zum Haß. Jedes Resultat, jeder neue Beweis, daß Koloman zum Herrscher geboren war, war ein Dolchstoß in seine stolze, ehrgeizige Seele, und die Nachrichten über die Regelung der kroatischen Angelegenheiten und die Besitzergreifung der dalmatinischen Städte brachten den Kelch zum Überlaufen. Nach dem Beispiel seines Großvaters und Vaters griff auch Älmos gegen seinen

Koloman und Almos

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gekrönten König zu den Waffen, doch war seine Lage eine ganz andere. Béla und Géza kämpften gestützt auf die Kraft des alten Rechtsbrauches für ihr von einem großen Teil der Nation anerkanntes, klares Recht der Nachfolge. Älmos hatte nicht einmal soviel Rechte auf den Thron wie einst Peter, der sich auf das Nachfolgebestimmungsrecht seines königlichen Vorgängers gestützt hatte. Almos konnte sich nur auf die Absicht des Ladislaus, welche dieser jedoch auf dem Totenbett in nicht mißzuverstehender Weise geändert hatte, berufen. Diese Rechtsgrundlage konnte gegenüber dem gesetzlichen König niemand anerkennen. Obzwar auch Älmos entschlossene Anhänger hatte, darunter Vata, den Sproß des einstigen heidnischen Führers, wollte sich die Mehrheit der ungarischen Herren in keinen Kampf einlassen und beim ersten Aufstandsversuch — noch im Jahre 1098 — sagten sie offen, daß „sie keinen Grund zum Krieg sähen, wenn er aber trotzdem kämpfen wolle, so solle er mit Koloman kämpfen und wer der Stärkere sein werde, den würden sie als ihren Herrn anerkennen". Die Gefahr eines Bürgerkrieges ging vorüber, doch Älmos gab sich mit dem Willen des Volkes nicht zufrieden. Mit fremder Hilfe versuchte er den Thron seines Bruders zu stürzen. Er nahmPredslawa, die Tochter des Großfürsten Swjatopolk von Kiew, zur Frau, deren Schwester die Frau des Herzogs Boleslaw III. von Polen (1102—1139) war. Nachdem er sich so die russische und polnische Hilfe gesichert hatte, floh er Anfang des Jahres 1106 nach Deutschland zu seinem alten Gönner und Freund, doch schon bei der Stadt Passau an der bayerischen Grenze kehrte er um, weil er die Nachricht von Heinrichs Sturz und Tod erhielt. Koloman verzieh seinem Bruder und nahm ihn wieder am Hofe auf. Doch sein Herzogtum und die darin von ihm ausgeübten Herrscherrechte nahm er ihm. Älmos konnte diese Demütigung nicht ertragen. Er ging zu seinem Schwager, Herzog Boleslaw III. von Polen, und mit seiner Hilfe brach er an der Spitze eines bewaffneten Heeres in Ungarn ein. Mit seinen polnischen und ungarischen Truppen besetzte er Hevesujvàr, doch Koloman umzingelte ihn bald und überzeugte den polnischen Herzog — der infolge ihrer gemeinsamen Urgroßmutter mit ihm verwandt war — bei ihrer persönlichen Begegnung von seinem Recht. Boleslaw selbst stand in einem ähnlichen Kampf mit seinem Halbbruder Zbigniew, er ließ die Sache des Älmos fallen und trat mit Koloman in ein festes Bündnis. Im nächsten Jahr nahm der König, nachdem seine erste Frau gestorben war, Eufemia, die Tochter des Großfürsten von Susdal, zur Frau, wodurch er die russischen Beziehungen des Älmos ausglich. Der so seiner polnischen Verbündeten beraubte Herzog fiel seinem Bruder zu Füßen und bat ihn neuerlich um Verzeihung. Koloman verzieh seinem zum dritten Male sündigenden Bruder, der zur Buße im Jahre 1108 nach dem Heiligen Lande pilgerte, auf seinem Rückweg aber in Dömös ein Domkapitel gründete. Im geheimen intrigierte er trotzdem weiter und ging noch im Herbst desselben Jahres nach Passau, um von Heinrich V. (1106—1125) Hilfe

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Koloman und Almos

zu erbitten. Als Grund seiner Empörung gab er die Wegnahme seines Vermögens und seines Herzogtums an. Älmos fand volles Verständnis bei dem Kaiser, der durch die Beseitigung seines eigenen Vaters auf den Thron gekommen war und der sowieso die Ausdehnimg der imgarischen Macht nach Süden mit scheelen Augen ansah. Mit Freuden griff er gegen Koloman, der die einstige kroatische Provinz des Reiches besetzt hatte, zu den Waffen. Einen guten Kampfgenossen fand Älmos auch in seinem böhmischen Vetter, in dem Herzog Swatopluk (1107—1109), der vor kurzem mit Gewalt den Thron Boriwojs eingenommen hatte. Das deutsch-böhmische Heer belagerte zuerst Preßburg, doch Swatopluk wurde durch den Angriff des polnischen Herzogs Boleslaw, der auf den Ruf des ungarischen Königs in Böhmen eingebrochen war, nach Hause gerufen. Heinrich V., der den zähen Widerstand erkannte und sich von der Widerrechtlichkeit der Ansprüche Älmos' überzeugt hatte, gab den Kampf auf. Koloman schloß mit ihm Frieden, doch gegen Swatopluk, der die in seine Hände gefallenen Ungarn unbarmherzig niedergemetzelt hatte, führte er einen Straffeldzug und verheerte seine mährische Besitzung. Anfang des nächsten Jahres griffen der Herzog von Böhmen und Otto, Herzog von Mähren, wieder an und drangen durch das Waagtal — wo Älmos Güter und Volk besaß — bis Neutra vor. Dem Kriegszustand machte der Sturz Swatopluks und die Thronbesteigung Herzog Wladislaws (1109 bis 1117) ein Ende. Nicht viel später ereilte das Schicksal auch den nach dem Friedensschluß ins Gefängnis geworfenen Älmos. Koloman übte nach dem Beispiel seines Oheims an seinem aufständischen Bruder dreimal die Tugend der Verzeihung, doch zum viertenmal konnte er sich nicht mehr zu der Seelengröße des Heiligen Ladislaus aufschwingen. Den durch das Heranziehen der deutschen und böhmischen Truppen begangenen Hoch- und Landesverrat konnte er nicht verzeihen. Die letzten Ereignisse zeigten klar, daß Älmos sich um jeden Preis des Thrones bemächtigen wollte, und wenn es ihm gelungen wäre, unter Umgehung des kleinen Sohnes Kolomans sein Ziel zu erreichen, dann hätte er auch die außenpolitische Konzeption seines Bruders umgestoßen. Koloman konnte seinen Thron, die Erbfolge seines Sohnes und die Kontinuität seiner Politik nur sichern, indem er seinen jüngeren Bruder unschädlich machte. Das Mittel dazu gab das Gesetz des hl. Stephan, das Hoch- und Landesverrat mit dem Verlust des Lebens ahndete. Im Sinne dieses Gesetzes erwartete Älmos die Todesstrafe, doch Koloman schreckte davor zurück, das Blut des Bruders zu vergießen, und wie einst Stephan der Heilige über Väszoly, so verhängte er über seinen Bruder die Strafe der Blendung. Nach der Vollstreckung des Urteils verbannte er den unglücklichen Herzog in sein Kloster nach Dömös, sein Schicksal teilte auch sein Sohn, der sich noch im Säuglingsalter befand. Die Umgebung der Nachkommen Älmos' — der ungarische König Béla der Blinde und Géza II. und die böh-

Byzanz und Ungarn

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mische Herzogin Adelheid — machte später den König selbst für die Blendung des kleinen Béla verantwortlich, man sprach sogar davon, daß er ihn auch seiner Männlichkeit habe berauben wollen, um der Familie seines eigenen Sohnes den Thron zu sichern. Die übereifrigen Getreuen Kolomans, „der gottlose Mark, der Sohn Boths, der Kirchenschänder Benedek und Ehellös, der Sohn Jäkos", die seinen Charakter, seine weise und menschliche Gesinnung kannten, wollten, wie es wohl wahrscheinlich ist, durch diesen entsetzlichen Dienst sich bei ihrem König beliebt machen. Wie es auch immer sein mag, die Erinnerung an diese grausige Tat lag wie ein dunkler Schatten über Koloman und machte die Leiden seines von Krankheit gequälten Körpers und seiner durch Familienunglück gefolterten Seele noch qualvoller. In den letzten Jahren seines Lebens litt Koloman sehr unter qualvollen Kopfkrämpfen und das Übel steigerte seine Seelenschmerzen. Sein Sohn Ladislaus starb noch als Kind. Seine russische Frau ertappte er beim Ehebruch. Er sandte sie nach der gesetzlichen Scheidung in gesegneten Umständen in ihre Heimat zurück. An seinem nunmehr einzigen Sohne Stephan hatte er auch keine besondere Freude. Das Kind entwickelte sich körperlich gut, auch fehlte es ihm nicht an ritterlichen Tugenden, doch sein Charakter, seine Natur und seine Fähigkeiten wichen kraß von denen seines Vaters ab. Sein Ideal war der im Kampf sich auszeichnende Ladislaus, der „heldenmütige König", den er gern nachgeahmt hätte, doch konnte er es nicht, weil die von seinen normannischen Ahnen ererbte Abenteuerlust, seine auf die Krankheit seines Vaters zurückführende Reizbarkeit und seine bis zur Grausamkeit entartete Leidenschaft in ihm den nüchternen, überlegenen und realpolitischen Sinn derÄrpäden unterdrückten. Im Februar 1116, nach dem Tode Kolomans, übernahm Stephan II. (1116—1131) unter günstigeren Umständen als alle seine Vorgänger die Regierung des Landes, trotzdem erwies er sich als unfähig. Seine Herrschaft war — wie einst die Peters — eine ununterbrochene Kette von plötzlichen Ausbrüchen und zwecklosen Kriegen.

F Ü N F T E S KAPITEL BYZANZ U N D U N G A R N Stephan II. bestieg im Alter von 15 Jahren ohne Rivalen den Thron seiner Väter, doch sein abenteuerliches Blut und seine schlechten Ratgeber verwickelten ihn sofort in kriegerische Unternehmungen. In Dalmatien war der Kampf des Banus Keled aus dem Geschlecht Gutkeled mit Venedig in vollem Gange, als Stephan im Jahre 1116 längs der Olsawa mit dem zu einer friedlichen Zusammenkunft geladenen Herzog Wladislaw von Böhmen zu-

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Krieg mit den Griechen

sammenstieß und in einer Schlacht an der Grenze eine schwere Niederlage erlitt. Zwei Jahre später zog er, um wegen der Unterstützung Venedigs am Kaiser Rache zu nehmen, gegen Österreich. Als Antwort brach Markgraf Leopold mit Hilfe des von neuem auf den Thron gelangten Herzogs Boriwoj von Böhmen (1117—1120) in das westliche Grenzgebiet ein und damit waren die Grenzkämpfe zwischen der Ostmark und den Ungarn fortan acht Jahre hindurch an der Tagesordnung. Im Jahre 1123 führte Stephan sein Heer auf russischen Boden, doch die Großen zwangen ihn zur Rückkehr. Im folgenden Jahr finden wir ihn bereits in Dalmatien, wo er für kurze Zeit die dalmatinischen Städte eroberte. Im Jahre 1126 kämpfte er gegen die Polen, im Jahre 1127 leitete er durch eine grundlose Provokation eine ganze Serie von Kriegen mit den Griechen ein.

KRIEG M I T D E N

GRIECHEN

Das griechisch-ungarische Verhältnis war schon zu Lebzeiten Kolomans erkaltet, als der alte Alexios Venedig die Ermächtigung gab, Dalmatien zu erobern. Auch sein Nachfolger, der hochherzige Kaiser Johann der Schöne (1118—1143), nahm in dem im Jahre 1125 mit dem imgarischen König geführten Kampf um Dalmatien für Venedig Partei und nahm zusammen mit seiner Frau, der Tochter des hl. Ladislaus, mit zärtlicher, verwandtschaftlicher Liebe den unglücklichen Älmos auf, welchen sein Neffe aus seinem friedlichen Asyl in Dömös vertrieben hatte. Stephan und seine übereifrigen Ratgeber hielten auch den blinden Älmos für einen gefährlichen Gegner und auf die Nachricht vom Sterben des Königs Koloman wollte einer ihrer Anhänger den in der Kirche vor dem Altar betenden unglücklichen Blinden töten. Das Attentat wurde durch den Widerstand der Priester vereitelt, doch Älmos, der nichts Gutes ahnte, flüchtete auf griechischen Boden, wo er unter dem Namen Konstantinos seine letzten Lebensjahre unter dem Schutz des kaiserlichen Paares verlebte. Nachdem Stephan mit den Österreichern Frieden geschlossen und auch die Freundschaft Sobieslaws I. (1125—1140), des neuen Herzogs von Böhmen, des Schwiegersohns des Älmos, gewonnen hatte, verlangte er vom Kaiser die Ausweisung seines blinden Oheims und der vor den Verfolgungen des Königs ins Ausland geflohenen ungarischen Herren. Da er abgewiesen wurde, brach er an der Spitze seines durch französisch-normannische, petschenegische und kumanische Söldner verstärkten Heeres in das oströmische Reich ein. Nachdem er die Mauern von Belgrad zerstört hatte, nahm er Branicova, Nisch und Sofia ein und drang bis Philippopel vor. Der Kaiser zog mit einem großen Heer gegen ihn, überschritt die untere Donau und brachte bei der Burg Haram dem im Rückzug befindlichen Heere Stephans eine große Niederlage

Krieg mit den Griechen

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bei. Er nahm alle Grenzfestungen wieder ein, befestigte sie und nahm auch Syrmien in Besitz. Stephan gelang es, mit böhmischer Hilfe in dem darauffolgenden Jahr die Scharte wieder auszuwetzen. Syrmien fiel in seine Hand, der Kaiser selbst konnte nur durch Verrat der Gefangenschaft entgehen und der mit so großem Lärm begonnene Krieg endete mit einem Frieden, der den status quo wiederherstellte, wie auch Stephans österreichische, dalmatinische, russische und polnische Feldzüge ohne ein dauerndes Ergebnis endeten. Die Anstrengungen der zwecklosen Kämpfe und Kriege, seine bis zur Grausamkeit sich steigernde Leidenschaftlichkeit, seine Mätressen und das im Kreise seiner petschenegischen, kumanischen und normannischen Söldner verbrachte ausschweifende Leben rieben die Gesundheit des jungen Königs bald auf. Von dem letzten griechischen Feldzug kam er, kaum 30 Jahre alt, krank und zusammengebrochen nach Hause. Seitdem beschäftigte ihn nurmehr die Frage der Thronfolge. Die auf den Wunsch der Magnaten des Landes mit der Tochter eines italienisch-normannischen Grafen geschlossene Ehe blieb kinderlos. Den in Rußland geborenen Sohn seiner Stiefmutter, Boris, erkannte weder sein Vater noch er als gesetzlichen Erben an. Die mit dem Haus der Arpäden in weiblicher Linie verwandten Gespane Iwan und Bors erhoben Anspruch auf den Thron. Doch der kranke König bestimmte den Sohn des Älmos, den geblendeten Herzog Béla, das letzte männliche Mitglied aus dem Geschlechte der Arpäden, zu seinem Nachfolger. Er erbat für ihn von dem serbischen GroßzupanUros dessen Tochter Helena zur Frau. Der über das ungarische Bündnis erfreute serbische Fürst ging auf diesen Antrag gern ein. Helena kam nach Ungarn und beschenkte ihren blinden Gemahl kaum ein Jahr später mit einem Sohn, der zum Andenken an den gemeinsamen Großvater des Königs und des Herzogs den Namen Géza erhielt. Die Krankheit, die Stephan von seinem Vater geerbt hatte, ohne dessen Fähigkeiten zu besitzen, überwältigte ihn bald ganz und der leidenschaftliche, kriegerische, sich nach Abenteuern sehnende Regent ging mit einer Mönchskutte angetan reuigen Herzens zu seinen Ahnen ein. Sein Leichnam wurde nach Großwardein gebracht und neben dem hl. Ladislaus beigesetzt. Seinen Thron nahm sein blinder Vetter Béla II. ein. Béla der Blinde (1131—1141) war wohlwollend und glaubenseifrig — und den Anzeichen nach zu urteilen — auch kein unfähiger Mensch, doch sein Leiden verdammte ihn zur Tatenlosigkeit. In den Regierungsgeschäften mußte er die Hilfe seiner Frau in Anspruch nehmen. Nachdem die energische Serbin zur Macht gelangt war, wandte sie sich mit der ganzen Leidenschaft ihrer Rasse gegen die einstigen Ratgeber Kolomans und Stephans. Gleich nach der Krönung berief sie eine Landesversammlung der Vornehmen nach Arad ein und ließ durch ihre Anhänger — nach dem bei den Südslaven üblichen Recht der Blutrache — die an der Blendung des jungen Königs ihrer Meinung nach

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Krieg mit den Griechen

beteiligten 68 Vornehmen niedermetzeln. Dieses Blutbad rief im Lande — wie einst zur Zeit Abas — Unzufriedenheit hervor, die der aus dem Ehebruch der vertriebenen Frau Kolomans stammende Sohn zu seinen Gunsten auszunützen versuchte. Herzog Boris bezeichnete sich als der gesetzliche Nachfolger Kolomans und erhob gleich nach dem Tode Stephans Anspruch auf den Thron. Im Anfang dachte er an byzantinische Hilfe. Er fand auch eine gute Aufnahme am griechischen Hof, doch Hilfe bekam er gegen den blinden König, der unter dem Schutz des Kaisers stand, nicht. Seine russischen Verwandten waren der inneren Zwistigkeiten wegen nicht in der Lage, ihn entsprechend zu unterstützen. Er fand jedoch in dem polnischen Herzog Boleslaw III. einen Gönner, der eingedenk der Freundschaft Kolomans zu den Waffen griff, um die „Ungerechtigkeit", welche dessen Sohn erleiden mußte, zu rächen. Das polnische Heer mit den Boris begleitenden Hilfstruppen und den aus dem Blutbad zu Arad geflüchteten imgarischen Magnaten der Kolomanpartei drang durch das Tal des Popper und der Hernad bis zum Fluß Sajó in Ungarn ein. Béla wandte sich an den hl. Leopold, den Markgrafen von Österreich (1096—1137), um Hilfe, dessen Sohn erst vor kurzem seine jüngere Schwester Hedwig zur Frau genommen hatte. Die ungarischen Truppen zogen verstärkt durch die österreichischen gegen die Polen, der böhmische Herzog Sobieslaw aber griff zusammen mit dem Fürsten Wladimir von Halicz die polnischen Länder Boleslaws an. Der Krieg endete mit einem vollständigen Sieg der Verbündeten und der polnische Herzog war gezwungen, nach der energischen Intervention des Kaisers Lothar (1125—1137) jedem weiteren Kriegsgedanken zu entsagen. Später schloß auch Béla mit dem Oheim des Boris, dem Großfürsten Jaropolk von Kiew, ein Bündnis und unterstützte ihn im Jahre 1139 mit einem Heere gegen seine sich empörenden Verwandten. Boris, der nun ganz auf sich gestellt war, gab den aussichtslosen Kampf auf und machte zu Lebzeiten Bêlas keinen Versuch mehr, seine Ansprüche zu verwirklichen. Nach dem polnischen Angriff des Jahres 1132 störten weder innere Unruhen noch äußere Angriffe den Frieden des Landes. Die Regierung des blinden Königs erwies sich an politischen Ergebnissen viel reicher und fruchtbringender als die Epoche seines kriegerischen Vorgängers. In der Regierung kam — zwar mit etwas balkanischer Färbung — die Politik des hl. Stephan und Kolomans zur Geltung. Das Grundprinzip der Außenpolitik war Aufrechterhaltung des Friedens und Machterweiterung ohne Blutvergießen. Durch die Erringung der Freundschaft der beiden Kaiser Johann und Lothar und durch die Bündnisse mit den österreichischen, böhmischen, russischen und serbischen Fürsten war der Frieden gesichert, Ungarn konnte den günstigen politischen Zeitpunkt ausnutzen und ohne jedes Aufsehen das rechte Ufer der Save bis zum Tal der Drina, die Täler der Flüsse Bosna und Rama bis

Krieg mit den Griechen

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hinunter zur Narenta in seine Gewalt bringen. Wann und wie die Besetzung und die Unterwerfung erfolgte und welchen Anteil der serbische Großzupan Uros, der Schwiegervater Bêlas, daran hatte, ist aus unseren Quellen nicht zu ersehen. Im Jahre 1137 war die Aktion jedenfalls schon beendet, da Béla damals seinen fünfjährigen Sohn Ladislaus zum Herzog von Bosnien ernannte, er selbst nahm den Titel „eines Königs von Rama" an, wie die südlichste Provinz nach dem in die Narenta mündenden Fluß genannt wurde. Zur selben Zeit unterwarf sich auch die Hauptstadt Dalmatiens, Spalato, wiederum dem ungarischen König, nachdem die Kriege Venedigs mit dem sizilianischen König Roger den friedlichen dalmatinischen Städten großen Schaden zugefügt hatten. Mit Ausnahme Zaras und der Inseln stand das ganze Land, das früher vorübergehend unter kroatischer Herrschaft gestanden hatte, unter der Herrschaft des ungarischen Königs. Die Macht Bêlas erstreckte sich im Süden bis zur Narenta, zum Tale der oberen Drina und im Tale des Limflusses bis zur Grenze des unter der Regierung des Uros im Entstehen begriffenen Fürstentums von Rascien, des Landes der Raizen. In den nördlichen Teilen der neuen Südprovinzen, im Tale der Save, bildete sich im Anfang des 13. Jahrhunderts eine ungarische Verwaltung heraus. Das Gebiet um die Flüsse Sana und Vrbas bekam eine Komitatsorganisation; zu beiden Seiten der Bosna wurden die Banate von Ozora und Só organisiert. Im Tale der oberen Bosna regierten seit der Mitte des 12. Jahrhunderts unter der Oberhoheit des Königs einheimische Bane — Borie, Kulin — und legten den Grundstein zum späteren bosnischen Banat. Das Raizenland blieb vorläufig von der ungarischen Macht unabhängig, doch der bei Hofe durch die ungarische Königin sich geltend machende ungarische Einfluß bereitete auch hier den Weg zu einer späteren Unterwerfung vor. Während die ungarische Macht sich mit Sturmschritten nach Süden zu ausbreitete, gingen in der westlichen Nachbarschaft des Landes tiefgehende politische Veränderungen vor sich. Nach dem Tode Kaiser Lothars von Sachsen (Ende 1137) kam sein alter Gegner Konrad III., der erste Hohenstaufenkaiser, auf den deutschen Thron. Im Anfang befolgte er die ungarnfreundliche Politik seines Vorgängers und erbat, wahrscheinlich auf den Rat der Freunde Bêlas, des böhmischen Herzogs Sobieslaw und des Salzburger Erzbischofs Konrad, die ungarische Königstochter Sophie für seinen zweijährigen Sohn zur Frau. Die Verlobung wurde auch zu Pfingsten des Jahres 1139 abgehalten und die kleine Herzogin, welche kaum fünf oder sechs Jahre alt war, wurde zur Erziehung an den deutschen Hof gebracht. Kaum ein Jahr später starb Herzog Sobieslaw, der beste und treueste Freund seines blinden Schwagers, und nicht viel später folgte ihm auch seine ungarische Gemahlin ins Grab. Ihr Sohn flüchtete an den ungarischen Hof, weil den Thron — unter Umgehung seiner Person — der Sohn des gleichnamigen alten Gegners der Ungarn,

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Die Regierung des Banus Belos

WladislawII. (1140—1173), besetzte, dessen Einfluß auch den Kaiser zu einer ungarnfeindlichen Politik bestimmte. Diese Veränderung erlebte Béla nicht mehr. Am Anfang des Jahres 1141, nachdem er seinen jüngsten Sohn Almos schon vorher zu Grabe getragen hatte, starb er im Alter von 32 Jahren. Es ist ein sonderbares Spiel des Schicksals, daß die großen ungarischen Könige — Stephan der Heilige, Ladislaus der Heilige und Koloman — keine Nachkommenschaft hatten, der unglückliche blinde König Béla aber der Stammvater des später regierenden Zweiges des königlich ungarischen Hauses wurde. Er hinterließ drei Söhne und zwei Töchter.

DIE REGIERUNG DES BANUS

BELOS

Seinen Thron erbte der elfjährige Géza II. (1141—1162). Sein jüngerer Bruder Ladislaus führte schon zu Lebzeiten seines Vaters den Herzogtitel von Bosnien, Stephan den Titel eines Herzogs von Syrmien und 1146 wurde für sie eine herzogliche Hofhaltung angeordnet. Die Zügel der Regierung hielt der zum Vormund des jungen Königs ernannte jüngere Bruder der Königin Helena, Banus Belos, in den Händen. Belos lebte wahrscheinlich schon zu Zeiten seines Schwagers am ungarischen Hofe. Seit dem Jahre 1142 bekleidete er die Würde eines Banus von Kroatien und Dalmatien und seit 1145 auch noch die des Palatins. Wie aus dem ungarisch klingenden Namen seines Vaters Uros zu schließen ist, stammte der begabte Staatsmann, der im Geiste der Ärpaden um die Erhaltung des Friedens bemüht, aber auch harte Kämpfe sicher bestehend, das Land regierte, aus einer mit ungarischem Blut vermischten serbischen Familie. Er erzog Géza zu einem tapferen Krieger und umsichtigen, weisen Regenten, den man jetzt auch sehr notwendig brauchte, da die außenpolitische Lage sich seit dem Tode Bêlas fortgesetzt verschlechtert hatte. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen dem deutschen und ungarische Hofe, das durch Vermittlung Sobieslaws zustande gekommen war, war zu Ende, die Verlobung der Herzogin Sophie mit dem Knaben Friedrich war 1145 rückgängig gemacht worden. Vor der unwürdigen Behandlung, welche der kleinen Braut am deutschen Hof zuteil wurde, floh sie, indem sie dem Wunsche ihres Herzens folgte, in ein Kloster. Ihre Mutter und ihr Bruder riefen sie nach Haus, doch war sie nicht geneigt, ihr Gelübde zu brechen. Sie blieb bis an ihr Lebensende in Admont. Nicht viel später bat Boris Konrad, dem er seine angeblichen Beleidigungen und Klagen vorbrachte, um Unterstützung, um sein „Erbe" zurückzugewinnen. Seine Bitten unterstützten der böhmische Herzog Wladislaw und der auch die Herzogswürde von Bayern innehabende Markgraf Heinrich II. (1141—1177) von Österreich, der Stiefbruder des Königs und Schwager Wladislaws, auf das wärmste. Konrad lieh ihm seine Hilfe nicht, doch ermächtigte er ihn, auf deutschem Boden ein Heer zu sammeln. Der verwegene Aben-

Ungarisch-französisches Bündnis

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teurer besetzte an der Spitze bayrischer und österreichischer Söldner im Frühjahr des Jahres 1146 durch plötzlichen Überfall die Festung Preßburg. Geza, der damals mit dem Schwert umgürtet und zum Ritter geschlagen wurde, zog mit dem Banus Belos an der Spitze eines großen Heeres gegen sie, doch nach kurzem Kampf einigten sie sich mit dem Söldnerheer, das nach Ersetzung seiner Ausgaben und Bezahlung des Soldes die Festung aufgab. Nach der Rückeroberung der wichtigen Grenzfestung erklärte der imgarische König dem Herzog Heinrich den Krieg und zog zu Beginn des Herbstes mit einem großen Heere zur Leitha. Herzog Heinrich führte den Kampf mit seinen bayrischen und österreichischen Truppen selbst, da der Kaiser und sein böhmischer Vasall in Polen beschäftigt waren. Der Kampf wurde zuerst mit wechselndem Glück geführt, doch zum Schluß siegte die ungarische Tapferkeit und das Feldherrntalent des Banus Belos. Das deutsche Heer flüchtete in völliger Auflösung hinter den Fischa-Fluß, sein Führer machte erst vor der Stadt Wien halt, die in dieser Zeit in dem im Jahre 1156 zu einem Herzogtum erhobenen Österreich eine größere Rolle zu spielen beginnt. Am ungarischen Hof befürchtete man einen Rachefeldzug Konrads und dachte schon daran, Verbündete zu werben, doch kam es nicht zu neuerlichen Feindseligkeiten, da auf die Nachricht aus dem Osten vom Fall Edessas die ganze westliche Welt in Bewegung geriet und Konrad selbst Vorbereitungen traf, mit seinem Heer durch Ungarn nach dem Heiligen Lande zu ziehen. UNGARISCH-FRANZÖSISCHES

BÜNDNIS

Auf den Aufruf des Papstes Eugen III. zum Kreuzzug und infolge der begeisterten Predigten des Abtes Bernhard von Clairvaux, des großen Heiligen des jungen Zistersienserordens, griffen in Frankreich und Deutschland mächtige Kriegsscharen zu den Waffen und zogen im Sommer des Jahres 1147 unter der persönlichen Führung König Ludwigs VII. von Frankreich (1137—1180) und Konrads III. (1137—1151) zu Lande gegen Osten. Ein halbes Jahrhundert nach dem Durchzug Gottfrieds von Bouillon erschienen wiederum an der ungarischen Grenze die Kreuzritter aus Westeuropa und der junge König — er war kaum 17 Jahre alt — empfing sie mit ebensoviel Taktgefühl wie einst Koloman. Als erster traf Konrad zu Wasser und zu Lande mit etwa 70000 kriegstüchtigen Kriegern und ungefähr 100 000 undisziplinierten Pilgern ein. Geza und Belos empfingen die Deutschen zwar gastfreundlich, aber mißtrauisch und dies nicht ohne Grund. Das zügellose Heer konnte von Raub und Brandstiftung nicht zurückgehalten werden. Das größere Übel, die offenen Feindseligkeiten, konnte man nur durch verschwenderische Freigebigkeit, durch Verteilen von Geld und Lebensmitteln abwenden, wodurch nicht nur die königliche Schatzkammer, sondern auch das Vermögen 25

H ö m a n , G e s c h i c h t e des u n g .

Mittelalters

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Russische Kriege

der Geistlichkeit und Klöster große Einbußen erlitt. Nach diesen Erfahrungen: sah man auch dem Durchzug des 70000 Kämpfer zählenden französischen Heeres mit sehr wenig Vertrauen entgegen, doch bei der persönlichen Begegnung gewann der gerade Charakter und das offene Auftreten des jungen ritterlichen Königs sowie die disziplinierte und freundschaftliche Haltung seines Heeres schnell das Herz der Ungarn. Géza und Ludwig schlössen Freundschaft und ein Bündnis; das französische Heer zog ohne jeden Zusammenstoß durch die südwestlichen Landesteile. Mit den Kreuzfahrern kam auch der Bischof von Freising, Otto von Babenberg, der Halbbruder Kaiser Konrads und der größte mittelalterliche Geschichtsschreiber der Deutschen, nach Ungarn, sowie Odo de Deogilo, der Hofkaplan Ludwigs VII. Ihnen verdankt das ungarische Königreich des Mittelalters die erste ausführlichere ausländische Darstellung. Ungarn nahm auch am zweiten Kreuzzug nur durch die Unterstützung der durchziehenden Truppen teil. In außenpolitischer Beziehung brachte dieser Feldzug aber nennenswerte Erfolge. Der Freundschaftsbund zwischen Ludwig und Géza bedeutete die Einleitung der in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sich immer stärker entwickelnden französisch-ungarischen Kulturbeziehungen und politischen Freundschaft, deren Krönung dann die Heirat der Tochter Ludwigs VII. mit Béla III. ist. Ungarn schaltete sich, auf dem von Koloman vorgezeichneten Weg weiterschreitend, in die europäische Politik ein und glich die in seiner unmittelbaren Nachbarschaft entstandenen Konflikte — mit den Deutschen, Tschechen und Österreichern — durch das im fernen Westen gesuchte und gefundene Bündnis aus. Diesem Bündnis gab der Umstand eine besondere Bedeutung, daß Konrad mit dem vor kurzem auf den Thron gelangten Kaiser Manuel von Byzanz durch dessen deutsche Frau verschwägert war und mit ihm im Bündnis stand. RUSSISCHE

KRIEGE

Géza und Belos vernachlässigten auch die näheren Verbindungen nicht. Die Vertiefung der polnischen und russischen Verbindungen glich die feindliche Haltung der Böhmen aus. König Geisa nahm 1146 die russische Herzogin Euphrosina, die Schwester des russischen Großfürsten Isjaslaw von Kiew (1146—1150 und 1151—1154), zur Frau, die Tochter des Belos heiratete vier Jahre später deren Bruder; Herzogin Gertrud hingegen, die jüngste Tochter Bêlas des Blinden, schloß in derselben Zeit mit Mieczyslaw, einem Herzog des in verschiedene Teile zerfallenen Polens, die Ehe. Aus der ehelichen Verbindung zog nur Isjaslaw Nutzen, der, mit seinen gegen seine Herrschaft revoltierenden Verwandten kämpfend, jeder Hilfeleistung unfähig war, ja sogar selbst immer wieder Unterstützung benötigte. Der durch Verletzung der russischen Thronfolgeordnung, des Seniorats, auf den Thron gelangte Isjaslaw

Weltherrschaftspläne Manuels

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hatte schwere Kämpfe mit seinem Oheim Wjaceslaw und Georg Dolgoruki, dem Fürsten von Susdal, zu bestehen, die in ihren Kämpfen zusammen mit anderen Fürsten von Wladimir, dem Fürsten von Halicz, und auch von seinem Verwandten Kaiser Manuel unterstützt wurden. In seiner Bedrängnis wandte sich Isjaslaw an seinen Schwager um Hilfe, und die ungarischen Truppen waren zwischen 1148 und 1152 größtenteils unter der persönlichen Führung Gézas sechsmal auf russischem Boden. Diese Kämpfe erhöhten das Ansehen des ungarischen Königs und brachten seinen Waffen Ruhm, doch in realpolitischer Hinsicht waren sie bedeutungslos. Im Hintergrund wurde nur ganz schwach der in der Zeit Bêlas III. verwirklichte Gedanke der Eroberung von Halicz sichtbar, er kam jedoch noch nicht zur Ausführung. Der 1153 eingetretene Tod Wladimirs, dem ein Jahr später auch Isjaslaw folgte, machte dem zwecklosen Blutvergießen und der Geldverschwendung ein Ende, gerade noch rechtzeitig, denn vom Süden her drohte ernste Gefahr.

WELTHERRSCHAFTSPLANE

MANUELS

Der ungarische Einfluß auf dem Balkan und die Besetzung der ehemaligen Reichsprovinzen mußte notwendigerweise zu einem Zusammenstoß mit dem Oströmischen Reich führen, wo durch die Thronbesteigung Manuels (1143 bis 1180) der Gedanke der Wiederaufrichtung des römischen Reiches zu neuem Leben erwachte. Kaiser Manuel, der Sohn Johanns „des Schönen" und der Enkel des „über jeden um einen Kopf erhabenen" Heiligen Ladislaus von Ungarn war sowohl körperlich als auch geistig in gleichem Maße eine glänzende Erscheinung. Die Heerführerbegabung, die der durch seinen Blick gewinnende schöne Jüngling mit dem braunen Antlitz und der mächtigen Gestalt besaß, blieb zwar hinter der seiner großen Soldatenvorfahren zurück, aber seine furchterregende Kraft, seine persönliche Tapferkeit, sein in kriegerischem Spiel und in ernsten Kämpfen bewiesener Heldenmut machten ihn zum gefeiertsten Krieger seiner Zeit. Er behauptete seinen Platz in Glaubensstreitigkeiten mit seinem an den lateinischen Klassikern und den Werken der Kirchenväter geschliffenen Verstände und der ihm angeborenen Elastizität des Geistes ebenso wie in der Diplomatie und den Frauen gegenüber. In der Politik war er ein Schüler der spitzfindigen diplomatischen Schule des byzantinischen Hofes, doch war seine Einstellung nicht frei von den unwirklichen Übertreibungen und abenteuerlichen Zielsetzungen derRitterromantik. In seiner Seele verband sich der religiöse Rittergeist der französischen Kreuzfahrer mit der dekadenten Moral des byzantinischen Hofes und der Kultur des klassischen Rom zu einer eigenartigen Harmonie. Sein Charakter und seine Persönlichkeit waren griechisch, doch sein Herz, seine Neigung und seine Bildung zogen ihn nach dem Westen. »5*

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Weltherrschaftspläne Manuels

In seiner Familie und an seinem Hofe führte er französischen Geist und westliche Formen ein. Er heiratete zweimal Frauen aus dem Westen und umgab sich auch mit Rittern aus Westeuropa. Auch seine politischen Ziele waren nach dem Westen gerichtet. Unter Außerachtlassung der inneren Kräfteverhältnisse des Reiches und der von vier Seiten drohenden äußeren Gefahr erstrebte er mit ganzer Kraft die Wiederherstellung des alten römischen Weltreiches und damit auch die Wiederherstellung der Glaubenseinheit. Seine Diplomatie und seine militärischen Unternehmungen dienten nur diesem großen Ziel. Seine Ungarn gegenüber eingeschlagene Politik war auch nur ein Glied in der Kette seiner auf Eroberung der ganzen westlichen Welt gerichteten Konzeption. Er wollte über ungarischen Boden in die unmittelbare Nähe des westlichen Kaiserreiches vordringen, um dann, verstärkt durch ungarische Kräfte, das westliche Staatensystem zu stürzen. Nach seiner Thronbesteigung hoffte er durch das Zustandebringen eines griechisch-normannisch-französischen Bündnisses seine Weltherrschaft vorzubereiten, doch sein Plan scheiterte an dem Griechenhaß der Normannen und Franzosen. Es gelang ihm zwar, den normanischen Herrscher des Ostens, Raimund, Fürst von Antiochen, nach kurzem Kampf zur Anerkennung der Lehensoberhoheit zu zwingen, doch das dem sizilianischen Thronerben Wilhelm unterbreitete Heiratsangebot wurde zurückgewiesen. Nach diesen Verhandlungen kam es 1145 zu einem Krieg mit König Roger von Sizilien (1127—1154), der 13 Jahre währte. Nicht viel später gestaltete sich auch sein Verhältnis zu dem französischen König Ludwig VII., der an der Spitze seines Heeres nach dem Osten gekommen war, feindlich. In der Umgebung Ludwigs war bereits damals der ein halbes Jahrhundert später verwirklichte Gedanke der Gründung eines lateinischen Kaiserreichs in Konstantinopel aufgetaucht. Die Franzosen und Normannen haßten den Kaiser, in dem sie den Unterdrücker ihrer östlichen Brüder, der Fürstentümer der Kreuzfahrer, sahen. Mit den Franzosen hatte er nach dem Abzug des Kreuzfahrerheeres keine bewaffneten Zusammenstöße mehr, doch mit den sizilischen Normannen stand er ständig im Kampf. Roger beunruhigte seit 1145 die griechischen Inseln und das Küstengebiet durch fortgesetzt wiederholte Angriffe und fügte dem Reiche durch die Besetzung Korfus, Böotiens und Korinths einen empfindlichen Schaden zu. Gegen die normannisch-französische Gefahr suchte Manuel in der Neutralisierung der östlichen Front und in einem deutschen Bündnis Schutz. Die christlichen Fürstentümer des Ostens versuchte er durch engeren Anschluß an sich zu fesseln. Die Fürstin von Antiochien, Konstanze, wählte zwar nach dem Tode Raimunds — nachdem sie den Antrag des einen Komnenos abgewiesen hatte — Rainald von Chatillon zum Gemahl, doch hielt sie zu dem byzantinischen Hof ein freundschaftliches Verhältnis aufrecht. Ein Freund

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Griechisch-ungarische Kriege

Manuels war auch Balduin III., König von Jerusalem (1143—1162), welcher später eine seiner Nichten zur Frau nahm. Mit dem benachbarten türkischen Sultan von Ikonium gelang es, einen zwölfjährigen Waffenstillstand zuschließen. Auf diese Weise war Manuel von Osten her vor einem Rückenangriff gesichert. Mit Kaiser Konrad, an den ihn durch seine Frau — Berta von Sulzbach — verwandtschaftliche Bande knüpften, schloß er gelegentlich des Kreuzzuges enge Freundschaft und ein Bündnis. Dem österreichischen und bayrischen Herzog hingegen gab er eine seiner jüngeren Schwestern zur Frau. Auch Venedig stand auf Seiten der beiden Kaiser und zu ihnen hielten die Rumänen der unteren Donau und des Pontus, welche in den russischen Thronstreitigkeiten dem Schwager Manuels gegen den Schwager Gezas beistanden. Die Spitze des ganz Europa umfassenden Bündnisses war nicht nur gegen die Franzosen und die Normannen gerichtet, sondern auch gegen den ungarischen König, der mit dem österreichischen Herzog Heinrich und Wladimir von Halicz schon seit längerer Zeit in Feindschaft lebte und gelegentlich des Durchzuges der Kreuzfahrer mit dem König Ludwig von Frankreich und ein Jahr später auch mit Roger, dem König von Sizilien, ein Bündnis geschlossen hatte. Zu dem französisch-normannisch-ungarischen Bündnis gehörte noch der Bruder des Banus Belos, der serbische Großzupan Uros II., welcher die Lehnsabhängigkeit von Byzanz ablehnte und mit ungarischer und normannischer Hilfe bestrebt war, seine Unabhängigkeit zu erkämpfen. Der Diplomatie Manuels gelang es, Roger, den Verbündeten Ungarns, vollkommen einzukreisen. Die venetianisch- deutsch- österreichisch- böhmisch- haliczisch- kumanisch- griechische Liga umgab das Königreich des hl. Stephan wie ein Eisenring, und Manuel hielt die Zeit für gekommen, um mit dem von seinen fernen Verbündeten abgetrennten ungarischen König abzurechnen. GRIECHISCH-UNGARISCHE

KRIEGE

Der Krieg begann mit der Niederwerfung der unter ungarischem Einfluß stehenden Serben. Der Kaiser schlug sie zweimal im Jahre 1149 und 1150 und zwang den Großzupan Uros zur vollständigen Unterwerfung und Anerkennung seiner Lehnshoheit ohne jeden Vorbehalt. Beim zweiten Feldzug fochten auf der Seite des Uros auch Ungarn, während Geza und Belos im Interesse Isjaslaws auf russischem Boden mit den Verbündeten Manuels kämpften. Im Herbst des folgenden Jahres erklärte der Kaiser, der die Abwesenheit Gezas ausnützte, indem er sich auf die ihm zugefügte Beleidigung und besonders auf die feindselige Haltung berief, die sich in der Unterstützung Serbiens geäußert habe, Ungarn den Krieg. Manuel wußte genau, daß er für eine Eroberung Ungarns durch Waffengewalt nicht genügend Kräfte hatte. Er hoffte aber, ungarische Anhänger

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Griechisch-ungarische Kriege

gewinnen zu können und die Ungarn zu seinen Vasallen zu machen, wenn er seinem Angriff einen Schein von Recht geben konnte. Zu seinem willigen Werkzeug erkor er sich den „ständigen Thronprätendenten" Herzog Boris. In seiner Begleitung zog er in den Krieg, doch konnte er kein Ergebnis erzielen, weil die Ungarn auch diesmal Boris ablehnten. Es gelang ihm, Syrmien durch einen Überfall zu besetzen, doch die Festung Semlin hielt sich, bis der aus Halicz heimkehrende Geza und Belos mit den Kerntruppen anlangten und die Griechen aus dem Lande jagten. Der mit so viel Aufheben eingeleitete Feldzug endete mit einem Mißerfolg und zwei Jahre später konnte Geza bereits an einen Rachefeldzug denken. Die ungarnfeindliche Liga fiel bald nach ihrer Gründung wieder auseinander. Der neue Kaiser, Friedrich Barbarossa (1152—1190), liebte die Ungarn nicht, er befaßte sich auch gern mit dem Gedanken eines ungarischen Feldzuges, doch machte er sich die griechenfreundliche Politik seines Vorgängers nicht zu eigen. Im übrigen beschäftigten ihn nach seiner Thronbesteigung die inneren Angelegenheiten und die Vorbereitungen der Kaiserkrönung. Heinrich von Österreich söhnte sich mit Geza aus, der böhmische Herzog Wladislaw II. neigte auch zur Freundschaft mit den Ungarn. Wladimir von Halicz starb im Jahre 1153. Venetien hingegen ließ sich mit den Normannen in Verhandlungen ein, welche zu einem formalen Bündnis führten. Diese günstige Situation nützte Geza aus, er erneuerte sein Bündnis mit Roger, dem König von Sizilien, und schritt im Frühjahr 1154 zum Angriff. Manuel eilte auf die Nachricht von den Vorbereitungen mit seinem Heere an die untere Donau. Die beiden Heere standen sich an den Ufern der Donau gegenüber, doch kam es zu keinem Zusammenstoß. Nach dem Friedensschluß, der das Schicksal der im vergangenen Jahre in Gefangenschaft geratenen Ungarn regelte, löste sich das Heer auf. Den Frieden störten ein Jahr später die innerhalb der beiden Fürstenhäuser ausgebrochenen Bruderkriege. Geza entzweite sich mit seinem jüngeren Bruder, dem nach Macht strebenden Herzog Stephan, und da dieser die Rache seines Bruders fürchtete, floh er mit seinen Anhängern an den griechischen Hof. Dem Kaiser kamen die ungarischen Flüchtlinge recht gelegen, da Boris gerade in dieser Zeit im Kampfe gegen die in das Reich eingebrochenen Kumanen gefallen war. In Stephan fand er jetzt ein neues und weit besseres Werkzeug zur Verwirklichung seiner Machtbestrebungen, seine Klagen, der Verlust seines Herzogtums dienten als Vorwand zur Einmischung. Manuel griff daher wieder zu den Waffen, doch der im serbischen Fürstenhaus ausgebrochene Streit rief ihn nach einer anderen Seite. Seine Intervention in diesem Streit hatte ein schönes Resultat, es gelang ihm, die Serben endgültig aus dem ungarischen Bündnis loszureißen. Geza griff daraufhin gegen Manuel zu den Waffen und schloß, um den Kaiser zu stürzen, ein Bündnis mit dessen Vetter, dem Herzog Andronikos Komnenos,

Griechisch-ungarische Kriege

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-welcher das ungarische Grenzgebiet verwaltete. Andronikos bot Geza Branicova und Nisch an, wenn er ihm helfe, auf den Thron zu gelangen. Der ungarische König nahm das Angebot an und drang im Frühjahr 1155 in das Reich ein. Manuel, der von dem Verrat seines Verwandten unterrichtet war und ihn seines Postens enthoben hatte, erlitt südlich von Branicova eine schwere Niederlage. Im Frühjahr des folgenden Jahres standen sich beide Heere wieder an den Ufern der Donau gegenüber, doch schlössen sie Frieden, bevor sie noch zu den Waffen gegriffen hatten. Geza gab seine Beute und seine Gefangenen heraus und Manuel entfernte Herzog Stephan von seinem Hofe. Herzog Stephan floh Unterstützung suchend an den Hof Kaiser Friedrichs, den Manuel, ohne Erfolg zu haben, zu einem Angriff gegen Ungarn zu überreden versuchte. Der Kaiser benötigte jetzt viel zu sehr die Hilfe Gezas, als daß er dem Thronprätendenten zuliebe dessen Freundschaft geopfert hätte. Gerade zu dieser Zeit erfolgte eine Annäherung zwischen dem deutschen und dem ungarischen Hofe, und Geisa leistete bereits im Jahre 1158 in dem großen Kampf des Kaisers gegen Mailand Waffenhilfe. Friedrich intervenierte zwar bei Geza im Interesse seines Bruders, doch als er auf Ablehnung stieß, schickte er ihn nach Byzanz zurück. Nach Byzanz kam im Jahre 1158 auch Herzog Ladislaus, in dessen bosnischem Herzogtum Geza schon vor einigen Jahren den Banus Boris zum Regenten ernannt hatte. Auch Banus Belos folgte den Brüdern. Er konnte es nicht ertragen, daß am Hofe seines Neffen andere — der an der Universität Paris erzogene ausgezeichnete Erzbischof Lukas und dessen Bruder, Banus Apa — zu entscheidendem Einfluß gelangt waren. Manuels erster Angriffsversuch war nach fünfjährigen Kämpfen völlig an der Stärke des ungarischen Königreiches zerbrochen. Das einzige Resultat seiner Angriffe war die Unterwerfung der unzufriedenen ungarischen Herzöge und ihre Übersiedlung nach Byzanz. In ihnen glaubte er ein mächtiges Werkzeug gefunden zu haben, um seine Absichten zu verwirklichen. Stephan vermählte er mit einer seiner Nichten und hielt ihn zusammen mit seinem Bruder am Hofe, Banus Belos ernannte er zum Großzupan von Serbien; zur Geltungmachung seiner Macht- und Thronerbansprüche konnte er ihm jedoch vorläufig keine Hilfe geben, da ihn nach dem Tode Rogers die italienischen, nachher die östlichen Angelegenheiten in Anspruch nahmen. Wilhelm, der König von Sizilien (1154—1166), gewann Venedig zum Bundesgenossen und zog mit neuer Kraft gegen die griechischen Heere in Süditalien in den Kampf. Die nach dem Westen entsandte Flotte Manuels wurde geschlagen. Auch seine Diplomatie konnte keine bedeutenden Erfolge erzielen. Kaiser Friedrich betonte zwar seine Freundschaft, aber die Heirats- und Bündnisangebote wies er zurück, weil er im Vordringen der griechischen Macht in Italien eine Gefahr für seine eigenen Weltmachtsbestrebungen sah. Nach diesen Mißerfolgen

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Griechisch-ungarische Kriege

schloß Manuel 1158 mit Wilhelm Frieden und richtete sein ganzes Augenmerk auf die Regelung der Fragen im Osten. Balduin III., den König von Jerusalem, hatte er sich schon früher verpflichtet, indem er ihm eine seiner Schwestern zur Gattin gab. Jetzt erzwang er die Anerkennung der Lehnshoheit über Armenien und schloß in Gegenwart Balduins auch mit Nureddin, dem Sultan von Damaskus, Frieden. Im Jahre 1161 nahm er nach dem Tode seiner deutschen Frau Maria von Poitou, die Tochter der Fürstin Konstanze von Antiochien und ihres Gemahls Raimund, zur Frau. Den Hof Manuels überschwemmten die mit der französischen Kaiserin gekommenen französischen und normannischen Ritter. Das normannische Fürstentum von Antiochia, an dessen Spitze der zweite Gemahl Konstanzes, Rainald von Chatillon stand, das dem Reich früher viele Sorgen verursacht hatte, schaltete sich nun in den Interessenkreis des byzantinischen Hofes ein. Die Freundschaft und das Bündnis mit den Kreuzfahrerfürstentümern des Ostens war der einleitende Akt zum Wechsel der außenpolitischen Orientierung Manuels. Friedrich Barbarossa, der mächtige Hohenstaufe, der die Weltmachtbestrebungen der fränkischen und sächsischen Kaiser wieder zu neuem Leben erweckte, hatte 1169 einen verhängnisvollen Konflikt mit dem Heiligen Stuhl. Er ließ den rechtmäßig gewählten Papst Alexander III. (1159—1181), den geistigen Erben Gregors VII., von den unter seiner Herrschaft lebenden deutschen und italienischen Bischöfen auf der Synode zu Pavia exkommunizieren, zog die gesetzliche Richtigkeit seiner Wahl in Zweifel und ließ unter dem Namen Viktor IV. (1159—1164) einen Gegenpapst aufstellen. Friedrich und sein Papst forderten durch Gesandtschaften die christlichen Mächte zum Anschluß auf, doch ohne Erfolg. Die Könige von Frankreich, England und Sizilien, Venedig und ein großer Teil der italienischen Städte stellten sich ohne Zögern auf die Seite des rechtmäßigen Papstes. Auch König Geza stellte sich auf Anraten des Erzbischofs Lukas an seine Seite, obwohl er erst vor kurzem Barbarossa in seinem lombardischen Feldzug mit Hilftsruppen unterstützt hatte. Von seiner Stellungnahme unterrichtete er sofort seinen alten Freund Ludwig VII., König von Frankreich, und bot ihm für den Fall eines deutschen Überfalles bewaffnete Hilfe an. Das entschiedene Auftreten des ungarischen Königs überraschte Friedrich, der in ihm einen Verbündeten suchte, doch es ermutigte die deutschen Anhänger des Papstes, welche schon jetzt mit dem Erzbischof Eberhard von Salzburg an der Spitze zusammen mit Geza und seinem Freund Lukas ihrem kaiserlichen Herrn offen entgegentraten. In Deutschland und in Italien wiederholten sich die Vorgänge der Zeit Heinrichs IV. und Gregors VII. Das westliche Christentum spaltete sich in zwei Parteien und die zwei Großmächte der christlichen Welt, der Kaiser und der Papst, standen wieder im Kampf miteinander, doch mischte sich diesmal in ihren Kampf noch ein Dritter ein — der Kaiser von Byzanz —, um den

Stephan III. und die Thronprätendenten

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Gegensatz zu seinen Gunsten auszunutzen. Manuel erkannte 1161, nachdem Friedrich seine Annäherungsversuche schon so oft abgewiesen hatte, Alexander III. als den rechtmäßigen Papst an und erbat von ihm nicht viel später, indem er die Wiederherstellung der Glaubenseinheit und die Übersiedlung seines Hofes nach Rom anbot, auch eine Krone. Auch seinem alten Gegner, dem König von Frankreich, bot er ein Bündnis an, weil er hoffte, durch die veränderten Verhältnisse mit Hilfe des Papstes und seiner westlichen Anhänger die Herrschaft über Italien und die ganze Welt zu gewinnen. Sein Angebot wurde höflich, aber mißtrauisch aufgenommen. Die Franzosen, Normannen, Deutschen und Ungarn hatten kein rechtes Vertrauen zu dem schlauen Griechen. Auch der Papst glaubte nicht recht an den Ernst des Unionsangebots. Er wußte genau, daß Manuel nur der Machthunger leitete und daß der um seinen Einfluß besorgte griechische Klerus alles aufbieten würde, um die Union zu verhindern. Doch auch mit den Deutschen, unter denen er soviel Anhänger besaß, wollte Alexander nicht endgültig brechen. Seine normannischen Anhänger und den italienischen und ungarischen Klerus, welcher die Bestrebungen des griechischen Kaisers mißtrauisch betrachtete, konnte er sich nicht wegen eines ungewissen und in seinem Erfolg recht zweifelhaften Bündnisses entfremden. Wie sehr dieses Mißtrauen berechtigt war, bewies Manuel selbst, als er die erste sich bietende Gelegenheit ergriff, um seine Waffen gegen die eifrigen ungarischen Anhänger des Papstes zu richten.

S T E P H A N III. U N D D I E

THRONPRÄTENDENTEN

Nachdem Geza II. mit Manuel im Jahre 1161 den Frieden um weitere fünf Jahre verlängert und das Hilfegesuch Friedrichs, der von neuem Mailand bestürmte, glatt abgeschlagen hatte, starb er ganz unerwartet im Frühjahr des Jahres 1162 im Alter von 32 Jahren. Seine Krone und sein Land hinterließ er seinem ältesten Sohne, dem 14jährigen Stephan. Erzbischof Lukas krönte Stephan III. (1162—1172) sofort nach dem Begräbnis in Stuhlweißenburg, doch ein Teil des ungarischen Adels weigerte sich, den jungen König anzuerkennen. Es gab viele, die im Sinne der alten Erbregel den Herzog Ladislaus, den älteren der Brüder Gezas, auf den Thron bringen wollten und noch mehr, welche von den auf griechischen Boden geflüchteten Herzögen erwarteten, daß sie die Macht aus den Händen des sittlich strengen, jeden Mißbrauch und jedes Vergehen hart verurteilenden asketischen Lukas nehmen würden. Auch das Geld Manuels arbeitete, und als sein Gesandter, bald darauf er selbst an der Spitze eines großen Heeres in Begleitung des volkstümlichen Banus Belos, der schon ein Jahr vorher das Großzupanamt niedergelegt hatte, und der Herzöge an der Grenze des Landes erschien, ließen die unzufriedenen Herren sich gern in Verhandlungen mit ihm ein. Manuel wollte seinen Verwandten,

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Stephan III. und die Thronprätendenten

den Herzog Stephan, dem Lande aufdrängen, doch die Ungarn wollten nichts von ihm wissen. Statt dessen nahmen sie den älteren Herzog, dem — wie der kaiserliche Notar Johann Kinnamos schreibt — nach dem alten ,bulgarischen Gesetz", welches das Brudererbrecht vorschreibt, rechtlich der Thron zukam, als König an. König Stephan, der von dem Übereinkommen Kenntnis erhielt, flüchtete mit seiner Mutter und einigen Getreuen nach Österreich. Er suchte bei Herzog Heinrich Unterstützung. Das Land unterwarf sich ohne Widerstand Ladislaus II., der ein Drittel des Landes seinem jüngeren Bruder als Herzogtum abgab. Nur Preßburg und seine Umgebung blieb in der Hand des rechtmäßigen Königs. Ein Mann widersetzte sich jedoch der allgemeinen Stimmung. Lukas, der Erzbischof von Gran, weigerte sich, den „Usurpator" zu krönen und als Mikö, der Erzbischof von Kalocsa, die Zeremonien unrechtmäßigerweise verrichtete, verhängte er über Ladislaus und seine Anhänger das Interdikt. Der wutentbrannte König ließ den Erzbischof gefangennehmen und ordnete die Ausübung der kirchlichen Funktionen an, aber als er auf die Intervention des Papstes hin am Weihnachtsfeiertage Lukas freiließ, sprach dieser in Gegenwart des Königs, der der Messe beiwohnte, neuerlich das Interdikt aus, riß die Altardekorationen herunter, den König selbst aber bedrohte er im Falle der Widersetzlichkeit mit tödlichem Fluch. Lukas wurde nach dieser kühnen Tat wieder gefangengesetzt, doch sein Fluch erfüllte sich bald. Ladislaus starb im Januar 1163 nach kaum halbjähriger Regierungszeit. Den Thron nahm jetzt sein Bruder Stephan IV. ein. Der Erzbischof von Kalocsa krönte auch ihn, auch der alte Banus Belos stand ihm zur Seite, doch die allgemeine Stimmung hatte sich durch das tapfere Verhalten des Lukas und den plötzlichen Tod des Ladislaus geändert. Das Volk Transdanubiens griff unter der Führung des Geschlechtes der Csäk zu den Waffen und rief seinen jungen König zurück. Der erste Zusammenstoß erfolgte im März und fiel für den Gegenkönig günstig aus. Daraufhin sandte dieser voll Vertrauen auf die eigene Kraft das griechische Heer nach Hause. Sein Sieg war aber nur ein scheinbarer. Im Sommer zog Stephan III. mit einem großen Heer von Preßburg aus gegen Weißenburg. Die von dem gewalttätigen Verwandten des griechischen Königs wenig erbauten Ungarn drängten sich scharenweise zu seinem Heer. In der Schlacht siegte der jüngere Stephan, sein Gegner geriet in Gefangenschaft, doch ließ er ihn nach dem Beispiel des Heiligen Ladislaus frei. Stephan IV. konnte wieder zu seinem Beschützer nach Byzanz zurückkehren, dessen große Pläne er durch sein unrichtiges Verhalten und seinen ruhmlosen Sturz zunichte gemacht hatte.

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Der Plan einer griechisch-ungarischen Union DER P L A N EINER G R I E C H I S C H - U N G A R I S C H E N

UNION

Ungarn war kaum ein Jahr nach der Thronbesteigung Ladislaus' II. wieder vom griechischen Einfluß befreit. Manuel wußte, daß daran zum großen Teil die Unbeliebtheit Stephans Schuld war und ließ seinen Schützling ohne Bedenken fallen. Scheinbar zu seiner Unterstützung, doch bereits im Interesse eines ganz anderen Zweckes griff er wiederum zu den Waffen und noch im Herbst des Jahres 1163 drang er bis zur Donau vor. Hier jedoch begann statt eines Angriffs eine friedliche Verhandlung mit dem ungarischen Hofe. Durch einen Gesandten "bot er die Hand seiner eigenen Tochter, der herrlichen Maria, zusammen mit der Würde des kaiserlichen Thronerben dem Herzog Béla, dem dreizehnjährigen Bruder Stephans III. an, den sein Bruder schon früher zum Herzog von Kroatien und Dalmatien gemacht hatte. Als Morgengabe wünschte er die Übergabe des Erbes des Béla, der Herzogtümer Kroatien und Dalmatien. Der junge König und seine Mutter nahmen das Angebot, das den Krieg abwendete, freudig an. Frieden und Freundschaft wurde geschlossen, und der junge Béla ging in Begleitung seines zukünftigen Schwiegervaters nach Byzanz, wo er unter dem Namen Alexios den dem Thronfolger gebührenden Rang „Despotes" erhielt, der in dieser Zeit die erste Würde nach den Titeln „Imperator" und „Basileus" war, welche nur der Kaiser führte. Die Designierung des ungarischen Herzogs zum Thronerben konnte beim griechischen Volke keine besonderen Sympathien erwecken, doch Manuel hatte nur seinen Weltherrschaftsplan vor Augen. Wie einst Stephan der Heilige in Peter, so sah Manuel in Béla seinen Blutsverwandten und dazu den rechtmäßigen Erben des ungarischen Thrones und damit den Erben der vier verlorenen alten römischen Provinzen Obermoesien, Illyrien, Pannonien und Dacien, der durch die Vereinigung des Erbes Konstantins des Großen und Stephans des Heiligen den großen Traum seines kaiserlichen Patrons, die Wiedererrichtung des römischen Weltreiches, zur Wirklichkeit machen würde. Die griechisch-ungarische Bundesgenossenschaft und der Plan der Union waren ohne Zweifel großzügig und von allen Unternehmungen Manuels der realste Plan. Seine Verwirklichung hätte vielleicht nicht zur Wiederherstellung des alten römischen Reiches geführt, doch den beginnenden Verfall hätte es aufhalten und im Osten eine ganz neue Machtposition schaffen können. Das Abkommen hatte jedoch einen Kardinalfehler, es beruhte nicht auf dem gegenseitigen Vertrauen der vertragsschließenden Parteien. Der ungarische Hof nahm das Angebot Manuels an, weil er dadurch den unmittelbaren Gefahren eines Krieges mit zweifelhaftem Ausgang entgangen war, außerdem wurde er dadurch von dem gefährlichen Thronanwärter, der sich auf altes Gewohnheitsrecht berief, endgültig befreit, doch nach dem Abzug des griechischen Heeres bereitete er sich sogleich auf den Krieg vor

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Weitere griechische Kriege

und dachte nicht einmal während des Friedensschlusses ernstlich an die Herausgabe der Béla versprochenen Provinzen. Es gelang Stephan III., seine böhmischen, österreichischen und russischen Nachbarn an sich zu fesseln. Seine ältere Schwester Elisabeth war bereits seit sechs Jahren die Frau des böhmischen Herzogs Friedrich, die jüngere, Odola, gab er dem zweiten Sohne Wladislaws II., Swatopluk, zur Frau; er selbst verlobte sich mit der Tochter des Fürsten Jaroslaw von Halicz, der Enkelin Wladimirs. Wladislaw, der seit 1158 den ihm von seinem kaiserlichen Herrn verliehenen Titel „König von Böhmen" führte, und der in den herzoglichen Rang erhobene Heinrich von Österreich gewannen auch ihren Lehnsherrn für die Sache Stephans III., welcher ein „Geschenk" von 5000 Mark Silber pro Jahr versprach. Kaiser Friedrich grollte zwar noch wegen des „Vertragsbruches" Gézas, doch wies er die Bitte Stephans IV., der nach dem griechisch-ungarischen Frieden zu ihm eilte, um Hilfe zu erbitten, glatt ab.

WEITERE GRIECHISCHE

KRIEGE

Die diplomatische und kriegerische Vorbereitung der Ungarn war gleichbedeutend mit der Durchkreuzung der Pläne Manuels. Als er Béla als seinen Schwiegersohn und Nachfolger annahm, glaubte er ein starkes und haltbares Bündnis mit dem ungarischen König geschlossen zu haben und jetzt mußte er erfahren, daß der junge Stephan und seine Ratgeber ihn überlistet und alle seine Berechnungen umgestoßen hatten. Da er Béla seinem Bruder gegenüber nicht als Thronprätendenten vorschieben konnte, unterstützte er scheinbar wieder die Sache des vom deutschen Hofe zu ihm zurückgekehrten und um Hilfe flehenden Stephan IV. Dieser ehrgeizige Mensch versprach den Treueid, Steuern, alles mögliche, wenn er ihm nur wieder auf den Thron verhelfe. Manuel griff tatsächlich wieder zu den Waffen, obwohl er an das Gelingen des Versuches Stephans nicht glaubte. Der eigentliche Grund seines Feldzuges war nicht Hilfeleistung für Stephan, sondern die Erwerbung Syrmiens, Kroatiens und Dalmatiens, die Erzwingung des ungarischen Bündnisses. Stephan war nur ein Werkzeug in seiner Hand, um den König einzuschüchtern und zu demütigen. Ihn sandte er mit seinen ungarischen Anhängern voraus, doch als diese ungarischen Boden betreten hatten, verließen sie ihren Herrn und baten den rechtmäßigen König um Verzeihung für ihren Verrat. Nach diesem Mißerfolg traf auch Manuel mit Herzog Béla ein und besetzte ohne einen Schwertstreich Syrmien, wo ihn ein Teil der Bevölkerung und die griechischen Priester mit Hosianna begrüßten. Von hier sandte er an König Stephan die Botschaft, daß er keinen Krieg wolle, sondern die Herausgabe der Erbschaft Bêlas, er wünsche nur die Erfüllung der Bedingungen des vor zwei Jahren geschlossenen Vertrages. Doch Stephan gab nicht nach, er rüstete zum Kampf,

Weitere griechische Kriege

und als sein Schwager — König Wladislaw von Böhmen und sein Sohn — mit großen Heeren anrückten und auch die Hilfstruppen aus Österreich und Halicz eintrafen, zog er zu Felde. Manuel stand bereits am linken Ufer der Donau. Auf die Nachricht vom Nahen des starken feindlichen Heeres ließ er sich in Verhandlungen ein. Er versuchte den Abmarsch der Böhmen zu erreichen, doch als ihm diese nicht den Gefallen taten, zog er sich hinter die Donaulinie zurück, den hartnäckigen Stephan IV. ließ er mit einem kleineren Heere zurück. Die schwache Truppe konnte natürlich den vereinten ungarischböhmischen Truppen nicht standhalten. Der griechische Führer zog sich noch, bevor es zu einem ernstlichen Zusammenstoß kam, nach Syrmien zurück und Stephan selbst war dadurch gezwungen, auch dorthin zu flüchten. Seine Nachhut fiel mit der ganzen Feldausrüstung den Ungarn in die Hände. Stephan III. erwartete am Ufer der Donau die kaiserliche Friedensgesandtschaft. Durch die Vermittlung Wladislaws gelang es auch, eine Vereinbarung zu treffen. Stephan überließ seinem Bruder dessen väterliches Erbe, Kroatien und Dalmatien, Manuel hingegen verpflichtete sich, daß er Stephan, der auf den Thron Ansprüche erhob, nicht mehr unterstützen würde. Der König von Böhmen wurde von beiden Parteien reich beschenkt, den Frieden besiegelte die Verlobimg des Bruders Manuels mit der Tochter des Herzogs Friedrich von Böhmen und der ungarischen Herzogin Elisabeth. Kaum einige Monate später brach der Krieg wieder aus, weil Manuel sein Versprechen brach und Stephan nicht fallen ließ. Der unruhige Thronprätendent blieb mit seinen wenigen ungarischen Anhängern und einem größeren griechischen Heer in Syrmien. Die Ungarn konnten sich nicht damit abfinden, daß an der Grenze ihres Landes ein ewiger Gefahrenherd weiterbestand. Sie brachen in Syrmien ein, besetzten es und belagerten die Festung Semlin, in die sich Stephan zurückgezogen hatte. Manuel hatte den Krieg diplomatisch gut vorbereitet. Indem er den ungarischen König des Vertragsbruchs beschuldigte, gelang es ihm, Venedig, Jaroslaw von Halicz und die Kumanen für sich zu gewinnen, Kaiser Friedrich und den Herzog von Österreich konnte er jedoch nicht zum Anschluß bewegen. Während der diplomatischen Vorbereitungen sammelte er ein großes Heer in Serdica, dem heutigen Sofia, und verstärkte die regulären Truppen durch kumanische, petschenegische, türkische und serbische Vasallen und Söldnertruppen. Seine mit hundert venezianischen Galeeren vereinigte Flotte sandte er nach Dalmatien. Johannes Dukas unterwarf ohne Widerstand die dalmatinischen und kroatischen Küstenstädte, zusammen mit den benachbarten Dörfern 57, während Manuel mit seinem Heer sich der Donau näherte. Mit ihm kam auch Herzog Béla mit seiner Begleitung. Bald verschlechterte sich aber die Lage der Griechen. Stephan IV. starb ganz plötzlich Anfang April und die Besatzungstruppe übergab gegen freien Abzug die Festung Semlin. Manuel mußte an der Save-Linie

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Weitere griechische Kriege

seine Operationen beginnen. Die ungarische Besatzung Semlins leistete heldenhaften Widerstand, doch da die Entsatztruppen nicht rechtzeitig genug eintrafen, konnte sie sich gegen die große Übermacht nicht mehr behaupten. Nach einer mehrwöchigen Belagerung fiel Semlin, die Besatzung wurde teils niedergemetzelt, teils gefangengenommen. Stephan bat jetzt eilig um Frieden, den er nach eidlicher Zusage der friedlichen Überlassung Syrmiens, Kroatiens, Dalmatiens auch erhielt. Die Aussöhnung war auch jetzt nur scheinbar. Beide Parteien rüsteten weiter zum Krieg. Manuel sah die Zeit zur großen Abrechnung gekommen und ließ, jede Rücksicht beiseite lassend, Béla als Thronprätendenten gegen seinen Bruder auftreten, dessen „Eidbruch" ihn — seiner Ansicht nach — des Throns unwürdig machte. In dieser Zeit war die Braut Bêlas bereits zum Nachfolger Manuels ernannt worden und im Jahre 1165 leisteten auch die Großen des Landes dem Brautpaar den Treueid. Der Herzog selbst wurde zu einem tugendhaften Jüngling mit großer Bildung und mit seinem fürstlichen Äußeren und seinen ausgezeichneten geistigen Eigenschaften war er eine richtige Herrscherpersönlichkeit. Sein Auftreten an der Seite Manuels seinem Bruder gegenüber kann man gerade nicht sympathisch nennen, doch bei Beurteilung seiner Handlungsweise dürfen wir seine große Jugend — er war kaum 16 Jahre alt — und die den Charakter seines Bruders in den schlimmsten Farben malenden Hofgerüchte nicht vergessen. Béla war sicher von der Gerechtigkeit der Sache überzeugt, als er sich zum Werkzeug der Pläne seines Pflegevaters machen ließ, und in diesem Glauben bestärkten ihn auch die in seiner Umgebung lebenden Ungarn und die aus seiner Heimat kommenden Nachrichten. In Ungarn gefiel die Freundschaft Stephans mit den Tschechen und Deutschen nicht jedem. In ihnen sah man seit Gézas Zeiten Feinde, während die aus Griechenland gekommenen Anhänger Stephans IV. und die in Byzanz gewesenen Gesandten viel Gutes und Schönes berichteten. Die Feldzüge Manuels berührten das Mutterland nicht, hingegen die Verwüstungen der böhmischen und deutschen Freunde, der Kreuzzug und der letzte Durchzug Wladislaws waren dem Volke noch in lebhafter Erinnerung. Es gab solche, denen der Gedanke schmeichelhaft war, daß der Erbe der kaiserlichen Krone den ungarischen Thron besteigen sollte. Andere waren der schlaffen und wankelmütigen Herrschaft Stephans überdrüssig. Das alles zusammen schuf eine Unzufriedenheit und die frondierenden Herren riefen Béla nach Haus und erwarteten ihn mit Freuden, da sie ihn seinem Rufe nach als ausgezeichneten Menschen kannten. Stephan III. wußte von diesen Treibereien und da er den Zusammenstoß für unvermeidbar hielt, zog er mit voller Kraft in den neuen Krieg. Im Anfang des Jahres 1166 sandte er unter der Führung des Comes Dionys ein starkes Heer an die griechische Grenze und eroberte nach kurzem Kampf Syrmien zurück. Das unter der Führung Bêlas heranrückende griechische

Weitere griechische Kriege

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chische Heer blieb am Ufer der Donau stehen und ließ sich auch in keinen ernsthaften Kampf ein. Béla und der ihm beigegebene Feldherr „schonten" ihr Heer, wobei sicher auch die Abneigung des jungen Herzogs vor dem Bruderkrieg eine Rolle spielte. Zwei andere Heere hingegen unter der Führung des Leo Vatatzes und Johannes Dukas brachen über die Pässe im Süden und Osten nach Siebenbürgen ein und die sich ihren Heeren anschließenden Horden der Rumänen und Rumänen aus der Walachei verwüsteten die ungeschützten Ortschaften. Hierbei hören wir zum erstenmal von in der Nähe der ungarischen Grenze unter kumanischer Herrschaft lebenden Walachen. Herzog Heinrich von Österreich, der — durch seine Gemahlin ein Verwandter Manuels — eben in dieser Zeit seine Tochter Agnes Stephan III., der seine russische Verlobung auflöste, zur Frau gab, weilte damals im Auftrage seines Kaisers auf griechischem Boden und versuchte zwischen seinem Schwager und Schwiegersohn den Frieden zu vermitteln, doch ohne Erfolg. Im Osten stellte man zwar die Feindseligkeiten ein, dafür brach im Westen mit um so größerer Kraft der Kampf aus. Palatin Apod hatte das ganze kroatische Küstengebiet zurückerobert und auch den griechischen Statthalter gefangen genommen. Nur Spalato, Trau und Sebenico blieben in griechischen Händen, während Zara noch immer unter venezianischer Herrschaft stand. Im Sommer des nächsten Jahres griffen die Griechen wiederum an. Unter der Führung des Andronikos Kontostephanos zog ein Heer von 15000—20000 Mann an die ungarische Grenze. Am linken Ufer der Save wartete der Comes Dionys, der Held der vorjährigen Kämpfe, mit den Abteilungen von 30 Komitaten, etwa 15000 Kriegern, den Angriff des Feindes ab. Stephan selbst blieb mit den Kerntruppen und den Hilfstruppen des Herzogs Heinrich von Osterreich im Innern des Landes. Die Griechen setzten bei Semlin unbehindert über die Donau, weil Dionys in sicherer Siegeshoffnung sie zu einer offenen Feldschlacht zwingen wollte. Sein Wunsch ging in Erfüllung, das Resultat hingegen war nicht das erwartete. Die Schlacht verlief am Anfang mit wechselndem Glück, doch zum Schluß siegten die Griechen. Das ungarische Heer erlitt eine vollständige Niederlage. Eine Unmenge von Toten, nahezu 1000 Gefangene und die ganze Feldausrüstung waren die Verluste, doch auch die Griechen konnten sich keines leichten Sieges rühmen. Infolge des großen Blutverlustes wagten sie nicht, sich in eine neue Schlacht einzulassen, und die Nachricht, daß das ungarische Hauptheer im Anzüge sei,, veranlaßte sie, sich über die Grenze zurückzuziehen. Bevor sie sich zurückzogen, zerstörten sie die Festungsmauern von Semlin und deuteten damit an, daß sie nicht mehr zurückkommen wollten. Als König Stephan von dem Abzug der griechischen Truppen erfuhr, zog er mit seiner Kerntruppe in Begleitung seines Palatins, der Gespane und mehrerer Bischöfe zur Küste und trieb die griechische Besatzung Dalmatiens aus dem Land, dann

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Ungarisch-griechisches Bündnis

nahm er die Unterwerfung der Städte Trau, Spalato, Sebenico und die der Stadt Zara, die der venezianischen Herrschaft überdrüssig geworden war, entgegen. UNGARISCH-GRIECHISCHES

BÜNDNIS

Manuel feierte die Schlacht von Semlin als die glänzendste Tat der gegen Ungarn gerichteten Kriegsoperationen nach Art der alten Kaiser mit Triumphzug und Dankgottesdienst, obgleich er eher ein Trauerkleid über den Pyrrhussieg, der den fünfjährigen Krieg abschloß, hätte anlegen sollen. Der zweite Teil der um die Herrschaft Ungarns geführten Kriege hatte ebenfalls mit einer Niederlage geendet, nach so ungeheuren Blut- und Geldopfern beherrschte der ungarische König wieder Syrmien und das kroatisch-dalmatinische Küstenland. Im Jahre 1170 machte Manuel noch einmal den Versuch, das Erbe Bêlas zurückzuerobern. Es gelang ihm auch, Spalato und Traü unter seine Herrschaft zu bringen, aber weiter im Innern konnte er nicht Fuß fassen. In derselben Zeit wurde auch der Plan der Vereinigung der beiden Reiche zunichte gemacht. Die Kaiserin schenkte 1169 ihrem alternden Gemahl einen Sohn und den kleinen Alexios ließ der Vater alsbald krönen. Béla wurde auf den dritten Platz gedrängt und mußte sich mit der Würde eines „Casars" begnügen. Auch seine Verlobung wurde gelöst und um ihn zu trösten, gab man ihm die Halbschwester der Kaiserin, Agnes von Châtillon oder — wie man sie später in Ungarn nannte — Herzogin Anna zur Frau. Obwohl er das Vertrauen des Kaisers auch weiterhin genoß, war seine Stellung nach seinem Rangverlust unter den schadenfrohen Griechen nicht beneidenswert und als er 1172 die Nachricht von dem frühen Ableben seines Bruders erhielt, zog er mit Freuden nach Haus, um den nach der Sitte seiner Ahnen ihm zukommenden Thron einzunehmen. Bei seiner Thronbesteigimg schloß er ein festes Bündnis mit seinem Pflegevater. Er tat ein Gelübde, daß er Manuel und seinem Reiche immer ein Freund und ein Bundesgenosse sein werde. Nach vielen nutzlosen Opfern gelangte Manuel endlich dahin, wohin er mit weniger Angriffslust und gewandterer Politik schon vor 20 Jahren hätte kommen könnnen. Wenn er, anstatt die hoffnungslose Sache des Thronprätendenten zu unterstützen, gerade Wege gegangen wäre und dem rechtmäßigen König mit ehrlichem Herzen Frieden und Bundesgenossenschaft angeboten hätte, wäre er sicherlich nicht auf Mißtrauen und Zurückweisung gestoßen. Mit dem Bündnisvertrag von 1172 schließt das bewegte Zeitalter der griechischen Machtbestrebungen in Ungarn ab. Die ungarische Frage hörte vom byzantinischen Standpunkt auf ein Problem zu sein, doch war die Zeit des Friedens für das Reich noch nicht gekommen. Die kaiserliche Macht geriet im Jahre 1171 mit Venedig, das seiner Handelsprivilegien beraubt war, in kriegerische Verwicklungen, in deren Verlauf die Venezianer die kaiserlichen

Das Ende der Weltmachtträume

401

Städte des dalmatinischen Küstenlandes und die griechischen Inseln verwüsteten und 1173 die dem ungarischen König unterworfene Stadt Zara wieder in Besitz nahmen. Auch unter den Serben stifteten sie Unruhe, wo nach dem Sturz des 2supans Desa, des jüngsten Bruders des Banus Belos, Stephan Nemanja, der Begründer des späteren königlichen Hauses, die Macht an sich riß. Den Unruhen machte das im Jahre 1175 geschlossene Bündnis Venedigs mit Wilhelm II., König von Sizilien (1166—1189), ein Ende, und auf diese Nachricht hin beeilte sich Manuel, alle wirtschaftlichen Forderungen Venedigs zu erfüllen. Seinen Entschluß beschleunigten auch die Vorfälle im Osten.

DAS E N D E DER

WELTMACHTTRÄUME

Während Manuel seine Kräfte in den abenteuerlichen Unternehmungen im Westen vergeudete, wuchs die Macht der türkischen Seldschuken gefährlich an. Infolge der Expansionsabsichten der Sultane Saladin von Damaskus und Ägypten und Arslan Kilidz von Ikonion wurde die Lage der östlichen Christenheit immer kritischer. Manuel erkannte jetzt in letzter Stunde seine eigentliche Berufung. Im Herbst des Jahres 1177 zog er mit seinem auch durch ungarische Hilfstruppen verstärkten Heer gegen den Sultan von Ikonion, doch geriet er in einen Hinterhalt. Die Türken schnitten sein Heer ab und jagten es in die Flucht, auch er selbst konnte sich kaum retten. Zur selben Zeit bekam er die Nachricht von der Aussöhnung des Papstes mit Kaiser Friedrich Barbarossa, was gleichbedeutend war mit dem Schwinden des Traumes vom italienischen Imperium und der Vereitlung der Vereinigung der beiden Reiche. Nach diesem zweifachen Schlag brach er seelisch und körperlich zusammen und das erdrückende Bewußtsein seines verfehlten Lebens und seiner nutzlosen Kämpfe brachte den letzten großen Kaiser des untergehenden Reiches bald ins Grab. Manuel war zweifellos eine der größten Gestalten der Weltgeschichte. Seine Fähigkeiten, seine politischen Konzeptionen, seine Energie und Kühnheit hätten ihn in einer besseren Zeit und an einem anderen Platz in die Reihe der alten großen Kaiser gehoben. Wenn er im Westen geboren worden wäre, hätte man seinen Namen vielleicht neben Karl dem Großen oder Otto dem Großen und Heinrich III. genannt. Wenn er seine Kraft und Fähigkeit zur Erringimg realerer Ziele, zur Heilung innerer Mißstände, zur Niederringung des Feindes aus dem Osten, zur Fortsetzung des Werkes seines Vaters oder Großvaters verwandt hätte, wäre er der Retter und Erneuerer seines Reiches geworden. Um irreale Ziele kämpfend, wurde er der Totengräber des oströmischen Kaiserreiches. Das Ziel an sich war groß, doch auf keinen Fall zeitgemäß, weil die Teilung des römischen Reiches und die allmähliche Isolierung des östlichen Reiches 26

H 6 m a n , Geschichte des u n g .

Mittelalters

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D a s Ende der Weltmachtträume

eine notwendige Folge des Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende alten Gegensatzes der griechischen und lateinischen Kultur, der östlichen und westlichen Weltanschauung war. Die oströmischen Kaiser strebten, wenn sie auch zur Sicherung ihrer Seemacht in Süditalien ihre Position festhielten, seit Justinian nicht mehr nach dem Westen. Die Richtung ihrer Machtbestrebungen geht nach Osten und Norden. Ihre ganze Kraft spannten sie gegen ihre persischen und arabischen Nachbarn an. Sie waren bestrebt, ihren Einfluß über die slawischen und türkischen Völker, die sich auf der Balkanhalbinsel und im Küstengebiet des Schwarzen Meeres niedergelassen hatten, auszubreiten. Sie sahen gleichgültig den italienischen Eroberungen und den Weltmachtbestrebungen der germanischen Fürsten — der Karolinger, der sächsischen und fränkischen Kaiser — zu, die die Tradition und das Erbe des weströmischen Reiches übernahmen. Sie schlössen mit ihnen mehr als einmal Freundschaftsverträge und Bündnisse. Sonst aber versuchten sie in vornehmer Zurückhaltung durch Betonung ihres Vorranges ihr Ansehen und ihre Machtstellung zur Geltung zu bringen. Ihre Isolierung nahm im Laufe der Zeit immer mehr zu, und die um die Mitte des 11. Jahrhunderts endgültig erlangte Unabhängigkeit ihrer Reichskirche führte zum völligen Bruch. Die Idee des Weltreiches, der Gedanke der Beherrschung des lateinischen Westens und Roms, fand unter ihnen seit Justinian keinen Vorkämpfer mehr. Diese Idee erweckte Manuel wieder zu neuem Leben, doch rechnete er nicht mit den wirklichen Kräfteverhältnissen seines Volkes und seines Reiches und mit der Kraft der geschichtlichen, weltanschaulichen und politischen Gegensätze, welche die Welt in zwei Lager spalteten. Er konnte nicht glauben, daß ihn, der sich mit Herz und Seele als Römer und Lateiner fühlte, die Lateiner des Westens für einen Fremden hielten. Er glaubte nicht, daß die mächtigen Ideen der Glaubenseinheit und der Weltmacht an dem persönlichen Interesse seiner eigenen Geistlichkeit und an dem Partikularismus des Griechentums Schiffbruch erleiden könnten. Indem er seinen romantischen Weltmachtsplänen nachging, sah er durch den Schleier seiner Träume den am Bau seines Reiches nagenden Wurm nicht und erkannte nicht die unter einem glänzenden Äußeren sich ausbreitende Fäulnis. Er fühlte nicht, daß seine politischen und militärischen Erfolge einen ephemeren Wert hatten, daß sie nicht die Äußerungen der Gesundheit und Kraft waren, sondern das Aufflackern der letzten Lebenskraft eines sterbenden Reiches. Die Erkenntnis der realen Lage und der Kräfteverhältnisse führte zu einer schweren Krisis, deren erste Anzeichen — die an der östlichen und westlichen Front erlittenen Niederlagen und die Unzufriedenheit der gegen die „lateinische" Herrschaft sich empörenden Opposition — sich in den letzten Jahren seines Lebens bereits zeigten. Nach seinem Tode gingen die zerstörenden Elemente mit voller Kraft an die Arbeit. Mit der Thronbesteigung des Kaisers Alexios II .

Das ungarische Reich Bêlas III.

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(1180—1183) begann die Agonie des Reiches, während oben im Norden der andere Alexios, einst der designierte Erbe des kaiserlichen Thrones, jetzt unter dem Namen Béla König der Ungarn, das Königreich des Heiligen Stephan auf den Höhepunkt seiner Macht und Blüte führte. Das 12. Jahrhundert gehört nicht zu den glänzenden Epochen der ungarischen Geschichte. Die Nation mußte schwere Kämpfe überstehen, doch ihre jungen Könige — es erreichte keiner das vierzigste Lebensjahr — standen überall tapfer auf ihrem Platz. Das Erbe Ladislaus' und Kolomans bewahrten sie, ja vermehrten es sogar. Zur Zeit Stephans III. wandte sich das Kriegsglück, aber der sich selbst überlassene junge König konnte, gestützt auf die ungarische Tapferkeit, doch den Angriffen des großen Kaisers widerstehen. Syrmien und Dalmatien gingen zeitweise verloren, doch kamen sie immer wieder zurück; ein wesentlicher und ständiger Gebietsverlust trat nicht ein. Die Bestrebungen Manuels, das ungarische Königreich zum Vasallenstaat zu machen, es unter seine Macht und seinen Einfluß zu bringen, schlugen fehl. Einen bleibenden Erfolg hatte er nur in der Person Bêlas III. errungen, der als sein Schüler auf den Thron des hl. Stephan kam und als ungarischer König den Gedanken einer griechisch-ungarischen Bundesgenossenschaft verwirklichte.

SECHSTES

KAPITEL

D A S U N G A R I S C H E R E I C H B É L A S III. Die im ungarischen Königshause seit dem Aufstand des Almos immer wieder ausbrechenden Bruderkriege und die verheerende Kraft der griechischen Einmischungsversuche können hinsichtlich ihrer Wirkung und ihrem Resultat mit den Thronstreitigkeiten, die nach dem Tode des hl. Stephan ausgebrochen waren, und mit den Eroberungsabsichten der beiden Heinriche nicht verglichen werden. Die Kämpfe des 11. Jahrhunderts arteten zu blutigen Bürgerkriegen aus und die Angriffe des Deutschen Reiches zu langwierigen Kriegen. Die in das Innere des Landes vordringenden fremden Heere und die in revolutionären Ausbrüchen sich entladende nationale Reaktion verursachten ungeheure Blutverluste und wirtschaftlichen Schaden, zeitweise gefährdeten sie sogar die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Landes. Im 12. Jahrhundert kam es nur selten zu blutigen Zusammenstößen. Die Thronstreitigkeiten wurden größtenteils schon im Keime erstickt, die fremden Heere, welche die Thronprätendenten unterstützten, kamen kaum über die Landesgrenzen, und als die Intervention Manuels zur Zeit Stephans III. für kurze Zeit von Erfolg begleitet war, wurde der Kampf doch bald ohne größeres Blutvergießen zu 2Ò1

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Das Glaubensleben

einem friedlichen Ende gebracht. Aus der Perspektive der Geschichte betrachtet waren diese Kämpfe zusammen mit der griechischen Einmischung nur episodenartige Erscheinungen. Das christliche Königreich überwand diese Kämpfe ohne größere Erschütterungen und behielt nicht nur die im Anfang des Jahrhunderts erworbene Machtstellung, sondern vergrößerte sie noch. Der organisatorischen und gesetzgebenden Arbeit Ladislaus' und Kolomans folgte die Erstarkung der geistigen und materiellen Kultur und die vollkommene Entfaltung der neuen Institutionen und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation.

DAS

GLAUBENSLEBEN

Das Christentum hatte tiefe Wurzeln geschlagen. Die Anhänger des alten Glaubens waren ausgestorben, von heidnischen Reaktionsbewegungen, die sich noch vor einem halben Jahrhundert in blutigen Ausbrüchen geäußert hatten, war keine Spur mehr vorhanden. Auch von der östlichen Kirche wurde kein Versuch zur Gewinnung der Ungarn gemacht. Die ungarischen Anhänger der Schützlinge Manuels wurden ausschließlich von politischen und nicht von religiösen Motiven geleitet, ebenso wie der unfreundlichen Haltung des hl. Ladislaus dem Heiligen Stuhl gegenüber rein politische Ursachen zugrunde lagen. Selbst Béla III. war kein Schismatiker. Wenn er auch in Byzanz an den Zeremonien der Konstantinopeler Kirche teilgenommen hatte, so gehörte er doch zu der Hofpartei, die die kirchliche Union propagierte, und auch seine Eheverbindung, seine französische Kultur zogen ihn zur römischen Kirche hin. Gleich nach seiner Thronbesteigung und auch später noch gab er oft deutliche Beweise seiner Glaubenstreue. Selbst bei der griechischen Intervention neigte nicht einmal der kleinste Bruchteil des Volkes zum Schisma, zur östlichen Kirche. Wenn auch in Syrmien, das vor kurzem noch Reichsgebiet gewesen war, der östlichen Kirche angehörende und zu ihr haltende Volkssplitter lebten und wenn auch die ismaelitischen Elemente durch dei Einwanderung der Kumanen, Petschenegen, Wolgabulgaren und arabischer Kaufleute vermehrt wurden, so war ihre Zahl doch zu klein, als daß die geistige Suprematie der katholischen Kirche auch nur für einen Augenblick gefährdet gewesen wäre. Das Volk des Landes — mit Ausnahme der an Zahl geringen griechischorthodoxen, mohammedanischen und jüdischen Volkssplitter — war mit Herz und Seele katholisch. Ihr Glaubensleben vertiefte sich immer mehr, ihr Eifer für den Glauben wuchs. Die die Epoche der Kreuzzüge durchdringende geistige Strömung löste in den ungarischen Seelen einen kräftigen Widerhall aus, und die Zahl derer, die in das heilige Land pilgerten, wuchs unaufhörlich. Die Jerusalemer Herberge des hl. Stephan lag infolge der türkischen Kriege men-

Neue Mönchs- und Ritterorden

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schenleer und verwüstet da. Deshalb kaufte die Edelfrau Petronella für 440 byzantinische Goldstücke 1135 ein neues Haus und übertrug es der Fürsorge der Domherren des hl. Grabes, damit hier ungarische Pilger untergebracht werden könnten. Nach zwei Jahrzehnten genügte diese Herberge bereits nicht mehr für die ungarischen Pilger. König Géza II. ließ gemeinsam mit den Großen des Landes zu Ehren der Jungfrau Maria und König Stephans des Heiligen eine besondere ungarische Kirche und unter der Führung des am Anfang des Jahrhunderts zu einem Ritterorden umgebildeten Johanniterordens eine in ihrem Ausmaß größere ungarische Herberge in Jerusalem erbauen und stattete sie mit größerem Grundbesitz aus. An den beiden ersten Kreuzzügen nahmen noch keine Ungarn teil, dem dritten Kreuzzug schlössen sich schon viele an, und nach seinem Mißlingen bereitete sich König Béla III. darauf vor, das Kreuz zu nehmen. Ein Zeichen der Vertiefung seines religiösen Gefühls und seiner Glaubensüberzeugung waren die vielen zu heiligen Zwecken gespendeten Gaben, die gesteigerte Ausübung der Tugenden der christlichen Caritas und die große Zahl der Kirchengründungen. Herzog Älmos gründete in Meszes, Banus Belos in Kö oder, wie man es seither nannte, Bänmonostor, dem heutigen Banostor in Syrmien, der eifrige Adel in Bozók, Széplak, Käcs, Tapolca, Szerencs, Nyitra-Ludäny, Lébény, Csatär, Verteskeresztur, Küszin, Almädi, Madocsa, Szenttrinitäs und Okor-Mindszent für die Söhne des hl. Benedikt neue Heimstätten. NEUE MÖNCHS- UND

RITTERORDEN

Um die Mitte des Jahrhunderts erschienen die ersten Pflanzstätten der neuen Mönchsorden, deren Entstehung dem Ideenkreis der christlichen Renaissance zu verdanken war. Als eine frische und lebensstarke Abspaltung der strengen cluniazensischen Richtung kam aus dem österreichischen Kloster Heiligenkreuz die erste Schar des in Frankreich im unkultivierten Gebiet von Citeaux (Cistercium) entstandenen Zisterzienserordens zur Zeit Gézas II. im Jahre 1142 nach Cikador im Komitat Tolna. Markgraf Heinrich von Österreich hatte auf die Anregung seines Bruders Otto, des gelehrten Freisinger Bischofs und Geschichtsschreibers, die Mönche für Heiligenkreuz aus Morimund gerufen. Die Mönche, die aus Heiligenkreuz nach Ungarn kamen, waren Franzosen mit einigen deutschen Novizen. Béla III. brachte im Jahre 1179 unmittelbar aus Pontigny in Frankreich Zisterzienser nach Egres, im Jahre 1182 aus Acey nach Pilis, 1184 aus Troisfontaines nach Sankt Gotthard und aus Clairvaux nach Zirc. Päszto wurde im Jahre 1190 bereits von Pilis, Kerc in Siebenbürgen durch König Emmerich von Egres aus mit Ordensleuten besiedelt. Banus Dominikus aus dem Geschlecht Miskolc gründete im Jahre 1194 mit deutschen Mönchen aus Heiligenkreuz das Kloster Kedhely,

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Neue Mönchs- und Ritterorden

mit anderem Namen Borsmonostor. Gleichzeitig mit dem Entstehen der ersten Zisterzienser-Häuser wurde auch der Orden der Prämonstratenser, der von dem nahe Reims liegenden Prémontré (Patrum monostratum) ausging, durch geistliche und private Grundbesitzer in Ungarn angesiedelt. Der Propst von Weißenburg, Mendin, rief um 1178 aus dem lothringischen Valroi die ersten Bewohner des Konvents von Garâb. Nicht viel später bevölkerten ebenfalls aus Valroi kommende Mönche das bei Nagyolasz (heute Mangjelos) im Komitat Valkö gelegene Kloster Szentkereszt, und am Ende des Jahrhunderts bestanden auch schon die Propsteien von Türje und Vâradelöfok. Zur Zeit Bêlas III. bekam auch das Kloster von Bozök, in dem die Benediktiner nicht Fuß fassen konnten, als Insassen Prämonstratenser. Mit den „weißen Priestern", den Zisterziensern und Prämonstratensern, kamen zu gleicher Zeit auch die ersten Niederlassungen der Ritterorden, die während der Kreuzzüge in Jerusalem Kriegsdienste leisteten, nach Ungarn. Den Templern, die nach dem roten Kreuz, das auf einen weißen Mantel gestickt war, „rote Mönche" genannt wurden, ließ Stephan III. in Kroatien und Slawonien Grundbesitz zukommen. Als Ordenshaus übergab er ihnen das alte Benediktinerkloster von Vrana. Von Géza II. hatten die Johanniter schon früher bei Gran reichen Grundbesitz erhalten. Königin Euphrosyne ließ für sie in Stuhlweißenburg ein Ordenshaus erbauen. Die Konvente von Szentkiräly und Weißenburg vermehrten sich durch die Stiftungen des Herrschers und der Gläubigen schnell, und zur Zeit Bêlas III. entstanden bereits in Budafelhéviz, Tat und Szokoly Filialkirchen und im Komitate Zala in Tüskeszentpéter und bei Pécsvârad in Szentjânos neue Konvente. Am Ende des Jahrhunderts erscheinen auch die Mönche des Ordens des Heiligen Lazarus, welche die Aussätzigen pflegen, und betreuen in ihrem Hause in Gran die unglücklichen Opfer dieser schrecklichen Krankheit, die sich infolge der Kreuzzüge verbreitet hatte. Den über große Vermögen verfügenden und zu einem Herrenorden sich entwickelnden, weltlich lebenden Benediktinern gegenüber vertraten die neuen Orden die mönchische Einfachheit und Zurückgezogenheit und verkörperten die wahre Demut und Inbrunst. Die Zisterzienser, die zu den unverfälschten Traditionen des heiligen Benedikt zurückkehrten, bebauten selbst ihre Felder, rodeten die Wildnis, machten das Ödland fruchtbar und erschlossen in den Wäldern des Bakony, in den Wildnissen von Pilis und Fogaras bis dahin ungenutztes, unfruchtbares Gebiet. Neben ihren wirtschaftlichen Arbeiten sorgten sie auch für die Verbreitung der Religion. An der Bekehrung der jenseits der östlichen Grenze lebenden heidnischen und mohammedanischen Rumänen haben sie großen Anteil. Die Prämonstratenserstiftsherren sahen in der Ausübung der Seelsorge und Missionstätigkeit eine ihrer Hauptaufgaben. Sie hielten im Gegensatz zu den übrigen Mönchen, die der Seelsorge-

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Das Vordringen der französischen Kultur

arbeit nicht nachgingen, Pfarreien und Missionsstationen aufrecht und durchquerten nach dem Beispiel des Ordensgründers Norbert als Wanderapostel die Welt, das Volk unterrichtend und den Glauben verkündend. Im Volke selbst waren sie ähnlich den späteren Bettelmönchen sehr volkstümlich. Die Zisterzienser hingegen verdienten sich durch ihren alles übertreffenden Eifer die Gnade und das Wohlwollen des Hofes. Die französische Gemahlin Bêlas III. und seine Söhne machten diese ein einfaches Leben führenden französischen Mönche zu ihren Hausgeistlichen. Aus ihnen wählten sie sich ihren Beichtvater, die Lehrmeister ihrer Kinder, und die verstorbenen Familienmitglieder ließen sie in ihren Kirchen beisetzen.

DAS V O R D R I N G E N DER FRANZÖSISCHEN

KULTUR

Die Mönche des Zisterzienser- und Prämonstratenserordens blieben mit ihren Ordensbrüdern in Frankreich in ständiger Berührung. Ihre Äbte und Pröpste waren verpflichtet, jedes dritte Jahr persönlich bei den Generalversammlungen in Citeaux und Prémonté zu erscheinen, während die Äbte und Pröpste der französischen Mutterklöster jedes dritte Jahr persönlich die ungarischen Tochterklöster ihres Ordens besuchten. Diese fortwährende unmittelbare Fühlungnahme der französischen und ungarischen Mönche schuf eine intensive Kulturverbindung zwischen den beiden Ländern. In den Ordenshäusern und in den Klöstern der Ritterorden unterrichteten französische Mönche die Novizen, von denen manche später selbst auf französischem Boden ihre höhere Ausbildung erwarben. Zur selben Zeit begann auch die ausländische Schulung der weltlichen Geistlichen. Seit dem Bündnisse Gézas II. mit dem König von Frankreich gingen immer mehr ungarische Geistliche an die um die Wende des 11. und 12. Jahrhunderts entstandene Pariser Universität und andere französische Hochschulen, um ihre Bildung zu erweitern. Erzbischof Lukas wurde an der Universität in Paris von Gerardus a Puella unterrichtet, und zur Zeit Bélas ì l i . wissen wir von vier ungarischen Geistlichen, welche zu gleicher Zeit in Paris studierten. Diese im Ausland erzogenen weltlichen Priester und Mönche mit französischer Kultur waren zusammen mit den an ausländischen Höfen häufig verkehrenden geistlichen und weltlichen Gesandten und den am ungarischen Hof aufgenommenen französischen Rittern die Träger und Verbreiter des französischen Geschmacks, der westlichen Sitten, der scholastischen Bildimg der Kirche und die Verbreiter der Ritterkultur, die sie auch in Ungarn heimisch machten. Der Mittelpunkt des geistigen Lebens wurde die königliche Kapelle, dann seit Béla III. die Kanzlei. Aus der Reihe der Hofkapläne und Notare gingen

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Magister P., der Notar König Bêlas

die Gesandten an den fremden Höfen, die Erzieher der königlichen Prinzen, die Verfasser der Gesetze und die Geschichtsschreiber des Herrscherhauses hervor. M A G I S T E R P., D E R N O T A R K Ö N I G

BËLAS

Von der bis zum Jahre 1091 reichenden Darstellung der Gesta Hungarorum aus der Zeit des heiligen Ladislaus wurde nicht viel später, vielleicht noch zu Lebzeiten des großen Königs, ein kürzerer Auszug gemacht, und dieser wurde im 12. Jahrhundert an mehreren Orten, so in Somogyvár, Wardein, Agram und Stuhlweißenburg fortgesetzt. Die in späteren Abschriften nur fragmentarisch erhalten gebliebenen Chroniken — zusammen mit Martinsberger Aufzeichnungen, in welche die Angaben der Preßburger Annalen von 1143 bis 1177 aufgenommen sind — sind Schöpfungen eines Klosters oder Kapitels und waren demzufolge jahrbuchartige oder königslistenartige Werke. Daneben bestand jedoch auch noch die Form der Historie weiter. Zur Zeit Kolomans und Stephans II. wurden die Gesta Ungarorum bis zum Jahre 1127 weitergeführt und die Fortsetzung aus der Zeit Stephans II. wurde zur Quelle der Preßburger Jahrbücher und des Anonymus. Ein Geistlicher Gézas II. ergänzte das Werk seines Vorgängers durch die Geschichte des Herzogs Almos und seiner Nachkommen und überarbeitete die Teile, die sich auf die Person und Regierung Kolomans und Stephans II. beziehen, mit feindlicher Tendenz. Umfassende Teile dieses Werkes blieben uns in der durch ihre schönen Miniaturen bekannten sogenannten „Bilderchronik" erhalten, während die Bruchstücke der Fortsetzungen aus derZeit Stephans III., welche das Werk um die Ereignisse der Jahre 1152—1167 erweitern, die Chronik des Deutschen Heinrich von Mügeln aufbewahrt. Die zum Kanon der ungarischen Geschichtsschreibung gewordenen Gesta Ungarorum wurden die Quelle für jenes verworrene Machwerk, welches unter dem Namen „Polnisch-ungarische Chronik" bekannt ist, und wurden ferner von den Verfassern der Legende des hl. Ladislaus benutzt. Außerdem entnahmen ihnen auch Odo de Deogilo und Gottfried von Viterbo einige Angaben. Die Jahr für Jahr geschriebenen Gesta-Fortsetzungen sind das Werk der dem jeweiligen Herrscher nahestehenden Hofhistoriker, die im Geiste der Grundquelle und tinter Ausnutzung ihres Stilvorrats bemüht waren, die Geschichte der Zeit vom Jahre 1031—1167 auszuarbeiten. Der Historiker Gézas II. verwandte zur Charakterisierung des Zwistes zwischen Kolomon und Álmos ohne Bedenken das Kolorit, ja sogar die Ereignisse der Geschichte Andreas' I. und Bêlas sowie Salomons und seiner Vettern. Von einer selbständigen Auffassung der Geschichte oder einer Kritik finden wir bei diesen Autoren wenig Spuren. Doch findet sich unter ihnen einer, der sich auf neues Material stützt und mit selbständiger Auffassung und individueller Darstellungs-

Magister P., der Notar König Bêlas

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kunst die ungarische Geschichte bearbeitete: der Notar König Bêlas III., Magister P. In der Geschichtsliteratur des Mittelalters finden wir kaum ein Werk, worüber so gegensätzliche und so ins Extreme gehende Urteile vorgebracht worden sind, wie über das „Gesta Hungarorum" betitelte Werk des namenlosen Notars König Bêlas. Es gab Zeiten, in denen man auf jede Zeile des „Vaters der ungarischen Geschichtschreibung" wie auf die Heilige Schrift schwor. Später löste diese schwärmerische Verehrung ein übertriebenster Skeptizismus ab. Das Werk des Anonymus wurde als das Flickwerk eines Besserwissers, als ein Märchen hingestellt, das eines ernsten Studiums kaum wert sei, er selbst als ein wissentlicher Verdreher, lügenhafter Märchendichter und naiver Wortspielmacher bezeichnet, und indem man seine Glaubwürdigkeit verkleinerte, verjüngte man ihn um 100 Jahre und glaubte in ihm den Notar Bêlas IV. zu erkennen. Beim Anonymus gibt es in der Tat viele Fehler und Irrtümer, doch die Quellen seiner Fehler sind nicht Schwächen persönlicher Natur, sondern die Methode, Auffassung und die Absicht der Geschichtsschreibung der Zeit. Doch neben seinen Fehlern stehen seine großen Verdienste, welche ihn in die Reihe der hervorragendsten Geschichtsschreiber seiner Zeit erheben. Der anonyme Notar Bêlas III. erwarb sich allem Anschein nach in Paris, dem damaligen Kulturzentrum Westeuropas, die höhere Bildung, die man in dieser Zeit von den Hofgeistlichen, königlichen Notaren und dem höheren Klerus forderte. Dort lernte er die kunstgerechte Schriftmalerei, die Urkundenabfassung, die Kunst des Stilisierens, dort erwarb er sich neben den praktischen Kenntnissen die zur allgemeinen Bildung gehörenden grammatikalischen, rhetorischen, geschichtlichen und anderen Kenntnisse. Aus dieser Schule hervorgehend, wirkte er als königlicher Notar am ungarischen Hofe. Die Umgebung der Schule, aus der er hervorging, der Hof, an dem er lebte, und der Charakter seines Berufes hoben ihn in die Reihe der gebildeten Männer seiner Zeit. Auf keinen Fall war er ein zwischen Klostermauern lebender „Mönchschronist". Gegenüber den seelenlosen Kompilatoren des Mittelalters, den mit trockner Aufzählung sich begnügenden Annalisten und Chronisten war der Anonymus ein Gestenschreiber, der auf Grund der geschichtlichen Quellen arbeitete, dieses Rohmaterial aber in abgerundete schön-literarische Form brachte, es in ein künstlerisches Ganze umformte. Der Anonymus war einer der charakteristischten Vertreter dieses im frühen Mittelalter ungewohnten, auf deutschem Boden auch später seltenen Typs des Geschichtsschreibers. Bei einer oberflächlichen Prüfung könnte man geneigt sein, in seiner halb wissenschaftlichen, halb schöngeistigen Arbeit das Vorzeichen einer frühen Renaissancewelle zu sehen. Der Einfluß der klassischen Literatur — besonders die

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Magister P., der Notar König Bêlas

Einwirkung des zur rhetorischen Färbung neigenden Livius — ist unverkennbar. Doch ist dieser Einfluß nur äußerlich und mittelbar. Das literarische Vorbild für den Anonymus war die an der Pariser Universität vielgelesene Geschichte Trojas von Dares Phrygius und ähnliche andere romantisch gefärbte geschichtliche Skizzen. Dares und die französischen fabulierenden Geschichtsschreiber lasen auch Otto von Freising und sein Verse schmiedender Epitomator Gottfried von Viterbo und andere deutsche Schriftsteller, doch ist deren geistiger Einfluß bei ihrer ernsten und schwerfälligen deutschen Feder kaum zu erkennen. Im Geschmack und Stil des Anonymus — unter dem Einfluß des damals schon zur Romantik und zu leichteren Formen neigenden Paris — hinterließen sie einen tieferen Eindruck. Die Hauptquelle für den Anonymus war die aus der Zeit Stephans II. stammende Fortsetzung der Gesta Ungarorum aus der Zeit Ladislaus' des Heiligen. Daneben verwendete er noch zur Beschreibung Skythiens einen in dieser Zeit an der Pariser Universität und an den Universitäten überhaupt häufig gelesenen Justinus-Auszug, zur Geschichte der Landnahme hingegen verwandte er die mündlichen Überlieferungen der in der Theißgegend lebenden Sippen oder das Werk eines diese Überlieferungen benutzenden älteren Geschichtsschreibers. In die wortkarge Erzählung der Gesta setzte er wie in einen Rahmen die bis ins Einzelne gehende Geschichte der Landnahme, bei der er die Überlieferungen der Theißgegend heranzog. Seine Quellen benutzte er treu, doch mit Kritik. Auffallend ist sein skeptisches Verfahren den Sagen gegenüber. Der die Bauernmärchen und Volksepen ausgesprochen verurteilende und geringschätzende Gelehrte war bemüht, die in Quellen gelesenen Sagendetails zu rezensieren. Das Ergebnis dieser Kritik war, daß er die Sagen entweder wegließ oder ihren Tatsachengehalt brachte. Statt der schönen Sage des Frauenraubes, welche sich an die legendäre Gestalt König Magors knüpfte, erwähnt er trocken auf Grund ausländischer Quellen die Theorie der Magog-Abstammung. Die Sage vom Horn des Lèi und von den sieben Schandungarn ließ er ganz fort. Die märchenhafte Geschichte vom Wunderhirsch formt er zu einem einfachen Jagdabenteuer um, in welchem der Hirsch nicht verschwindet, sondern das Opfer der Pfeile des ihn verfolgenden Bors wird. In der Sage vom weißen Pferd ersetzt er das sagenhafte Pferdegeschenk durch das fürstliche Geschenk von 12 Pferden, 12 Kamelen, 12 kumanischen Jünglingen, 12 ruthenischen Mädchen, wertvollen Pelzen und Geschmeide. Sein Verfahren nimmt sich in den Augen der prüfenden Gelehrten, die in den alten Sagen die uns erhalten gebliebenen Denkmäler des geistigen Lebens des Volkes sehen, wie barbarische Unwissenheit aus. In seiner Zeit aber, in der Zeit der zur Leichtgläubigkeit neigenden, kritiklosen Geschichtsschreiber, die wunderliche und märchenhafte Sagen als Tatsachen behandeln, wirkt sein gelehrter Rationalismus, der auf einen selbständigen Denker schließen läßt, geradezu erfrischend.

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Seine entwickelte Kritik, seine systematische Denkweise und seine gründlichen Kenntnisse zeigen sich in seiner vom geographischen wie vom strategischen Gesichtspunkt gleich vollkommenen Ausarbeitung der Geschichte der Landnahme. Seine selbständige Kritik riß ihn, wie überhaupt die Geschichtsschreiber des Mittelalters, zu ein paar charakteristischen Irrtümern hin, von welchen der auffallendste die Neigung zum ethnographischen Anachronismus ist. Unter der Wirkung der Verhältnisse seiner Zeit nennt er das sich in Ruthenien den Ungarn anschließende kabarische Volk Rumänen und versetzt die Romanen (Blasii) Transdanubiens der Gesta des 11. Jahrhunderts nach Siebenbürgen und läßt sie auch unter dem Namen Pastores Romanorum in Transdanubien auftreten, obwohl die Kumanen zur Zeit der Landnahme noch irgendwo jenseits des Ural, die Walachen jedoch auf dem Balkan lebten und die ersteren erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts nach dem Zusammenbruch der Petschenegen in die Gegend zwischen Don und Dnjepr gelangten, während die letzteren im 10. bis 11. Jahrhundert in das Gebiet, das sich zwischen der unteren Donau und den Karpathen hinzieht, gekommen sind. Auch was seine geschichtliche Auffassung betrifft, machte er sich unabhängig. Sein Werk ist nur verstümmelt erhalten, und so kennen wir seine Auffassung nicht, die er sich von der Zeit der christlichen Könige gebildet hat. Soviel aber können wir auch aus dem fragmentarischen Werk entnehmen, daß er für andere Ideale schwärmte als der Geschichtsschreiber aus der Zeit Ladislaus' des Heiligen. Stolz erwähnt er die heidnischen Landnehmer-Ahnen, die großen Taten des Fürsten Arpäd und seiner harten Helden. Er färbt die wortkarge Erzählung seiner Quelle zu einem wahren Heldengedicht um. Während er von diesen Heldentaten schreibt, werden vor seinem geistigen Auge die großen Heldentaten seiner ruhmvollen Ahnen lebendig und er kann hier und da einen zufriedenen oder rühmenden Ausruf nicht unterdrücken. Sein Held ist nicht der „fromme König", sondern der in den Meisterwerken der Literatur der Ritterzeit besungene unerschrockene Krieger. Als „harte Abkömmlinge" der weltbesiegenden Skythen besang er die die halbe Welt durchstreifenden, alle Völker überwindenden landnehmenden ungarischen Helden; damit brachte er die Auffassung seiner Zeit ebenso getreu zum Ausdruck, wie es sein Vorgänger aus der Zeit Ladislaus' des Heiligen für seine Zeit tat. Sein schriftstellerischer Ehrgeiz war nicht geringer als seine gelehrte Absichten. Unter der Wirkung seiner Pariser Studien, seiner literarischen Lektüre und des am ungarischen Hof herrschenden französischen Geschmacks war er bestrebt, sein Werk in eine abgerundete künstlerische Form zu gießen. Um diese Bemühung zu verwirklichen, kombinierte er zu den den Quellen entnommenen Tatsachen persönliche Charakterschilderungen, Schlachtenbilder und zeremonielle Reden; den in den Werken anderer Geschichtsschreiber

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Magister P., der Notar König Bêlas

gefundenen farbigen Beschreibungen, die er in den Details der Geschichte Trojas von Dares, der Gesta Alexandri Magni und der Gesta Ungarorum des 11. bis 12. Jahrhunderts vorfand, folgte er manchmal wörtlich, manchmal nur dem Sinne nach. An seiner Methode erkennt man die Wirkung der Literatur der Ritterzeit. Sie erinnert an die Methode der Ritterdichter und an das Schema der Autoren romantischer Gesten der Ritterzeit, welche ohne Bedenken die Einzelheiten der Ereignisse, welche zeitlich auseinanderliegen, vermischten, und doch unterscheidet er sich wesentlich von ihnen. Der Anonymus enthielt sich der bewußten Verlegung geschichtlicher Tatsachen, Ereignisse oder Personen aus einem späteren Zeitalter in ein früheres. Er hielt treu an den Auffassungen und Tatsachenangaben des geschriebenenTextes oder auch der mündlichenÜberlieferungen — der Überlieferungen der Theißgegend und der Gesta — seiner Quellen fest, er verwendete den Text sogar, wo es möglich war, wörtlich. Was er hinzufügte, war nur die Ausschmückimg, die der Charakterisierung der aus den Quellen und Überlieferungen bekannten historischen Personen, Tatsachen und Ereignisse diente, eine schriftstellerische Phraseologie, die Ereignisse um einen historischen Kern gruppierte oder die diese in Einzeltatsachen zerlegte. Wir würden sehr fehl gehen, wenn wir auf Grund dieses schriftstellerischen Eindruckes das Werk des Anonymus in die Reihe der Gedichte der Ritterzeit und der romantischen Geschichtswerke einreihen würden. Der anonyme Notar König Bêlas ging ausgerüstet mit dem ganzen Wissensvorrat und der Schriftstellerkunst seiner Zeit an die neue Bearbeitung der ungarischen Geschichte heran. Seine Absicht war ein wirklich wissenschaftliches Bestreben, über welches er selbst im Prolog seines Werkes Auskunft gibt, indem er erklärt, daß er auf Wunsch seines Freundes und Studiengenossen nach dem Muster der Geschichte Trojas des Dares Phrygius und anderer Werke die Genealogie der Könige von Ungarn und die des Adels, den Auszug der sieben Ungarn aus Skythien und ihre Eroberungen beschreibe und daß er bemüht sei, diese Aufgabe unter Außerachtlassung „der lügenhaften Märchen der Bauern und der geschwätzigen Lieder der Volkssänger" auf dem Wege der „sicheren Auslegung der Schriften und der Erklärung der Historie" zu lösen. Er erfüllte die übernommene Aufgabe in anerkennenswerter Weise. Sein Werk ist — wenn es auch Fehler hat — die Arbeit eines auf dem Niveau seiner Zeit stehenden, ernsthaften Gelehrten. Als literarisches Werk ist es auch verstümmelt eine der schönsten und abgerundetsten Schöpfungen der lateinischen Geschichtsschreibung des Mittelalters. Der Anonymus war ein ernster Geschichtsgelehrter und ein künstlerisch veranlagter Schriftsteller, der über eine gute Feder verfügte. Diese Worte verstehen sich im Sinne des 12. Jahrhunderts. In diesen Eigenschaften, die zu seiner Zeit für ausgezeichnete Tugenden gehalten wurden, lagen auch seine Fehler, welche man ihm so oft und in übertrieben großem Maße zum Vorwurf machte.

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Mit dem unbekannten Notar König Bêlas und der im Jahre 1192 gelegentlich der Heiligsprechung geschriebenen Legende des hl. Ladislaus schließt die erste Epoche der ungarischen nationalen Geschichtsschreibung ab, die zur Zeit der ersten Legendenschreiber der Hofkaplan des hl. Ladislaus mit seinem Werk „Gesta Ungarorum" eröffnete. Von Ladislaus dem Heiligen bis zu Béla III. finden wir am Hofe sämtlicher Könige Ungarns den im Mittelalter bei keinem großen Regenten fehlenden Hofgeschichtsschreiber. Und diese Geschichtsschreiber, besonders der Hofkaplan des hl. Ladislaus und der Notar Bêlas III., sind würdige Gefährten der besten Historienschreiber des Mittelalters. In Sachen der objektiven Verläßlichkeit bleiben sie hinter den die geschichtlichen Ereignisse trocken aufzeichnenden, langweiligen Chronisten und Annalisten zurück, doch sind sie starke schriftstellerische Persönlichkeiten, welche die Auffassung ihrer Zeit und den im 12. Jahrhundert am ungarischen Hof unter der Einwirkung der französischen Kultur entstandenen literarischen Geschmack getreu zum Ausdruck bringen. Ihre Tätigkeit und außerdem der nicht genügend betonte Umstand, daß in den imgarischen Klöstern die in Deutschland übliche Sitte des Annalenund Chronikenschreibens partikulären Gepräges niemals tiefe Wurzeln fassen konnte, ist ein klarer Beweis dafür, daß die ungarische Kultur der Ârpâdenzeit nicht in bloßer Abhängigkeit von der deutschen Kultur stand. Am Anfang des 11. Jahrhunderts kamen intensive bayrische Kultureinwirkungen zur Geltung, wie auch in den späteren Jahrhunderten ungarischer Geschichte der deutsche Geist oftmals den ungarischen Boden mit seiner Kraft befruchtete. Doch gab es in unserer Geschichte lange Epochen, wo wir neben der deutschen Einwirkung unter Verdrängung derselben unmittelbar mit der französischen und italienischen Kultur in Berührung kamen. Diese westlichen — deutschen, französischen, italienischen — Kultureinflüsse formten die alte heidnische ungarische Kultur um, ihre Aufnahme gab dem ungarischen Geiste die Möglichkeit, eine mit den westlichen Kulturen sich in vielen Punkten berührende, aber dennoch individuelle, eigenartige nationale Kultur zu schaffen. Die ersten reifen Früchte dieser christlichen ungarischen Kultur, die die westlichen Kulturelemente in sich aufgenommen hatte, waren auf literarischem Gebiet die Werke der königlichen Hofgeschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts.

WIRTSCHAFTLICHE U N D SOZIALE

ENTWICKLUNG

Mit der seelischen Gewalt und kulturellen Macht der Kirche wuchs im 12. Jahrhundert auch ihre wirtschaftliche Kraft. Die ungarische Kirche wurde schon durch ihren Gründer mit großen Liegenschaften ausgestattet und dieses Vermögen vergrößerte sich während zweier Jahrhunderte durch die Schenkun-

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gen der Könige und eifrigen Gläubigen. Das Vermögen, das den wirtschaftlichen Verhältnissen der Zeit entsprechend aus Knechten, Freigelassenen, steuerzahlenden und lehnspflichtigen Freien bestand, war im ganzen Lande verstreut. Ein und derselbe Kirchenbesitz hatte in weit voneinander liegenden Ortschaften und Gegenden sein Dienstvolk, seine Viehherden und seine Einnahmen. Die zerstreute Lage machte eine zweckmäßige Verwaltung und machtvolle Organisation unmöglich und gefährdete sogar den Besitzstand. Deshalb strebten der hohe Klerus, die Klöster und Kapitel danach, ihre Besitztümer zu stabilisieren und auszudehnen. Durch neue Donationen, Tausch, Kauf, ja sogar auf dem Wege der Beschlagnahme erwerben sie die mit ihrem Knechtsvolk in Ortsgemeinschaft und Nachbarschaft lebenden Hörigen des königlichen und privaten Grundbesitzes als Eigentum, sie formieren ihre zerstreuten Besitztümer zu einem geschlossenen Besitz. Diesen Hergang veranschaulichen die seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts immer häufiger vorkommenden urbariumartigen Besitzkonskriptionen. Der Martinsberger Konskription des hl. Ladislaus und dem Verzeichnis des königlichen Dienstvolkes zur Zeit Kolomans folgen die durch königliche Bestätigung beglaubigten Konskriptionen der Veszpremvölgyer, Dömöser, Bozöker, Bakonybeler, Weißenburger, Fünfkirchner und noch anderer Kirchen, welche dann im 13. Jahrhundert durch neue Konskriptionen, welche auch die neuen Erwerbungen umfassen, ersetzt wurden. Der Prozeß der Entwicklung des Großgrundbesitzes der Kirche gelangte bereits am Anfang des XIII. Jahrhunderts zum Abschluß und dieser zum Teil aus königlichen Donationen, zum Teil aus den Schenkungen der Gläubigen und durch Kauf erworbene Besitz wurde zur wirtschaftlichen Grundlage der militärischen Kraft des ungarischen hohen Klerus, seiner politischen Macht und seiner privilegierten Lage. Das Anwachsen der wirtschaftlichen Macht zog naturgemäß die Entwicklung des hohen Klerus zu einem Landstand im öffentlich-rechtlichen Sinne nach sich, deren erste Anzeichen sich schon zeigten. Zur gleichen Zeit begann auch die Herausbildung der übrigen Klassen der späteren Gesellschaft. Die Scheidewand, welche die beiden Schichten des grundbesitzenden Adels — die eine, deren Grundbesitz bis auf die Landnahme zurückging, und die andere, die sich aus den Großen und Beamten des Königs gebildet hatte — trennte, fiel bereits am Ende des XI. Jahrhunderts, als Koloman die von Stephan dem Heiligen stammenden Donationsgüter als einen den Altbesitzungen rechtlich gleichwertigen, von Zweig auf Zweig vererbbaren Geschlechtsbesitz anerkannte. Im 12. Jahrhundert wächst die Zahl der das Indigenat erlangenden Geschlechter ständig. Die in Begleitung der fremden Königinnen und aus politischen Gründen nach Ungarn gekommenen deutschen, französischen, italienischen Ritter und Krieger fanden am königlichen Hof offene Türen, und wenn sie einen Beweis ihrer Treue ablegten, kamen

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sie auch bald zu Donationen und Würden. Ihre Familien vermehrten die Zahl der ungarischen Geschlechter, weil die Rechtsgewohnheit des XII. Jahrhunderts die gesetzlichen Bestimmungen, welche die Donationen Kolomans und der späteren Könige auf die direkte Linie beschränkten, außer Kraft setzte. Die von Einwanderern abstammenden großen Grundherren, die sich mit dem landnehmenden Adel verschwägerten und vermischten, bilden den alten ungarischen Geschlechtsverbänden ähnliche Verwandtschaftsgemeinschaften. Sie genießen ihren Donationsbesitz als ein in der Sippe sich von Zweig auf Zweig vererbendes Vermögen, und selbst der König erkennt die verpflichtende Kraft dieser Rechtssitte an. Stephan II. muß es dulden, daß die Nachkommen der donationsbesitzenden Indigenen und Hofbeamten die Einlösung der Verpflichtung zur Teilnahme am Kriege, die auf jedem Donatär lastete, verweigerten. Béla II. überprüft und bekräftigt auf Grund des Geschlechtsbesitzrechts die Donation und die Klostergründung eines Mitgliedes des zur Zeit Peters eingewanderten Gut-Keled-Geschlechts. Die über Großgrundbesitz verfügenden Nachkommen des landnehmenden und des Donationsadels — die Nobiles — verschmelzen zu einer einheitlichen Klasse und sonderten sich, an Vermögen zunehmend, immer mehr von den ärmeren Freien ab. Mit der langsamen Herausbildung des Großgrundbesitzadels, parallel zu dem Erscheinen der ersten Keime des späteren Hochadels, beginnen sich die Umrisse der späteren Klasse des Kleinadels abzuzeichnen. Der königliche miles und minister, die Klasse der kleinen Lehnsleute, wird durch neue Elemente, die aus den niederen Schichten und aus den Reihen der verarmten Mitglieder der Geschlechter „in des Königs Haus und H o f " — wie die amtliche Formel es nennt: in domo vel in aula regis — aufgenommen wurden, vermehrt; sie verdichtet sich zu der volksreichen Klasse der unter dem Banne des Königs zu Kriegsdiensten verpflichteten servientes regis oder „dem König dienenden" Kleinadligen. Die Freiheit der königlichen Servientes war eine Adelsfreiheit, jedoch unterschied sie sich trotzdem von der vollen Freiheit der in Sippenverbänden lebenden Adelsherren. Ihre Kriegsverpflichtung war ähnlich der des höheren Adels persönlicher Natur und nicht an den Besitz gebunden. Den lehensrechtlichen Ursprung ihrer Klasse verrät jedoch ihr Name „serviens", d. h. „Diener", „Bediensteter", und ihr Erbrecht. Gegenüber dem Adelsbesitz, der im Rahmen des Geschlechts von Zweig zu Zweig vererbt wird, wird der aus zwei bis drei Pflug Landes (aratra) bestehende Besitz der Servientes wie früher jedes Lehensgut nur in gerader Linie vererbt und in Ermanglung eines männlichen Nachkommen fiel der Besitz nach Wegnahme des Tochterviertels an den König zurück. Diesen Zustand hob erst die Goldene Bulle des Jahres 1222 auf, indem sie den königlichen Servienten, die keine männlichen Nach-

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kommen hatten, freies Verfügungsrecht über ihr Besitztum gab, und wenn kein Testament vorhanden war, die gesetzliche Nachfolge der Verwandten der Seitenlinie festsetzte. Die Verschiedenheiten der Erbrechte zogen noch eine scharfe Grenzlinie zwischen dem nach dem Sippenrecht lebenden Besitzadel und den königlichen ministri oder servientes, welche im Gegensatz zu den großen Grundherren, die unter der unmittelbaren Gerichtsbarkeit des Königs und der Synode standen, unter die Gerichtsbarkeit der Komitatsgespane und Komitatsrichter gehörten. Die Nachkommen der milites castri des 11. Jahrhunderts, „die Burguntertanen", waren, obwohl sie über alle Erfordernisse der persönlichen Freiheit verfügten, an ihr zum Burgbesitz gehörendes Feld gebunden und gehörten unter die administrative, gerichtliche und militärische Gewalt der Burggrafen. Doch bereits im XII. Jahrhundert begann der langsame Entwicklungsprozeß zum Kleinadel hin. Die erste Stufe war die auf militärische und dienstliche Leistungen zurückgehende allmähliche Vergrößerung des Wohlstandes, die Erwerbung von Lehns-, Servienten- und Adelsbesitz, der von der Burg unabhängig war. Zu besonders hervorragender Rolle gelangten sie in dem später in die Landesorganisation eingegliederten Grenzgebiet. Die endgültigen Grenzen des Königreichs und damit den Rahmen der königlichen Domänen setzten Ladislaus der Heilige und Koloman fest, doch diesen Rahmen füllten erst die Könige des XII. Jahrhunderts aus. Die königlichen Domänen nahmen trotz der Schenkungen von meist unbewohnten und unkultivierten Gebieten, die zugunsten der Kirche und seltener auch zu Gunsten von Laien gemacht wurden, an Umfang ständig zu. Immer mehr bis dahin ungenutztes Gebiet wurde kultiviert. In den Flußtälern drangen zuerst Hirten, die unter königlicher Grundherrschaft standen, später die aus den Reihen der Burgleute der benachbarten Komitate draußen angesiedelten und zu militärischen oder sonstigen Diensten verpflichteten, ackerbautreibenden ungarischen Kleinbesitzer in die Waldgebiete von Sohl, Zips, Sáros, Bereg, Bihar, Siebenbürgen und Slawonien ein. Auf dem grasreichen Gebiet der Flußtäler des Grenzgebietes fanden Tausende von Tieren Nahrung. Auf dem systematisch gerodeten Waldgebiet entstanden blühende Ackerbausiedlungen. Obwohl die in der Nachbarschaft begüterten Sippen hier und da in das Grenzgebiet eindrangen und bestrebt waren, durch langsamen Raumgewinn ihr Besitztum zu vermehren, lebten keine Sippen aus der Zeit der Landnahme in diesen Gebieten und auch die Lehensinhaber beginnen sich erst im 13. Jahrhundert stärker zu vermehren. Das führende Element der Gesellschaft wurde und blieb bis zum 14. Jahrhundert die Militärdienste leistende Schicht der Burgleute. Während im Innern des Landes die königlichen Servientes zum Kern der Klasse des Kleinadels wurden, entwickelte sich hier aus den Reihen der Burgsoldaten — der Siebenbürger und slawonischen Burg-

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leute, der Zipser Lanzenträger (decem lanceati) und der Sohler, Turöczer und Liptauer filii jobbagionum — der Kleinadel. Diese aus den Reihen der Burgleute aufwärtsstrebende Klasse der ungarischen Kleingrundbesitzer organisierte das Grenzgebiet von Oberungarn und Siebenbürgen und schaltete es in den wirtschafdichen Organismus des ungarischen Königreiches ein. Außer ihnen hatten auch die aus dem Westen eingewanderten Ansiedler ihren Anteil an dieser wirtschaftlichen Kulturarbeit. Das große wirtschaftliche Problem des ungarischen Königreiches war von Anfang an die Vermehrung der Bevölkerung. Die ungarischen Könige siedelten seit Stephan dem Heiligen sehr viel Bauern und Hirtenvolk aus Deutschland, Frankreich und Byzanz, die wegen der ungünstigen Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse auswanderten, im Lande an. Dieser Vorgang der ständigen Einwanderung erreichte um die Mitte des 12. Jahrhunderts seinen Höhepunkt, als während des zweiten Kreuzzuges durch die durchziehenden deutschen und französischen Heere bekannt wurde, wieviel unausgenutztes, zur Bebauung geeignetes Land in Ungarn vorhanden sei und wie gern man hier fremde Ansiedler sähe. Während der Regierungszeit Gezas II. wanderten aus der Rheingegend und aus Flandern ganze Scharen von Moselfranken, Flamen und Wallonen nach Ungarn. Ein großer Ansiedlerzug fand in Siebenbürgen auf dem Gebiet zwischen dem Maros- und dem Oltfluß auf dem Königsboden eine neue Heimat in der Nachbarschaft der Szekler und der über das Fogarascher Gebirge schon seit etwa hundert Jahren langsam einsickernden walachischen Hirten. Eine andere größere deutsche Ansiedlerschar ließ sich nicht viel später in den Wäldern der Zips nieder. Beide Ansiedlergruppen bekamen ihren eigenen alten Rechtssitten entsprechend weitgehende Privilegien und als eine der Komitatsbehörde nicht unterstehende Volksschicht legten sie den Grundstein zu ihrer späteren Autonomie, dem Zipser und Siebenbürger sächsischen Recht. Außer den Ansiedlungen der als Teutonici, Alemanni, ungarisch als „Schwaben" bezeichneten Süddeutschen und der „Saxones" oder „Sachsen" genannten Zipser und Siebenbürger Deutschen entstanden sehr viele kleinere Gastsiedlungen im Lande. Die meisten dieser Gäste — Hospites — waren Deutsche, doch kamen auch ihrer Sprache nach Latini, ungarisch „olasz-Welsche" benannte Franzosen, Wallonen, italienische Welsche, welche zum Unterschied von den anderen Romanen unter dem Namen Lombardi und Italiani, ungarisch „Talj an" erscheinen. Auch kamen vereinzelt tschechische, polnische, russische und kroatische Ansiedler nach Ungarn. Der größte Teil dieser Ansiedler waren ackerbautreibende Bauern, doch waren auch Handwerker und Kaufleute unter ihnen. Diese, die meistens Lombarden und Deutsche waren, ließen sich in den königlichen und in den bischöflichen Residenzen und an verkehrsreichen Orten wie Gran, Stuhlweißenburg, Ofen, Preßburg, Raab, Agram, Nagyolasz nieder. Das 27

Höman,

G e s c h i c h t e des u n g .

Mittelalters

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städtische Element vermehrten auch die in immer stärkerem Maße einwandernden Juden und Ismaeliten. Die in den Städten wohnenden Hospites wurden zum Kern der späteren städtischen Bürgerschaft, während ihre ackerbautreibenden Landsleute im 14. Jahrhundert, mit Ausnahme der Siebenbürger und Zipser Sachsen, die ein der städtischen Freiheit verwandtes territoriales Recht genossen, zusammen mit den anderen der Grundherrschaft unterstehenden Gemeinfreien in der Klasse der Hörigen aufgingen. Die von Osten und Süden her einsickernden nomadisierenden, viehzüchtenden Volkselemente der Petschenegen, Uzen, Rumänen und Wallachen wurden zum großen Teil im Grenzgebiet angesiedelt und ähnlich den Sachsen und Szeklern zum Grenzschutzdienst verwandt. Die Erinnerung an diese Ansiedlungen aus der Zeit der Árpáden bewahren die Ortschaften Németi, Olaszi und Wallendorf, Csehi, Polyán und Lengyel, Horváti, Oroszfalu, Besnyö, Uzon und andere Dörfer ähnlichen Namens. Außer den Militärdienst leistenden, Steuern und Grundzins zahlenden Volkselementen wuchs auch die Zahl des unfreien Volkes infolge der natürlichen Vermehrung, der Aufnahme von Kriegsgefangenen und durch Kauf. Auf diesem Wege kamen besonders slawische Ansiedler aus Böhmen, Mähren, Polen und den russischen Gebieten in größerer Anzahl in das Land, welche dann später, je nachdem in welchem Gebiet sie sich niederließen, von den Slowaken in Oberungarn oder den Ungarn im Tiefland aufgesaugt wurden. Auf den königlichen Domänen beginnt bereits der Prozeß der Vereinheitlichung der je nach der Art der Herrendienste und der Last der Verpflichtungen in zahlreiche Schichten gegliederten halbfreien und unfreien Bevölkerung, der dann mit der Ausbildung der Klasse der Leibeigenen nach zwei Jahrhunderten seinen Abschluß fand. Der Hofdienst und die hausgewerblichen Lieferungen der auf den königlichen Domänen lebenden Hofleute (udvornici) verlieren ihre Bedeutung, weil sie bei dem gesteigerten Luxus und höfischen Pomp den Geschmack und die Ansprüche des Hofes nicht mehr befriedigen können. Die Industrieartikel werden von den nun in der Residenzstadt ansässigen, berufsmäßigen Gewerbetreibenden und Kaufleuten erworben. Die Wochenbediensteten werden surch ständiges Hofgesinde abgelöst. Nur auf solche Dienste wird noch weiter Anspruch erhoben, welche man auch unter den veränderten Verhältnissen in die Hofhaltung einfügen konnte. Die zu solchem Dienst verpflichteten Schichten — die Magazinverwalter (tavernici), d. h. die Personen, die die königlichen Vorräte hüten und die eingebrachten Erzeugnisse betreuen, später auch finanzielle Funktionen ausüben mußten, die Reitknechte, Mundschenke, Speisenträger — werden aus den Hofdienstpflichtigen ausgesucht und je nach der Art ihrer Dienstleistung eingeteilt. An ihre Spitze kommen unter Béla III. nach französischer Sitte Hofoberbeamte, die den Titel Magister führen: der Schatzmeister, der Marschall, der

Die königlichen Finanzen

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Mundschenk und der Truchseß. Das übrige hofdienstpflichtige Volk wird zu einer Ackerbau treibenden Schicht, die einen Teil ihrer Produktion abliefern muß. An der Spitze dieser Wirtschaftsverwaltung stand seit Stephan II. der königliche Hofgespan — comes curiae regis — als der ständige Vertreter des Palatins. Den Palatin nimmt in dieser Zeit bereits vollkommen die Regierung des Landes, das Kriegswesen und das Richteramt in Anspruch, und mit der Vermehrung der Rechtsprechungsangelegenheiten wird auch das Amt des Hofgespans immer mehr zu einer richterlicher Funktion. Die zu landwirtschaftlichen Arbeiten und Abgaben verpflichteten udvornici werden bezirksweise je einem Comes udvornicorum unterstellt. Im Rahmen der durch die Einbeziehung der Peripherie mächtig angewachsenen Hofwirtschaft entstehen geschlossene Gebietseinheiten bildende wirtschaftliche Verwaltungsbezirke, die sich von dem charakteristisch militärischen Gepräge der Komitate freihalten, so die Piliser, Bakonyer, Sohler, Zipser, Bereger und Pozegaer Waldgespanschaften und die Udvornici-Gespanschaften der Schütt-Insel und von Csepel-Solt. Mit dem Ausbau des neuen Systems und der Dezentralisation der Hofwirtschaft macht auch auf dem Königsbesitz die auf persönlichen Bindungen beruhende Wirtschaftsstruktur des 11. Jahrhunderts der territorial bestimmten Wirtschaftsorganisation Platz. Der Rahmen der Wirtschaft wurde auch hier wie bei dem kirchlichen Besitz der abgerundete, eine geschlossene Einheit bildende Grundbesitz, welcher nach einem Jahrhundert notwendigerweise die Zersetzung der auf persönlichen Bindungen aufgebauten königlichen Burgbesitzorganisation nach sich zog und die territoriale Organisation der Verwaltung und der adligen Gesellschaft, die Ausgestaltung des eine geschlossene geographische Einheit bildenden adligen Komitats mit sich brachte. Die aus verschiedenen Elementen zusammengesetzte heterogene Gesellschaft des 11. Jahrhunderts machte im 12. Jahrhundert im rechtlichen und wirtschaftlichen Sinne homogeneren Gesellschaftsklassen Platz und es beginnt bereits — wenn auch langsam — die Entwicklung der Klassen zu Landständen. Am klarsten sind die Umrisse des Standes der hohen Geistlichkeit zu erkennen. Doch sehen wir auch schon die Umrisse der Klassen des Hochadels und Kleinadels, der Bürgerklasse und der einheitlichen leibeigenen Bauernklasse sich abzeichnen. Die Vorzeichen von großen und tiefgehenden Wandlungen künden sich an, doch ist ihre politische Wirkung noch nicht fühlbar. Die Änderung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse berührte noch in keiner Weise die starke Zentralgewalt des christlichen Königreichs des Mittelalters. DIE KÖNIGLICHEN FINANZEN Mit der Vermehrung des königlichen Besitzes und der Zunahme des Volkes wuchsen im direkten Verhältnis der Staatshaushalt bzw. die Einnahmen des 27*

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Die königlichen Finanzen

damit gleichbedeutenden königlichen Haushalts. Der Staatshaushalt beruhte auch im 12. Jahrhundert noch auf dem königlichen Domanialbesitz. Die Aufrechterhaltung der Landesverwaltung und des Heeres legte dem Staatshaushalt unmittelbar keinerlei Lasten auf. Den größten Teil des königlichen Heeres bildeten die Abteilungen der Hofund Burgkrieger und die Aufgebote der zu Militärdienst verpflichteten Ansiedler, der Szekler und Petschenegen. Diese bekamen keinen Sold und keine Bezahlung. Durch ihr Besitztum waren sie zur Dienstleistung verpflichtet. Nur in Kriegszeiten hatten sie ein Anrecht auf Verpflegung, welche sie sich innerhalb des Landes durch Einquartierung und im Ausland durch Plünderung und Brandschatzung erwarben. Die größeren Donationsbesitzer verpflegten ihre Soldaten selbst. Die Führer — der Palatin und die Burggespane — bezogen für ihre militärische und richterliche Funktion und ihre Verwaltungstätigkeit keine besondere Bezahlung. Der ihnen zukommende dritte Teil aus den Einnahmen des königlichen Besitzes ersetzte ihnen reichlich die Bezahlung der späteren Zeiten. Die Beamten niederen Ranges hingegen — der Hadnagy, Värnagy und die übrigen — bekamen ihre Bezahlung bzw. einen bestimmten Teil ihres Einkommens von ihrem Gespan. Nur die Hofhaltung und die damit verbundenen Ausgaben außenpolitischen Charakters, dann später die Erhaltung des Söldnerheeres belasteten den Staatshaushalt. Diese Ausgaben begannen im 13. Jahrhundert mit dem Glanz der Hofhaltung und der beginnenden Eroberungspolitik des Hofes einerseits, anderseits wegen der Aufrechterhaltung eines ständigen Söldnerheeres seit Stephan II. gewaltig anzuwachsen. Neben den Naturaleinnahmen der Privatwirtschaft wurde der Bedarf an Gold, Silber und Bargeld immer größer und die ungarischen Könige verschafften sich dies durch die Steigerung der Regaleinkünfte. Die auf Grund des königlichen Hoheitsrechts erhobenen Regaleinkünfte hatten früher im Staatshaushalt kaum eine Rolle gespielt und hatten neben den Naturaleinkünften des Burgbesitzes und der Hofwirtschaft kaum Bedeutung. Die Regalrechtgebühren, der Gewinn der Geldeinwechslung, der Zoll, Hafen- und Marktgeld, die Kopfsteuer der Gemeinfreien waren ursprünglich zur Deckung der Ausgaben für die Geldprägung, das Marktabhalten, zur Aufrechterhaltung der Straßen und Häfen, des Fremdenschutzes und zur Deckung der mit der Ausübung des Hoheitsrechtes verbundenen Ausgaben vorgesehen, deshalb war die Einnahme sehr gering. Mit den erhöhten Luxusansprüchen und den Erfordernissen des Kriegswesens jedoch begannen die Könige nach westlichem Muster die Regalrechte zu finanziellen Zwecken auszunutzen und zu einer Geldquelle zu entwickeln. Als erstes wurde das Hoheitsrecht der Geldprägung zu einer finanziellen Einnahmequelle gemacht. Seine intensive Ausnutzung begann bereits um die Mitte des 11. Jahrhunderts und wurde am Ende des Jahrhunderts zum System. Die Herrscher gaben jedes zweite Jahr, seit Béla II. jährlich, neues Geld

Die königlichen Finanzen

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heraus, dessen Verkehrswert sich von Tag zu Tag verringerte und nach einem Jahr mit fünfzig Prozent Einwechslungsprämie belastet aus dem Verkehr gezogen wurde, also mit halbem Wert zur Zwangseinwechslung kam. Die Gebühren der Geldeinwechslungsprämie verwandelten sich zu einer ohne jeden Gegendienst gezahlten drückenden Steuer. Zur Erhöhung des Einkommens der neuen Steuer — des lucrum camerae — verminderte bereits Stephan II., aber besonders Béla II. das Gewicht und den Silbergehalt des Geldes. Als Ergebnis der allmählichen Geldentwertung verminderte sich der reine Silbergehalt des ungarischen Geldes nach kaum einem Vierteljahrhundert auf ein Zwölftel. Das Gewicht von 0,3991 Gramm reinen Silbers, das Kolomans letzte und Stephans II. erste Denare gehabt hatten, sank auf 0,0327 Gramm, im Wert — nach der Goldkrone gerechnet — von 13 Heller auf 1 Heller. Durch die verhältnismäßig große Geldentwertung vergrößerte sich der Münzprägungsgewinn des Ärars wesentlich, hingegen ging der Kredit des Geldes verloren und sein Umsatzwert wurde devalviert. An Stelle des entwerteten königlichen Geldes begann man ungemünztes Silber nach Gewicht als Zahlungsmittel zu verwenden und die Herrschaft der ungemünzten Silbervaluta führte zur Verminderung des Geldeinwechslungsgewinnes. Die Schatzkammer Bêlas II. kämpfte deshalb — nach dem Zeugnis ihrer konsequenten Geldentwertungsmanipulationen — oft mit Geldverlegenheiten, doch Géza II. stellte das finanzielle Gleichgewicht wieder her. Er verbesserte den Münzfuß und brachte 0,144 Gramm gediegenes Silber enthaltende Denare im Werte von 5 Heller in den Verkehr. Nach einer etwa 20 jährigen Stabilität der Valuta betrat Béla III. den Weg der allmählichen Geldverbesserung, und am Ende seiner Regierungszeit brachte er bereits Denare mit 0,456 Gramm reinem Silbergehalt im Werte von 15 Heller in den Verkehr. Mit der Wiederherstellung des Kredits des königlichen Geldes vermehrten sich wieder die aus dem Gewinn der Kammer einlaufenden Einkünfte. Infolge der Einwanderung der ausländischen Ansiedler vermehrten sich die Einkünfte aus der von den freien Bauern und Ansiedlern erhobenen Kopfsteuer der „freien Denare" und die Einnahme aus der in Slawonien üblichen marturina, der „Marderfell-Steuer". Im 12. Jahrhundert beginnt man auch das Zoll- und Marktregal intensiver auszunutzen. Im ganzen Lande werden neue Binnenzölle und Flußgelder erhoben, und der durch die Kreuzzüge und Ansiedlungen entstandene lebhafte Verkehr führte zur Errichtung neuer Marktplätze. Zu den in fixen Sätzen festgesetzten Binnenzöllen kommt während der Regierungszeit Bêlas III. der Grenzzoll, der ein Achtzigstel des Wertes der Ware ausmacht. Dieses „Achtzigstel" bedeutet einen Wendepunkt in der Zollgeschichte. Der innere Zoll war eine Gebühr, weil sein Entrichter einen Gegenwert in der Benutzimg der durch den König aufrechterhaltenen Straßen, Brücken, Wasserverkehrsmittel und Marktplätze erhielt. Der Grenzzoll ist schon gleich-

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Die königlichen Einkünfte

bedeutend mit der Besteuerung der ausländischen Waren ohne jede Gegenleistung, weil der Gegenwert fiktiv ist. Er wird für die Bewilligung des freien Handels auf dem Gebiete des Landes bezahlt, was früher auch ohne Bezahlung des Zolles möglich war. Der Zoll, das Fährwesen und der Markt waren wie das Geldprägen ein ausschließliches Regal. Der Prozeß der Regalverleihungen, der sich im Westen bereits seinem Ende näherte, hatte noch nicht begonnen, und Otto von Freising, der in der Begleitung des Kaisers Konrad in Ungarn gewesen war, konstatierte mit einigem Neid, daß auf „solch großem Gebiet außer dem König niemand das Recht hätte, Geld zu prägen oder Zölle zu erheben". Das Bergregal war auch schon in der Entwicklung, doch die Ausbeutung der Erzbergwerke geschah noch im Rahmen der königlichen Privatwirtschaft. Nur die auf eine Jahrhunderte alte Vergangenheit zurückblickenden Salzbergwerke standen unter einer besonderen Kammerverwaltung. DIE KÖNIGLICHEN

EINKÜNFTE

Die Regalrechte waren am Ende des 12. Jahrhunderts für den Staatshaushalt eine den Dominien fast gleichwertige Einnahmequelle. Über ihren Ertrag sowie überhaupt über die Einnahmen des Königs gibt uns ein unter den Akten des englisch-normannischen königlichen Hauses in England erhaltener und von dort im 17. Jahrhundert nach Paris gekommener zeitgenössischer Ausweis einige Auskunft. Seine Entstehung hängt mit der zweiten Heirat Bêlas III. zusammen. Béla erbat im Jahre 1185 die Witwe des englischen Thronfolgers Heinrich zur Frau. Margarete Capet verzichtete durch ihre neue Heirat auf einen aus der Schenkung des englischen Königs stammenden ansehnlichen englischen und französischen Besitz für eine verhältnismäßig geringe Jahresrente von 275Ò Pfund. Deshalb wollten der englische Hof und auch sie selbst sich über die Vermögenslage und die Einnahmen ihres zukünftigen Gemahls orientieren. Der Ausweis zählt zunächst die Länder Bêlas auf: Ungarn, Kroatien, Dalmatien und Rama, dann die gesamten Diözesen des Mutterlandes und die dalmatinischen Erzbistümer, bei allen wird angemerkt, wieviel Jahreseinkommen sie — unter dem Titel des ihnen aus den königlichen Einkünften zukommenden Zehnten — vom königlichen Hofe bezogen. Danach folgt die Aufzählung der königlichen Einkünfte. Charakteristisch ist, daß auch ein Drittel der Komitatseinnahmen in Geld ausgedrückt ist; daraus geht hervor, daß die Burggespane in dieser Zeit von den unter ihrer Verwaltung stehenden Gebieten ein Drittel der Naturaleinnahmen bereits in Geld einzahlten, während das dem König gebührende zweite Drittel in der Burg aufbewahrt und verwendet wurde. Diese in Naturalien einkommende Quote und die Einnahmen der Erzeugnisse der Hofwirtschaft werden im Ausweis nur allgemein

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Die königlichen Einkünfte

aufgeführt, es heißt hier, daß „darüber hinaus das Volk des Landes den König vollkommen versieht". Doch können wir ihren Wert aus dem Gesamtbetrag der an den hohen Klerus gezahlten Zehnten feststellen. Die hohe Geistlichkeit bekam 24,100 Mark Silber oder 1 475 667 Goldkronen vom König unter dem Titel eines Zehnten. Ein Viertel dieser Summe — ein Zehntel der Münzprägungseinnahmen — erhielt der Erzbischof von Gran. Der Erzbischof von Kalocsa bekam 2500, der Bischof von Erlau 3000, der Bischof von Csanäd und von Siebenbürgen je 2000, der Veszpremer 1700, der Fünfkirchner und Agramer je 1500, der Raaber und Wardeiner je 1000, der Waitzener 700 und der Neutraer 300 Mark Silber, während auf den Bischof von Zara nur 500 und auf den von Spalato nur 400 Mark kamen. Die Bargeldeinnahme des Königs war 166000 Mark Silber. Sein Naturaleinkommen — so scheint es — schätzte man auf 75000 Mark, weil die unter dem Titel des geistlichen Zehnten ausbezahlte Summe einem königlichen Gesamteinkommen von 241000 Mark Silber, d. h. einem Einkommen von 17756972 Goldkronen im heutigen Geldwert entspricht. Diese Summe verteilt sich folgendermaßen auf die verschiedenen Einnahmezweige: Silbermark Goldkrone Die Naturalieneinkünfte der königlichen Privatwirtschaften (Hofwirtschaften) 75 000 4 592 418,75 Das in Geld eingezahlte Drittel der Einkünfte der 72 Komitate, (die freien Denare und die Einnahmen aus den Bergwerken und Geschenken miteingerechnet) 35 000 2 143 128,75 Einkünfte als Slawonien 10 000 612 322,50 Einkünfte aus Siebenbürgen 15 000 918 483,75 Münzprägungsgewinn 60 000 3 673 935,— Einkünfte aus den Zöllen, Flußgeldern und Märkten 30 000 1 836 967,50 Einkünfte aus der Salzgewinnung 16 000 979 716,— 241 000

14 756 972,25

Diese Summe kann mit den Einkünften des reichsten und vornehmsten der damaligen Herrscher in Wettbewerb treten. Das Jahreseinkommen des englischen Königs Richard Löwenherz (1189—1199) war 49 000 kg gediegenes Silber gegenüber den 45 000 kg des Königs Béla. Die Einnahme aus der Privatwirtschaft des hl. Ludwig, des Königs von Frankreich, betrug im Jahre 1238 fünf Millionen Goldfrank, während die Summe der gleichen Einnahmen Bêlas acht Millionen Goldkronen überschritt. Das Vermögen und das Einkommen des Königs von Ungarn stand also mit dem der englischen und französischen Könige auf gleicher Höhe und folgt mit ihnen zusammen gleich nach den Einkommen der beiden Kaiser.

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Glänzende Hofhaltung GLÄNZENDE

HOFHALTUNG

Die Vermehrung des Einkommens des königlichen Haushaltes kam in dem wachsenden Prunk des Hofes zum Ausdruck. Die um den König versammelten adligen Herren trugen noch „einen Stuhl mit sich" und auf diesem „hielten sie ihre Verhandlungen und Beratungen über den Zustand des Landes" mit ihrem Fürsten ab. Béla III. hielt von seinen Gespanen und Hofleuten umgeben „unter einer Eiche sitzend" auf der Kurie des Gespan Szene Gericht, doch seine Burg in Gran, die er nach westlichem Muster ausgestattet hatte, wurde die Residenz eines glänzenden Hofes. Ihre Kostbarkeiten haben sogar die Aufmerksamkeit der an kaiserlichen Prunk gewöhnten Kreuzfahrer erregt und die Begleitung Friedrich Barbarossas konnte bereits die Maße, Formen und Schönheiten der durch die Arbeit französischer und ungarischer Baumeister und Steinmetzen errichteten neuen monumentalen Kathedrale und des Palastes bewundern. Erzbischof Job und König Béla hatten schon vor zwei bis drei Jahren an der Stelle der im Jahre 1185 abgebrannten Basilika und des in der Nähe stehenden einfachen königlichen Wohnsitzes mit den Bauarbeiten einer neuen prunkvollen Kirche und des Palastes begonnen. Die monumentalen Gebäude und die mit ihnen zu gleicher Zeit erweiterten, umgebauten oder neuerbauten Kirchen von Stuhlweißenburg, Kalocsa, Siebenbürgisch Weißenburg (Karlsburg), ferner die ersten Kirchen der seit 1178 aus Frankreich hierher gekommenen Zisterzienser und Prämonstratenser sowie die Kirchen der Benediktiner von Vérteskeresztur, Lébény und Jäk waren in Ungarn die ersten Werke des nach französischem Vorbild entstandenen neuen Stils der romanischen Baukunst. Das Zusammentreffen der romanischen Baukunst mit dem in Ungarn seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts verwurzelten lombardisch-italienischen Basilikabau führte meistens dazu, daß an vielen Stellen Bauwerke in einem gemischten Stil entstanden. Die während der Türkenkriege unter einem Erdhügel verschütteten Überreste des Palastes in Gran, welche jetzt aufgedeckt wurden, zeigen uns in voller Schönheit und Reinheit die romanische Kunst der französischen und ungarischen Baumeister und Steinsetzmeister. Sie sind beredte Zeugen des entwickelten künstlerischen Gefühls und des vornehmen Luxus des im Prunk des byzantinischen Hofes und der französischen Kultur erzogenen Königs Béla. In dem Palast, der auch den verwöhntesten Ansprüchen der westlichen Höfe entsprach, errichtete sich Béla eine seiner eigenen Machtstellung und dem feinen Geschmack der gerade in dieser Zeit vom englischen Hof als Königin nach Gran gekommenen französischen Königstochter Margarete Capet würdige Wohnstätte. Doch sorgte er auch dafür, daß er sich nach der beliebten königlichen Zerstreuung, nach der Jagd, in einem würdigen Rahmen unterhalten und ausruhen konnte. „In der Stadt Attilas" — wie man das heutige Altofen zu jener Zeit nannte —

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Bild i .

Eingang zur Sakristei der Burgkapelle von G r a n . 1 1 8 5 — 1 1 9 5 (aus Gerevich T i b o r : Die romanischen Denkmäler Ungarns [ung.], T a f e l X X I ) .

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Bild 2. Portal der kgl. Burg von Gran.

Die Hofkanzlei

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auf der Insel Csepel, im Bihargebirge und auch anderswo läßt er Jagdschlösser bauen. Neben der Hauptzerstreuung des alten ungarischen Lebens, der Jagd, wird seit Géza II. das nach französischer Art veranstaltete Ritterturnier auch in Ungarn heimisch. Béla III. verdoppelt das traditionelle apostolische Kreuz, indem er damit die Gleichstellung mit dem Kaiser von Byzanz symbolisiert, und läßt das Doppelkreuz als Landeswappen nach westlicher Sitte in einen Schild fassen. Gelegentlich seines Kreuzzugsgelübdes schuf er — nach der Sitte der Führer der Kreuzzüge — ein Familienwappen. Das neue Wappen war ein neunmal in rote und silberne Streifen geteilter Schild. Von den fünf geradzahligen Streifen waren in den beiden ersten je drei, im dritten zwei Löwen, im vierten ein nach rechtschreitenderLöwe. Andreas II. ließ die zwei unteren Streifen weg; zur Zeit Bêlas IV. hingegen verschwinden auch die Löwen. Bei Festlichkeiten versehen Hofbeamte und Ritter den Dienst um den König und die Zahl der Hofwürden vermehrt sich. Neben den Bischöfen, Burggespanen und dem Palatin tauchen schon am Anfang des Jahrhunderts der Banus von Slawonien und der Woiwode von Siebenbürgen auf, zur Zeit Stephans II. der königliche Hofgespan, der Vorgänger des Landesrichters. Zur Zeit Bêlas III. entstehen die neuen Ämter des Schatzmeisters, Stallmeisters, Mundschenks und Speisenträgers, des späteren Tafelmeisters. Mit ihnen war die Körperschaft der königlichen Oberbeamten — der späteren Landesbarone und Bannerträger — vollständig. DIE

HOFKANZLEI

Mit der Erweiterung des Rahmens der Hofhaltung kam auch die Aufstellung der ständigen königlichen Kanzlei, die nach dem Tode des hl. Stephan aufgelöst worden war, an die Reihe. Bis zur Regierungszeit Stephans II. stellten die in geringer Zahl ausgestellten königlichen Urkunden ad hoc betraute kirchliche Personen, seit Ladislaus dem Heiligen in der Regel Hofkapläne aus. Zur Zeit Bêlas II. ist bereits die Körperschaft der Kapläne, die königliche Kapelle, als ständige Kanzlei unter der Führung eines hohen Geistlichen, der die Würde eines comes capellae innehat, tätig, obwohl eine systematische Kanzleiorganisation noch nicht vorhanden ist. Das allmähliche Verschwinden der Person des Königs aus der persönlichen Rechtshandhabung, die Änderung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, das Überhandnehmen des Urkundenbeweises, ziehen die Einführung des schriftlichen Verfahrens nach sich. Béla III. verfügte nach dem Zeugnis einer im Jahre 1181 ausgestellten Urkunde, daß von jeder vor ihm und an seinem Hofe verhandelten Angelegenheit und von jedem Rechtsakt ein schriftliches Zeugnis, eine Urkunde auszustellen sei. Aus diesem Grunde organisierte er 1185 ein ständiges Amt in westlichem Sinne, eine Kanzlei. An ihre Spitze stellte er seinen in Paris ausgebildeten ausgezeichneten Hofgeistlichen, den Ofener Propst Adorian, als Kanzler, wel-

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Das Heer / Die königliche Macht

chen im Jahre 1190 der Propst von Weißenburg, Katapän, ablöste. Adorian und Katapän waren die Begründer der ungarischen Kanzleipraxis. Neben dem Kanzler arbeiteten mehrere ständige Notare. DAS

HEER

Die Vermehrung des königlichen Besitzes und seiner Einkünfte führte notwendigerweise zur Verstärkung der militärischen Kräfte. Nach dem vollkommenen Ausbau der Komitatsorganisation standen 72 Komitatstruppenabteilungen ständig zur Verfügung. Auch die Stärke des Heeres des Hofes nahm infolge der Vermehrung der königlichen Bedienten und der zur Stellung von Soldaten verpflichteten Donationsinhaber zu. Auch der kroatische Adel und die angesiedelten Petschenegen und Uzen vermehrten die Stärke der königlichen Streitmacht. Seit Stephan II. wurde es auch üblich, Söldnerheere zu halten. Der König konnte, ohne den Adel unter die Waffen zu rufen, ohne jede Schwierigkeit 40—50000 Mann ins Feld schicken, von denen ein großer Teil schon nach westlicher Art bewaffnete Panzerreiter waren. Die traditionelle leichte Reiterei wurde von den Szeklern, Petschenegen, Uzen und -anderen östlichen Volkselementen gestellt. DIE KÖNIGLICHE

MACHT

Die Vergrößerung der wirtschaftlichen und militärischen Macht war gleichbedeutend mit der Stärkung der politischen Macht des Königs. Das Ansehen der Kirche und ihr politischer Einfluß war seit Koloman im Steigen begriffen. Seine Nachfolger widersetzten sich in der Investiturfrage des öfteren dem Heiligen Stuhl, doch die Energie des Papstes Alexander III. und des Erzbischofs Lukas, die keine Kompromisse kannten, verschafften Kolomans Deklaration von Guastalla Geltung. Geza II. hat kurz vor seinem Ableben verbindlich erklärt, daß „ohne die Autorität und den Rat des Papstes Alexander und seiner Nachfolger" weder ihm selbst noch einem anderen erlaubt sei, einen Bischof zu versetzen oder zu entlassen, noch einem andern erlaubt werde, dies zu tun. Stephan III. bestätigte im Jahre 1169 diese Äußerung seines Vaters und verzichtete auf eine eigenmächtige Entlassung der Äbte und der Pröpste der königlichen Klöster, die seiner Patronatsherrschaft unterstanden, und auf die Verwendung der vakant gewordenen Güter zu Gunsten weltlicher Zwecke oder Personen. Nur für den Fall eines feindlichen Angriffs oder dringender Notwendigkeit behielt er sich das Recht vor, mit der Einwilligung seiner Bischöfe Vermögen oder Einkünfte der Kirche in Anspruch zu nehmen. Die Einigung, die Stephan III. mit dem Heiligen Stuhl erzielte, war ein Schlußstein der Entwicklung, in deren Verlauf die ungarische Kirche zu einer von weltlichem Einfluß unabhängigen politischen Macht wurde und selbst —

Die königliche Macht

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gerade in den ersten Jahren der Regierung Stephans — als der Beschützer der angegriffenen königlichen Macht auftreten konnte. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts war die Kirche noch auf den königlichen Schutz gegenüber den zum Heidentum neigenden Schichten der Ungarn angewiesen, und der zum Schutz des Glaubens und der Moral dem usurpierenden König entgegentretende Bischof Gerhard fiel dem Zorn der aufrührerischen Heiden zum Opfer. Hundert Jahre später konnte das Haupt der ungarischen Kirche bereits allein dem Usurpator, der die Macht im Lande innehatte, gegenübertreten und das dem legitimen König abtrünnig gewordene Volk durch die Macht des Wortes wieder zur Treue ihrem gesetzlichen Herrn gegenüber zurückführen. In dem Erzbischof Lukas verkörperten sich die Ideale Gregors VII., Urbans II. und Alexanders III. Mit ihm und durch ihn wurde die katholische Kirche in Ungarn eine Provinz der allgemeinen christlichen Mutterkirche und zu einem ernsten Machtfaktor. Das Maß ihres Ansehens beleuchtet das Vorgehen Bêlas III., als er dem die Krönung verweigernden Erzbischof Lukas gegenüber nicht zur Gewalt griff, sondern sich den Schutz und die Unterstützung des päpstlichen Stuhles verschaffte. Die Vertreter der hohen Geistlichkeit kamen als die ständigen Mitglieder des königlichen Rates, der gesetzgebenden und der rechtsprechenden Synode zu einer wichtigen Rolle in der Politik wie im öffentlichen Recht; sie wurden ein den Willen des Königs beschränkender Faktor, doch die rechtliche Anerkennung ihrer politischen Macht erfolgte noch nicht. Es kann hierbei keine Rede von einer institutionellen verfassungsmäßigen Beschränkung der königlichen Macht sein, es hat im Gegenteil den Anschein, als ob sich einige Anzeichen einer Rückentwicklung zeigten. Seit dem Tode Kolomans hören wir nichts von einer gesetzgebenden Landessynode. Neben dem König amtiert wieder nur der königliche Rat in seinem alten Wirkungskreis. Die Kirche tritt nur in Ausnahmefällen — so gegenüber den Usurpatoren — mit ihrer ganzen Macht auf, sonst übt sie durch die im königlichen Rat vertretenen Bischöfe ihren Einfluß aus. Der Wille des Königs hatte auch beim wachsenden Einfluß der Kirche die entscheidende und bestimmende Rolle. Ein treffendes Bild seiner unbeschränkten Macht und der doch zugleich auch patriarchalischen Färbung des Königtums zeichnete der Zeitgenosse Gézas II., Bischof Otto von Freising. Nach ihm „verhandeln und beraten die Ungarn die Angelegenheiten des Landes" mit dem König, doch „alle sind sie dem Herrscher so ergeben, daß sie nicht nur das Reizen durch offenen Widerspruch, sondern auch die Beleidigung durch heimliches Flüstern für eine Sünde halten würden. Wenn jemand aus dem Stande der Gespane den König auch nur im geringsten Grade beleidigt oder über ihn ein unwahres oder nur ein tadelndes Wort spricht, wird er von einem vom Hof gesandten Gerichtsdiener niederen Ranges gefangengenommen und im Kreise

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Die Jugend Bêlas III. und seine Thronbesteigung

seiner Anhänger gefesselt und zum Verhör geschleppt. Bei solchen Anlässen verlangt der Herrscher keinerlei Meinungsäußerung von Gleichgestellten, wie das in Deutschland Brauch ist, zur Verteidigung des Angeklagten gibt er niemandem Erlaubnis, sondern allein der Wille des Herrschers schreibt vor, was zu tun ist. Wenn der König sein Heer in den Krieg führen will, vereinigen sich alle ohne Widerspruch wie zu einem einzigen Körper und diejenigen, die zum Ritterstande gehören, wagen nur bei ganz schwerwiegenden Gründen zu Hause zu bleiben." Dem Sohn des deutschen Lehnstaates fiel es auch auf, daß „obwohl das Königreich sich in siebzig oder mehr Gespanschaften gliedert, von jeder Burg zwei Drittel der Einkünfte dem königlichen Schatz gebühren und nur der dritte Teil dem Gespan bleibt und daß in diesem weit ausgedehnten Lande außer dem König es niemand wagt, Geld zu prägen oder Zölle zu erheben". Diese in der Zeit des westlichen Feudalismus ungewohnte Zentralgewalt des ungarischen Königtums war die Grundlage für das seit der Thronbesteigung Ladislaus' des Heiligen fortwährend wachsende außenpolitische Ansehen und die internationale Stellung, die seit Béla III. bereits die Maße einer Großmacht annahm. D I E J U G E N D B Ë L A S III. U N D S E I N E

THRONBESTEIGUNG

Béla war ein 13 jähriger Knabe, als er nach der Bestimmung der Vereinbarung Manuels mit Stephan III. nach Byzanz kam. Seine Vorgänger waren am ungarischen Königshof oder in der patriarchalischen Atmosphäre der slawischen Höfe mit ähnlicher Kultur erzogen worden. Salomon lebte bis zu seinem sechsten Lebensjahr am Hofe des deutschen Kaisers. Béla der Blinde verbrachte seine Kindheit in einem Kloster. Die Söhne Väszolys und Bêlas I. verbrachten ihre Jugendzeit am russischen, polnischen und böhmischen Hof. Béla III. war der erste Herzog aus dem Ârpâdenhaus, welcher an einem Kulturmittelpunkt der Welt, an dem glänzenden Hofe eines der ausgezeichnetsten Herrscher erzogen wurde. Nach dem Hofe Gézas II. und Stephans III., an dem Banus Belos, der tapfere Serbe, später die russische Königinmutter das Steuer der Regierung in den Händen hielt und die höhere Kultur von der ernsten asketischen Gestalt des Erzbischof Lukas vertreten wurde, zauberte der griechische Hof mit seinen glänzenden Zeremonien, seiner fremdartigen Moral und seiner hohen Kultur das leuchtende Bild einer Märchenwelt vor seine empfängliche Seele. In diesem Märchenland fand sich plötzlich der als Barbare betrachtete Jüngling im Mittelpunkt des Hoflebens und der Außenpolitik. Er wurde der erste Würdenträger, der designierte Nachfolger des zweitausendjährigen Weltreiches. Seine Erziehung und Zucht nahmen die besten Meister in ihre Hände. In die Geheimnisse der Strategie weihten ihn der Kaiser und seine ausgezeichneten Heerführer ein. Seinen Geist schärfte er in

Die Jugend Bêlas III. und seine Thronbesteigung

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der Umgebung Manuels und seiner französischen Gattin, in der Gesellschaft französischer Ritter und Damen mit lateinischer Kultur und an den Meisterwerken der klassischen lateinischen Literatur. Er wurde mit dem verwickelten Mechanismus der griechischen Hofhaltung und der Reichsregierung, mit den die ganze Welt umspannenden tausend Geweben der kaiserlichen Diplomatie vertraut. Sechs Jahre lebte er in dem Glauben, daß er der Nachfolger Manuels sein werde und an der Seite seiner Gemahlin jede Ehre und jede Last der Regierung des Weltreiches tragen werde. Béla war ein ehrgeiziger, zum Herrschen erzogener Jüngling, doch schritt er diszipliniert, berechnenden Geistes und mit offenen Augen durch die Welt. Die Hoffnung auf eine glänzende Zukunft und auf großen Ruhm verblendete ihn nicht. Seine natürliche Verstandesbegabung, sein klarer Blick und sein realpolitisches Gefühl bewahrten ihn vor der Überschätzung seiner Lage. Er fühlte, daß er sich in der überfeinerten, dekadenten Luft des griechischen Hofes nur schwer würde behaupten können. Er wußte, daß ihn viele mit neidischen Augen betrachteten, Herzog Andronikos griff sogar öffentlich seine Thronfolge an. Er sah deutlich, daß der Ausbruch der Bewegung gegen den „barbarischen Herzog" nur durch die große Autorität und die Energie Manuels verhindert wurde. Doch er wußte auch etwas anderes, was ihm den Besitz des kaiserlichen Thrones nicht sehr wünschenswert machte. Die Anzeichen einer inneren Fäulnis blieben ihm nicht verborgen und er sah die große Gefahr, welche von Osten her drohte. Und da er diese Anzeichen erkannte, mußte er wissen, daß die auseinanderstrebenden Kräfte des nach außen hin so glänzenden Reiches nurmehr durch den persönlichen Willen und das glänzende Talent einer kräftigen Herrscherpersönlichkeit zusammen gehalten wurden. Er bemerkte den großen Unterschied zwischen seiner verlassenen Heimat und seinem neuen Heim, doch der Vergleich fiel nicht nur in einer Hinsicht zugunsten Ungarns aus. Deshalb verbitterte es ihn nicht, daß er zugunsten von Manuels neugeborenem Sohn seiner Thronanwartschaft entsagen mußte. Mit männlicher Ruhe empfing er die Nachricht von der Veränderung, den Verlust seines Ranges und die Aufhebung seiner Verlobung. Er beobachtete, lernte und zog daraus seine Lehren, um so später auf dem ungarischen Thron die am kaiserlichen Hof gesammelten Erfahrungen zu verwerten. Und diese Zeit kam viel schneller heran, als er gehofft hatte. Stephan III. starb im Jahre 1172, im Alter von kaum 24 Jahren. Im Lande sprach man — wie beim Tode Stephans IV. am griechischen Hofe — von Vergiftung und verdächtigte Manuel und Béla. Béla kümmerte sich nicht um die lügenhaften Gerüchte. Er kam zusammen mit seiner jungen französischen Frau und einem glänzenden Gefolge nach Ungarn und zog ohne Widerstand in Weißenburg ein. Seit Koloman kam zum erstenmal ein volljähriger, im Besitze seiner vollen Aktionsfähigkeit stehender Mann auf den Thron des hl. Stephan.

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Die Jugend Bêlas III. und seine Thronbesteigung

Stephan II., Géza II. und Stephan III. gelangten im zarten Kindesalter auf den Thron, Béla II war ein unbeholfener Blinder. Béla III. aber war von hoher Gestalt, stolz, schön und von würdevollem Aussehen, geistig reif, ein Mann von hoher Kultur, erfüllt von Ehrgeiz und gutem Willen. Die Mehrheit seines Volkes empfing ihn mit Vertrauen und Hoffnung, doch gab es auch solche, die in ihm den Günstling Manuels, den Rechtsnachfolger Stephans IV., den Vertreter ungarfeindlicher Interessen sahen. An der Spitze der Unzufriedenen stand Erzbischof Lukas, der ihm auch die Krönung verweigerte. Er hatte Béla gegenüber religiöse Bedenken und sah in den an ihn gesandten Geschenken Simonie. Die Königinmutter Euphrosyne selbst wollte lieber ihren jüngeren Sohn, Herzog Géza, auf dem Thron sehen, auf welchen Béla seine Ansprüche — nach ihrer Auffassung — verloren hatte. Béla trat dem ein großes Ansehen genießenden und ein heiliges Leben führenden hohen Geistlichen nicht feindlich entgegen und wandte ihm gegenüber keine Gewalt an, wie es einst Ladislaus II. und Stephan IV. getan hatten. Er wandte sich an den Heiligen Stuhl, legte von seinem wahren Glauben Zeugnis ab und bat um die Anordnung der Krönung. Papst Alexander, der sich von der Glaubenstreue des Königs überzeugte, forderte den Erzbischof Lukas zur Krönung auf. Als dieser sich aber auch weiterhin weigerte, betraute er, ohne die Rechte des Graner Erzbischofs zu beeinträchtigen, den Erzbischf von Kalocsä mit der Durchführung der Zeremonie. Die Krönung erfolgte am Anfang des Jahres 1173 und Béla III. (1172—1196) bestätigte gleichzeitig das Krönungsrecht des Graner Erzbischofs, und seinem klugen Taktgefühl und seiner papstfreundlichen Politik gelang es auch, Lukas selbst zu gewinnen. Den großen Asketen finden wir noch im Jahre 1181 in der Umgebung des Königs unter den übrigen Großen des Landes. In den Kampf zwischen Alexander III. und Friedrich Barbarossa mischte sich Béla unmittelbar nicht ein, doch unterstützte er Herzog Sobieslaw II. von Böhmen und den Erzbischof Adalbert von Salzburg, die Hauptgetreuen des Papstes auf deutschem Boden, und blieb — wie Papst Innozenz III. in dem im Jahre 1204 an Emmerich gerichteten Brief hervorhebt — dem Päpstlichen Stuhl immer treu. Dies konnte er um so leichter tun, weil der byzantinische Kreis, aus welchem er kam, selbst die Kirchenunion befürwortete, die Familie seiner Frau aber zu den getreuesten Anhängern des Papstes gehörte. Seinem aufrührerischen jüngeren Bruder trat er energisch entgegen. Er ließ ihn zusammen mit seiner Mutter gefangen nehmen und ließ sie in der Burg Barancs bewachen. Von dort flüchteten sie zusammen mit einigen Anhängern nach Österreich. Herzog Heinrich und seine Tochter, die zurückgekehrte Witwe Stephans III., nahmen die Flüchtlinge freundlich auf und der junge Leopold nahm im Jahre 1174 Herzogin Helena, die Base Gézas und

Neue Außenpolitik

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Bêlas, zur Frau. Nachdem Béla vergeblich die Herausgabe seines Bruders gefordert hatte, unternahm er im Jahre 1176 zusammen mit dem böhmischen Herzog Sobieslaw (1174—1178) gegen Österreich einen Plünderungsstreifzug, doch ohne Erfolg. Im darauffolgenden Jahr flüchtete Géza auf böhmischen Boden, und Sobieslaw — der Enkel des Herzogs Almos — lieferte ihn seinem Bruder aus. Béla setzte ihn wieder gefangen, seine Mutter hingegen verbannte er auf griechisches Gebiet, wo sie in einem Nonnenkloster ihr Leben, beschloß. HEUE

AUSSENPOLITIK

Béla III. regierte von Anfang an im Zeichen des Friedens. Das grundlose und ergebnislose Kriegführen seines Pflegevaters konnte ihm zur Genüge als Lehre dienen und ihn die Segnungen des Friedens erkennen lassen. Er strebte auch danach, diese Segnungen seinem Land zu erhalten. Die mit Sobieslaw geknüpfte Freundschaft brachte ihn zwar mit seinen beiden Schwägern, mit dem Herzog Friedrich von Böhmen (1178—1189) und Herzog Leopold V. von Osterreich (1174—1194), sogar mit dem Kaiser in ein feindliches Verhältnis, doch zu einem Kriege kam es nicht. Nach dem Tode Sobieslaws jedoch kam eine Aussöhnung zustande, die mit der Verlobung der kleinen Kinder Friedrich Barbarossas und Bêlas besiegelt wurde. Nur mit Venedig mußte er fortwährend kämpfen. Die dalmatinischen Städte — Spalato, Trau und Sebenico — unterwarfen sich nach dem Tode Manuels, welcher das dalmatinische Erbe Bélas bis zu seinem Lebensende in seiner Hand hielt, arn Ende des Jahres 1180 ohne Schwertstreich dem Heere des nach der Küste gesandten Palatins Farkas, und ihrem Beispiel folgte auch Zara, welches sich aus dem Schutze Venedigs unter den Schutz der ungarischen Krone begab. Die Flotte Venedigs versuchte in den folgenden Jahren mehrmals eine Rückeroberung Zaras, doch die Versuche scheiterten an der starken ungarischen Besatzung der Festung und an der Aufmerksamkeit des Banus Dionys, des „Statthalters des Küstengebiets" — des einstigen Heerführers Stephans III. — Der anläßlich des dritten Kreuzzuges geschlossene Waffenstillstand machte den Kämpfen für zwei Jahre ein Ende. Im Jahre 1191 brach der Kampf von neuem los und Venedig erlitt wieder eine Niederlage. Auch der Angriff des Dogen Enrico Dandolo, der nach zwei Jahren erfolgte, führte zu keinem Ergebnis. Der Bischof Kalân von Fünf kirchen, der Statthalter von Kroatien und Dalmatien, schlug ihn blutig zurück. Die Küstenstädte verblieben zusammen mit Kroatien im Besitz des ungarischen Königs. Im Jahre 1194 übernahm König Emmerich, der ältere Sohn Bélas und schon seit dem Jahre 1182 sein gekrönter Nachfolger, die Regierung der beiden Länder. Neben ihm hatte Dominikus aus dem Geschlechte Bors die Würde des Banus inne. Die ungarische Herrschaft faßte in dieser Zeit bereits tiefe Wurzeln in Dalmatien. Auch die italienischen Grundherren der:

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Neue Außenpolitik

Inseln dienten Béla gern, welcher sie vor der Ausbeutung Venedigs schützte und sie durch freigebige Geschenke an sich fesselte. Bartholomäus, Graf von Veglia, der Ahne der Frangepani, war venetianischer Untertan, doch auch gleichzeitig der Vasall des ungarischen Königs. Béla verlieh ihm und seinen Nachkommen das erst vor kurzem an der Küste gebildete Komitat Modrus als eine bisher in der Staatsorganisation Ungarns unbekannte „erbliche Gespanschaft" mit der Verpflichtung, im Kriegsfalle zehn Panzerreiter zu stellen. Auch die dalmatinische Kirche kam unter ungarischen Einfluß und auf den Wunsch Bêlas wählte man im Jahre 1181 einen Ungarn zum Erzbischof von Spalato. Erzbischof Peter aus dem Geschlechte Kän ordnete auf der Synode zu Spalato im Jahre 1185 die Angelegenheiten der erzbischöflichen Diözese. Für einen Teil des alten Bangebiets schuf er eine neue Diözese, das Bistum von Krbava. Sechs Jahre später kamen auch die jenseits der Narenta gelegenen Bistümer von Narona, Bosnien und Duvno und die mit ihnen zur römischen Kirche gehörenden Serben aus dem Küstengebiet unter die Metropolitangewalt von Spalato. Die Regierung Bêlas III. wird charakterisiert durch die Stärkung der inneren Kräfte der Zentralgewalt, doch neben der Regelung der inneren Angelegenheiten spann er mit einer an die kaiserliche Diplomatie erinnernden Bewußtheit seine außenpolitischen Pläne. Die Weltreichskonzeption seines Meisters, den Plan der griechisch-ungarischen Union, ließ er fallen, doch dessen realen Kern, den Gedanken eines griechisch-ungarischen Bündnisses, griff er auf und war bestrebt, es unter ungarischer Vorherrschaft zu verwirklichen. Manuel gegenüber empfand er Dank für dessen Güte und fürstliche Erziehung und hielt nach der Thronbesteigung seinen Bündnisvertrag getreu ein, doch hatte er dem Reich und dessen Volk gegenüber keine Verpflichtungen. Die Interessen seines Landes und seiner Nation stellte er über alle übrigen Gesichtspunkte. Er wurde ungarischer König und nur das wollte er bleiben. Es schien so, als hätte er ganz vergessen, daß er je auf der obersten Stufe zum Throne des Reiches gestanden hatte, doch nach dem Tode seines Gönners mischte er sich mit starker Hand in die Angelegenheiten des Kaiserreiches ein. In Byzanz gelangte sofort nach dem Thronwechsel die griechisch-orthodoxe Opposition zur Herrschaft, sie wandte sich gegen die Kaiserinwitwe und ihre lateinischen Anhänger und brachte auch den jungen Kaiser in ihre Gewalt. Alexios II. kam unter die Vormundschaft des nach der Macht strebenden Andronikos, der in seinem Namen die besten Anhänger Manuels seine Grausamkeit und Tyrannei fühlen ließ. Die Verfolgten wandten sich an Béla um Hilfe, und der ungarische König rückte auch im Jahre 1182 mit einem großen Heer heran. Er besetzte Branicova (Barancs) und Belgrad. Im nächsten Jahr verwüstete er Nisch und Sofia, und das Heer des Andronikos erlitt schwere Verluste. Das Morawatal beherrschte Béla drei Jahre lang, während das Wardartal,

Neue Außenpolitik

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die Gegend von Skoplje und Nordalbanien sein Verbündeter, der serbische Großzupan Stephan Nemanja, besetzte. Die Frau des Nemanja war eine Griechin, er selbst ein Schützling Manuels, doch Andronikos gegenüber suchte er jetzt in der Erneuerung des Bündnisses von Uros I. mit Béla dem Blinden Schutz, und dieses Bündnis wurde zur Grundlage der Entwicklung der serbischen Macht des Mittelalters. Dem Krieg machte im Jahre 1185 der Tod des kaiserlichen Usurpators ein Ende. Nachdem Andronikos die Gemahlin Manuels, seine Tochter und seinen Sohn hatte ermorden lassen und seine besten Anhänger ausgerottet hatte, wurde er von seinem eigenen Volke unter grausamen Qualen getötet, und der Enkel aus der weiblichen Linie des Alexios I., Isaak Angelos, kam auf den Thron. Die Griechen sprachen davon, daß Béla den Krieg in der Absicht auf den kaiserlichen Thron begonnen hätte, und daran war etwas Wahres. Nach dem gerade in dieser Zeit erfolgten Tode seiner Frau erbat er die Schwester Manuels, die um etwa 15 Jahre ältere Theodora Komnena zur Frau. Die Ehe wurde nur durch die kirchliche Synode verhindert, die nicht gestattete, daß die in das Kloster geschickte, verwitwete Herzogin den Schleier ablegte. Béla wollte durch diese Heirat den Plan der griechisch-ungarischen Union verwirklichen. Doch die Ereignisse kamen ihm zuvor. Mit dem neuen Kaiser schloß er sofort Frieden, verlobte seine zehnjährige Tochter Margarete mit ihm und schenkte ihr als Mitgift das im Krieg eroberte Gebiet von Belgrad und von Barancs bis hinunter nach Nisch und Sofia. Zwei Jahre nach dem griechischen Feldzug hatte Béla auf russischem Boden zu tun. Das Fürstentum von Halicz erlebte unter der 25 jährigen Regierungszeit Jaroslaws eine Blütezeit, seine Grenzen erstreckten sich bis an die untere Donau, und es war bereits eines der mächtigsten russischen Fürstentümer. Doch der Nachfolger Jaroslaws, Wladimir, wußte mit der Macht nicht umzugehen. Seine Gewalttaten entfachten einen Aufruhr und die unzufriedenen Bojaren riefen Roman, den Fürsten von Ladomir — den Sohn des Vetters Bêlas III. — gegen ihn ins Land. Der vertriebene Wladimir flüchtete hilfesuchend auf imgarisches Gebiet. Béla zog auch auf seinen Ruf in den Krieg. Die imgarischen Reiter zogen nach einer Pause von viereinhalb Jahrzehnten wieder über die Pässe der Karpathen, und die Unternehmung wurde nach kurzem Kampf mit vollem Erfolg gekrönt. Béla gab die rückeroberte Provinz nicht mehr an Wladimir ab. Er ließ den unglücklichen Russen gefangensetzen, sein Land behielt er für sich und stellte seinen zwölfjährigen Sohn Andreas als Herzog an die Spitze. Diese Eroberung war nicht von Dauer. Die Russen waren mit der Fremdherrschaft unzufrieden, und dem aus der Gefangenschaft entflohenen Wladimir gelang es bereits im Jahre 1190, mit Hilfe des polnischen Herzogs Kasimir III. (1177—1194) sein Fürstentum wieder zu erobern. Der junge Andreas verließ fluchtartig seine Provinz. Das einzige Ergebnis dieses Feldzuges war das Bündnis, das beim Friedensschluß zustande kam, doch wurde 28

Hóman,

G e s c h i c h t e des u n g .

Mittelalters

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Neue Außenpolitik

es zum Ausgangspunkt der schweren Kämpfe, die um den Besitz der benachbarten russischen Fürstentümer, in der nordöstlichen Expansionsrichtung des ungarischen Königreiches, ausgetragen wurden. Die balkanischen und Haliczer Feldzüge bezeichnen den Beginn einer neuen Ära in der ungarischen Außenpolitik. Mit dem im Interesse des legitimen Kaisers geführten griechischen Kriege und mit dem Bündnis schlug die Balkanpolitik des ungarischen Königreichs eine neue Richtung ein. Im letzten halben Jahrhundert standen sich Ungarn und Byzanz, bald mehr oder weniger verhüllt, oftmals auch als offene Feinde gegenüber. Der Grund der Feindseligkeiten waren im Anfang die Ausbreitung des Einflusses des ungarischen Königs auf kroatisches und serbisches Gebiet, später die Eroberungsabsichten Manuels. In diesem Kampfe standen die um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Serben als offene oder geheime Verbündete an der Seite des ungarischen Königs. Im letzten Stadium des Kampfes finden wir Nemanja wieder mit seinen Serben an der Seite Bêlas III., doch nach dem Siege trennten sich notwendigerweise die Wege der Verbündeten. Von der griechischen Macht befreit, arbeitete Stephan Nemanja am Zustandekommen der serbischen Einheit. Dieser Absicht stand im Norden die bosnische Provinz des ungarischen Königs im Wege. Jetzt stand er auch im Süden der ungarischen Macht, dem neuen Verbündeten des die südlichen serbischen Gebiete beherrschenden Kaisers, gegenüber. Dieses Bündnis zwischen den beiden Mächten bestand bereits seit dreizehn Jahren, seit der Thronbesteigung Bêlas, doch lag sein Schwerpunkt früher in Byzanz und der stärkere und mächtigere Partner blieb bis zum Tode Manuels das Kaiserreich. Mit dem Frieden vom Jahre 1185 änderte sich die Lage. Das ungarische Königreich wurde der Beschützer des sich auflösenden, untergehenden Kaiserreichs und die Stütze seiner Macht. Zwanzig Jahre früher hatte Manuel noch danach getrachtet, die Unabhängigkeit Ungarns zu beseitigen und fühlte sich stark genug, um über die ungarische Krone zu verfügen zu können. Jetzt verhalf der ungarische König dem Kaiser auf den Thron und gab seiner Tochter Reichsgebiet als Mitgift. Seit dem Jahre 1185 ist Ungarn die führende Macht des Bündnisses. Es gelang Béla III., mit wenig Blutopfern und geschickter Diplomatie die außenpolitische Konzeption Kolomans und Bêlas II. auszubauen. Er behielt Kroatien, Dalmatien und Bosnien und es gelang ihm, die Küstenstädte zurückzuerobern. Seinen Einfluß dehnte er auf das griechische Reich aus, er erwarb für sein Königreich die Hegemonie auf dem Balkan und bezeichnete den Weg der weiteren Ausbreitung in Richtung gegen Serbien, Bulgarien und die Walachei. Mit der zeitweisen Eroberung von Halicz zeigte er den Weg der nordöstlichen Expansion, der in der Richtung auf die russischen Fürstentümer und die Moldau führte.

Der Durchzug des dritten Kreuzzugsheeres

DER D U R C H Z U G DES D R I T T E N

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KREUZZUGSHEERES

Das Interesse Europas wurde in den Jahren, die dem griechischen Kriege folgten, durch die Ereignisse im Heiligen Land wachgehalten. Sultan Saladin von Ägypten und Damaskus errang am 5. Juli 1187 beim See Genezareth einen entscheidenen Sieg über das Heer des Königs von Jerusalem. König Guido selbst und sein Sohn gerieten in Gefangenschaft. Die Türken nahmen nach kurzer Belagerung ohne Hindernisse Akkon und Askalon in Besitz. Im Herbst unterwarf sich auch Jerusalem Saladin. Das Jerusalemer französische Königreich brach nach kaum neunzigjährigem Bestände zusammen. Das Grab des Erlösers kam in heidnische Hände und die seldschukisch-türkischen Truppen bedrohten nach der vor einem halben Jahrhundert erfolgten Eroberung von Edessa nun auch Tripolis und Antiochien mit Vernichtung. Diese Schreckensnachrichten erfüllten die ganze Christenheit mit ungeheurem Schmerz. Papst Gregor VIII. (1187) ordnete einen siebenjährigen Frieden unter der Christenheit an und rief im Namen des Kreuzes die Völker Europas unter die Waffen. Die Herrscher Englands, Frankreichs, Italiens, Deutschlands und der übrigen christlichen Staaten sowie ihre Ritter bereiteten sich zu einem neuen Kampf vor und im Jahre 1188 machte sich das Heer zur Befreiung des Heiligen Landes auf den Weg. Philipp August und König Richard Löwenherz zogen mit französischen und englischen Truppen über das Meer gegen Osten. Der alte Kaiser Friedrich Barbarossa zog auf dem Landwege über Ungarn nach Jerusalem. Mit ihm kam auch sein Sohn Friedrich, Herzog von Schwaben, der Verlobte der Tochter Bélas. Béla sicherte nicht nur den Durchzug, sondern sorgte auch für entsprechende Verpflegung. Er selbst empfing zusammen mit Königin Margarete in der Nähe von Gran seine königlichen Gäste. Da der neue prächtige Palast noch nicht fertig war, ließ er das vierzimmrige Purpurzelt, welches man ihnen als Wohnung aufschlug, mit reichen Geschenken, die orientalischer Fürsten würdig gewesen wären, und „mit allen erdenklichen Kostbarkeiten" anfüllen. In Gran schenkte er dem Heere zwei bis obenhin angefüllte Kornspeicher ; von den Soldaten, die auf dem langen Weg ausgehungert waren, erstickten drei in den mit Mehl angefüllten Kornkästen. Er begleitete seinen Gast von Gran nach Ofen, wie Augenzeugen schreiben, „in die Stadt Attilas" und von dort in sein Jagdschloß auf der Insel Csepel und jagte mit ihm und seinem Sohn vier Tage lang in dem wildreichen königlichen Wald. Auch in den übrigen Städten erwarteten den Kaiser glänzender Prunk, Geschenke und Festlichkeiten, während sein Heer überall zu mäßigen Preisen Lebensmittel und Futter bekam. Die Idee des Kreuzzuges ließ auch jetzt die Söhne des in seiner Macht erstarkten Landes nicht unberührt. Béla selbst ermunterte dazu und sandte seine Untertanen in den heiligen Krieg. Er schickte seinen auf des Kaisers Bitte nach 12 jähriger Gefangenschaft frei-

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Der Durchzug des dritten Kreuzzugsheeres

gelassenen Bruder Géza mit 2000 Kriegern voraus, um den Weg des Kaisers zu erleichtern. Der Bischof Ugron von Raab und neun Gespane aber schlössen sich mit mehreren tausend bewaffneten Kriegern dem Heere Friedrichs an, sodaß die Zahl der bewaifneten Scharen auf 150000 anstieg. Die beiden Herrscher reisten bis zur Grenze zusammen, und als das ganze Heer über die Save ging, nahmen sie unterhalb Belgrads unter schönen Festlichkeiten voneinander Abschied. Friedrich veranstaltete ein Turnier und erteilte vielen den Ritterschlag, Béla überhäufte seinen Gast mit Geschenken und Lebensmitteln, der als Gegengeschenk seine Schiffe dem König übergab. Der Empfang machte auf den Kaiser und seine Begleitung einen tiefen Eindruck. Die deutschen Geschichtsschreiber des Kreuzzuges, die selbst Augenzeugen gewesen waren, konnten später nicht genug Lobendes von dem Prunk und dem Glanz sowie von dem Überfluß und der Gastlichkeit schreiben. Aus ihrer Schilderung bekommen wir ein ganz anderes Bild von dem Reichtum des Königs und seiner Macht als von den deutschen und französischen Schriftstellern, die ein halbes Jahrhundert früher durch Ungarn gezogen waren. Die große Veränderung entging auch dem Scharfblick Friedrich Barbarossas nicht, der, wenn er auch die Ungarn nicht liebte, sich doch bei diesem Besuch jedenfalls von der Gewogenheit Bêlas und auch von seiner Kraft und Macht überzeugen konnte. Diese Überzeugung verstärkte sich noch auf seinem weiteren Wege, denn die Fürsorge Bêlas machte auch an der Grenze noch nicht halt. Der schwache Kaiser von Byzanz empfing das mächtige Heer mit großer Besorgnis und mit Mißtrauen. Béla mußte sein ganzes diplomatisches Können aufbieten, um einen bewaffneten Zusammenstoß zu verhindern. Er machte es den mit dem Heere mitgesandten ungarischen Führern zur Pflicht, friedlich zu vermitteln und war bestrebt, durch Gesandte Kaiser Isaak selbst von den friedlichen Absichten der Deutschen zu überzeugen. Als jedoch der Zusammenstoß unvermeidlich erschien, rief er die Ungarn zurück. Die Deutschen bezeichneten den Abzug eines großen Teils des ungarischen Heeres als Verrat, Béla jedoch wollte nur Gutes, als er an dem Kampf zwischen seinem Schwiegersohn und dem zukünftigen Schwiegervater seiner Tochter nicht teilzunehmen wünschte und den Ausbruch des Kampfes verzögerte. Seine Absicht hatte auch Erfolg, denn Friedrich, der das große Ziel im Auge behielt, wich einer Entscheidungsschlacht aus, obgleich Nemanja und die um die bulgarische Unabhängigkeit bemühten Fürsten von Tirnowo ihn zum Kampfe aneiferten und der griechische Kaiser das Übersetzen der Truppen fortwährend verzögerte. Der Vermittlung Bêlas gelang es endlich, daß der schlaue und unhöfliche Grieche Schiffe zur Verfügung stellte, und der bei Adrianopel lagernde Kaiser konnte im Februar des Jahres 1190 den Bosporus überschreiten. Zwischen den Griechen und Deutschen kam es zu keinem Zusammenstoß, trotzdem versetzte der Kreuzzug dem von Feinden umgebenen Reich

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den entscheidenden Schlag. Nemanja begann mit den Fürsten Peter und Asen, die die Donaubulgaren und Walachen staatlich zu organisieren begannen, unter Ausnutzung der Anwesenheit des deutschen Heeres die Befreiung der unter griechischer Herrschaft lebenden Serben und Bulgaren. Kaiser Isaak errang nach dem Abzug der Deutschen einen Sieg über sie, doch die serbische Macht ging aus dem Kampf gestärkt hervor. Den bulgarischen Unabhängigkeitsbestrebungen konnte man nicht mehr den Weg verlegen. Béla kam im Jahre 1195 noch einmal seinem Schwiergersohn zu Hilfe, als dieser wiederum mit einem Heer gegen die Bulgaren zog, doch sein Heer löste sich auf, bevor er noch die Grenze überschritten hatte, als die Nachricht von Isaaks Sturz kam. Dessen eigener Bruder hatte sich an die Spitze der Aufständischen gestellt und Isaak gefangen genommen, ihn blenden und samt seinem kleinen Sohn einkerkern lassen. Béla hatte jetzt keine Lust mehr zum Krieg, er überließ Alexios III. (1195—1203) und das durch innere Streitigkeiten zersetzte und zerbröckelnde Reich seinem Schicksal. Der dritte Kreuzzug löste die an ihn geknüpften großen Hoffnungen nicht ein. Die französischen, englischen und deutschen Heere schlugen sich heldenmütig. Akkon wurde zurückerobert und man erzielte auch noch andere lokale Erfolge, doch ein ernsthaftes Ergebnis konnten sie nicht erreichen. Fast das ganze Gebiet des Jerusalemer Königreichs und mit ihm die Hauptstadt blieb in türkischen Händen. Philipp August und Richard Löwenherz machten sich wieder auf den Heimweg; Kaiser Barbarossa aber war mit seinem Sohne ein Opfer des Kreuzzuges geworden. Nach dem so gescheiterten Feldzug bereitete sich Kaiser Heinrich VI. zu neuem Kampfe vor und jetzt nahm auch Béla das Kreuz. Er wollte dem Beispiel des hl. Ladislaus folgen, in welchem die ungarische Volksüberlieferung nun schon seit einem halben Jahrhundert den erwählten Führer des 1. Kreuzzuges verehrte und welchen der Heilige Stuhl auf die Bitte Bêlas vor nicht langer Zeit, im Jahre 1192, feierlich zum Heiligen erhoben hatte. Erzbischof Job von Gran rief das ganze ungarische Volk zu den Waffen und der König bemühte sich mit dem Palatin Mok um die Organisierung eines eigenen ungarischen Heeres, als sein im April des Jahres 1196 eintretender Tod allen seinen Plänen ein Ende machte. Wenn er am Leben geblieben wäre und an den Operationen des 4. Kreuzzuges teilgenommen hätte, dann hätte er mit entscheidender Stimme das zukünftige Schicksal des durch die Kreuzfahrer eroberten Reiches mitgestalten können. D A S U N G A R I S C H E R E I C H B Ë L A S III.

Béla III. steht bereits zur Zeit des Kreuzzuges als vollkommen gleichrangiger Partner neben den beiden Kaisern. Seine Machtstellung und sein politisches Ansehen spiegelt sich auch in seinen Familienverbindungen wieder. In seiner Familie finden wir keine Spur mehr von den im Hause Ärpäd früher üblich ge-

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wesenen slawischen, russischen, polnischen, tschechischen und serbischen Verbindungen. Er war zwar noch durch seine älteren Schwestern der Schwager der böhmischen Herzöge und des Herzogs Leopold von Österreich, doch waren diese beiden Heiraten noch das Werk seiner russischen Mutter und seines Bruders. Er selbst suchte mit anderen vornehmeren Dynastien Verbindungen. Seine Gemahlin, Anna von Châtillon, stammte väterlicherseits aus einer vornehmen französischen Familie, mütterlicherseits war sie ein Nachkomme der normannischen Fürsten von Antiochien und eine Halbschwester der Kaiserin von Byzanz. Ihr Sohn Emmerich und ihre Tochter Konstanze waren die Verlobten der Kinder des römisch-deutschen Kaisers und Emmerich nahm nach dem Tode der Tochter des deutschen Kaisers die Tochter des Königs Alphons von Aragon zur Frau. Herzogin Margarete heiratete den oströmischen Kaiser Isaak. Béla selbst nahm nach dem Tode seiner ersten Frau im Jahre 1186 die Tochter des französischen Königs Ludwigs VII., Margarete Capet, zur Gemahlin, welche vorher die Frau des frühzeitig verstorbenen englischen Thronfolgers Heinrich gewesen war und vom englischen Hof nach Ungarn kam. Mit diesen Heiratsverbindungen erkannten die vornehmsten und mächtigsten Herrscher Europas den ungarischen König als Gleichgestellten an, welcher nach den Zeitgenossen „seine Nation mit Glorie und Triumph überhäufte". Béla I I I . kehrte nach einer 24 jährigen Regierungszeit am 23. April 1196 zu seinen Ahnen heim, er wurde in der Gruft der zu seinen Lebzeiten neuerbauten Basilika von Stuhlweißenburg beigesetzt. An Stelle eines in Thronstreitigkeiten und Kriegen zerrissenen Landes hinterließ er seinem nach der Sitte der Kaiser noch zu seinen Lebzeiten gekrönten Sohn Emmerich ein reiches, geordnetes und mächtiges Reich, ferner seinem jüngeren Sohn Andreas ungeheure Schätze und Kostbarkeiten. Bêlas Herrschaft ist die Zeit der vollkommenen Ausbildung der unbeschränkten Macht des christlichen Königreiches des Mittelalters, doch nach seinem Tode beginnt sofort die Zersetzung der wirtschaftlichen Organisation, die die Basis der königlichen Macht bildete. Seine Söhne konnten den Bestrebungen der sich entwickelnden und nach oben drängenden grundbesitzenden Klasse nicht standhalten. Sie beginnen mit der Verleihung der königlichen Güter, der Burggüter und der Regaleinkünfte und ebnen somit der Entwicklung der Stände den Weg, welche die königliche Macht einschränken. Die Organisation der Zentralgewalt veränderte sich in den folgenden zwei Jahrhunderten vollkommen, ohne daß die zur Zeit Bêlas erworbene Machtstellung des ungarischen Königreiches verloren gegangen wäre. Das neue Zeitalter wird durch den Kampf der königlichen Macht mit dem in der Entwicklung begriffenen Kraftfaktor der Stände, andererseits durch außenpolitische Aktivität und Großmachtsbestrebungen charakterisiert. Das wichtigste Ergebnis

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der Regierung Bêlas III. war die bewußte Grundsteinlegung aller dieser Bestrebungen. Das aus dem osteuropäischen hunnisch-türkischen Kulturkreis nach Westen verschlagene und durch die lockeren politischen Bande des ungarischen Stammverbandes zusammengehaltene Volk schmiedete der staatsgründende Fürst zu einer Nation zusammen. Die politische Lebensform der zwischen der byzantinischen und der westlichen Kultur eingezwängten Nation, den Weg ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung zeichnete der erste christliche König vor. Ladislaus der Heilige und Koloman bauten die Organisation der staatlichen Verwaltung und die Gebietseinheit des bis zu den natürlichen Grenzen reichenden Landes aus, und indem sie mit der seit einem Jahrhundert währenden Friedenspolitik brachen, wiesen sie den Weg zur außenpolitischen Aktivität. Der in der Atmosphäre der Weltmachtträume am prunkvollen Hofe des Kaisers Manuel zum Manne gereifte Béla machte das Königreich des heiligen Stephan zu einem weltpolitischen Faktor und legte den Grundstein zu der bis zum späten Mittelalter, bis zum Tode des Königs Mathias blühenden ungarischen Großmacht. In der außenpolitischen Konzepdon Bêlas III. kam gestützt auf die Freundschaft der lateinischen Mächte, auf das französische oder italienische Bündnis, ganz bewußt der mächtige Gedanke einer Expansion, die nach dem Balkan und dem Nordosten hinstrebte und schon zur Zeit Kolomans begonnen hatte und im Zeitalter der Anjous zur vollen Entwicklung gelangte, zur Geltung.