Geschichte der Staatsphilosophie [Reprint 2019 ed.] 9783486765090, 9783486765083

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Table of contents :
EINLEITUNG.
I. STAATSPHILOSOPHIE DER ANTIKE
II. DIE STAATSPHILOSOPHIE DES MITTELALTERS
III. DIE STAATSPHILOSOPHIE DES EUROPÄISCHEN WESTENS SEIT DER RENAISSANCE
DIE RECHTS- UND STAATSPHILOSOPHIE DES DEUTSCHEN IDEALISMUS UND IHRE GEGENWARTSBEDEUTUNG
LITERATUR
EINLEITUNG
I. DAS VERNUNFTRECHT AUF DER GRUNDLAGE DES TRANSZENDENTALEN IDEALISMUS
II. DER ORGANISCHE STAATSGEDANKE IN DER PHILOSOPHIE DER ROMANTIK
III. DIE RECHTS- UND STAATSIDEE DES OBJEKTIVEN IDEALISMUS
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Geschichte der Staatsphilosophie [Reprint 2019 ed.]
 9783486765090, 9783486765083

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GESCHICHTE DER

STAATSPHILOSOPHIE VON GÜNTHER HOLSTEIN

Mitten in der Ausgestaltung seines Werkes, an dem er mit besonderer Freude arbeitete, wurde der Verfasser vom Tode ereilt. In trauerndem Gedenken bringen wir die in sich geschlossene geschichtliche Darstellung, die den ersten Teil des Beitrags ausmachen sollte und deren Korrekturdurchsicht gütigerweise Herr Prof. Dr. Erich Kaufmann mit übernahm, der wissenschaftlichen Welt dar. Herausgeber und Verlag.

EINLEITUNG. ie Geschichte der Staatsphilosophie ist die Geschichte ihrer Probleme. Die Totalität der staatsphilosophischen Ideengeschichte ist nichts anderes als die Totalität der geistigen Erfassung derjenigen staatlichen Grundfragen, die in der Geschichte der Menschheit eine Rolle gespielt haben u n d ihr zu wirklichen Lebensproblemen geworden sind. Insofern ist das Gesamtgefüge dieser Ideengeschichte zugleich auch schon ein System der Staatsphilosophie. Denn alle Geschichte ist nicht ein zufälliges Neben- und Aneinanderreihen v o n Ereignissen, sondern besteht in ihrer ursächlichen Beziehung zueinander und ihrer wechselseitigen V e r k n ü p f u n g untereinander. Staatsphilosophie will den letzten Sinn alles staatlichen Seins erfassen und d a m i t zugleich eine höchste Norm f ü r alles staatliche Werden gewinnen. Beides eint sich dadurch, d a ß sie Wesenserkenntnis des Staates sein will. Das bedeutet jeweils ein Zergliedern aller gegenständlichen s t a a t lichen Erscheinungen u n d ein Ausscheiden aller derjenigen Elemente ihres Bestandes, die als nicht grundlegend u n d seinsbestimmend e r k a n n t werden. Das bedeutet aber auch ein Zusammenfassen u n d Neuordnen der übriggebliebenen Elemente von einer bestimmten Grundentscheidung aus, die ihren I n h a l t wiederum aus einer besonderen Schau des Wesenh a f t e n u n d Unbedingten erhält. Weil dies stets mit der besonderen A r t der großen schöpferischen staatsphilosophischen Persönlichkeiten verbunden ist, erscheint ein solches Verfahren zunächst ganz subjektiv bedingt. I n d e m dieses Verfahren aber geübt wird an Problemen der Zeit, die objektiv gegeben sind, und g e h a n d h a b t wird von Menschen, die zugleich E x p o n e n t e n u n d bestimmende F a k t o r e n des geistigen Gesamtlebens ihrer Zeit sind, u n d indem schließlich die gefundene Erkenntnis sich b e w ä h r t oder zu bewähren sucht in der Geschichte der politischen Handlungen, wird das Philosophieren aus dem Persönlichen u n d Zufälligen in geschichtsnotwendige und überpersönliche Zusammenhänge gef ü g t . Weil aber die Träger dieses geistigen Geschehens in ihren zusammenfassenden Lösungsversuchen von den verschiedenen möglichen Grundhaltungen zur Welt und zum Unbedingten ausgehen, ergeben sie in ihrer Gesamtheit zugleich das System der typischen Lösungsmöglichkeiten des staatsphilosophischen Grundproblems.

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EINLEITUNG

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Alle Staatsphilosophie ist also abhängig von der politischen Gegenständlichkeit ihrer Zeit und wirkt zugleich gestaltend in sie hinein; sie ist geschichtsgewirkt und geschichtswirkend. Von dort steht sie als Wissenschaft in Verbindung mit S t a a t s g e s c h i c h t e und allgemeiner S t a a t s l e h r e , die das Material ihrer zeitbedingten Voraussetzungen bereitstellen; von hier aus knüpfen sich Fäden zu der p o l i t i s c h e n P a r t e i e n g e s c h i c h t e , die ihre Gedanken aufnimmt, zu politischen Forderungen ausprägt und zu neuen Positionen im staatlichen Leben durchsetzt, und zur j u r i s t i s c h e n T h e o r i e , die den gegebenen Rechtsbestand mit den konstruktiven Mitteln einer bestimmten Begriffswelt erklärend oder schöpferisch weiterbildend auszudeuten versucht. Staatsphilosophie ist nicht erkennbar ohne den politischen Hintergrund, aus dem sie hervorgeht und an dem sie ihre Kraft gewinnt; Staatsphilosophie ist in ihren» letzten Plan nicht deutbar, wenn man sich nicht auf das besinnt, was aus ihrem Bestand in die Zeit gewirkt hat und so das Schöpferisch-Gestaltende ihres Wesenskernes ist. Denn indem jedes staatsphilosophische System in das geistige Gesamtleben von Zeit und Geschichte verflochten ist, stehen auch sämtliche Systeme in einem geistigen Zusammenhang untereinander; nicht katastrophische Gegensätzlichkeit, sondern organische Verflechtung ist es, die ihren Verlauf bestimmt. Sie übernehmen in einer notwendigen geistigen Erbfolge Denkformen und Denkinhalte voneinander, denen sie neue, eigenbestimmte Formen und Inhalte hinzufügen. Die Geschichte der einzelnen Systeme ist eben die Geschichte der wechselseitigen Auseinandersetzung oder Durchdringung dieser Elemente: manches wird abgestoßen, manches nur äußerlich weitergeschleppt, anderes wieder beibehalten und umgeformt, bis in steigender Konsequenz und immer strafferer Systematik schließlich alles um den in der neuen Grundentscheidung schöpferisch erfaßten Hauptkern gegliedert wird. Das ist ein Vorgang von größtem geistigen Reiz gerade auch dann, wenn die Aufeinanderfolge der Systeme in dialektischer Gegensätzlichkeit zueinander geschieht. Von hier aus wäre das Ideal einer politischen Ideengeschichte die systematische Sammlung von Monographien, die entweder mit sorgfältigster begriffsgeschichtlicher Exaktheit die Lösungen der Einzelprobleme bei allen in Frage kommenden Persönlichkeiten verfolgt oder in geistesbiographischer Fragestellung Werden und Wandlungen im System einzelner großer Denker durch alle literarischen Schichten ihrer Konzeption hin darstellt und mit der Schilderung ihrer Einzelpositionen zugleich auch stets die ihrer Stellung in der Gesamtschau verbindet. Für die Geschichte der Staatsphilosophie als Ganzes verkürzt sich indessen das Bild in knapperen und großlinigeren Zügen auf einen engeren und zugleich plastischeren Umkreis der Betrachtung; hier kommt es gerade darauf an, mit allem Nachdruck die großen Wendepunkte u n d neuen Ansätze herauszuarbeiten, an denen sich die politischen und geistigen

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EINLEITUNG

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Linien schöpferisch verknüpfen, und so die Hauptlinien der großen Wirkensfolge zu gewinnen, die von hier aus die Geschichte der Menschheit mitbestimmt. Es ist kein Zufall, daß sich damit die Geschichte der Staatsphilosophie wesentlich auf die S y s t e m e der großen s t a a t s philosophischen P e r s ö n l i c h k e i t e n konzentriert. Nur der Denker, der selber großgeistigen Maßes ist, vermag es, einer ganzen Zeitepoche auch ihren politischen Stil zu geben.

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GESCHICHTE

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I. STAATSPHILOSOPHIE DER ANTIKE. 1. P L A T O . Das erste klassische Werk der Staatsphilosophie ist Piatos Politeia, die selbst wiederum n u r ein Teil, freilich der grundlegende Teil seines staatsphilosophischen Lebenswerkes ist. Aber es t r i t t hinein in eine Geisteswelt, die schon in vielen Stücken ein staatsphilosophisches Denken entwickelt h a t u n d innerhalb deren Piatos Werk i n einer ganz b e s t i m m t e n Frontstellung steht. Zwar haben wir von diesen Dingen n u r eine fragmentarische K e n n t n i s ; aber sie reicht doch aus, u m uns ein hinreichendes Bild von jener Grundhaltung u n d Geistesstimmung zu geben, die Piatos System als ihr großes geschichtliches Widerspiel ausgelöst haben. Mit aller Deutlichkeit können wir erkennen, wie es zwei Strömungen sind, die hier ineinanderlaufen. Zunächst eine staatsgeschichtlich bestimmte. Die Epoche des politischen Aristokratismus war f ü r das attische Griechentum abgelaufen. Das bedeutet nicht n u r , d a ß nach der schmalen Oberschicht der Frühzeit j e t z t breitere Massen zu unmittelbarer Wirksamkeit i m staatlichen Leben gelangen, sondern vor allem, d a ß eine neue F o r m u n g des politischen Lebensgefühls sich abzuzeichnen beginnt. Das wirkt sich zunächst aus auf dem Gebiet des Rechts u n d der Rechtsauffassung. Das elementare Rechtsgefühl bäuerlicher Frühzeit, wie es in Hesiod seine großartige dichterische Verklärung gefunden h a t t e , h a t t e das Recht als unmittelbare Setzung des höchsten Gottes e m p f u n d e n u n d daraus das religiöse P a t h o s der Absolutheit gegen alle Rechtsbeugung u n d allen Rechtsbruch der Oberen geschöpft. Die Anfänge der städtisch-demokratischen Bewegung h a t t e n umgekehrt gerade zur F o r d e r u n g schriftlicher Aufzeichnung des vorhandenen Rechtsbestandes u n d zu dessen Durchsetzung geführt. Diese s t ü t z t sich i m wesentlichen auf den Nomos, auf das, was in Gewohnheit, Sitte u n d Brauch seit alters lebendig war u n d als Regel und Norm feste Schätzung u n d sichere W e r t u n g genoß. Damit war an sich die Verbindung zu einer letzten religiösen Begründung des Rechts nicht aufgehoben, wie auch die gewonnenen Sätze in ihrem Charakter als Ordnung durchaus als überindividuelle u n d persönlichkeitsbindende Normen e m p f u n d e n wurden. Aber das Rechtsbewußtsein wurde doch als ein Wissen u n d Wollen ganz konkreter Regelungen j e t z t viel stärker vom Menschen und seinem Willen, es gelten zu lassen oder auch weiterzuformen, ge-

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sehen. So t r i t t j e n e V e r b i n d u n g v o n selbst in d e n H i n t e r g r u n d , das unm i t t e l b a r e r e c h t s ü b e n d e u n d rechtssetzende H a n d e l n der menschlichen Gemeinschaft aber, d a f ü r u m so s t ä r k e r i n den V o r d e r g r u n d . Das neue politische Gefüge wirkt sich a b e r a u c h auf d e m Gebiet der persönlichen L e b e n s f ü h r u n g a u s : weithin t r i t t eine A u f l o c k e r u n g der strengen Z u c h t der a l t e n Polis ein. Sie w a r einst b e s t i m m t gewesen d u r c h die Kleinheit des Lebensraumes, d e r ein engstes Z u s a m m e n leben aller schuf, d u r c h die religiöse Weihe, die alle i h r e Wesensbezieh u n g e n d u r c h d r a n g u n d in der schirmenden S t a d t g o t t h e i t eine eindrucksvolle G e s t a l t w e r d u n g f a n d , u n d endlich d u r c h d e n Schutz, den sie allem Einzelleben gab u n d ohne den m a n i m A u s l a n d vogelfrei das t a n d . Alles das h a t t e das Bewußtsein v o n der eigenen Existenz a u f s Innigste u n d unlöslich m i t d e m v o n der E x i s t e n z der politischen Gem e i n s c h a f t v e r b u n d e n . Der G e d a n k e der E r z i e h u n g zu Bürgergesinnung u n d B ü r g e r t ü c h t i g k e i t w a r d a h e r m i t i n n e r e r Notwendigkeit z u m G r u n d g e d a n k e n d e r E r z i e h u n g ü b e r h a u p t geworden, j a v o n hier aus h a t t e der G e d a n k e b e w u ß t e r E r z i e h u n g ü b e r h a u p t seinen Ausgang gen o m m e n . J e t z t Wächst m i t d e m A u f b l ü h e n A t t i k a s alles ins Weite u n d G r o ß e ; die Einzelnen wirken ganz anders als bisher gestaltend auf d e n S t a a t , der sie v o r d e m d u r c h die H e r r s c h a f t Weniger wesentlich v o n oben her b e s t i m m t h a t t e . Freiheit u n d D u l d s a m k e i t i m persönlichen Leben u n d in E r z i e h u n g s f r a g e n werden z u m charakteristischen Zeichen athenischer Staatlichkeit gegenüber der archaischen Strenge S p a r t a s . D a s alles b e d e u t e t e a b e r nicht e t w a Auflösung des S t a a t e s , weder i m u n m i t t e l b a r e n H a n d e l n , noch i m grundsätzlichen D e n k e n . Gewiß h a t der Liberalismus des 19. J a h r h u n d e r t s einen eigenen politischen Willen gerne m i t dem R ü c k b l i c k auf Hellas v e r k l ä r t ; aber es geht doch hier u m grundlegend anderes. W o h l h a n d e l t es sich a u c h hier u m größere Freiheit u n d Beweglichkeit in der Polis; aber diese ist es doch, die m i t ihrer A u t o r i t ä t gebieterisch alles überwölbt u n d v o n allen b e w u ß t b e j a h t wird. E h r f u r c h t vor d e n Gesetzen, Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, h a n delnde V e r a n t w o r t u n g a m S t a a t , Stolz auf die Macht des S t a a t e s u n d Bereitschaft z u r Lebenshingabe f ü r i h n bleiben b e s t e h e n . Die Leichenrede des Perikles, wie sie T h u k y d i d e s konzipiert h a t , gibt f ü r beide Seiten des athenischen S t a a t s - u n d Lebensbewußtseins noch h e u t e schlüssigen Beweis u n d gültiges Bild. I n diese geschichtliche S i t u a t i o n b r i c h t n u n j e n e geistige Bewegung hinein, die m i t d e m N a m e n der S o p h i s t i k v e r k n ü p f t ist. Auch ihre F ü h r e r , d u r c h a u s auf k o n k r e t e s Wollen g e s t i m m t , m ö c h t e n E r z i e h u n g z u r B ü r g e r t u g e n d bringen, B e f ä h i g u n g wie z u r Bestellung des eigenen H a u s e s so a u c h zur F ü h r u n g der S t a a t s g e s c h ä f t e lehren. Aber auf d e m G r u n d e dieser Bewegung liegt der Zug zur Skepsis: es gibt n i c h t s ; u n d w e n n es etwas gäbe, so k ö n n t e m a n es nicht e r k e n n e n ; u n d wenn m a n es e r k e n n e n k ö n n t e , so k ö n n t e m a n es einem a n d e r e n n i c h t mitteilen.

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So muß gerade im Bezirk der politischen Lebensformen und Lebensinhalte das Ringen u m objektives Erkennen ermatten, die Schulung z u m rücksichtslosen Wirkenwollen durch suggestive Redemeisterkunst in den Vordergrund treten. U n d tritt dazu noch ein anthropozentrischer Relativismus, der das M a ß aller Dinge im Menschen sieht, so ergeben sich daraus zwangsläufig g a n z bestimmte gedankliche A n s ä t z e , die sich zunächst i n einer Krisis des Rechtsgefühls auswirken. Denn der Nomos k a n n von hier aus n u r noch Menschensatzung sein, gerade weil er sich weiterentwickelt u n d jederzeit der A b ä n d e r u n g zugänglich ist. Das heißt auf der einen Seite seinen Inhalt der K r i t i k Aller unterwerfen; seine positive Geltungskraft läßt sich darum aber u m g e k e h r t auch nur darin sehen, d a ß der B e f e h l des Inhabers der staatlichen Gewalt dahinter steht. So wird das R e c h t v o n seiner religiösen Grundbeziehung losgelöst, j a , die religiöse Grundsetzung selbst k o m m t ins W a n k e n . D a s f ü h r t dann aber auch zu einer Krisis des Staatsbewußtseins. Denn der S t a a t kann nunmehr überhaupt nur noch v o m I n d i v i d u u m her begriffen werden. Das, was man zunächst sieht, ist nur der Mensch, und, was m a n an den A n f a n g der Geschichte wie aller sozialen B e t r a c h t u n g stellt, infolgedessen auch nur der Mensch in seiner Vereinzelung. E r s t die N o t treibt ihn zur Vereinigung und zur Gründung fester Plätze, u m das eigene Leben z u erhalten. V o n dort m u ß sich dann z u m erstenmal als die gedankliche Lösung des Staatsproblems die Lehre v o m Staatsvert r a g ergeben: A b m a c h u n g von Menschen ist es, die z u m Ausschluß gegenseitiger Schädigung den Staat begründet hat. D a m i t wird dann auch begreiflich, w a r u m in dem S t a a t der gleichzeitigen Gegenwart die Vielheit der Einzelnen eine so große Rolle spielt. A b e r freilich, die Umwertung des Rechts und der individualistische Grundzug können sich a u c h noch zu einer anderen Folgewirkung verbinden. W e n n das R e c h t nur Menschensatzung und damit gewillkürte Satzung ist, dann kann m a n ihm auch die N a t u r entgegenstellen, die sich gegenüber jener immer wieder mit elementarer G e w a l t durchsetzt. Das wird dann wohl als „natürliches R e c h t " bezeichnet. A b e r dahinter steckt — und damit unterscheidet sich d i e s e r Begriff des natürlichen Rechts charakteristisch v o n anderen, späteren — als letztes nicht ein Normgedanke, sondern einfach eine Tatsache. Vor allem die, d a ß es die Einen, die Starken gibt gegenüber den Vielen, den Schwachen. V o n hier aus erscheint dann das Gesetz geradezu als Schöpfung der Schwachen und des großen Haufens. Sie bestimmen die Gesetze in bezug auf sich selbst u n d das, was ihnen n ü t z t ; um auch die Starken in ihre Gewalt zu bekommen, bezeichnen sie deren T u n als häßlich u n d ungerecht. W e n n freilich der rechte Mann aufsteht, dann schüttelt er alles ab und durchbricht und zertritt alle Normen und widernatürlichen Gesetze und steht da als der Herr. So schreitet Skepsis über Positivismus zum Naturalismus f o r t ; mit Relativismus und Individualismus legt er den Zer-

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setzungskeim in Recht und Staat hinein, die der Naturalismus dann zerbricht: eine seitdem typisch werdende Entwicklungsreihe wird hier zum erstenmal vollzogen. Eben diese Gedanken sind es, die Plato auf den Kampfplatz riefen. Mail kann freilich sagen, daß schon das Erscheinen des S o k r a t e s hier einen Wendepunkt bedeutet. Zwar drängt auch er auf der einen Seite immer zu eigenem Betrachten, Durchdenken und Erfassen der Dinge; aber sein Weg der Gesprächsführang will gerade auch zu einer objektiven geistigen Klärung vornehmlich der ethischen Fragen fahren. Vor allem unterwirft er sich aber in der großen Entscheidung am Ausgang seines Lebens, wie sie Piatons Kriton beschreibt, mit vollem Bewußtsein dem Staat und seinem Gesetz, die ihn zu Tode bringen. Das wird in dem berühmten Dialog zwischen Mensch und Gesetz am Ende des Buchs zu einer erschütternden dramatischen Eindringlichkeit gesteigert; ein Beweis dafür, wie tief die ethische Entscheidung des Meisters den Jünger ergriffen hat. Man kann versuchen, den Staat und sein Gesetz zur Güte zu stimmen, man kann auch versuchen, ihn eines Besseren zu belehren. Folgt er dann aber nicht, so muß sich der Bürger ihm fügen. Das verlangt, so wird es formuliert, der Vertrag, mit dem der Einzelne sich der Rechtsordnung unterwirft. In charakteristischer Weise wird so das Vertragsschema, das in der sophistischen Form einer Vereinbarung zwischen den vielen Einzelnen die Staatsidee ganz ins Individualistische hineinstellt und ihn letztlich dem Individuum in die Hand gibt, als eine Abmachung zwischen dem Einzelnen und dem zu eigener Personalität gesteigerten Staat abgewandelt, dem sich der Bürger so schlechthin unterwirft. Dahinter ragt dann aber auch noch eine andere Anschauung auf. Das Verhältnis des Einzelnen zum Staat wird dem Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern gleichgesetzt; so wenig wie gegen diese, so wenig darf man auch gegen das Vaterland Gewalt üben, denn alles, Geburt, Erziehung, Bildung verdankt man ihm. So wird auch von dieser Seite her der Staatsgedanke ganz auf die Seite der Aberindividuellen Werte gerückt. Daß es sich in dem letzten doch wohl um echte Gedankengänge des historischen Sokrates handelt, geht daraus hervor, daß der eigene Weg, in dem P i a t o s Philosophie das Wesen des Staats erfassen will, von einem ganz anderen Ansatzpunkte her beginnt. Er faßt das Problem in seiner Tiefe, indem er es aus dem Problem der Gerechtigkeit selbst zu begreifen sucht. Eben jener Gerechtigkeit, die der Urteilspruch über Sokrates so schmachvoll verletzt hatte und deren Verhältnis zum staatlichen Handeln dem schlichten Gehorsam des Sterbenden überhaupt nicht zum Problem geworden war. Das bedeutet aber zugleich, daß Plato entschlossen von einer Kritik der herrschenden Moralbegriffe ausgehen muß: im Kampf klärt sich das eigene Denken des Philosophen. Die Gerechtigkeit ist nicht, wie die einen wollen, nur eine nüchterne Alltagsmoral, eine nützliche Verkehrseinrichtung für Handel und Wandel, die jedem das gibt, was man ihm schuldig ist, dem Freund den Nutzen, dem Feind den Schaden. Und die Gerechtigkeit ist nicht, wie die anderen meinen, lediglich dfer Vorteil des Stärkeren, so daß die Gesetze von der Regierung allein zu ihrem eigenen Nutzen gegeben sind. Gerechtigkeit ist aber auch nicht, wie die Dritten glauben, der Kompromiß zwischen dem Gut, Unrecht tun, und dem Übel, Unrecht leiden, der Vertrag der Menschen untereinander, der die mittlere Linie zwischen dem höchsten Gut, straflos Unrecht tun zu dürfen, und dem schlimmsten Übel,

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rachelos U n r e c h t leiden z u müssen, festlegt. So d a ß die Gerechtigkeit, v o n hier aus gesehen, ü b e r h a u p t kein eigentliches G u t i s t : m a n ü b t sie n u r u n t e r d e m D r u c k des Z w a n g e s ; f ü h l t m a n sich dagegen s t a r k genug, U n r e c h t zu t u n , oder v e r s t e h t m a n es, i m U n r e c h t h a n d e l n doch den Schein der Gerechtigkeit zu erwecken, so t u t m a n es a u c h . Der Ger e c h t e aber wird gegeißelt, gefoltert, in K e t t e n gelegt, geblendet u n d schließlich ans K r e u z geschlagen u n d so zur E r k e n n t n i s g e b r a c h t , d a ß m a n n i c h t gerecht sein, s o n d e r n n u r gerecht scheinen m ü s s e . So k a n n m a n die Gerechtigkeit a u c h n i c h t wegen ihrer g u t e n Folgen i m E r d e n leben l o b e n ; j a , die Pflicht zu ihr nicht einmal in der F u r c h t v o r der S t r a f e der G ö t t e r b e g r ü n d e n , d e n n auch sie v e r m a g der d u r c h U n r e c h t t u n Reichgewordene d u r c h Opferwerk u n d Gebet wieder zu besänftigen. So wird der gängige Konventionalismus des Volkes u n d der skept i s c h e Positivismus d e r B i l d u n g ebenso a b g e l e h n t wie die Vertragstheorie d e r Sophisten u n d der soziale u n d religiöse Utilitarismus der n a i v e n Menge, m i t i h n e n aber a u c h der ethische Pessimismus eines i n sich z u s a m m e n b r e c h e n d e n j ü n g l i n g h a f t e n Idealismus, den b e i m Blick in die Wirklichkeit das tiefe G r a u e n ü b e r k o m m t . I h n e n gegenüber müsse d e n P h i l o s o p h e n schon die B e o b a c h t u n g u n d das N a c h d e n k e n auf tiefere Zus a m m e n h ä n g e f ü h r e n : J e d e K u n s t u n d Fertigkeit weist irgendwie ü b e r sich selbst h i n a u s , sie n ü t z e n nicht d e m K ü n s t l e r , sondern d e m , w o r a n e r sie a u s w i r k t . Sie h a b e n also letztlich eine überindividuelle S i n n o r d n u n g z u erfüllen. W a s a n H e i l k u n d e , B a u k u n s t u n d H i r t e n w e r k sich erweist, gilt a u c h f ü r die Gerechtigkeit. Selbst die u m h e r s t r e i f e n d e R ä u b e r b a n d e m u ß wenigstens in sich Gerechtigkeit ü b e n , u m ü b e r h a u p t z u s a m m e n h a l t e n zu k ö n n e n , d e n n Ungerechtigkeit f ü h r t zu A u f r u h r , H a ß u n d K a m p f gegene i n a n d e r u n d n u r Gerechtigkeit zu E i n t r a c h t u n d V e r f r e u n d u n g . Sie h a t also eine u n a u f h e b b a r e soziale F u n k t i o n . U n d schließlich: wie Ungerechtigk e i t U n f r i e d e n i m S t a a t e schafft, so t u t sie es a u c h in der Seele des Einzelnen. Die Gerechtigkeit ist auch die spezifische T u g e n d der Seele, wie Ungerechtigkeit i h r e Schlechtigkeit b e d e u t e t . Hier wie i m S t a a t geht es also u m dieselbe ethische Größe. Alles das f ü h r t d a n n i n die l e t z t e , tiefste Fragestellung hinein, die zugleich als eine schlechthin n e u e Fragestellung e m p f u n d e n wird. „ V o n allen V e r k ü n d e r n der Gerechtigkeit, v o n d e n G r o ß e n der F r ü h z e i t a n bis zu d e m Menschen v o n h e u t e , h a t keiner die Ungerechtigkeit als höchstes Übel verurteilt oder Gerechtigkeit als größtes G u t anders gepriesen als wegen des R u h m e s , der E h r e , der Gaben, die sie einbringt. J e d e v o n beiden aber a n sich, in i h r e r eigentümlichen K r a f t , mit der sie i n der Seele w o h n t , als größtes G u t u n d als höchstes Übel, h a t noch keiner r e c h t geschildert." E b e n diese Fragestellung ist a b e r geboren aus einer l e t z t e n ethischen Not u n d w i r k t sich d a r u m a u c h zugleich zu einem ethischen Gebot aus. „ E i n Frevel ist's, f ü r c h t e ich, w e n n m a n dabei ist, wie die Gerechtigkeit g e s c h m ä h t wird u n d

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man ihr nicht zu Hilfe kommt, solange man noch A t e m hat und einen Laut von sich zu geben vermag. So ist es das beste, ihr so gut man kann Beistand zu leisten." Es geht also u m die Erkenntnis der Gerechtigkeit an sich, u m die Erfassung ihrer eigentümlichen Wesenskraft und nicht u m irgendeine Folge oder Zwecksetzung äußerlicher Art, die mit ihr verbunden ist. Damit ist die ganze Untersuchung v o n vornherein auf die breiteste Grundlage gestellt, die das Innerste wie das Äußerste umfaßt; es ist eine zentral-philosophische Fragestellung schlechthin, u m die es geht. 10

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Dabei h a t die Untersuchung wesentlich zwei Ausgangspunkte. Die eine findet ihren Ansatz bei dem ganz konkreten Phänomen der staatlichen Gemeinschaft, wie es als unmittelbare Realität vor dem Denker steht. Aber diese Gemeinschaft wird j e t z t nicht mehr wie bei den Sophisten, gefaßt als etwas, was erst vom Einzelnen her entsteht, als eine Vergesellschaftung aus dem Egoismus zum Schutz voreinander, sondern sie wird gedeutet als eine aus eigenem Ungenügen und wechselseitigem Aufeinanderangewiesensein sich u n m i t t e l b a r und von sich erzeugende Vergemeinschaft u n g des Helfens füreinander. Der S t a a t erscheint damit nicht dem Einzelnen aus F u r c h t und Not abgedrungen, sondern erhalt von vornherein einen positiven Sinn gemeinschaftlichen Wechselwirkens, der über die Tatsachen der Arbeitsgliederung u n d der sozialen Funktionsverteilung innerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft in einen höheren ethischen Bezirk hinaufweist. Die andere Gedankenreihe stößt von dem Bilde der wechselseitigen Verflochtenheit der Staaten in Frieden u n d Krieg unmittelbar zu dem Problem vor, das d a n n zum Mittelpunkt des ganzen Werkes wird: dem Problem der Erziehung zum Leben im S t a a t , das zugleich ein Leben f ü r den Staat ist. Man h a t mit Recht darauf hingewiesen, wie damit eine wesentliche Seite des ursprünglich griechischen Staates wieder aufgenommen wird, die dem gleichzeitigen A t t i k a völlig verloren gegangen war, nicht ohne daß das herbe Vorbild Spartas deutlich zwischen den Zeilen aufsteigt. Das Entscheidende ist aber doch, daß der Gedanke der Erziehung aus der philosophischen Grundlegung des Ganzen sofort in ein letztes I n nerliches und Ethisches gewandt wird. D a r u m t r i t t nicht n u r als gleichberechtigter F a k t o r neben straffste Leibeszucht die strenge und große Musik als die Führerin zu w a h r h a f t sittlicher Seelenhaltung, sondern auch die Gymnastik wird nicht so sehr auf die Gewinnung von Körperkraft und Leistungssteigerung abgestellt, als auf Willen und Mut und deren Erweckung u n d Stählung. So ergänzen sich beide Prinzipien: Gymnastik allein würde den Menschen zu r a u h , Musik allein ihn zu weich machen. Der natürliche Mut bildet die Grundlage dort, die natürliche Liebe zur Weisheit hier. Beide Anlagen müssen also ins rechte Verhältnis zueinander gebracht werd e n ; erst so entsteht Maß u n d sittliche Haltung. So geht es u m eine Zusammenschau der beiden großen Ausprägungen griechischen Menschentums, die als Grundtypen des Menschlichen schlechthin gefaßt werden; spartanische K r a f t und athenische Geistigkeit geben erst zusammen das Ganze, u m das es geht.

Die Vorzeichen des institutionellen Aufbaues, der sich für den Staat ergibt, sind dabei freilich zunächst ganz die des dorischen Aristokratismus. Denn diejenigen, an denen er allein diese militärisch-musische Erziehung übt, stehen als eine kastenmäßig geschlossene Schicht über der Masse der Handwerker und Gewerbetreibenden; aus ihnen hebt sich wieder in bewußter Auslese die kleine Gruppe hervor, die zur eigentlichen Leitung des Staates bestimmt ist. Aber es ist ein Aristokratismus der Seele, u m den es hier geht; eben das wird an dem tief-

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sinnigen Mythos von der Menschen goldener, silberner oder eherner Beimischung, die Götterhand ihnen in ihre Art gelegt hat, klar. Gewiß ist der Stand der Krieger sozial und geburtsmäßig aufs stärkste in sich geschlossen und verfestigt; der straffe Lebensstil, der sie prägt: Armut und Kameradschaft, Güter-, Frauen- und Kindergemeinschaft wirken darauf hin, das zu erzeugen, auf das alles ankommt: Gemeinschaftsgeffihl, das in gleichem Freuden- und Schmerzempfinden alle wie die Glieder e i n e s Leibes, wie die Mitglieder einer großen Familie emp* finden läßt. Und ebenso wird als Regel damit gerechnet, daß die Nachkommen den Eltern gleichen; aber strenge Zucht und kluges Erproben sollen sie doch immer wieder aufs neue wägen und die einen ausmerzen, die anderen aber aufsteigen lassen, so daß auch hier nichts dem triebhaften Geschehen überlassen bleibt, sondern überall helle, klare Besinnung die Linien führt. Damit entfällt für jene Vergemeinschaftung, an deren mitunter verwunderlichen Einzelheiten soviel spätere Kritik herumgerätselt hat, jede Möglichkeit, sie auch nur von fern als Vorstufe eines modernen Kommunismus zu nehmen, der von beiden, einer ethisch-religiösen Grundbesinnüng wie von dem geistigen Sinn des Aristokratismus, gleich weit entfernt ist. Das zeigt sich denn auch in den Grundlagen des Staates, die jetzt entstehen. Gewiß, es ist ein Staat des Ausgleichs zwischen Arm und Reich, so daß keine Spannungen und Zerreißungen entstehen können. Aber es ist auch ein Gemeinwesen der in sich ruhenden Statik: sein Umfang muß so groß sein, daß es sich selbst zu genügen vermag, aber es darf auch nicht so groß sein, daß seine Einheit durch diese Ausdehnung gefährdet ist. Und es ist vor allem ein Staat des kulturellen Konservatismus: eine bestimmte geistig-sittliche Grundanschauung hat ihn entstehen lassen und in ihr soll er dauernd verfestigt bleiben. Jede Neuerung wird darum von vornherein abgewiesen, auch in den Künsten. Neuerung ist hier gleich Zersetzung; Erkenntnis und Wille, die das Ganze bewußt im Geistig-Ethischen aufbauen, wissen auch etwas davon, daß alle ethische Krise zuerst in den geistig feinsten Äußerungen des Gemeinschaftslebens, den Künsten, einzusetzen pflegt. I n der Musik nimmt das seinen Anfang, was von da aus schleichend auf Sitte, Recht und Staatsverfassung übergreift. — So entsteht denn ein Staat, der in Wahrheit den Namen eines sittlichen Staates verdient. Alle großen Wertungen können von ihm ausgesagt werden: er ist weise, tapfer, besonnen und gerecht, Weise, denn er hat das Wissen von dem, was das Wohl der Stadt begründet; tapfer, denn er hat die sittliche Kraft, sein Wissen von Gut und Böse auch in Gefahr und Not aufrechtzuerhalten; beides sind die Eigenschaften, die dem Stand der Krieger innewohnen. Besonnenheit, Selbstbeherrschung und Überlegenheit über Lüste und Begierden ist die Tugend des ganzen Volkes, Gerechtigkeit aber schließlich das Prinzip, das alles regiert: jeder hat das Eigene und Seinige und t u t es;

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ein jeglicher treibt sein Geschäft und mischt sich nicht in alles Mögliche. Das Prinzip des geistigen Aristokratismus kommt zu der denkbar schärfsten Formulierung, wenn es heißt: durch die kleinste Schicht und durch den kleinsten ihrer Teile wird die ganze Stadt weise. Das ist aber nichts anderes als die kosmische Gesetzlichkeit. „Die Natur selbst ist es, die will, daß dem am wenigsten zahlreichen Teil allein die Wissenschaft zukommt, die einzig unter allen anderen den Namen Weisheit verdient/' In der Seele des einzelnen Menschen ist es auch nicht anders. Ihre Grundkräfte sind das vernünftige Denken und das Begehren; dazu tritt als Drittes Mut und Wille. Aber die Seele muß dem Denken als ihrem Wächter folgen; nur so kommt sie zu Einheit und Harmonie. Jenen drei Seelenkräften entsprechen die drei Stände im Staat; indem in ihm die Vernunft zur Herrschaft kommt, wird er zum vollkommenen Staat. I n drei großen Begriffen und Bildern wird sein Leben eindrucksvoll gefaßt und wirksam symbolisiert. In ihm herrscht das rechte Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen; indem jedem Teil das gegeben wird, was ihm gebührt, wird das Ganze schön. I n ihm ist Harmonie: die drei Seelenvermögen und die drei Stände werden zur Einheit, wie die Haupttöne eines Zusammenklangs von drei Saiten als Einheit ertönen. Er ist wie ein einziger lebendiger Leib: wenn ein Glied leidet, leidet der ganze Körper mit; fühlt er Lust, ist es nicht anders. Es ist die große Schau des organischen Staates, der sich in dem gliedschaftlich zusammenstimmenden Gefüge aller Teile zur Einheit gestaltet, die hier zum erstenmal in die abendländische Geistesgeschichte eintritt. Es ist «ine Schau, die ganz vom Geistigen und seinem Primat aus gesehen ist und sich darum nur aus dem Geistigen entfalten kann. So wird Piatos staatsphilosophisches System zum großen Lied vom geistigen Menschen schlechthin. Das ist der Sinn des berühmten Wortes, daß die Philosophen Könige werden oder die Könige sich zu Philosophen bilden sollen; politische Macht und zuchtvolle Geisteshaltung müssen ganz in eins werden; alles, was nur Politiker ist, muß fort — nur so ist ein Ende des Unheils für die Staaten abzusehen. Denn der Philosoph ist der Mann, der erfüllt ist von dem Verlangen nach Weisheit schlechthin, nicht nach einem Teil, sondern dem Ganzen. Er sieht das Wesen der Dinge, nicht nur die einzelnen Erscheinungen, und damit das Ewige, sich Gleichbleibende, die Einheit im vielfältigen Wechsel. So können hier all die hohen Werte aufklingen, die in der Geschichte der politischen Lehrmeinungen in so unverstandener Großheit und doch immer wieder neu aufbrechender Wirksamkeit dastehen. Nur wer die Weisheit liebt, gewinnt die rechte Erkenntnis; die anderen haben nur Meinungen. Er allein hat auch die rechte Seelenverfassung, ist hochsinnig, tapfer, besonnen und gerecht. Während alle anderen nach

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dem berühmten Gleichnis in der dunklen Höhle gefesselt sind und nur den Schatten der im Licht lebenden Welt sehen, sieht er das Licht selbst. Denn er hat die völlige Umkehr der Seele durchgemacht und den Anstieg zum wahren Sein gefunden. Allein die Schau des Vollkommenen f ü h r t zum Trieb, zu formen und zu erziehen: das Größte, was es für einen Philosophen gibt, ist nicht die Stille der Erkenntnis, sondern das Wirken in einem seiner würdigen Staat. Aus alledem wird verständlich, daß auch die Frage der Staatsformen für Plato nicht die Frage verschiedener politischer Techniken, sondern eine sittliche Frage ist. Das Bild des ethischen Staates, das er schaut und das in den Formen des Königtums wie der Aristokratie gedacht werden kann, erscheint dabei bald als das große Musterbild in himmlischen Gefilden, dem man wohl versuchen kann, so nah als möglich zu kommen, das aber doch auch nirgends auf Erden voll verwirklicht werden kann, so gewiß es auch ein Richtmaß für alle Staaten ist. Bald tritt es wieder in der mehr mythischen Gestalt als eine Urform des Staates auf, aus der alle anderen erst entartet und abgefallen sind, sei es durch ein Versagen nichtwissender Leiter, sei es einfach durch das Gesetz der Zeitlichkeit, das über allem steht, und alles, was entstanden ist, auch dem Untergange verfallen sein läßt. Das Entscheidende ist, daß auch hier staatliches und sittliches Leben, Zustand des Gemeinwesens und seelische Grundhaltung seiner Bürger, ganz in eins gesetzt werden. Es gibt ebensoviele Staatsformen, wie es Formen des Charakters gibt: sie leiten ihren Ursprung her von den im Staat herrschenden sittlichen Anschauungen, die nach der einen oder anderen Seite hin den Ausschlag geben und von da aus alles andere nach sich ziehen. So wird denn zugleich eine Morphologie des Staates gezeichnet, der sich von Timokratie zu Oligarchie und von dieser zu Demokratie und Tyrannis entwickelt, und es wird ihr eine Biographie des politischen Menschen an die Seite gestellt, wie er in der Geschlechterfolge einer Familie durch die Änderungen der sittlichen Umwelt gewandelt wird und wieder in sie wandelnd eingreift. Drang und Gier nach Land, Haus und Gold sind es, die allen Sturz bewirken, weil sie die Güter der Seele immer tiefer in der allgemeinen Schätzung sinken lassen. Heimlich beginnt es in der Timokratie und lockert die Scheu vor den alten strengen Gesetzen und Anschauungen; in der Oligarchie reißt es schon mit der gewonnenen vollen Freiheit über das Eigentum offen den Staat in zwei Teile auseinander, den Staat der Reichen und den Staat der Armen, die den Wohnplatz miteinander teilen und doch ständig in Anschlag gegeneinander stehen, bis in der Demokratie, in der die Armen zum Siege kommen und alles in Regierung und Ämtern gleichmäßig aufteilen, der Staat im unersättlichen Hunger nach schrankenloser Freiheit vor Zuchtlosigkeit überquillt und schlaffe Justiz, Nichtachtung der Gesetze, Nachlässigkeit der

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E r z i e h u n g die vermeintlich schönste d e r V e r f a s s u n g e n a n d e n R a n d des V e r d e r b e n s bringen. So w i r d der, d e r sich rücksichtslos ü b e r alle hinwegsetzt u n d O r d n u n g schafft, als d e r R e t t e r b e g r ü ß t , bis a u c h er d e m Gesetze seines Wesens e n t s p r e c h e n d , sich z u m reißenden Wolfe w a n d e l t u n d alles i n B a n d e tiefster K n e c h t s c h a f t schlägt. D e n n a u c h der ehrgeizige u n d selbstbewußte, d e n Musen n i c h t abholde S t a a t s m a n n der T i m o k r a t i e ist längst v o n seinem Sohn, d e m Oligarchen, abgelöst w o r d e n , der d e n begehrlichen, geldgierigen Teil seiner Selbst auf d e n T h r o n der Seele erhoben h a t , a b e r das freilich n o c h m i t einem nicht a u s wirklichem sittlichen Willen h e r v o r g e h e n d e n , n u r auf äußerlicher Scheu b e r u h e n d e n A n s t a n d zu verdecken w u ß t e . U n d h a t t e der d e m o k r a t i s c h e E n k e l schon alle Triebe in sich, ob g u t , ob böse, gleicherweise b e j a h t u n d i n v e r f ü h r e r i s c h b u n t e m Glanz n o c h ein gewisses Gleichgewicht b e w a h r t , so setzt sich j e t z t i m T y r a n n e n als l e t z t e m S p r o ß in d e r S t u f e n folge die r a s e n d e Begierde ü b e r alles hinweg, u m i h n dennoch, i n d e r v e r d e r b t e s t e n aller S t a a t s f o r m e n , zugleich z u m Menschen der unseligen E i n s a m k e i t zu m a c h e n . Diese P a r t i e n in P i a t o s W e r k gehören zu d e m E r s c h ü t t e r n d s t e n , was er geschrieben: D a s tiefe Wissen u m einen l e t z t e n Sinn d e r Dinge u n d das leidvolle Mitfühlen des großen Seelenkundigen v e r b i n d e n sich m i t der Tragik des in Zeit u n d U m w e l t selbst E r l e b t e n u n d steigern sich zu einer P l a s t i k u n d Eindringlichkeit der D a r s t e l l u n g ohnegleichen. So gelangt der G e d a n k e der Gerechtigkeit als eines kosmischen P r i n zips, d a s die Seele des Einzelnen wie das Gemeinschaftsleben aller d u r c h w a l t e t u n d in der H e r r s c h a f t des e t h i s c h e n Bewußtseins den a n d e r e n K r ä f t e n des seelischen u n d sozialen Seins d e n i h n e n gemäßen P l a t z a n weist, zu seiner letzten Vollendung. E r greift ein bis in die Einzelheiten der Politik, j a der Tagesgeschichte; er e r h e b t sich aber a u c h zu d e n letzten m e t a p h y s i s c h e n Verwurzelungen allen Lebens. Es ist kein Zufall, d a ß i m Verlauf der Darstellung a u c h die große Schau eines n e u e n g e l ä u t e r t e n Gottesbildes ersteht, die sie a u s der s c h w a n k e n d e n S p h ä r e volkstümlicher P h a n t a s i e in die H ö h e reiner W a h r h a f t i g k e i t u n d U n veränderlichkeit e r h e b t . Wie es d e m e n t s p r e c h e n d i m innersten Sinn des Ganzen liegt, w e n n die Darstellung m i t den tiefsinnigen M y t h e n v o n d e n W a n d e r u n g e n der unsterblichen Seele, d e m Totengericht u n d der freien W a h l der n e u e n L e b e n s f o r m schließt. Das große Alterswerk Piatos, die G e s e t z e , zeigt diese letzten beiden T e n d e n z e n seines D e n k e n s n u r n o c h v e r s t ä r k t . Der Trieb zu p r a k t i s c h e m W i r k e n , der die syrakusische Episode seines Lebens b e s t i m m t e u n d d e r h i n t e r j e d e m , a u c h d e m scheinbar abgelegensten Satz der Politeia s t e h t , h a t i h n in diesem W e r k d a z u g e f ü h r t seine G e d a n k e n noch n ä h e r a n das k o n k r e t e L e b e n zu r ü c k e n . I n diesem Sinne ist das W o r t zu fassen, das m a n stets m i t R e c h t als die eigentliche I n h a l t s b e s t i m m u n g d e r „ G e setze" angesehen h a t : es k o m m e d a r a u f a n , d e n zweitbesten S t a a t zu

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schaffen, der dem Idealbild der Politeia a m nächsten komme. So wird dies B u c h weithin zu einer Sammlung v o n Denkschriften u n d Vorschlägen zur praktischen Gesetzgebung; entsprechend spielt die Beziehung auf konkrete Staatsverfassungen u n d Verhältnisse, nicht nur in Sparta, A t h e n und K r e t a , sondern auch in Persien u n d Ä g y p t e n , eine erhebliche Rollet A b e r auch für die allgemeine Theorie wird manches Neue ge-> Wonnen. Eine A r t Entwicklungstheorie des Staates wird aufgestellt« die ihn aus familienhaften Anfängen erwachsen läßt, bis sich die Sippen z u m eigentlichen politischen Gemeinwesen zusammenschließen. A u s der Entgegensetzung athenischer Demokratie und persischer Einherrschaft, die beide an der Überspannung ihrer Prinzipien zugrunde gehen, folgt die Theorie von der Notwendigkeit einer gemischten Staatsform, die in einer Verbindung demokratischer und monarchischer Institutionen allein Freiheit und politische Einsicht zugleich zu verwirklichen vermag. Selbstverständlich, daß die ethische Grundlage des Staates und die daraus gewonnenen ethischen Imperative bleiben; ebenso selbstverständlich, d a ß jeder Gedanke an eine Relativität des Rechts abgelehnt wird und seine Absolutheit mit Nachdruck in den Mittelpunkt gerückt wird. So wird für die Bezeichnung „ O b r i g k e i t e n " die neue „ D i e n e r der Gesetze" geprägt, und damit zugleich ein großer Grundsatz symbolisiert. „ E i n e m Staate, in dem das Gesetz abhängig v o n der Willkür des Herrschers ist und selbst keine Gewalt hat, sehe ich den Untergang bevorstehen; wo es dagegen Herr über die Herrscher ist und diese seine Diener, da sehe ich Wohlstand und Glück erblühen, die die G ö t t e r S t a a t e n verleihen." Selbstverständlich darum auch, daß nach wie vor aller Nachdruck auf den Gedanken der Erziehung gelegt wird, bei deren Werk sich j e t z t auch Dionysos dem Apoll gesellen m u ß . Vor allem aber werden die Linien z u m Religiösen noch tiefer und stärker ausgezogen. W i e die sendungsbewußte Leidenschaft des Mannes über der Politeia, so liegt die M y s t i k allen sich selbst vollendenden Greisenalters über den Gesetzen. Weithin ist es geradezu in priesterliche S t i m m u n g getaucht, so wenn an den Wendepunkten der Gespräche ein Gebet zu den Göttern emporsteigt oder im R ü c k b l i c k wesenswichtige Gedanken ehrfürchtig als aus göttlicher Eingebung entsprossen erkannt werden. So k a n n erst j e t z t die große Gegenformel gegen jenen S a t z der Sophistik gesetzt werden, mit dem sich schon die Politeia auseinandersetzte: nicht der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern das eigentliche Maß aller Dinge ist allein die Gottheit. K e i n Wunder darum, d a ß nicht nur die Leugnung der Götter, sondern auch eine niedrige Ansicht v o n ihnen, die entweder v o n ihrem Eingreifen in menschliches Geschehen nichts wissen will oder sie sich als durch Opfer u n d Gebote umstimmbar und bestechlich denkt, schwere Verbrechen in diesem Staate sind. Wichtiger f ü r uns ist noch ein anderes: die Anschauung, d a ß die Seele die ordnende Macht in

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allem ist, wird emporgebildet u n d weitergeführt zu der noch höheren, d a ß sie auch die o r d n e n d e Macht des H i m m e l s g e b ä u d e s ist. D a r a n wird nicht n u r eine tiefsinnige Spekulation ü b e r die Gestirnseelen g e k n ü p f t , sondern, was das E n t s c h e i d e n d e ist, alles wird d a m i t u n t e r den großen A s p e k t v o m Ganzen u n d seinen Teilen gestellt: „ V o n d e m , der sorgend das ganze Weltall u m f a ß t , sind alle Dinge so geordnet, wie es zur E r h a l t u n g u n d Vollkommenheit des G a n z e n erforderlich ist, so d a ß jeder Teil w i r k t u n d leidet, was i h m e b e n d a n a c h z u k o m m t u n d soweit d a n a c h sein Vermögen reicht. Ü b e r diese besonderen Teile sind Herrscher gesetzt, i h r T u n u n d Treiben bis ins kleinste zu regieren u n d so die Vollendung des Ganzen bis in die kleinsten Teile zu b e f ö r d e r n . E i n solches Teilchen bist auch d u , Sterblicher, welches, so klein es ist, doch allezeit auf die Zwecke des Ganzen h i n a r b e i t e t u n d in i h n e n seinen Zweck h a t . . . . Alles, w a s e n t s t e h t , e n t s t e h t e b e n n u r u m deswillen, d a m i t jenes ewige Wesen, welches d e m Leben des Ganzen z u g r u n d e liegt, ein glückseliges sei u n d d a ß dies Ganze n i c h t u m deinetwillen gew o r d e n ist, sondern d u u m des Ganzen willen." Die organische Ansicht des S t a a t e s wird so zu einer organischen Schau des W e l t g a n z e n erweitert u n d n e u in i h r b e g r ü n d e t : E s ist ein einheitliches Lebensprinzip, das alles d u r c h w a l t e t , u n d ein einheitliches Gesamtstreben, das alles b e s t i m m t . Dasselbe organische Geistprinzip, das sich i m Sein des S t a a t e s e n t f a l t e t , ist es auch, das das Gefüge des W e l t g a n z e n schöpferisch gestaltet. Seele, S t a a t u n d Welt, sie stehen u n t e r demselben geistigen Gesetz u n d sittlichen Gebot. D a n e b e n s t e h t freilich n o c h ein anderes. W o h l i s t es tiefste Gewißheit, d a ß die beste Seele ü b e r d e m Weltganzen w a l t e t , u n d sie ist es auch, auf die dessen geordneter G a n g z u r ü c k z u f ü h r e n ist. Aber die Welt birgt n e b e n der Fülle des G u t e n a u c h eine Fülle des Schlechten, j a , dies überwiegt sogar. So ergibt sich ein steter K a m p f dieser feindlichen M ä c h t e , in die der Mensch als Bundesgenosse der G ö t t e r u n d D ä m o n e n m i t t e n hineingezogen ist. So scheint sich m i t jener grandiosen E i n h e i t s s c h a u zugleich ein h a r t e r Dualismus zu v e r k n ü p f e n , scheinbar i n k o n s e q u e n t u n d doch k o n s e q u e n t . D a s Bild v o n Seele, S t a a t u n d W e l t , das aus innerster Notwendigkeit h e r a u s auf eine tiefe H a r m o n i e g e s t i m m t ist, e n t g e h t d a m i t der Gefahr, sich d e n Blick auf die H ä r t e k o n k r e t e r Wirklichkeiten v o n den ästhetischen Schleiern spekulativer P h a n t a s i e verhüllen zu lassen; der herbe ethische Zug wird bis zuletzt g e w a h r t . Der Ruf zur T a t b l e i b t ; n u r in s t e t e m K a m p f k a n n sich j e n e H a r m o n i e g e s t a l t e n ; „übermenschliche W a c h s a m k e i t ist n o t . " Nach drei Seiten h i n l ä ß t sich die grundsätzliche B e d e u t u n g v o n P i a t o s staatsphilosophischem G e d a n k e n b a u u m g r e n z e n . Z u m e r s t e n : er h a t allem N a c h d e n k e n ü b e r den S t a a t u n d aller Besinnung auf sein Wesen die E r k e n n t n i s eingeprägt, d a ß n u r die S c h a u d e r T o t a l i t ä t seines Lebens jene Ziele zu erreichen v e r m a g . E s k o m m t d a r a u f an, d e n Handb, d. Phil. IV. D 2

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Staat in der Allheit der Beziehungen, die in ihm gegeben sind und sich durch ihn wechselseitig durchdringen, zu erfassen und von hier aus den Weg zu dem zu gewinnen, was den eigentlichen Inhalt und den Sinn seines Lebens bedeutet. Indem er ferner die Frage nach dem Wesen des Staates aufs engste mit der Frage nach dem Sinn des Ethischen und dem Wesen des Seelischen verknüpft hat, hat er die Lösung des ganzen Problems von einer G r u n d e n t s c h e i d u n g f ü r d a s g e i s t i g e W e s e n d e r W e l t abhängig gemacht und es damit nicht nur über die Begrenztheit alles nur Individuellen hinausgehoben, sondern auch die unaufhebbare Beziehung zwischen Staatsansicht und Weltanschaung mit aller Klarheit herausgestellt. Und indem er von dort aus zum erstenmal den Zusammenhang eines großen staatsphilosophischen Systems entwickelt, das mit der reinen Geistigkeit seiner ethischen Grundanschauung nach allen Seiten hin rücksichtslos ernst macht, hat er drittens das politische Denken aus der selbstsicheren Nähe einer problemlosen Statik befreit und es dauernd vor die A u f g a b e d e r N e u s c h ö p f u n g u n d E r z i e h u n g auf letzte Wesensziele hin gestellt. Mit allen drei Stücken hat er das abendländische Denken dauernd bestimmt. 2. A R I S T O T E L E S . I n der unmittelbaren Zeitgeschichte seiner Epoche scheint von Piatos Wirkung zunächst wenig spürbar. I m Gegenteil, man hat stets mit Recht darauf hingewiesen, wie die tragischen Schatten der Einsamkeit über dem Teil seines Wirkens liegen, das als ein unmittelbares Eingreifen in das politische Leben seiner Zeit gedacht war. Aber seine Wirksamkeit war doch stärker, als es zunächst den Anschein haben mochte. Das gilt zunächst schon von der Wirkung auf seinen größten Schüler, A r i s t o t e l e s , den man in seinem staatlichen Denken sonst gern in Gegensatz zu seinem Meister bringt und gewiß in vielem auch bringen muß. Denn die Methode des Denkens, die Aristoteles in seiner großen Staatsschrift befolgt, steht hier wie auch sonst im grundsätzlichen Gegensatz zu der Piatos. Wenn überall der Weg der sorgfältigsten Analyse eingeschlagen wird, der das Zusammengesetzte immer weiter bis in seine nicht mehr zusammengesetzten Teile aufspaltet, um von da aus erst das Ganze wieder genetisch zusammenwachsen zu lassen, so ist das das genaue Widerspiel zu Piatos Art, über allem zergliedernden Wechselgespräch mit einmal die Schau der Wesensganzheit in unmittelbarer Einheitlichkeit hervorspringen zu lassen, um von dort in schöpferisch-strömender Gedankenfülle auch den Sinn aller Teile eigenherrlich zu bestimmen. Das ändert aber zugleich auch den Sinn der ganzen geistigen Arbeit der Art nach. Zunächst ist damit eine ganz andere Beziehung zu dem konkreten zeitgeschichtlichen Material gegeben, das in seinem Bestand nunmehr entscheidend in den Vordergrund der Besinnung tritt. Es ist eine im-

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ponierende S a m m l u n g allen zugänglichen positiven Verfassungsmaterials i m griechischen K u l t u r k r e i s , die der Schrift des Aristoteles zug r u n d e liegt; zu ihr t r i t t eine n i c h t m i n d e r u m f a s s e n d e Auseinanders e t z u n g m i t der gleichzeitigen politischen R e f o r m l i t e r a t u r . D a m i t wird a b e r a u c h eine V i r t u o s i t ä t der i m m e r feiner w e r d e n d e n Differenzierung u n d einer i m m e r s t ä r k e r w e r d e n d e n P r ä g n a n z ihrer begrifflichen C h a r a k t e r i s t i k entwickelt, die d e r Wissenschaft v o m S t a a t d a u e r n d e Ergebnisse hinterlassen h a t . D e n n e b e n : nicht u m eine religiösmetaphysische Wesensphilosophie geht es hier, sondern u m die wissenschaftliche Systematisierung u n d wechselseitige in Beziehungsetzung des Gegebenen u n d seine v o n d o r t h e r z u gewinnende E r k e n n t nis. E i n E m p i r i k e r großen Stils t r i t t a u f , der d a m i t zugleich die zweite A r t , die Fülle des politischen Lebens geistig z u meistern, r i c h t u n g g e b e n d b e g r ü n d e t h a t . E s ist kein Zufall, d a ß der Begriff der Verfassung hier ganz in den V o r d e r g r u n d t r i t t u n d zugleich s t a r k technisiert erscheint. Die V e r b i n d u n g m i t d e m E t h i s c h e n wird zwar nicht gelöst: a u c h Aristoteles l ä ß t sich die einzelnen Verfassungen a n den Begriffen v o n G u t u n d Böse scheiden. Aber bei P l a t o s t e h t die e i n e schlechthin g u t e Verfassung der Vielheit der a n d e r e n , in sich v e r d e r b t e n gegenüber; d e n Rigorismus dieser W e n d u n g b r i n g t Aristoteles n i c h t m e h r auf. E s h a t d a h e r seinen g u t e n inneren G r u n d , w e n n a m Schluß seines W e r k e s d e r i m Sinne der Schule u n t e r n o m m e n e Versuch, das Bild des b e s t e n S t a a t e s d e n n o c h zu zeigen, auf h a l b e m Wege liegen bleibt. So stehen d e n n bei i h m den d r e i T y p e n des g u t e n Staates, die jeweils ihr relatives R e c h t h a b e n , die drei G e g e n t y p e n des schlechten, die zugleich ihre E n t a r t u n g e n sind, gegenüber. J a , a u c h das Bild des b e s t e n S t a a t e s wird, wo es a u f t r i t t , n o c h allen möglichen Differenzierungen u n t e r w o r f e n u n d ausdrücklich aus der Absolutheit der ethischen Forder u n g auf die R e a l i t ä t des D u r c h s c h n i t t s m e n s c h e n h e r a b g e s t i m m t . I n d e m aber i n n e r h a l b der drei G r u n d t y p e n zugleich die ganze Mannigfaltigkeit möglicher u n d v o r h a n d e n e r Zwischenbildungen h e r a u s g e a r b e i t e t wird u n d der S t a a t n i c h t m e h r in der Isolierung, s o n d e r n als S t a a t u n t e r S t a a t e n gesehen wird, so d a ß a u c h die ä u ß e r e n politischen Beziehungen die S t a a t s v e r f a s s u n g e n gestalten u n d die verschiedenen S t a a t s f o r m e n w i e d e r u m sich wechselseitig als Vorbilder beeinflussen, wird die T y p o logie der S t a a t s v e r f a s s u n g e n ganz i n die R e l a t i v i t ä t des Politischen hineingestellt oder vielmehr gerade a u s ihr entwickelt. So wird Aristoteles' B u c h in seinen entscheidenden P a r t i e n zu dem, was m a n h e u t e als Verfassungslehre bezeichnet u n d was sich in der T a t als eine besondere F o r m der B e t r a c h t u n g v o n der J u r i s p r u d e n z des positiven R e c h t s hier u n d der S t a a t s - u n d Rechtsphilosophie d o r t abgliedern l ä ß t . Aber a u c h die H a l t u n g z u m k o n k r e t e n politischen Leben wird d a m i t eine a n d e r e . W o P i a t o s stets auf das Letzte gerichteter E r n s t i m m e r n u r eine völlige N e u g r ü n d u n g oder eine radikale Neugesetzgebung sei es v o n u n t e n , sei D 2*

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es von oben her k e n n t u n d damit in aller Gehaltenheit der Gesamtpersönlichkeit stets etwas von der Glut des ethischen Revolutionärs behält, h a t bei Aristoteles die Stimmung besonnener, vorsichtiger R e f o r m den Vorrang, die gewiß a u c h eine zielhafte innere Sicherheit h a t , aber einen anderen, vorsichtigeren Gang gehen will. Das P h ä n o m e n der Staatenumwälzung, in d e n griechischen Kleinstaaten ohnehin a n der Tagesordnung, wird d a m i t zu einem H a u p t p r o b l e m dieses ruhig, aber a u c h t a p f e r a m Leben sich mühenden wissenschaftlichen Denkens, m i t i h m aber auch die Lehre v o n den Mitteln u n d Wegen, wie solchen E r schütterungen wirksam zu begegnen ist u n d ihr E n t s t e h e n schon in sich unmöglich gemacht werden könnte. So wird Aristoteles' Buch in Wahrheit auch zu dem, als das man es von jeher gern bezeichnet h a t : zu dem ersten Versuch eines wissenschaftlichen Systems der Politik. Als solches h a t es seine das Denken befruchtende K r a f t i m m e r aufs neue erwiesen. Freilich, das in diesem Zusammenhang neben der Lehre von der Dreiheit der wesentlichen Staatsfunktionen folgenreichste Stück, die Lehre von den gemischten Staatsformen, oder besser die Lehre von der richtigen Mischung der Staatselemente, h a t offenkundig von dem Denken Piatos den entscheidenden Anstoß gewonnen. Gerade, d a ß Aristoteles gegen die besondere F o r m , in der diese Lehre in Piatos „ G e s e t z e n " auft r i t t , polemisiert, zeigt, d a ß er sich innerlich von ihr abhängig weiß. Es sind also die einer empirischen Methode sich nähernden Stellen in Piatos Alterswerk, die den Geist seines Schülers a m dauerndsten u n d stärksten befruchtet h a b e n . Aber: wie dort Piatos zentrales Denken sich einer empirischen Besinnung nähern k a n n u n d auch sonst dauernd durch das Bild der Wirklichkeit befruchtet wird, so h a n d h a b t auch Aristoteles seine empirische Methode nicht in abstrakter Reinheit, sondern von einer ganz festen u n d bewußten Grundhaltung geistig-sittlicher A r t her. Das ist wiederum die Piatos. So wird auch hier der S t a a t aus d e m P r i m a t des Geistigen u n d Ethischen gesehen u n d in der Gerechtigkeit verwurzelt, die zugleich der Inbegriff alles Sittlichen ist. Gerechtigkeit ist ein staatliches Ding, u n d das Recht ist nichts anderes als die i n der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung; des Staates Gut ist das Gerechte u n d das, was dem gemeinen Wesen f r o m m t . D a r u m m u ß auch der Herrschende die ethische Tugend in vollkommenem Maße besitzen; die Analogie zur Herrschaft der Vernunft über die Seele ist ebenso selbstverständlich auch hier gegeben. Von da aus gipfeln d a n n auch die Gedankengänge des Aristoteles in der grundsätzlichen Notwendigkeit einer Erziehung zum staatlichen Leben, die weithin den Zügen des Vorbildes entspricht. Aber innerhalb dieser Gemeinsamkeiten enthält die Staatsansicht des Jüngeren in wesentlichen Stücken ganz eigen bestimmte Züge, u n d diese sind es, die ihr in der Geschichte der Staatsphilosophie eine selbständige Stellung geben.

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ARISTOTELES

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D a s gilt z u n ä c h s t v o n der A r t , wie die E n s t e h u n g des Staates e r f a ß t wird: n i c h t i m Sinne eines historischen Vorgangs, sondern als systematisches P r o b l e m . A m A n f a n g des W e r d e n s wechselseitiger V e r b i n d u n g e n v o n I n d i v i d u e n , die ohne einander nicht sein k ö n n e n , s t e h t die F a m i l i e ; die erste G e m e i n s c h a f t , die aus m e h r e r e n F a m i l i e n u m eines ü b e r d e n T a g h i n a u s gehenden Bedürfnisses willen e n t s t e h t , i s t die Dorfgemeinde, u n d erst aus m e h r e r e n Dorfgemeinschaften l ä ß t sich eine wirklich sich selbst genügende G e m e i n s c h a f t vollkommenen Lebens der Glieder b i l d e n : d e r S t a a t . Der S t a a t ist also aus G e m e i n s c h a f t e n zusammengesetzt, wie a u c h die Familie in drei G r u n d b e z i e h u n g e n z e r f ä l l t : die v o n M a n n u n d Weib, v o n E l t e r n u n d K i n d e r n , v o n H e r r s c h a f t u n d Sklaven. So ergibt sich die d o p p e l t e E r k e n n t n i s , d a ß der S t a a t zu den v o n N a t u r b e s t e h e n d e n D i n g e n gehört, u n d d a ß der Mensch ein v o n N a t u r auf die staatliche G e m e i n s c h a f t hin angelegtes Wesen ist. Gleichzeitig wird aber a u c h das sittliche Wesen dieser s t a a t l i c h e n Gemeinschaft herausg e a r b e i t e t : D a s Gemeinschaftsleben der Menschen wird i m Gegensatz zu d e m der Tiere d a d u r c h b e s t i m m t , d a ß es Von der Sprache beherrscht wird. Deren Wesen liegt aber darin, d a ß sie das Nützliche u n d Schädliche, d a s Gerechte u n d Ungerechte v o n e i n a n d e r a b t r e n n t u n d jeweils als solches bezeichnet. E s ist also letztlich die G e m e i n s c h a f t der I d e e n ü b e r G u t u n d Böse, Gerecht u n d U n g e r e c h t , die die Familie u n d den S t a a t b e g r ü n d e t . D a s vollkommene u n d sich selbst genügende D a sein, u m das es i m S t a a t geht, liegt also n i c h t n u r i n einem glücklichen, sondern zugleich a u c h in einem ethisch ausgerichteten Leben. D a s i s t d a r u m wichtig, weil die Scheidungskunst des großen Theoretikers gerade auch die G r u n d e l e m e n t e des wirtschaftlichen Zusammenlebens in d e r menschlichen G e m e i n s c h a f t mit aller Deutlichkeit h e r a u s a r b e i t e t u n d so a u c h diese n a t u r h a f t e Seite des s t a a t l i c h e n Lebens in das volle Licht wissenschaftlicher B e t r a c h t u n g h e b t . Aber e b e n ü b e r allem diesem w i r k t sich die ethische Ü b e r h ö h u n g des Ganzen bis in die letzte Gedankenf ü h r u n g aus. Der S t a a t b e s t e h t u m der sittlichen H a n d l u n g e n willen u n d n i c h t allein u m des äußerlichen Z u s a m m e n l e b e n s — d a s bleibt als entscheidende Position d a u e r n d g e w a h r t . So stark im Letzten wieder die Berührung m i t P l a t o ist, der Unterschied liegt doch auf der H a n d . Gewiß, auch in den Gesetzen spricht Plato von einer Entstehung des Staates aus dem Zusammenschluß der Sippen. Aber das erscheint mehr als eine archäologische Notiz, ist jedenfalls ausschließlich historisch gedacht. F ü r die System a t i k wird es in keiner Weise ausgewertet; das organische Bild des Staates in der Politeia wie in den Gesetzen sieht i h n durchaus u n d lediglich aus Individuen zusammengesetzt. Die Familie t r i t t an keiner Stelle mit irgendwelcher Eigenbedeutung auf; wo von i h r gesprochen wird, wie in der Schilderung vom Werdegang des politischen Menschen, erscheint sie lediglich als der pessimistisch gesehene R a h m e n f ü r das sich vollziehende Einzelgeschick. F ü r Aristoteles ist die Familie der Ausgangspunkt allen gemeinschaftlichen Seins und steht so auch i m Anfang des Staates; j a , mehr noch, der systematische Prozeß der Vergemeinschaftung des Einzelnen schon m u ß eine ganze Reihe v o n Stufen durchlaufen, bis er im S t a a t als der autarken Gemeinschaft

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seine eigentliche Vollendung empfängt. Die organischen Bilder von der Beziehung des Ganzen zum Teil, von der Über- und Unterordnung, von Seele und Körper des Menschen, vom Leib und seinen Gliedern, die bei Aristoteles wie bei Plato auftreten, bekommen damit einen wesentlichen anderen Sinn. Auch der Staat des Aristoteles ist organischer Staat, aber er ist nicht Organismus aus den Einzelnen, sondern Organismus aus Gemeinschaften, die ihm ein- und untergeordnet sind. Daher spielt sich in ihm ein viel reicheres, farbigeres Leben ab; es entspricht dem, daß ausdrücklich neben jenen natürlichen Gemeinschaften auch die anderen genannt werden, die als Schwägerschaft Kultverein, Opfergenossenschaften und gesellige Verbände der sie schließenden Genossen auftreten, also erst durch besonderen Willen gebildet sind.

D a z u t r i t t d a n n a b e r noch ein anderes. Aristoteles polemisiert in seiner kritischen Auseinandersetzung m i t P i a t o s Politeia n a c h d r ü c k l i c h gegen die von diesem gewollte Kinder-, F r a u e n - u n d Vermögensgemeins c h a f t . Aber er t u t dies n i c h t n u r im Hinblick auf die gegebene Wirklichkeit, obwohl a u c h d e r Hinweis auf die geschichtliche E r f a h r u n g eine Rolle spielt. S o n d e r n es ist eine andere Beurteilung des n a t ü r l i c h e n Lebens, die sich zugleich als sittliche Position a u s w i r k t . Sie geht aus v o n der psychologischen B e o b a c h t u n g , d a ß auch in d e m Etwas-sein-Eigenn e n n e n - k ö n n e n eine besondere A r t der inneren Befriedigung steckt, u n d er zieht d a r a u s die K o n s e q u e n z : auch die Liebe zu sich selbst ist irgendwie v o n der N a t u r eingepflanzt u n d d a r u m innerlich i m S y s t e m der Zwecke gerechtfertigt. D a m i t b e k o m m t das ethische Urteil sofort eine ganz b e s t i m m t e Linie: n i c h t die „ S e l b s t l i e b e " a n sich ist zu t a d e l n , sondern n u r ihre Ü b e r s t e i g e r u n g ; m a n darf F r e u d e a n seiner H a b e empfinden, aber nicht h a b s ü c h t i g sein. E s ist also allein die A u s a r t u n g einer a n sich sittlich b e r e c h t i g t e n H a l t u n g , die getadelt wird. D e m e n t s p r i c h t es, d a ß die A u f h e b u n g d e r Einehe u n d des P r i v a t e i g e n t u m s abgelehnt wird, weil sie zwei wichtige T u g e n d e n unmöglich m a c h e n w ü r d e : geschlechtliche Z u c h t u n d Großzügigkeit. Auch dieser Gegensatz zu P l a t o greift tief ins Prinzipielle ein. D e n n P l a t o h a t t e i n der Politeia j a Ehe u n d E i g e n t u m nicht u m ihrer selbst willen, aus asketischem Rigorismus v e r w o r f e n ; f ü r d e n b r e i t e n U n t e r b a u der gewerbe- u n d handelstreibenden Masse ließ er sie b e s t e h e n . D a s V e r b o t der E h e u n d des E i g e n t u m s sollte lediglich f ü r die herrschende Klasse ein tiefstes u n d letztes Gemeinschaftsgefühl sicherstellen. Der organische Gedanke w i r k t sich hier also so s t a r k aus, d a ß wenigstens a n dieser Stelle f ü r die Glieder ein Einzelnsein ü b e r h a u p t nicht m e h r denkb a r i s t ; der Einzelne geht so ganz in die G e m e i n s c h a f t ein, d a ß er sein Einzelleben völlig verliert. Demgegenüber meldet Aristoteles einen u n v e r lierbaren A n s p r u c h des I n d i v i d u u m s auf Eigensein a u c h i m S t a a t e als einen zugleich n a t ü r l i c h e n u n d sittlichen A n s p r u c h a n , a b e r ohne d a m i t den S t a a t aufzulösen, wie es die Sophisten t a t e n . Das Bild des Organism u s bleibt n a c h wie v o r bestehen, n u r , d a ß es a u c h m i t der E x i s t e n z jenes Einzelseins der I n d i v i d u e n vereinbar erscheint. H a u s u n d S t a a t müssen f ü r diesen B l i c k p u n k t zwar in einem gewissen Sinne eins, aber sie

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d ü r f e n es nicht ganz u n d gar sein. Es gibt einen Grad der Einheit, bei dem der Staat nicht mehr bestehen würde, ähnlich wie eine Symphonie mit der A u f h e b u n g aller in ihr vorhandener Gegensätze zur Monotonie würde. Die Einheit ist also keine absolute, sondern n u r eine relative; nicht mechanische Zwangsmittel, sondern Erziehung, Philosophie, Gesetze, also ein Geistiges müssen die Einheit begründen. Es ist kein Zufall, daß auch hier das von Flato eingeführte Bild der Harmonie, die zugleich Einheit und Vielheit ist, zur Verdeutlichung dessen, was gemeint ist, dienen m u ß ; aber das gleiche Bild vom Organismus erhält hier seine besondere Ausprägung im Sinne einer stärkeren Betonung u n d Herausarbeitung der Glieder u n d ihrer Stellung im Gesamtgefüge, die bei Plato gegenüber dem ausschließlich in den Vordergrund gerückten Gesichtspunkt der Totalität noch ganz unentwickelt geblieben war. Es ist der Trieb zur Differenzierung, der damit der Staatsphilosophie des Aristoteles ihre eigene S t r u k t u r gibt; es ist seinem Lehrer gegenüber eine abgewandelte Schau des Organischen, die er als einen besonderen T y p u s innerhalb der gemeinsamen idealistischen Grundauffassung aufgestellt h a t . 3. H E L L E N I S T I S C H E U N D R Ö M I S C H E STAATSPHILOSOPHIE. Man h a t der Politik des Aristoteles den Vorwurf gemacht, sie ginge an den großen Ereignissen seiner Zeit, die sich an den Namen Alexander des Großen knüpfen, vorbei; die stärkste politische Tendenz seiner Gegenwart, die zugleich die Folgezeit entschieden beherrsche, die imperialistische Zusammenfassung des ganzen Hellenentums u n d der asiatischen Gebiete in der H a n d einer überragenden Herrscherpersönlichkeit bilde f ü r ihn weder praktisch noch theoretisch ein Problem. Es ist sicher, seine Gedankengänge bleiben ganz wie die Piatos grundsätzlich auf die F o r m der autarken Polis beschränkt. Aber eben diese versagte jetzt nationalpolitisch vollständig; mit dem persischen Großreich rückten ganz andere politische Möglichkeiten in den Vordergrund. So h a t m a n des anderen Sokratesschülers, X e n o p h o n , Cyrusroman geradezu als eine politische Streitschrift gegen Piatos Politeia a u f g e f a ß t ; wenn er auch in der Schilderung der ethischen H a l t u n g seines F ü r s t e n an das homerische Bild des Volkshirten anknüpfen konnte, so war f ü r ihn doch auch die philosophische Idealisierung des Cyrusbildes durch den Zyniker Antisthenes bahnbrechend gewesen. Aber auch von Plato u n d Aristoteles selbst gehen entscheidende Einflüsse in die große monarchische Bewegung hinein, in die das A l t e r t u m ausmündet. Denn A r i s t o t e l e s , dessen analysierende B e t r a c h t u n g auch den mechanischen Gleichheitsbegriff der üblichen Polis-Demokratie kritisch zersetzt u n d sich einen Blick f ü r die Qualität der Persönlichkeiten und Sachen bewahrt h a t t e , k a n n t e sehr wohl den Fall, wo eine an Einsicht u n d Herrschertugend alles

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überragende Persönlichkeit im Staate wirksam ist. Hier wäre formale Rechtsgleichheit U n r e c h t : er t r i t t auf wie ein Gott u n t e r Menschen; f ü r ihn gibt es kein Gesetz,weil er sich selbst Gesetz ist. Entsprechend h a t t e schon vorher P l a t o in seinem die Politeia ergänzenden Dialog Politikos einen solchen S t a a t s m a n n , der als ein Meister der Webekünst das Gewebe des idealen Staates k n ü p f t , jenseits des Gesetzes gerückt, das i m S t a a t zweitbester Art, wie es die Älterschrift ausgeführt h a t t e , die Beamten der Polis schlechthin bindet. U n d dieses letzte Werk h a t t e auch wieder als möglichen Fall einer Verwirklichung des zweitbesten Staates den genannt, in d e m der der Weisheit aufgeschlossene Sohn eines Tyrannen das W e r k in die H a n d n ä h m e : eigene Erinnerungen an die Hoffnungen u n d E n t w ü r f e seiner syrakusischen Epoche leuchten wie eine Verheißung künftiger Tage noch einmal auf. Aber freilich, alle diese Gedanken bedeuten ganz etwas anderes als das übergewaltige Sich-Durchsetzen des mächtigen Starken, wie es der Auffassung des Kallikles entsprach. Denn der, u m den es sich bei Aristoteles handelt, darf so n u r handeln, nicht weil er der Stärkste ist, sondern weil er an Tugend u n d politischer Einsicht alle Anderen überragt. Und der königliche Mann Piatos k o m m t in seinem über u n d unabhängig von den Gesetzen sich vollziehenden H a n d e l n gerade dem, was die Gesetze selbst wollen, aber nicht erreichen können, d a m i t also ihrem eigenen inneren Sinn schöpferisch zu Hilfe. Denn das Gesetz k a n n niemals alle denkbaren Fälle umfassen u n d f ü r alles das Richtige vorschreiben; die Ungleichheit der Menschen, der Handlungen u n d der Dinge lassen eine f ü r alle Fälle u n d f ü r alle Zeiten anwendbare u n d sichere Regel nicht zu. Der echte S t a a t s m a n n handelt aber gerade d a r u m , weil er die wirkliche Einsicht h a t , aus strenger Gerechtigkeit heraus; er steht über den Normen der Gesetze, die das Leben der Menge u n d den Durchschnitt regeln, m i t derselben inneren Freiheit wie der Arzt u n d der Lehrer über den von ihnen gegebenen Normen u n d Weisungen. Also nicht n a t u r h a f t e K r a f t , sondern schauende Geistigkeit u n d sittliches Sein sind es, die hier in Frage k o m m e n ; das ethische Ideal der Gerechtigkeit wird auch in diesem Fall gewahrt, j a gewinnt eigentlich erst in ihm seine letzte Vollendung. So war es n u r ein kleiner Schritt, wenn der entschlossene Wille zur Monarchie, der sich aus den Tendenzen der Zeit immer stärker als bewußtes Postulat ergab, n u n auch gerade als philosophisch-ethische Forderung a u f t r a t : sie m u ß t e j a nach alledem in der H a n d des rechten Mannes das große Grundprinzip der Gerechtigkeit, u m die alles ging, a m reinsten u n d besten verwirklichen können. I s o k r a t e s h a t diesen Gedanken in die unmittelbare Tagespolitik eingefügt. Von hier aus h a t aber vor allem der Gründer der Stoa, Z e n o n , die Möglichkeit gewonnen, z u m Werk Alexanders des Großen eine positive Stellung zu gewinnen. Das Entscheidende ist ihm, daß Alexander den unterworfenen Nationen nicht Despot, sondern Lenker und Richter sein wollte: das Gesetz, das

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Recht schlechthin richtet er über Allen auf. So erscheint er geradezu als der Vollstrecker des griechischen philosophischen Willens, als der Er-füller des Tiefsten, was griechische Staatsphilosophie gedacht. Man kann die Bedeutung der damit gegebenen Zusammenhänge nicht überschätzen. Sie liegen in einem Doppelten. Zunächst: in der Zeit lag der Zug zur Monarchie. Das war an sich nichts anderes als eine politische Tatsache. Nun wurde ihr ein ethischer Inhalt gegeben, aber damit auch zugleich eine dauernde ethische Forderung an sie aufgerichtet. Und daneben: in der Ethik der S t o a , die von jetzt an zu immer größerer Bedeutung für die praktische Lebenshaltung der gebildeten Schichten erwächst, liegt mit dem Gedanken der Autarkie der Einzelpersönlichkeit zunächst ein aus* gesprochen individualistischer Zug. Von hier aus mußten sich von selbst die strengen Bindungen der Polis lösen, aber wurden zugleich neue Verbindungen von Individuum zu Individuum schlechthin geknüpft: nicht in Staat und Gemeinde, ein jeder im Bannkreis der eigenen SondeTgerechtsame, sollen wir leben, sondern wir sollen alle Menschen als Mitbürger durch die ganze bewohnte Welt hin betrachten. Das war die Forderung, die Zeno selbst stellte. Zugleich drängte jener Gedanke des in der Alexandermonarchie alle umfassenden Rechts und Gesetzes dahin, dies Weltbürgertum nicht nur im Sinne eines bloßen gesellschaftlichen Nebeneinander von Individuen zu fassen. Denn sie gehören einer werdenden politischen Gesamtheit an; so können sie wirklich als „Gemeinschafter" und „Mitbürger" betrachtet werden. Es ist ein neues Gemeinschaftsgefühl auch politischer Art, das hier begründet wird und das in den neuen imperialen, die Oikumene umfassenden Staat hineinwächst. Die stärkste Auswirkung finden diese Gedanken im römischen Staat, ja, gerade sie sind es, die ihm sein eigentümliches Ethos verleihen. Durch P a n a i t i o s dringen jene Ideen in den Kreis des Scipio; durch P o l y b i o s beeinflussen sie entscheidend das Schrifttum C i c e r o s . Bewundernd sieht der griechische Historiker die Größe und Kraft des römischen Staates. Für ihn ist kein Zweifel, er hat diese Größe und Kraft darum, weil seine Verfassung eine gemischte Verfassung im Sinne der großen griechischen Denker ist. Selbstbewußt kann der Patriotismus des Römers von hier aus seinen Staat als die Erfüllung des philosophischen Ideals und damit als den besten Staat schlechthin erfassen. Nur freilich, Ciceros Schrift de re publica, die die entscheidende Bedeutung als Vermittlerin der griechischen Ideen nicht nur für die römische Bildungswelt, sondern auch an das ganze Mittelalter und über dies hinaus bis in die neue Zeit hat, fällt in eine Epoche stärkster Krisis eben dieses Staates. So ist sie vor allen Dingen und ganz bewußt eine politische Programmschrift, aber, weil von griechischem Denken gespeist, eine solche, die zugleich auf ethischen Fundamenten ruhen will. Darum kann auch hier die Entstehung des Staates aus dem Gemeinschaftstrieb nicht genügen; darum muß das Kriterium des besten Staates, über das technische Verfassungsproblem

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h i n a u s , i n der V e r n u n f t liegen. D e r e n Wesen aber ergibt sich a u s d e m Bild der von G o t t regierten Welt u n d des v o n der E r k e n n t n i s b e s t i m m t e n sittlichen Menschen. D a r u m wird der Begriff des R e c h t s u n m i t t e l b a r in die Definition des S t a a t e s a u f g e n o m m e n : d a s Volk, d a s d e n S t a a t bildet, ist nicht j e d e r beliebige irgendwie z u s a m m e n g e w ü r f e l t e Menschenh a u f e , sondern eine G e m e i n s c h a f t , die d u r c h Ü b e r e i n s t i m m u n g i n d e m , was Rechtens ist, u n d d u r c h die G e m e i n s c h a f t der W o h l f a h r t z u s a m m e n geschlossen ist. D a r a u s e r g i b t sich die große politisch-ethische Doppelpflicht des S t a a t s m a n n e s : in allem H a n d e l n stets das W o h l der G e m e i n s c h a f t , n i c h t eigene Vorteile ins Auge zu fassen, u n d m i t seiner F ü r s o r g e n i c h t ein Glied des Gemeinwesens zum Nachteil des a n d e r e n zu begünstigen, sondern stets den g a n z e n K ö r p e r des S t a a t e s zu u m f a s s e n . D a n e b e n t r i t t aber n u n noch eine zweite Idee. Dieser aus P i a t o s Einsichten geschaute römische S t a a t bedarf wie die Politeia des Mannes, d e r als moderator rei publicae der Erzieher des Volkes zur Sittlichkeit ist. D a s ist der Mann, der politische Einsicht u n d Gerechtigkeitssinn zugleich besitzt. E r ist der geborene Princeps, nicht i m Sinne v o n F u n k t i o n , A m t oder R a n g , s o n d e r n in dem der u n m i t t e l b a r w i r k e n d e n , d u r c h sittliche Tüchtigkeit b e g r ü n d e t e n F ü h r e r s c h a f t . E r darf a u c h , w e n n Bürgerkrieg d e n S t a a t zerreißt u n d seine Gegner zu offener Gewalt u n d Rechtsv e r l e t z u n g schreiten, auf jede Weise d e m S t a a t zu Hilfe k o m m e n u n d b r a u c h t nicht v o r der V e r w e n d u n g rechtswidriger Mittel zurückzus c h r e c k e n : der S t a a t v e r k ö r p e r t sich in i h m u n d h a n d e l t in N o t w e h r d u r c h ihn. Freilich, n u r volle Selbstlosigkeit u n d innere Gerechtigkeit m a c h e n würdig f ü r ein solches T u n ; d a r u m ist a u c h der L o h n d a f ü r nicht m e h r in dieser W e l t , s o n d e r n göttlichen Ranges. So b e r e i t e t sich in d e m Bild einer ethisch b e s t i m m t e n D i k t a t u r des b e s t e n Mannes die S t i m m u n g f ü r d e n P r i n z i p a t vor, der i n Augustus zur Wirklichkeit wird. Dieser h a t sich d e n n auch b e w u ß t auf solche G e d a n k e n g e s t ü t z t u n d seine eigene T ä t i g k e i t als die ethisch ordnende V e r n u n f t i m S t a a t gesehen. Die griechische Sophrosyne wird hier zur dementia, u n d m i t ihr vereinen sich prudentia, virtus u n d pietas zu einem idealen Herrscherbilde, das d u r c h die d r i t t e Stoa e r n e u e r t u n d v e r s t ä r k t , d u r c h die J a h r h u n d e r t e weiterwirkt, bis i n die K r a f t T r a j a n s , die P r a c h t H a d r i a n s u n d die Resignation Mark Aurels hinein. Der ethische Sinn des römischen K a i s e r t u m s i n seiner g r ö ß t e n politischen u n d menschlichen H ö h e l e b t v o n d e m , was griechische Philosophie i n den S t ü r m e n u n d Wirrnissen einer parteizerrissenen Polis geistig einsam geschaut h a t t e . Diese Geisteswirkung der stoischen Schule war v o r allem auch deshalb so b e d e u t s a m , weil die a n d e r e große Weltansicht der Zeit, die E p i k u r s , den S t a a t eigentlich n u r n e g a t i v zu werten v e r m o c h t e : H a n d e l n i m politischen Leben b e d e u t e t ihr wesentlich B e e i n t r ä c h t i g u n g u n d S t ö r u n g des Seelenfriedens; es z u vermeiden, m u ß t e d a h e r f ü r den Weisen geradezu als sittliche Pflicht erscheinen. N u r auf einem U m w e g , d u r c h die

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F u r c h t v o r noch größeren Ü b e l n , w a r ü b e r h a u p t ein Verhältnis z u m S t a a t gegeben. Die Philosophie d e r S t o a m u ß t e gerade u m g e k e h r t d e m geistigen Menschen i m m e r wieder d e n Mut z u m S t a a t erwecken u n d den Willen z u m S t a a t zur Pflicht m a c h e n . Gewiß k n ü p f t e sie d a m i t zugleich a n Bestes des altrömischen Geisteslebens a n , a b e r sie e r h o b es a u c h zur U n b e d i n g t h e i t einer d a u e r n d e n u n d unausweichlichen Ford e r u n g echter sittlicher Geisteshaltung. Aber n o c h n a c h zwei a n d e r e n Seiten hin erfolgte auf römischem B o d e n eine b e d e u t s a m e E r w e i t e r u n g der griechischen Staatsphilosophie. Z u n ä c h s t u n t e r n a h m schon die Schrift C i c e r o s den Versuch, a u c h das außenpolitische H a n d e l n des S t a a t e s sittlich zu begreifen. Ganz h a t t e die E r ö r t e r u n g dieses P r o b l e m s freilich a u c h bei d e n großen griechischen D e n k e r n n i c h t gefehlt. Freilich, P i a t o s idealer S t a a t w a r i m wesentlichen v o n i h m ganz in der Isolierung gesehen w o r d e n ; gewiß w a r er ein w e h r h a f t e r S t a a t , aber die H u m a n i s i e r u n g des Krieges, die P l a t o ans t r e b t e , sollte sich doch n u r auf Hellenen b e s c h r ä n k e n . U n d die „ Ges e t z e " h a t t e n wohl ohne weiteres die Sittlichkeit des Einzelmenschen a u c h auf d e n S t a a t a n g e w a n d t : galt es f ü r j e n e n , weder U n r e c h t zu leiden noch U n r e c h t zu t u n , so m u ß t e das auch v o m S t a a t gelten. D a r a n w a r wohl ein Satz g e k n ü p f t worden, der politische B e o b a c h t u n g u n d ethische Verheißung zugleich w a r : der zu voller T ü c h t i g k e i t erzogene S t a a t h a t ein friedliches Los, d e m u n t ü c h t i g e n aber ist K r i e g v o n a u ß e n wie innen beschieden. Aber als sittlicher I m p e r a t i v war d a r a u s lediglich die innerpolitische Folgerung zu straffer W e h r h a f t m a c h u n g u n d Waffenü b u n g v o n Mann, Weib u n d K i n d gezogen worden. W e i t e r e n R a u m h a t t e n die Dinge schon bei A r i s t o t e l e s eingenommen. Nicht n u r d a ß hier der Gedanke einer v o r allem a u c h auf S c h a f f u n g einer K r i e g s m a c h t b e d a c h t e n Gesetzgebung m i t N a c h d r u c k v e r t r e t e n w a r d : n u r so k ö n n e ein S t a a t sein politisches Eigensein gegenüber den N a c h b a r v ö l k e r n erhalten. F ü r die außenpolitischen H a n d l u n g e n ü b e r h a u p t w u r d e n m a n c h e A n d e u t u n g e n g e m a c h t . Freilich gehen dabei mancherlei Ged a n k e n verschiedener A r t n e b e n e i n a n d e r her. So scheint es auf der einen Seite, als w ü r d e a u s der Idee des R e c h t s j e d e imperialistische H a l t u n g grundsätzlich v e r n e i n t . Ausdrücklich wird abgelehnt, d a ß es Sache des S t a a t s m a n n e s sein solle, sich z u m H e r r n u n d Gebieter der N a c h b a r s t a a t e n zu m a c h e n : Despotismus ist nicht Staatsweisheit, d e n n sie h a n d e l t gegen die Gerechtigkeit. Aber auf der a n d e r e n Seite wird a u c h w i e d e r u m a n g e d e u t e t , d a ß es eine Hegemonie z u m Besten der B e h e r r s c h t e n gebe, die e t w a s anderes sei als eine H e r r s c h a f t , die es n u r auf K n e c h t u n g Aller abgesehen h a b e . U n d schließlich wird a u c h v o n einem H e r r e n r e g i m e n t gesprochen, das m a n ü b e r die gewinnen d a r f , die es verdienen, Sklaven zu sein. Bei C i c e r o wird aber j e t z t f ü r alle diese F r a g e n ein zusammenh ä n g e n d e r systematischer G e d a n k e n g a n g entwickelt. E r k o n n t e d a r a n

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a n k n ü p f e n , d a ß f ü r das hellenisch-philosophische Empfinden die Tatsache der Macht, die in der Herrschaft liegt, an sich durchaus nichts Unerträgliches war. So h a t t e auch Plato in den Gesetzen auf die n a t ü r lichen Herrschaftsverhältnisse der Eltern über die Kinder, der Edlen ü b e r die Unedlen, der Alteren über die Jüngeren, der Herren über die Sklaven, der Stärkeren über die Schwächeren, der Einsichtigen über die Unwissenden hingewiesen. Herrschaft ist also an sich kein U n r e c h t ; sie m u ß n u r auf der Tugend beruhen u n d den Nutzen der Beherrschten anstreben. Von da aus war es nur ein Schritt, auch die Herrschaft eines Staates über andere u n t e r Umständen als berechtigt anzusehen. Krieg ist nicht immer U n r e c h t ; auch der ethische S t a a t m u ß Krieg führen u m der Selbstverteidigung oder der Bundestreue willen. Weil aber die B e s t r a f u n g eines ungerechten Angreifers auch eine Forderung d e r Gerechtigkeit ist, so k a n n das auch zur Unterwerfung des Angreifers führen. D a ß der gerechtere u n d sittlichere S t a a t herrscht, ist also Naturgebot u n d Gottesgebot. Ungerecht ist n u r die K n e c h t s c h a f t , die Völkern auferlegt wird, die frei sein könnten, ohne die anderen zu gefährden. U n d daneben t r i t t n u n das andere. Auch das alte Problem des Verhältnisses von Dike u n d Nomos u n d der gewonnene philosophische Ansatz seiner Lösung verfestigt sich zu einer geschlossenen systematischen Ansicht. Schon f ü r Heraklit h a t t e n alle menschlichen Gesetze ihre K r a f t aus dem E i n e n göttlichen Ursprung gezogen; f ü r Plato war die Gerechtigkeit das den ganzen Kosmos schlechthin durchwaltende göttliche Prinzip, das von der Vernunft e r k a n n t werden k o n n t e u n d e r k a n n t Wurde. Aus der gleichen Grundauffassung heraus h a t t e Aristoteles seinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Recht, das unmittelbar von N a t u r gilt, u n d dem, das auf staatlichen Gesetzen r u h t , k o n s t r u i e r t : dort h a b e n wir es mit dem allgemeinen ungeschriebenen Gesetz zu t u n , hier mit d e m auf die sich ändernden konkreten Verhältnisse angewandten. Es ist dieselbe Gerechtigkeit, die bei beiden zur E n t f a l t u n g k o m m t . D a r u m ist wie der einzelne Mensch so auch die Gerechtigkeit ein Politikon, ein auf staatliche Gemeinschaft angelegtes Und sich in staatlicher Gemeinschaft entfaltendes Ding; d a r u m k a n n aber auch das Naturrecht d e m staatlich gesetzten Recht, wo es in seiner Allgemeinheit dem Ausnahmefall nicht gerecht wird, die vernünftige Auslegung und Anwend u n g geben. So ist auch f ü r Cicero das wahre Gesetz nichts anderes als die rechte V e r n u n f t , hinter der Wille u n d Schöpfermacht Gottes selber stehen. Von ihm v e r m a g kein geschriebenes Gesetz zu entbinden, auch nicht innerhalb des ius civile, das das einem Volke eigentümliche Recht u m f a ß t . Aus i h m ergibt sich aber auch das ius gentium, aus dem alle Völker leben, eben weil es sie die V e r n u n f t selber lehrt. Das ist die Grundanschauung, die d a n n auch, mit geringen Modifikationen i m einzelnen, hinter den J u r i s t e n des Pandektenbuches steht. So wurde aus der gleichen Grundposition heraus auf der einen Seite der Weg zu

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einem Weltrecht gefunden, das die ganze Ökumene durchwaltet, auf der anderen Seite aber auch Ziel und Maßstab gewiesen, an dem alles gesetzte Recht zu messen sei. Und als Drittes gewann man zugleich das Auslegungs- und Erkenntnismittel, aus dem man seine Härten und Unzulänglichkeiten zu glätten und zu ändern hatte. So schloß sich alles zu einer großen Einheit der sittlichen Weltansicht zusammen. Die Wissenschaft vom Recht ist die Kunde von allen göttlichen und menschlichen Dingen, das Recht selbst die wahre Philosophie und seine Pflege Priesterschaft an einem Heiligtum. Wie das Ethos der römischen Staatsmacht, so ist auch das des römischen Rechtslebens eine Schöpfung des griechischen Geistes. Der Sinn für Recht und Staat und die Gabe, ihre schöpferische Macht ordnend und gestaltend zu entfalten, war gewiß eine ursprüngliche Ausstattung des römischen Genius, aber ihre sittliche Ausdeutung und Reinigung war das Königskleinod, das das hellenische Denken dem neuen Weltherrscher hinterlassen hatte. Und doch lag in der Vollendung des großen politischen und geistigen Konzentrationsprozesses, der in dem Ganzen zur Geltung kam, zuletzt auch der Anfang seiner Zersetzung. Man hat darauf hingewiesen, wie sich Augustus gerade gegenüber dem geschriebenen Recht als der herrscherliche Mensch, als der königliche Herrscher Piatos, als Verkörperung der wahren Gerechtigkeit fühlte, und wie dadurch die Eigenbedeutung der acta und constituía principia ebenso erwuchs wie ihre Macht, das gesetzte Recht zu ergänzen, zu deuten, zu ändern. Das mußte je länger, je mehr in den Vordergrund treten, nachdem der ursprüngliche Rechtsgedanke der Übertragung des Imperiums durch ein Volksgesetz zu einem bloßen formalen Gedanken abgeblaßt war. So wird in der Endentwicklung schließlich der Princeps überhaupt und grundsätzlich von der Bindung an die Gesetze gelöst und seinem Willen unmittelbare und volle Gesetzeskraft schlechthin beigelegt. Gewiß wurde das noch mit der gottgewollten Sendung des Kaisers als Rechtsbringer begründet und der Kaiser ganz im platonischen Sinne als ein lebendes Gesetz, nomos empsychos, gefaßt. Aber der Gedanke des königlichen Philosophen als des an Einsicht und Tugend alle überagenden geborenen Führers war jetzt zugleich entpersönlicht und institutionalisiert. Das hieß ihn aber seines eigentlichen Sinnes berauben; an die Stelle eigenschöpferischer Geistmacht t r a t Schema und formaler Zuständigkeitsanspruch. Indem diese über allen Gesetzen stehende Allmacht im Leben des Staatsganzen dem Einzelnen überhaupt keine Rechte gegenüber dem im Kaiser verkörperten Staat beließ, mußte dies Staatsrecht immer mehr zu einer bloßen, von oben gesetzten Verwaltungsordnung werden, dem auch der eigentliche Sinn des Rechts schließlich entschwand. Denn an die Stelle des Logos war nur mehr sein Schein, an die Stelle der ratio die voluntas getreten. Dazu kam dann noch ein anderes. Die antike Wirklichkeit kannte den Staat als zugleich politische und kultische Einheit, die er

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auch dann blieb, als er als Weltreich die ganze Fülle fremder Volksgötter in sein Pantheon aufnahm. Und die antike Staatsphilosophie hatte den Staat der Idee nach als höchste sittliche Gemeinschaft gesehen. Beides konkretisierte sich im römischen Imperium in der göttlichen Verehrung des Imperators, die noch durch asiatisch-religiöse Einflüsse besondere Verstärkung erhielt. Das heißt aber nichts anderes als: im Kaiserkult wurde der Staat in seiner unmittelbaren geschichtlichen Gegenständlichkeit zum Gott. So endete das, was einmal in der reinen Transzendenz philosophischer Schau begonnen hatte, völlig in einer harten Diesseitigkeit. Wie dort das Wesen des Rechts, so kam hier der ethische Sinn des Staates ins Wanken. Das bedeutet aber zugleich den Ansatz zu der geistigen Krisis, in die der Staatsgedanke der Antike mit dem Sieg des Christentums trat. Es war im tiefsten Sinne eine sittliche Krisis.

II. DIE STAATSPHILOSOPHIE DES MITTELALTERS. Das, Was das Christentum als positives Gut in die staatsphilosophische Ideenentwicklung des Abendlandes einbringt, sind, seinem Wesen entsprechend, nicht eigentlich politische, sondern religiöse und ethische Impulse. Diese selber gehen vielfach wiederum auf Vorformen zurück, die dem a l t t e s t a m e n t l i c h e n Ursprungsboden der christlichen Religiosität eigentümlich sind. Das gilt vor allen Dingen von der ersten der Gedankenreihen, die hier von entscheidender Bedeutung geworden sind. Die konkrete religiös-sittliche Forderung der Gerechtigkeit tritt auf dem Boden israelitischer Frömmigkeit in noch ungleich stärkerem Maße auf als in der Welt der griechischen Bauernkultur. Nicht mit Unrecht hat man Hesiod und Arnos zueinander in Parallele gesetzt. Beider Haltung ist aus dem leidenschaftlichen Protest des ganz aus dem Ethos lebenden Menschen gegen Rechtsbruch und Rechtsvergewaltigung erwachsen. Aber darüber dürfen doch die Unterschiede beider nicht verkannt werden. Sie liegen nicht nur in dem starken sozialen Pathos, das für die alttestamentliche Prophetie in so vielen Stücken charakteristisch ist und von dorther in das geschichtliche Geschehen immer wieder mit eigentümlicher Kraft hineingewirkt hat; diese Dinge fehlen auch nicht völlig bei Hesiod. Die Unterschiede liegen vielmehr vor allem in dem ursprünglichen religiösen Ansatz. Schon in Griechenland hatte die Rechtsidee die Tendenz, die Wege zu einem letztlich monotheistisch zu fassenden Gottesbild anzubahnen. Hier in Israel aber wird umgekehrt die Gerechtigkeitsidee von Anbeginn an aus der Realität des e i n e n Gottes hergeleitet, die vor allem andern in unerschütterlicher Wirklichkeitsgewißheit feststeht. So sind von vornherein hier alle Akzente ungleich stärker von dem Pathos eines unmittelbaren Absolutheitsbewußtseins bestimmt und wird hier auch alles ganz in das Willensmäßige umge-

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f o r m t : Ethos, nicht Logos, steht am Anfang. D a m i t wird der Gedanke des schöpferischen Gotteswaltens mit d e m anderen des waltenden gerechten Gottes wesenseins. Das bedeutet aber auch, d a ß der Mensch, der vor G o t t steht u n d aus G o t t h a n d e l t , eben der gerechte Mensch ist. Der Gedanke der Gerechtigkeit r ü c k t so schlechthin in den Mittelpunkt der Religion wie der Sittlichkeit. Von da aus k a n n nachher paulinische Gedankenarbeit auch den gesamten I n h a l t der spezifisch christlichen Erlösungsgewißheit in das Bild v o m gerecht werdenden Menschen einkleiden. Dazu t r i t t n u n die zweite große Gedankenreihe, die ebenfalls in der Absolutheit des Gottesgedankens, wie er sich in d e m alttestamentlichen Schrifttum immer reiner u n d geschlossener ausprägt, angelegt ist. Die Gottesgewißheit Israels, so stark auch n a t u r h a f t e s Erlebnis in ihr webt u n d so betont in ihr das eigentümlich Bewegte des Geistigen von f r ü h an ist, ist in der Geschichte gewachsen und bleibt d a u e r n d auf diese bezogen. Der henotheistische Gott waltet in der Geschichte, der monotheistische Gott ist schlechthin Herr der Geschichte. Die Geschichte selbst aber ist nichts anderes als Schauplatz u n d Verwirklichung der Gottesherrschaft. Der religiöse Vorzug Israels als Gesamtvolk wird eben darin gesehen, d a ß es den Willen des Herrn erkennt u n d seinen Willen als Gesetz auf sich n i m m t . So erscheint die Geschichte von Anbeginn an als etwas kämpferisch Bewegtes, so wird das eigene Volk als etwas gefaßt, was als I n s t r u m e n t des Herrn göttlichen Willen durchzusetzen h a t . Von hier aus t r e t e n Gottes Herrschaft u n d Israels Herrschaft in ganz enge Beziehungen zueinander. Religiöser Absolutheitsanspruch u n d konkreter nationaler Lebenswille verschränken sich völlig ineinander. Aber f ü r die K r a f t der ursprünglichen religiösen Konzeption bleibt es charakteristisch, d a ß sie sich immer wieder in ihrer Reinheit durchsetzt, gerade aueh d a n n , als sie von der Realität der K a t a strophe des jüdischen Staates u n d der Verknechtung des jüdischen Volkes am stärksten gefährdet erscheint. E b e n die Gottesgewißheit l ä ß t hier kein Verzweifeln zu, sondern f ü h r t zu einer neuen u n d vertieften Konzeption des religiösen Bewußtseins. Zeigt die Gegenwart nichts von Gottes Herrschaft,- nun, so ist sie eben durch Gottes eigenen Willen entrückt. Sie wird erst zu ihrer Zeit u n d mit neuer Gewalt in unmittelbarer neuer G o t t e s t a t herniederfahren, u m in ungeheurem E n d geschehen über den T r ü m m e r n aller irdischen Reiche Gottes eigenes Reich aufzurichten. So wird auf dem Boden dieser K u l t u r nicht n u r die Idee der Geschichte a n sich konzipiert, sondern der geschichtliche Aspekt zugleich zu einem gewaltigen Geschichtsdrama erweitert, das die ganze Historie v o m Anfang bis zur geheimnisvollen E r f ü l l u n g u m f a ß t u n d aus dem schöpferischen Sinnwillen Gottes deutet. D a m i t k o m m e n sowohl düster apokalyptische Züge wie hoffnungsvoll eschatologische Klänge hinein. Zugleich aber wird das Geschichtsbild von einer ungeheuren

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Spannung getragen, die schöpferisch nach vorwärts weist. So ist diese Geschichtsdeutung zugleich im höchsten Maße geschichtsträchtig. Diese Züge gehen nun aber auch in das Christentum ein. Der Gedanke der Gottesherrschaft in und über der Welt, die Ergriffenheit durch Gottes Willen und die letzte Bestimmtheit allen sittlichen Handelns wie allen Weltgeschehens von Gott her, schon vorher von den großen Propheten in steigendem Maße vergeistigt und versittlicht, werden nun ganz und ausschließlich in das Religiös-Sittliche gewandt, aller Verbindung mit einem bestimmten nationalen Einzelgeschehen entkleidet und im Sinne der Forderung entschlossen sich selbst entscheidender Willensumwendung ganz in letzte Innerlichkeit bezogen. Eschatologischer Ernst und eschatologische Gewißheit bleiben über allem gewölbt. Zugleich aber formt sich das Ganze als Botschaft von dem nahe herbeigekommenen Gottesreich zu unmittelbarer Aktualität des sittlichen Anspruchs an jeden Einzelnen aus. Das ergibt für den neutestamentlichen Befund eine Abstreifung aller nationalen und politischen Elemente des Reich-Gottes-Gedankens, die ihm in seiner Vorform eigentümlich waren. Sie werden nicht aus irgendwelchem rational bestimmten ethischen Rigorismus verneint und ausgestoßen, sondern sie entfallen von selbst vor der in sich ruhenden Absolutheit des zentralen religiösen Gedankens. Allein von hier aus ist die souveräne Selbstverständlichkeit des Wortes: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist", zu verstehen. Viel wichtiger als alle Fragen um die Herrschaft des Cäsar erscheint dem Bringer der Botschaft, der sich in messianischem Bewußtsein zugleich selbst als ihr Erfüller weiß, ein anderes: für den Tag des Endgeschehens in messianischer Vollmacht seine Gemeinde zu sammeln aus denen, die ihm und seinen Ansprüchen folgen. Das ist die Ekklesia, die Gefolgsgemeinschaft derer, die sich um ihn als ihren Herrn bildet, die des Gottesreiches gewiß ist und so — eine Gemeinschaft nicht mehr des Blutes, sondern des reinen Geistes — zukunftsgewiß dem entgegengewandt ist, was als Erfüllung am Ende der Tage steht. Der Ruf zur Nachfolge, der an jeden Einzelnen erklingt, ordnet ihn zugleich in diese Gemeinschaft ein, und eben diese Gemeinschaft erhält Form, Sinn und Gehalt von dem, aus dessen Ruf sie gegründet ist und in dessen Nachfolge sie sich verwirklicht. So liegen die eigentümlichen christlichen Impulse zu einem Teil in, zum anderen Teil über und jenseits des politischen Bezirks. Der Imperativ der Gerechtigkeit wirkt gestaltend in das naturhafte Gemeinschaftsleben des Volkes, wie es die Grundrealität der Geschichte ist, hinein. Die Forderung der Gottesherrschaft dagegen weist über alle Geschichte und über alle naturgewachsene Gemeinschaft hinaus. Von hier aus bestimmt sich dann auch der Gang der Auseinandersetzung, die das Christentum mit der antiken staatlichen Kultur zu vollziehen hat. Zunächst ist klar: das Kaiseropfer und die darin liegende Staatsvergottung finden hier

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keinen Platz. Nicht im Staat entfaltet sich höchste Norm, sondern höchste Norm steht über dem Staat. Daneben tauchen aber zwei andere Möglichkeiten auf: Entweder die Forderung, ein hartes und entschiedenes Nein, wie zu allen Dingen dieser Welt, so auch zu denen des Staates schlechthin zu sprechen; starke und charakteristische Züge des Frühchristentums zeugen für die Bedeutsamkeit der sich von hier aus abzweigenden Strömung. Oder die andere, die umgekehrt gerade den Willen trägt, auch diese politische Welt schöpferisch mit den Kräften des Gottesgeistes zu durchdringen und von diesen aus ein positives Verhältnis zu ihr zu gewinnen. In dieser Richtung hat dann P a u l u s der christlichen Geistesgeschichte die entscheidenden Züge aufgedrückt. Als Jude kommt er von der besonderen Gottesoffenbarung seines Volkes her; sein Gesetz ist ihm charakteristischerweise das Gesetz schlechthin. Aber als hellenistischer Diasporajude weiß er auch etwas von dem positiven sittlichen Normgefühl, das das Leben des antiken Menschen bestimmt. Auch die Heiden haben für ihn ihre Offenbarung, eine Offenbarung durch das Gewissen, das ihnen Leben und Handeln aus göttlichem Willen bestimmen will. Das gibt ihm die Möglichkeit, das hellenistisch-römische Naturrecht in seinem ethischen Gehalt wie in seiner grundlegenden sozialen Funktion zu bejahen. I m engsten Zusammenhang steht damit ein Zweites: die Bejahung der konkreten Staatsgewalt, die den antiken Menschen umgibt. Das hat seinen Niederschlag in dem berühmten 13. Kapitel des Römerbriefes gefunden. Die Obrigkeit kommt von Gott; hinter jeder Obrigkeit steht die geschichtswirkende Kraft Gottes, wie jedes Zuwiderhandeln gegen obrigkeitliches Gebot ein Sichwidersetzen gegen Gottes schöpferischen Ordnungswillen ist. Obrigkeit steht im Dienst Gottes, denn sie wirkt die Gerechtigkeit; so liegt in ihrem wesenhaften Handeln ein unmittelbarer göttlicher Sinn. Auf der anderen Seite entwirft er aber, der große Messiasgläubige, zugleich einen sozialphilosophischen Aufriß der neuen Gemeinschaft der Christusgefolgschaft, der Ekklesia. Er braucht für sie das Bild des menschlichen Leibes. Das ist an sich in der antiken Literatur nichts Seltenes, auch wenn wir von den großen Konzeptionen Piatos und Aristoteles' absehen. Aber hier erhält es eine ganz bestimmte Akzentuierung und einen ganz bestimmten, nur ihm eigentümlichen Sinn. Es tritt hier weder in der naiven, ganz naturhaften Form wie in dem Gleichnis des Menenius Agrippa auf, um die Notwendigkeit des e i n e n Gliedes im Zusammenwirken mit dem anderen zu beweisen, noch in dem platonischen Sinne, u m das Ganze des Organismus über das Individuum zu erhöhen, noch wie bei Aristoteles, um das Sinngefüge naturhaft gegebener Gemeinschaft zu charakterisieren. Das Gleichnis vom Sorna Christou, das Leben und Sein der Gemeinde begründen und ausdeuten soll, ist wesentlich differenzierter und komplizierter. In dem Gedanken von Christusleib und ChristusHaodb. d. Phil. IV. D 3

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hauptschaft wird nicht allein die christliche Gemeinschaft als eine in der metaphysischen Christuspersönlichkeit sich darstellende ideal-reale Größe gefaßt; es werden von hier aus gerade auch die einzelnen menschlichen Individualitäten und Begabungen, die in dieser Gemeinschaft gegeben sind, bewußt bejaht. Denn es ist eben der Christusgeist, der sie alle zu einer Einheit zusammenfaßt, und zwar gerade und wesentlich dadurch, daß er sich in den und durch die Individualitäten der Einzelnen auswirkt. Damit wird schließlich dann auch noch zum Ausdruck gebracht, daß die so entstandene Gemeinschaft nicht von unten her aus freier Willensentschließung der Beteiligten gebaut ist, sondern von oben her aus der schöpferischen und die Menschen überwältigend ergreifenden Macht des Geistes entsteht. Der Gedanke der überindividuellen Ekklesia wird dauernd festgelegt, aber ebenso auch dauernd in ihr die besondere Funktion der Individuen erfaßt. Zugleich aber kann aus dieser geistigen Art heraus von Anfang an die Ekklesia als weltumspannende Gemeinschaft begriffen werden, die sich in der Vielheit der einzelnen Ekklesiai widerspiegelt, so daß jede repräsentativ für das Ganze ist, jede in ihrer geistbestimmten Art den Anspruch auf das Prädikat Ekklesia ergeben kann, alle aber doch in einem großen einheitlichen Zusammenhang stehen und erst durch die Hauptschaft Christi zu dem Sorna Christou zusammengeschlossen werden. So wird die Position des Paulus durch ein Doppeltes charakterisiert, das in seiner Bezogenheit aufeinander nicht nur seine besondere Eigenart bestimmt, sondern gerade auch durch diese Bezogenheit ihre eigentümliche geschichtswirkende Kraft empfangen hat. Er spricht ein J a zum natürlichen Rechtsbewußtsein des Menschen, ein J a zum rechtssittlichen Charakter des Staates, ein J a also zu dem, was das ethische Schlußwort der Antike zur Welt der politischen Phänomene ist. Aber mit seinem Ekklesiagedanken setzt er auch einen neuen Antrieb in die Geschichte, einen Antrieb, der zugleich hineingepflanzt ist in eine ganz konkrete Menschengemeinschaft. Damit sind alle entscheidenden Ansätze für die spätere Entwicklung gegeben. Paulus steht in Wahrheit an der Grenze zweier Zeitalter. Aber er grenzt die Zeitalter ab, indem er sie zugleich verbindet. 1. AUGUSTIN. Denn n u n wird das Christentum eben, als es überall die entscheidenden geistigen Positionen der Zeit erobert hat, in eine ungeheure Katastrophe verstrickt, die gerade das Ende der politischen Existenzform dieser Zeit anzuzeigen beginnt: den Zusammenbruch des römischen Staates, der sich in dem Gotensturm über die aurelianische Mauer mit erschütternder symbolischer Eindruckskraft vollzieht. Wer ist schuld an diesem Zusammenbruch ? Das ist die Frage, die sich dem römischen Menschen mit elementarer Gewalt auf die Lippen drängt. Eben das

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Christentum, so scheint es, das mit seiner neuen Tugendlehre den Kern des römischen Staates, die alte virtus, vernichtet hat. Das politische wie das Staatsgefühl begehren gleicherweise auf gegen die neuen Mächte. Das ruft A u g u s t i n auf den Plan. Sein großes Werk von der civitas Dei, das wie kein anderes das geschichtsphilosophische Denken der Jahrhunderte bestimmt hat, ist, wie man mit Recht betont hat, vor allem einmal zuerst als Apologie zu verstehen. Aber es wird mit innerlicher Notwendigkeit, weil das Christentum zugleich übergeschichtliche wie geschichtsbezogene Religion ist, zu einem geschichtsphilosophi10 sehen Aufriß getrieben. Selbstverständlich, daß die Geschichte nicht das Schauspiel eines Kampfes der rohen empirischen K r ä f t e sein kann, sondern als das Gegeneinander übergeschichtlicher und überzeitlicher K r ä f t e aufgefaßt werden muß, die sich in jenen auswirken. Das Gegeneinander dieser Kräfte ist aber nichts als das Gegeneinander sittlicher und widersittlicher Mächte. So kommt es zu der gewaltigen Konzeption der beiden civitates, der civitas terrena und der civitas coelestis, die miteinander im K a m p f liegen. E s sind zunächst nicht Staaten im eigentlichen Sinne, die damit bezeichnet werden, sondern mystisch metaphysische Gemeinschaften, die 20 sich widerspiegeln in soziologischen Gruppen, die miteinander durch die gleiche Deutung des Lebenssinnes und die gleiche Willenshaltung der Lebensführung verbunden sind. Die Haltung der von der Gewißheit des überzeitlichen Ewigen ergriffenen Menschen, die aus der weltüberwindenden K r a f t des Glaubens leben, dort; harter Diesseitswille, starre Welt- und Zeitbefangenheit, zerstörender Wille zum eigenen Selbst hier. Große Teile der Bibel, zumal der Psalmen, geben die Grundlage der von hier aus erwachsenden Geschichtsbetrachtung; vor allem ist es die dämonische Glut der Apokalypse und die geheimnisgesättigte Symbolsprache des Hebräerbriefes, an der sie gewachsen ist. Aber auch die 30 platonische Schau der Idee spielt hinein, zumal in der Form, welche die spätere Stoa und Seneka ihr gegeben haben, und in der sie schon der größte der christlich-griechischen Denker, Origenes, aufgenommen hatte. In gewaltigen Antithesen schreitet sie einher. Hier die Herrschaft des Wahnes, dort die Herrschaft der Wahrheit. Hier die Herrschaft der Natur, dort die Herrschaft der Gnade. Hier die Fortpflanzung durch Geburt, dort die Fortpflanzung durch die Wiedergeburt. Hier alles naturbestimmt, dort alles naturüberwindend. Hier schafft man sich die Gottheiten selbst und zersplittert die Verehrung in der Vielheit; dort herrscht der Eine Gott, der die Wahrheit selber ist und sich majestä40 tisch im Weltgefüge offenbart. Hier hängt man sein Herz ganz an die Güter dieser Welt, dort lebt man in Hingabe und Verbundenheit mit dem ewigen Gott. Hier steigert sich Gottesverachtung durch Selbstüberhebung und Gehorsamsaufsage zur Anbetung des eigenen Selbst, dort wirkt sich die Gotteshingegebenheit im Gefühl der eigenen NiedrigD

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keit zur seelischen Haltung des Gehorsams und der Frömmigkeit aus. So sind alle zerstörenden Mächte der Geschichte auf jener, alle geschichtsbauenden Mächte auf dieser Seite. Dort herrscht dauernder Krieg, der die Welt verwirrt, und ist der Friede kein Gut an sich, sondern das Mittel zu wachsendem äußeren Wohlstand und lustvoller Zerstreuung. Dort findet man, in unfroher Skepsis verstrickt, den Sinn des Lebens nur in der Macht, die die anderen unterjocht; man herrscht aus Lust am Herrschen und füllt die Welt so immer aufs neue mit Kampf und Zerstörung. Hier herrscht die schöpferische Macht freudiger Gläubigkeit, die rechte Unterscheidung zwischen wahrhaften und unwahrhaften Gütern lehrt. Hier ruht man friedvoll in der Gewißheit des gottgeschenkten Reichtums der Seele. Hier lebt man in Gottes heiligem Willen, weil diese Gemeinschaft ja eine solche aus der schöpferischen Wiedergeburt des Geistes ist, die Gemeinschaft eines in Anbetung des wahrhaften Gottes geeinten völkerverbindenden Reiches. So steht hier überall das Zeichen des Friedens; man trachtet nicht nach Herrschaft. Wird sie aber Einem in die Hand gegeben, dann übt er sie aus, um zu dienen, übt sie mit dem Szepter der Liebe und vatergleicher Güte. Der Krieg ist nicht an sich Sünde: man kann aufgerufen werden zur Schützung heiliger Güter und zur Abwehr des Unrechts. Aber man vermag ihn doch nicht zu preisen: er ist nicht, wie für die Kinder der Welt, der Weg zum Glück, sondern er bleibt ein Übel, das unentrinnbar mit diesem Weltlauf verflochten ist. Alles das wird zunächst ausgesagt von ideellen, metaphysischen Gemeinschaften. Aber eben diese Gemeinschaften formen sich im konkreten Leben der Geschichte aus, und indem das apologetische Werk ausholt zu einer gegenständlichen Durchformung eben des gegebenen Geschichtsbildes, treten diese beiden civitates in eine innere Beziehung zu den beiden Größen des geschichtlichen Staates einerseits, der geschichtlichen Kirche andererseits. Vor dem Blick des Autors ziehen, in Weiterführung der danielischen Vision, die großen Weltmächte Rom, Athen, Ägypten, Babylon vorüber. Sind sie nicht alle Ausstrahlungen des Reiches der Unfrommen ? Alle diese Staaten sind doch der Sünde entsprungen. Wo ein Staat entsteht, da fließt Blut. Das, was in ihnen als Recht auftritt, ist in Wahrheit das, was dem Stärkeren nützlich ist. Und ist Gerechtigkeit die große Kunst, jedem das Seine zu geben, so versagt der heidnische Staat gerade hier. Er führt seine Bürger nicht Gott, sondern den Dämonen zu. Ja, es gibt bisher überhaupt noch keinen Staat, der wirkliche Gerechtigkeit k e n n t ; von ihr wissen in Wahrheit nur die Gotteskinder. Fehlt aber die Gerechtigkeit in ihnen, was sind die Staaten dann anderes als große Räuberbanden? So zeichnet das konkrete Geschichtsbild Augustins den Staat mit immer tieferen, dunkleren Zügen, die um so stärker wirken, als sich demgegenüber aller Glanz und alles Licht auf die Kirche versam-

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melt. Nicht nur, daß sie gefaßt ist als die Gemeinschaft der gottergriffenen Menschen, die die Entscheidung für das Gottesreich vollzogen haben. Die Kirche in ihrer Unmittelharen empirischen Gegenständlichkeit wird geradezu mit dem Reich Gottes gleichgesetzt. Wieder leuchtet, alte christliche Motive aufnehmend, eine Vision der Apokalypse auf, und zwar die, die von der ersten Auferstehung, der Bindung des Teufels und dem Tausendjährigen Reich handelt, das dem Endgericht vorgelagert ist. Indem diese erste Auferstehung mystisch gefaßt wird als das Erwachen der Seele zu Gott, wird sie zu einem Vorgang der Gegenwart. Damit wird aber das Tausendjährige Reich als schon angebrochen angesehen; es ist nichts anderes als die eigentliche Gegenwart der christlichen Weltepoche selber. Dann müssen aber auch die himmlischen Richter, von denen die Apokalypse spricht, da sein. Und sie sind es auch. Es sind die christlichen Priester und Bischöfe, die ihr Amt aus göttlicher Weihe und kraft göttlicher Eingebung führen und auf Erden binden und lösen, was auch im Himmel gebunden und gelöst wird. Die Kirche ist für Augustin also zugleich das Reich Christi und das Reich Gottes. Beide Größen fallen ineinander. Gewiß, sie ist noch nicht Gottes Reich in der Endvollendung. Noch wandert sie auf Erden, ein Abbild und eine Ausprägung des himmlischen Staates, aber doch voll so mancher Unvollkommenheit. Unkraut und Weizen wachsen zugleich in ihr, neben den wahrhaft Frommen und Erwählten sind auch Schlechte und Heuchler in ihr — aber ihrem innersten Wesen nach ist sie doch schon das regnurn Dei. Zwar nur ein regnum misericordiae, das sich aber doch am Ende der Tage zum regnum gloriae enthüllt. So scheint es, als gäbe es für Augustin gegenüber den staatlichen Dingen nur einen ganz tiefen Pessimismus, als gäbe es eine positive Philosophie nur der Kirche, die mit solchem Glanz gesehen wird, daß sie alle anderen Gemeinschaften schlechthin überstrahlt. So hat man ihn denn auch oft genug gedeutet, zumal in den Zeiten leidenschaftlicher Höchstspannung des Kampfes zwischen Kirche und Staat bis in das 19. Jahrhundert hinein. Dagegen ist freilich mit Recht Widerspruch erhoben worden. In Wirklichkeit gewinnen die Dinge sofort ein anderes Gesicht, wenn man die augustinische Schau von Staat und Kirche aus dem Zusammenhang heraus entwickelt, den wir neben sein geschichtsphilosophisches System als sein sozialphilosophisches System stellen können. Es ist vornehmlich das Material aus seinen übrigen Schriften, zumal den Predigten und Briefen, das hier als Quelle in Frage kommt. Von hier aus erhalten dann aber auch bestimmte Partien des Buches vom Gottesstaat stärkere Beleuchtung und andere Akzentuierung. Das grundlegende Phänomen des politischen Lebens ist hier für den Denker der Trieb zu Geselligkeit und Ordnung, der schon beim Tier in Erscheinung tritt und den Menschen durch die Gesetzlichkeit seiner Natur dazu treibt, Gemeinschaft und Friede mit anderen zu suchen.

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So steht am Anfang eine sozialoptimistische Auffassung, die gleichbedeutend ist mit dem positiven Ideal des Friedens. Denn dieser ist seinem Wesen nach nichts anderes als geordnete Eintracht, die Ruhe aus der Ordnung, die rechte Lage und Verbindung der verschiedenen Teile und Elemente des sozialen Lebens, Vorstellungen, hinter all denen das Bild des gliedhaften Organismus aufleuchtet. Werden hier antike Elemente aufgenommen, so erhält das Ganze sofort dadurch seine bewußt christliche Note, daß dieser Optimismus ganz vom Religiös - Theozentrischen her gesehen wird. Denn es ist Gott, der gerechte Ordner der Welt, der hinter allem steht; er schenkt dem Menschen auch ein dem Zeitlichen entsprechendes Gut in dem Frieden der Zeitlichkeit, der wiederum Gesundheit, Sicherheit, Geselligkeit gibt. Das wird in eigentümlicher Weise mit dem Erlösungsgedanken verbunden. Wer die niederen Güter recht gebraucht, macht sich dadurch auch wert für die höheren. Friedlos wird diese Ordnung erst durch den Menschen, der von Gott los ist und seinen ungerechten Herrschaftswillen an die Stelle des Gottesfriedens setzt. Er richtet an der Stelle von Gottes Willen seine eigene Macht auf und knechtet die anderen; diese Herrschaft, insbesondere auch die Sklaverei, entspringt wirklich der Sünde. Es ist also bei Augustin wie bei Aristoteles der Gedanke des Naturrechts, der hinter allem steht, des Naturrechts, das zugleich als natürliches Sittengesetz und als die Summe der ethischen Prinzipien, die der Menschenvernunft ohne weiteres immanent sind und insbesondere für das christliche Bewußtsein in der Grundforderung des mosaischen Zehngebots ihre dauernde Ausprägung gefunden haben. So ist der Staat seinem inneren Sinn nach eine Größe des Naturrechts, in dem die geordnete, in Befehlen und Gehorchen geübte Eintracht der Bürger herrscht. Verschieden ist aber die Art, wie die Menschen des Gottesreiches und die Menschen der irdischen Gemeinschaft sich dazu stellen. Für den einen sind sie Wege zu den Dingen und Vorteilen des zeitlichen Lebens, für den anderen Stütze und Stab für die Wanderung durch das zeitliche Leben in die Ewigkeit. Daraus ergibt sich, daß der Staat auf dem gottgesetzten Gemeinschaftstrieb des Menschen beruht, wie er zugleich für bestimmte, gottgesetzte Zwecke wirksam ist. Er ist ein Teilstück der göttlichen Gnadenordnung und insofern nicht Organismus der Sünde. Aber er steht in seiner konkreten Gestalt doch stets dem Einfall der Sünde offen. Von hier aus lösen sich auch die Schwierigkeiten, mit denen Augustins Definition vom Staat verbunden ist. Die Begriffsbestimmung Ciceros, die ihn als eine geschlossene Menge von Menschen, die durch die Gemeinschaft des Rechts und des Nutzens verbunden sind, bezeichnete, hat er abgelehnt. Nicht, weil er die von der Antike ererbte und zugleich in seinem christlichen Gewissen verwurzelte Verbindung von Staat und Recht schlechthin leugnete, sondern weil das Bild der empirischen Staa-

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ten der heidnischen Zeit, die doch auch Staaten waren, nicht dieser Definition entsprach. Gerechtigkeit ist die Tugend, die jedem das Seine gibt. Der heidnische Staat der Vielgötterei gibt aber gerade Gott nicht das, was ihm gebührt. So kommt er zu der herabgeminderten Definition: Staat ist eine Vereinigung vernunftbegabter Menschen, die durch gemeinsamen Anteil an den Dingen, die sie lieben, verbunden sind. Er gibt also eine vom ethischen Element befreite Begriffsbestimmung, die eine konkrete Ausprägung sowohl nach der sittlichen wie nach der widersittlichen Seite zuläßt. Daneben steht dann aber die andere Äußerung : was sind Staaten ohne Gerechtigkeit anderes als große Verbrechen ? Daraus ergibt sich, daß sich für Augustin nicht nur gefühlsmäßig, sondern bewußt im normativen Sinn eines letzten ethischen Postulats doch wieder im tiefsten Grunde die Idee der Gerechtigkeit mit dem Staat verbinden muß. Von hier aus gestaltet sich das Bild dann so: mit dem Augenblick, wo die triebhaften Strebungen im Staat ungezügelt das Leben des Ganzen bestimmen, da wird er selbst voll Begier und Hochmut im widergöttlichen Sinne sein. Das gilt vor allem von den antiken Staaten und Weltstaaten, die in ihrer Entwicklung im ganzen diesen heidnischen und unsittlichen Charakter abspiegeln. In dem Maße, wie der Staat tatsächlich an die Gemeinschaft der Gottlosen heranrückt, gerät er in die Macht der Dämonen, die hinter dem Götzendienst stehen, und wird damit zur civitas diaboli. So wird Augustins Konzeption im letzten Grunde doch zu einer großen Predigt von der Sittlichkeit des Staates und auf die Sittlichkeit des Staates sein. Der Staat soll sein eine Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit, der der Sicherheit des Lebens und dem leiblichen Wohl dienend, als eine irdische Gemeinschaft dasteht, aus der heraus die Möglichkeit für eine himmlische Gemeinschaft erwächst. Er wird verzerrt, wenn er sich mit der heidnischen Religion verbindet, wenn er sich nicht der öffentlichen Moral und Wohlfahrt annimmt, wenn er sittlich niedergeht, und wenn er sich selbst als letzten Wert ansieht. Umgekehrt empfängt der Staat gerade vom Christentum her Sittlichkeit und Weihe zu jenen höheren Zielen. Das Christentum gibt, wie dem Einzelnen, so auch dem Staat durch seine Lehre erst die s i c h e r e n , in unverlierbarer Gewißheit ruhenden Grundsätze des Rechts und der Sittlichkeit. Es gründet staatliche Treue und soziale Gesinnung nicht bloß auf äußeren Zwang, sondern auf das Gewissen, das sich dem alles wissenden Gott verantwortlich weiß. Es zeigt uns den Fürsten als Stellvertreter und Organ der göttlichen Weltordnung. Damit ermöglicht es die Ehrfurcht auch vor schlechten Fürsten, gibt aber auch den Mut, sündhaften Anordnungen den Gehorsam zu verweigern. Es gibt den Fürsten damit eine neue und vertiefte Auffassung von ihrem Amt. Das große Idealbild eines christlichen Herrschers leuchtet auf. Denn die Gnade Gottes ist nicht nur ein neues Prinzip des innerlichen Lebens,

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s o n d e r n w i r k t sich a u c h u n m i t t e l b a r i m sozialen Sein aus. So ist die christliche Religion das Heil des S t a a t e s d u r c h E r n e u e r u n g der Sitten. Der n a t ü r l i c h e S t a a t , d e r schon insofern G o t t e s O r d n u n g ist, wird d u r c h das C h r i s t e n t u m erhalten u n d v e r k l ä r t . „ D e r S t a a t , der den Menschen fleischlich e r z e u g t h a t , möge er a u c h geistig geboren w e r d e n und mit uns zur Ewigkeit hinübergehen." A u c h das w e i t e t sich zu einer großen P e r s p e k t i v e aus. Sowie der S t a a t selbst ganz aristotelisch aus vielen Familien z u s a m m e n g e s e t z t ist, so ist hier a u c h der I d e a l z u s t a n d n i c h t der W e l t s t a a t des römischen I m p e r i u m s , s o n d e r n eine Vielheit kleinerer S t a a t e n , die in friedlicher N a c h b a r s c h a f t m i t e i n a n d e r leben u n d die O r d n u n g e n G o t t e s verwirklichen. U n d ebenso erhält v o n hier aus das Verhältnis zwischen S t a a t u n d Kirche seine ganz b e s t i m m t e Lösung. So entscheidende u n d wesentliche Dinge a u c h v o m S t a a t ausgesagt w e r d e n , das C h r i s t e n t u m h a t d o c h letztlich seine a d ä q u a t e soziale A u s p r ä g u n g in der K i r c h e als d e r eigentlichen D a r s t e l l u n g des G o t t e s s t a a t e s , als des gegenständlich gewordenen Gottesreiches selbst. J e n e V e r k l ä r u n g des S t a a t e s ist also nicht möglich ohne ein positives Verhältnis zur K i r c h e . Sie setzt dieses vielmehr v o r a u s u n d o r d n e t d a m i t zugleich den S t a a t der K i r c h e in einer b e s t i m m t e n Beziehung u n t e r . D a s ist f ü r i h n ganz sicher keine juristische O r d n u n g ; i m Gegenteil, w e n n er die juristische F o r d e r u n g ü b e r d e n k t , so k a n n e r vielmehr gerade u m g e k e h r t sagen, d a ß die K i r c h e eben d e m S t a a t u n t e r g e o r d n e t ist, dessen Gesetze u n d weltliche G e b o t e sie a c h t e t u n d befolgt. W o h l aber ist f ü r jene eine ethische Ü b e r o r d n u n g gegeben. Die Kirche ist d e m Staat als Träger u n d gottgegebene A u t o r i t ä t der religiös-sittlichen Heilsoffenbarung geistig überlegen. So sollen die Herrscher i h r A m t zugleich als Dienst a n der Kirche, a n i h r e m Heilswerk f ü h r e n . Sie geben d e r K i r c h e die Hilfe, d a ß sie H e r r i m eigenen H a u s e ist, u n d sie sorgen in i h r e m eigenen H a n d e l n zugleich f ü r die Ausbreit u n g des C h r i s t e n t u m s . So liegt die staatsphilosophische S e n d u n g A u g u s t i n s in einem Dopp e l t e n . Auf der einen Seite wird die a n t i k e philosophische Idee des richtigen S t a a t e s u n d der rationalen Gerechtigkeit b e h a u p t e t gegenüber aller E n t a r t u n g u n d B e g r e n z u n g des t a t s ä c h l i c h e n S t a a t e s ; auf der a n d e r e n Seite w e r d e n die a b s o l u t e n W e r t e u n d Ziele christlicher Geistigkeit ü b e r diesen S t a a t r i c h t e n d u n d ausrichtend stabiliert. Zugleich a b e r wird auch das Ganze in eine einheitliche große geschichtliche K o n z e p t i o n hineingestellt. E b e n d a r a u s ergibt sich jenes Bild der D u r c h f ü h r u n g i n seiner in Einzelheiten zunächst v e r w i r r e n d e n Vielfältigkeit, d a s d e m wissenschaftlichen V e r s t ä n d n i s z u n ä c h s t so große Schwierigkeiten aufzugeben scheint. So ist es nicht zu verwundern, daß von hier aus die verschiedensten geschichtlichen Folge Wirkungen a u f t r a t e n . Denn die eigentlichen Wirkungen h a t Augustins Intuition nicht mehr im H e r b s t der Antike, sondern in Frühling und Sommer des Mittel-

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alters entfaltet. Zunächst h a t sie die ganze Sitten- und Rechtslehre der folgenden Jahrhunderte und zumal des neuen abendlandischen Kaisertums bestimmt. Das konnte sie u m so mehr, weil die naturrechtlichen Elemente bei Augustin ja nichts anderes als dasselbe stoische Naturrecht waren, das die Lehren des Corpus iuris civile durchzog u n d begründete, das jetzt auf weltlich-rechtlichem Gebiet in die zweite Epoche seiner geschichtlichen Wirksamkeit t r a t . Die tiefe und starke Grundlegung des Rechtsgedankens in Augustiiis Werk verbündete sich aber auf der anderen Seite auch wiederum mit dem natürlichen Rechtsgefühl eines jugendlichen Volkes, das schon aus seinem wesenseigenen Geistesgehalt heraus im Rechtsgebot ein Hineinragen der Überwelt in diese Welt sah. „Wer Gott minnet, der minnet Recht. Gott ist selber R e c h t " , wird so eine der großen Grundformeln germanisch-mittelalterlicher Weltansicht. Aber auch die Wirklichkeit der gleichzeitigen politischen Welt drängt in dieselbe Richtung. Für ihr Bewußtsein ist der große weltgeschichtliche Tag des Christentums angebrochen. Schon zu seinen Lebzeiten wird von hier aus die Gestalt Kaiser Karls zu mythischer Größe heraufgehoben. Sind die vier Weltreiche der danielischen Vision zerbrochen und ist jetzt das Tausendjährige Reich heraufgezogen, dann ist kein anderer als der Kaiser der Welt Herr dieses Reiches. Schon Augustin h a t t e von den alten Reichen und ihren Herrschern verkündet, daß auch ihr Sein und Walten durch Gottes Zulassung entstanden sei. So ist auch Karl dem Großen seine Krone in einem ganz besonderen positiven Sinne gegeben: von Gottes eigener H a n d ist das Imperium in eine neue H a n d gelegt. So wird Karl zum gottgesandten Friedensfürsten, zum christlichen König schlechthin. Es ist nicht nur persönliches Ethos, sondern zugleich echtestes Zeitgefühl, daß ihm das Werk Augustins und darin besonders das Kapitel vom christlichen Fürsten zum Lieblingsbuch geworden ist. So kann, das scheint die letzte Folgerung dieser Gedanken, das Reich, die große Gemeinschaft christlicher Völker, die unter seinem Szepter stehen, letztlich auch nichts anderes sein als das corpus mysticum Christi selbst, das corpus christianum. Damit werden aber römische Kirche und karolingischer Staat zugleich identisch in ihrer sozialen Grundlage, wie sie ebenfalls aus derselben Geistigkeit heraus Wesen u n d innere Begründung empfangen. Von da aus ergibt sich dann die Möglichkeit, ihren Dualismus in einer idealen Einheit zu verfestigen. So werden beide gefaßt als verschiedene Funktionen an demselben Organismus. Das stärkt auf der einen Seite die Autorität des Kaisers ins Übermächtige, in dessen Dienst sich n u n auch die K r a f t der christlichen fides stellt. Das vergeistigt aber auch zugleich die Stellung des Kaisers zu einem besonderen Amt und Dienst, zu einer Funktion an der Gemeinschaft, die über diese Gemeinschaft hinausragt und selbst der geistigen Sphäre zugehört, aus der der Fürst eine besondere Gnadenweihe, ein heiliges Charisma empfängt. I m Zeremoniale der Kaiserkrönung findet das alles tiefsinnigen symbolischen Ausdruck, wie deren Liturgie ebenso von augustinischen Ideen wie von den großen Bildern alttestamentlichen gottgefälligen Königtums gesättigt ist.

Die große sozialphilosophische und Geschichtskonzeption Augustins erweist sich so als stark genug, eine ganze Welt politischer Wirklichkeit mit ihren Ideen zu durchdringen und sie mit Sinn und Sendung eines besonderen geistigen Inhalts zu erfüllen. Aber aus dieser politischen Wirklichkeit entstehen nun neue Probleme. Die Kirche ist längst kein geistiger Organismus mehr, ist nicht mehr der mystische Leib Christi allein, der aus dem frei schaffenden Pneuma entstanden ist, wie Paulus sie sah. Die Kirche, die für Augustin Erscheinung des Gottesreiches war, war auch schon für ihn zugleich die konkrete Kirche der 50 Bischöfe, die kraft heiligen Charismas ihres Amtes walteten. Die seit dem ersten Clemensbrief einsetzende Entwicklung, die überall das freie

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Walten des Geistes zugunsten von Recht und geschichtlicher Ordnung abgedrängt hatte, war längst vollendet worden, vor allem auch an der Spitze, in der Ausprägung des Papsttums. Dieser juristische Organismus war aber mit seinen konkreten Autoritäten und durch deren Verflechtung in konkretes Handeln mit innerer Notwendigkeit zugleich ein politischer Organismus. So begreift sich die Notwendigkeit politischer Gegensätzlichkeiten und Spannungen, die unter 9er Decke jener einheitlichen Konzeption ihre dualistischen Faktoren immer wieder gegeneinander treten lassen. Das große Recht der Kirche ist es, gerade auch und vornehmlich religiös gesehen, ihre innere Freiheit und eigene Art gegenüber dem Staatlich-Politischen zu erhalten. Das Papsttum, das Träger der Einheit der Kirche ist, wird zugleich zum Kämpfer für ihre Selbständigkeit. Dabei ist charakteristisch, daß in der Auseinandersetzung mit dem Morgenlande überall die Grundlinien der augustinischen Konzeption gewahrt bleiben, ja, die Darlegungen von hier aus ihre entscheidende K r a f t gewinnen. Die große Abwehrschrift des Papstes Gelasius (um 500) zeigt das mit aller Deutlichkeit. Das oströmische Kaisertum hatte den Titel des Pontifex maximus zwar niedergelegt, aber doch ein System des ausgesprochenen Gäsaro-Papismus, der Herrschaft des weltlichen Herrn auch über die Kirche, aufgerichtet. Das aber ist für den Augustinismus des Westens Teufelswerk, ist nichts anderes als eine dämonische Nachahmung des wahren priesterlichen Königtums Christi nach der Ordnung Melchisedeks, von dem der Hebräerbrief redet. Denn dieses Amt, das Priester- und Königtum zugleich ist, steht allein dem Herrn Christus zu. Wohl sind die Gläubigen zugleich ein königliches und ein priesterliches Geschlecht, aber niemals darf sich der Kaiser Namen und Rang des Pontifex beilegen, niemals der Pontifex die königliche Würde beanspruchen. Denn wegen der Schwäche der menschlichen Natur, die in der steten Gefahr ist, der eigenen Überheblichkeit zu erliegen, hat Christus die Teilung jener Ämter bestimmt. Und da jedes von ihnen seine besondere Zuständigkeit, seine besondere Würde hat, so sollen sie sich wechselseitig dienen. Der Kaiser ist f ü r sein ewiges Leben gewiß an den Papst, der Papst f ü r das zeitliche Leben aber ebenso gewiß an den Kaiser und seine Gesetze gebunden. Es sind die alten augustinischen Gedanken, hier aber ganz bewußt zu einem System der Gleichgewichtslage beider Mächte ausgeformt. Die berühmte ZweiSchwerter-Lehre des Mittelalters nimmt von hier aus ihren Anfang. Aber freilich: d a m i t verschärft sich zugleich das Stück Problematik, das schon in Augustins Lehre angelegt war, aber dort noch u n t e r dem religiösen P a t h o s des Ganzen u n d angesichts einer noch in völligem Wechsel u n d Werden stehenden politischen Wirklichkeit k a u m spürbar hervorgetreten war. Der Gedanke der Gleichlagerung beider Gewalten wird doch nicht zu dem Gedanken einer völligen Gleichbedeutung emporgesteigert. W e n n die priesterliche Gewalt verantwortlich auch f ü r das Seelenheil der Könige ist, d a n n wird ihr in einem entscheidenden P u n k t die Überlegenheit ü b e r den S t a a t gesichert. Denn wie, wenn das schwankende

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ethische Urteil gerade in die volle Gegensätzlichkeit politischer Konflikte zwischen S t a a t u n d Kirche hineinspringt? Die letzte Schwierigkeit liegt j a nicht so sehr in der Tatsache des Anspruchs auf moralische Überlegenheit, den die Kirche als religiöse Gemeinschaft geltend m a c h t , sondern darin, daß diese sich priesterlich autoritär verfestigt h a t und mit dem juristischen Anspruch letzter Entscheidungsgewalt a u f t r i t t , u n d d a ß umgekehrt von der Seite der politischen Wirklichkeit her eben dieser politische Wille u m seiner Einheit willen zu Entscheidungen drängt, die nur einheitliche Entscheidungen f ü r seine Ganzheit sein können.

So d r ä n g e n m i t t e n aus d e n eigentlichen Voraussetzungen des gedanklichen Systems wie aus der k o n k r e t e n Wirklichkeit des Mittelalters lebenss t a r k e K r ä f t e zu einer Zerreißung j e n e r idealen E i n h e i t , die sie in eine welthistorische Krise f ü h r e n . U n d wieder sind es rechtliche, politische u n d religiöse G e d a n k e n , die sich dabei eigentümlich i n e i n a n d e r verschlingen. I m R a h m e n des kirchenrechtlichen D e n k e n s u n d der kirchenrechtlichen Organisation t r i t t seit dem E i n t r i t t des G e r m a n e n t u m s m i t der I d e e der Eigenkirche ein primitiver R e c h t s g e d a n k e , auf G r u n d dessen der E i g e n t ü m e r a n G r u n d u n d B o d e n sich a u c h H e r r ü b e r die Kirche weiß u n d diese H e r r s c h a f t n a c h eigenem Willen a u s ü b t , gegen die k o n k r e t e Gestalt des K i r c h e n t u m s a u f ; er k a n n n i c h t ohne R e i b u n g e n m i t d e m G e d a n k e n des kirchlichen Dienstes bleiben. U n d i m politischen S y s t e m des Reiches w e r d e n die Bischöfe aus i n n e r s t a a t l i c h e n N o t w e n d i g k e i t e n h e r a u s zu T r ä g e r n des S t a a t s - u n d Königsgedankens g e m a c h t . Von selbst m u ß t e v o n hier aus alles die weltliche Gewalt d a z u d r ä n g e n , d e n Griff a u c h n a c h d e m E i n f l u ß auf die B e s e t z u n g des p ä p s t l i c h e n S t u h l s zu t u n . Die T a t s a c h e , d a ß d a m i t spezifisch politische T e n d e n z e n u n m i t t e l b a r auf das kirchliche Wesen selbst A n s p r u c h erh o b e n , k o n n t e so lange n o c h f ü r das Bewußtsein der Beteiligten verschleiert bleiben, als die K a i s e r selber der R e f o r m b e w e g u n g in der K i r c h e n a h e s t a n d e n . Das m u ß t e sich a b e r m i t d e m Augenblick ä n d e r n , wo die rein politischen Gegensätze als solche a u f e i n a n d e r stießen.

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E s ist kein Zufall, s o n d e r n ebenso geschichtliche wie geistesgeschichtliche Logik, d a ß der Konflikt u n t e r den mönchischen R e f o r m e n Gregors V I I . e n t b r e n n t , d e r zugleich ein Politiker großen Stils ist. D e r R e f o r m e r u n d der Mönch in i h m wollen die E i g e n s t ä n d i g k e i t u n d die Freiheit der Kirche s i c h e r n ; der Politiker sieht, d a ß n i c h t zwei H ä u p t e r gleichzeitig i m R e c h t s - u n d K u l t u r s y s t e m des Reiches herrschen k ö n n e n , d a ß , bei aller ideellen A u s s o n d e r u n g der beiden H ä l f t e n , sie doch aus der Ganzheit des politischen Lebens h e r a u s s t e t s tief ine i n a n d e r v e r s t r i c k t sein m ü s s e n . So steigert sich in i h m der Wille der Kirche, der einst n u r auf d e n religiösen u n d sittlichen P r i m a t gerichtet w a r , j e t z t z u m A n s p r u c h a u f einen politischen u n d juristischen P r i m a t . E i n oberster R i c h t e r m u ß d a sein — wer k a n n es a n d e r s sein als der

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Papst ? Hand in Hand damit tritt die Idee einer Oberlehnsherrlichkeit des Papstes über die weltlichen Staaten auf. Alle leidenschaftlichen Töne, die Augustin gegen den empirischen Staat seiner Zeit und gegen die großen Weltmonarchien der Geschichte gefunden hatte, werden jetzt in den Dienst des Angriffs gestellt. Das steigert sich noch unter Bonifaz VIII., für den in leidenschaftlicher Überhöhung augustinischer Gedankengänge der Staat schlechthin zum Werk des Teufels und der Sünde zu werden scheint. Umgekehrt formt sich die Stellung des Papstes immer mehr zu einer Mittlerstellung zwischen Erde und Himmel aus, die ihn zwar unmittelbar unter Gott und Gottes Gesetz stellt und damit auch seine Macht schlechthin verbindlichen Normen, zumal den ethisch-juridischen des Naturrechts unterwirft, ihn aber zugleich über alle menschliche Gewalt emporhebt. Aber hinter allem steht doch eine echte religiöse Idee, der Gedanke, die Welt zu versittlichen, indem man zunächst einmal die Macht über diese Welt gewinnt. Die Idee einer weltumspannenden und weltdurchgeistigenden Kirchenstaatlichkeit ist hier in leidenschaftlicher Großartigkeit entworfen — nur daß sie eben kein arteigener christlicher Gedanke ist, sondern gerade im Gegensatz zu dem wesensbestimmenden Ausgangspunkt des urchristlichen Gemeinschaftswollens steht, in dessen Eingang das herbe Wort „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" erklungen war. So ist es bezeichnend, daß man sich mit diesem Evangelienwort nur mit den Mitteln juristischer Spitzfindigkeit auseinanderzusetzen vermochte. E s war nur eine Äußerung de facto, nicht de iure, die Christus zu Pilatus tat — so glaubt theologische Polemik die neue Wendung der Dinge rechtfertigen zu können.

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Damit war das klassische mittelalterliche System aufgelöst. Mit Recht empfand die Zeit diese Dinge als revolutionär, und es ist kein Wunder, daß, nachdem die Polemik zuerst im Sinne des alten mittelalterlichen Gedankens getrieben worden war, dann immer stärker und härter die auf Ein- und Oberherrschaft gerichteten Gedanken auch im kaiserlichen Lager auftreten. Ohne die mittelalterliche Gedankenwelt im Prinzip aufzugeben und etwa rein weltliche Gedanken an ihre Stelle zu setzen, steigert zuletzt Friedrich II. alle aus antiker Tradition übernommenen 30 Züge des mittelalterlichen Staatsdenkens wie allen Glanz des Kaisergedankens zu einer solchen Höhe, daß dem rückschauenden Betrachter hier zum ersten Male die Züge der großen Renaissancekonzeptionen aufzuleuchten scheinen. Alles das steht aber für die Zeit selbst gerade noch mitten in den großen Linien des eschatologisch-apokalyptischen Gemäldes christlicher Weltansicht, das hier mit ganz neuer Intensität wiederum durchlebt wird. Die Zeit, in der alles bricht und die heiligen Gewalten der Christenheit in Fehde gegeneinander liegen, kann nichts anderes sein als die Zeit des Endkampfes zwischen Christ und Antichrist. Nur erhalten bald hier der Kaiser, bald dort der Papst 40 die Züge des Widersachers der letzten Tage. Aber mit Leidenschaft werfen die echten Bewahrer mittelalterlich christlichen Geistes sich dieser Entwicklung entgegen. B e r n h a r d v o n C l a i r v a u x , indem sich ethische Grundhaltung, Christusmystik und politischer Gestaltungswille zu eigentümlicher Einheit verschlingen, sucht hier dem Papst, dort dem Kaiser tief die alten Lehren in die Seele zu graben: daß nur einer, Christus selbst, ein Priesterkönig in der Ordnung Mel-

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chisedeks, sacerdotium und imperium zugleich handhaben darf. In dieser Zeitlichkeit aber sei der Kaiser selbständig in weltlichen, der Papst in geistlichen Dingen. Und die beiden größten Geister der Zeit, Thomas von Aquino in seinem mächtigen gedanklichen System und Dante in seiner dichterisch-visionären Schau, fügen noch einmal alles in unmittelbarer Geschlossenheit zusammen. So ist T h o m a s v o n A q u i n o zunächst der vollendende und abschließende Denker der klassischen mittelalterlichen Ideen. Aber er gibt ihnen zugleich einen neuen Auftrieb. Die große Aristoteles-Renaissance, die an den Namen seines Lehrers Albertus Magnus anknüpft, wirkt hinein. So kann die Synthese antiker und christlicher Elemente mit ungleich größerer Geschlossenheit als bei den Vorgängern vollzogen werden. Gewiß fehlt ihr damit viel an elementarer Kraft und Ursprünglichkeit. Umso mehr wirkt sie durch die Würde und ruhige Überzeugungskraft eines in klarer Gedanklichkeit fest in sich ruhenden wissenschaftlichen Systems. Selbstverständlich steht am Anfang auch hier die religiöse Gesamtschau des menschlichen Gemeinschaftslebens, die für alle christlichen Ideenkonzeptionen kennzeichnend ist. Die Welt ist ein Staat unter Gott und steht unter den Gesetzen des göttlichen Zehngebots. Der biblische Gedanke der Abstammung vom Urmenschen und die aristotelische Idee der auf Gemeinschaftsleben gerichteten Natur des Menschen begründen dies gleicherweise. Gesellig muß der Mensch aber auch leben, u m sein Endziel zu erreichen: die Hingabe an Gott selbst. In Erkenntnis und Gesetzeserfüllung helfen und ergänzen die Menschen einander dafür. Und weil sie gemeinsam jenes Ziel erreichen sollen, müssen sie unter sich geordnet sein, ähnlich wie der menschliche Körper in sinnvoller Ordnung lebt. Der paulinische Organismusgedanke, der die Einheit in der Vielfältigkeit aus einer spezifisch geistigen Grundwirksamkeit begreifen läßt, wird so an entscheidender Stelle gleich in den Anfang der Konzeption hineingebaut. Von hier aus begreift man die Größe des Naturrechts, die alles durchzieht. Von hier aus begreift man aber auch, warum die Gerechtigkeit, ganz im Sinne Ciceros, Wesenselement des Staates sein soll. Mit Energie wird in diesem Zusammenhange der Fürstengedanke betont: weil der Staat ein durch die Geschichte zu Gottes Ewigkeit hinschreitendes Gebilde ist, muß die Vielheit der Menschen ein- und demselben untergeordnet sein, so wie es das Heer dem Führer ist. Aber diese Vielheit ist in sich vielfältig durchgeformt, so daß jedes Ding und Wesen seine Stelle und seinen Posten einnimmt und so den sozialen Organismus begründet. Damit wirkt sich das organische Element noch in einem weiteren Sinne aus. Die Idee des corpus mysticum begreift auch die weltlichen Berufe in sich. So wird auch der Staat zu einem dem menschlichen vergleichbaren Körper. Beide großen politischen und

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rechtlichen Tendenzen des Mittelalters, Herrschaft und Genossenschaft, können in großliniger Zusammenfassung ihre Stellung im Ganzen zugewiesen erhalten. Der Staat entsteht zugleich aus der Natur des auf Gemeinschaft angelegten Menschengeschlechts und aus der dazukommenden überlegenden Vernunft des handelnden Menschen. E r ist in der Vernunft des Menschen angelegt, und er wird zur Realität durch die Aktualisierung dieser Vernunft im konkreten Handeln. So steht ein Gesamtwille und eine innere Einigung der Bürger hinter und in diesem Sein, aber nicht im Sinne irgendeines individualistischen Vertragsschemas, sondern aus kosmischer Gesetzlichkeit und aus immanenter Sinnbezogenheit heraus. Wo Wendungen vorkommen, die an individualistische Schematisierungen erinnern, sind sie zumeist lediglich Hinweisungen auf einzelne Rechtsinstitute des Mittelalters. I n allem Entscheidenden ist die Konzeption durchaus universalistisch und organisch. Darum wird auch der Staat, wiederum ganz aristotelisch, zur Ganzheit gefügt gesehen nicht aus Individuen, sondern aus Familien, Dorfgemeinschaften, Städten. Und es wird aber zugleich ein Organismus sich wechselseitig ergänzender Berufe in ihm erblickt, der ebenso den Gedanken des Bedürfnisses sozialer Arbeitsteilung im antiken Sinne, wie den der besonderen Zuständigkeitsgruppierung im corpus christianum in sich enthält. Auch der Gedanke der Ordnung wird nach allen Seiten hin durchgeführt. Einheitliche Hinordnung zu einem obersten Ziel, sinnvolle Differenzierung und Über- und Unterordnung der artverschiedenen Teile, übergreifende Zusammenordnung der daraus sich ergebenden Funktionen zu einem einheitlichen Handlungsgefüge von innerer Geschlossenheit. Das, was der Staat geben will, besteht nicht nur in einem glücklichen, sondern auch in einem sittlichen Leben. Damit rückt die Idee des Rechts für den Staat auch von dieser Seite her in den Mittelpunkt. Auch für Thomas ist die Gerechtigkeit ein staatliches Ding. Des Staates Gut ist das Gerechte, und das Gerechte ist hinwiederum das, was dem gemeinen Wesen frommt. Aber damit erschöpft sich nicht die Tätigkeit des Staates, etwa im Sinne späterer liberaler Rechtsstaatstheorien. Eben der Begriff der Sittlichkeit führt darüber hinaus und gibt dem Staat wieder, im antiken Sinne, zugleich pädagogische Aufgabe und Verantwortung. Von hier aus entrollt sich ein System umfassender Staatsaufgaben, die Wirtschaft, Handwerk, Kunst ebenso in sich schließen wie Heer- und Finanzwesen. Das kann hier freilich wegen des spezifisch christlichen Ausgangspunktes nicht zu staatlicher Omnipotenz gesteigert werden. Selbst der Sklave und das Kind haben gewisse Naturrechte. Zumal gegen sittenwidrige Befehle gibt es ein Recht auf Gehorsamsverweigerung. Und wenn die Macht des Herrschers sich auf Gewaltt a t und Usurpation begründet, so vermag sie niemals Recht zu erzeugen, wie man auch umgekehrt dem sein Amt zu Recht verwaltenden Herrscher, auch wenn er ein schlechter Herrscher ist, niemals Ehrerbietung

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weigern darf. Hier ist jede politische Initiative des Einzelnen verboten. Juristische Autoritäten müssen einschreiten, sei es das Volk, dem das Wahlrecht des Herrschers zusteht, sei es der Oberherr, in dessen Kompetenz es steht, den Herrscher zu stellen. Ist beides nicht gegeben, so bleibt nur eins: sich an Gott zu wenden und Buße zu tun. Vor allem aber: der Staat ist nicht die Gemeinschaft schlechthin, sondern nur die eine Gemeinschaft, neben der die andere, die Kirche, steht. Denn auch die ethische Haltung des tugendhaften Lebens ist nicht das Letzte. Es gibt noch ein anderes, ein höchstes und letztes Ziel, die fruitio Dei, den Genuß Gottes, zu dem man durch jenes gelangt. Übernatur hebt die Natur nicht auf, aber sie führt sie zur Vollendung. So wird der Gemeinschaft des Staates die andere entgegengestellt, die in der Hand Christi liegt und damit zugleich in der seines Stellvertreters. Selbstverständlich wird die Stellung des Papstes in der Kirche nach allen Seiten hin ausgebaut. Ebenso wird auch das Gleichmaß der Gewalten im Sinne der Eigenständigkeit und Eigenzuständigkeit jeder Gewalt sorgsam gewahrt, während bezüglich der ethisch-autoritativen Überordnung der Kirche über die sittlichen Fragen des Politischen die alte Problematik ungelöst bleibt. Aber von der Übersteigerung der päpstlichen Macht zu juristischer Hoheit über das Imperium findet sich hier nichts. Mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Wesens sieht sich D a n t e mitten in die politischen Stürme und Zerrissenheiten seiner Zeit hineingestellt. Zerstörung hier und dort, Kampf zwischen Kaiser und Papst, Verderbnis der Kirche, Verderbnis der Sitten — alles das strömt brandend in sein großes Gedicht ein. Aber auch in seinem Lebenswerk steht am Anfang der Denker. Es ist kein Zufall, daß seine erste Schrift, das Convivio, im Titel unmittelbar an Piatos Gastmahl erinnert, mag es auch inhaltlich mehr ein Erzeugnis aristotelischen Geistes sein. Auch hier ist Ausgangspunkt der Gedanke, daß der Sinn des menschlichen Lebens Glückseligkeit ist. Aber daneben steht zugleich die große Not seiner Zeit, die zugleich eine sittliche und eine politische Not ist: Die Ländergier der Menschenseele hetzt Staat gegen Staat. So formt sich ihm hier zugleich eine ganz politische Forderung: das Glück der Welt kann nur ein Monarch bewirken, der an der Spitze der Welt steht. Er, der nichts mehr begehren kann, hält den Frieden und zwingt zum Frieden. Kaisergewalt ist tief im Sinne der menschlichen Gesellschaft begründet; sie wächst mit Notwendigkeit aus ihr hervor. Um recht zu regieren, braucht der Kaiser freilich auch rechten Rat. Neben die kaiserliche Autorität muß darum — und damit steigt der antike Weisheitsgedanke empor — die philosophische Autorität treten. So umspannt eine Einheit die Erde, die zugleich Einheit des Rechts, Einheit des Staates und Einheit der Weisheit bedeutet. Ihr ist die große Schrift von der Monarchie gewidmet. Auch in ihr ist alles

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— und damit ist sie hinwiederum zugleich ganz mittelalterlich — im Sinne einer großen geschichtsphilosophischen Gesamtschau gesehen. Man hat zwar gelegentlich die Einheit dieser Gesamtschau in Frage stellen wollen, indem man in ihr zwei Linien unterscheiden zu müssen glaubte, eine organische Denkweise, die sich an die Antike anschließt, und eine individualistische, die den christlichen Endzweck der Seligkeit der Einzelseele in den Vordergrund stellt. Aber in Wirklichkeit ist ja das Ziel des Christentums nicht die Seligkeit der Einzelseele schlechthin — das ist die moderne Mißdeutung eines augustinischen Wortes durch das individualistische 19. Jahrhundert —, sondern die Verwirklichung des Gotteswillens, das Gottes r e i c h . So ist es auch hier mit innerer Notwendigkeit der Gedanke des corpus mysticum, der die entscheidende Rolle spielt. Darin wird dann freilich die Doppelhaltung der Lebensmöglichkeit, die für die mittelalterliche Auffassung gegeben ist, für die Durchformung des politischen Weltbildes fruchtbar gemacht. Wie vita activa und contemplativa, das Leben des erdbezogenen Handelns und das Leben des geistzugewandten Schauens, einander ergänzen und bedingen, so sorgt auch der Friede, den die Menschen als Gemeinschaft untereinander schließen, dafür, daß mit der durch ihn geschaffenen äußeren Ruhe auch die Möglichkeit jenes schauenden Lebens eröffnet wird. So wird durch die Rechtsordnung auch das triebhafte Wesen des Menschen gezügelt. Es liegt im Zuge des Ganzen, daß der Gedanke der Bulle „Unam sanctam" umgekehrt wird. Nicht die Herrschsucht des Menschen hat den Staat begründet, sondern der Staat als göttliche Ordnung zügelt die Herrschsucht der Menschen und fügt sie zu einer letztlich das gesamte Menschengeschlecht umfassenden Gemeinschaft untereinander. I m Recht liegt auch die Rechtfertigung der Obrigkeit: der Herrscher ist der höchste Verwalter des Naturrechts und damit zugleich der höchste Richter. Mit großartiger Paradoxie wird formuliert: die Quelle des Imperiums ist das Mitleid. Nur d e r Herrscher ist dieses Titels wert, der sich zugleich als Diener Aller fühlt. Die darin liegende Antithese wird hier bis ins Letzte verfolgt. Der Regent ist hinsichtlich des Weges der Herr über alle. E r hat darum nicht nur das Wohlverhalten der anderen zu erzwingen, sondern er soll sie auch mit erziehender Gewalt leiten; hinsichtlich des Zieles aber ist er der Diener aller. Das stellt seine zunächst scheinbar zum Absoluten ausgreifende Gewalt in tiefste rechtliche und religiöse Bindungen hinein. Von hier aus greift dann wieder der Gedankengang zu einem Koordinationssystem aus. Weil dieser Regelung von Frieden und Gesetz durch den Kaiser jeder Mensch unterworfen ist, ist es auch der Papst; weil aber die Ordnung des Staates erst das Streben zum vollen Heil ermöglicht, steht auch der Herrscher der Kirche mit Ehrerbietung gegenüber. Nicht zwei civitates stehen sich gegenüber, sondern es sind zwei Obrigkeiten der einen weltumspannenden civitas, die einander er-

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gänzen. So ist es die schwerste Sünde, wenn der Papst in die weltliche Gewalt des Kaisers eingreift. E s wird aber auch der Fluch ausgesprochen gegen die Fürsten, die je an das Gut der Kirche gerührt haben.

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Die „Göttliche Komödie" f o r m t alle diese Gedanken zu b e r ü h m t gewordenen Bildern aus. I n dämonischer Symbolik müssen die Päpste, die die Heilssendung der Kirche u m Geld u n d Gut verraten h a b e n , auf den Kopf gestellt, im Höllengrab schmachten; kein Geringerer als Bonifaz V I I I . ist es, den sie hohnvoll dort erwarten. Auch wer von ihnen noch im letzten Augenblick zur inneren Umkehr k a m , m u ß doch auf dem Berg der Läuterung, tief in den S t a u b gestreckt, b ü ß e n ; j a , bis in die Höhen des Paradiso hinein klingt die Urgewalt des richtenden Wortes, nicht n u r in den Mahnworten der großen Heiligen der Kontemplation, sondern noch ganz a m Schluß in dem glühenden Zornruf Petri selbst über die, die sein Grab zur Kloake voll Blut u n d S t a n k , dem Satan zur Freude, gemacht haben. Aber auch gegen die Übergriffe des S t a a t e s gegen die Kirche erklingen W o r t e heiliger Leidenschaft; der träge Herrscher wird n i c h t minder gerügt als der träge P a p s t , der sich der Verantwortung eigener E n t scheidung entzog u n d ruhelos vor dem Eingang der Unterwelt u m h e r i r r t : Hölle u n d H i m m e l wollen ihn nicht haben. Zugleich aber wird auch das Wesen von Herrschaft, S t a a t u n d Recht gedeutet. A m R a n d e des Büßerzuges im Purgatorio r a g t m a h n e n d das Relief der T a t Trajans, der erst der armen Witwe das R e c h t sprach, ehe er zum Kriegszug aufbrach. F ü r s t darf nur der sein, der weiß, wo die Türme der Gottesstadt a u f r a g e n ; auch heidnische Herrscher vermögen das u n d können d a r u m ewiger Seligkeit teilhaftig werden. I n der großen Endvision desselben Teils ist der B a u m der E r k e n n t n i s zugleich das Symbol des römischen Reiches, das wieder zur irdischen Glückseligkeit zurückführt u n d das zum Samen jeglichen R e c h t s wird. Rechtssetzung geschieht k r a f t des heiligen Geistes, lehrt J u s t i n i a n i m Merkurbezirk des Paradiso. „Liebt Gerechtigkeit, die ihr auf Erden richtet" schreiben die zum Reigen verschlungenen Gestalten seliger Fürsten in leuchtenden Buchstaben an den Himmel, und zum gewaltigen Herrschersymbol des Adlers vereinigt, verkünden sie, d a ß irdische Gerechtigkeit aus der ewigen Gerechtigkeit fließt und alles Gerechtgein n u r ein Streben nach Einklang m i t dem Ewigen Gut ist, das ausstrahlend jedes andere Gut ins Leben r u f t . So wird mit großen Klängen Sinn und Sendung des Rechts besungen wie Sinn u n d Sendung des Fürsten, der seine erziehende u n d führende Macht a u s ü b t . Es geht in ihnen u m Dinge, die aus überweltlichen Bezirken stammen. I h r wahres Sein enthüllt sich erst im Paradiso, das zugleich die S t ä t t e der Liebesgemeinschaft des Geistes ist. Auch der tiefste Sinn des Rechtes ist die Liebe. Das Zusammenleben triebhafter Menschen ist nur ein H a u f e n welker Blätter, n u r durch äußere H ä r t e können sie zur Gemeinschaft gezwungen werden; hier aber werden sie zum Organismus, indem sie zusammenklingen wie ein Glockenspiel. So gipfelt sich das Bild über die in reiner Geistigkeit gesehenen Kirche in der grandiosen Vision des Triumphzuges Christi, bis schließlich alles in letzter mystischer Schau der Fruitio Dei verklingt.

Freilich, v o n dem Werk des Denkers wie v o n dem des Dichters gilt das Wort Hegels: erst in der Dämmerung der mittelalterlichen Welt hat auch hier der Vogel der Minerva seinen Flug erhoben. Diese Welt zerbrach; das Imperium stürzt in die Katastrophe des Interregnums, das Sacerdotium in die Schmach v o n Avignon. E s ist ein Aufbruch letzter urchristlicher Tiefe, wenn bei den Besten dieser Zeit als Führer in den neuen Aeon nicht der Kaiser und nicht der Papst mit aller ihrer Macht, sondern F r a n c i s c u s in seiner demütigen Heilandsnachfolge gesehen wird, so Aber es bleibt ihnen das Verdienst, die großen Gedanken des MittelHandb. d. Phil. IV. O 4

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alters nicht n u r in ihre klassische F o r m u n g gebracht, sondern sie d a m i t auch f ü r spätere Auswirkungen konserviert zu haben. Jedoch verlieren sie ihre europäische Gemeingültigkeit u n d werden zu einer besonderen Staatstheorie konfessioneller Prägung. Nach dem Tridentinischen Konzil, mit dem E n t s t e h e n u n d Sichdurchsetzen der neuen Staatsidee der Renaissance setzt auch eine Krise der katholisch-kurialen Staatstheorie ein, die n a c h u n d nach die Übersteigerungen der Kampfeszeit fallen lassen m u ß t e . Die neue Staatslehre h a t auch die katholischen Herrscher, die Bundesgenossen der Kirche im neuen konfessionellen K a m p f , ergriffen. I n der Souveränität des politischen Wollens u n d Handelns k a n n die Kirche auch sie nicht binden. So beginnt zuerst B e l l a r m i n m i t der vorsichtigen Lehre von der potestas indirecta oder directa, die der Kirche gegenüber d e m S t a a t zusteht, die Lehre von der juristischen Gleichordnung beider Gewalten, die n u r eine moralische Vorherrschaft der Kirche i n allen sittlichen Fragen k e n n t , wieder in den Vordergrund zu rücken. D a m i t setzt er sich zunächst freilich noch nicht allseitig durch. Aber i m 19. J a h r h u n d e r t wird m i t der E r n e u e r u n g der thomistischen Studien durch Leo X I I I . auch die Staatslehre des Aquinaten zur offiziellen Staatslehre der katholischen Kirche. Es ist von hier aus n u r ein Schritt, wenn z u m D a n t e - J u b i l ä u m Benedikt X V . in feierlicher Kundgebung von dem Dichter Dante den Makel der Häresie n i m m t u n d sein Gedicht, mochte es auch, wie mit bedeutsamer Zurückhaltung formuliert wird, in m a n c h e m verfänglich in seiner Zeit gewirkt haben, als das klassische dichterische Dokument katholischer Weltansicht proklamiert. U n d wiederum die Kundgebungen Leos X I I I . entwerfen auf der Grundlage des Thomas die Linien der katholischen Staatsansicht, die von der besonderen konfessionellen Grundlage allen Problemen der modernen Zeit gerecht werden sollen. In eigentümlicher Weise ist hierbei die Erneuerung des alten katholischen Gedankengutes mit bewußter Gestaltung des gegenwärtigen politischen Weltbildes verbunden. Indem man die juristische Gleichordnung von Staat und Kirche verficht, gewinnt man eine unanfechtbare Abwehrposition gegenüber dem Allmachtwillen des modernen Staates, und die Basis zu positiven Verhandlungen von gleich zu gleich in einer aktiven Konkordatspolitik. Gegenüber dem individualistischen Denken des modernen Liberalismus wird eine ethisch-konservative Anschauung des Sozial- und Kulturlebens in Staat, Gesellschaft und Menschheit entwickelt und dadurch sowohl die Möglichkeit eines eigenen sozialen Programms angebahnt wie gegenüber aller politischen Atomisierung der Staatenwelt die Sendung der Kirche als Friedenshort neu fundamentiert. Von hier aus ergibt sich aber auch die Möglichkeit, in den sich immer mehr demokratisch verfassenden Staaten große katholische Parteien zu gründen, die zugleich katholische Grundhaltung im Inneren durchsetzen wie im Zusammenhang mit der großen kulturellen Gesamtpolitik der Kurie stehen. Politisch gesprochen bedeutet das: Man nimmt eine unhaltbare Front spätmittelalterlicher Machtübersteigerung überall zurück, um eine weiter rückwärts liegende, dafür aber in sich ungleich stärker gesicherte Stellung im Rahmen klassisch katholischer Anschauungen zu beziehen, die zugleich die Möglichkeit neuer Offensiven im Zeitalter des Säkularismus eröffnet. Religiös gesprochen ist das weithin gleichbedeutend mit einer stärkeren Akzentuierung

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der genuinen christlich-ethischen Ideen, die freilich immer in dem besonderen autoritären Gewand r ö m i s c h e n Denkens auftreten müssen. Dies Denken begrenzt auch die Spiritualisierung des Kirchenrechts, von der man neuerdings gesprochen hat, und es hält zugleich die religiöse Problematik des Papsttums gegenüber dem Ansatz idealer und realer Verwirklichung ökumenischen Christentums aufrecht. Diese geistige Wendung hat auch die Lösung der römischen Frage ermöglicht, die im neuen Kirchenstaat, der Vatikanstadt, nicht mehr echte politische Herrschaft, sondern nur ein juristisches Schutzmittel für die Ausübung spezifisch kirchlicher Gewalt erstrebte und erreichte. Wie das staatsphilosophische Werk der großen Griechen über die Katastrophe des eigenen Volkes hinweg sich in der Versittlichung des römischen Kaisertums weltgestaltend ausgewirkt hat, so haben die Gedanken Augustins und Thomas' über den Zusammenbruch des Mittelalters hinweg die neue katholische Aktion späterer Jahrhunderte bewirkt. So sind sie das zweite welthistorische Beispiel dafür, wie eine geschlossene soziale Theorie philosophischer Prägung in sich ein realer, auf Verwirklichung angelegter politischer Wert ist.

III. DIE STAATSPHILOSOPHIE DES EUROPÄISCHEN WESTENS SEIT DER RENAISSANCE. Aus der Fülle der Motive weltanschaulicher A r t , die die Renaissance in sich schließt, sind f ü r die Staatsphilosophie vor allem drei wirksam geworden: einmal die kräftige Betonung des Persönlichen, das Gefühl des Menschen, in sich ein Geformtes u n d Geschlossenes zu sein, das nicht n u r in jedem Verband m i t Eigenwert a u f t r i t t , das nicht so sehr Gefäß und Träger überpersönlicher K r ä f t e ist, sondern gerade u m seiner Sonderart willen in eigener K r a f t u n d Stärke r u h t u n d aus diesem Wesenswert heraus jeglichem Verband m i t starkem Selbstbewußtsein entgegentreten k a n n . Z u m zweiten das neue u n d entschlossene Verhältnis zur N a t u r , der m a n von vornherein nicht n u r mit einem inneren J a , sondern geradezu mit einer Art gläubiger Verehrung gegenübertritt; bei der Enträtselung ihrer geheimen Gesetzlichkeit verbindet m a n E r kenntnis u n d Gläubigkeit in eins. Man löst dabei durchaus noch nicht das Verhältnis der N a t u r zu Gott u n d dem Göttlichen, sieht aber gerade d a r u m die sich in ihr auswirkende Harmonie u n d Ordnung u n d ist erfüllt von dem Bewußtsein der schöpferischen K r a f t der in ihr waltenden Macht. Wie aus der philosophisch-spekulativen Anschauung der Naturharmonie die theoretisch-mechanische E r k l ä r u n g der N a t u r hervorwächst, so erwächst entsprechend aus der konkreten Bejahung des politischen Lebens in seiner Realität der Wille, dieses Leben n u r aus sich selbst, die politische Gestaltung n u r aus den darin wirkenden K r ä f t e n zu erfassen, jenseits jedes traditionalen u n d autoritären Gebots. Damit stellt sich d a n n ein Drittes ein. Man will erkennen, aber nicht mehr einfach übernehmen u n d verehren. U n d zwar erkennen aus der neuen, autoritätsentbundenen H a l t u n g des Geistes heraus, aus ruhiger, verstandesklarer, nüchterner Besinnung. Aber i n d e m diese Besinnung auf die rationale F o r m des Gegebenen gerichtet D 4«

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ist, erkennt sie das Gegebene auch als korrekturbedürftig und schafft durch die rationale Erkenntnis neue Möglichkeiten z u m Aufbau. Nicht nur aus der Notwendigkeit, die in Gärung begriffenen sozialen Verhältnisse überall neu zu gestalten, sondern auch aus der inneren Art dieses Geistes heraus holt m a n zu neuen Gestaltungen aus, ist schöpfungsfreudig wie nie in der Geschichte. Aber wie fiberall die Renaissance nicht auf einmal auftretender Bruch ist, so anch hier. Die Ansätze zu ihren neuen Gedankengängen sind vielfach schon im Mittelalter vorgebildet. Das Mittelalter h a t t e im allgemeinen bei der Erfassung der Staatwerdung der Menschheit das spontane Sichauswirken der gottgesetzten Triebe der menschlichen N a t u r in den Vordergrund gestellt. Aber schon Thomas h a t t e die Elemente der freien und vernünftigen Tat b e w u ß t betont. D a m i t wurde diese zur unmittelb a r e n Ursache, zur causa proxima der politischen Wirklichkeit, während G o t t als causa remota, die den Trieb zur Staatlichkeit in das Herz des Menschen gelegt h a t t e , mehr in den Hintergrund t r a t . Daraus entwickelten sich eigentümliche staatstheoretische Gedankengänge von zunächst ausgesprochen juristischer A r t , die freilich auch schon Ausprägungen bestimmter politischer Wertungen und entsprechender Forderungen sind. Die Beobachtung des staatlichen und des rechtlichen Lebens wies immer wieder auf die Tatsache hin, wie s t a r k politisches Gemeinschaftsleben überall auf Verträgen beruhe. So n a h m m a n den Vertrag als das konstruktive Prinzip f ü r die j u ristische Erfassung des politischen Gemeinwesens überhaupt. Auch Herrschaft r u h t auf Verträgen, u n d zwar auf solchen zwischen Fürst und Volk. Das lag zunächst von allen individualistischen Konstruktionen im Sinne der antiken Sophistik weit entf e r n t ; es handelte sich hier n u r um eine besondere Provinz juristischen Denkens im R a h m e n der fiberall gewahrten universalistischen Weltansicht. Aber es lag darin eine gefährliche Konsequenz angelegt. Volk und Herrscher haben aus jenem Vert r a g jeweils f ü r sich ihr eigenes Recht, eine Lösung, die auch in der Theorie die Einheitlichkeit des Staates zugunsten jenes Dualismus, wie ihn die Realität des mittelalterlichen ständischen Staates zeigte, aufgab. I n enger Verbindung damit steht ein Zweites. I n dem Maße, wie in der Zeit der großen Wirren in Kirche und Welt am Ausgang des Mittelalters Ansehen u n d verpflichtende K r a f t der traditionellen Autoritäten zu verblassen beginnen, beginnt sich auch an ihrer Stelle ein anderes Prinzip anzukündigen: Entscheidung durch die Mehrheit, die die Vermutung gründlicherer und richtigerer Beschlüsse zu haben scheint. Auch das h a t noch nichts mit individualistischem Demokratismus zu t u n ; es k o m m t vielmehr überall dem ständischen Aristokratismus zugute. Daneben t r i t t als letztes Element die umfangreiche Lehre vom Widerstandsrecht im Staat, die ebenfalls schon im Mittelalter ansetzt, aber im Zeitalter der religiösen K ä m p f e und Bedrückungen zu steigender Bedeutung gelangen mußte. Sie h a t ihre Wurzel in der mittelalterlichen Anschauung von der K r a f t und Bindung des Rechts, das alle Lebensbeziehungen schlechthin durchdringt. Auch alle Herrschergewalt erscheint danach überall bewußt von konkreten Amtsvollmachten begrenzt. Der Herrscher, der diese Amtsvollmachten überschreitet und durchbricht, wird zum Tyrannen, dem m a n Widerstand leisten darf, über den man richten, den m a n notfalls absetzen u n d bestrafen, t ö t e n oder für vogelfrei erklären k a n n . Das erscheint zunächst als konkretes u n d n u r auf begrenzte Rechte ständischer Versammlungen oder anderer Rechtsinstanzen beschränktes Recht, indem m a n von der Erörterung und Ausdeutung bestimmter mittelalterlicher Rechtseinrichtungen und Rechtsanschauungen mit ihren Verträgen, Verbriefungen, Privilegien ausging. Auch hier k o m m t es erst beim Anbruch der neuen Zeit, zumal unter dem Druck religiöser Verfolgungen, zu schärfsten prinzipiellen Formulierungen individualistisch revolutionärer Tendenz.

So haben wir zunächst im Rahmen des besonderen juristischen und politischen Denkens ein eigentümliches Ergebnis. Man gewinnt eine

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k o n s t r u k t i v e Staat6theorie, die letztlich den S t a a t nicht a u s seinem Eigensein, s o n d e r n lediglich v o m I n d i v i d u u m h e r k o n s t i t u i e r t . W i r sehen, diese G e d a n k e n g ä n g e beginnen politische K a m p f t h e o r i e n i n n e r h a l b des S t a a t e s zu schaffen, die ihn i m steigenden Maße zersetzen u n d i h m schließlich die E i n h e i t n e h m e n müssen. Sie r ü h r e n a n die W u r z e l n des S t a a t e s selbst. E s ist d a r u m erklärlich, d a ß die e p o c h e m a c h e n d e Idee der Neuzeit z u n ä c h s t eine ganz a n d e r e i s t : die der S o u v e r ä n i t ä t . F ü r sie w a r i m mittelalterlichen D e n k e n ein eigentlicher P l a t z ü b e r h a u p t n i c h t v o r h a n d e n gewesen. W o h l h a t t e m a n a u c h d o r t v e r s u c h t , den S t a a t e m p o r z u h e b e n , i n d e m m a n die W ü r d e des Herrschers steigerte oder i m Sinne der A u s w e i t u n g seiner juristischen K o m p e t e n z e n den G e d a n k e n der Fülle der M a c h t , der plenitudo potestatis, zu entwickeln v e r s u c h t e . Aber das Mittelalter b e t t e t e doch i m m e r wieder jede konk r e t e I n s t i t u t i o n in sein großes G e s a m t s y s t e m ein, d a s in allen Stücken gleichmäßig v o m R e c h t u m f a n g e n u n d d u r c h f o r m t w a r u n d letztlich in G o t t u n d seinem Schöpferwillen gipfelte, so d a ß i n ihnen i m m e r n u r r e l a t i v e , niemals absolute A b s t u f u n g e n gesehen werden k o n n t e n . J e t z t a b e r t r i t t eine ganz n e u e politische Größe i n das politische Weltbild e i n : d e r N a t i o n a l s t a a t , der u m seine Geltung r i n g t , u m seine Freiheit v o n d e n t r a n s n a t i o n a l e n B i n d u n g e n des mittelalterlichen Systems, u m seine E i n i g u n g u n d einheitliche D u r c h g e s t a l t u n g . I n politischen F o r d e r u n g e n wie in der S c h ö p f u n g n e u e r S t a a t s - u n d R e c h t s g e d a n k e n t r i t t dieser e l e m e n t a r e Trieb m i t u n g e h e u r e r Energie in d e n V o r d e r g r u n d . D a die e b e n a n g e d e u t e t e n Theorien u n d P r o b l e m e ü b e r ganz E u r o p a , gehen, e r h a l t e n sie m i t d e m Augenblick, wo sie aus d e m spezifisch J u r i s t i s c h e n u n d i m engeren Sinne Politischen h e r a u s t r e t e n u n d ins W e l t a n s c h a u l i c h e e i n m ü n d e n , ihre in sich differenzierte Gestalt d u r c h die E i g e n a r t der verschiedenen weltanschaulichen T y p e n , die das L e b e n der n e u e n Zeit b e s t i m m e n . D a s ist e i n m a l die W i r k u n g , die aus d e n n e u e n religiösen I m p u l s e n der R e f o r m a t i o n h e r k o m m t . D a z u t r i t t soeben die W e i t e r w i r k u n g u n d in der Polemik v e r s c h ä r f t e H a l t u n g des m i t t e l alterlichen G l a u b e n s t y p u s , der sich j e t z t zur katholischen Konfessional i t ä t abschließt, w ä h r e n d sich als letztes das E i n w i r k e n insbesondere j e n e r R e n a i s s a n c e s t r ö m u n g e n anschließt, die i m Bild der W e l t ü b e r die n a t u r h a f t u n d in eigener D y n a m i k r u h e n d e Gesetzlichkeit des politischen Lebens die religiösen Motivationen u n d N o r m e n i m m e r s t ä r k e r in den H i n t e r g r u n d r ü c k t e n u n d schließlich ganz eliminierten. U n d wie endlich der S t r o m der reformatorischen Bewegung d u r c h d e n T y p u s des lutherischen u n d calvinischen D e n k e n s sich w i e d e r u m in zwei d u r c h a u s individuell b e s t i m m t e Geisteshaltungen s p a l t e t , geht d a n n a u c h ein grundlegender Unterschied zwischen der G e s a m t h e i t s t a a t s philosophischen D e n k e n s in W e s t e u r o p a u n d d e m d e u t s c h - p r o t e s t a n tischen K u l t u r g e b i e t h e r v o r , der v o n hier aus a u c h unsere D a r s t e l l u n g in zwei Teile zerfallen l ä ß t .

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Dabei ist es charakteristisch, d a ß Lehre u n d H a l t u n g Calvins, der nicht n u r Theologe sondern auch J u r i s t war, in viel stärkerer Beziehung z u m u n m i t t e l b a r e n politischen Leben stehen. E r n i m m t gewiß, ähnlich wie Luther, eine energische H e r a u f h e b u n g des Staates gegenüber den spätmittelalterlichen kurialen Depravationen vor. Aber auch sein Kirchenbegriff ist von vornherein stark mit juristischen Elem e n t e n durchsetzt, so d a ß er in eine besondere u n d eigene Linie einm ü n d e t . Wo die Kirche Calvins stark u n d selbstbewußt in einem positiven Verhältnis zum S t a a t steht, wie in Genf, d a holt sie auch dazu aus, ihn a u t o r i t ä r aus ihrem Sein heraus zu gestalten. Wo sie sich im Gegensatz z u m Staat befindet, f ü h l t sie sich aber auch, nicht minder stark u n d selbstbewußt, fähig dazu, sich in eigener Rechtsform zu verselbständigen u n d in Gegensätzlichkeit zum, j a in T r e n n u n g v o m S t a a t zu leben, während im L u t h e r t u m weltliche u n d kirchliche Obrigkeit in engster Beziehung zueinander stehen. So versteht m a n es, daß nicht n u r Calvin die Lehre v o m Widerstandsrecht der unteren Magistrate übernehmen konnte, sondern d a ß auch Beza u n d K n o x u n d ihre Nachfolger die Strafgewalt des Volkes über den F ü r s t e n entwickeln k o n n t e n . Ebenso k a n n sich von hier aus aber auch der Gedanke der reformatorischen Gewissensfreiheit zur Forderung an, wie zur Opposition gegen den S t a a t verschärfen, wobei die Typisierungen, je n a c h d e m sie im älteren Calvinismus mit aristokratischen oder i m späteren mit demokratischen Gedankengängen vereinigt sind, wiederum verschiedene Gestalt annehmen. Dabei steht er mit dem ersten Teil dieser Gedankengänge in enger Nachbarschaft mit der gleichzeitigen katholischen L i t e r a t u r politisch-polemischen I n h a l t s ; calvinische Theologen wie die Gelehrten des Jesuitenordens entwickeln gleichzeitig von Widerstandsrecht u n d Volkssouveränität aus die Kampflehre des Monarchomachismus u n d verstehen ebenso den Anschluß an aristokratische wie demokratische Gedankengänge zu gewinnen. Umgekehrt stehen die lutherischen Positionen von S t a a t u n d Kirche in viel geringerer Beziehung zur konkreten politischen Wirklichkeit und R e c h t s f o r m u n g ; d a f ü r greifen sie d a n n aber ungleich tiefer in das Ringen u m die letzten Gründe sozial-ethischen Seins hinein, sodaß sie u m so stärker f ü r die eigentümliche philosophische Fragestellung fruchtbringend werden. 1. MACCHIAVELL. Den stärksten u n d in sich ausschließlichen Gegensatz gegen alles mittelalterliche Denken verkörpert in Westeuropa M a c c h i a v e l l . E r gilt seit je als der typische Vertreter der politischen Renaissance, u n d er ist es mindestens n a c h jener Seite hin, wo in ihr ein radikal Neues einsetzt. Und auch insofern spiegelt er die Zeit, als er gleichzeitig ganz ein H u m a n i s t der neuen Artung ist, nicht n u r in Bildung und persönlicher Lebenshaltung, sondern vor allem auch in der überall a n die An-

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tike anknüpfenden Grundlegung seines politischen und theoretischen Schrifttums. A b e r hierin zeigt sich auch wieder seine charakteristische Besonderheit in Zielrichtung wie Gehalt des geistigen Bestrebens. Die Auffassung v o m Menschen, die er hat, ist gewiß in vielem der alten S t o a verwandt, u n d die H a u p t t u g e n d des politischen Menschen, wie er sie sieht, die virtù, k n ü p f t unmittelbar an die Grundtugend des politischen Menschen römischer P r ä g u n g an. A b e r Macchiavell ist alles andere als ein Traditionalist, wie er j a auch alles andere ist als ein Gelehrter, der aus gelehrtem Interesse schreibt. W e n n er auch nie zu wirklicher politischer T a t ausgeholt hat, so ist er doch in seiner geistigen H a l t u n g der politische Mensch schlechthin, der, wie das im Wesen des politischen Menschen liegt, v o n einem ganz bestimmten Ziel, hier v o n dem leidenschaftlichen Willen zur Einheit und Freiheit der italienischen Nation, beherrscht wird. Es ist ungemein charakteristisch, d a ß er aus der Antike lediglich geschichtliches Material übernimmt, aber nicht ihre zentrale Staatsidee: P l a t o und Aristoteles, auch Giceros systematische Schriften üben keinerlei Einfluß auf ihn aus. Das ist gleichbedeutend mit einer grundsätzlichen Entscheidung. E r will den S t a a t und das politische Leben sehen, wie es ist, nicht wie es aus philosophisch-ethischer Begründung heraus sein soll. So k n ü p f t er an keinerlei philosophische Staatsbegriffe a n , noch sucht er einen solchen zu gewinnen, sondern überall geht er v o n dem ganz realistischen Staat der gleichzeitigen politischen Wirklichkeit aus. Das Hegt in gewisser Weise schon in dem Wort stato, das von jetzt an entscheidende Bedeutung im europaischen Sprachgebrauch gewinnt. Es bedeutete in der gleichzeitigen Terminologie der italienischen politischen und geschichtlichen Literatur etwas ganz unmittelbar Gegenständliches, etwa den politischen Freundeskreis einer Familie oder die von ihr eroberte Macht, persönliche Herrschergewalt und ihren Anhang. Dieser Begriff wird von Macchiavell wohl im ganzen erweitert und auf einen größeren Umfang des politischen Lebens bezogen, aber auch bei ihm bleibt er ganz im Konkreten. Bestenfalls bedeutet er Verfassungsform und Gewaltverhältnisse, in den meisten Fallen aber einfach politische Macht und öffentliche Gewalt schlechthin. So fehlt dem, was er unter Staat versteht, letztlich die begriffliche und ideelle Selbständigkeit; eben darum fehlt ihm aber auch, wie man mit Recht betont hat, das in allem Wechsel beständige und die Individuen überragende Element. So kann er auch jederzeit leicht im Individuum aufgehen. Es ist kein Zufall, daß sein berühmtestes Buch nicht vom Staat als solchem, sondern vom principe, dem persönlichen Machtträger des Staates, handelt.

Die Staaten sind f ü r ihn wesentlich zweckvolle Schöpfungen b e w u ß t handelnder, starker, mutiger Menschen. Die Menge ist dazu letztlich unfähig; sie ist darum wesentlich O b j e k t der Herrschaft. Ihre Eigenart gibt zwar auch den Staaten ein bestimmtes Gepräge, aber jeder Begriff eines Organismus, eines die Vielheit der Individuen zu einheitlicher Ganzheit durchformenden Systems, das zugleich Träger wie A u s d r u c k des Staates i s t , fehlt völlig. D a z u k o m m t , d a ß seine Auffassung v o m Menschen selbst in den entscheidenden Stücken aus-

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gesprochen pessimistisch ist. Er nimmt den Menschen zwar nicht als schlechthin böses Wesen: gute und schlechte Eigenschaften sind in ihm gemischt, er ist nicht ganz gut, er ist nicht ganz böse. Aber gerade das ist das Schlimmste. Er tut nur aus Not etwas Gutes, nur Hunger und Armut machen ihn arbeitsam. Es ist das Gesetz und sein Zwang, nicht eigener sittlicher Entschluß, das den Menschen gut macht. Der Mensch aber, der so gesehen wird, ist in allen Zeiten sich gleich. So bleibt auch die politische Welt stets die gleiche; im Spiel und Widerspiel sind es immer dieselben stets vorhandenen Kräfte, die ihr Bild bestimmen. Was in ihr herrscht, ist allein das Schicksal, das bald nur zusammenfassender Name für unmittelbar konkrete, sich jenseits und unabhängig von eigener Willenssetzung vollziehender Vorgänge ist, bald auch wieder als weltgestaltende Macht gefaßt wird. So ist auch das Verhältnis des Menschen zu ihm dazu merkwürdig schillernder Art. Bald heißt es: man kann wohl die Fäden des Schicksals spinnen, aber sie nicht zerreißen; dann aber soll man doch wiederhandeln, immer hoffen, sich in keiner Not ergeben. Meint er einmal, die Hälfte unserer Handlungen hänge vom Schicksal ab, während die andere Hälfte oder auch noch weniger vom freien Willen gestaltet werde, so heißt es ein andermal wieder schlechthin, daß Fortuna, die ein Weib sei, vom. starken Menschen gezwungen werden könne. Für diese eigentümliche, halb fatalistische, halb willenstrotzige Haltung treten Macht und Gewalt in den Vordergrund des politischen Handelns überhaupt: es haben immer nur die bewaffneten Propheten gesiegt. Die virtü, in der sich Kraft und Wille, Intelligenz und Berechnung paaren, wird darum zur zentralen Tugend des Staatsmannes. Aber auch sie ist nicht eine sittliche Gesamthaltung im Sinne der Antike, sondern etwas ganz Naturhaftes, ein Stück ursprünglicher Willenshaltung des Menschen, die sich hier nur zu höchster Bewußtheit gesteigert findet. Sie ist ganz und gar Dynamis, Lebenstrieb und Lebenswille. Daran ändert auch die Verbindung mit dem Geistigen nichts; an ihr wird nichts durch die Besinnung der ratio geläutert, sondern umgekehrt, der leidenschaftliche Wille stellt die ratio als Werkzeug in seinen Dienst. Von hier aus tritt dann der große staatsgestaltende Mensch der Vielheit der Menschen entgegen, wie sie der politische Pessimismus sieht. Sie sind undankbar, unbeständig, heuchlerisch und eigennützig. Ihre Anhänglichkeit beruht nur auf dem Band des äußerlichen Anstandes; sie zerreißen es jedesmal, wenn sie ihren Vorteil anderwärts finden. Nur die Furcht, die Sorge vor künftig zu erwartenden Übeln, bindet sie wirklich. Der Fürst, der sich behaupten will, muß darum auch lernen, nicht gut zu handeln; er muß die Rolle eines Menschen und einer Bestie spielen können, Fuchs und Löwe zugleich sein. Man hat in den Darstellungen Macchiavells diesen seinen Immoralismus, wie man es nannte, vielfach besonders nachdrücklich betont und dabei seine Bedeutung im

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G e s a m t b i l d o f t ü b e r w e r t e t . D a s ist in dieser F o r m n i c h t ohne weiteres h a l t b a r ; gerade diese Züge sind doch i m wesentlichen g e d a c h t als Regeln f ü r den N o t f a l l , n i c h t ohne d a ß die F r e u d e des L i t e r a t e n , der niemals selbst die V e r a n t w o r t u n g der Macht t r u g , die F e d e r i n P a r a d o x i e n u n d Übersteigerungen schwelgen l ä ß t . F ü r d a s Grundsätzliche ist viel wichtiger die Stellung, die die Religion in d e m W e l t b i l d Macchiavells einn i m m t . Gewiß weiß er etwas v o n ihren g u t e n Folgen f ü r das b ü r g e r liche L e b e n : Gesetzestreue, E i n t r a c h t u n d G e h o r s a m gehen v o n ihr a u s . Aber er sieht sie doch lediglich a n als eine O r d n u n g , die e i n g e f ü h r t wird, n i c h t als etwas, das in s p o n t a n e r E i g e n b e s t i m m t h e i t b e s t e h t ; so k e n n t er eigentlich n u r das, Was sich in der ä u ß e r e n G e s t a l t u n g des K u l t u s vollzieht. Sie h a t f ü r i h n Sinn n u r als Mittel der S t a a t s p o l i t i k ; d u r c h sie v e r m a g m a n Heere zu befehligen u n d ein Volk einig zu h a l t e n . D a s ist n o c h weniger, j a , letztlich e t w a s ganz anderes als die S t a a t s religion der A n t i k e , die doch auf e c h t e m religiösem G r u n d e a u f g e b a u t w a r u n d erst v o n d a aus die V e r b i n d u n g m i t d e m Gemeinwesen gewinnt. Hier fehlt ihr ein echter innerer W e r t ü b e r h a u p t ; sie ist Hilfe zur S t a a t s raison — sonst nichts. Gegen die christliche Religion t a u c h e n insbesondere noch die Einw ä n d e a u f , m i t denen sich schon Augustin auseinanderzusetzen h a t t e . Gewiß, a u c h die christliche Religion verlangte, d a ß der Mensch s t a r k sei; aber sie wolle doch, d a ß der Mensch diese S t ä r k e i m Leiden u n d n i c h t in k r a f t v o l l e r T a t ä u ß e r e ; schlechte Ausleger z u m a l h a t t e n d a s d a n n übersteigert, so d a ß das Verhältnis v o n S t a a t u n d C h r i s t e n t u m ausgesprochen als Gegensätzlichkeit erscheint. Alledem e n t s p r i c h t es, d a ß bei Macchiavell auch die Sittlichkeit ihres t r a n s z e n d e n t e n Gehalts b e r a u b t u n d n u r n o c h als diesseitsgeborene Größe v e r s t a n d e n wird. Hier ist bei i h m wieder ein S t ü c k V e r b i n d u n g m i t G e d a n k e n d e r A n t i k e v o r h a n d e n , aber es ist f ü r ihn charakteristisch, d a ß es I d e e n der Sophistik, die i h m v o n Polybius überliefert waren, sind, a n die er a n k n ü p f t . Die Begriffe G u t u n d Böse e n t s t e h e n d a d u r c h , d a ß der S t ä r k s t e u n d T a p f e r s t e die Menschen u n t e r w i r f t u n d die i h m D a n k b a r e n b e l o h n t , die U n d a n k b a r e n s t r a f t . Solchen Übeln will a b e r jeder e n t g e h e n , u n d so w e r d e n die Gesetze gegeben, aus denen d a n n die Gerechtigkeit e n t s p r i n g t . Es ist also die Gewalt, die die N o r m e n der Moral schafft u n d das R e c h t setzt. A u c h die Gerechtigkeit ist f ü r Macchiavell d a r u m so wenig wie die Religion ein in sich r u h e n d e r W e r t , der v o n sich aus die R e c h t s o r d n u n g b e s t i m m t , r i c h t e n d u n d a u s r i c h t e n d stets ü b e r ihr s t e h t u n d aller t a t s ä c h l i c h e n Gewalt G r u n d , Ziel u n d Grenze gibt. E s ist k l a r , d a ß d a m i t auch alle e t h i s c h - p ä d a g o g i s c h e n E l e m e n t e i m S t a a t s b i l d entfallen müssen, die in d e n großen idealistischen K o n z e p t i o n e n des A l t e r t u m s solche entscheidende Rolle spielen. So ist das S y s t e m Macchiavells n i c h t n u r in allen S t ü c k e n der Ged a n k e n w e l t des Mittelalters entgegengesetzt, s o n d e r n jeder religiös-

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ethisch b e s t i m m t e n S t a a t s a n s i c h t ü b e r h a u p t . Zugleich ist der ä u ß e r s t e Gegenpol des v o n P l a t o b e g r ü n d e t e n idealistischen Staatsbildes erreicht. E r k e n n t keinen d e m Weltgeschehen ü b e r g e o r d n e t e n geistigen W e r t i m Sinne der T r a n s z e n d e n z des C h r i s t e n t u m s , es gibt f ü r i h n a b e r auch keine d e m N a t u r g e s c h e h e n i m m a n e n t e n geistigen W e r t e u n d N o r m e n , die dieses d u r c h f o r m e n . Die klassische Gleichung N a t u r g e s e t z — N a t u r r e c h t t r i t t bei i h m nirgends auf. Die N a t u r ist f ü r i h n n i c h t , wie f ü r die n a t u r p h i l o s o p h i s c h g e s t i m m t e Renaissance, ein Inbegriff lebensgestalt e n d e r K r ä f t e , die in sich N o r m e n verwirklichen, s o n d e r n lediglich d y n a misch bewegtes Geschehen k o n k r e t e r K r a f t a n h ä u f u n g e n . So ist i m G r u n d e n u r eine individualistische B e t r a c h t u n g des politischen Bildes möglich. D e m e n t s p r e c h e n d k e n n t diese A u f f a s s u n g a u c h keinen übergeschichtlichen Sinn des Geschichtsverlaufs, n o c h weiß sie e t w a s v o n e i n e m i m m a n e n t e n Sinn d e r Geschichte. J a , m a n k a n n a u c h sein Geschichtsbild t r o t z d e r ewigen Wiederkehr der gleichen K r ä f t e nicht als Mechanismus v e r s t e h e n . E s ist n a c h dieser wie n a c h j e d e r a n d e r e n Seite hin ganz u n k o n s t r u k t i v gesehen; K r a f t s t ö ß t gegen K r a f t — d a r ü b e r h i n a u s gibt es nichts. D a s Schicksal ist sinnlos u n d unerforschlich, was bleibt, ist n u r die k o n k r e t e A u f g a b e des h a n d e l n d e n Menschen. D e m Gesamtgeschehen, d a s sich in der Aufeinanderfolge der Menschenalter i m m e r n e u erzeugt, fehlt j e d e innere S i n n h a f t i g k e i t ; es r u h t in sich, unbegreiflich und unbegriffen. So gibt es f ü r Macchiavell n u r einen f e s t e n P u n k t : d e n S t a a t als das O b j e k t e b e n des h a n d e l n d e n politischen Menschen. E r ist der W e r t , v o n d e m sich alles a n d e r e ableitet. A b e r a u c h er ist, individualistisch v o m s t a a t s g e s t a l t e n d e n F ü h r e r m e n s c h e n aus gesehen, ganz auf die Gewalt gestellt. Alles das, was bisher v o n ethisch u n d religiös verpflichtenden K r ä f t e n i n i h m w i r k s a m w a r , wird seiner A b s o l u t h e i t s f o r d e r u n g e n t k l e i d e t . W a s er a n dessen Stelle setzt, ist e b e n deswegen nicht I m m o r a l i s m u s , sondern eine n e u e , n u r v o m S t a a t , u n d zwar v o m Egoismus des S t a a t e s aus, gesehene Moral. U n d d a r u m zerspaltet er i m Prinzip a u c h die moralische E i n h e i t des europäischen Gesamtlebens, die v o n der Vorstellung des Mittelalters n o c h ü b r i g geblieben w a r . D e r A n a r c h i s m u s einer n u r den eigenen Lebenswillen a n e r k e n n e n d e n Staatenvielheit k ü n d e t sich an. So s t e h t Macchiavell in W a h r h e i t a m E i n g a n g d e r n e u e n Zeit, die zugleich eine neue politische Welt gebären sollte. Sein W e r k b e h ä l t seinen d a u e r n d e n geschichtlichen Sinn d a r i n , d a ß hier z u m e r s t e n m a l Eigensinn u n d Eigensein des S t a a t e s als ein e l e m e n t a r e r Lebenstrieb u n d eine ü b e r m ä c h t i g e Lebensursache gesehen u n d zugleich m i t der g a n z e n N a t u r h a f t i g k e i t der in i h n e n w a l t e n d e n menschlichen K r ä f t e v e r b u n d e n w e r d e n . U n d die zwischen K ü h l e u n d L e i d e n s c h a f t h i n f l u t e n d e blutvolle A r t , in der er s c h r e i b t , h a t ihn, z u m a l in Zeiten politischer U m w ä l z u n g , nicht n u r m i t der s t a r k faszinierenden K r a f t des großen Schriftstellers wirken lassen, sondern a u c h

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immer wieder echtes politisches Nachdenken vertieft u n d neu entfaltet. Vornehmlich u n d gerade auch bei Denkern, die, wie der junge Friedrich von Preußen, wie Fichte u n d Treitschke von ursprünglich u n d dauernd festgehaltener idealistischer Grundkonzeption ausgegangen waren. — U n d doch bleibt ein eigentümliches Ergebnis: die Konstruktion, die a m radikalsten die Wirklichkeit des politischen Lebens sehen wollte, verengt u n d verkürzt das Bild des Politischen aufs einseitigste. Der Geist, der das Wesen des Politischen begreifen will, wird blind f ü r allen wesenden Geist im Politischen selber. 2. B O D I N U N D G R O T I U S . Aber Macchiavell bleibt nicht der einzige Denker, noch weniger der einzig wirksame Denker dieser Epoche, die überall die Grundzüge noch unseres heutigen Staatensystems f o r m t . In entscheidender Weise u n d zum guten Teil sich gerade an i h m entfaltend regen sich die Gegenk r ä f t e , die zumal an die beiden großen Namen Bodin u n d Hugo de Groot geknüpft sind. Von ihnen wird freilich der große Schöpfer des juristischen Souveränitätsgedankens, B o d i n , zumeist in enger Nachbarschaft m i t Macchiavell genannt. I n Wirklichkeit ist er sein vielleicht stärkster Gegenspieler. Zwar steht auch sein gedankliches Lebenswerk in einer ganz bestimmten politischen Situation u n d ist getragen von einer bewußten politischen Forderung. I n m i t t e n der Zerrissenheit des von bürgerlichen Unruhen u n d Glaubenskämpfen zerrütteten Frankreichs will er den Frieden u n d u m des Friedens willen die staatliche E i n h e i t ; wie Macchiavell stellt er es d a r u m a b auf die Gewinnung des modernen Staates mit seiner zentralen Machtfülle. Aber nicht n u r , weil er als umfassend gebildeter Theologe in enger Vertrautheit mit den christlichen Gedankengängen steht u n d als H u m a n i s t b e w u ß t an Aristoteles ank n ü p f t , sondern vor allen Dingen als überzeugter J u r i s t ist f ü r ihn wesentliche Bedingung f ü r die Erreichung jenes Zieles das R e c h t . Es ist merkwürdig, d a ß m a n in der politischen Ideengeschichte, die oft mehr seinen N a m e n als seine Persönlichkeit k a n n t e , das übersehen h a t . Gewiß steht im Mittelpunkt seines Denkens u n d seiner Lehre der Begriff der Souveränität. Mit i h m h a t er zunächst die Konsequenz aus d e m Falle des mittelalterlichen Weltbildes gezogen. I n diesem Weltbild h a t t e der Begriff der Souveränität lediglich einen Bezirk eigener Macht im relativen u n d begrenzten Sinne bedeutet. J e t z t , nachdem die Einheitlichkeit des alten politischen Bildes zerfallen ist, in dem sich Alles zu der überragenden Macht von Kaiser u n d P a p s t zusammenschloß, d a r u n t e r aber vielfältig abgestuft war, k a n n der Begriff der Souv e r ä n i t ä t auch f ü r die einzelnen Staaten, wenn auch nicht zu metaphysischer, so doch zu politischer Absolutheit gesteigert werden. Souverän ist von n u n an jeder, der niemand außer Gott über sich sieht. D a r u m ist diese Gewalt ewig u n d unbeschränkt nach Macht, Aufgabe u n d Zeit,

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wie sie zugleich als solche ganz persönlich i m F ü r s t e n z u s a m m e n f a ß t ist. Nicht so, d a ß die historischen Institutionen des Mittelalters einfach beseitigt werden u n d ein radikaler Absolutismus im Sinne des Barock vorweggenommen wird; dazu steht Bodin der Welt des Mittelalters noch viel zu n a h e u n d f ü h l t sich allem gewordenen Recht zu sehr verbunden. Aber alles wird doch dem S t a a t u n d seinem Träger, d e m F ü r sten, untergeordnet, u n d alle entscheidenden Rechte werden i h m zugewiesen. Das Recht, Krieg zu erklären u n d Frieden zu schließen, das Recht, die obersten Behörden zu ernennen, das Recht der letzten Instanz, das Münzrecht, v o r allem aber das Recht, den Bürgern Gesetze zu geben. Das Gesetz, heißt es in Aufnahme des antiken Gleichnisses, ist das Steuerruder, das der F ü r s t im Schiff des Staates bewegt. Eben d a r u m ist er auch selber v o m Gesetz entbunden, das er wohl h a n d h a b e n k a n n , das ihn aber nicht fesselt. Das bedeutet aber nicht etwa, d a ß F ü r s t u n d S t a a t n u n von jeglicher rechtlichen Bindung frei sind. Es ist von grundlegender Bedeutung, d a ß Bodin ganz im Sinne des Mittelalters die Ü b u n g der Gerechtigkeit unmittelbar in seine Definition des Staates hineinnimmt, u m ihn auch darin i m alten Sinne von der Räuberbande zu unterscheiden. Die Konsequenz dieses Gedankens ist nichts anderes, als d a ß damit zugleich die volle Bindung des Staates und so auch des Fürsten an die göttlichen u n d natürlichen Gesetze aufrechterhalten wird. Das, was die antike Theorie aus den unmittelbaren geistigen Gegebenheiten menschlicher Gewißheit abgeleitet h a t t e , das, was christliche Auffassung zugleich als unmittelbaren Ausfluß einer allgemeinen göttlichen Offenbarung ansah, wird so in ungebrochener Einheitlichkeit als letzter W e r t in allem Politischen u n d über allem Politischen konserviert. Es ist also nicht das Recht u n d nicht der Inbegriff der Rechtsnormen an sich, sondern n u r die besondere u n d umgrenzte Rechtsquelle des g e s c h r i e b e n e n R e c h t s , die ausschließlich in die H a n d des F ü r s t e n u n d in die Schöpfermacht des Staates gelegt wird. E s bleibt ein Recht von absoluter Geltungskraft jenseits dieser Normen bestehen, es bleibt aber auch die letzte innere rechtssimperativische Bindung für die Schöpfung des gesetzten Rechts, die aus jenem fließt. So ist für den F ü r s t e n nicht n u r das Privatrecht seiner U n t e r t a n e n Schranke der Macht; u n d es entfällt auch gegenüber dem Herrscher, der Recht und Gesetz verletzt, die Gehorsamspflicht, die sonst besteht. So k a n n im Rahmen dieses Staates t r o t z aller Machtkonzentration doch Freiheit des Geistes im humanistischen Sinne bestehen. Bodins große geistige und juristische T a t ist es, mit dem Begriff der Souveränität der Zeit das Stichwort f ü r die Erfassung und Durchsetzung der werdenden neuen politischen Dinge u n d Formungen gegeben zu haben. Aber er h a t diesen Begriff nicht jenseits, sondern innerhalb des Rechts konzipiert. W a s er bringt, ist nicht politische Formulierung

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f ü r die bloße Tatsache der Macht, sondern ist selbst ein Rechtsbegriff, der die neuen Tendenzen a u f n i m m t , u n d der, aus der Idee des Rechts heraus durchläutert, als solcher eine prinzipale Stellung im System des Rechts einnimmt. Das Recht ist f ü r ihn die übergeordnete Größe in allem staatlichen u n d politischen Geschehen nicht anders, als wie in dem weltanschaulichen Aspekt des Mittelalters u n d der großen Griechen auch. Von hier aus ist selbstverständlich, d a ß bei aller energischen Zuspitzung und Akzentuierung der Gedanken doch das Bild des Staates bei Bodin eine eigentümliche Elastizität behält. Gewiß verwirft er u m der Einheit des Staates willen jede Theorie gemischter Staatsformen, die die Staatsgewalt auf verschiedene Machtträger verteilt. Aber die Beibehaltung u n d Anerkennung der konkreten mittelalterlichen Institutionen h a t ihn zu einem ausgesprochenen Theoretiker der R e g i e r u n g s f o r m e n gemacht. U n d ähnlich ist es bei i h m auch mit dem Bild der Staaten. Wie er in seinem b e r ü h m t e n religionsphilosophischen Dialog die einzelnen Ausprägungen der Religionen an sich vorüberschreiten läßt, u m i m Ergebnis einer milden u n d ausgleichenden Toleranz zu gipfeln, so weiß er auch etwas von der besonderen Prägung, Gestaltung u n d Differenzierung der einzelnen Staaten durch Boden, Atmosphäre u n d geistige Anlage, auch hier Anregungen des Aristoteles aufnehmend u n d an die Folgezeit wirksam weitergebend. Wie aus der absoluten F o r d e r u n g des Rechts, so entfällt auch hier infolge der E r kenntnis der Relativität der konkreten Staatsbildungen die Möglichkeit, den einzelnen S t a a t als letzten W e r t an sich zu nehmen. Schreitet der politische Literat u n d glühende P a t r i o t Macchiavell, ganz auf Forderung gestimmt, leidenschaftlich von Steigerung zu Übersteigerung seiner Gedanken weiter, so wird das W e r k des d e m handelnden politischen Leben ungleich näher stehenden Staatsmannes Bodin von einer eigentümlichen Gehaltenheit getragen u n d h a t gerade daher die entscheidende Begründung f ü r die große Wirksamkeit seines Gedankenwerkes gewonnen. E s ist eine verwandte Stimmung, die über dem Werk des anderen großen Gegenspielers Macchiavells, H u g o G r o t i u s , liegt. Auch in i h m lebt nicht n u r die wissenschaftliche, sondern auch die religiöse Strömung der Zeit, n u r in ungleich stärkerem Maße als bei Bodin. Dabei h a t auch hier alles seine besondere Eigenart. E r steht nicht umsonst der milden Lehre der Arminianer aus innerster Überzeugung nahe u n d ist selbst der Verfasser eines b e r ü h m t e n apologetischen Werkes. Auch sein wesentliches Interesse ist das Recht. I n seiner Umwelt h a t t e sich die im Zeitalter Bodins beginnende Auflösung der mittelalterlichen Welt n a c h allen Seiten hin endgültig u n d bis zur letzten Konsequenz vollzogen. Die Staaten stehen einander in starrer Absolutheit gegenüber, die in einem kriegszerrissenen J a h r h u n d e r t Ausdruck findet. I n d e m jeder Staat souverän ist, scheint eine rechtliche Bindung zwischen ihnen

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unmöglich. A b e r u m diese Möglichkeit zu gewinnen, greift Grotius mit Energie auf das Naturrecht zurück und erfüllt es mit neuer W i r kungsintensität und -extensität. E s ist f ü r ihn die entscheidende L ü c k e , daß die Rechtswissenschaft seiner Zeit, wie er sie kennt, nur v o m bürgerlichen R e c h t , sei es des eigenen Volkes, sei es R o m s , weiß, aber nichts von dem Recht, das zwischen den Völkern und ihren Oberhäuptern besteht. U n d doch ist es d a : in der Dreiheit natürlicher Ordnung, göttlicher Satzung und der Gesamtheit gemeinsamer Sitten u n d stillschweigenden Übereinkommens. Der große Kenner der antiken Literatur weiß v o n jedem philosophischen und realistischen E i n w a n d , den Skepsis und Resignation gegen Rechtsidee und Rechtswirklichkeit erhoben haben, aber die aristotelische und stoische Erkenntnis der Gemeinschaftsnatur des Menschen und der darin angelegten Gemeinschaftsordnung ist i h m ebenso unerschütterliche Gewißheit wie die andere, daß M a c h t und Hoheit des Rechts als überlegener W e r t auch über dem des Vaterlandes aufgerichtet sind. Dabei ist gerade in diesem Z u s a m m e n h a n g f ü r ihn der religiöse A n s a t z von entscheidender Bedeutung. E s gibt freilich einen berühmten Ausspruch von ihm, der dem zunächst zu widersprechen scheint und zumeist gerade in entgegengesetzten Sinne genommen wird. Das Naturrecht gelte auch dann, wenn es keinen Gott gebe. Es sei so unveränderlich, daß Gott selbst es nicht ändern könne. So wenig, wie er die Tatsache, daß zweimal zwei = vier sei, ändern könne, so wenig könne er auch bewirken, daß das seiner inneren Natur nach Schlechte nicht schlecht sei. So meint man, Grotius habe das Naturrecht von Gott und vom religiösen Ethos losgelöst. Aber man übersieht dabei, daß Sinn und Gehalt jener Sätze u m vieles älter sind u n d gerade im christlichen Denken des Mittelalters bereits konzipiert waren: es ist kein anderer Gedanke als der, daß mit der lex aeterno in der heiligen Natur Gottes das Element gegeben sei, aus dem sich das Ethos aller Schlüsse Gottes ableite. Es handelt sich hier wie bei Grotius nicht um eine Ablehnung der Gotteswirklichkeit oder eine Eliminierung des Gottesbegriffes aus der zentralen Stellung innerhalb des Weltbildes, sondern vielmehr um eine Sinndeutung und Begriffsbestimmung dieser Gotteswirklichkeit selbst, die ihn jenseits alles Willkürhaften stellen und ganz ernst mit der Idee des Logos machen will, die sich in ihm enthüllt. Eben in diesen Stücken zeigt sich der enge Zusammenhang des Grotius mit den arminianischen Lehren. Rational erkenntnismäßiger u n d autoritär-religiöser Faktor vermählen sich hier zu unlöslicher Einheit theistischer Weltansicht u n d theistischen Welterlebnisses. Nicht um eine Negation, sondern gerade um ein Weiterwirken der christlichen Dogmatik handelt es sich hier, und zwar im besonderen Sinne um das Weiterwirken der in ihr liegenden griechischen Elemente, die durch die Vermittlung des Erasmus und seines von humanistischen Ideen durchsättigten Christentums gerade eben noch in besonderer Weise gesteigert worden waren. So ist denn auch jene Formulierung nicht richtig, die meint, daß Grotius sich die Aufgabe gesetzt habe, die neue Ordnung der Gesellschaft unabhängig von der Religion auf die Vernunft zu gründen. Gewiß will er eine neue Ordnung konzipieren. Aber er will dies gerade aus einer religiösen Haltung heraus t u n ; oder genauer gesagt: dies aus einer Religiosität heraus t u n , die zugleich ganz Vernunft ist, und aus einer Vernunft, die zugleich ganz von Religion durchdrungen ist. Von hier aus allein ist sein persönliches Ethos begreiflich, wie sein Sendungsbewußtsein und seine Wirksamkeit in die Zeit hinein. Es ist die Ehre des Menschen, daß seine Vernunft in diesen Stücken zugleich die göttliche Vernunft nachsinnend begreifen kann. So vermag seine Vernunft die moralische Welt

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sinnvoll nachzukonstruieren, so kann aus dem Imperativ der Vernunft heraus ein aus sich selbst bindendes Recht entwickelt werden, und so ist schließlich eine ganz bestimmte wissenschaftliche Methode gegeben, die im methodischen Gebrauch der Vernunft zu klaren und gesicherten Ergebnissen kommt.

Darum liegt die eigentliche Aufgabe in dem großen Hauptwerk des Hugo Crotius auch nicht eigentlich darin, ein neues Recht zwischen und über den Völkern zu schaffen, als vielmehr ein bereits bestehendes zu erkennen. Dieses Recht kann nichts anderes sein als das Recht schlechthin, das Naturrecht, für dessen Erkenntnis nun alles aufgeboten wird, was an wissenschaftlich überkommenem Gut, an Werten der großen geistigen Autoritäten, an Brauch und Gewohnheit, an Ergebnissen eigener Überlegung bereit liegt. Auch alles willensmäßig neugesetzte Recht ist letztlich darauf zurückzuführen, denn es hat seine Gültigkeit aus der Kategorie des Vertrages, die ihrerseits wieder dem Naturrecht angehört. Von hier aus läßt sich dann alles weitere konstruktiv gewinnen. Das Recht aber kann wegen seiner gott- und naturgewollten Wirklichkeit auch nicht im Kriege aufhören. Das bedeutet für Grotius freilich nicht radikale Verwerfung des Krieges. Wie er Realist genug ist, um zu wissen, daß Recht nicht ohne Macht sein kann, und so das Solonische Wort, daß Macht sich mit dem Recht verbinden müsse, zum eigenen Leitstern macht, so lehren ihn auch Geschichte und Ethos, daß nicht jeder Krieg mißbilligt werden kann. In einem äsopisch gestimmten Gleichnis hat er die Fabel von den Wölfen erzählt, die die Schafe unter der Losung vom ewigen Frieden bereden, die sie schützenden Hunde zu entfernen, um dann über sie herzufallen. Auch im Evangelium sieht er kein schlechthinniges Kriegsverbot, ja, er ist sich über den eschatologischen Charakter der großen prophetischen Friedensworte und den Pessimismus der Apokalypse völlig im klaren. Aber er weiß, auch im Kriege hört das Recht nicht auf. So ist das, worauf es ihm ankommt, gerade umgekehrt, auch den Krieg mit Norm und Regel zu umgrenzen und ihm so Roheit und Willkür zu nehmen. Das Problem des gerechten Krieges mit all seinen Schwierigkeiten und seiner Problematik rückt damit in den Mittelpunkt seines Denkens. Ein Krieg darf nur um der Rechtsverfolgung begonnen und nur nach dem Maß des Rechts und des Anstands geführt werden; nur so leitet er zu seinem Ziel, dem Frieden. Aber auch Wille und Pflicht zur Selbsterhaltung sind Naturrecht. So gehören die Lehre von der Notwehr und die Lehre vom gerechten Krieg mit innerer Folgerichtigkeit als positive Begriffe in das Zentrum seines Systems. Tatsachlich gibt er auch der staatlichen Obrigkeit weitgehende Rechte Aber die Kirche, nicht nur auf Grund der Hochstellung der Staatsgewalt die er mit Bodin teilt, sondern auch auf Grund der Ideen einer staatsgeschützten Toleranz, die ihn von eigenen bitteren Schicksalen her bewegt. Insofern scheidet er sich gewiß vom klassischen und strengen Kalvinismus, der hierin sein Lebensgegener war. Aber er ist weit davon entfernt, wie man wohl mißverständlich gemeint hat, den Staat das

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GESCHICHTE

DER

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religiöse Leben der Untertanen nach seinem Ermessen regeln zu lassen; er bleibt bei ihm stets an die objektive Grundlage der Schrift gebunden. Und er denkt noch weniger daran, die Kirche im Staat aufgehen zu lassen, sondern er gibt ihr ein unmittelbares gottgesetztes Naturrecht, sich selbst zu organisieren. Und wenn dieses Recht gegenüber dem des Staates nicht herrschaftlicher, sondern genossenschaftlicher Prägung, das Recht von einander Gleichberechtigten ist, wenn insbesondere die Befugnisse der Geistlichen als Befugnisse der Leitung durch R a t , nicht anders als die des Arztes angesehen werden, so zeichnen sich damit die Züge eines spezifisch protestantisch gesehenen Kirchentums ab. Diese Kirche teilt sich nicht mehr' wie die des Mittelalters mit dem Staat in bewußt juristische Herrschaft Über die Totalität der Welt; wohl aber behalt sie in dem Eigentlichen ihrer Sendung Wirkensfreiheit und Kraft auch der sozialen Selbstgestaltung, wie sie ihrem Wesen gemäß ist. Der Gedanke der missionarischen Endzeithoffnung verbindet sich mit dem Gedanken der Einigung der Konfessionen, der recht eigentlich aus den Stürmen der Zeit geboren scheint und doch weltenfern von allem müde gewordenen kirchlichen Quietismus ist. E r ist nichts anderes als der Gedanke der Una sancta eeelesia, der im klassischen Glaubensbekenntnis der Christenheit die Ausdrucksform für die Paulinische Idee des mystischen Christenleibes ist, der hier mit neuer religiöser Gewalt auftritt; es ist kein Zufall, daß er seine Kraft bei Grotius gerade aus dem Blick auf die streitlose Kirche der ersten Christenheit nimmt. Die Auffassung des Mittelalters hatte ihn zu einem ausgesprochenen Rechtsbegriff verhärten lassen und damit in politische und religiöse Problematik zugleich verstrickt; hier wird er jetzt als eine jenseits und über dem Politischen stehende Macht aufs neue konzipiert, um als Schlußstein das Gebäude dieses großen Baumeisters des Rechts zu krönen.

Freilich, die Kraft der Zusammenschau und die Weite der Perspektiven sind bei Grotius so groß, daß manchesmal die sicheren Linien des Einzelnen verschwinden oder sich ineinander wirren. Dazu gehört freilich am Wenigsten das, was man später allzu rasch und bereitwillig an ihm getadelt hat: das Ineinanderfließen von Recht und Moral, wie man es genannt hat. Gerade, daß die untrennbare Wesenszusammengehörigkeit beider so stark und kraftvoll betont wird, gehört zu der ausgesprochenen Eigenart dieses Typus idealistischer Rechtsphilosophie seit Piatos Tagen, wie ihm ebenso die Aufgipfelung im Religiösen eigentümlich ist. Wohl aber ergeben sich nach der Seite des im eigentlichen Sinne Staatlichen ganz bestimmte Schwierigkeiten. Wie in seinem äußeren, so ist der Staat auch in seinem inneren Leben ganz vom Recht aus gesehen. Sein Zweck ist nicht nur der gemeinsame Nutzen, sondern gerade auch der gemeinsame Genuß des Rechts. Er ist wesentlich Schöpfung des Rechts, wie im Recht erwurzelt, verfestigt. Diese Gedanken verbinden sich mit der Akzentuierung der Staatsmacht, die darum die höchste heißt, weil sie keinem anderen Recht unterliegt und von keinem anderen aufgehoben werden kann, ja, zum Teil werden sie diesem gegenüber noch gesteigert. Selbstverständlich gibt es keinerlei Empörungsrecht des Volkes gegen, keine Obergewalt und Strafbefugnis über den König. Aber auf der anderen Seite fehlt doch auch wiederum die letzte Zuspitzung, die die Überhöhung der in sich alles zur Einheit zusammenfassenden Staatspersönlichkeit über alle in ihr vorhandenen Verbänden endgültig sicherstellt. Die

BODIN

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UND

GROTIVS

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konstruktive Grundidee des Grotius, nach der alle sozialen Verbänden aus Verträgen der Individuen entstehen und von den Individuen durchformt werden, wirkt sich letztlich für den Staat verhängnisvoll aus. Denn so kann er wohl in der Reihe der politischen Gemeinschaften an die oberste Stelle gerückt werden; aber er ist doch nach keinem anderen Prinzip zur Entstehung gelangt, als all die anderen Gemeinschaften, und damit der Idee nach letztlich qualitativ gleichen Ranges mit ihnen. Das bedeutet eine entscheidende Schwäche, die sich ganz konkret im Politischen auswirkt: Jene anderen Verbände haben ihr Selbstverteidigungsrecht als echtes und ursprüngliches Recht der Teile aus dem Zustand vor der Einigung zur staatlichen Gemeinschaft in Händen behalten, während der Staat sein Recht gegenüber den Teilen erst aus dieser Vereinigung, also als etwas von ihnen Abgeleitetes, in Händen hat. So stark das Gefühl des Grotius für Wesen und Tatsache der Rechtsgemeinschaft ist, nach der Seite des Politisch-Konstruktiven überwiegt doch die individualistische Denkform; es ist kein Zufall, daß bei ihm die Organismusidee der Antike und des Mittelalters wohl gelegentlich auftaucht, aber an keiner Stelle zu wirklich entscheidender Bedeutung gelangt. Überhaupt: so vielfach auch die Anknüpfungen an die Antike bei Grotius sind, so wenig darf man die Gegensatze übersehen. Für die Antike wie für das Mittelalter ist das Naturrecht vor allem ein Mittel, die eigentümlichen Bestände rechtlichsittlicher Grundnormen in ihrem Geltungsgrund philosophisch zu begreifen und in ihrer bei den einzelnen Völkern identischen Art zu begründen. Für Grotius ist das naturrechtliche Denken zugleich aber auch in stärkstem Maße heuristisches Prinzip, und die Vernunft ist berufen, zugleich auch als Erkenntnisquelle für neugeschaffene, sich aus innerer Notwendigkeit verwirklichende Rechtssätze aufzutreten. So hat er der ganzen Folgezeit eine gewaltige Revisionsarbeit gegenüber dem geschichtlich gewordenen positiven Rechtsstoff ermöglicht und umfassender neuer Rechtssetzung Bahn gebrochen. Daneben aber vollzieht sich dann bei den Nachfahren eine eigentümliche Akzentverschiebung. Bei Aristoteles wie bei Plato wirkt sich im Naturrecht vor allem eine objektiv schöpferische Macht aus, die dort die im Universum wirksame Naturgewalt, hier die Schöpfermacht des persönlichen Gottes ist. So sind es objektive Tendenzen, die im Staat ihre Vollendung finden; und eine objektive Lehre von den Forderungen, die der Staat zu erfüllen hat, kann von hier aus entwickelt werden. Diese Gedanken fehlen auch bei Hugo Grotius nicht, sie bilden auch für ihn in ganz ähnlicher Weise dauernd den einen Anfangspunkt seines gedanklichen Aufbaues. Aber in der Durchführung der Folgezeit wird dann überall die natürliche Beschaffenheit und das natürliche Verlangen des Menschen immer stärker in den Vordergrund gerückt; sein Geselligkeitsdrang, sein Gemeinschaftsbedürfnis ist es, das im Staat seine Vollendung findet. Und so drängt alles dann immer mehr zu einer viel stärker von den subjektiven Elementen gefärbten Lehre darüber, wie der Staat beschaffen sein soll, um der Natur des einzelnen Menschen zu genügen. Gewiß konnte man auch in diesen letzten Dingen bei Aristoteles anknüpfen; aber während bei diesem das Subjektive durchaus als Funktion des Objektiven erscheint, verblaßt jetzt das Objektive zu einer bloßen allgemeinen Voraussetzung des Subjektiven, das in der Praxis die entscheidende Rolle einnimmt. So stark bei Grotius der Tatbestand und der Wille zu objektiven Gehalten und absoluten Bezogenheiten vorhanden ist, seine Lehre wie seine Schule sind doch in steigender Tendenz der Gefahr unterlegen, aus diesen Bezirken des ÜberHaadb. i . PhlL IV. O S

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GESCHICHTE

individuellen und Objektiven in abzugleiten.

DER STAATS die

des

PHILOSOPHIE

Individualistischen

D und

Subjektiven

D a z u k o m m e n n o c h die anderen, oben b e r ü h r t e n B e d e n k e n . Grotius ist i n e m i n e n t e m Maße ein Mann der Synthese, der m i t einer großen K u n s t des Z u s a m m e n s c h a u e n s wie des Z u s a m m e n f ü g e n s a r b e i t e t . A b e r d a r a u s ergibt sich n i c h t n u r die gelegentliche Unsicherheit u n d d a s I n e i n a n d e r g l e i t e n i n d e r E i n z e l f ü h r u n g der Linien, sondern d a m i t u n t e r liegt er zugleich a u c h der anderen G e f a h r , die aller S y n t h e s e eigentümlich i s t : zu sehr zu vereinheitlichen, zu sehr die G e d a n k e n u n d Dinge a n e i n a n d e r zu r ü c k e n u n d dabei wesentliche Gegensätze wie w e s e n h a f t e S p a n n u n g e n zu ü b e r s e h e n . S t a a t s g e d a n k e u n d ß e c h t s i d e e , Sonderbedarf des I n d i v i d u u m s u n d G e m e i n s c h a f t s o r d n u n g , W e l t v e r n u n f t u n d menschliche V e r n u n f t , staatliche O r d n u n g u n d kirchliches Gemeinschaftsleben k o m m e n zu r a s c h zur Deckimg oder zu ausschließlich positiver Bezieh u n g z u e i n a n d e r . So gewaltig seine W i r k u n g als Schöpfer des Völkerr e c h t s u n d als juristischer Lehrer einer g a n z e n E p o c h e ist, in d e m s t a a t s philosophischen Bezirk bleibt doch die F r a g e , die Macchiavell n e u i n die Zeit geworfen h a t t e , die F r a g e n a c h d e m n a t u r h a f t e n Sein der S t a a t e n u n d seiner e l e m e n t a r e n E i g e n b e d e u t u n g , letztlich unerledigt. E s ist d a r u m kein Zufall, d a ß v o n dieser Seite h e r ein n e u e r Gegenstoß k o m m t . 3. H O B B E S . E r g e h t v o n H o b b e s aus. Auch bei i h m w ä c h s t d a s politische D e n k e n aus d e n k o n k r e t e n I m p u l s e n der politischen Zeitsituation. A u c h er s t e h t m i t t e n i m politischen K a m p f . Aber es ist kein K a m p f u m staatliche E i n h e i t u n d s t a a t l i c h e U n a b h ä n g i g k e i t , wie in d e m F r a n k r e i c h des Bodin. E s ist a u c h kein Ausholen zu n e u e m politischen Aufstieg u n d n e u e r politischer Z u k u n f t des eigenen Volkes, wie bei Macchiavell, sondern es i s t d e r K a m p f i n n e r h a l b des S t a a t e s i m revolutionszerrissenen E n g l a n d , d e r Bürgerkrieg, in d e m sich alle K a m p f t h e o r i e n des W i d e r s t a n d s rechts, die hier i h r e n geschichtlichen H ö h e p u n k t erreichen, e n t f a l t e n . D a r a u s ergibt sich f ü r Hobbes sein k o n k r e t e s Ziel. Das ist a n sich n i c h t d e r G e d a n k e Macchiavells: H o b b e s will n i c h t ein monarchisches E n g l a n d als F ü h r e r zu k ü n f t i g e r geschichtlicher Größe, sondern er will die Monarchie, weil sie allein nach seiner A u f f a s s u n g die rechte Konsolid a t i o n des S t a a t e s zu bringen v e r m a g . I n der D u r c h f ü h r u n g b r i n g t i h n das d a n n freilich in die Nähe des Florentiners. A b e r er v e r b i n d e t die I n t e n t i o n des Macchiavell mit d e n juristischen D e n k m i t t e l n seiner Zeit u n d e n t f a l t e t beides v o n dem Boden einer philosophischen Welta n s c h a u u n g a u s zu e i n e m einheitlichen u n d straff d u r c h f o r m t e n Ged a n k e n g e f ü g e . W o Macchiavell u n m i t t e l b a r n a t u r h a f t u n d k o n k r e t geschichtswirklich e m p f i n d e t , da w i r k t sich bei H o b b e s ein geschlossenes S y s t e m atomistischer u n d mechanistischer G r u n d v o r s t e l l u n g e n aus. Das n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e D e n k e n der n e u e n Zeit, f ü r das H o b b e s ganz

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wesentlich Bahnbrecher gewesen ist, wird auch auf die Gegenstände des sozialen Lebens angewandt. Daraus entwickelt sich eine scharf präzisierte Methode. Die menschlichen Handlungen und ihre Beziehungen zueinander sollen mit der gleichen Gewißheit erkannt werden, mit der geometrisches Denken die Größenverhältnisse der gegebenen Figuren erkennt. Denn die dort verwirklichte mathematische Methode wurzelt unmittelbar in der Vernunft. Alle bisherige Betrachtung über Recht und Staat scheint ihm dogmatisch bestimmt und daher von Leidenschaft und Vorurteil getragen zu sein; so will er jetzt auch hier auf die unfehlbare Ratio zurückgehen und aus den Fundamentalprinzipien die Gesetze der Natur selbst aufdecken. Das kann allein die wahre und einzige Grundlage der Wissenschaft vom Staat sein. Der Ansatz und die Durchführung dieser Methode und dieses Systems werden gewonnen, indem man auf die Natur des Menschen zurückgeht. Das anthropologische Urphänomen ist für Hobbes folgendes: im Menschen wohnt einmal die Forderung der natürlichen Begierde, nach der er jeden Gebrauch der gemeinsamen Dinge für sich allein verlangt. In ihm wohnt aber auch die Forderung der natürlichen Vernunft, nach der er dem gewaltsamen Tod als dem höchsten Übel der Natur auszuweichen versucht. Von dieser Grundlage aus ergibt sich die Notwendigkeit der positiven Rechtsordnung. Der Zustand des Menschen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, der Naturzustand, ist der Krieg aller gegen alle, wo jeder ein Recht auf alles hat, jeder von restlosem Mißtrauen gegen den andern erfüllt ist. Aber die Menschen wollen aus diesem Zustand kraft ihrer natürlichen Triebe heraus, sobald sie ihn einsehen. Der tiefe Gegensatz zu allem von Aristoteles bestimmten naturrechtlichen Denken t u t sich hier auf: es ist nicht die auf Gemeinschaft angelegte Natur des zoon politikon, die den Menschen zum Staat führt. Denn er sucht nicht Gemeinschaft u m der Gemeinschaft willen, sondern um für sich Vorteil und Ehre zu gewinnen. Der Ursprung aller großen und dauernden Verbindung von Mensch zu Mensch beruht nicht auf dem Wohlwollen, sondern auf gegenseitiger Furcht. Es sind also nicht ethische, objektive und überindividuelle Imperative, die den Menschen mit dem Anspruch der Absolutheit und aus innerlich verpflichtender Eigenkraft in die Gemeinschaft führen, sondern seine elementaren egoistischen Strebungen und Erkenntnisse. Am häufigsten geraten die Menschen in Streit, weil mehrere denselben Gegenstand begehren, der weder gemeinschaftlich benutzt noch geteilt werden kann. Hier bleibt nur eine Lösung möglich: der Stärkste muß ihn haben. Infolgedessen genügt auch nicht die Übereinstimmung des Willens vieler, u m den Frieden zu erhalten und die dauernde Vereinigung zu begründen, sondern es ist notwendig, daß e i n Wille in allem und über allem besteht. Darum müssen die Einzelnen ihren Willen dem Willen eines besonderen Einzelnen, d. h. eines Menschen oder einer

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GESCHICHTE

DER STAATSPHILOSOPHIE

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Versammlung so unterordnen, daß dieser Wille als der Wille aller Einzelnen gilt. I n d e m sich Jeder J e d e m der übrigen vertraglich verpflichtet, d e m Willen dieses Einen, dem er sich unterworfen h a t , keinen W i d e r s t a n d zu leisten, erfolgt die Unterwerfung des Willens Aller u n t e r d e n Willen eines Menschen oder einer Versammlung. U n d dieser Eine, Mensch oder Versammlung, ist Inhaber der höchsten Gewalt. Dieser Gedankengang steigert sich noch weiter, u m in der völligen Negation des Volkes als eines irgendwie dauernd wesentlichen politischen F a k t o r s zu enden. Das geschieht nicht so sehr aus der allgemeinen Abneigung des geistigen Aristokraten gegen die Masse, obwohl auch die nicht f e h l t : Kein vortrefflicher Ausspruch h a t jemals dem Volk gefallen, heißt es einmal, u n d a u c h : die Masse erkennt eine Weisheit, die ü b e r ihren Horizont geht, nicht a n ; sondern es folgt vor allem aus der eigentümlichen Logik, in der das Ganze aufgebaut ist. Ohne den, u n t e r den m a n sich unterworfen h a t u n d der so ü b e r h a u p t erst die Einheit schafft, gibt es ü b e r h a u p t n u r Menge. E r s t durch den König wird die Menge z u m Volk. D a r u m k a n n auch kein Vertrag zwischen Fürst u n d Volk bestehen. Der König erhält die Herrschaft zwar von der Menge. Mit dieser T a t aber h ö r t das Volk auch sofort wieder auf, Person zu sein. Mit d e m Untergang diese Person erlischt d a r u m auch jede Verbindlichkeit gegen sie. Anders gesprochen: Der Staat ist von n u n an schlechthin in der Person des Herrschers enthalten. So ist der S t a a t des Hobbes in Wahrheit der absolute Staat in reiner Vollendung. E r begreift in sich eine Herrschaft, die die größte ist, die Menschen auf einen Menschen übertragen können. Die Macht dieses Staates ist schlechthin u n b e s c h r ä n k t ; niemals k a n n sie geteilt werden, immer bleibt sie in einer H a n d vereinigt. Sie u m f a ß t den schrankenlosen Gebrauch des Schwertes in Krieg u n d Frieden, den E r l a ß wie die Abschaffung von Gesetzen, das höchste Gericht u n d die letzte Entscheidung in allen beratenden Verhandlungen, die E r n e n n u n g aller obrigkeitlichen Personen nebst allen anderen sich daraus ergebenden R e c h t e n . So gibt es in diesem S t a a t auch keine Freiheit des Eigentums, auf das der I n h a b e r der höchsten Gewalt nicht ein Recht h ä t t e . J a , die Lehre von einem Eigentum, die auch eine Schranke gegenüber d e m S t a a t aufrichtet, ist in Wahrheit eine staatsfeindliche Lehre. Denn auch das E i g e n t u m h a t erst mit dem Staat begonnen. So gibt es noch weniger eine Geistesfreiheit in politischen Dingen. An den Universitäten darf n u r nach offiziellen Lehrbüchern Staatsrecht vorgetragen werden. E r s t recht gibt es keine Freiheit der Religion. Der S t a a t k a n n m i t vollem Recht anordnen, welche Lehren über die N a t u r u n d Wirksamkeit Gottes festzuhalten u n d öffentlich zu bekennen sind. Die Auslegung aller Gesetze, der heiligen wie der weltlichen, h ä n g t von der Staatsgewalt a b . D a m i t wird schließlich auch das R e c h t als eigenständige Größe seiner Idee wie seiner Wirklichkeit nach entwurzelt. Das zeigt sich in der

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Art, wie Hobbes sich mit den Problemen des Rechts und des Gesetzes befaßt. Es gibt kein anderes Naturgesetz als das der Vernunft, noch andere Gebote des Naturrechts als die, welche uns den Weg des Friedens weisen und, wenn dies unmöglich ist, den der Verteidigung. Gebot des Naturgesetzes ist es, daß jeder Mensch sich des Rechts, das er von der Natur auf alles hat, begeben müsse. Recht ist von da an nur die Freiheit, welche das Gesetz uns läßt. Gesetze sind die Beschränkungen, durch welche wir nach gegenseitigem Übereinkommen die Freiheit eines anderen verkürzen. Das Gesetz ruht also nur auf einem Übereinkommen der um ihres eigenen Egoismus willen sich zähmenden Menschen, nicht auf innerer sittlicher Notwendigkeit. Das natürliche Gesetz ist das Gebot der Rechtsvernunft darüber, was zu einer möglichst langen Erhaltung des Leibes und der Glieder zu t u n und zu lassen ist. Das Maß für die Rechtsvernunft, das im Naturzustand das Ermessen jedes Einzelnen ist, ist im geselligen Zustand die Vernunft des Mannes, der die Herrschergewalt ausübt. Eine Rechtsvernunft an sich und als ein die dinghafte Wirklichkeit transzendierendes Prinzip gibt es nicht. Das Recht wird durch das Medium einer nur persönlich bestimmten Rechts Vernunft zurückgeführt auf den Willen dessen, der die höchste Gewalt hat. Es ruht nicht auf einer ethisch bestimmten Gerechtigkeitsidee, sondern auf der Positivität der Staatsmacht. Die Materie der Gesetze ist also schlechthin der Wille. Und weil es über den Völkern keine gemeinsame höchste Gewalt gibt, kann es auch kein Völkerrecht geben: zwischen den Staaten herrscht der Naturzustand, der Zustand des unbegrenzten Ichwillens. So ist der Herrscher in Wahrheit an keine Schranke irgendwelcher Art gebunden. Denn die Pflicht zur guten Regierung des Volkes und das Verbot, dem Volke zu schaden, sind f ü r Hobbes nicht eigentlich normative Bindungen. Und daß Recht und Naturrecht als reines Machtrecht gedacht werden, hindert nicht, daß er seine Gedankengänge in umfangreicher Beweisführung auch auf die Bibel zu stützen sucht. Denn seine Beweisführung gelingt ihm nur durch eine Reihe von Sophismen und durch die völlige Eliminierung alles eigentlichen transzendenten religiösen Gehalts in den christlichen Urkunden. Hierhin gehört vor allem seine Auffassung des Verhältnisses von Gott und Mensch« Auch Gottes Weltregierung, das regnum potentiae der klassischen Theologie, ist für ihn reine Machtregierung. Gottes Recht, zu herrschen und die Verletzer seiner Gesetze zu strafen, kommt allein und ausschließlich von seiner unwiderstehlichen Macht her. Gewisse harte Züge des Galvinismus und des alttestamentlichen Gottesbegriffes werden in einseitiger Übersteigerung aufgenommen; aber die für das jüdische und christliche Gottesbild charakteristische Verbindung zwischen Macht und Gerechtigkeit, die Idee des g e r e c h t e n Gottes, fehlt völlig. Und wie auch das Recht Gottes allein aus der Macht abgeleitet wird, so be-

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r u h t auch die Pflicht des Menschen z u m Gehorsam lediglich in seiner Schwachheit. Auch hier fehlen die religiösen u n d ethischen Bindungen im eigentlichen Sinne; im Gegenteil, materialistische wie utilitaristische Erwägungen werden sogar in die Sphäre religiöser Geistigkeit hineingetragen. I n die gleiche R i c h t u n g weisen auch seine Erörterungen über das Reich Gottes, trotzdem auch in ihnen vielfach ein starkes Gefühl f ü r das Eigentümliche bestimmter Seiten des neutestamentlichen T a t bestandes lebendig ist. Die eschatologischen Elemente des Reich- GottesGedankens der christlichen Botschaft werden mit s t ä r k s t e m Nachdruck in den Vordergrund gerückt. Und wie Grotius weiß auch er, d a ß Christus kein Gesetzgeber im eigentlichen Sinne i s t ; er h a t keine königliche Gewalt in dieser Welt g e ü b t ; was er gab, war n u r R a t u n d Lehre. Aber alles das wird anders als bei dem großen Holländer nicht aus spezifisch religiösem Interesse b e t o n t , u m einen inneren Weg zu rechter Sittlichkeit oder letzter religiöser Zukunftsgewißheit zu weisen; noch weniger läßt er den durch Christus erneuerten Menschen irgendwie formend f ü r die Sozialität a u f t r e t e n , sondern er k o m m t zu dem entgegengesetzten Ergebnis, das christliche Gebot aus d e m Staat völlig zu eliminieren. Christus h a t den U n t e r t a n e n keine Gesetze gegeben, sondern sie auf die Obrigkeit hingewiesen u n d den Bürgern geboten, ihren F ü r s t e n in allen Fragen über Mein u n d Dein, u n d über eigenes u n d fremdes Recht zu gehorchen. Nicht einmal der Unterschied zwischen Weltlichem u n d Geistlichem wird v o m Religiösen her b e s t i m m t . Auch dies regelt bei Hobbes allein der Spruch des weltlichen Richters; selbst die Interpretation aller religiösen Lehre k o m m t dem S t a a t zu. Wieder klingt manches einzelne der Formulierung an Grotius a n ; aber während dieser überall das geistige Eigensein u n d die juristische Sonderart der Kirche zu wahren weiß, werden bei Hobbes S t a a t u n d Kirche miteinander identisch. Der S t a a t christlicher Menschen u n d die Kirche sind f ü r ihn ein u n d dasselbe, das n u r aus zwiefacher Ursache zwiefach b e n a n n t wird. So wird in Wirklichkeit der Staat selbst v e r g o t t e t : „ W a s G o t t befiehlt, befiehlt er durch den Mund der Obrigkeit; alles, was v o n der Obrigkeit über die Gottesverehrung u n d über weltliche Dinge befohlen wird, wird von G o t t befohlen." Die E i n f ü h r u n g des religiösen Gedankenganges erfolgt n u r , u m alle echte religiöse Wirklichkeit auszuschalten u n d den n a t u r h a f t machtmäßigen T a t b e s t a n d mit religiösem Schein zu umkleiden. So k o m m t Hobbes zu einem eigentümlichen Ergebnis. Seine Philosophie richtet ihre S t o ß k r a f t gegen alle Staatszersplitterung, alles Staatsfeindliche des Individualismus, alle s t a a t s t r e n n e n d e n religiösen K ä m p f e . Das erweckt zunächst den Anschein, als ob er alles auf überindividuelle F a k t o r e n abstellen m ü ß t e . Und gewiß ist das auch seine innere Zielrichtung. Der Gedanke der Einheit des Staates wird in den Vordergrund gestellt; in Idee u n d Wirklichkeit soll die letzte Einheit

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des Staatswillens verfestigt in einem naturhaft mechanischen Zusammenhang endgültig sichergestellt werden. Die spezifische Eigenart des Staates wird gegenüber der bloßen Sozialität des Volkes mit allem Nachdruck herausgearbeitet und in der Vereinheitlichung von Staat und Herrscher zu schneidender Durchschlagskraft gebracht. Aber diese Konstruktion vermag die gesuchte überindividuelle Position nicht aus einem wirklich überindividualistischen Gedankengang zu gewinnen. Eine über den Menschen gegebene Ordnung von wesenhaft ihr innewohnender sittlicher Normativität kennt diese Philosophie nicht. Sie kann ihre Autoritätszentren nur aus individualistischen Gedankengängen herleiten. Der naturhaft mechanistische Zusammenhang und die darin beruhende Ordnung, die sich Hobbes für das soziale Leben konstruiert, sind nur aus der Konstruktion des atomistisch nur in sich ruhenden einzelnen Menschen zu verstehen. Sein Naturgesetz ist bloß Trieb der Selbsterhaltung, seine Rechtsvernunft nur egoistisches Klugheitsgesetz. Daher ist in diesem Staatsabsolutismus der Bürger nicht einer überpersonalen, aus eigenem sinnvollen Sein verpflichtenden Harmonie unterworfen, sondern einem beliebigen, nur durch die massive Gegebenheit seiner naturhaften Stärke ausgezeichneten Einzelwillen unterjocht. So ist der Zusammenhang nicht nur mit jedem Dogma, sondern auch mit jeder metaphysischen Haltung im eigentlichen Sinne aufgehoben. Das Recht als Eigenwert ist ebenso vernichtet, wie die aus diesem Eigenwert fließenden echten Rechte des Einzelnen. Die Funktion des geistigen Lebens als eines die Gemeinschaft gestaltenden, den Gesamtwillen sowohl formenden wie läuternden Faktors ist ebenso vernichtet wie Recht und Pflicht des Menschen, sein inneres Verhältnis zum Urgrund der Welt in religiöser Eigenverantwortlichkeit zu gewinnen. Sie alle weichen vor der Übermacht des Staates und seiner Organisation zurück; sie alle werden überwältigt von dem Einbruch des Nur-Politischen in alles Geschehen. Und um welchen Preis ? „Der Nutzen, weswegen die politische Gemeinschaft geschaffen ist, ist der Friede und die Selbsterhaltung eines jeden Privatmanns; einen größeren Nutzen kann es gar nicht geben. 41 So spitzt sich alles zu einer höchst seltsamen Paradoxie zu. Ein quietistischer Individualismus, nicht echter politischer Gestaltungstrieb steht a m Anfang und am Ende dieser Staatsphilosophie. Es ist eine Haltung, die von der gleichen pessimistischen Anthropologie aus sich später noch einmal bei Schopenhauer wiederholen soll. Dessen staatsphilosophische Skizze, wie die Bücher des Hobbes, sind im Grunde die Schriften zutiefst unpolitischer Menschen. Nicht die Leidenschaft, gestaltend und herrschend in die Welt der großen Kämpfe einzugreifen, sondern ein müdes taedium vitae politicae haben sie bestimmt. Und doch ist die denkerische Gewalt des Hobbes so stark, und sein Denken erfaßt wichtige politische Tendenzen der Zeit so straff, daß seine Nach-

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Wirkung ungeheuer groß ist. Das zeigt sich vor allem in dem Werk des Spinoza. 4. SPINOZA. Man pflegt Spinoza meist und mit Recht dicht an Hobbes heranzurücken. E s ist sicher, daß nicht nur im Einzelnen viele parallele Züge bestehen, sondern daß Spinoza auch stark von Hobbes beeinflußt ist. Gemeinsam ist beiden die Richtung auf einen universalen Rationalismus in der Welterklärung, die Methode des more geométrico-Denkens. Gemeinsam ist beiden der Wille, den Menschen zu sehen, wie er ist. Gemeinsam ist beiden schließlich die enge Beziehung von Recht und Macht, der Rechtsbegriff wird geradezu aus dem Machtbegriff hergeleitet und damit eigentlich die Rechtsnatur dessen, was sie Naturrecht nennen, verneint. Aber während bei Hobbes alle Zusammenhänge ausschließlich mechanistisch und materialistisch gefaßt werden, steht bei Spinoza alles auf dem Hintergrund einer großen, durchgeisteten und durchgotteten Weltansicht. Jedoch dies Gottesbild trägt durch und durch rationale Züge; Gott und Natur werden zu einer Einheit verschlungen, so daß das Endbild eher noch widerspruchsvoller wird, als es bei Hobbes ist. Zunächst finden wir einen ganz ähnlichen Ansatz: Gesetz und Recht der Natur sind für Spinoza nichts anderes als die Regeln der Natur in jedem einzelnen Individuum, nach denen es auf eine bestimmte Weise zu existieren und zu wirken genötigt ist. Jedes Individuum hat das volle Recht zu allem, was es vermag; das Recht eines jeden erstreckt sich soweit, wie seine Macht reicht. Das natürliche Recht eines jeden Menschen wird daher nicht durch die Vernunft begründet, sondern durch Begierde und Macht bestimmt. Die menschliche Vernunft freilich richtet sich aber doch ihrem Ziel nach auf den wahren Nutzen und die Erhaltung des Menschen. Darum ist es für den Menschen nützlich, nach ihren Gesetzen und Vorschriften und nicht nach jenem primitiven natürlichen Recht zu leben. So treibt sie die Individuen zur Vereinigung miteinander. Es sind also auch hier ein rationaler Antrieb und eine utilitäre Erwägung, die den Staatsvertrag begründen. Dahinein treten dann sofort pessimistische Züge. Jeder Vertrag hat seine Kraft nur durch diese Nützlichkeit. Kommt sie in Wegfall, so wird er hinfällig und verliert seine Geltung. Der Mensch lebt nicht aus der Vernunft, sondern läßt sich von Lüsten beherrschen, die den Geist derart in Besitz nehmen, daß für die Vernunft kein Spielraum bleibt. Darum muß das Recht ganz der Gesellschaft übertragen werden, die damit alle Macht gewinnt und dafür sorgt, daß jeder Vertrag treu gehalten wird. Ist so der praktische Ansatz bei Spinoza und Hobbes weithin identisch, so bestehen doch zwischen ihnen grundlegende Unterschiede. Bei Hobbes sind Recht und Sitte auf den Naturtrieb der Selbsterhaltung begründet. Bei Spinoza aber werden

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SPINOZA

R e c h t u n d Sitte auf der N a t u r m a c h t b e g r ü n d e t , d. h . auf der m e t a physischen N o t w e n d i g k e i t des U n i v e r s u m s . Bei H o b h e s ist die N a t u r ein t r i e b h a f t mechanischer Z u s a m m e n h a n g , bei Spinoza E n t f a l t u n g eines i m m a n e n t e n Geistgehalts. D e n n die N a t u r ist n i c h t in die Gesetze der menschlichen V e r n u n f t eingeschlossen, sond e r n s t e h t u n t e r u n e n d l i c h e n Gesetzen, die die ewige O r d n u n g des ges a m t e n K o s m o s b e s t i m m e n , v o n der der Mensch n u r ein Teilchen i s t , u n d deren N o t w e n d i g k e i t alle Wege ihres Seins u n d H a n d e l s b e s t i m m t . Die M a c h t d e r N a t u r ist n i c h t s anderes als G o t t e s M a c h t , der das vollste R e c h t zu allen h a t . Die N a t u r ist n i c h t s anderes als die E n t f a l t u n g seines Wesens, u n d ihre O r d n u n g n i c h t s anderes als Gottes ewiger, uns u n b e k a n n t e r R a t s c h l u ß . W ä h r e n d H o b b e s wirkliche Gesetze des „ D u sollst" ableiten k a n n , die zwar n u r egoistisch-physischen, keinen eigentlich sittlichen Gehalt h a b e n , sind die F o r d e r u n g e n Spinozas i m l e t z t e n G r u n d doch eigentlich sittlich, j a sittlich-religiös b e s t i m m t . A b e r die völlige I n e i n s s e t z u n g v o n G o t t u n d N a t u r g e f ä h r d e t diesen sittlichen A n s a t z wieder. D e n n d e r Mensch k a n n diese Gesetze nicht i n Freiheit erfüllen, s o n d e r n er soll sie erfüllen, weil er sie erfüllen m u ß . Die N a t u r erfüllt sie selbst, a u c h gegen seinen Willen. Der Mensch h a t i m G r u n d e gar n i c h t die Freiheit, sie zu v e r l e t z t e n . T u t er es, so geschieht es zu seinem S c h a d e n . E r wird v o n der N a t u r v e r n i c h t e t . E s gibt also kein Sollen i m eigentlichen Sinne, das d e n Menschen aus d e m N a t u r z u s a m m e n h a n g löst. N a t u r h a f t e u n d sittliche B i n d u n g e n gehen völlig ineinander ü b e r . V o n hier aus e r h ä l t der S t a a t d a n n alle wesentlichen herrschaftlichen Züge des Hobbes. D a b e i w a l t e t aber ein theoretischer Unterschied. Bei H o b b e s wird das d e m o k r a t i s c h e G r u n d e l e m e n t des S t a a t s v e r t r a g e s sofort d u r c h die Ü b e r e i g n u n g der M a c h t aufgehoben. Bei Spinoza bleibt es ideell e r h a l t e n , so d a ß alle S t a a t s f o r m e n u n d S t a a t s h a n d l u n g s w e i s e n n u r als F u n k t i o n dieser d e m o k r a t i s c h e n G r u n d s t r u k t u r erscheinen. D a d u r c h d a ß a b e r d a n n doch die Staatspersönlichkeit völlig in d e r Herrscherpersönlichkeit a u f g e h t , ergibt sich p r a k t i s c h dieselbe S t a a t s o m n i p o t e n z wie bei d e m englischen D e n k e r . Die höchste Gewalt i m S t a a t b r a u c h t n i e m a n d e n ü b e r sich als R i c h t e r a n z u e r k e n n e n . Sie h a t keinen Sterblichen als T r ä g e r irgendeines R e c h t s n e b e n sich, es sei d e n n die M a h n u n g des p r o p h e t i s c h e n Menschen. Sie h a t die h ö c h s t e E n t s c h e i d u n g ü b e r R e c h t u n d U n r e c h t . Alle sind verpflichtet, i h r e n E n t s c h e i d u n g e n u n d G e b o t e n z u gehorchen, k r a f t d e r ihr gelobten T r e u e , die G o t t u n t e r allen U m s t ä n d e n zu h a l t e n befiehlt. So k o m m t er zu r a d i k a l e r A b l e h n u n g j e d e r R e v o l u t i o n . N i c h t einmal d e r T y r a n n darf abgesetzt werden, geschweige d e n n ein r e c h t m ä ß i g e r Mona r c h . D e n n die Meinung des Einzelnen widerstreitet d e m S t a a t . Der S t a a t h a t a u c h das R e c h t , ü b e r die religiösen Angelegenheiten zu entscheiden, wie er es f ü r g u t h ä l t . S t a a t u n d Kirche k ö n n e n n u r in geschichtlicher

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Zufälligkeit voneinander getrennt sein; in Wahrheit geht die Kirche im Staat auf. So heißt es nicht nur: Die Wahl einer höchsten Majestät, die das höchste Recht der Regierung in Händen hat, streitet nicht gegen Gottes Reich, sondern sogar: Gott hat sein Reich nur durch die Staaten. Das Reich Gottes ist das Reich, in dem Gerechtigkeit und Liebe Rechtsund Gesetzeskraft haben. Gerechtigkeit und Liebe kann aber zu Gesetzeskraft nur gelangen durch das Gebot der Regierungsgewalt. Die Staaten stehen also nicht in eschatologischer Perspektive unter dem Reich Gottes, sondern sie werden zu Instrumenten des Gottesreichs, ja mit dem Reich Gottes identisch. Die stärkste Antithese gegen das christlich-religiöse 10 Denken ist damit erreicht. Das führt dann auch zu einer Verzerrung der ethischen Position. Die gottlose Tat gegen den Nächsten ist als frommes Werk anzusehen, wenn sie um der Erhaltung des Staates willen geschieht. Das heißt im Grunde nichts anderes, als daß nicht Gott über den Staat richtet, sondern der Staat darüber entscheidet, ob etwas gottlos ist. Damit wird jede Autonomie der Ethik und jeder eigenbestimmte ethische Aktivismus bedroht. Und es kann schließlich mit eigentümlicher Resignation heißen: Die höchste Frömmigkeit ist die, die den Frieden und die Ruhe im Staat zum Zweck hat. Gibt es f ü r diesen S t a a t gar keine Bindungen? An zwei Stellen wird zu solchen Bindungen ein Ansatz gemacht. Anch die Staatsgewalt, so heißt es, ist an das göttliche Recht gebunden; sie erkennt wohl keinen Menschen, aber doch Gott als Richter an. Aber diese Bindung ist keine andere als die Bindung, die jeder Mensch auch h a t , eine Bindung u m des Vorteils, u m der eigenen Wohlfahrt willen. E s ist keine Bindung an ein überindividuell-selbstherrlich ihn überwältigendes „ D u sollst", sondern eine Unterwerfung aus ichbezogener Überlegung u n d Einsicht in die Notwendigkeiten des Weltzusammenhanges. Ebenso bringt auch die b e r ü h m t gewordene Erörterung über die Geistesfreiheit nichts letztlich Entscheidendes. Gewiß heißt es: es gibt Grenzen der Übertragung der höchsten Gewalt; man k a n n nicht aufhören, ein Mensch zu sein. D a r u m behält sich jeder vieles v o n seinem Recht zurück. Insbesondere ist es unmöglieh, d a ß der Geist unbedingt d e m Recht eines anderen verfällt. Niemand k a n n sein natürliches Recht und seine Fähigkeit, frei zu schließen u n d über alles zu urteilen, einem anderen übertragen, noch k a n n er zu einer solchen Übertragung gezwungen werden, zumal die Freiheit a u c h unerläßliche Voraussetzung zur Pflege der K u n s t u n d Wissenschaft ist. Aber daneben bleibt doch der Satz bestehen, daß die höchste Gewalt Ausleger des R e c h t s u n d der Religion ist. Sie k a n n es allerdings nicht dahin bringen, daß die Menschen auf Urteil nach ihrem eigenen Sinn verzichten. Gesetze über das spekulative Denken zu geben, ist nutzlos. Aber es bleibt bei dieser reinen Freiheit des Denkens. Das R e c h t , nach eigenen Entschlüssen zu handeln, besteht nicht. Man darf sich niemals die Erlaubnis nehmen, etwas im S t a a t als neues Recht einzuführen oder den a n e r k a n n t e n Gesetzen entgegenzuhandeln. Man h a t wohl gemeint, d a ß Spinoza hiemit ein individualistisches Moment in seine Staatskonstruktion hineingebracht habe, wofür m a n sich auf gewisse Äußerungen von i h m berufen k a n n , wie die: „ E s ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, d a ß ihr Geist u n d ihr Körper ungefährdet ihre K r ä f t e entfalten können, daß sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen u n d sich nicht mit Zorn, H a ß u n d Hinterlist bekämpfen, noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit. 4 ' Indessen, geht es hier nicht um den Sonderwillen des Individuums, son-

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dern a m die Autonomie des Geistes, die sich gegen den Zwang der Macht empört, aber nur die Autonomie des erkennenden Geistes, nicht die des sich in sittlichem Handeln aktivierenden Geistes. Die stille Ruhe des schauenden Mystikers, die das strenge und kühle Philosophieren des mos geometricus mit silbernem Glanz umgießt, gibt der Philosophie des Spinoza ihren metaphysischen Hintergrund, aber auch zugleich ihre Begrenzung. Das konkrete Leben vermag sie nicht zu erfassen.

5. M I L T O N , L O C K E U N D M O N T E S Q U I E U . D e r geistesgeschichtlich entscheidende V o r s t o ß gegen die Überm a c h t u n g des geistigen Lebens d u r c h d e n S t a a t , d e r zugleich auch d e r große Vorstoß z u g u n s t e n der Freiheit i m S t a a t ist, ist v o n einer ganz a n d e r e n Seite h e r erfolgt. Mit ungleich großartigerer Energie als der e r k e n n e n d e Geist des Philosophen holt der religiös-ethische Geist, der a u s d e n Bezirken kalvinischer R e f o r m a t i o n s t a m m t , gegen solche Verabsolutierung der S t a a t s g e w a l t aus. A m leidenschaftlichsten erfolgt das n a t u r g e m ä ß d o r t , wo der u n m i t t e l b a r e politische K a m p f a m e r b i t t e r t sten t o b t . I n M i l t o n s m ä c h t i g e n S c h r i f t e n gegen die S t u a r t s t r i t t dies m i t der ganzen A b s o l u t h e i t s f o r d e r u n g d e r religiösen Gewißheit h e r v o r . W e r einen Menschen t o t s c h l ä g t , der erschlägt eine v e r n ü n f t i g e K r e a t u r , G o t t e s Abbild. Aber wer ein gutes B u c h v e r n i c h t e t , schlägt die V e r n u n f t selbst, v e r n i c h t e t d a s Bild G o t t e s gleichsam i m Auge. Mancher M a n n lebt der E r d e z u r L a s t , a b e r ein gutes B u c h ist das k o s t b a r e Lebensgut eines Meistergeistes, das einbalsamiert ist f ü r ein L e b e n n a c h d e m T o d e . D e n n siegen wird doch n u r die W a h r h e i t . U n d d a m i t v e r b i n d e t sich wie selbstverständlich d a s a n d e r e : n i c h t die F ü r s t e n - , sondern gerade die V o l k s s o u v e r ä n i t ä t b e g r ü n d e t u n d t r ä g t d e n S t a a t . Die Lehre, a m Ausgang des Mittelalters konzipiert, w a r inzwischen v o n d e m kalvinischen E m dener R a t s s y n d i k u s J o h a n n e s Althusius m i t d e m Absolutheitsgehalt des Bodinschen S o u v e r ä n i t ä t s b e g r i f f s erfüllt w o r d e n ; hier wird sie n u n m i t höchster Weihe u m k l e i d e t . Sie ist göttlichen U r s p r u n g s ; G o t t selbst h a t d a s Volk b e v o l l m ä c h t i g t , böse F ü r s t e n zu richten. Die Freiheit der Völker k o m m t n i c h t v o n den Königen her, sie ist ein Geschenk des H i m m e l s u n d ein A n g e b i n d e ihrer G e b u r t . Sie v o r d e n F ü r s t e n niederzulegen, w ä r e E n t h e i l i g u n g u n d G o t t e s r a u b . Man t r o t z t auf sein gutes Gewissen, als m a n e i n e m K ö n i g das H a u p t v o r die F ü ß e legt. F ü r die W e i t e r e n t w i c k l u n g dieser Position, die s p ä t e r der E r w ä h l u n g s gewißheit der amerikanischen A u s w a n d e r e r a u c h das Selbstbewußtsein gibt, i n ihrer D e m o k r a t i e die gottgewollte S t a a t s f o r m zu verwirklichen, ist bei Milton d a n n freilich n i c h t entscheidend, d a ß m a n e t w a das ganze biblische H o c h g e f ü h l i m Lobgesang der Maria d a f ü r i n Ans p r u c h n i m m t , sondern d a ß die Verbindungslinien zu P i a t o s R e p u b l i k , Aristoteles' Politik u n d Ciceros Gesetzen herangezogen w e r d e n . D e n n dam i t wird das gedanklich u n d juristisch eigentlich E n t s c h e i d e n d e g e w o n n e n : Staatsgedanke und Freiheitsforderung werden miteinander zur Einigung g e b r a c h t in der Idee des Gesetzes. Nicht d e r K ö n i g s t e h t ü b e r d e m

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G e s e t z ; es gibt keine Götter von Fleisch u n d B l u t . Sondern das Gesetz herrscht in K r a f t und Stärke wie über alle, so auch über ihn. Das bedeutet, aus der grundsätzlichen Forderung in die konkreten politischen Situationen des staatlichen Lebens übertragen, d a ß unter den einzelnen Funktionen des staatlichen Lebens die Gesetzgebung an die erste und zentrale Stelle gerückt wird. V o n da aus ergibt sich dann als wichtigste Linie eine ganz andere Formung des Vertragsgedankens. So selbstverständlich es war, d a ß dieses wichtige methodische Prinzip des zeitgenössischen Denkens aufgenommen wurde, so selbstverständlich war es auch, d a ß nicht alles i m Vertrag preisgegeben werden konnte, sondern unverlierbare Rechte bei allem vertraglichen Handeln des Individuums als unabgebbares G u t erscheinen. Das mußten in erster Linie die religiösen Dinge sein, die als unmittelbar angeborenes G u t jedes Einzelnen empfunden wurden und die eben darum unentziehbar und unveräußerlich bleiben m u ß t e n . I m unmittelbaren T a g e s k a m p f schließen sich dem die weiteren Ansprüche rechtlicher, wirtschaftlicher, persönlicher Freiheit an. V o n den Forderungen der Levellers auf Beschränkung der Gesetzgebungsgewalt des Parlaments bis zu den Pflanzungsverträgen der neugegründeten amerikanischen Staaten findet eine Fülle konkreter und folgenreicher politischer Forderungen v o n hier aus ihr eigentümliches Pathos. Z u m a l in der ersten Zeit streifen sie o f t hart an den anarchischen Willen zur Staatszerstörung, und auch in ihrer geschichtlich bedeutsamsten Folgewirkung, der Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers in der Französischen Revolution, führen sie zu keiner dauernden Überspitzung zu permanenter Souveränität des Individuums über den staatlichen V e r b a n d , denn die Idee des Gesetzes dient doch immer wieder dazu, das Sein des staatlichen Verbandes selbst sicherzustellen. Alle diese Dinge werden in England selbst von J o h n L o c k e aufgenommen und in einer gemäßigten und verbürgerlichten Neuformulierung zum Bestandteil der politischen Grundhaltung des sich neu ordnenden Staatswesens gemacht. Neben dem harten Realismus und radikalen Pessimismus des Hobbes treten hier wieder mildere und gefälligere Bilder v o m Naturzustand des Menschen auf. E s ist ein Zustand völliger Freiheit und Gleichheit, der darum auch die volle Freiheit, über seine Person und seinen Besitz zu verfügen, in sich schließt. Freilich, soweit geht die Freiheit des Menschen nicht, daß er sich selbst vernichten kann, außer wenn ein anderer Z w e c k als seine E r h a l t u n g es fordert. Denn der Mensch ist Gottes E i g e n t u m , darum darf er sich nicht selbst zerstören. U n d G o t t will die E r h a l t u n g der Menschheit, darum ist Selbsterhaltung die oberste Pflicht des Menschen. Deswegen k a n n auch die Obrigkeit niemals das R e c h t erhalten, die Existenz der Untertanen zu zerstören, denn diese sind j a Gottes Eigentum. A b e r nicht nur in der Negation, auch in der Position wirkt sich dieses Gedankensystem der temperierten bürgerlichen Frömmigkeit und des temperierten bürgerlichen Egoismus aus. Der

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Zweck der menschlichen Gesellschaft ist i m G r u n d e ü b e r h a u p t n i c h t s anderes als d e r friedliche u n d sichere G e n u ß des E i g e n t u m s . D a s bed e u t e t n i c h t n u r , d a ß die Legislative d a s eigentlich i m S t a a t H e r r schende ist, s o n d e r n d a ß d a s N a t u r g e s e t z , d a s a u c h die T ä t i g k e i t der Legislative b e h e r r s c h t , n i c h t s anderes f o r d e r t als die E r h a l t u n g der Gesellschaft u n d , soweit es das öffentliche W o h l z u l ä ß t , jeder einzelnen Persönlichkeit. D a r u m genügt es auch n i c h t , d a ß die Macht i m S t a a t theoretisch v o m Volk ausgeht u n d v o n d e n G e w a l t t r ä g e r n als t r e u h ä n d e rische Macht a u s g e ü b t wird, sondern es k o m m t d a r a u f a n , gerade j e n e T e n d e n z der Gewaltenteilung zu verwirklichen, die Hobbes als eine a u f r ü h r e r i s c h e u n d staatszerstörende L e h r e a b g e l e h n t h a t t e . Nicht j e d e r S t a a t b r a u c h t , a b e r jeder wohlgeordnete S t a a t soll sie h a b e n . D e n n i n d e m m a n die S t a a t s g e w a l t teilt, u m die Teile in verschiedene H ä n d e zu legen, b a l a n c i e r t m a n sie aus u n d v e r h i n d e r t die A n h ä u f u n g v o n Macht in der H a n d eines einzelnen Menschen. Den m a c h t l ü s t e r n e n Menschen auszuschalten, das scheint der politischen Weisheit letzter Schluß. U n d doch ist der Philosoph viel zu sehr auch Träger der politischen Erbweisheit seines Volkes, u m dabei stehen zu bleiben. Nicht nur, daß i h m gegenüber dem Überwiegen der höchsten Staatsfunktion, der Gesetzgebung, das Handeln von Justiz u n d Verwaltung so wesensidentisch erscheinen, daß er sie zu e i n e r Gewalt, der Exekutive, zusammenfaßt, u m d a m i t zugleich den R a u m f ü r die selbständige dritte Gewalt der auswärtigen Beziehungen zu gewinnen; er weiß auch sehr wohl von jenem unvorhersehbaren, in keine Regel aufzufangendem u n d doch unentbehrlichem Handelnmflssen im S t a a t , das immer wieder in entscheidenden Situationen eintritt. U n d er ist undoktrinär genug, sie ohne jede Rücksicht auf die systematische Dreiteilung des Prinzips als sein historisch gegebenes Recht einzuführen und sie nicht in die sachliche Gliederung einzubeziehen, sondern unmittelbar der Person des Monarchen zu übertragen, der so das politisch wichtigste Recht der Eigenentschließung erhält. Es ist dieselbe Schwäche des theoretischen, wie dieselbe Stärke des politischen Menschen i n ihm, die es auch fertig bringt, die theoretische Trennung von S t a a t und Kirche durchzuführen, ohne doch die Existenz der englischen Staatskirche anzutasten.

M a n n e n n t stets M o n t e s q u i e u in einer Linie m i t Locke, u n d es sind genug F ä d e n des Zeitalters, der juristischen G r u n d a n s c h a u u n g , der weltanschaulichen Z u s a m m e n h ä n g e , die beider W e r k m i t e i n a n d e r v e r b i n d e n . A b e r es ist doch eine A t m o s p h ä r e n i c h t n u r v o n ungleich größerer Weite, sondern a u c h v o n u n v e r h ä l t n i s m ä ß i g größerer Tiefe, die sich bei Montesquieu a u f t u t . E r s t e h t m i t wesentlich größerem A b s t a n d ü b e r der W e l t des Politischen, so gewiß a u c h er v o n einem ständigen politischen Lebensgefühl g e t r a g e n ist, d a s a n der b e r ü h m t e n Stelle seines W e r k e s m i t n u r schwach v e r h ü l l t e r Willenszielsetzung elem e n t a r h e r v o r b r i c h t ; u n d er s t e h t zugleich in einer ganz a n d e r e n u n d viel engeren V e r b i n d u n g m i t der Lebensgröße u n d d e m Sinn des R e c h t s , das d e m E n g l ä n d e r a u c h i n seinen juristischen A u s f ü h r u n g e n m i t u n t e r allzu rasch ins Politische entgleitet. So ist bei Montesquieu, s t ä r k e r n o c h als bei j e n e m , die weltanschauliche G r u n d p o s i t i o n entscheidend. A u c h

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diesem großen Menschen des R e c h t s ist die Welt kein sinnloser Z u s a m m e n h a n g , kein O b j e k t b l i n d h e r r s c h e n d e n Verhängnisses, sondern ein sinn* voller geistiger Z u s a m m e n h a n g , d e n eine U r v e r n u n f t g e s t a l t e t . D a r u m sind die Gesetze u n m i t t e l b a r in d e r letzten Geistwirklichkeit des W e l t g a n z e n v e r a n k e r t . Die Gesetze sind nichts anderes als die Beziehungen, welche zwischen dieser V e r n u n f t u n d d e n verschiedenen Wesen obwalten, u n d die Beziehungen dieser verschiedenen Wesen u n t e r e i n a n d e r . D a m i t wird a u c h diese W e l t a n s c h a u u n g des R e c h t s letztlich u n t e r religiöse A s p e k t e gestellt: dies Gesetz, welches unserer Seele die I d e e eines Schöpfers e i n p r ä g t u n d z u i h m h i n f ü h r t , ist das erste, d a s wichtigste aller Gesetze d e r N a t u r . Aber a u c h d e r Friede ist n i c h t m i n d e r Ordn u n g der N a t u r . A m A n f a n g der menschlichen Geschichte s t e h t n i c h t d e r K r i e g aller gegen alle, sondern die eigene Schwäche, das wechselseitige B e d ü r f n i s u n d d a s u n m i t t e l b a r e Gefühl der S y m p a t h i e t r e i b e n die Menschen i n die Vereinigung m i t e i n a n d e r . Montesquieu ist n i c h t n u r äußerlich ein Zugehöriger z u m alten A m t s a d e l der R o b e , sondern in W a h r h e i t a u c h ein innerer A r i s t o k r a t des Rechts, der sein W e r k gestaltet. E r s t v o n dieser G r u n d l a g e aus k a n n d a n n die D u r c h a r b e i t u n g des gewaltigen r e c h t s t a t s ä c h l i c h e n Materials erfolgen. N i c h t die Schilderung eines schlechthin vorbildlichen u n d n a t u r g e w o l l t e n S t a a t e s will er geb e n , sondern ein ganzes S y s t e m möglicher u n d individuell b e r e c h t i g t e r S t a a t s f o r m e n w i r d v o n i h m aus d e r politischen R e a l i t ä t u n d aus d e m prinzipiellen A n s a t z herausgelesen. Noch einmal ist Aristoteles der große A n r e g e r ; aber die A r t , wie hier aus Abhängigkeit v o n Boden u n d K l i m a , L e b e n s a r t der Völker, a u s Religion, Sitten u n d G e b r ä u c h e n , H a n d e l u n d W i r t s c h a f t d a s große Bild der S t a a t s f o r m e n der politischen Wirklichkeit h e r a u s g e a r b e i t e t u n d gedeutet wird, weist auf ein anderes, d e r Fülle u n d d e m Sinngehalt des Geschichtlichen u n d Individuellen aufgeschlossenen D e n k e n hin, das noch i m gleichen J a h r h u n d e r t in der T a t H e r d e r s die D e n k f o r m e n des R a t i o n a l i s m u s sprengen soll. E s klingt wie das P r o g r a m m einer n e u e n E p o c h e , wenn als letzte F o r d e r u n g u n d als letztes Ergebnis der Überlegungen h e r a u s g e a r b e i t e t w i r d : die beste Regierung ist diejenige, die sich a m b e s t e n m i t der Beschaffenheit des Volkes v e r t r ä g t u n d die Freiheit, die sich m i t dieser Verfassung vert r ä g t , verwirklicht. Aber d a n n wird doch wieder, ganz i m Sinne der a l t e n r a t i o n a l e n K o n s t r u k t i o n e n , eine S t a a t s f o r m gezeichnet, die i m G r u n d e als ein letztes verbindliches S t a a t s i d e a l f ü r alle g e d a c h t ist. Gewiß wird sie a u s einem historischen B e f u n d , d e m E n g l a n d s , abgelesen; a b e r es wird d o c h i n d e m b e r ü h m t e n sechsten K a p i t e l des e l f t e n Buches als die reine u n d u n m i t t e l b a r e D a r s t e l l u n g des Verfassungsgedankens, der sich die politische Freiheit z u m Ziel gesetzt h a t , dargestellt u n d entwickelt. Gewiß, a u c h die b e r ü h m t e Theorie der Dreiteilung, die er a n die Stelle des Lockeschen Schemas setzt, u m d a m i t b a h n b r e c h e n d f ü r die ganze

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Folgezeit europäischer Verfassungsentwicklung zu werden, ist zugleich auch getragen v o n einer unmittelbaren und konkreten politischen Intuition, die er unmittelbar an den Zuständen und Problemen seiner eigenen Zeit und seines eigenen Staates gewonnen hat. Das zeigen gerade die Stellen mit aller Deutlichkeit, in denen er sich v o n seinem Vorgänger unterscheidet: es ist einerseits der Richter, dem es u m Würde und Hoheit des Rechts im absolutistisch-willkürhaft werdenden Frankreich geht, und anderseits der Kenner der größten T a t französischer Staatsweisheit, der Schöpfung eines einheitlich und zentral in ständiger Wirkungsaktivität durchgeformten Verwaltungssystems, der Gerichtsbarkeit u n d Verwaltung aus der Einheit bei Locke herausnimmt und als getrennte Gewalten verselbständigt. A b e r die Durchführung dieser Idee erfolgt dann doch ganz im Sinne des rationalistischen K o n struktivismus. Das Entscheidende ist für ihn, daß nicht nur eine theoretische Teilung der Gewalten, sondern vor allem auch eine praktische Verteilung an verschiedene Gewaltenträger vorgenommen wird. Das soll nicht nur die freiheitbedrohende A n h ä u f u n g der Macht in einer H a n d verhindern, sondern zugleich ein ständiges Gleichgewicht der Gewalten herstellen, das den normalen A b l a u f des staatlichen Geschehens sicherstellt und damit auch die Freiheit im Staat unter allen Umständen garantiert. Der Gedanke, den Staat in einem System von Hemmungen and Balancen zu verfassen, das mit mechanischer Notwendigkeit funktioniert und mit der gleichen Sicherheit wie eine Maschine abläuft, beginnt von hier aus seine große Wirkung im staatskonstruktiven Denken der Aufklärung zu entfalten. Rationalistisch ist die Lösung aber auch, weil der ganze Aufbau aus dem Rechtsgedanken dadurch in die größten Schwierigkeiten kommt, daß er mit einem rein intellektialistisch und rationalistisch gedachten Gesetzesbegriff arbeitet, der alles in Regeln einbeziehen und alles von der Regel aus gestalten soll. Nur darum kann die ungeheuere Vielfältigkeit der Größe-Verwaltung in die Formel der bloßen Gesetzesanwendung gepreßt und damit in ihrem eigentlichen Wesen völlig verzeichnet werden. Geschweige denn, daß das mit ihr gepaarte Gebiet des außenpolitischen Handelns in diesem System zu arteigener Bedeutung kommt. Aber darum wird letztlich auch der Sinn des Richtertunis seines eigentlichsten Inhaltes entleert. Die Richter sollen nach Montesquieu das Gesetz und nichts als das Gesetz anwenden; sie sind unbeseelte Wesen, die weder die K r a f t noch die Strenge des Gesetzes mäßigen können. Auch ihre Tätigkeit ist im Grunde nichts weiter als ein mechanisch-logisch sich vollziehender Vorgang. Die Situation schöpferischer Einmaligkeit, vor die auch der Richter immer wieder gestellt wird und die er niemals aus nur formaler Normgebundenheit meistern kann, weil sie von ihm wirkliche und echte Entscheidung verlangt, findet in diesem Denken keinen Platz. So bleiben zentrale Probleme ungelöst; j a , die Gefahr, daß das staatliche Leben an allen Stellen, wo nicht formuliertes Gesetz Ziel und Richtung des Handelns absteckt und in Gang bringt, in Quietismus und Stagnation fällt und damit zu Schwäche und Selbstabdankung der Staatsgewalt führen kann, ist gefährlich nahe gerückt. So führt Montesquieu sein Motto bis ins letzte durch, das er an die Spitze seines Buches gesetzt h a t : „ W e r herrscht über den Herrscher ? D a s Gesetz, der K ö n i g der Sterblichen u n d Unsterblichen." Denn auch die Gottheit hat ihre Gesetze, auch die Schöpfung war nicht ein will-

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kürlicher Akt, sondern erfolgte nach unwandelbaren Regeln. Vor diesem Blick verschwindet alle Einmaligkeit der historischen Situation, alle Einmaligkeit der richterlichen Situation. Das h ä n g t wiederum m i t seiner politischen Grundtendenz zusammen: was Montesquieu will, ist die Freiheit des I n d i v i d u u m s . Aber eben diese Freiheit ist aufs engste mit d e m Gesetz v e r b u n d e n . I n einem Staate, das heißt in einer Gesellschaft, wo das Gesetz gilt, k a n n die Freiheit n u r darin bestehen, das t u n zu können, was die Gesetze erlauben, u n d nicht gezwungen zu sein, das zu t u n , was m a n nicht wollen soll. So wird Montesquieu zum größten u n d tiefsten idealpolitischen Führer des bürgerlichen Liberalismus. Aber sein individualistisches P r o g r a m m ist doch n u r deshalb gültig, weil es in einem überindividualistischen Weltbild verwurzelt ist. Sein Individualismus ist d u r c h ein Überindividuelles b e g r e n z t : es ist die überindividuell waltende Macht, die das Weltgeschehen auf das Individuum abstellt. Die Einheit des juristischen u n d metaphysischen Weltbildes ist in großartiger Geschlossenheit von Anfang bis E n d e gewahrt, aber es ist das Weltbild eines kühlen u n d ruhigen Denkers, nicht m e h r das eines leidenschaftlichen u n d ursprünglichen religiösen Genius. So h a t es schon m i t t e n in seiner Zeit die eigentlich verpflichtenden K r ä f t e verloren. Das spürt man vielleicht am deutlichsten gerade an den Bemerkungen seiner Kommentatoren, die sein Werk weiter auszudeuten glaubten. Welche Metaphysik! r u f t H e l v e t i n s ironisch bei der großen Konzeption des Anfangs aus, und f ä h r t , ihn schulmeisterlich berichtigend oder vielmehr in vollem Gegensatz zu dem Verfasser, f o r t : die wahre Quelle der Gesetze ist die N a t u r des Menschen, die beste Regierung ist die, die am meisten dazu geeignet ist, das Glück der Menschen zu begründen. Das erste Gesetz eines jeden Wesens ist, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Und f ü r d ' A l e m b e r t ist der rechtliche Zustand nichts als ein freies, labiles Gleichgewicht in der Mechanik der Gesellschaft.

6. R O U S S E A U . Das große Schlußwort im Staatsdenken Westeuropas bringt in diesem J a h r h u n d e r t R o u s s e a u . E r ist in gewissem Sinne zugleich Kritiker u n d E r b e dieser ganzen Bewegung. E r setzt für sein Gedankengebäude das Werk des Macchiavell, des Hobbes, des Montesquieu voraus; m i t allen dreien setzt er sich auseinander, u n d gegen alle drei setzt er sich in charakteristischer Weise a b . Der Mensch wird frei geboren, aber überall ist er in Banden. Das ist das große politische Grund? p h ä n o m e n , das er v o r Augen h a t . E r will nicht untersuchen, wie es dazu einmal gekommen ist, wohl aber will er herausarbeiten, wie diese Grundgebundenheit des Menschen, die er als politische Wirklichkeit vorfindet, in eine rechtmäßige Tatsache verwandelt werden k a n n . Dabei ist sein Ausgangspunkt — u n d insofern ist er wirklich der radikalste Denker der ganzen Epoche — der völlige Individualismus. Am Anfang allen politischen Denkens s t e h t die Freiheit. Wir sind der Idee nach frei u n d gleich geboren. Es gibt i m Grunde ü b e r h a u p t n u r eine einzige, von der N a t u r schlechthin ohne den freien Willen des Menschen gegründete

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soziale Vereinigung: das ist die Familie. Aber auch sie besteht nur solange, wie die Kinder des Vaters zu ihrem Unterhalt bedürfen. Ist diese Zeit vorüber, besteht auch die Familie nur noch auf Grund wechselseitiger Übereinkunft. So steht das Bild einer völlig atomisierten Gesellschaft am Anfang; und dem entspricht es, daß nur ein ausgesprochen egoistisch-utilitärer Gedankengang ihm überhaupt den Aufbau des sozialen Wesens ermöglicht. Der Mensch kann auf seine Freiheit um seines Nutzens willen verzichten. Wenn die menschliche Gesellschaft uns entgegentritt in ihrer Vielheit von Völkern, die jeweils unter ihrem Oberhaupt stehen, so ist das an sich ein Tatbestand, der der Gewalt entspringt. Die Gewalt h a t die ersten Sklaven gemacht — aber aus diesem Tatbestand kann noch kein Rechtszustand folgen: Stärke allein erzeugt noch nicht das Recht. Der Zustand der Gewalt verwandelt sich in Recht, der Gehorsam des Zwangs in Pflicht erst mit dem Augenblick, wo es zur politischen Einigung kommt. Diese ist etwas anderes als die Zusammenfassung unterjochter Menschen, die nur durch die Unterworfenheit unter den Einen zusammengehalten werden, aber niemals genossenschaftliche Gesellschaft und einen wirklichen Staatskörper zu begründen vermögen. Das vermag nur der Grundvertrag, der Urvertrag aller, der einstimmig gefaßt wird und die Gemeinschaft begründet. Er wird auf der einen Seite ganz in den Naturzusammenhang hineingestellt: die Menschen haben zu ihrer Erhaltung kein anderes Mittel, als durch Vereinigung eine Summe von Kräften zu bilden, die den Widerstand u n d die Hindernisse ihrer Selbsterhaltung zu überwinden und alle diese Kräfte durch eine einzige Triebkraft in Bewegung zu setzen und in Gemeinschaft wirken zu lassen vermag. Aber damit soll doch nicht etwa ein überindividuelles Element als eigentlich gestaltender Faktor eingeführt werden; im Gegenteil, indem ausdrücklich festgestellt wird, daß die Bürger jederzeit zusammentreten und-den Staatsvertrag wieder einstimmig aufheben können, wird der individualistische Ausgangspunkt in Permanenz erklärt. So ist auch die Zielsetzung dieser Gemeinschaft durch und durch individualistisch gedacht. Es heißt nicht nur, daß der Gesellschaftsvertrag die Erhaltung derer bezweckt, die ihn abschließen, sondern es wird geradezu formuliert: er will die Form einer Gesellschaft begründen, welche mit der gemeinsamen K r a f t Aller die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt, und die es ermöglicht, daß jeder Einzelne, obgleich er sich mit allen vereinigt, doch nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher. Denn das ist die dogmatische Grundlage bei ihm wie bei den großen Engländern: ein Verzicht auf die Freiheit ist unmöglich. Auf seine Freiheit verzichten, heißt: auf seine Menschheit, sein Menschenrecht, j a selbst auf seine Pflichten verzichten. Das wäre aber mit der Natur des Menschen unvereinbar: wenn man seinem Willen die Freiheit nimmt, dann entzieht man auch seinen H u d b . d. Phil. IV. D 6

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Handlungen allen sittlichen Wert. Gewiß soll der Mensch auf seine natürliche Freiheit und sein unbeschränktes Recht auf alles, was ihn reizt und was er erreichen kann, verzichten. Aber dafür soll er die bürgerliche Freiheit und sein Eigentumsrecht auf alles, was er besitzt, gewinnen. A n Stelle der physischen Ungleichheit der Natur soll eine sittliche und gesetzliche Gleichheit gesetzt werden: die an körperlichen und geistigen K r ä f t e n ungleichen Menschen werden gleich durch Übereinkunft und Recht. Aber auch das soll nicht äußerliche Schematisierung sein, nicht gleich große K r ä f t e und gleich großen Reichtum Aller bedeuten, sondern nur jegliche Gewalttätigkeit ausschließen und lediglich das Handeln zulassen, das kraft des Gesetzes und auf Grund der Stellung i m Staat erfolgt. Nur nach einer Richtung hin wird eine materielle Grenze gezogen: kein Staatsbürger darf so reich sein, daß er einen anderen zu kaufen vermag, und keiner so arm, daß er sich verkaufen muß. Der Inhalt dieses Vertrages aber soll der allgemeine Wille sein. Nur der allgemeine Wille kann die Kräfte des Staates im Sinne des Gemeinwohles leiten. Der Gegensatz der Privatinteressen macht die Gesellschaft nötig, die Übereinstimmung der nämlichen Interessen sie möglich. Es ist also das Gemeinsame in diesen verschiedenen Interessen, was das gesellschaftliche Band bildet. So wird eine Differenzierung vorgenommen zwischen dem Willen Aller, der auf das Privatinteresse geht und nur eine Summe einzelner Willensmeinungen ist, und dem allgemeinen Willen, der auf das allgemeine Interesse schlechthin geht. Zugleich wird eine grundlegende Trennung angebahnt: zieht man von den Willensmeinungen Aller diejenigen ab, die zueinander im Gegensatz stehen und sich gegenseitig aufheben, so bleibt die Gesamtheit derjenigen übrig, die als Mehrheit unter sich übereinstimmen. Wie aber wird dieser Wille gefunden ? Es scheint keine bessere und keine sicherere Methode zu geben, als ihn auf mathematischem Wege zu finden, ihn konstruktiv zu errechnen. Jeder spricht durch seine Stimmabgabe seine Ansicht aus, und aus der Berechnung der Stimmen geht die Darlegung des allgemeinen Willens hervor. Der allgemeine Wille wird also more geometrico gefunden und demonstriert, er wird errechnet, nicht gewertet. Denn Maßstäbe für eine solche Wertung fehlen ja. Es kann wohl gelegentlich heißen, daß der Wille nicht sowohl durch die Anzahl der Stimmen als vielmehr durch die Interessen, die er vereinigt, zum allgemeinen Willen gemacht wird. Aber der Staatswille ist im Grunde doch nichts anderes als die Zusammenfassung der in jedem Augenblick vorhandenen Individualwillen. Hatte die Staatstheorie im ausgehenden Mittelalter gegenüber der klassischen Autoritätsbildung die Bildung eines Mehrheitswillens erst theoretisch zu begründen und zugleich innerlich zu rechtfertigen versucht, hatte der Mehrheitswillen dann später durch die individualistische Konstruktionsfigur des Staatsvertrages ein dauerndes Fundament bekommen, so erhebt er sich hier geradezu zu einem mit absoluter Folge-

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richtigkeit und Zwangskraft wirkenden naturwissenschaftlichen Prinzip. Dieser allgemeine Wille — der zugleich der Mehrheitswille ist -— wird aber damit schlechthin glorifiziert: er ist i m m e r richtig, er stellt es immer auf das allgemeine Beste ab, er ist ein wunderbarer Einklang des Interesses u n d der Gerechtigkeit, der den gemeinsamen Beschlüssen den Charakter der Billigkeit verleiht. Man k a n n sagen: der Mythos vom Mehrheitswillen, der nicht n u r die stärkste, politische Durchschlagskraft h a t , sondern vor allem auch die schlechthinnige Richtigkeit in sich t r ä g t , ist geboren. Damit entstehen d a n n freilich zwei wichtige Probleme. Z u n ä c h s t : es bleibt der Einzelwille, von dem aus u n d f ü r d e n doch alles in dieser eigentümlichen S t a a t s f o r m aufgebaut ist. Damit der Gesellschaftsvertrag keine leere F o r m sei, enthält er die stillschweigende Verpflichtung, d a ß J e d e r , der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, von dem ganzen Körper dazu gezwungen werden soll. Das heißt nichts anderes, als d a ß m a n ihn dazu zwingt, frei zu sein. Denn wenn meine Ansicht gerade entgegengesetzt lautet, so beweist das nichts anderes, als d a ß ich mich geirrt habe, u n d d a ß das, was ich f ü r den allgemeinen Willen hielt, es in Wirklichkeit gar nicht war. H ä t t e meine Einzelstimme die Oberhand gewonnen, so h ä t t e ich etwas ganz anderes getan als das, worauf ich eigentlich meinen Willen gerichtet h a t t e , nämlich auf die Verwirklichung der volonté générale; gerade d a n n wäre ich nicht frei gewesen. Der ganze Gedankengang ist offenkundig i m engen Anschluß a n Montesquieus Idee von der gesetzlichen Freiheit im S t a a t e n t s t a n d e n , die n u r das will, was das Gesetz gebietet oder erlaubt. Freilich m i t einem grundlegenden Unterschied. Bei Montesquieu lebt m a n in Freiheit, indem m a n sich ganz konkreten Normen unterwirft u n d ganz konkrete Pflichten erfüllt, die im Gesetz schon vorliegen u n d dauernd von ihm b e s t i m m t bleiben. Bei Rousseau aber ist m a n jeder künftigen Willensbildung der Gesamtheit von vornherein völlig ausgeliefert; ihr Wille gilt als meiner, m a g er gerichtet sein wie er will. Das wird nicht etwa begründet m i t einem Mindestmaß überindividuellen Zwanges, der jedem Staatswesen unerläßlich ist — da h ä t t e es sein gutes Recht —, sondern allen Ernstes als logischer Beweis f ü r die innerliche I d e n t i t ä t v o n Einzelwillen u n d Mehrheitswillen genommen. So wird die F r a g e : wie k a n n der Mensch frei sein u n d doch gezwungen werden, seinen Willen Meinungen zu fügen, die von H a u s aus gar nicht seine eigenen sind ? doch n u r mit einem Sophisma beantwortet. Der individualistische Ausgangspunkt f ü h r t durch das Medium des reinen Formalismus schließlich zur Vernichtung des Individuums. Das Resultat ist freilich n u r dadurch möglich, d a ß in d e m ganzen System die Größe Volk mit restlosem Optimismus behandelt wird. Das Volk will stets sein Bestes, heißt es, das Volk l ä ß t sich nicht bestechen, D

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das Volk will nie Böses, wenn es auch irren, dem Trug anheimfallen und scheinbar das Böse wollen kann. Ahnliche Schwierigkeiten ergeben sich für den Rechtsgedanken. Auch hier holt Rousseau zuerst zu metaphysischer Verwurzelung aus. Das an sich Gute und Ordnungsmäßige ist, unabhängig von menschlichen Verträgen, durch die Natur der Dinge gegeben. Alle Gerechtigkeit kommt von Gott, er ist allein ihre Quelle. Es gibt eine allgemeine Gerechtigkeit, die nur von der Vernunft ausgeht. Nun muß aber alle Gerechtigkeit gegenseitig sein, um anerkannt zu werden. Die Gesetze der Gerechtigkeit sind zunächst einmal in Ermangelung einer natürlichen Bestätigung unter den Menschen völlig unverbindlich: sie dienen nur zum Besten der Bösen und zum Nachteil der Guten. Es bedarf also gewisser Verträge und Gesetze, die sie in Wirksamkeit setzen. Diese Gesetze aber sind Akte des allgemeinen Willens. Damit wird aber das Problem aus dem rationalen Ansatz ganz in das Willensmäßige des Hobbes hinübergeschoben. Für den Volkskörper freilich gibt es keinerlei Art von verbindlichem Grundgesetz. Nicht einmal der Gesellschaftsvertrag spielt diese Rolle. Denn auch dieser kann völlig mit Recht aufgehoben werden, wenn alle Bürger sich versammeln und es einstimmig beschließen. Das ist eine letzte Konzession an den Individualismus; dann wird aber alles Weitere, auch hier in deutlicher Einrichtung durch Hobbes, in dessen Staatsabsolutismus hinübergeschoben. Solange der Gesellschaftsvertrag besteht, solange ist auch der Staatskörper mit unumschränkter Macht über alle die Seinigen ausgestattet. Ihm gegenüber kann es keinerlei unverlierbare Grundrechte des Individuums geben; das was als Menschenrecht bei Rousseau am Eingang steht, bleibt nur ganz formal in jener Konstruktion der Zustimmung zum Mehrheitswillen gewahrt, irgendwelche reale und inhaltliche Bedeutung hat es nicht. Damit verschwindet das Recht aber als selbständige Größe vollkommen, wie auch die Forderung und Begriffsbestimmung der Republik ihren Wert verliert. Republik ist für ihn jeder vom allgemeinen Willen, d. h. von Gesetzen regierte Staat, möge die Form der Verwaltung auch sein, welche sie wolle. Jede soUhe rechtmäßige oder, wie wir heute sagen, jede rechtsstaatlich bestimmte Regierung ist republikanisch. Denn Rousseau versteht unter diesem Wort nicht Demokratie oder Aristokratie, sondern jede von dem allgemeinen Willen, d. h. vom Gesetz geleitete Regierung. Auch die Monarchie kann so Republik sein. Gesetz ist aber eben der Mehrheitswille, der nur formale, aber keine inhaltlichen Kriterien kennt. Eine die Staatsordnung transzendierende Macht wird wohl im Ausgangspunkt anerkannt, aber die Formalisierung dieser Gedanken läßt sie in Wirklichkeit niemals zur Geltung kommen. Dazu kommt noch ein Weiteres. An sich übernimmt Rousseau von Montesquieu den Gedanken der Relativität der Staatsverfassungen.

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Sein Ideal der Republik paßt auf alle Staatsformen; insbesondere wird die Demokratie grundsätzlich abgelehnt. Sie ist wohl die Verfassung für ein Volk von Göttern, aber nicht eine solche für unvollkommene Menschen. Und trotzdem ist seine Konstruktion nicht nur radikal demokratisch, sondern geradezu zum Prototyp demokratischer Konstruktionen geworden. Nicht nur, weil der Gesellschaftsvertrag überhaupt erst die Erklärung staatlicher Koexistenz ermöglicht, sondern weil jede Regierungsform nicht auf einem besonderen JJrvertrag basiert, sondern ein einfacher gesetzlicher Akt ist, so daß mit anderen Worten jede Staatsform letztlich auf den individualistischen Urvertrag zurückgeht. J a , der demokratische Grundzug wird gegenüber allen typischen liberalen Konstruktionen nicht nur festgehalten, sondern übersteigert, indem jede Teilung der höchsten Gewalt dem Prinzip wie dem Gegenstand nach abgelehnt wird. Nicht nur die Ideen Montesquieus, sondern überhaupt jeder Gedanke der Repräsentation werden negiert. Die Abgeordneten des Volkes dürfen nicht seine Vertreter sein. Jedes Gesetz, welches das Volk nicht persönlich bestätigt hat, ist null und nichtig. Wenn ein Volk wirklich Vertreter ernennt, ist es nicht mehr frei, ja es existiert eigentlich schon nicht mehr. Die englische Verfassung, das Idealbild Montesquieus, wird hier zum Typ verdeckter Sklaverei: das englische Volk wähnt frei zu sein, aber es ist es nur während der Wahl der Parlamentsmitglieder. Nach deren Beendigung lebt es wieder in Knechtschaft, ist es nicht frei. Es werden überhaupt alle Zwischengewalten und Zwischenbindungen, die zwischen dem Einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft stehen und die von der älteren Naturrechtslehre so liebevoll ausgestattet waren, beseitigt. Das aristotelische Erbe, das darin lag, wird mit voller Überzeugung preisgegeben. Nur wenn feste Verbindungen zwischen den Einzelnen — Parteien, kleinere Genossenschaften — fehlen, vollzieht sich der Prozeß der Bildung des allgemeinen Willens ungestört und richtig. Denn nur hier sind jene Differenzen so klein, daß aus ihrem Ausgleich jener allgemeine Willen, der richtig und gut ist, hervorgehen kann. So lebt dieser Staat wirklich, wie man es in einer späteren Formulierung genannt hat, in einem permanenten Plebiszit. Der Souverän von heute ist nicht der Souverän von gestern, denn der Souverän stellt sich immer nur in der Versammlung dar. In dem Augenblick, wo die Versammlung tagt, r u h t jegliche Befehlsgewalt der Regierung, ist jede vollziehende Gewalt aufgehoben. Auch der Herrscherwille des Fürsten darf nichts anderes als der allgemeine Wille sein. Sonst hätte der Staat zwei Oberhäupter, eines dem Recht und eines der Tatsache nach, und die gesellschaftliche Vereinigung würde aufgehoben sein. Und nun letztlich die eigentümliche Stellung zur Religion, die dem ganzen System seine Abrundung gibt. Der Reich-Gottes-Gedanke ist für Rousseau hier ein durchaus zentraler Gedanke, aber nur, um ihn

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sofort aus dem Politischen auszuschalten. Denn das Reich Gottes ist etwas Geistiges, ein überirdisches Reich auf Erden. Das Christentum ist eine Religion, die sich einzig u n d allein mit himmlischen Dingen beschäftigt. Durch diese Religion erkennen sich die Menschen, die alle Kinder ein u n d desselben Gottes sind, als Brüder an, u n d das Band, das sie vereint, wird nicht einmal v o m Tod gelöst. Aber die Heimat des Christen ist nicht hienieden. J a , diese Religion wird geradezu als staatsgefährlich e r k a n n t . Sie h a t die Einheit des antiken Staates aufgehoben, indem sie eine innere Spaltung von S t a a t u n d Religion herbeiführte; u n d sie h a t später eine neue Spaltung hineingebracht, indem sie das überirdische Gottesreich u n t e r einem sichtbaren O b e r h a u p t in ein despotisches Reich der Welt verwandelte. Vor allem a b e r : sie steht mit dem politischen K ö r p e r in keinerlei Beziehung. Sie l ä ß t den Gesetzen lediglich die K r a f t , die sie aus sich selbst ziehen, ohne ihnen innerlich eine neue zu verleihen (XI). Und dadurch bleibt eines der wichtigsten Bande jeder besonderen Gesellschaftsform ohne Wirkung. Die klassische Stelle im 13. Kapitel des Römerbriefs spielt f ü r Rousseau keine Rolle. Allzu ausschließlich ist sein Kirchenlied an den Konventikeln kleiner Gemeinschaften orientiert; von der inneren und äußeren W i r k u n g des Paulus, der Reformatoren ist nichts zu spüren. Eine Gesellschaft von wahren Christen würde keine Gesellschaft von Menschen mehr sein. Sie t u n zwar ihre Pflicht, aber m i t tiefster Gleichgültigkeit gegen den guten u n d bösen Ausgang ihrer Bestrebungen. Sobald der Christ sich keinen Vorwurf zu machen b r a u c h t , k ü m m e r t er sich wenig d a r u m , ob hienieden alles g u t oder übel geht. Christliche Republik ist etwas Unmögliches. Jedes dieser Worte schließt das andere aus. Das Christentum predigt n u r Knechtschaft und Unterwürfigkeit. Sein Geist ist der Tyrannei zu günstig, als d a ß diese nicht immer suchen sollte, daraus Gewinn zu ziehen. Die aufrichtigsten Christen sind dazu geschaffen, Sklaven zu sein. Aber t r o t z d e m k a n n Rousseau das Religiöse in seinem Staat nicht entbehren. So k o m m t er auf den Ausweg einer rein bürgerlichen Religion, eines rein bürgerlichen Glaubensbekenntnisses, dessen Artikel das S t a a t s o b e r h a u p t festsetzt. Neben die Religion des Evangeliums, des wahren Gottesglaubens, des göttlichen Naturrechts t r i t t die staatsbürgerliche Religion. Das ist eine Summe von allgemeinen Ansichten, ohne deren Befolgung m a n weder ein guter Bürger noch ein treuer Untert a n sein k a n n . Ohne jeden zwingen zu können, dies zu glauben, darf d e r S t a a t doch jeden, der es nicht glaubt, verbannen. Gewiß nicht als einen gottlosen Menschen, aber doch als jemanden, der den Gesellschaftsvert r a g verletzt, der unfähig ist, Gesetz und Gerechtigkeit zu lieben u n d im Notfall sein Leben dieser Pflicht zu opfern. Sie h a t n u r einen positiven Lehrsatz: das Dasein eines allmächtigen, weisen u n d wohltätigen Gottes u n d einer allesumfassenden Vorsehung, ein zukünftiges Leben, die Belohnung der Gerechten u n d die Bestrafung der Gottlosen, die Heiligkeit

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des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze. Ihr negativer Lehrsatz ist ebenfalls nur einer: das Verbot der Unduldsamkeit. So vollendet sich auch hier alles in einem starren Legalismus des positiven Gesetzes. Zwar spricht auch Rousseau von Gesetzen, die nicht in Erz und Marmor, sondern in die Herzen eingegraben sind und den eigentlichen Kern der Staatsverfassung ausmachen, die v o n T a g zu T a g neue K r ä f t e gewinnen, die, wenn die anderen Gesetze veralten oder erlöschen, diese neu beleben oder ersetzen, das Volk in dem Geist seiner Verfassung erhalten und an die Stelle der Macht der öffentlichen Gewalt unmerklich die Macht der Gewohnheit setzen. Aber das sind für ihn doch nur Sitten, Gebräuche, vor allem die öffentliche Meinung, also letztlich doch nur der empirischen Gemeinschaft immanente Dinge ohne richtenden und fordernden Eigenwert. So endet das Werk, das mit dem entschlossensten Individualismus begann, praktisch mit völliger Versklavung. Die oft gebrauchte Formulierung besteht zu R e c h t : Rousseau hat die Fragen seines Gesellschaftsvertrages mit dem ganzen Absolutismus des Hobbes erfüllt. Es hat sich in ihm ein zweiter Typus des absoluten Staates entwickelt, der darum nicht minder charakteristisch ist, weil er auf demokratischer Basis erwächst. Stellt man Ausgangspunkt und Endergebnis seiner Gedankenführung nebeneinander, so ist man versucht zu meinen, daß es kein widerspruchsvolleres Buch in der politischen Weltliteratur gäbe. Und doch wäre es verfehlt, seine Wirkung ausschließlich auf den schimmernden Glanz und die innere Leidenschaft der Sprache zurückzuführen, mit der der Autor, Rhetor, A d v o k a t und Prophet in einem, über alle Untiefen, Gedankensprünge und Fehlschlüsse seiner Darlegungen hinwegtäuscht. Die Zusammenhänge liegen doch ungleich tiefer. Es ist in Wahrheit das Bedürfnis nach Staatlichkeit, das darin zum Ausdruck kommt. Die Staatstheorien der Aufklärung hatten, eben weil sie wesentlich mit dem individualistischen Schema des Vertrags arbeiteten, in steigendem Maße die Gefahr einer Auflösung des Staates in sich getragen, in steigendem Maße zumal, als die ursprüngliche K r a f t religiöser und von daher auch auf das Gebiet des Rechtlich-Ethischen hinüberwirkender Bindungen im Abklingen begriffen waren. Eine neue Zeit und eine neue Ordnung der Dinge, die sich im Politischen wie im Sozialen abzusetzen begann, brauchte aber den Staat mehr denn je. Und das gibt ihr Rousseau; deswegen kann er auch so gewaltsam den Individualismus in sein Gegenteil umschlagen lassen und bei jeder Vergewaltigung, jeder Pressung des Gedankenganges sein gutes Gewissen behalten. Von hier aus allein ist letztlich seine ungeheuere Wirkung in die Zeit zu erklären. Wie überhaupt die ganze Aufklärung die Tatsache, daß Philosophieren über den Staat und Handeln am Staat in engstem Zusammenhang stehen, mit ganz besonderer Eindruckskraft zeigt.

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Und doch: wenn wir Rousseau früher als den Erben dieser ganzen Epoche des staatsphilosophischen Denkens bezeichneten: die ganze Erbschaft hat auch er nicht anzutreten vermocht; alle Fragen zu lösen, alle Probleme zu meistern, war auch ihm nicht gegeben. Was er mit der einen Hand gibt, nimmt er mit der anderen. Und es ist zumal der eine Urgedanke allen Staatsphilosophierens, der Rechtsgedanke, der bei ihm schwersten Schaden leidet, j a im Grunde in sich selbst zerstört wird. Seit der Renaissance hatte sich, abseits von der philosophischen Literatur, wesentlich politisch-praktisch gerichtet, eine Lehre von der Staatsraison als dem wichtigsten Arcanum rei publicae entwickelt, die die Selbstdurchsetzung des staatlichen Interesses nur um seiner selbst willen und nur aus seiner Ichbezogenheit heraus zum zentralen Stück allen Denkens und Handelns in ihm machte. Was bei Rousseau als volonté générale auftritt, ist fast nur noch Staatsraison, kaum noch Recht. Es ist darum kein Zufall, wenn gerade die Französische Revolution, die in so vielem die Vollstreckerin der Ideen Rousseaus ist, sich doch nicht bei dem Gedanken des contrat social allein beruhigt, sondern ihm zwei andere Ideen gleichen Ranges an die Seite setzt: die Gewaltenteilung Montesquieus und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, so widerspruchsvoll das auch im einzelnen sein mochte. Das Leben selbst sprengt die Begrenzung des Penkens. Die Aufklärung vermochte mit ihren Denkmitteln nicht über sich selbst hinaus alle aufgeworfenen Probleme geistig wirklich zu bemeistern, dazu bedurfte es eines neuen Anstoßes. Er kam von dem Land, das am längsten der staatlichen Einheit entbehrt h a t und am leidvollsten in alle Not und Problematik staatlichen Werdens verstrickt war. Er kam von D e u t s c h l a n d .

DIE RECHTS- UND

STAATSPHILOSOPHIE

DES DEUTSCHEN UND IHRE

IDEALISMUS

GEGENWARTSBEDEUTUNG VON KARL LARENZ

Als ich vor etwa Jahresfrist von den Herausgebern des Handbuchs aufgefordert wurde, Holsteins unvollendet gebliebene Geschichte der Staatsphilosophie durch einen neuen Beitrag zu ergänzen, wurde mir die Entscheidung nicht leicht. Holstein beabsichtigte anscheinend, in einem letzten Abschnitt seiner geschichtlichen Betrachtung die deutsche Staatsphilosophie seit der Reformation darzustellen, also auf Luther zurückzugreifen und die Staatsphilosophie des deutschen Idealismus und der Romantik mit der Entwicklung des protestantischen Staatsgedankens zu verknüpfen, wie er das bereits in seiner „Staatsphilosophie Schleiermachers" getan hat. Um diesen Plan auszuführen, fehlte es mir an unentbehrlichen Vorarbeiten; auf der andern Seite erschien es mir aber gerechtfertigt, die Rechts- und Staatsphilosophie des deutschen Idealismus etwas eingehender, auch im Hinblick auf die Stellungnahme der Folgezeit darzustellen, nicht nur um dadurch dem Werk Holsteins den Abschluß zu geben, auf den es hinzielt, sondern auch deshalb, weil es uns trotz vieler Einzeluntersuchungen der letzten Jahre immer noch an einer solchen Gesamtdarstellung fehlt. Ich entschloß mich daher zu dem vorliegenden Beitrag und hoffe, mit ihm eine in der Lage der Gegenwart besonders empfindliche Lücke unseres Schrifttums auszufüllen. Göttingen, im Februar 1933. KARL LARENZ.

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LITERATUR. Die einzige Gesamtdarstellung, das ausgezeichnete Buch von Wilhelm M e t z g e r , Gesellschaft, Recht u n d S t a a t in der E t h i k des deutschen Idealismus (1917), ist unvollendet. Einschlägige Ausfuhrungen finden sich vor allem bei: J u l i u s B i n d e r , Philosophie des Rechts. 1925. Friedrich M e i n e c k e , Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 3. Aufl. 1929; Weltbürgertum u n d Nationalstaat, 7. Aufl. 1928. Friedrich Julius S t a h l , Geschichte der Rechtsphilosophie. 3. Aufl. 1854. G. A. W a l z , Die Staatsidee des Rationalismus und der R o m a n t i k und die Staatsphilosophie Fichtes. 1928. Von allgemeinphilosophischen Darstellungen sind hervorzuheben: J o h a n n E d u a r d E r d m a n n , Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie, 3. A b t . : Die Entwicklung der deutschen Spekulation seit K a n t . Faksimile-Neudruck von H. Glockner 1931 (3 Bände). Theodor H a e r i n g , Hegel. Sein Wollen und sein Werk. Bd. I , 1929. Nikolai H a r t m a n n , Die Philosophie des deutschen Idealismus. 1. Bd. (Fichte, Schelling u n d die R o m a n t i k 1923; 2. Bd. (Hegel), 1929. Richard K r o n e r , Von K a n t bis Hegel. 2 Bde. 1921 und 1924. Max W u n d t , K a n t als Metaphysiker 1924; Fichte 1927; Fichte-Forschungen 1929. Zur E i n f ü h r u n g in die Gedankenwelt des Idealismus, besonders Schellings und Hegels J o h a n n e s H o f f m e i s t e r , Goethe u n d der deutsche Idealismus. 1932.

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EINLEITUNG. I n der französischen Revolution h a t t e das politische Denken der Aufk l ä r u n g den Versuch gemacht, die Wirklichkeit nach seinen Grundsätzen umzugestalten. Das Fehlschlagen dieses Versuches löste auch auf dem Gebiete der politischen Theorie eine Gegenbewegung aus, die in den weiteren Ereignissen der Zeit ebenso mannigfache Anregungen wie Gelegenheit z u m Eingreifen f a n d . Auf die Herrschaft der a b s t r a k t e n Doktrin u n d ihrer Verkünder folgte die einer die Welt bezwingenden Persönlichkeit; Napoleon wurde z u m politischen Lehrmeister der Deutschen. An d e m Widerstande gegen seine Weltherrschaftspläne entzündete sich das neue deutsche Nationalgefühl, das endlich i m Verein mit den K r ä f t e n der historisch gewordenen S t a a t e n den Eroberer niederzwang. Die gedankliche Auswertung dieser Vorgänge f ü r die Gewinnung eines neuen, überlegenen Staats- u n d Rechtsbewußtseins leistete in erster Linie der deutsche Idealismus. Von dieser seiner Leistung h a t t e er selbst eine klare Vorstellung. I n der „Phänomenologie des Geistes", die Hegel in J e n a unmittelbar nach der Schlacht von J e n a u n d A u e r s t ä d t abschloß, schildert er das Werden eines neuen, der Aufklärung entgegengesetzten Geistes. Der Gedanke der absoluten Freiheit sei, n a c h d e m der Versuch seiner Realisierung in der Schreckensherrschaft der Revolution geendet habe, aus seiner „sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes L a n d des selbstbewußten Geistes übergegangen", worin er zunächst als Gedanke die neue Gestalt des „moralischen Geistes" gewonnen habe. Das „neue L a n d des Geistes" ist Deutschland, ist die Philosophie des deutschen Idealismus u n d der R o m a n t i k , u n d das T h e m a dieser philosophischen Bewegung, soweit sie als eine rechts- und staatsphilosophische anzusehen ist, ist die Umgestaltung des Freiheitsbegriffs Rousseaus u n d der Revolution zu einem neuen politischen u n d rechtlichen Formprinzip, eine Umgestaltung, die durch K a n t s E t h i k ermöglicht, durch F i c h t e weitergeführt u n d durch H e g e l vollendet wurde. Den Ausdruck „deutscher Idealismus" verstehen wir in einem engeren u n d einem weiteren Sinne. I m weiteren Sinne umschließt er die ganze geistige Bewegung, die, m i t Lessing u n d Herder beginnend, in K a n t u n d Schiller, Goethe, Hölderlin u n d Hegel ihre größten Repräsentanten h a t . Die deutsche Klassik gehört dahin ebenso wie die R o m a n t i k ; Dichtung, Philosophie u n d eine bestimmte geistige F o r m der persönlichen Lebens-

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führung, wie sie uns außer den Genannten besonders deutlich noch die Brüder Humboldt und Schleiermacher zeigen, vereinigen sich zu einer vorher und nachher kaum erreichten Höhe der Geisteskultur. Aus dieser umfassenden Geistesrichtung hebt sich die Entwicklung der deutschen Philosophie v o n K a n t bis Hegel, der deutsche Idealismus im engeren, philosophischen Sinne, als ein in sich geschlossener Zusammenhang philosophischer Problemstellungen und Lösungen heraus. Der ganze geistige Gehalt der Zeit ebenso wie der gedankliche Ertrag ihrer politischen Umwandlungen ist in diese philosophische Bewegung eingegangen und wird v o n ihr vorausgesetzt. Vielleicht die wichtigste dieser Einwirkungen ist die der Romantik, von der Fichte, Schelling und auch Hegel nachhaltig berührt worden sind. Erst durch die Verbindung mit dem Lebensgefühl und mit bestimmten kultur- und gesellschaftsphilosophischen Einsichten der Romantiker vermochte die Staatsphilosophie des deutschen Idealismus zu der großen Gegenbewegung des deutschen Geistes gegen die politischen und sozialen Theorien der Aufklärung und der französischen Revolution zu werden. Die romantische Staats- und Gesellschaftslehre darf daher auch in unserer Darstellung wenigstens insoweit nicht fehlen, als sie einen Bestandteil der Entwicklung des Idealismus selbst bildet. I m übrigen darf aber über solchen Einwirkungen verwandter Geistesrichtungen nie verkannt werden, daß alles, was die großen Philosophen ans i h r e r Zeit an Gedanken nnd Anregungen aufgenommen haben, von ihnen doch sogleich der immanenten philosophischen Problementwicklung eingeordnet wird u n d durch diese sein bestimmendes Gepräge erhält. Nirgends ist die Verbindung der politischen und rechtlichen Theorie mit allgemeinphilosophischen, ethischen, erkenntnistheoretischen und metaphysischen Fragen enger als hier. Man k a n n diesen Zusammenhang nicht lösen, ohne den Sinn auch einer einzelnen, rechts- oder staatsphilosophischen Aussage etwa Fichtes oder Hegels zu zerstören. Hegel h a t einmal über die Erkenntnis philosophischer Systeme gesagt, der lebendige Geist, der einer Philosophie innewohne, streife „vor dem geschichtlichen Benehmen, das aus irgendeinem Interesse auf Kenntnisse von Meinungen ausgeht, als ein fremdes P h ä n o m e n vorüber", er sei „ d e m neugierigen Sammeln von Kenntnissen u n t e r den H ä n d e n entflohen". Das ist eine Warnung, die dem entgegengehalten werden m u ß , der glaubt, es käme darauf an — oder es sei auch nur ein sinnvolles Bemühen —, die Meinungen der einzelnen Denker über politische u n d rechtliche Gegenstände zusammenzutragen, sie etwa noch auf bestimmte Einflüsse zurückzuführen und sie in einen allgemeinen problemgeschichtlichen Zusammenhang, etwa den des Naturrechts oder der modernen Staatsdoktrin, einzuordnen. Alle einzelnen rechts- und staatsphilosophischen Ergebnisse der großen Denker müssen vielmehr in erster Linie aus ihrem eigenen systematischen Zusammenhang heraus, sie müssen aus der inneren Bewegung, der Spannung und dem Zusammenhang des philosophischen Denkens verstanden werden; erst dann ist ihre problemgeschichtliche Auswertung möglich. Nicht Meinungen sind zu sammeln und zu vergleichen, sondern eine gedankliche Entwicklung, die, oft von großer Kompliziertheit, doch wieder eine starke innere Folgerichtigkeit aufweist, jedenfalls aber nirgends eine willkürliche Auswahl oder Verknüpfung zuläßt, ist in ihrem Fortgange deutlich zu machen. Die Darstellung verlangt daher eine Verbindung problemgeschichtlicher mit systematisch-philosophischer Methode, eine a n dem gedanklichen Zusammenhang selbst orientierte Interpretation, die eine immanente K r i t i k nicht ausschließt.

I. DAS VERNUNFTRECHT AUF DER GRUNDLAGE DES TRANSZENDENTALEN IDEALISMUS. A. K A N T . Die deutschen idealistischen Philosophen stimmen, soweit sie auch im einzelnen u n t e r sich verschieden sind, darin überein, den Menschen nicht lediglich als ein durch mechanische Ursachen oder durch sinnliche Anreize bestimmtes Naturwesen, sondern als geistiges Wesen zu betrachten, das sich über seine Naturbedingtheit erheben, ideellen Beweggründen folgen u n d aus sich heraus ein Reich des Geistes erzeugen k a n n , in d e m die ewigen Werte des Wahren, Guten und Schönen Gestalt gewinnen. Dieses Reich des Geistes ist die wahre H e i m a t u n d Bestimmung der Menschen. Aber weit d a v o n entfernt, etwa n u r in der Einbildung ein unwirkliches Schattendasein zu führen, senkt es seine Wurzeln tief hinein in unser Alltagsleben, b e s t i m m t unsere Handlungen auch dort, wo sie scheinbar n u r einem ganz nahen Zwecke dienen, u n d gibt ihnen so eine höhere Bedeutung. Durch seine Arbeit etwa, die zunächst n u r der Befriedigung der N o t d u r f t dient, m a c h t sich der Mensch frei von Abhängigkeiten u n d erwirbt sich die ersten Anfänge der Bildung; im K a m p f e lernt er den Gegner achten u n d seine Gemeinsamkeit mit i h m erkennen; so e n t s t e h t eine sittliche Beziehung zwischen den K ä m p f e n d e n . I n der Hingabe a n die Idee, in der Treue zum Werk, es sei d a s geringste, wenn es n u r i n d e m Bewußtsein irgendeiner Verantwortung geschieht, eröffnet sich jedem, dem Gelehrten u n d dem Ungelehrten, der Zugang zu den tieferen Bezirken des Menschseins. Freilich gewinnt n u r derjenige Teil an dieser Welt, der sich selbst mit Freiheit zu ihr erhebt. Daß der Mensch sich von den Fesseln seiner Sinnlichkeit lösen u n d Aufgaben ergreifen k a n n , die ihn über sich hinausführen, darin liegt seine F r e i h e i t ; n u r weil er, seiner Möglichkeit u n d Bestimmung nach, frei ist, k a n n er ü b e r h a u p t zum geistigen Leben gelangen, u n d wiederum, n u r soweit er dazu gelangt, ist er wirklich frei. Der Geist, u n d das heißt, der Mensch als geistiges Wesen, m a c h t sich selbst m i t Freiheit zu dem, was er ist, u n d er ist nichts anderes als das, wozu er sich beständig hervorbringt. E r ist ständige Bewegung, Leben, Tätigkeit, u n d darin frei. So ist die Philosophie des deutschen Idealismus in ihrem Kern eine Philosophie der Freiheit, aber einer Freiheit, die nichts mit willkürlichem Belieben zu t u n h a t , sondern die gleich-

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bedeutend ist mit höchster Anspannung des Geistes, Verantwortung und tätiger Hingabe. Eine solche Philosophie mußte auch für die Erfassung des Staates und des Rechtsgedankens einen wichtigen Beitrag leisten, treffen doch gerade auf dem Rechtsgebiete und im politischen Leben Freiheit und Zwang, aber auch die Macht und die Ohnmacht des guten Willens, die sinnliche und die geistige Natur des Menschen hart aufeinander. Daher ist die Rechts- und Staatsphilosophie im Ganzen der idealistischen Philosophie mehr als ein bloßer Anhang oder ein beliebiges Sondergebiet; sie stellt vielmehr eine der wichtigsten Anwendungen des Gedankens der Freiheit dar. Kein Zufall daher, daß Hegel von allen Teilen seines in der Enzyklopädie niedergelegten Systems gerade die Rechtsphilosophie gesondert bearbeitete und als sein letztes großes Werk veröffentlichte; daß Fichte, sobald er mit der Ausarbeitung der Wissenschaftslehre im Jahre 1794 fertig war, sich vor der Ausarbeitung der Sittenlehre und der Religionslehre zuerst dem Naturrecht zuwandte. In Kants philosophischem Gesamtwerk spielt die Rechts- und Staatslehre freilich noch eine mehr untergeordnete Rolle. Den Gedanken der Freiheit als der Selbständigkeit und Selbsttätigkeit des Geistes hat K a n t zwar als erster ausgesprochen, aber ihn doch noch nicht mit solcher Klarheit und Entschiedenheit zur Grundlage seiner Philosophie gemacht wie seine Nachfolger. Ihm lag es noch fern, in der freien Tätigkeit des Geistes, wie Fichte und Hegel, den letzten metaphysischen Grund aller Wirklichkeit, auch der Natur, zu erblicken, obgleich sein System bereits zu diesem Abschluß hindrängte; vielmehr bildete sich bei ihm ein schroffer Dualismus heraus zwischen der Natur und der Freiheit, dem sinnlichen und dem intelligiblen Wesen des Menschen, seiner Gebundenheit an Naturgesetze und seiner Freiheit unter dem Sittengesetz. So entschieden K a n t auch den innersten Charakter des Menschen in seiner ethischen Persönlichkeit, seiner Freiheit erfaßt, so wenig kommt es bei ihm doch zu einer Realisierung seiner Freiheit in der empirischen Wirklichkeit, zu einer Durchdringung der beiden Sphären, denen der Mensch angehört. Dieser Mangel macht sich gerade bei der Behandlung der Gebiete bemerklich, in denen diese Vereinigung und Durchdringung eigentlich stattfindet, wie auf dem des Rechts und der Politik. Kants für die Weiterentwicklung bahnbrechende Leistung besteht darin, daß er die Rechtsphilosophie seiner Ethik und damit der Idee der Freiheit unterstellt h a t ; aber er dachte noch nicht daran, diese Idee in ihrer Darstellung und Erscheinung in der Welt der wirklichen Staaten und des positiven Rechts zu erfassen, sondern er begnügte sich, der wirklichen Welt eine gedachte, ein seinsollendes Vernunftrecht und eine ideale Staatsverfassung gegenüberzustellen, wobei sich ihm der alte Gegensatz des Naturrechts und des geschichtlichen Rechts mit dem Grundgegensatz seiner Philosophie, dem der geistigen und der sinnlichen Welt, verband. So kann Kant die herkömmliche Be-

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trachtungsweise übernehmen und den neuen Geist seiner idealistischen Freiheitslehre einfach in die alten Formen naturrechtlicher Rechts- und Staatskonstruktionen gießen. Dadurch bekommt seine Rechtslehre den Charakter eines Übergangswerkes: als Naturrechtslehre setzt sie eine jahrhundertelange Entwicklung fort, als erstes System einer Rechts- und Staatsphilosophie auf der Grundlage des idealistischen Freiheitsgedankens leitet sie eine neue Entwicklung ein. 1. Der Freiheitsgedanke Kants nimmt, wie bemerkt, seinen Ausgang von der Gegenüberstellung der sinnlichen und der geistigen Natur des Menschen. Als Sinnenwesen, das von sinnlichen Antrieben abhängig ist, ist der Mensch unfrei; denn als solches gehorcht er den Gesetzen der Natur, die auf bestimmte Ursachen bestimmte Wirkungen folgen läßt. Alle seine Handlungen sind demnach notwendig durch die Gesamtheit der Umstände und der auf den Menschen erfolgenden Einwirkungen bestimmt, sie sind das Ergebnis eherner Naturnotwendigkeit nicht weniger als Wind und Wolken, das Fallen des Steines oder die Kurve des Geschosses. Daran ändert es nichts, daß ein Teil der jeweils mitwirkenden Ursachen in dem Menschen selbst, d. h. in seiner sinnlichen Natur, in seiner Empfänglichkeit für bestimmte Reize oder in seinen Neigungen liegt; denn auch sie sind das naturgesetzlich notwendige Produkt vorausgegangener Ursachen und ließen sich, wenn wir nur die Naturgesetze genügend kennten, im voraus berechnen. Wäre die Freiheit nichts anderes als diese Abhängigkeit von der gewordenen sinnlichen Natur, den Neigungen und Trieben, so wäre sie, meint Kant, nichts weniger eine Täuschung als die Freiheit eines Bratenwenders, wir könnten mit einem heute verständlicheren Beispiele sagen: eines Uhrwerks, das, einmal aufgezogen, auch „von selbst", d. h. gemäß seiner ihm von fremder Hand gegebenen Beschaffenheit fortläuft. Aber so sehr der Mensch auch genötigt ist, sich als einen Teil der Sinnenwelt und damit als den Gesetzen der Natur unterworfen zu denken, so wenig ist damit sein Wesen erschöpft. Denn der Mensch hat auch Vernunft, und Vernunft ist es, die durch ihre eigene Gesetzmäßigkeit erst die der Natur ermöglicht und begründet. Die Vernunft kann daher nicht selbst wieder als unter den Naturgesetzen stehend angesehen werden, — wie es der Materialismus annimmt — sondern sie ist über alle Natur erhaben. In der Vernunft ist Freiheit. Sollte es nun dem Menschen möglich sein, seinen Willen allein durch Vernunft, ohne Beimischung sinnlicher Antriebe zu bestimmen, so wäre er in Rücksicht dieses seines vernünftigen Willens frei. Ob freilich ein solches lediglich vernunftbestimmtes Wollen möglich ist, ob „reine Vernunft praktisch werden kann", das ist die Frage. Es ist die Grundfrage der „Kritik der praktischen Vernunft", durchaus parallel der Grundfrage der „Kritik der reinen Ver-

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nunft", ob reine Vernunft zureichend sei, unsere Erkenntnis zu erweitern. Bei der Beantwortung dieser kritischen Hauptfrage der kantischen Ethik ist nun jede Berufung auf Erfahrung von vornherein ausgeschlossen. Denn Erfahrung ist Erkenntnis eines Gegenstandes vermittels der Anschauungsformen — Raum und Zeit — und der Kategorien des Verstandes, deren wichtigste die der Kausalität ist. Sie kann uns den Menschen daher immer nur als Naturwesen zeigen, dessen Handlungen unter dem Gesetz der Kausalität stehen, dessen sinnlicher oder „empirischer" Charakter innerhalb der Zeit nach Naturgesetzen so geworden ist, wie er jetzt gerade ist. Wenn wir aber in unserem Bewußtsein eine Nötigung fänden, allen unsern natüiliehen Neigungen entgegenzuhandeln, eine Stimme der Vernunft, die uns ein Handeln schlechthin nach Vernunftgrundsätzen wenigstens anmutete, so wären wir genötigt, anzunehmen, daß wir dieser Stimme auch folgen könnten, also uns als vernünftigen Wesen Freiheit zuzuschreiben. Eine solche Stimme finden wir in uns nun wirklich vor. Es ist die Forderung des Sittengesetzes, die jeder als ein unumstößliches „ F a k t u m " in sich selbst antrifft. Das Sittengesetz also gibt uns die Möglichkeit und das Recht, uns in unserer Eigenschaft als vernünftige Wesen als frei zu betrachten, so wie umgekehrt erst die Freiheit ein Sittengesetz möglich macht. Die Freiheit ist daher die ratio essendi des Sittengesetzes, das Sittengesetz dagegen die ratio cognoscendi der Freiheit.

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Nur wenn wir dem Sittengesetz, der Stimme der Vernunft in uns gehorchen, sind wir frei. Freiheit ist daher nicht Willkür, das Beliehen, dies oder das zu tun, sondern Bindung an das Gesetz der Vernunft als unser eigenes, wahres „Selbst". Denn Vernunft ist für Kant — der insofern gerade den Rationalismus der Aufklärung vollendet — dasjenige, was den Menschen erst zum Menschen macht, sein wahres Selbst. Sie ist der Kern der Persönlichkeit. Zugleich aber ist Vernunft auch das schlechthin Allgemeine. Wer daher der Stimme seiner Vernunft gehorcht, gehorcht damit zugleich einem allgemeinen Gesetz, das doch ebenso sein eigenes ist, weil sich darin ja nur seine eigene moralische Persönlichkeit ausspricht. Er gibt sich selbst das Gesetz, das vermöge seines Charakters als eines Vernunftgesetzes für alle vernünftigen Wesen gleicher- 30 maßen Geltung hat. So führt die Idee der Freiheit auf die einer Selbstgesetzgebung oder Autonomie des Willens, das ist auf „die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemeingesetzgebenden Willens". Durch solche Autonomie des Willens hat der Mensch teil an einem Reich der Freiheit oder der Vernunft, dessen Gesetzen er unterworfen ist, ohne sich dadurch selbst zu verlieren, weil die Gesetze der Freiheit als die Gesetze der Vernunft den Inhalt seines eigenen, vernünftigen und allgemein-gesetzgebenden Willens bilden. Als Glied der Sinnenwelt ist der Mensch unfrei, gebunden an Naturgesetze, auf denen auch sein empirischer Charakter beruht, als Glied der intelligiblen Welt dagegen ist er frei, in seinem intelligiblen Charakter von der Zeit unabhängig und selbst gesetzgebend. 40 Weil der Mensch zugleich Sinnenwesen und intelligibles Wesen, Glied der Natur und des Vernunftreiches ist, darum erscheint ihm sein eigener vernünftiger, allgemein gesetzgebender Wille als Anforderung, als P f l i c h t . Denn wäre der Mensch nur ein Naturwesen, so hätte er nicht einmal die Vorstellung eines Sittengesetzes; wäre er andererseits nur Vernunftwesen, so würde er nicht anders als vernunftgemäß handeln, es gäbe daher in seinem Bewußtsein keinen Zwiespalt zwischen Pflicht und Neigung, kein Bewußtsein einer Forderung. Nur weil er „zugleich" beiden Welten angehört, gibt es für den Menschen den Begriff der moralischen Nötigung oder der Pflicht. Freilich enthält dieses „Zugleich" der Zugehörigkeit des Menschen zur sinnlichen und zur intelligiblen Welt ein Problem, dessen Auflösung im Rahmen der Erkenntnislehre Kants in Wahrheit nicht möglich ist. Denn nach ihr sind zwar beide Betrachtungsweisen, die der theoretischen Vernunft, die den Menschen als unfrei, und die der praktischen, die ihn als frei betrachtet, gleichberechtigt, aber streng voneinander

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zu unterscheiden; immer ist der Mensch nur in der e i n e n Beziehung unfrei, in der a n d e r n frei, für keine der möglichen Betrachtungsweisen aber „zugleich" beides. U m den Menschen als ein und denselben — nicht nur in der einen o d e r der andern „Beziehung" — sowohl als frei wie als unfrei zu denken, bedürfte es einer dritten, die theoretische und die praktische Erkenntnis in sich vereinigenden Betrachtungsweise, was Kant nicht zum Bewußtsein gekommen ist. Der nachkantische Idealismus hat gerade diesem Problem seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt; Fichte setzte hier ein, indem er den „Primat der praktischen Vernunft" konsequent durchführte.

D e r Begriff der Pflicht oder des Sollens ist es also, der die Brücke schlägt zwischen d e m Reich der Freiheit u n d d e m Reich der N a t u r , d e m Menschen als sinnlichem u n d als moralischem Wesen. Die Pflicht verl a n g t v o m Menschen schlechthinnige U n t e r w e r f u n g u n t e r d a s allgemeine V e r n u n f t g e s e t z ohne R ü c k s i c h t auf entgegenstehende Neigungen, zugleich aber e r h ö h t sie ihn ü b e r sich selbst als N a t u r w e s e n , i n d e m sie i h n t e i l h a b e n l ä ß t a n einem Reiche der Freiheit, in d e m er als v e r n ü n f t i g e s W e s e n sich selbst das Gesetz gibt. N u r wer u n t e r Z u r ü c k s e t z u n g aller seiner Neigungen, allein aus Pflicht, aus A c h t u n g v o r d e m Sittengesetz h a n d e l t , h a n d e l t g e m ä ß seiner eigenen, v e r n ü n f t i g e n Gesetzgebung, sein e m w a h r e n „ S e l b s t " u n d also frei. D a h e r ist Freiheit oder H a n d e l n aus Pflicht der einzige Zweck, den die V e r n u n f t selbst d e m Menschen gesetzt h a t , u n d das allgemeinste ethische Gebot l a u t e t : „ H a n d l e pflichtmäßig a u s P f l i c h t . " Freiheit ist somit keine E i g e n s c h a f t , die der Mensch als natürliches Wesen h a t , sondern eine A u f g a b e , die er sich selbst als Vern u n f t w e s e n s e t z t ; die A u f g a b e , sittlich v e r a n t w o r t l i c h zu h a n d e l n . Die F r e i h e i t darf deshalb a u c h n i c h t , wie K a n t folgerichtig in der E i n l e i t u n g z u r M e t a p h y s i k der S i t t e n a u s f ü h r t , als das Vermögen bezeichnet werden, zwischen d e n Neigungen u n d der Pflicht z u w ä h l e n ; d e n n solange der Mensch n o c h zwischen beiden Möglichkeiten s c h w a n k t , h a t er sich noch n i c h t zur w a h r e n Freiheit d u r c h g e r u n g e n . Dieses V e r m ö g e n der W a h l ist vielmehr lediglich die Willkür, die als solche weder frei n o c h u n f r e i ist, s o n d e r n auf der Grenze s t e h t , die Möglichkeit zu beiden, sowohl zur Freiheit wie z u r Unfreiheit, i n sich schließt. D a s G r u n d g e b o t der k a n t i s c h e n E t h i k ist also: es soll Freiheit sein, d . h . es soll p f l i c h t m ä ß i g aus Pflicht g e h a n d e l t werden. I n n e r h a l b der E t h i k i m weiteren Sinne unterscheidet K a n t n u n die E t h i k i m engeren Sinne oder Tugendlehre u n d die Rechtslehre. D e m g e m ä ß sind die Pflichtt e n e n t w e d e r Rechtspflichten oder T u g e n d p f l i c h t e n . I m Gegensatz zur T u g e n d p f l i c h t v e r l a n g t die Rechtspflicht n i c h t , d a ß s u b j e k t i v aus Acht u n g v o r d e m Gesetz gehandelt wird, sondern n u r , d a ß o b j e k t i v pflichtm ä ß i g g e h a n d e l t wird, einerlei aus welchen Motiven. Die E t h i k v e r l a n g t Moralität, das R e c h t b e g n ü g t sich m i t L e g a l i t ä t . Doch sind alle Rechtspflichten a u c h indirekt-ethische P f l i c h t e n ; die E t h i k m a c h t die Befolgung d e r R e c h t s o r d n u n g zur sittlichen Pflicht. E i n Konflikt zwischen E t h i k u n d R e c h t erscheint K a n t v o n v o r n h e r e i n als ausgeschlossen, weil er beide auf d a s eine Gesetz der Freiheit g r ü n d e t .

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Nun ist aber das Rechtsgesetz ein Gesetz, das die Anwendung äußeren Zwanges gestattet. K a n t geht bei der Bestimmung des Rechtsbegriffes vom subjektiven Recht aus. Das subjektive Recht gewährt dem Berechtigten die Möglichkeit, nicht nur durch Güte und Überredung den Schuldner zur Erfüllung seiner Verpflichtung zu bestimmen, sondern die Befugnis, ihn zu zwingen: „Recht und Befugnis zu zwingen, bedeuten also einerlei." Wie ist solche Befugnis zu zwingen aber mit dem Grundgesetz der Freiheit vereinbar, wie kann der Rechtszwang unter dem Gesichtspunkt der Aufgabe der Freiheit gerechtfertigt werden ? Das ist die kritische Grundfrage der kantischen Rechtsphilosophie. In dieser Fragestellung zeigt sich der enge Zusammenhang der Rechtsphilosophie nicht nur mit Kants Ethik, sondern mit seiner kritischen Denkweise überhaupt. Immer ist es die quaestio juris, die Frage nach der Rechtfertigung, dem Geltungsgrund, die sein Denken beherrscht. Geht es ihm in der theoretischen Philosophie um die Rechtfertigung der Erkenntnis, insbesondere um den Geltungsanspruch metaphysischer Erkenntnis, so geht es ihm in der Ethik u m die Geltung des Sittengesetzes und in der Rechtsphilosophie u m die Geltung, d. h. um die Rechtfertigung des Rechtsgebotes als eines Zwangsgebotes. Nur ein solcher Zwang kann nach Kants Überzeugung rechtmäßig sein, der dem ethischen Grundgebot der Freiheit nicht widerstreitet, ja, nur aus diesem ethischen Grundgebot kann der Rechtszwang überhaupt gerechtfertigt werden. Die Aufgabe der Rechtsphilosophie ist also zu zeigen, daß erstens der Rechtszwang mit der Freiheit verträglich ist, und daß er zweitens gerade durch die Idee der Freiheit gefordert wird. Die erste Aufgabe löst Kant durch die Unterscheidung der Freiheit von der Willkür. Nicht jede Einschränkung der Willkür, des Beliebens, so oder so zu handeln, ist schon eine Einschränkung der Freiheit, weil Freiheit j a nicht die Möglichkeit zu beliebigem, sondern die Möglichkeit zu sittlich verantwortlichem Handeln bedeutet. Wer mich daher hindert, etwas zu tun, was meinem eigenen, freien, sittlich gesetzgebenden Willen widerstreiten würde, der hindert wohl die Betätigung meiner Willkür, aber nicht die Betätigung meiner Freiheit. Der Rechtszwang ist demnach mit der Freiheit verträglich, wenn ich durch das Recht zu nichts anderm gezwungen werden kann, als was mein eigener freier, vernünftiger Wille von mir fordern würde; wenn n u r m e i n e W i l l k ü r , n i c h t a b e r m e i n e F r e i h e i t b e s c h r ä n k t w i r d . Daß eine solche Einschränkung der Willkür aber nicht nur zulässig, sondern u m der Freiheit willen auch geboten ist, ergibt die Überlegung, daß sonst der eine durch die willkürliche Gewalt des andern an der Betätigung seiner (wahren) Freiheit gehindert werden könnte. Um solche Gefahr willkürlicher Behinderung der Freiheit abzuwenden, muß jeder es sich gefallen lassen, daß seine Willkür darauf eingeschränkt wird, daß sie mit der Freiheit der andern zusammen bestehen kann. Um willkürliche Behinderung der Freiheit abzuwenden, als

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„Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit", ist der Rechtszwang nicht nur zulässig, sondern sittlich geboten.

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Es gibt f ü r K a n t , modern gesprochen, n u r ein einziges Rechtsgut: die Freiheit. Daher kennt K a n t auch n u r ein einziges „angeborenes" subjektives R e c h t : das Recht auf Freiheit. Dem entspricht das oberste Rechtsgebot: „ H a n d l e äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen k a n n . " Man darf das nicht so verstehen, als meine K a n t , das Recht solle jedem ein möglichst großes Maß von willkürlichem Belieben sichern. Obgleich manche Formulierungen K a n t s dieses Mißverständnis nahelegen, würde eine solche Auffassung doch den tieferen Sinn der kantischen Fragestellung völlig außer acht lassen. Das positive Gut, das durch den Rechtszwang geschützt werden soll, ist nicht die Willkür, sondern die Freiheit i m Sinne der ethischen Selbstbestimmung; dasjenige dagegen, gegen das sich der Rechtszwang richtet, ist die Willkür, die bei K a n t keinen ethischen Wertakzent t r ä g t . Die kantische Formel des Rechtsgesetzes lautet also nicht: Einschränkung der Freiheit auf ein f ü r alle mögliches Maß, sondern Einschränkung der Willkür u m der Freiheit willen. N u r so ist es zu verstehen, wenn K a n t sagt, daß der Rechtszwang mit jedermanns Freiheit, „also auch m i t der Freiheit des Gezwungenen", zusammen bestehen könne, u n d wenn er sich dagegen wendet zu sagen, der Mensch habe i m Rechtszustand einen Teil seiner angeborenen Freiheit aufgegeben, u m sich einen Rest von Freiheit zu erhalten, da m a n vielmehr sagen müsse, er habe „die wilde, gesetzlose Freiheit" g ä n z l i c h verlassen, um d a f ü r seine wahre Freiheit (die „Freiheit ü b e r h a u p t " ) in einer gesetzlichen Abhängigkeit u n v e r m i n d e r t wiederzufinden. Der Rechtszwang ist also, weit entfernt davon, eine Beeinträchtigung der Freiheit zu enthalten, als eine Bedingung der Betätigung der Freiheit im menschlichen Zusammenleben dargetan und d a m i t im Sinn der kantischen E t h i k gerechtfertigt. D i e W i l l k ü r m u ß e i n g e s c h r ä n k t w e r d e n , d a m i t F r e i h e i t s e i n k a n n ; das ist f ü r K a n t der I n h a l t der Rechtsidee. Freilich h a t K a n t damit zunächst nur ein Richtm a ß f ü r das positive Recht aufgestellt u n d die Geltung eines dieser Idee entsprechenden Vernunftrechts, keineswegs aber die Geltung i m Sinne ethischer Verbindlichkeit des positiven Rechts erwiesen. Allein K a n t h a t das Problem, das sich hier ergibt, überh a u p t nicht gesehen, da er i m Grunde immer n u r das Naturrecht u n d nicht das positive Recht vor Augen h a t . So h a t er denn auch geglaubt, aus seiner Rechtsidee selbst wieder ein Naturrecht entwickeln zu können, das sich inhaltlich nicht so sehr von den Naturrechtslehren seiner Zeit unterscheidet u n d in der Einzelausführung von dem Grundgedanken der kantischen Rechtsphilosophie nicht mehr viel erkennen l ä ß t . I n einem P u n k t e t r i t t dieser Gedanke aber doch noch einmal deutlich hervor u n d erweist er seine weitreichende Bedeutung: bei der Lehre vom Staatsvertrage u n d von der Staatsverfassung.

2. Der Staat bedeutet für Kant „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen". Seine einzige Aufgabe ist die des Rechtsschutzes. D a s Recht geht dem Staate, und zwar, Kants individualistischem Denken entsprechend, das Privatrecht d e m Staatsrecht i m Range vor. Auf der Grundlage dieser Rangordnung beruht seine Unterscheidung eines „natürlichen" und eines „bürgerlichen Zustandes" und seine Lehre v o m Staatsvertrag. Unter dem natürlichen Zustand versteht Kant nicht, wie z. B. Rousseau, einen völlig gesetzlosen Zustand, sondern einen Zustand, in dem bereits das Naturrecht gilt, soweit es Privatrecht ist. Es gibt also in dem

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kantischen Naturzustand ebensowohl schon Eigentum wie Verträge und Zusammenschlüsse privatrechtlichen Charakters. Dagegen fehlt es an einer öffentlichen Gewalt, die in der Lage wäre, Rechtsschutz zu gewähren. Dieser Zustand ist daher, wie Kant sagt, kein Zustand der Ungerechtigkeit, aber doch der Rechtlosigkeit, wo sich kein Richter findet, um über das streitige Recht zu entscheiden, und wo der Berechtigte daher nicht darauf rechnen kann, zu seinem Rechte zu kommen. Deshalb fordert die Rechtsidee, aus diesem Zustand herauszutreten und einen rechtlichen Zustand zu begründen, d. h. zur Sicherung des Privatrechts eine Staatsgewalt und eine öffentliche Verfassung zu schaffen. Der Akt nun, durch den sich das Volk zu einem Staat zusammenschließt, „eigentlich aber", wie Kant bemerkt, „nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit der Staatsverfassung nachgeprüft werden muß", ist der „ursprüngliche Vertrag", der Staatsvertrag. Der Gegensatz zwischen dem natürlichen Znstand und dem bürgerlichen Zustand oder Rechtszustand darf nicht mit dem Unterschied von Naturrecht und positivem Recht gleichgesetzt werden. Das Naturrecht oder Vernunftrecht bedeutet Kant den Inbegriff der Gesetze, zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann. Solche Gesetze leitet Kant aus seiner Rechtsidee zunächst für den natürlichen Zustand ab. Es sind das die Privatrechtssätze des Naturrechts. Sie behalten ihre Geltung auch im bürgerlichen Zustand, und es kommen hier noch weitere Sätze des Naturrechts, nämlich öffentlichrechtliche hinzu, die sich auf die Form des Staates überhaupt, „den Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll", beziehen. Bei dem Unterschied des Naturzustandes und des bürgerlichen Zustandes oder des Privatrechts und des öffentlichen Rechts handelt es sich also zunächst nur um einen Unterschied innerhalb des Geltungsbereiches des Natur- oder Vernunftrechts. Unrichtig ist es daher, Kant so aufzufassen, als bedeute der Fortgang vom Privatrecht zum öffentlichen Recht zugleich den Übergang vom Naturrecht zum positiven Recht und als komme das Naturrecht erst im positiven Recht zur Geltung. Nur insofern ist der Fortgang vom Privatrecht zum öffentlichen Recht auch für den Gegensatz des Naturrechts und des positiven Rechts von Bedeutung, als das letztere überhaupt erst in einem öffentlichen Zustand entstehen kann, während das Naturrecht ebensowohl im staatlichen wie im vorstaatlichen Zustand gilt und eine staatliche Verfassung, mithin auch ein positives Recht überhaupt erst möglich macht. — So ist auch der Ausspruch Kants zu verstehen, es könne wohl eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthalte; alsdann müsse aber doch ein natürliches Gesetz vorhergehen, welches die Autorität des Gesetzgebers begründete.

Der natürliche Zustand sowohl wie der Staatsvertrag, der ihn beendet, werden von Kant aber nicht als historische Tatsachen behauptet, sondern dienen lediglich der Veranschaulichung einer logischen und ethischen Stufenfolge, einer Rangordnung der Werte, in der das öffentliche Recht dem Privatrecht nachgeordnet ist und dazu bestimmt erscheint, es zu vervollständigen. Es sind gedankliche Hypothesen, die dazu dienen, die überkommene Vorstellung eines Staatsvertrages in Kants System einzubauen und ihr hier, unabhängig von der Frage, wie es historisch gewesen ist, die rechtstheoretische Bedeutung eines normativen Prinzips, eines Kriteriums der Rechtsrichtigkeit zu sichern. Man hat oft genug hervorgehoben, daß

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K a n t die Lehre vom Staatsvertrage dadurch auf eine neue Grundlage gestellt habe, d a ß er f ü r den Staatsvertrag nur noch eine normative u n d nicht mehr eine historische Bedeutung in Anspruch genommen h a t . So richtig das ist, fragt es sich doch, ob K a n t hierin nicht schon Vorgänger gehabt h a t , unter andern auch in Rousseau. Weniger beachtet, aber noch bedeutungsvoller ist jedoch, daß K a n t auch die normative Bedeutung des Staatsvertrages dadurch verändert, j a im Grunde genommen aufgehoben h a t , daß er ihn nicht aus der übereinstimmenden Willkür der Kontrahenten, sondern aus ihrem freien, vernünftigen, d. h. allgemeingesetzgebenden Willen abgeleitet h a t , so daß die Vorstellung des Staatsvertrages bei K a n t nur mehr ein Bild ist, hinter dem sich etwas anderes als ein „Vertrag", nämlich die „reine rechtlich gesetzgebende V e r n u n f t " verbirgt. I n dieser Wendung, die ihm wiederum durch seinen Freiheitsbegriff ermöglicht wird, liegt vor allem der Fortschritt K a n t s gegenüber Rousseau. F ü r Rousseau ist der Staatsvertrag die einzig mögliche Grundlage eines wirklichen Rechtszustandes. Durch den Staatsvertrag geben die Einzelnen ihre Freiheit ohne Vorbehalt oder Einschränkung zugunsten des „allgemeinen Willens" auf, u m ihre Freiheit eben dadurch wiederzugewinnen, d a ß sie an dem allgemeinen Willen Teil erhalten. Ganz ähnlich läßt K a n t aus dem Staatsvertrag den „vereinigten Willen des Volkes" hervorgehen u n d sieht er die Freiheit des Einzelnen darin gewahrt, daß er als Glied des Staatsvolkes, als Staatsbürger, nicht nur den Gesetzen Untert a n , sondern Mitgesetzgeber sei. Allein so sehr diese Gedanken auch an Rousseau anklingen, ihre Bedeutung ist bei K a n t eine ganz andere. Das zeigt sich, wenn wir die Frage stellen, welche Allgemeinheit denn mit dem „allgemeinen Willen" bei K a n t u n d bei Rousseau gemeint ist. Bei beiden, das steht fest, ist es j a nicht einfach das rein quantitative Moment der großen Zahl. Die Summe der Einzelwillen wird sowohl von Rousseau wie von K a n t von dem allgemeinen oder vereinigten Willen unterschieden. Vielmehr ist es bei beiden die Ausrichtung auf ein notwendig gemeinsames Ziel, das die „Allgemeinheit" des Staatswillens begründet. Bei Rousseau ergibt sich n u n dieses gemeinsame Ziel aus den Interessen der Einzelnen; nur wo ihre Interessen gleich sind, k a n n sich eine wirkliche volonté générale herausbilden. Deshalb h a t Stahl nicht mit Unrecht bemerkt, d a ß Rousseau folgerichtig zum Kommunismus h ä t t e kommen müssen, weil nur der Kommunismus alle Unterschiede radikal beseitigt, aus denen sich Interessengegensätze ergeben können. Die volonté générale im Sinne Rousseaus ist der auf das allen gemeinsame Interesse gerichtete Wille im Gegensatz zu der volonté de tous, der bloßen Summierung der Einzelinteressen. Die Allgemeinheit des Willens dagegen, die K a n t im Auge hat, ist nicht die Gleichheit eines allen gemeinsamen empirischen Zweckes, sondern die Allgemeingültigkeit der Vernunft, an der jeder Einzelne als Ge-

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setzgeber i m Reiche der Freiheit t e i l h a t . N i c h t d a s I n t e r e s s e e i n i g t n a c h K a n t die W i l l e n , s o n d e r n das Gebot der s i t t l i c h e n Vern u n f t . Der vereinigte Wille des Volkes ist d e r v e r n ü n f t i g e W i l l e j e d e s E i n z e l n e n als a u t o n o m e r gesetzgebender Persönlichkeit u n d daru m e b e n der wahre, ü b e r e i n s t i m m e n d e Wille aller. Der S t a a t s v e r t r a g , der als d e r erste A k t dieses vereinigten Volkswillens gedacht ist, e n t h ä l t d a h e r gar n i c h t s anderes als das Gesetz der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t . Der Einzelne ist a n d e n S t a a t s v e r t r a g g e b u n d e n , n i c h t weil er t a t s ä c h l i c h in i h n eingewilligt h ä t t e , sondern weil sein eigener, allgemeingesetzgebender Wille i h n z u r A n e r k e n n u n g seines I n h a l t s n ö t i g t . Nicht er als empirische Person ist d e r U r h e b e r der Rechtsgesetze, sondern „die reine rechtlich gesetzgebende Vernunft" in ihm. E s m ö c h t e geringfügig erscheinen u n d ist doch geistesgeschichtlich v o n d e r größten B e d e u t u n g , d a ß sich hier bei K a n t , d u r c h die hergebracht e n Vorstellungen eines N a t u r z u s t a n d e s u n d eines i h n b e e n d e n d e n S t a a t s v e r t r a g e s n u r verschleiert, d e r G e d a n k e b a h n b r i c h t , d a ß das R e c h t seinen l e t z t e n G r u n d n i c h t in d e r Willkür, sondern in einer I d e e der V e r n u n f t finden m u ß . D e n n d a m i t i s t der individualistische oder, wenn m a n will, atomistische A u s g a n g s p u n k t aufgehoben, auf d e m alle n a t u r r e c h t l i c h e n K o n s t r u k t i o n e n der A u f k l ä r u n g s z e i t b e r u h e n : die B e g r ü n d u n g des R e c h t s u n d des S t a a t e s allein auf d e n Willen i m Sinne der Willkür des Einzelnen. N i c h t die Willkür des Einzelnen schafft erst d u r c h d e n A b s c h l u ß eines V e r t r a g e s das R e c h t , sondern die U n b e d i n g t h e i t des rechtlichen Sollens e r m ö g l i c h t die V e r p f l i c h t u n g s k r a f t der V e r t r ä g e ; n i c h t das Belieben der E i n z e l n e n , ihr wohlverstandenes Interesse, f ü h r t sie z u m S t a a t , sondern ein „kategorischer I m p e r a t i v der V e r n u n f t " , die Rechtsidee, gebietet i h n e n , die Verwirklichung des R e c h t s d u r c h den s t a a t l i c h e n Z u s a m m e n s c h l u ß zu erstreben. D a s sind G e d a n k e n , die in der Philosophie des d e u t schen Idealismus f o r t w i r k e n u n d die, v o n der n a t u r r e c h t l i c h e n u n d rein rationalistischen U m h ü l l u n g befreit, in der sie u n s bei K a n t zuerst entg e g e n t r e t e n , schließlich i n der L e h r e Hegels zur Vollendung gelangen k o n n t e n , d a ß das R e c h t die Erscheinungsform der Freiheit oder die Ges t a l t sei, in der u n d als die sich die Idee der Freiheit i m geschichtlichen L e b e n verwirklicht. Freilich hat Kant die Aufgabe des Rechts nicht immer in dieser rein ethischen Weise gesehen. In der Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", die im Jahre 1784, also ein Jahr vor der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", vier Jahre vor der „Kritik der praktischen Vernunft" und dreizehn Jahre früher als die Rechtslehre erschienen ist, begründet Kant das Recht noch nicht auf das formale Prinzip der Ethik, sondern auf ein „materiales" Prinzip, nämlich auf den Gedanken der Vollkommenheit. Die Natur will, meint Kant in dieser Schrift, daß der Mensch alle seine Anlagen vollständig entwickle. Seine Vernunftanlagen vermag er aber nicht als Individuum, sondern nur im Fortschritt des ganzen Menschengeschlechts zur höchsten Vollkommenheit auszubilden. Das Mittel, durch das diese Ausbildung aller Anlagen erreicht wird, ist „der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird".

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Durch den Widerstreit der Krfifte u n d durch seine Neigungen wird der Mensch dazu getrieben, alle seine Anlagen, soweit i h m das möglich ist, auszubilden. Auf der andern Seite darf dieser Widerstreit aber doch nicht dazu f ü h r e n , daß die Menschen sich gegenseitig vernichten. Deshalb ist das größte Problem f ü r die Menschengattung „die Erreichung einer allgemeinen das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft". D a r u n t e r versteht K a n t n u n eine solche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, die einem jeden die größte Freiheit und d a m i t einen durchgängigen Antagonismus der Bürger ermöglicht, aber doch zugleich genau die Grenzen der Freiheit eines jeden festlegt, damit sie mit der Freiheit der andern zusammen bestehen könne. Hier ist offensichtlich unter Freiheit nichts anderes gemeint als die Willkür; von dem ethischen Freiheitsbegriff u n d von der ganzen Fragestellung der späteren Rechtslehre ist hier noch nichts zu spüren. Es ist daher deutlich, daß zwischen dieser Schrift und der Rechtslehre K a n t s Rechtsbegriff eine bedeutsame Wandlung erfahren h a t , die m i t der tieferen Durchdringung des Freiheitsproblems in den ethischen H a u p t s c h r i f t e n zusammenhängt. Diese Wandlung stellt die Abkehr von der f ü r das N a t u r r e c h t der Aufklärungszeit charakteristischen Begründung des Rechts auf die Prinzipien der Glückseligkeit und der Vollkommenheit — wie wir sie etwa bei Christian Wolff finden — und die Hinwendung zu einer idealistischen Rechtsphilosophie dar, mit der K a n t sich auch auf diesem Gebiete als der große Erneuerer des philosophischen Idealismus erweist.

W ä h r e n d es K a n t so auf der einen Seite gelungen ist, d e n Rechtsg e d a n k e n in seiner Reinheit u n d Strenge, frei v o n aller V e r m i s c h u n g m i t empirischen Zweckvorstellungen, h e r a u s z u a r b e i t e n u n d d e m S t a a t e als R e c h t s s t a a t eine v o n menschlicher Willkür u n a b h ä n g i g e sittliche W ü r d e zu sichern, fehlt i h m auf der a n d e r n Seite doch n o c h der Blick f ü r die Geschichtlichkeit des R e c h t s u n d die Wirklichkeit des S t a a t e s als einer geistigen T o t a l i t ä t u n d I n d i v i d u a l i t ä t , einer D u r c h d r i n g u n g sittlicher u n d materieller K r ä f t e , eines Macht- u n d K u l t u r f a k t o r s . Der S t a a t , m i t d e m er es zu t u n h a t , ist j a n i c h t ein v o n einer b e s t i m m t e n T r a d i t i o n u n d Geisteshaltung erfülltes, historisch gewachsenes Gebilde, sondern „ d e r S t a a t ü b e r h a u p t " , wie er „ n a c h reinen V e r n u n f t p r i n z i p i e n sein soll". Wie dieser a b s t r a k t e S t a a t der reinen V e r n u n f t sich zu d e n wirklichen S t a a t e n v e r h ä l t , ob er deren substantielle Grundlage a u s m a c h t oder n u r ein nie ganz zu erreichendes Vorbild darstellt, n a c h d e m sich die Völker u n d S t a a t s m ä n n e r richten s o l l e n , diese F r a g e findet bei K a n t keine eindeutige A n t w o r t . Freilich, n a c h der grundsätzlichen Einstellung seines D e n k e n s k ö n n t e seinem I d e a l s t a a t n u r die letzte B e d e u t u n g z u k o m m e n . Aber d a n n e n t s t e h t eine eigentümliche Schwierigkeit, w e n n m a n n a c h der Möglichkeit f r a g t , K a n t s S t a a t s g e d a n k e n a u c h n u r in a n n ä h e r n d e r Weise zu verwirklichen. Der „ ü b e r e i n s t i m m e n d e u n d vereinigte Wille aller" ist, wie wir gesehen h a b e n , ebenso wie der S t a a t s v e r t r a g j a n u r eine regulative Idee, also ein n o r m a t i v e r Begriff, d e m keine empirische R e a l i t ä t e n t s p r i c h t . E r b e d e u t e t nichts a n d e r e s als die „reine rechtlich gesetzgebende Vern u n f t " , auf der alles R e c h t b e r u h e n soll. Aber u m n u n zu einem wirklichen S t a a t u n d zu einer positiven Gesetzgebung z u k o m m e n , bedarf es doch eines irgendwie beschaffenen empirischen Willens, i n d e m sich der reine Wille der rechtlich gesetzgebenden V e r n u n f t darstellt. K a n t ist n u n der Handb. d. PhiL IV.

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V e r s u c h u n g nicht ganz e n t g a n g e n , d e n „vereinigten Willen aller", einen n o r m a t i v e n Begriff also, zugleich als d e n realen Willen des empirisch zu einem b e s t i m m t e n Staatswesen vereinigten Volkes anzusehen. N u r so ist es zu verstehen, w e n n er nach der U n t e r s c h e i d u n g der gesetzgebenden, d e r regierenden u n d d e r rechtsprechenden Gewalt e r k l ä r t : „ D i e gesetzgebende Gewalt k a n n n u r d e m vereinigten Willen des Volkes z u k o m m e n " , u n d w e n n er d e m empirischen Gesetzgeber die Verbindlichkeit auferlegt, „die R e g i e r u n g s a r t j e n e r I d e e angemessen zu m a c h e n u n d so sie, w e n n es n i c h t auf e i n m a l geschehen k a n n , allmählich u n d kontinuierlich d a h i n z u v e r ä n d e r n , d a ß sie m i t der einzig w a h r e n r e c h t m ä ß i g e n Verfassung, n ä m l i c h d e r reinen R e p u b l i k , ihrer W i r k u n g n a c h z u s a m m e n s t i m m e " . A m deutlichsten t r i t t a b e r dieses Abgleiten auf den empirischen Volkswillen in der Schrift „ Z u m ewigen F r i e d e n " zutage, w e n n K a n t d o r t der Meinung A u s d r u c k gibt, die republikanische V e r f a s s u n g werde den K r i e g v e r h i n d e r n , d a die S t a a t s b ü r g e r , w e n n ihre B e i s t i m m u n g zur Kriegserklär u n g e r f o r d e r t w ü r d e , diese verweigern w ü r d e n , weil sie j a selbst die L a s t e n des Krieges t r a g e n m ü ß t e n . E s ist billig, K a n t hier eine Inkonsequenz, eine V e r t a u s c h i m g der norm a t i v e n m i t der empirischen B e t r a c h t u n g v o r z u w e r f e n , a b e r es ist wichtiger z u verstehen, wieso K a n t dieser doppelte G e b r a u c h des Begriffs des „ v e r e i n i g t e n Willens" möglich war. Wir meinen, der G r u n d liegt in d e m in seiner N a i v i t ä t doch a u c h b e w u n d e r n s w e r t e n Glauben K a n t s a n die V e r n ü n f t i g k e i t des Menschen, den er m i t der A u f k l ä r u n g t e i l t . E r glaubte allen E r n s t e s , d a ß die Menschen, w e n n sie n u r ü b e r eine gemeinschaftliche Angelegenheit g e m e i n s a m beschließen sollten, allein v e r n ü n f t i g e n Prinzipien folgen w ü r d e n . N u r deshalb, weil der empirische S t a a t , gleichgültig, welches seine derzeitige Verfassung sei, i h m i m m e r h i n schon als eine erste E t a p p e auf d e m Wege z u m v e r n u n f t g e m ä ß e n S t a a t erschien, in d e m d u r c h den Willen aller der vernünftig-allgemeine Wille, die V e r n u n f t selbst h e r r s c h e n d sei, k o n n t e K a n t auch m i t größter E n t s c h i e d e n h e i t jedes W i d e r s t a n d s r e c h t gegen v e r n u n f t w i d r i g e A n o r d n u n g e n des Herrschers ablehnen, d a n u r d u r c h U n t e r w e r f u n g u n t e r den Willen des empirischen Gesetzgebers ein rechtlicher Z u s t a n d ü b e r h a u p t möglich sei. Diese Stellungn a h m e K a n t s ist unbegreiflich, wenn m a n nicht a n n i m m t , K a n t h a b e in der empirischen O r d n u n g der wirklichen S t a a t e n die Idee des reinen R e c h t s s t a a t e s , w e n n a u c h in noch sehr u n v o l l k o m m e n e r Weise, verwirklicht gesehen, so d a ß er sich die weitere Verwirklichung dieser Idee n u r als eine allmähliche Verbesserung de6 schon V o r h a n d e n e n h a b e denken k ö n n e n . D a n n aber h ä t t e er die Idee des R e c h t s s t a a t e s doch nicht n u r als ein bloßes Vorbild, sondern, i m W i d e r s p r u c h freilich z u d e n Grundlagen des S y s t e m s , als eine in der Wirklichkeit sich allmählich durchsetzende M a c h t b e t r a c h t e t u n d d a m i t eben ein N o r m a t i v e s in ein, wenigstens teilweise, a u c h Seiendes v e r w a n d e l t . Man wird zugeben m ü s s e n , d a ß K a n t sich d e r Tragweite der hier a u f t a u c h e n d e n P r o b l e m e , die den R a h m e n

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seines Systems notwendig sprengen mußten, kaum bewußt geworden ist und seine Rechts- und Staatslehre eben deshalb verschiedenen Ausdeutungen Raum läßt. Dasselbe gilt auch von Kants Idee eines V ö l k e r b u n d e s und des e w i g e n F r i e d e n s . Da für Kant der Mensch Staatsbürger nur als abstrakter Träger der einen und gleichen Vernunft ist, da somit für seinen Staatsbegriff weder nationale Eigenart noch die Besonderheit geschichtlicher Überlieferung irgendeine Rolle spielen, muß ihm die Beschränkung des Staates auf eine bestimmte Volksmenge als eine empirische Zufälligkeit erscheinen. Die Konsequenz seines Systems ist der Weltstaat, in dem die Vielheit der historisch erwachsenen Staaten verschwunden ist und das e i n e Band des Vernunftrechts alle Menschen ohne Unterschied des Wohnsitzes und der Nationalität umschließt. Erst in einem solchen Weltstaat oder, wie Kant auch sagt, Völkerstaat wäre der empirische Staat mit dem Staat der reinen Vernunft identisch. Allein das ist „freilich eine unausführbare Idee", und deshalb schlägt Kant als Surrogat des Weltstaates einen den Krieg abwehrenden Völkerbund vor, in dem zwar die Selbständigkeit der Staaten erhalten bleibt, alle aber sich gegen den Friedensbrecher vereinigen. Es ist Kant wohl klar, daß eine solche Staatenföderation kein sicheres Mittel zur Verhütung des Krieges darstellt, aber dafür erscheint sie ihm als ausführbar und darum als erstrebenswert. So sucht er auch hier, ähnlich wie in der Frage des Widerstandsrechts, zwischen der Wirklichkeit und der Idee zu vermitteln, und ebenso wie dort führt auch hier dieses Bestreben zur Preisgabe der letzten Konsequenzen seines Systems. Wie kann aber die Vermittlung zwischen der Idee und der Wirklichkeit gelingen, wenn sie beide zuerst in so schroffen Gegensatz gestellt sind, wie das bei Kant geschehen ist ? Wie kann sich die Einheit der Vernunft mit der Vielheit der Lebenserscheinungen, der Völker und Staaten, wie kann sich die eine intelligible Ordnung mit den vielen empirischen Rechtsordnungen, wie kann sich die ewige Norm mit der wandelbaren historischen Gestalt, das Recht mit der Macht, der Geist mit der empirisch-wirklichen Tat verbinden ? Es konnte Kant noch nicht in den Sinn kommen, in der Vielheit und Verschiedenartigkeit der Völker und Staaten selbst eine Bedingung der Entfaltung sittlicher Werte in der Geschichte zu erblicken. Zwar überwand er, zu seiner Zeit als erster, die rein individualistische Staatskonstruktion, aber an die Stelle der Herrschaft des Individuums setzte er nicht die der Gemeinschaft, sondern lediglich die einer abstrakt-allgemeinen Vernunft, eines Gattungsbegriffs, der dann doch wieder nur in den einzelnen Individuen und nicht in überindividuellen sozialen Gebilden, gleich welcher Art, zu realisieren war. Wohl liegt in der Zurückführung der Persönlichkeit auf die allgemeine Vernunft eine Überwindung ihres isolierten Fürsichbestehens, eine Abweisung atomistischer Vorstellungen, aber keineswegs ist damit schon D 8*

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die Eingliederung des Menschen in eine soziale Ganzheit, in eine konkrete Gemeinschaft gewonnen. W e n n K a n t gelegentlich von einem Reich der Zwecke oder einem Reich der V e r n u n f t spricht, das als eine Gemeinschaft des Geistes aufgefaßt werden k a n n , so ist es doch richtig, d a ß hierin nicht „die Bezeichnung eines übersinnlich Gegebenen, sondern eines ethisch Aufgegebenen" (Cassirer) zu finden ist. Dieses ethisch Aufgegebene ist eben die Menschheit als regulative Idee allgemeiner Sittlichkeit. Von dieser regulativen Idee f ü h r t keine Brücke zu den gegebenen Gemeinschaften des sozialen Lebens. E r s t der spätere Fichte ist hier zu einer grundsätzlich anderen Einstellung gekommen. So wenig wir danach auch in K a n t s Rechts- u n d Staatsphilosophie schon eine Lösung der von i h m aufgeworfenen Probleme erblicken können, so ist es doch K a n t s unvergängliches Verdienst, nach einem eudämonistischen Zeitalter als erster wieder die Frage nach der Idee, nach der sittlichen Aufgabe u n d dem Recht des Staates u n d des Rechtes gestellt u n d damit seinen Nachfolgern auch auf diesem Gebiete den Weg gewiesen zu haben. L i t e r a t u r . Immanuel K a n t , Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) — Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) — Zum ewigen Frieden (1795) — Metaphysik der Sitten (1797). Bruno B a u c h , Das Rechtsproblem in der Kantischen Philosophie. Ztschr. f. Rechtsphilosophie Bd. 3. Kurt B o r r i e s , Kant als Politiker. 1928. Gerhard D u l c k e i t , Naturrecht und positives Recht bei Kant 1932. Rudolf D f i n n h a u p t , Sittlichkeit, Staat und Recht bei Kant. 1926. Werner H a e n s e l , Kants Lehre vom Widerstandsrecht. 1926. Herbert K r a u s , Das Problem internationaler Ordnung bei Kant. 1931. Kurt L i s s e r , Der Begriff des Rechts bei Kant. 1922. Emst C a s s i r e r , Freiheit und Form. 1916.

B. F I C H T E . 1.

Die beiden Welten, das Reich der Freiheit oder des Geistes u n d das Reich der N a t u r , die K a n t so scharf geschieden und n u r andeutungsweise wieder vereinigt h a t t e , sucht Fichte aus einem einheitlichen Grunde zu begreifen u n d abzuleiten. Dieser einheitliche Grund k a n n n u r die Freiheit sein. Die N a t u r oder das System der gegenseitigen Abhängigkeit m u ß demnach als eine bloße Einschränkung der Freiheit betrachtet werden, als eine Einschränkung, die das freie Wesen selbst m a c h t , u m sich vermöge dieser Einschränkung als Selbst, als frei zu erkennen. Die Freiheit, bei K a n t n u r eine praktische „ I d e e " , ein unerläßliches ethisches Prinzip, wird d a m i t zur Grundlage des Seins und des Wissens ü b e r h a u p t , z u m theoretischen u n d metaphysischen Prinzip. „ I c h bin wirklich frei, ist der erste Glaubensartikel, der uns den Übergang in eine intelligible Welt b a h n t , u n d in ihr zuerst festen Boden darbietet. Dieser Glaube ist zu-

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gleich der Vereinigungspunkt zwischen beiden Welten, und v o n i h m geht unser System aus, das ja beide Welten umfassen soll. — Das Ich ist nicht aus dem Nicht-Ich, das Leben nicht aus dem Tode, sondern umgekehrt, das Nicht-Ich aus dem Ich abzuleiten: und darum muß von dem letzteren alle Philosophie ausgehen" (Sittenlehre, S. 58) 1 ). Die Freiheit wird von Fichte aber nicht nur als metaphysisches Prinzip, sondern, ganz anders als von Kant, zugleich persönlich gefaßt. Für Kant fällt die Freiheit durchaus mit der „Vernünftigkeit überhaupt" zusammen. Wenn auch die subjektive Seite der Selbstgesetzgebung, die Autonomie des Willens von ihm betont wird und zumal aus dem Pflichtbegriff nicht fortgedacht werden kann, so ist doch das Ich, das sich das Gesetz selbst gibt, für Kant nicht eigentlich das ganze, persönliche Ich, sondern „die Vernunft in mir". Demgegenüber verlegt Fichte, besonders in seinen ersten Schriften, den Nachdruck auf das persönliche Moment, auf die freie Tat des Subjekts. In zugespitzter Form könnte man sagen: Kant betrachtet als das Wesen der Persönlichkeit ihre Vernunft, Fichte als das Wesen der Vernunft die Persönlichkeit, die Form der Freiheit und Selbsttätigkeit, die Ichheit. Die Wendung, die Fichte d a m i t der kantischen Philosophie gegeben hat, ist ohne Zweifel in seinem Charakter tief begründet. Der leidenschaftliche persönliche Einsatz, die unerschütterliche Stärke seiner Überzeugung und sein d a m i t zusammenhängendes übersteigertes Selbstbewußtsein, ein trotziger Individualismus gehören zu den Grundbestandteilen seines Charakters. Dazu kommt der Drang zu wirken, zu handeln, u n d das Gefühl, alles sich selbst, seiner eigenen T a t k r a f t zu verdanken. Auch dieser Zug spiegelt sich in seiner Philosophie wieder: „Wer bin ich denn eigentlich, das ist was f ü r ein I n d i v i d u u m ? Und welches ist der Grund, daß ich d e r b i n ? Ich antworte: I c h bin von dem Augenblick an, da ich zum Bewußtsein gekommen, derjenige, zu welchem ich mich mit Freiheit mache, und bin es darum, weil ich mich dazu mache." (Sittenlehre S. 226.) Man h a t in der seelischen Haltung Fichtes u n d dem allgemeinen Charakter seiner ersten philosophischen Werke eine nahe Verwandtschaft zu der Stimmung des S t u r m und Drang b e m e r k t ; der Vergleich der angeführten Stelle mit Goethes Prometheus wird sich j e d e m aufdrängen. Man kann sagen, d a ß u n t e r den idealistischen Philosophen K a n t der Aufklärung, Fichte dem S t u r m und Drang, Schelling der Rom a n t i k am nächsten s t e h t , nur darf m a n nicht außer acht lassen, d a ß dem eigentlich philosophischen Gehalt eines Denkers immer d a n n Gewalt angetan wird, wenn m a n i h n lediglich als einen Ausdruck bestimmter zeitgeschichtlicher Strömungen verstehen will, u n d daß keiner der genannten Philosophen ausschließlich als Repräsentant einer der sich damals einander ablösenden und miteinander ringenden Geistesströmungen angesehen werden kann. So f ü h r t K a n t doch schon erheblich über die Aufklärung hinaus, während Fichte in seinen späteren Schriften sich romantischen Ideen s t a r k angenähert h a t , wie denn ü b e r h a u p t in der jede einmal gewonnene systematische F o r m wieder sprengenden, sich gleichsam an die Unendlichkeit verströmenden Bewegung seines Denkens ein romantischer Wesenszug gefunden werden k a n n .

Der Gedanke des Selbstbewußtseins als der Grundlage der Philosophie, die neue Bedeutung des Freiheitsgedankens und schließlich auch die politischen Ereignisse der Zeit, in der Fichte lebte und auf die er wirken ' ) Zitiert wird die Fichte-Ausgabe von Medicus in der Philosophischen Bibliothek.

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wollte, mußten dazu führen, ein Problem in den Mittelpunkt seines rechtsund staatsphilosophischen Denkens zu rücken, das für Kant noch kaum bestanden hatte: das Problem des Verhältnisses von Persönlichkeit und Gemeinschaft. Für Kant hatte dieser Gegensatz deshalb noch geringe Bedeutung, weil er es nur mit dem Individuum als Exemplar der Gattung und der „Vernunft überhaupt" zu tun hatte. Individuelle Persönlichkeit und Gemeinschaft sind Wechselbegriffe: nur wo die Persönlichkeit als eigengeartete Individualität in das Bewußtsein getreten ist, kann es zum Begriff der Gemeinschaft als eines konkreten und d. h. zugleich wieder individuellen geistigen Ganzen kommen und umgekehrt. Fichte hat sich freilich erst sehr allmählich zu diesem konkreten Begriff der Persönlichkeit und der Gemeinschaft hindurchgearbeitet ; die rationalistische Denkweise der Aufklärung und wohl auch der Einfluß Kants stehen dem noch lange entgegen. Die Ansätze der Problemstellung finden sich aber bereits in seinen ersten Schriften und ebenso die Grundzüge der für Fichte eigentümlichen Lösung. Fichtes Denken bewegt sich in kontradiktorischen Gegensätzen. Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, Tätigkeit und Leiden, Sollen und Sein sind die wichtigsten dieser Gegensatzpaare. Die Entgegengesetzten sind durchgängig aufeinander bezogen und ständig auf dem Wege, zur Einheit zu verschmelzen; das philosophische Denken besteht in der Aufzeigung dieser Wechselbezogenheit und der ständigen Annäherung an die Einheit — ohne daß diese aber jemals vollständig erreicht würde. Darin unterscheidet sich Fichte von Hegel, in dessen System die Gegensätze gerade in ihrer kontradiktorischen Zuspitzung als dialektisch aufgezeigt, d. h. schließlich in einer „übergreifenden" Einheit aufgehoben werden. Fichte strebt nur nach der Einheit, aber sie entflieht ihm; so erneuert sich das Streben, das nie sein Ziel erreicht. Diese Eigentümlichkeit in Fichtes Denken, tritt auch in seiner Rechts- und Staatsphilosophie in Erscheinung. In Fichtes metaphysischen Voraussetzungen, insbesondere in seinem Freiheitsbegriff, liegt von vornherein ein individualistischer wie ein universalistischer Ansatz 1 ); beide werden von Fichte zunächst auf ganz getrennten Gebieten entwickelt: der individualistische Ansatz in der Rechts- und Staatslehre, der universalistische in der Ethik, der Religionsphilosophie und der Kulturphilosophie. Lange Zeit gehen beide Betrachtungsweisen fast ohne sich zu berühren nebeneinander her; noch die Rechtslehre von 1812 wiederholt im wesentlichen die individualistischen Thesen des Naturrechts von 1796 über den Rechtsbegriff. Erst in seinen letzten Schriften, vor allem in der Staatslehre von 1813, macht Fichte den Versuch, beide Betrachtungsweisen zu vereinigen und den Staat damit wirklich in das Ganze seiner philosophischen Weltansicht einzugliedern. Bis er dazu gelangte, bedurfte es einer langen, unablässigen Arbeit an Das betont mit Recht Metzger, a. a. O. S. 125 ff.

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den Grundlagen seines Systems. D a ß dabei, im ganzen genommen, der universalistische Gedanke im Laufe seiner Entwicklung in immer stärkerem Maße hervortritt, ohne doch völlig den individualistischen zu überwinden, gibt dem Ringen Fichtes u m seine Staatsanschauung einen pakkenden, fast dramatischen Zug.

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Wir suchen zunächst den individualistischen sowohl wie den universalistischen Ansatz in Fichtes Freiheitsgedanken deutlich zu machen. I n den „Beiträgen zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution" (S. 65) unterscheidet Fichte drei Arten der Freiheit und beschreibt sie in folgender Weise: erstens die transzendentale Freiheit, „die in allen vernünftigen Geistern die gleiche i s t : das Vermögen, erste unabhängige Ursache zu sein"; zweitens die kosmologische Freiheit, „der Zustand, da m a n wirklich von nichts außer sich abhängt — kein Geist besitzt sie als der unendliche, aber sie ist das letzte Ziel der K u l t u r aller endlichen Geister"; endlich die politische Freiheit, „ d a s Recht, kein Gesetz anzuerkennen, als welches m a n sich selbst g a b " . Die Freiheit im ersten Sinne, die Fichte hier als die transzendentale bezeichnet, ist die Grundlage unseres Seins als Persönlichkeit. Der Philosoph wird sich ihrer bewußt in dem Akt der Selbsterkenntnis, in der Reflexion des Ich auf sich selbst, u n d zwar nicht auf sich als auf dieses bestimmte Individuum, sondern auf sich als ein Selbstbewußtsein, ein Ich als solches. E s k a n n nicht genug betont werden, daß „ d a s I c h " im Sinne Fichtes nicht das bestimmte einzelne Individuum, sondern das, was jedem Individuum zugrunde liegt, die Form der Persönlichkeit, die „ I c h h e i t " bedeutet. Ich erfasse mich als Ich, das bedeutet, ich setze mich als reine Tätigkeit des Selbstbewußtseins, als reine geistige A k t i v i t ä t oder Spontaneität allem Nicht-Ich entgegen, ich reiße mich von der Betrachtung aller Dinge außer mir los u n d wende meinen Blick allein auf mich, den Betrachtenden als s o l c h e n . Dieses Losreißen, diese Rückwendung des Bewußtseins auf sich selbst, k a n n n u r von i h m selbst, nicht v o n einem Objekt außer i h m ausgehen, da es sich j a in ihr selbst zum Objekt seiner Betrachtung macht. Sie ist also ein Akt a b s o l u t e r F r e i h e i t oder Selbsttätigkeit des Ich, und auf diesem Akte beruht die ganze Wissenschaftslehre. Die Wissenschaftslehre spricht diesen A k t des Selbstbewußtseins, durch den es sich als solches setzt — sich durch tätigen Vollzug hervorbringt, indem es sich denkt — in ihrem ersten Grundsatz aus: das Ich setzt sich selbst, und zwar als dasjenige, das sich selbst setzt (d. h. als Selbstbewußtsein), und d a m i t als frei. So wahr jeder Mensch, er mag i m übrigen welcher Geistesart immer sein, auf dem Grunde seines Wesens ein Ich, reine Tätigkeit u n d reines Selbstbewußtsein ist — weil er ohne dieses überhaupt nichts denken könnte — und die Möglichkeit h a t , durch einen A k t seiner Freiheit sich diesen seinen eigentlichen Charakter bewußt zu machen, so wahr h a t jeder Mensch transzendentale Freiheit: „das Vermögen, erste unabhängige Ursache zu sein." I n der „transzendentalen" und der aus ihr folgenden „ f o r m a l e n F r e i h e i t " liegt der Ansatzpunkt zu Fichtes individualistischer Rechts- u n d Staatskonstruktion. Die f o r m a l e Freiheit bedeutet die Möglichkeit, mich m i t B e w u ß t s e i n , nach einer Vorstellung oder, wie Fichte sagt, einem Begriff des gewollten Zweckes zum Handeln zu bestimmen, in tieferem Sinne die Fähigkeit jedes Individuums, s i c h s e l b s t z u d e m z u m a c h e n , w a s es i s t . D a r u m handle ich formell frei auch dann, wenn ich inhaltlich lediglich meinen natürlichen Trieben, meinen Neigungen und nicht der Pflicht folge, sofern es eben nur mit Bewußtsein geschieht. „ W a s auf den Trieb folgt (der Entschluß u n d die Handlung), wirkt nicht die N a t u r , denn sie ist m i t der Erscheinung des Triebes erschöpft; i c h wirke es, zwar mit einer K r a f t , die von der N a t u r a b s t a m m t , die aber doch nicht mehr ihre, sondern meine K r a f t ist, weil sie unter die Botmäßigkeit eines über alle N a t u r hinaus liegenden Prinzips, unter die des Begriffs gefallen ist. Wir wollen die Freiheit in dieser Rücksicht nennen die formale Freiheit.

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Was ich n u r m i t Bewußtsein t u e , t u e ich m i t dieser Freiheit. E s könnte demnach j e m a n d d e m N a t u r t r i e b ohne Ausnahme folgen, und er wäre, wenn er n u r mit Bewußtsein u n d nicht mechanisch handelte, dennoch frei i n dieser Bedeutung des Wortes". (Sittenlehre, S. 139.) Die in der transzendentalen enthaltene formale Freiheit Fichtes entspricht also, wie hieraus hervorgeht, nicht der Freiheit, sondern der Willkür i m Sinne K a n t s . Diese formale Freiheit oder Willkür ist es nun, die Fichte zur Grundlage des Rechtsbegriffs und des Staates m a c h t ; aus ihr leitet er insbesondere die politische Freiheit in d e m oben erwähnten Sinne her. Es ist einleuchtend, d a ß mit diesem Begriff der Freiheit als bloßer Willkür nur eine individualistische Rechtsund Staatslehre begründet werden kann. Die Freiheit i m formalen Sinne erschöpft aber nicht das Wesen des Menschen. Als endliches Wesen findet er sich zugleich mit der Absolutheit seiner Ichheit doch auch eingeschränkt, u n d er strebt daher danach, diese Einschränkung wieder aufzuheben u n d seine ursprüngliche Absolutheit wiederherzustellen. E r ist unendlich und endlich zugleich; dieses „Zugleich", das bei K a n t unbegriffen blieb, wird von Fichte als der unendliche Trieb gedeutet, die Einschränkung der ursprünglich i m Ich gesetzten Unendlichkeit wieder aufzuheben. „ D a s Ich ist endlich, weil es begrenzt sein soll; aber es ist i n dieser Endlichkeit unendlich, weil die Grenze ins Unendliche immer weiter hinausgesetzt werden k a n n . Es ist seiner Endlichkeit nach unendlich u n d seiner Unendlichkeit nach endlich." (Wissenschaftslehre von 1794, S. 177.) Die E n d lichkeit, die es d a n a c h aufzuheben strebt, ist seine eigene Beschaffenheit als N a t u r wesen. Durch das Wirken des Naturtriebs in mir bin ich abhängig; zwar nicht von den Dingen außerhalb meiner, denn der Trieb „geht lediglich aus meiner N a t u r hervor", aber doch v o n meiner natürlichen Beschaffenheit, also nicht von meiner Selbsttätigkeit. N u n h a t zwar der Naturtrieb keine absolute Gewalt über mich, weil ich formell frei bin. Der Trieb ist mir gegeben, es steht zwar nicht in meiner Gewalt, ihn zu empfinden oder nicht zu empfinden, aber es steht i n meiner Gewalt, i h n zu befriedigen oder nicht. Allein diese formelle Freiheit gegenüber dem Naturtrieb ist n u r die negative Seite meiner ursprünglich absoluten Freiheit. I n positiver Hinsicht ist diese bereits charakterisiert als unendlicher Trieb zur Selbsttätigkeit oder, wie Fichte j e t z t auch sagt, als „ein Trieb nach Freiheit u m der Freiheit willen." Die Freiheit, die d a m i t gefordert wird, ist die „materiale Freiheit", die darin besteht, daß das Ich, die Intelligenz, nicht n u r ü b e r h a u p t etwas wirkt (das wäre die formale Freiheit), sondern daß es „etwas ganz anderes wirkt, als die N a t u r j e bewirkt haben w ü r d e " (Sittenlehre, S. 143); nämlich die ständige Annäherung des endlichen Lebens a n das Unendliche. Eine Handlung ist nicht n u r ihrer Form, sondern auch ihrer Materie nach frei, wenn sie auf dem Wege der Annäherung an das absolute Ziel jedes endlichen Wesens, seine Einheit m i t d e m Unendlichen, liegt. Ich s o l l nicht n u r formal, sondern auch material frei h a n d e l n ; das ist meine P f l i c h t . Hier gewinnt Fichte den engen Anschluß an K a n t s E t h i k . „ I c h soll als Intelligenz auf eine bestimmte Weise handeln, d. h. ich soll mir des Grundes bewußt sein, aus welchem ich gerade so handle. Dieser Grund k a n n kein anderer sein, weil es kein anderer sein darf, als der, daß die H a n d lung in der beschriebenen Reihe (der Annäherung an das Unendliche) liege; oder — da dies n u r eine philosophische Einsicht ist, keineswegs die des gemeinen Bewußtseins — n u r der, daß diese H a n d l u n g Pflicht sei. Also ich soll handeln lediglich nach dem Begriff meiner Pflicht; n u r durch den Gedanken mich bestimmen lassen, daß etwas Pflicht sei, u n d schlechthin durch keinen andern." (S. L., S. 158.) I c h soll pflichtmäßig aus Pflicht handeln, das bedeutet soviel wie: ich soll frei handeln aus Freiheit, u m der Freiheit willen; die Freiheit (im materialen Sinne) ist m i r also Aufgabe, sittliche Forderung. Die Verwirklichung dieser Aufgabe ist „das letzte Ziel alles endlichen Geistes".

Der sittliche Trieb nach absoluter Freiheit, der sich uns als Sollen kundtut, ist „Trieb der Ichheit": er gehört mir nicht als diesem oder je-

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n e m , so oder so beschaffenen I n d i v i d u u m an, sondern mir als „ r e i n e m I c h " . D a h e r geht er n i c h t auf die Selbständigkeit v o n m i r als I n d i v i d u u m , sondern auf die Selbständigkeit „aller V e r n u n f t " . Die V e r n u n f t stellt sich a b e r vollständig nicht in einem einzelnen I n d i v i d u u m , sondern i n mehrer e n I n d i v i d u e n d a r . Diesem G e d a n k e n h a t t e F i c h t e bereits in seinem N a t u r r e c h t A u s d r u c k gegeben, i n d e m er nachwies, d a ß der Schritt v o m reinen Ich z u m I n d i v i d u u m n u r d a d u r c h geschehen k ö n n e , d a ß m e h r e r e I n d i v i d u e n a n g e n o m m e n w ü r d e n . „Sollen ü b e r h a u p t Menschen sein, so müssen mehrere s e i n " ( N a t u r r e c h t , S. 43). Hier liegt der universalistische A n s a t z in F i c h t e s D e n k e n . Weil die unendliche V e r n u n f t n u r in der Mehrheit oder richtiger in der Allheit der endlichen I n d i v i d u e n dargestellt werd e n k a n n , d a r u m f o r d e r t die w a h r e sittliche Freiheit zu ihrer Verwirklichung die G e m e i n s c h a f t . A u f g a b e u n d Wesen dieser G e m e i n s c h a f t ist die wechselseitige Mitteilung der ethischen Überzeugungen u n d E r z i e h u n g aller zur Sittlichkeit. E s ist d a h e r Pflicht eines j e d e n , diesem „ e t h i s c h e n Gemeinwesen*' anzugehören. „ D i e w a h r e T u g e n d b e s t e h t i m H a n d e l n ; i m H a n d e l n f ü r die Gemeine, wobei m a n sich selbst gänzlich vergesse." D a s I n d i v i d u u m erscheint hier nicht m e h r als Selbstzweck, sondern als Mittel f ü r d e n absoluten V e r n u n f t z w e c k . Freiheit i m h ö c h s t e n ethischen Sinne ist n i c h t m e h r die Willkür, das trotzige Begehren des I n d i v i d u u m s , sondern seine frei gewollte E i n o r d n u n g i n die G e m e i n s c h a f t — die freilich z u n ä c h s t v o n F i c h t e n u r als eine unendliche A u f g a b e , nicht als ein empirisch-wirkliches Gemeinwesen begriffen wird. V o n v o r n h e r e i n s t e h t also bei F i c h t e eine universalistisch gerichtete E t h i k n e b e n einer individualistischen Rechts- u n d Staatslehre. Beide ber u h e n auf d e m idealistischen Freiheitsgedanken, der sich aber bei F i c h t e s p a l t e t in d e n G e d a n k e n f o r m a l e r Selbständigkeit des I n d i v i d u u m s u n d m a t e r i a l e r ethischer G e b u n d e n h e i t a n die Idee der G e m e i n s c h a f t . E s fehlt jedoch das v e r m i t t e l n d e Glied: die Realisierung der Gemeinschaftsidee in einer k o n k r e t e n sozialen G e m e i n s c h a f t . Die S p a l t u n g ist d a h e r zun ä c h s t vollständig; Rechtslehre u n d E t h i k werden v o n F i c h t e schärfstens g e t r e n n t , u n d noch 1812 r ü h m t er sich, d a ß er diese T r e n n u n g zuerst d u r c h g e f ü h r t h a b e . Der G r u n d d a f ü r liegt nicht e t w a allein in d e m rein t h e o r e t i s c h e n B e d ü r f n i s n a c h scharfer Grenzziehung, sondern der tiefste G r u n d d ü r f t e in d e m B e s t r e b e n Fichtes z u erblicken sein, die sein D e n k e n erfüllenden Prinzipien des Individualismus u n d des Universalismus j e d e s in einer a b g e s o n d e r t e n S p h ä r e allein f ü r sich darzustellen. D a ß er t r o t z d e m bei dieser T r e n n u n g schließlich n i c h t stehen bleiben k o n n t e , d a ß er eine Vereinigung wenigstens a n s t r e b t e , d a z u h a b e n n e b e n der V e r t i e f u n g seiner Philosophie seine politischen Erlebnisse m i t g e w i r k t , die i h n i n d e r V e r b i n d u n g m i t d e m n a t i o n a l e n G e d a n k e n eine höhere A u f g a b e des S t a a t e s a h n e n ließen.

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2. I n Fichtes rechts- u n d staatsphilosophischem Denken ist der Einfluß R o u s s e a u s u n v e r k e n n b a r , wenn auch nicht übersehen werden darf, d a ß Fichte ebenso wie K a n t ethischer Idealist ist u n d sich niemals die eudämonistische Grundlage der westeuropäischen Staatsdoktrin zu eigen gemacht h a t . Rousseaus politische Theorie enthält zwei verschiedene Ansätze, einen liberalen u n d einen demokratischen. Der liberale liegt in sein e m Ausgangspunkt : der Betonung der Unveräußerlichkeit der individuellen Freiheit; der demokratische in der Anerkennung der schrankenlosen Souveränität der volonté générale. Fichte h a t vorwiegend den liberalen Ansatz fortgebildet, während die im Gegensatz dazu demokratischen Elemente bei ihm eine m e h r sekundäre Rolle spielen u n d n u r zeitweilig stärker b e t o n t werden. Die Freiheit des Individuums erscheint Fichte als der letzte Zweck des Rechts und des Staates, den er wenigstens anfänglich auf die Aufgabe der Sicherung des Rechts beschränken will. Diese Freiheit bedeutet i h m , anders als K a n t , die Willkür, genauer die Möglichkeit, nach Belieben auf Gegenstände der Sinnenwelt einzuwirken. Da n u n der Einwirkung mehrerer Individuen n u r eine u n d dieselbe Sinnenwelt offensteht, so müssen sie, u m überhaupt als frei nebeneinander bestehen zu können, ihre Freiheit gegenseitig einschränken, indem sie sich wechselseitig bestimmte Sphären zu ausschließlicher Einwirkung vorbehalten u n d d a f ü r jeden a n d e r n in seiner Sphäre gewähren lassen. Diese gegenseitige Einschränkung der Freiheitssphäre geschieht durch das Rechtsgesetz. Das Rechtsgesetz ist ein hypothetisches Gesetz: es besagt, daß, wenn ü b e r h a u p t mehrere Menschen als frei nebeneinander leben wollen, jeder seine Freiheit in gewisser Weise einschränken müsse. D a ß aber mehrere Menschen als frei nebeneinander leben sollen, wird hier nicht als eine ethische Forderung, sondern als eine logische Konsequenz aus den Prämissen der Wissenschaftslehre betrachtet. D a m i t ist denn die Scheidung des Rechts von der Moral vollzogen ; das Recht erscheint auf dem Standp u n k t e der Rechtslehre ausschließlich als eine Sache theoretischer Folgerichtigkeit, keineswegs als eine Erfüllung ethischer Aufgaben. N u n wird aber das tatsächliche Handeln der Menschen nicht allein durch theoretische Konsequenz bestimmt. Soll das Rechtsgesetz daher wirklich das Handeln bestimmen, so m u ß ihm praktische Geltung verschafft werden. Das k a n n aber, da die Freiheit eines jeden ursprünglich unbeschränkt ist, n u r dadurch geschehen, „ d a ß jeder fortdauernd sich selbst m i t Freiheit es zum Gesetze m a c h t " . Alles Recht ist demnach in seiner praktischen Geltung abhängig von der freien Willkür der Individuen. I n seinem I n h a l t dagegen ist es durch theoretische Konsequenz notwendig bestimmt. Der F o r m der Rechtsverbindlichkeit nach k a n n es n u r beruhen auf einem Vertrage aller mit allen, dem Staatsvertrage, durch den jeder seiner Willkür freiwillig Schranken zieht; seinem I n h a l t nach

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ist es durch das vernünftige Rechtsgesetz und durch die bestimmte physische Lage der betreffenden Rechtsgemeinschaft gegeben, „wie durch die zwei Faktoren das Produkt gegeben ist". Wenn daher, meint Fichte 1812, eine das Recht wollende Staatsgewalt sich auf dem Wege der Gewaltanwendung gebildet hätte, so „wird immer, wenn auch die Materie des Rechts rein heraustritt, dennoch gegen die Form des Rechts gefehlt, indem einige wider ihren Willen, und ohne ihre Einsicht gezwungen werden, in den rechtlichen Zustand sich zu begeben. — Der Form des Rechts gemäß kann die Staatsgewalt nur durch alle errichtet werden". — Das schließt freilich nicht aus, wie er hier hinzufügt, daß durch höhere sittliche Prinzipien auch eine andere formal rechtswidrige Errichtung des Staates sittlich gerechtfertigt werden könne. — Auf dem bloßen Rechtsgebiete aber kann sich alle Verbindlichkeit nur auf die Einwilligung der Einzelnen gründen; über dieses Prinzip darf die Rechtslehre nicht hinausgehen. Schon in den „Beiträgen über die französische Revolution" hatte Fichte das mit aller Klarheit ausgesprochen und zugleich auf den Zusammenhang dieser Lehre mit der Rousseaus hingewiesen: „Also die Frage war: woher entsteht die Verbindlichkeit der bürgerlichen Gesetze ? Ich antworte: aus der freiwilligen Übernahme derselben durch das Individ u u m ; und das Recht, kein Gesetz anzuerkennen, als dasjenige, welches man sich selbst gegeben hat, ist der Grund jener souverainité indivisible, inalienable des Rousseau." Die Auffassung, daß das Recht nach seiner Form auf der Willkür, nach seinem Inhalt aber auf logischer Konsequenz beruhen müsse, bestimmt auch Fichtes Stellung zum Gedanken des N a t u r r e c h t s . Praktische Geltung erhält das Recht nur durch den Zusammenschluß der Individuen zu einer das Recht wollenden und sichernden Macht, dem Staate. Daher ist außer dem Staate kein Recht. Das Naturrecht im Sinne vorstaatlich geltender Rechtsnormen ist also unmöglich; auf der anderen Seite ist aber alles positive, staatliche Recht inhaltlich durch das Vemunftrecht bestimmt. „Alle positiven Gesetze stehen, näher oder entfernter, unter der Regel des Rechts. Es gibt in ihnen keine Willkür und kann keine geben, sie müssen so sein, daß jeder Verständige und Unterrichtete dasselbe Gesetz notwendig geben müßte." In der Rechtslehre von 1812 heißt es auf der einen Seite: „Alles Recht ist reines Vernunftrecht", auf der andern Seite: „Es gibt kein Naturrecht, sondern nur ein Staatsrecht." Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs liegt in der Unterscheidung von Form und Inhalt des Rechts. In diesem Gegensatz lebt der von Fichte nur scheinbar überwundene Gegensatz des Naturrechts und des positiven Rechts weiter. Seiner Form nach ist alles Recht positiv, seinem Inhalt nach Vemunftrecht. Das positive Recht ist das durch die sich selbst bindende Willkür der Einzelnen zum praktisch-verbindlichen Gesetz erhobene Vernunftrecht.

Die Idee des S t a a t s v e r t r a g e s , die Kant nur noch als regulativer Maßstab und als eine Einkleidung des Gedankens der Gesetzgebung der Vernunft diente, wird von Fichte in extrem individualistischer Ausdeutung zur normativen Grundlage aller und jeder Rechtsverbindlichkeit gemacht. Nur diejenigen, die den Staatsvertrag abgeschlossen haben, gehören dem Staate an, und niemand kann daher zur Teilnahme am Staate

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gezwungen werden. „ J e d e r m u ß f ü r seine Person erklären, d a ß er m i t dieser b e s t i m m t e n Volksmenge in ein gemeines Wesen zur E r h a l t u n g des R e c h t s z u s a m m e n t r e t e n wolle." Von irgendeiner n a t i o n a l e n oder a u c h n u r ethischen B i n d u n g a n d e n S t a a t ist nicht die R e d e . Seine B e g r ü n d u n g u n d seine F o r t e x i s t e n z h ä n g t d u r c h a u s v o n der W i l l k ü r der Einzelnen a b . Gegenüber diesem durch und dnrch individualistischen Ausgangspunkt will es auch wenig oder vielmehr nichts besagen, wenn Fichte gelegentlich den Staat mit einem organisierten Naturprodukt vergleicht, um darzutun, daß er mehr sei als ein bloßer abstrakter Begriff. Fichte will damit doch keineswegs sagen, daß der Staat ein seinen Teilen gegenüber selbständiges Ganzes, eine gleichsam organische Lebenseinheit sei; betrachtet er ihn vielmehr doch noch in seinen späteren Schriften durchaus als eine künstliche Anstalt und betont im unmittelbaren Anschluß an den Vergleich mit dem Naturprodukt, daß er durch Verträge der Einzelnen mit den Einzelnen entstanden sei und dadurch vollendet werde, daß alle Einzelnen mit allen Einzelnen, als einem Ganzen kontrahierten. Es ist daher nicht angängig, den Fichte der Jahre 1796 bis 1800 als einen Vorläufer der organischen Staatsauffassung zu bezeichnen.

So wie der E i n t r i t t i n d e n S t a a t v o m Belieben des Einzelnen a b h ä n g t , so k a n n er a u c h jederzeit wieder aus i h m a u s t r e t e n u n d sich m i t a n d e r n B ü r g e r n , sogar auf demselben T e r r i t o r i u m ! , zu e i n e m n e u e n Staatswesen vereinigen. Selbst i n n e r h a l b des einmal b e g r ü n d e t e n S t a a t e s wird f ü r die wichtigsten Volksbeschlüsse E i n s t i m m i g k e i t v e r l a n g t ; wo diese n i c h t zu erzielen ist, schließt sich die Minderheit v o n der weiteren T e i l n a h m e a n diesem S t a a t e aus, w o d u r c h d a n n allerdings „die E i n s t i m m i g k e i t wiederhergestellt w i r d " . D a s Mehrheitsprinzip h a t F i c h t e ü b e r h a u p t nie f ü r ein v e r n ü n f t i g e s P r i n z i p gehalten. I n der Rechtslehre v o n 1812 heißt es sogar, solange noch m e h r schlechte als gute Menschen v o r h a n d e n seien, k ö n n e m a n m i t Sicherheit darauf r e c h n e n , d a ß n i c h t der Vorschlag der Weisen u n d G u t e n , sondern der der Unweisen die M a j o r i t ä t f ü r sich gewinnen w ü r d e . Liegt d a r i n schon eine deutliche A b k e h r v o n d e m o k r a t i schen Prinzipien, so t r i t t diese noch s t ä r k e r h e r v o r , wenn Fichte m i t ausdrücklicher Polemik gegen Rousseau b e t o n t , d a ß sich der Einzelne d u r c h den S t a a t s v e r t r a g keineswegs ganz a n d e n S t a a t h i n g ä b e , sondern i h m n u r einen Beitrag leiste. „ W a s der Einzelne nicht z u m S t a a t s z w e c k beigetragen, in A b s i c h t dessen i s t er völlig f r e i ; ist in dieser R ü c k s i c h t n i c h t in das Ganze des S t a a t s k ö r p e r s verwebt, sondern bleibt I n d i v i d u u m ; freie, n u r v o n sich selbst a b h ä n g i g e Person, u n d diese F r e i h e i t eben ist es, die i h m d u r c h die S t a a t s g e w a l t gesichert wird, u n d u m derenwillen allein er den V e r t r a g einging." G e r a d e in der B e h a u p t u n g u n d Verteidigung einer absolut s t a a t s f r e i e n S p h ä r e des I n d i v i d u u m s liegt j a das unterscheidende M e r k m a l der liberalen gegenüber der d e m o k r a t i s c h e n S t a a t s a u f f a s s u n g ; Fichtes S t a a t s a u f f a s s u n g ist daher hier in ihren G r u n d z ü g e n d u r c h a u s liberal. In verfassungspolitischer Hinsicht vertritt Fichte den Grundsatz der Volkssouveränität und verwirft die liberale Theorie der Gewaltenteilung. Statt dessen stellt er der exekutiven Gewalt, die bei ihm auch die legislative und die richterliche Gewalt

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umfaßt, eine Aufsichtsbehörde, das M Ephorat", zur Seite, die darüber wachen soll, daß die Regierung die Gesetze einhält. Ob die Regierung selbst monarchisch, aristokratisch oder demokratisch sein soll, erklärt er 1796 für eine Frage nicht der Rechtslehre, sondern der Politik, während er 1812 der erblichen Monarchie einen gewissen Vorzug zuerkennt, weil der Monarch am wenigsten der Versuchung ausgesetzt sei, von Privatpersonen Wohltaten anzunehmen. Die Ephoren haben also die Aufgabe, eine Rechtsverletzung durch die Regierung zu verhindern. Zu diesem Zwecke sollen sie immer dann, aber auch nur dann, wenn sie eine solche feststellen, die Volksversammlung einberufen, in der nun die Ephoren und die Regierung gewissermaßen als Prozeßparteien auftreten; die unterlegene Partei ist des Hochverrats schuldig und wird demgemäß bestraft. Der Gedanke des Ephorats wurzelt wiederum in dem liberalen Mißtrauen gegen die Staatsgewalt. Allein wenn man schon der Regierung mißtraut und die Ephoren einsetzt, um die Regierung zu überwachen, so liegt es nahe zu fragen, wer dann wiederum die Ephoren überwacht, damit sie nicht etwa gemeinsame Sache mit der Regierung machen, um das Volk zu betrügen. Fichte hat sich diesen Einwand später selbst gemacht und in der richtigen Erkenntnis, daß in jedem Staate eine letzthin souveräne, „alles zwingende, und selbst nicht zu zwingende" Gewalt vorhanden sein müsse, den Gedanken des Ephorats wieder aufgegeben.

Der liberale Rechts- u n d S t a a t s g e d a n k e Fichtes e r f ä h r t n u n aber eine wesentliche E i n s c h r ä n k u n g u n d D u r c h b r e c h u n g d u r c h seine soziale, j a sogar teilweise sozialistische E i g e n t u m s - u n d W i r t s c h a f t s t h e o r i e . Eigent u m b e d e u t e t F i c h t e eine d e m I n d i v i d u u m zu ausschließlicher B e t ä t i g u n g überlassene S p h ä r e der A u ß e n w e l t . E n t s p r e c h e n d seiner ganzen Denkweise, die d e n A k z e n t v o m Sein auf die T ä t i g k e i t verlegt, w e n d e t sich F i c h t e gegen die h e r k ö m m l i c h e Auffassung des E i g e n t u m s , die dessen Wesenskern in d e m rechtlich g e s c h ü t z t e n Besitz, in d e m „ H a b e n " u n d „ I n n e h a b e n " der Sache erblickt, u n d b e t r a c h t e t s t a t t dessen das Eigent u m als „ein ausschließendes R e c h t auf eine b e s t i m m t e freie T ä t i g k e i t " . Diese „ d y n a m i s c h e " E i g e n t u m s a u f f a s s u n g dient F i c h t e zur B e g r ü n d u n g eines sozialen B o d e n r e c h t s : der G r u n d e i g e n t ü m e r h a t nicht ein R e c h t auf den B o d e n , sondern n u r auf ausschließliche B e a r b e i t u n g des Bodens. Der B o d e n selbst ist ü b e r h a u p t kein O b j e k t möglicher R e c h t e : „ D i e E r d e ist des H e r r n ; des Menschen ist n u r d a s Vermögen, sie zweckmäßig anzub a u e n u n d zu b e n u t z e n . " Der G r u n d e i g e n t ü m e r h a t d a h e r n u r d a s R e c h t , andere v o n solchem Gebrauche des G r u n d s t ü c k s auszuschließen, der sein e m eigenen Gebrauche w i d e r s t r e b t ; dagegen darf er einen seinem eigenen G e b r a u c h e unschädlichen f r e m d e n G e b r a u c h nicht h i n d e r n . U n a n g e b a u t e r Boden i s t E i g e n t u m der Gemeine u n d soll verteilt werden, sobald das Bed ü r f n i s d e r Einzelnen es e r f o r d e r t . Wichtiger ist aber noch eine andere Gedankenreihe, die F i c h t e a n seinen Eigentumsbegriff a n k n ü p f t . D u r c h den S t a a t s v e r t r a g soll j e d e m I n d i v i d u u m eine b e s t i m m t e F r e i h e i t s s p h ä r e gesichert werden. Der Inber griff dessen, was i n seine Freiheitssphäre fällt, ist sein E i g e n t u m . D e n ers t e n B e s t a n d t e i l des S t a a t s v e r t r a g e s bildet d a h e r der „ E i g e n t u m s v e r t r a g " , d u r c h d e n j e d e m I n d i v i d u u m b e s t i m m t e O b j e k t e — g e n a u e r das R e c h t , a n b e s t i m m t e n O b j e k t e n b e s t i m m t e oder beliebige H a n d l u n g e n vorzun e h m e n — zugewiesen werden. J e d e r m u ß d a h e r u r s p r ü n g l i c h n a c h d e m

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R e c h t s g e s e t z e E i g e n t u m e r h a l t e n , u n d der U m f a n g der E i g e n t u m s s p h ä r e n m u ß gleich sein, d a sonst einige n i c h t frei oder weniger frei w ä r e n als andere. Der Zweck des E i g e n t u m s ist a b e r nicht der Besitz, sondern die T ä t i g k e i t . Die T ä t i g k e i t , die hier in B e t r a c h t k o m m t , ist z u n ä c h s t eine w i r t s c h a f t l i c h e ; ihr Zweck ist, leben zu k ö n n e n . J e d e r m u ß d a h e r , soll eine G e m e i n s c h a f t Freier b e s t e h e n k ö n n e n , in der Lage sein, d u r c h die B e a r b e i t u n g seines E i g e n t u m s leben zu k ö n n e n . D a h e r ist ein G r u n d s a t z j e d e r v e r n ü n f t i g e n S t a a t s v e r f a s s u n g : „ J e d e r m a n n soll v o n seiner A r b e i t leben k ö n n e n . " D a r a u s folgert F i c h t e schon i n seinem N a t u r r e c h t ein R e c h t auf A r b e i t u n d auf A r b e i t s l o s e n u n t e r s t ü t z u n g . V o n hier aus gelangt er n u n i n seinem „geschlossenen H a n d e l s s t a a t " z u der K o n z e p t i o n eines sozialistischen W i r t s c h a f t s s t a a t e s . Freilich ist F i c h t e s Sozialismus v o n d e m v o n K a r l Marx erheblich u n t e r s c h i e d e n ; seine G r u n d l a g e bildet n i c h t die V e r g e m e i n s c h a f t u n g der P r o d u k t i o n s m i t t e l , sondern gerade d a s P r i v a t e i g e n t u m , a u c h a n d e n P r o d u k t i o n s m i t t e l n . D e r Sozialismus des 19. J a h r h u n d e r t s ist aus der P r o b l e m a t i k d e r b e g i n n e n d e n Industrialisierung e r w a c h s e n ; F i c h t e h a t n o c h agrarische Verhältnisse v o r A u g e n ; in d e m v o n i h m e n t w o r f e n e n S t a a t e gibt es a u ß e r d e n B e a m t e n n u r drei S t ä n d e : die A c k e r b a u e r , H a n d w e r k e r u n d K a u f l e u t e . Sozialistisch ist dieses Staatswesen aber insofern, als es, u m j e d e m sein R e c h t auf Arbeit u n d auf die Möglichkeit, d u r c h seine Arb e i t leben z u k ö n n e n , sicherzustellen, die gesamte P r o d u k t i o n u n d K o n s u m t i o n sowie d e n G ü t e r u m l a u f g e n a u berechnet u n d vorschreibt, was d a n n freilich die völlige wirtschaftliche Abschließung gegen das Ausland, d e n „geschlossenen H a n d e l s s t a a t " , zur Voraussetzung h a t . D e r S t a a t b e s t i m m t h i e r n a c h z u n ä c h s t die Z a h l derjenigen, die sich jeweils einem b e s t i m m t e n Berufe w i d m e n d ü r f e n , er ü b e r w a c h t die P r o d u k t i o n , bes t i m m t die Preise u n d regelt den A b s a t z , j a er b e s t i m m t zugleich die A r t u n d d a s M a ß der K o n s u m t i o n . D e n n „es sollen erst alle s a t t sein u n d fest w o h n e n , ehe einer seine W o h n u n g s c h m ü c k t , erst alle b e q u e m u n d w a r m gekleidet sein, ehe einer sich p r ä c h t i g kleidet. E s geht nicht a n , d a ß einer s a g e : ich a b e r k a n n es bezahlen. E s ist eben U n r e c h t , d a ß einer das E n t behrliche bezahlen k a n n , indessen irgendeiner seiner Mitbürger das Notwendige n i c h t v o r h a n d e n findet oder n i c h t bezahlen k a n n " . „ I n diesem S t a a t e sind alle Diener des Ganzen, u n d e r h a l t e n d a f ü r i h r e n gerechten Anteil a n d e n G ü t e r n des Ganzen. Keiner k a n n sich sonderlich bereichern, a b e r es k a n n a u c h keiner v e r a r m e n . Allen Einzelnen ist die F o r t d a u e r ihres Z u s t a n d e s , u n d d a d u r c h d e m Ganzen seine ruhige u n d gleichmäßige F o r t d a u e r g a r a n t i e r t . " So zeigt sich F i c h t e hier noch einmal als e x t r e m e r R a tionalist, d e r g l a u b t , alles u n d jedes berechnen u n d in einem genau vorbed a c h t e n G a n g erhalten zu k ö n n e n , ohne zu sehen, d a ß die I r r a t i o n a l i t ä t des Lebens, die sich hier in d e m S c h w a n k e n der Bevölkerungszahl, der Verschiedenheit u n d d e m Wechsel der Bedürfnisse wie ü b e r h a u p t in der R e l a t i v i t ä t aller solcher Begriffe wie d a s „ N o t d ü r f t i g e " u n d schließlich

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in dem unvertilgbaren Drang des Menschen äußert, den ausgetretenen Pfad der allgemeinen Wohlfahrt zu verlassen, u m auf eigene Gefahr Neues zu erproben, aller Berechnung immer wieder spotten wird. Wie aber verträgt sich diese Konstruktion eines sozialistischen Zwangsstaates mit den liberalen Thesen in Fichtes Naturrecht ? Es ist nicht anzunehmen, daß zwischen dem Naturrecht und dem geschlossenen Handelsstaat, der i m Jahre 1800 erschienen ist, ein grundsätzlicher Wandel in Fichtes Staatsauffassung eingetreten sei. 10

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Dagegen spricht einmal die Tatsache, daß die Grundgedanken des geschlossenen Handelsstaats, das R e c h t auf Arbeit und auf Existenz, schon im Naturrecht ausgesprochen sind, an das der geschlossene Handelsstaat ausdrücklich a n k n ü p f t ; sodann aber die Rechtslehre v o n 1812, die alle liberal-individualistischen Thesen des N a t u r rechts wiederholt und zugleich den Versuch macht, die Gedanken des geschlossenen Handelsstaats in Fichtes individualistische Gesamtkonzeption einzufügen. Das ist Fichte deshalb möglich, weil sein Sozialismus selbst individualistisch gedacht ist. Auch der heutige, von Marx ausgehende Sozialismus ist j a , worüber sich führende Rechtsphilosophen der Gegenwart einig sind, „eine Form des rechtsphilosophischen Individualismus" 1 ), weil er das Ziel alles gesellschaftlichen Lebens ausschließlich in der W o h l f a h r t der Einzelnen erblickt. Der soziale Gedanke als solcher kann ebensowohl auf individualistischer wie auf universalistischer Grundlage beruhen; im ersten Falle wird er darauf abzielen, das Individuum um seiner selbst willen zu sichern und es vor dem Absinken in A r m u t und Not zu bewahren, während er sich in dem letzten Falle darauf richtet, in und mit dem Individuum die Gemeinschaft, das Volksganze zu erhalten, die auf sich gestellten Einzelnen in den Lebensprozeß des Ganzen einzugliedern u n d d a m i t diesen, a l s s o l c h e n f ü r w e r t v o l l e r k a n n t e n Lebengprozeß in immer stärkerem Maße zur E n t f a l t u n g zu bringen. Bei Fichte n u n , darüber dürfen Wendungen wie die, daß in diesem Staate jeder ein Diener des Ganzen sein würde, nicht hinwegtäuschen, ist der soziale Gedanke im ganzen noch durchaus individualistisch gedacht. Das eigentliche Ziel der sozialistischen Wirtschaftsregelung besteht darin, dem Menschen die Sorge f ü r seine materielle Existenz möglichst abzunehmen, u m i h m Zeit und Muße zu verschaffen, „seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist". I n der niederen Sphäre der Wirtschaft, der Arbeit f ü r den Lebensunterhalt, herrsche strenger Zwang, d a m i t sich der Mensch in der höheren Sphäre des Geistes umso freier bewegen könne! In diesem Sinne löst dann auch die Rechtslehre v o n 1812 den Widerspruch zwischen d e m staatlichen Zwang u n d der Freiheit, u m deren Sicherung willen der Staatsvertrag doch n u r geschlossen wird. „ N u n wird der ganze Eigentumsvertrag geschlossen u n d der Rechtszustand eingegangen, lediglich u m der Freiheit willen. Aber durch die Vorkehrungen, die wir treffen, sie zu schützen, sehen wir das gerade Gegenteil erfolgen, ihre Vernichtung — Lösung: J e d e m m u ß d a r u m nach Befriedigung seiner eigenen N o t d u r f t u n d Erfüllung seiner Bürgerpflichten noch Freiheit übrigbleiben f ü r frei zu entwerfende Zwecke. — Diese Freiheit f ü r frei zu entwerfende Zwecke (eigentlich zunächst f ü r freie Bildung und Bildung zur Freiheit) ist das absolut persönliche R e c h t , das kein Vertrag verletzen darf, f ü r dessen Sicherung vielmehr der ganze Rechtsvertrag errichtet w u r d e . "

So ist es der alte liberale Gedanke der staatsfreien Sphäre des Individuums, der hinter d e m sozialistischen Staatsaufbau als der eigentliche

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') So R a d b r u c h , Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, S. 65; vgl. auch Binder, Philosophie des R e c h t s 1925, S. 302 ff. u n d die dort Anmerkg. 31 Genannten, sowie Brunstäd, Deutschland u n d der Sozialismus, 2. Aufl. 1927, S. 159—173.

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Staatszweck sichtbar wird. Daß solche a b s t r a k t e T r e n n u n g des wirtschaftlichen u n d des höheren geistigen Lebens praktisch nicht durchzuf ü h r e n ist, h a t sich Fichte nicht klar gemacht, u n d so k o m m t er dazu, i m S t a a t e „zwei durchaus verschiedene Seiten" zu unterscheiden. Auf der einen Seite ist er Zwangsanstalt, er ist „ d a s R e c h t selbst, zu einer zwingenden Natuxgewalt geworden", auf der andern Seite besteht sein Recht „ a b e r n u r u n t e r der Bedingung einer Verpflichtung, die höhere Freiheit aller, die Unabhängigkeit aller von i h m (!) zu sichern' 1 . N i m m t m a n hinzu, d a ß nach Fichtes dauernd festgehaltener u n d 1812 wieder deutlich ausgesprochener Ansicht der Staat überflüssig wird, wenn das absolute Ziel der Menschheit, die Sittlichkeit aller, erreicht ist — weil d a n n jeder freiwillig das Gebotene tun wird u n d es daher keines Zwanges mehr bedarf — d a ß also, u n t e r geschichtsphilosophischem Aspekt, die staatsfreie Sphäre der Individuen immer größer werden soll, bis z u m Schluß der S t a a t ganz fortfällt, so wird m a n nicht g u t d a r a n zweifeln können, d a ß Fichte in seiner Rechtsphilosophie bis z u m J a h r e 1812 durchaus u n d ohne Schwanken an der individualistischen Grundlage festgehalten h a t . Diese individualistische Grundlage ermöglicht ihm, Gedanken des politischen Liberalismus m i t denen eines wirtschaftlichen Sozialismus zu einer hinsichtlich der praktischen Durchführbarkeit gewiß trügerischen Einheit zu verbinden. Von einer ganz andern Seite als der Rechts-, Staats- u n d Wirtschaftsphilosophie her h a t Fichte zuerst einer universalistischen Staatsauflassung bahngebrochen. 3. Wir h a t t e n gesehen, d a ß schon die Sittenlehre von 1798 in der Idee einer sittlichen Gemeinschaft gipfelte, in der sich die eine, reine Form des Geistes in der Mannigfaltigkeit der ihre Pflichten erfüllenden Individuen darstellte. Diese Konzeption erfährt eine wesentliche Vertiefung und Umgestaltung durch die Fortbildung der metaphysischen Grundansichten seit 1800. Während nämlich jene Darstellung der unendlichen Vernunft in der Gemeinschaft zunächst als ein nie ganz erreichbares ethisches Fernziel gedacht war, erscheint sie n u n m e h r als die ewige Gegenwart des göttlichen Willens i m menschlichen, als eine j e t z t u n d jederzeit vorhandene übersinnliche Wirklichkeit, deren wir uns nicht n u r bemächtigen sollen, sondern auch können. Z u m ersten Male finden wir das in der Schrift über die „ B e s t i m m u n g des Menschen" (1800) ausgesprochen. Hier heißt es, die übersinnliche Welt sei keine zukünftige Welt, sie sei gegenwärtig u n d könne in keinem P u n k t e des endlichen Daseins gegenwärtiger sein als in dem andern. Die Teilnahme an diesem übersinnlichen Reich, die in der vollen Hingabe des Individuums an Gott besteht, ist das ewige Leben u n d die ewige Seligkeit; die Gemeinschaft ist daher nicht mehr n u r eine unvollendbare Aufgabe, nach deren Verwirklichung zu streben die Einzelnen durch das Sittengesetz verbunden sind, sondern das jederzeit ge-

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forderte, oder auch jederzeit mögliche Leben der Menschen in dem Grunde ihres Seins, ihrer gemeinschaftlichen Quelle, in Gott. So ist es zuletzt der Gottesbegriff, auf den Fichtes neue Gemeinschaftsidee zurückgeht. E s ist hier nicht möglich, die Entwicklung von Fichtes C o t t e s l e h r e darzustellen 1 ). Unseres Erachtens h a t der Gottesgedanke in der Wissenschaftslehre von 1794 noch keine Stelle. Weder das absolute Ich des ersten Grundsatzes, noch das „ I c h als Idee" dürfen mit Gott gleichgesetzt werden. Erst in der Wissenschaftslehre von 1801 beginnt Fichte, über das Ich oder das absolute Wissen hinauszugehen u n d nach einem absolut Seienden zu suchen, das die Realität des Ich begründet und im Ich zu seinem