Geschichte der Schweiz [Reprint 2019 ed.] 9783486777116, 9783486777109


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German Pages 264 [288] Year 1951

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INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
I. PERIODE. Bis zur Gründung der Eidgenossenschaft
II. PERIODE. Von der Gründung der Eidgenossenschaft bis zum Ende des Mittelalters
III. PERIODE. Von der Reformation zur französischen Revolution
IV. PERIODE. Die Schweiz seit der französischen Revolution
ZEITTAFEL
SACHREGISTER
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
KARTENTEIL
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Geschichte der Schweiz [Reprint 2019 ed.]
 9783486777116, 9783486777109

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G E S C H I C H T E W.v.WARTBURG

DER

V Ö L K E R

/ GESCHICHTE

UND DER

S T A A T E N SCHWEIZ

W O L F G A N G V O N WARTBURG

GESCHICHTE DER SCHWEIZ

Mit 18 Abbildungen und 7 Karten

V E R L A G V O N R. O L D E N B O U R G MÜNCHEN

19 5 1

Copyright 1951 by R. Oldenboarg, München. Alle Rechte vorbehalten Gesamthtrstellang: R. Oldenboarg, Graphische Betriebe GmbH., Möndien 8

INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG

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I. P E R I O D E . BIS ZUR G R Ü N D U N G DER E I D G E N O S S E N S C H A F T . . . . 1. Von den Anfängen bis zum Ende der römischen Herrschaft 2. Die Völkerwanderung und der Ursprung der viersprachigen Schweiz . . . . 3. Die Einführung des Christentums 4. Die Schweiz unter dem fränkischen und dem deutschen Reiche 5. Kultur und Gesellschaft des Mittelalters II. P E R I O D E . V O N DER G R Ü N D U N G DER E I D G E N O S S E N S C H A F T Z U M E N D E DES M I T T E L A L T E R S 1. Der Dreiländerbund 2. Die Befreiungssage 3. Die acht alten Orte 4. Der Sempacher Krieg 5. Die ersten Bundesgesetze 6. Erweiterung der Eidgenossenschaft um 1400 7. Der alte Zürichkrieg 8. Der Burgunderkrieg 9. Bruder Klaus und das Stanser Verkommnis 10. Der Schwabenkrieg — Lösung vom Reidi 11. Einmischung in die italienischen Kriege 12. Die Schweiz am Ende des Mittelalters 13. Die Kirche am Ende des Mittelalters, Renaissance und Humanismus III. P E R I O D E . V O N DER R E F O R M A T I O N ZUR F R A N Z Ö S I S C H E N REVOLUTION 1. Die Reformation 2. Calvin 3. Die Gegenreformation und die politische Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert 4. Aristokratie und Demokratie 5. Die Industrie 6. Die Aufklärung 7. Die Landwirtschaft 8. Politische Unruhen im 17. und 18. Jahrhundert. Major Davel 9. Der Untergang der alten Eidgenossenschaft

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BIS 29 29 38 42 48 52 56 60 66 74 77 81 88 94 103 103 121 125 132 140 144 155 157 160

Inhaltsverzeichnis IV. PERIODE. DIE SCHWEIZ SEIT DER FRANZÖSISCHEN R E V O L U T I O N 1. Die helvetisdje Republik 2. Die Mediation 3. Pestalozzi 4. Die Restauration 5. Die Regeneration 6. Die Gründung des Bundesstaates 7. Die Bundesverfassung von 1848 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914 a) Innere Konsolidierung b) Das Verhältnis zum Ausland . c) Anschluß an die Weltwirtschaft d) Die demokratische Bewegung e) Der Kulturkampf f) Die Verfassungsrevision von 1874 g) Wirtschaftliche Entwicklung seit 1870 h) Die soziale und politische Entwicklung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts 9. Die Schweiz seit dem Ausbruch des Weltkriege: 10. Die Selbsterfassung des schweizerischen Geistes im 19. Jahrhundert 11. Der schweizerische Staatsgedanke und die schweizerische Neutralität

167 175 17S 183 188 197 205 210 210 212 215 218 220 221 224 . 227 233 238 .241

ZEITTAFEL

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REGISTER

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VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN

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KARTENTEIL

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EINLEITUNG Die Geschichtsschreiber des Mittelalters begannen ihre Chroniken mit der Erschaffung der Welt. Uber den Ursprung von Mensch und Erde steht es zwar dem heutigen Historiker nicht mehr zu, Aufschluß zu geben. Doch gehört an den Anfang einer Geschichte der Schweiz wenigstens ein Blick auf den Ursprung und die Natur des Schauplatzes, auf dem sich diese Geschichte abgespielt hat. Er verdankt seine Entstehung den erdgeschichtlichen Vorgängen der Tertiärzeit. Damals hob sich das Land aus der Tiefe des Meeres. Gewaltige Kräfte stauten, von Süden andrängend, in großem Bogen das Gebirge der Alpen auf. Es ist ein Teilstück des Gebirgszuges, der sich in west-östlicher Richtung von den Pyrenäen bis zum Himalaja durch den ganzen eurasischen Kontinent erstreckt. Weiter nördlich, parallel mit den Alpen verlaufend, entstand gleichzeitig der kleinere und sanftere Bruder der Alpen, der Jura. Zwischen den beiden Gebirgen liegt das Mittelland, die fruchtbare Hochebene der Schweiz. Die Lage der Schweiz innerhalb ihrer Umwelt bezeichnet am besten der oft gebrauchte Ausdruck: „das Herz Europas". Rein geometrisch gesehen liegt Bern genau in der Mitte zwischen R o m , Wien, Berlin, London und Paris. Der Eindruck der Zentrallage verstärkt sich, wenn wir das Flußund Paßsystem Europas betrachten. Die mächtige Gebirgsmauer, die Mitteleuropa in eine südliche und eine nördliche Hälfte trennt, zieht sich in ihrer Mitte wie in einem Knoten zusammen: es ist der St. Gotthard, Kern und Zentrum aller Alpenketten. Von Süden und Norden sind Täler und Seen tief eingeschnitten, wie wenn sie sich in der Mitte die Hand reichen wollten. V o n diesem Herzen Europas gehen die großen Schlagadern aus: in den vier Himmelsrichtungen entströmen ihm vier Flüsse (der Rhein mit den Nebenflüssen Aare und Reuß, die Rhone, der Tessin und der Inn), die sich in drei verschiedene Meere ergießen. Eine ähnliche Zentralstellung besitzt auf der ganzen Erde nur noch der Pamir.

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Einleitung

Die Natur hat der Sdiweiz jedoch nicht nur ihre Verbindungswege zur Umwelt vorgezeichnet; sie hat ihr auch ihre Grenzen gesetzt und ihre Schutzmauern gebaut. Im Süden ist sie von den bis über 4000 m aufsteigenden Alpenketten, im Nordwesten durch den wald- und schluchtenreichen Jura geschützt. Im Norden und Osten wird sie vom Rhein, im Nordosten und Südwesten von ihren zwei größten Seen, dem Boden- und dem Genfer See abgegrenzt. Ihre äußere Gestalt erscheint wie ein geschlossenes Kunstwerk der Natur, als hätte schon die Schöpfung selbst den Raum für die Entstehung eines selbständigen Volkstums zubereiten wollen. Innerhalb dieser engen, aber energisch gezogenen Grenzen — und dies ist der dritte charakteristische Zug des Schauplatzes der Schweizer Geschichte — entfaltet die Natur einen Reichtum an Landschaftsformen von unerreichter Mannigfaltigkeit. — Den markantesten Zug bilden die Gebirgsketten der Alpen, die zwei Drittel der Oberfläche des Landes einnehmen. Wie ein Heer von Riesen ragen ihre Gipfel zum Himmel empor. Jeder trägt sein eigenes Gepräge, wie wenn er vom Schöpfer mit persönlichem Charakter begabt wäre. Ihre Formen sind bald kühn und trotzig, bald von erhabener Würde, oft auch erscheinen ihre Konturen dem Auge in zarten und weichen Linien, wie von Künstlerhand gezogen. — Die unzähligen Täler, die in die Tiefe führen, und die Becken, die die herrlichen Seen aufnehmen, sind das Werk der Gletscher, die während der Eiszeit ihre Furchen in das Antlitz des Landes gruben. Jedes dieser Täler hat seine eigene Natur, kein See gleicht dem andern. Düstere und bedrückende Enge der Schluchten wechselt mit herrlicher Weite des Fernblicks. Endlos lang und einsam sind die dunklen Tannentäler des oberen Graubünden, lieblich und abwechslungsreich der südliche Tessin, die „schweizerische Tose an a " . Von wilder Großartigkeit und Farbenpracht ist das breite Rhonetal, das den Namen „Wallis", das Tal schlechthin, trägt. Einzigartig ist das Engadin durch die Verbindung einer apollinischen Klarheit und Reinheit der Formen und Farben mit der machtvollen Größe des Hochgebirges. Einem nordischen Fjord gleicht der Vierwaldstättersee; wie ein dunkler Schild liegt der Walen see zwischen seinen Felsenufern; ein Bild tiefsten Friedens und ernster Größe bietet der weite Zürcher See, wenn er sich an Feiertagen mit Segeln füllt und von allen Ufern die Glocken tönen. Das Mittelland erinnert in seiner reichen Gliederung und Modellierung, in seinem Wechsel von Acker, Wald und Wiese, von Tal, Ebene und Hügel,

Natur des Landes

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von D o r f und Stadt an die süddeutsdie Landschaft. Wie diese lockt es den Menschen zu mannigfaltiger Gestaltung seiner Tätigkeit und seiner Siedlungsformen. Alpen und Jura dagegen bieten ihm nur spärliche Entfaltungsmöglichkeiten und zwingen ihn zu hartem Lebenskampf. Eine ähnliche Mannigfaltigkeit wie die Bodengestaltung weisen auch Klima, Fauna und Flora auf. Als nach dem Ende der Eiszeit das Klima wärmer wurde, folgten den langsam abschmelzenden Gletschern von allen Seiten Pflanzen und Tiere, so daß die Schweiz ein „Kompendium Europas" wurde. Die Vielfalt der Pflanzenwelt wird befördert durch Vielfalt des Klimas. Die weintragenden Gestade des Genfer Sees und der Tessin fühlen schon den milden Hauch der Mittelmeerwinde, während das zwischen gewaltige Gebirgsmauern eingeschlossene Wallis neben Rußland und dem inneren Spanien das härteste Kontinentalklima Europas hat. Gegenden von höchster Niederschlagsmenge liegen unmittelbar neben solchen von größter Trockenheit. Zwischen dem ewigen Eis des Hochgebirges und den nur eine Tagereise davon entfernten südalpinen Seen wiederholen sich auf engstem Raum alle Vegetations- und Lebensbedingungen, die die Natur zwischen der polaren und der subtropischen Zone des Erdballs ausgebreitet hat. — So sagt der deutsche Geograph Ebel mit Recht: „Alles Große, Außerordentliche und Erstaunenswürdige, alles Schreckliche und Schauderhafte, alles Schöne, Sanfte, Reizende, Heitere, Ruhige und Süßerquickende, was in der ganzen Natur vereinigt ist, scheint sich hier in diesem kleinen Raum vereinigt zu haben, um dieses Land zu dem Garten von Europa zu bilden." In der Natur des Landes ist vieles vom Schicksal und Charakter des Volkes vorgebildet. — Die Täler, die das Land verlassen, verbinden es aufs engste mit allen benachbarten Nationen. So ist die Schweiz untrennbar mit dem Leben ganz Europas verknüpft. W i r können sie niemals als etwas für sich allein Bestehendes betrachten. In jeder Epoche haben wir sie wieder von neuem in den Zusammenhang mit den Entwicklungsströmungen der großen Welt zu stellen. — Doch trotz der engen Verbindung mit der Umwelt bildet die Schweiz in ihren heutigen Grenzen, abgesehen von einigen Unregelmäßigkeiten, eine harmonische geographische Einheit. So trägt auch die Sdiweizer Geschichte von den ersten Anfängen an bis auf den heutigen T a g ein eigenes Gepräge. Niemals macht sie bloß mit, was die Umwelt tut. Allem prägt sie ihr eigenes Wesen auf und erwirbt sich

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Einleitung

so schließlich das Recht auf selbständiges Eigenleben. — Dieses Eigenleben aber ist charakterisiert durch eine Mannigfaltigkeit menschlicher Verhältnisse, die nur der Mannigfaltigkeit der Schweizer Natur gleichgestellt werden kann. Nicht weniger als vier Sprachen werden auf dem engen Raum gesprochen, die ihrerseits wieder in unzählige Mundarten zersplittert sind. Im Schutz der Gebirge haben sich in der Schweiz Sitten, Gebräuche, Anschauungen, Sprachen, soziale, religiöse und politische Formen erhalten, die überall sonst im großen Zug der Geschichte untergegangen sind. Doch bedeutet das Gebirge nicht nur Sdiutz, es wirkt auch als charakterbildende Macht. Kaum einen Ort gibt es im Lande, von dem aus die Gipfel der Berge nicht zu sehen wären. V o n allen Seiten ist sein Bewohner zeitlebens von fest umgrenztem Horizont mit scharf gezeichneten Linien und charakteristischen Konturen umgeben. Nirgends steht er unter der Wirkung des zerfließenden Horizonts unendlicher Ebenen oder der hinreißenden Gewalt des Meeres. Auch wer im Flachland wohnt, lebt im Angesicht des Hochgebirgs. Dieses aber stellt an den Menschen physisch und sittlich höchste Anforderungen. Nur ein unbestechlicher Wirklichkeitssinn, ernste Beständigkeit, Wachsamkeit und bedächtige Vorsicht sind der Urgewalt des Gebirges äußerlich und innerlich gewachsen. Die Übermacht der Natur zwingt den Menschen zur Achtung vor den Tatsachen, die Enge der Verhältnisse nötigt ihn, seine Kräfte, statt sie ins Breite zu entfalten, im Kleinen intensiv zu steigern. — Soviel das Gebirge auf der einen Seite fordert, so viel gibt es auf der andern. Die reine Luft und die verdichtete K r a f t der Elemente schenken dem Menschen dieselbe Steigerung aller Lebenskräfte, die der Vegetation ihre im Tiefland unerreichte Würze verleiht. Die majestätische Erhabenheit der Natur stellt ihn auf sich selbst, beruhigt sein ganzes Wesen und läßt ihn auch im Alltag nicht vergessen, daß es Größeres gibt, als er selbst ist. Demut lehrt der Aufblick zum Gebirge denjenigen, der sich die Offenheit für Eindrücke der Natur bewahrt hat; Selbstbewußtsein gibt ihm der Ausblick vom bezwungenen Gipfel. Von den Kräften, die das Gebirge gibt und fordert, ist auch die Form der menschlichen Gemeinschaft bestimmt. Wie sich der physische Blick an den charakteristischen Formen der Berge orientieren kann, ohne dazu Sonne, Sterne oder Kompaß zu bedürfen, so findet der Schweizer innerhalb

N a t u r — Mensch — Gemeinschaft

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seiner Heimat die politische Orientierung nicht an abstrakten Ideen, sondern an der Wirklichkeit. Diese aber ist der Mensch selbst als freie, auf sich selbst gestellte Persönlichkeit — und die Verbindung freier Persönlichkeiten zu kleinen und kleinsten Gemeinwesen innerhalb der engen, durch die Natur gezogenen Schranken. Die stärkste und lebendigste politische Wirklichkeit ist also in solchem Lande die kleine, aus konkreten natürlichen und menschlichen Voraussetzungen herausgewachsene Gemeinschaft von individuellem Eigencharakter, die Gemeinde oder der Kanton. In diesen kleinen Gemeinwesen vermag der einzelne die Ubersicht über das Ganze und die Einsicht in die Zusammenhänge des Gemeinschaftslebens zu bewahren. Mit derselben Bedächtigkeit, aber auch mit derselben Sicherheit, mit welcher der Bergsteiger seine Schritte setzen muß, wenn er zum Ziele gelangen will, vollzieht sich die Gestaltung dieser Gemeinwesen. Das Gute wie das Üble bewahrt das Maß des Menschlichen und Durchschaubaren. Mit diesen kleinen, natürlichen Gemeinwesen hat jede umfassendere Gemeinschaft in diesem Lande ebenso zu rechnen wie der Bergsteiger mit den Eigenheiten des Berges und mit den Gefahren der Gletscher, die er überwinden will. Die freie, eigenständige Persönlichkeit, die menschliche Mannigfaltigkeit, die selbstgewachsene kleine Gemeinschaft erscheinen gewissermaßen, wie die Natur selbst, als Teile der Weltschöpfung, und daher unantastbar in ihrem Recht auf Eigenleben. Was der Schweizer an seiner Heimat liebt, den unendlichen Reichtum der Landschaft, das mit jedem Schritt veränderte Bild der Natur, das sucht und liebt er auch in seiner menschlichen U m gebung: die Mannigfaltigkeit unwiederholbarer Individualitäten, die besondere Eigenart, an der die einzelne Persönlichkeit wie auch die kleine Gemeinschaft mit Zähigkeit festhält. Nicht Übereinstimmung mit einem allgemeinen Typus „Schweizer", sondern gerade die Eigenständigkeit, welche durch ihr Anderssein das gemeinsame Leben bereichert, schätzt der Schweizer an seinem Mitbürger. Dieser menschlichen Wirklichkeit, nicht einer abstrakten Idee, entstammt das Schweizer Freiheitsideal. Es ist als solches lediglich die gedankliche Formulierung der Liebe zur Vielfalt der menschlichen Wirklichkeit und des Willens, seine eigene Art treu zu behaupten und dem andern dasselbe Recht zuzugestehen. Politische Abstraktionen können dieser Wirklichkeit gegenüber keinen Raum gewinnen, jedenfalls nicht bis ins Innerste

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Einleitung

des Menschen dringen. Sie prallen an der Wirklichkeit ab wie Nebelsdiwaden an den Granitfelsen. So steht die schweizerische Staatsbildung im Gegensatz zu allen andern Staatsbildungen Europas. Es liegt ihr nicht der Wille zu politischer Einheit zugrunde, sondern im Gegenteil der Wille zur Erhaltung der ursprünglichen Eigenart und Freiheit der Glieder, somit zur Erhaltung der Mannigfaltigkeit. Ihre Einheit entsteht nicht durch übergeordnete Macht oder durch Gleichförmigkeit, sondern durch freie Zusammenarbeit an gemeinsamen Aufgaben. Die Einheit lebt hier grundsätzlich von Gnaden der Glieder, nicht umgekehrt. Durch den Hinweis auf die natürlichen Voraussetzungen ist jedoch die Schweizer Geschichte keineswegs „erklärt". Die Natur gibt wohl Grundlagen und weist auf Möglichkeiten historischer Entwicklung. Damit aber die Möglichkeiten in Wirklichkeit übergehen, müssen sie von Menschen verstanden und gestaltet werden. Daß die Schweiz nicht ein Erzeugnis der natürlichen Verhältnisse, sondern ein Werk des Menschen ist, beweist schon ein oberflächlicher Blick auf ihre Geschichte. Niemals bildete sie eine sprachliche oder völkische, niemals eine politische Einheit, bevor am Ende des Mittelalters die Bewohner des Landes selbst begannen, sich aus freiem Willen durch Bündnisse zu einer engeren Gemeinschaft zusammenzuschließen.

I. PERIODE

Bis zur Gründung der Eidgenossenschaft 1. VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUM ENDE DER RÖMISCHEN HERRSCHAFT Die vorgeschichtliche Forschung hat erwiesen, daß schon vor der letzten Eiszeit die ersten Menschen das Alpenland bewohnten. In Höhlen finden sich ihre Spuren. Sie gehörten der Kultur der älteren Steinzeit an und waren ein Geschlecht von Jägern, das in einer von der heutigen völlig verschiedenen Umgebung lebte. Auch während der jüngeren Steinzeit, die von etwa 5000—2000 v. Chr. dauerte und in der sich die Steinbearbeitung zu erstaunlicher Vollkommenheit entwickelte, war die Schweiz*) von Menschen besiedelt. Hier zum erstenmal begegnen uns Wohnstätten, die das Werk menschlicher Hände sind und zugleich die erste originelle Schöpfung der Bewohner der Alpenländer darstellen. Es sind die sogenannten Pfahlbauten, Siedlungen von Blockhäusern, die am Rand der Seen zu beiden Seiten der Alpen auf hunderten von eingerammten Pfählen errichtet wurden. Die Pfahlbauer waren die ersten Bewohner des Landes, die den Ackerbau kannten. Seit etwa 2000 v. Chr., noch während der Pfahlbauerzeit, erscheinen in der Schweiz Bronzewaffen und -Werkzeuge. U m etwa 800 v. Chr. geht die Bronzezeit dann in die Eisenzeit über, und zugleich werden die Ufersiedlungen verlassen. Das erste Volk auf Schweizer Boden, dessen Namen bekannt ist, sind die Kelten, von denen einige Stämme um 400 v. Chr. einwanderten. Dem Volk der Kelten gehörten auch die Helvetier an, die wahrscheinlich um *) Das W o r t „Schweiz" ist hier und in den folgenden Kapiteln rein geographisch zu verstehen: die Gebiete, welche heute die Schweiz bilden. Eine Schweiz in politischem Sinn gibt es erst seit 1291. Erst seit etwa 1500 besitzt sie ungefähr die heutige Ausdehnung.

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I. 1. Von den Anfängen bis zum Ende der römischen Herrschaft

das Jahr 100 v . C h r . im Zusammenhang mit der Wanderbewegung der Cimbern und Teutonen das Gebiet zwischen Alpen und Jura besetzten. Die Berge der Ostschweiz bewohnten die Rätier, ein aus eingewanderten Illyriern und Etruskern entstandenes Mischvolk, mit deren Namen heute noch der Kanton Graubünden bezeichnet wird. (Rätien.) Das erste historische Datum der Schweizergeschichte ist das Jahr 58 v. Chr. Damals faßten die Helvetier den Plan, ihr Land zu verlassen und nach dem Süden Galliens, des heutigen Frankreich, zu ziehen. Doch der Auswanderungsversuch scheiterte an dem Einspruch Julius Caesars. Caesar eröffnete seinen Feldzug zur Eroberung Galliens damit, daß er die auswandernden Helvetier im genannten Jahr in Gallien bei Bibracte überfiel und nach schweren Verlusten zur Umkehr zwang. Helvetien wurde nun dem römischen Weltreiche einverleibt, dessen Schicksale das Land für mehrere Jahrhunderte zu teilen hatte. Wie überall im römischen Reiche entwickelte sich ein reger Handelsverkehr, durch den Helvetien mit dem Wein, dem ö l , den Austern und allem Luxus der römischen Zivilisation bekannt wurde. Städte entstanden, mit steinernen Mauern, Häusern und Tempeln, mit Theater und Garnison, versehen mit allem damaligen K o m f o r t , von der Zentralheizung bis zur Badeanstalt. Die römischen Straßen verbanden das Land über die Alpen mit Italien und rheinabwärts mit Köln und der Nordsee. Viele Alpenpässe waren schon begangen und von Straßen überquert. Auf dem Möns Poeninus, dem heutigen Großen St. Bernhard, stand ein Altar des Jupiter Poeninus, auf dem Julierpaß sind heute noch zwei römische Säulen zu sehen. V o n den Theatern in Vindonissa und Augusta Raurica — die beiden Bezeichnungen leben in den heutigen Ortsnamen Windisch und Äugst noch fort — sind erhebliche Reste vorhanden. So hat die römische Herrschaft auch in der Schweiz unverlöschliche Spuren und ein wertvolles kulturelles Erbe hinterlassen. Römische Straßenanlagen werden z. T . heute noch benutzt. Viele Schweizer Städte stammen aus r ö m i s c h e r , z . T . schon aus vorrömischer Zeit, wie Genf, Basel, Chur, Lausanne, Solothurn. V o r allem haben die Römer in Westeuropa und damit auch in der West- und Südschweiz ihre Sprache hinterlassen. Sowohl das Italienische wie das Französische sind Töchter der lateinischen Muttersprache.

15 2. DIE VÖLKERWANDERUNG UND DER URSPRUNG DER VIERSPRACHIGEN SCHWEIZ Gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. brach für Europa eine neue Epoche an. Im Jahre 375 überrannte die Flut der Hunnen das Reidi der Goten in Südrußland und trieb einen Teil von ihnen über die Donau auf den Balkan. Damit begann die 200 Jahre lang anhaltende Völkerwanderung, die in "Westeuropa mit der völligen Zerstörung des römischen Reiches endete. Als 406 die römischen Truppen zur Verteidigung Italiens vom Rhein zurückgezogen wurden, stürmten in den unverteidigten Raum die Germanen nach. Bis nach Afrika hinunter schnitten sie in den folgenden Jahrzehnten große Stücke aus dem römischen Reich heraus, aus denen sie eigene Reiche bildeten. Als 476 Rom und zehn Jahre später auch Paris den germanischen Madithabern in die Hände fielen, waren im Westen die letzten Reste des hundert Jahre früher noch allmächtigen Reiches vom Erdboden verschwunden. Auch Helvetien wurde von der Völkerwanderung in Mitleidenschaft gezogen. Das von den Truppen verlassene Land nördlich der Alpen wurde in der Mitte des fünften Jahrhunderts von zwei germanischen Völkern in Besitz genommen: von den Alemannen der nordöstliche, von den Burgundern der südwestliche Teil, während die Alpenländer und die Südschweiz zunächst noch nicht berührt wurden. Die Alemannen haben das von ihnen besiedelte Land tiefer umgestaltet als die meisten der ins römische Reich einwandernden Germanen. Sie waren der römischen Kultur völlig unzugänglich. Was sie suchten, war Ackerland. Wie in ihrer nördlichen Heimat siedelten sie sich in Dörfern an, denen meistens der Älteste der Sippe den Namen gab (z. B. Wülflingen = Dorf des Wulf, Wollishofen = Hof des Wolo). Ihre Häuser bauten sie aus Holz und Lehm; die römischen Städte ließen sie beiseite liegen, und über die römischen Villen wudisen die Brennesseln. Kein germanischer Stamm hat seine ursprüngliche A r t auch in römischer Umgebung hartnäckiger festgehalten als die Alemannen. Die romanische Bevölkerung floh zum Teil in die rätischen Berge, die erst jetzt ganz romanisiert wurden. Die zurückbleibenden Romanen wurden wahrscheinlich unterjocht oder ausgerottet. Nur schwache Reste erhielten sich in den Städten. Die Alemannen besetzten immer nur so viel Land, wie sie unter den Pflug nehmen konnten. Ein ständiger Zustrom von Norden sicherte ein langsames, aber ständiges Vor-

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I. 2. Die Völkerwanderung. Ursprung der viersprachigen Schweiz

rücken gegen Süden und Westen. Spät erst erreichten sie das Gebirge, von dem die Gründung der Eidgenossenschaft ausgehen sollte. Ein großer Teil des Landes ist erst von den Alemannen urbar gemacht worden, wie die zahlreichen Ortsnamen beweisen, die auf Rodung hindeuten: Rüti, Schwendi, Brand. So ist es verständlich, daß in den Gebieten, wo die Alemannen sich niederließen, das Latein verschwand und die alemannische Sprache an seine Stelle trat. Das Vordringen der Alemannen war aber mit dem Ende der Völkerwanderung nicht abgeschlossen. Zu einer Zeit, als in Europa die Völkerverschiebungen längst zum Stillstand gekommen waren, setzten die Alemannen als kühne Pioniere ihre nunmehr friedliche Kolonisation der obersten Alpentäler fort. Im neunten Jahrhundert überschritten sie die Grimsel und ließen sich im Oberwallis nieder. Vom Wallis aus wurden im Mittelalter zahlreiche Täler im heutigen Kanton Graubünden, im Vorarlberg und sogar am Südabhang der Alpen besiedelt. Der mehrfach vorkommende Name „Walsertal" — Tal der Walliser — erinnert an die Herkunft der Kolonisten. Die Alemannen brachten bei ihrer Einwanderung die soziale Ordnung mit, die später Ausgangspunkt der schweizerischen Staatsbildung geworden ist. Die freie Wirtschaft des Einzelbauern kannten sie nicht. Alle Bewohner eines Dorfes waren in einer Markgenossenschaft zusammengeschlossen. Der Ackerbau wurde nach dem Dreifelderverfahren betrieben. Je ein Drittel des Bodens, genannt Zeige, wurde mit Winterfrucht oder mit Sommerfrucht besät, während das letzte Drittel zur Erholung brach lag. Nach gemeinsamer Beratung und Beschluß besorgten die Gemeindemitglieder gemeinsam Aussaat und Ernte. Wald und Weide blieben unter der Aufsicht und im Besitz der Markgenossenschaft. Uber die politischen Verhältnisse ist sozusagen nichts bekannt. Wir sind auf die Angaben Tacitus' und Rückschlüsse von späterer Zeit angewiesen. Jede Gemeinde bildete eine wirtschaftlich und wohl auch politisch selbständige Gemeinschaft, in der selbstgewählte Älteste nach eigenem Gewohnheitsrecht Gericht hielten. Wahrscheinlich ist die später belegte Einteilung in Hundertschaften, die unter dem Hunno oder Zentenar stand, identisch mit der von Tacitus erwähnten germanischen Hundertschaft. Ein Adel war nur schwach ausgebildet, wie der geringe Unterschied des Wergeides beweist, das für die Tötung eines Edlen und die eines Gemeinfreien bezahlt werden mußte. So waren von Anfang an die sozialen Unterschiede weniger betont

Alemannen und Burgunder

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als bei den meisten andern germanischen Stämmen. Ein trotziger, unbeugsamer Unabhängigkeitstrieb ließ die Alemannen mit Zähigkeit an ihren eigenen sozialen Formen festhalten, er hinderte sie aber zugleidi, jemals eine politische Macht zu werden. Eine dauerhafte königliche Zentralgewalt wie bei den Franken und Goten konnte bei ihnen nicht entstehen. Die Gemeinschaft, in der der Alemanne lebt, ist nie die eines ganzen Volkes, sondern die kleine Gemeinschaft der Familie, der Sippe, der Gemeinde, der Nachbarschaft, später der Genossenschaft. Diese kleinen, natürlichen, sich selbst verwaltenden Gemeinwesen sind Schule und Nährboden der schweizerischen Freiheit und Demokratie geworden und sind es heute noch. Die ausgedehntesten und lebensfähigsten Markgenossenschaften aber bestanden im Gebirge, wo die gemeinsame Alp- und Viehwirtschaft ganze Talschaften umfaßte. Anders verlief die burgundische Einwanderung. Die Burgunder hatten eine lange Wanderung hinter sich, die sie von der Ostsee bis an den Rhein geführt hatte. D o r t wurden sie von den Hunnen in einer furchtbaren Schlacht dezimiert. Die Uberlebenden wurden v o n den R ö m e r n im Jahre 443 als Bundesgenossen zur Stärkung der Reichs Verteidigung ins Reich aufgenommen und erhielten Wohnsitze an den Ufern des Genfersees. Die römischen Grundbesitzer wurden angewiesen, den neuen Bundesgenossen ein Drittel ihrer Sklaven und zwei Drittel ihres Grundbesitzes abzutreten. Nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft in Gallien um 455 bildeten die Burgunder ein selbständiges Königreich, das sich bald nach allen Richtungen ausdehnte. Es umfaßte schließlich die westliche Hälfte der Schweiz, das Rhonetal bis fast an das Mittelmeer, sowie das nach ihnen benannte spätere französische Herzogtum und die Freigrafschaft Burgund (die Gebiete westlich des Jura). Die Burgunder waren ein bewegliches und anpassungsfähiges Volk. Sie traten mit der römischen Bevölkerung bald in gute Beziehungen. D a sie wenig zahlreich waren, wohnten sie als aristokratische Minderheit auf ihren Landgütern und vermischten sich bald in jeder Beziehung mit den Romanen: sie gestatteten Mischehen, traten vom arianischen zum katholischen Bekenntnis über und nahmen die romanische Sprache an. Das Gesetzbuch des Königs Gundobad (um 500) zeigt die beiden Volksteile zwar noch geschieden, aber in voller Gleichberechtigung. So bedeutete die Volkerwanderung für die Westschweiz nicht den vollständigen Untergang der römischen Kultur. Wie die anderen 2

Wartburg, Schweiz

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I. 2. Die Völkerwanderung. Ursprung der vierspradiigen Schweiz.

romanischen Länder lebt die Westschweiz in einer seit der Antike ununterbrochenen Kulturtradition. Audi das germanische Volk der Langobarden, das als letztes Wandervolk 568 in Italien einrückte, war bestimmt, in der ihm kulturell weit überlegenen romanischen Bevölkerung unterzugehen. In Italien blieb die lateinische Sprache erhalten und entwickelte sich zum heutigen Italienisch. Durch die Angliederung einiger Täler am Südabhang der Alpen griff die Schweiz auch in das italienische Kulturgebiet über. Als später von außerschweizerischen Kulturzentren aus, wie Paris und Florenz, und im Anschluß an die Entstehung großer nationaler Literaturen sich die Kulturspradien des europäischen Kontinents bildeten, machte auch die Schweiz diese Entwicklung mit, indem die alemannischen Schweizer das Schriftdeutsche, die italienisch sprechenden das Italienische und die Westschweizer das Französische als Schriftsprache annahmen. Doch nur für die Westschweiz — auch für sie nicht vollständig — bedeutet dies zugleich den Untergang der einheimischen Dialekte. Im Gegensatz zur französischen Schweiz benutzt heute noch auch der gebildete Deutschschweizer im Umgang ausschließlich die Mundart, die von Ort zu Ort ihre charakteristischen Verschiedenheiten aufweist. Sie ist ihm als treuer Ausdruck seiner Eigenart so sehr ans Herz gewachsen, daß er sie um nichts in der Welt preisgeben würde. Dasselbe gilt auch für die italienisch sprechenden Tessiner. In den Gebirgstälern des Kantons Graubünden hat sich noch eine vierte Sprache erhalten, das Rätoromanische, welches als romanische Sprache selbständig neben dem Französischen und Italienischen steht. Sie wird in verschiedenen Dialekten auch im Südtirol und im Friaul gesprochen. Nur in der Schweiz aber konnte sie sich zur Amts- und Schriftsprache erheben und zum Ausdruck einer besonderen Nationalität werden, da nur hier ihre Träger zugleich Träger eines selbständigen politischen Willens waren. So spiegeln die sprachlichen Verhältnisse die zwei schon in der Natur vorbereiteten Grundzüge schweizerischer Eigenart: Weltoffenheit verbunden mit festem Wurzeln in eigener Tradition. Der Ursprung der heutigen sprachlichen Verhältnisse des Landes aber liegt in den Vorgängen der Völkerwanderung.

19 3. DIE EINFÜHRUNG DES CHRISTENTUMS Die Schweiz ist nicht, wie Deutschland oder England, vom päpstlichen R o m aus christianisiert worden. Sie hat das Christentum in zwei Formen kennengelernt, die noch aus vorkatholischer Zeit stammen: durch urchristliche Märtyrer und durch die von R o m noch unabhängigen irischen Wandermönche. Erst später hat die römische Kirche allmählich das bereits Vorhandene in ihren Machtbereich einbezogen. Während der Zeit der Christenverfolgungen floß auch in der Schweiz Märtyrerblut. Nach der Legende wurde 302 in Agaunum im Wallis die ganze Thebäische Legion mit ihrem Kommandanten Mauritius ihres Glaubens wegen hingerichtet. Agaunum wurde zum Wallfahrtsort; 515 gründete dort der burgundische König Sigismund das Kloster St. Maurice, das älteste der Schweiz. Berühmt wurde es durch die Einführung eines „ewigen" Gesangs, der durch fünf sich dauernd ablösende Chöre unterhalten wurde. Wie stark die Nachwirkung der thebäischen Märtyrer war, zeigt sich in der weiten Verbreitung ihrer Verehrung. So wurden Urs und Viktor die Stadtheiligen von Solothurn, Felix und Regula diejenigen von Zürich. Bis nach dem Niederrhein reicht ihre Ausstrahlung. Infolge des Einbruchs der Alemannen konnte sich jedoch das Christentum der römischen Zeit, das sich schon über ganz Helvetien verbreitet hatte, nur im Westen halten. In der alemannischen Schweiz mußte es später fast überall neu eingeführt werden. Die ersten Glaubensboten waren hier die Wandermönche aus Irland. Im 7. Jahrhundert durchzogen sie die noch wilden Lande Mitteleuropas. Allerorts gründeten sie Klöster und legten damit Keime des Christentums. Der Heilige Gallus, ein Jünger Columbans, wurde der eigentliche „Apostel der Alemannen". Er hauste in einer Einöde südlich des Bodensees. Obwohl aus seinem Leben nur legendäre Züge bekannt sind, steht außer Zweifel, daß er eine außerordentliche Wirkung ausgeübt hat. Er trieb Dämonen aus, heilte Krankheiten, bekämpfte durch Wundertaten den heidnischen Aberglauben. Die Legende zeigt in mythisch bildhafter Weise, wie Gallus durch sein Wirken die natürlichen Kräfte des Volkes nicht zerstört, sondern sie zähmt und sie höheren Kräften dienstbar macht. So zwingt er den Bären — das heilige Her der Helvetier, später das Wappentier vieler Schweizer Gemeinden — zu einem Abkommen, nach dem er den Menschen zu verschonen hat, wofür ihm Gallus aber die J a g d im Gebirge 2*

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I. 3. Die Einführung des Christentums

frei gibt. Nur in solchen mythischen Bildern — als Kampf des Geisteshelden mit den Geschöpfen des Widersachers — konnte das Christentum mit seinen völlig neuen sittlichen Vorstellungen dem Bewußtsein des Volkes nahe gebracht werden. So bedeutete die neue Lehre südlich des Rheines nicht einen unvermittelten Bruch mit der Vergangenheit, sondern eine wohltätige Weiterentwicklung. Das Christentum faßte nur sehr langsam Fuß. Wie später der schweizerische Staat, so entwickelte sich auch die Kirche mehr durch inneres Wachstum als durch planmäßige äußere Organisation. Noch am Ende des 8. Jahrhunderts sind nicht mehr als sechs Kirchen im alemannischen Gebiet nachzuweisen. Die erste ländliche Kirche wurde 757 gegründet. Schon die Art, wie das Christentum eingeführt wurde, legte einen ersten Grund zur späteren Trennung der Schweiz von Deutschland. Im rechtsrheinischen Deutschland nahm der Kampf gegen das Heidentum gewaltsamere Formen an. Der Apostel Deutschlands, der Angelsachse Bonifatius, war eine Art geistlicher Feldherr und Eroberer, der mit Hilfe und im Auftrage des Papstes und des fränkischen Königs die Germanen bekehrte. Gallus dagegen wirkte allein durch das Beispiel seines heiligen Lebens, ohne die Hilfe irgendeiner geistlichen oder weltlichen Gewalt. Auf seiner Persönlichkeit ruhte seine ganze Wirkung. Schon die ersten Verkünder des Christentums wiesen die Alemannen durch ihre Lebensführung mehr auf ein persönliches Erarbeiten der religiösen Wahrheit als auf Gehorsam gegenüber der geistlichen Autorität, wie er von der römischen Kirche verlangt wurde. Die Natur, der Volkscharakter und die besondere Form des Christentums wirkten dahin zusammen, daß in der Schweiz alles von der Persönlichkeit, nichts von der großen, überpersönlichen Organisation erwartet wird. So ist es verständlich, daß die Schweizer später oft in den Ruf der Ketzerei gerieten, wie ja auch die Schweiz den Reformator Zwingli hervorgebracht und Calvin den Raum für sein Wirken gegeben hat. Das Eindringen des Christentums hatte materiell und geistig die wohltätigsten Wirkungen. Der Tages- und Jahresrhythmus des Gottesdienstes gab dem Volk für Jahrhunderte feste Lebensformen. Sein Inneres aber belebten die Lehren und Legenden, mit welchen die Kirche sein Gemüt erfüllte. Zentren der kirchlichen Hierarchie hat die Schweiz allerdings keine aufzuweisen. Die Residenzen der sieben Bistümer, denen das Gebiet zugeteilt war, lagen alle am Rande oder außerhalb der heutigen Schweiz. Es waren Basel, Konstanz, Chur, Como, Sitten, Genf und Lau-

Christianisierung und Klosterkultur

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sänne. Um so regsamer war das Klosterleben, wie ja die Gründer der Klöster gerne kulturell jungfräulichen Boden aufsuchten, wie die Schluchten des Jura, wo nach 600 die Klöster Moutier und St. Ursanne entstanden. Über dem Grab des heiligen Gallus erhob sich seit 720 das Kloster seines Namens, an das sich später die Stadt anschloß. Die zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert entstandenen Klöster wurden die Neubegründer von Kultur und Bildung. Hier wurden die ersten Schulen errichtet. Ein ausgedehnter Landbesitz, den ihnen die fränkischen Könige oder andere Große schenkten, bot ihnen die wirtschaftliche Grundlage. Alle andern Klöster aber überragte an Bedeutung St. Gallen, vom 9. bis 11. Jahrhundert neben Reichenau das Kulturzentrum Süddeutschlands. Von hier gingen für das ganze Mittelalter bestimmende Anregungen aus: N o t k e r d e r S t a m m ler, ( f 9 1 2 ) ist der Erneuerer der Musik, der allseitig begabte T u t i l o (f 915), ein Riese an Gestalt und Kraft, welcher bei einem Uberfall zwei Räuber auf einmal erschlug, war zugleich Maler, Dichter, Architekt, Musiker und Bildhauer in einer Person. Von den vier bekannten Ekkeharden war der erste (f 973) der Dichter des lateinischen Walthariliedes, der zweite (f 990) der Verfasser von Sequenzen, der vierte (f 1060) zusammen mit dem Mönche R a t b e r t der Begründer einer gewissenhaften Geschichtsschreibung. N o t k e r L a b e o („der Großlippige", f 1022), gab durch seine genialen Verdeutschungen lateinischer Texte stärkste Anregungen zur Bildung der deutschen Kultursprache. Für alle Zweige des geistigen Lebens legten die St. Galler Mönche, selbst gebürtige Alemannen, die ersten Samen in alemannischen Boden. Auch für die Bauern der Umgebung waren die Klöster eine Wohltat. Unter ihrer Leitung wurden Wälder gerodet, Sümpfe trockengelegt, Wege und Brücken gebaut, eine neue Gartenkultur entwickelt. Großartige Gastfreundschaft bot dem Reisenden sichere Herberge. Dadurch leisteten namentlich die allerdings meist erst späteren Klosterniederlassungen der Alpenpaßhöhen dem Verkehr wertvolle Dienste. Die bedeutendsten dieser Hospize wurden diejenigen des Gotthard, des Simplon und des Großen St. Bernhard. 4. DIE SCHWEIZ U N T E R DEM FRÄNKISCHEN U N D DEM D E U T S C H E N REICHE

Am Ende des 5. Jahrhunderts war das weströmische Reich verschwunden, sein Gebiet unter die germanischen Völker aufgeteilt. Doch nicht lange sollten sich diese ihres neuen Besitzes erfreuen. In Westeuropa erstand

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I. 4. Die Schweiz unter dem fränkischen und dem deutschen Reich

den Römern unter den Germanen selbst ein Nachfolger in dem gewaltigen Volke der Franken. Im Lauf eines Jahrhunderts unterwarfen sie alle Länder vom Rheintal bis zu den Alpen und den Pyrenäen. Audi die im Gebiet der Schweiz niedergelassenen germanischen Stämme bekamen den starken A r m dieses neuen Eroberervolkes zu spüren. Die Alemannen mußten sich 538, die Burgunder 534 endgültig unterwerfen, trotz tapferer und hartnäckiger Gegenwehr. Die fränkische Herrschaft hatte für die Alemannen bedeutsame Auswirkungen. Vor allem mußten sie sich einer politischen Zentralisierung unterziehen, die sie bisher nicht gekannt hatten. Die Franken teilten das Land in Gaue ein. Zwei dieser Gaue haben später schweizerischen Kantonen ihren Namen gegeben: Aargau und Thurgau. An der Spitze jedes Gaues stand ein Graf, der die gesamte Hoheitsgewalt innehatte. Er war Vorsitzender des Gerichtes, er zog die Steuern ein und bot das Heer zum Kriegsdienst auf. Der Hunno wurde zu einem Beamten des Grafen. — Doch noch lange blieb die altgermanische Beteiligung des Volkes an der Rechtsprechung erhalten. Im Frühling und im Herbst versammelten sich alle freien, waffenfähigen Männer auf der Dingstätte der Hundertschaft zur Gerichtsgemeinde. Den Vorsitz des Gerichts führte der Graf oder der Hunno. Die Macht des fränkischen Reiches erreichte ihren Höhepunkt unter der Regierung Karls des Großen. Nachdem er Italien und die Sachsen, den letzten unabhängigen germanischen Stamm des Festlandes, unterworfen hatte, umfaßte sein Reich alle Völker und Länder lateinischer und germanischer Sprache und katholischer Religion außer England und den christlich gebliebenen Teilen Spaniens. Die Stellung Karls des Großen entsprach dem "Wesen nach derjenigen des ehemaligen römischen Kaisers, und so ist es nur folgerichtig, wenn Karl auch dem Namen nach das römische Reich wieder aufleben ließ: A m Weihnachtstag des Jahres 800 krönte ihn der Papst auf dem Kapitol in R o m zum Kaiser. Doch das Reich Karls des Großen war trotz seiner Größe nicht von Dauer. Im Vertrag von Verdun 843 teilten es seine drei Enkel in drei Teile, von denen der östliche der Kern des späteren Deutschland geworden ist, während aus dem westlichen sich das spätere Frankreich entwickelte. Dem mittleren, der zuerst aus einem langen, von Holland bis Italien reichenden Länderstreifen bestand, gehörte auch die Schweiz an. Er zerfiel bald in seine natürlichen Bestandteile.

Vom fränkischen zum deutschen Reich

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Zu gleicher Zeit wurde Europa durch die Einfälle neuer Wandervölker heimgesucht: Von Osten fielen die Reitersdiaren der Ungarn über Europa her, die Normannen und die Sarazenen brandschatzten als Seefahrer die Küsten in Norden und Süden. Die Raubzüge der Sarazenen reichten bis in die Schweiz. Audi die Ungarn hinterließen eine düstere Erinnerung durch die Plünderung von St. Gallen. Der Zusammenbruch wurde noch durdi die Großen des Reiches selbst beschleunigt, von denen jeder das Recht in Anspruch nahm, seine Nachbarn mit Fehde zu überziehen. In diesem Chaos widerstrebender Gewalten ging das Reich vollständig zugrunde. Uberall kamen die örtlichen Gewalten wieder hoch. Die deutschen Stämme wählten sich wieder ihre eigenen Herzöge. Von einem Kaisertum war um 900 keine Rede mehr. Auch Burgund und Alemannien machten sich wieder selbständig. Im Jahr 888 gründete Rudolf I. das Königreich Hochburgund, das die Westschweiz, Savoyen und die Freigrafschaft umfaßte und 933 auch Niederburgund, das untere Rhonetal, erwarb. Dieses zweite Königreich Burgund hat jedoch mit dem ersten nur den Namen und die geographische Lage gemein; es war nicht mehr das Werk eines Stammes, sondern das einer Dynastie. — Am Anfang des 10. Jahrhunderts begründeten die Markgrafen von Rätien im Gebiet des ehemaligen Alemannien das Herzogtum Schwaben. Es mußte sich allerdings bald darauf dem neuen deutschen Reich eingliedern. Denn die Idee der abendländischen Einheit war bereits so tief ins Bewußtsein der Zeit gedrungen, daß auch die Entstehung lokaler Sondergewalten sie nicht mehr auszulösdien vermochte. Am Anfang des 10. Jahrhunderts stand der deutsche Stamm der Sachsen auf und übernahm die schwere, aber große Aufgabe, die Einheit des Abendlandes wieder herzustellen. Es gelang Herzog Heinrich, zunächst die deutschen Stämme wieder zu einigen. Sein Sohn, Otto der Große, überstieg 962 die Alpen und erneuerte in R o m das Kaisertum Karls des Großen. Als 1033 sich auch Burgund dem neuen Kaiserreich anschloß, waren wieder alle Gebiete der heutigen Schweiz im selben Staatsverband vereinigt. Dieses dem Namen nach römische, dem Wesen nach deutsche Reich, das Karl der Große um 800 gegründet und O t t o 962 erneuert hatte, dauerte ein volles Jahrtausend: bis zur Zeit Napoleons. Während mehr als der Hälfte dieser Zeit bildete das Gebiet der Schweiz einen Teil, und nicht den unbedeutendsten, dieses Reiches. In der unruhigen Zeit zwischen dem Untergang des karolingischen

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I. 4. Die Schweiz unter dem fränkischen und dem deutschen Reich

Reiches und der Neugründung durch die Deutschen waren in ganz Europa wichtige Veränderungen zum Abschluß gelangt. Es hatte sich die charakteristische mittelalterliche Gesellschaftsordnung, der Feudalismus, ausgebildet. Den Grund dazu hatten schon die Karolinger gelegt, indem sie damit begannen, die schwerfällige Volksarmee der Völkerwanderungszeit durch eine Reiterarmee von Berufskriegern zu ersetzen. Der Reiter erhielt vom König ein Lehen, das heißt ein Landstück samt den darauf wohnenden Bauern zur Nutznießung, und war dafür zum Kriegsdienst als Reiter verpflichtet. So bildete sich der Ritterstand aus, dessen Beruf das Kriegshandwerk war. Wie überall, so drangen auch in das Gebiet der Schweiz der Großgrundbesitz und das Lehenssystem ein. Die einfachen kleinen Bauern waren nicht imstande, sich in den unruhigen Zeiten vor den Ubergriffen der großen Herren selbst zu schützen. Die ursprünglich freien Bauern mußten sich überall freiwillig oder gezwungen in den Schutz mächtiger Grundherren begeben. Diese aber legten ihnen immer drückendere Verpflichtungen auf. Sie verloren das Waffenrecht und sanken von freien Bauern auf eigenem Grund und Boden zu abgabe- und fronpflichtigen Leibeigenen der Grundherren herunter. Am besten gestellt waren diejenigen, die nicht in die Hände eines Adeligen gerieten, sondern sich in den Schutz eines geistlichen Herren, eines Abtes oder Bischofs, retten konnten. Unter der milden Herrschaft eines Klosters zu stehen, galt im Mittelalter als großer Vorzug. „Unter dem Krummstab ist gut leben", hieß ein bekanntes Sprichwort. Auch das öffentliche Leben wurde dem System des Feudalismus eingegliedert, indem der Herrscher die Grafen dem grundbesitzenden Adel entnahm und sie nicht mit Geld, sondern mit Lehen besoldete. Die soziale, politische und wirtschaftliche Herrschaft war so in der Hand des Adels vereinigt. Während Karl der Große seine Vasallen und die Grafen noch fest am Zügel gehabt hatte, waren diese in der Zeit der Anarchie soweit erstarkt, daß sie sowohl Lehen wie Ämter in ihren erblichen Besitz verwandelten und beides der unmittelbaren Verfügung des Herrschers entzogen. Hoheitsrechte wurden immer mehr zu privatem Eigentum ihrer Inhaber und konnten wie anderer Besitz erworben und veräußert werden. Der deutsche Kaiser mußte mit der Erblichkeit der Ämter und Lehen als mit einer feststehenden Tatsache rechnen. Er mußte auch die inzwischen neugewählten Herzoge anerkennen, und so hatte das neue Reich einen

Feudalismus und Territorialfürstentum. Zähringer

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viel loseren Verband, als das karolingisdie und erst recht das römische gehabt hatten. Das Leben eines deutschen Kaisers war ein ununterbrochener Kampf um die Anerkennung seiner Autorität. Trotz der geringen äußeren Machtmittel haben die gewaltigen Kaiser des 10. und 11. Jahrhunderts das Reich in erstaunlicher Ordnung gehalten. Das wurde anders, als zu Ende des 11. Jahrhunderts dem Kaiser im aufstrebenden Papsttum ein Rivale entstand, der ihm die oberste Autorität im Abendland streitig machte. 1076 eröffnete der Papst Gregor VII. mit dem Bannstrahl, den er gegen Kaiser Heinrich IV. schleuderte, den erbitterten Kampf zwischen Kaiser und Papst, der 200 Jahre dauerte und erst mit der völligen Erschöpfung beider Parteien endete. Diese Kämpfe boten den großen Vasallen des Kaisers günstige Gelegenheit, sich eine noch größere, endgültige Selbständigkeit zu verschaffen. Als 1250 der letzte Hohenstaufenkaiser, Friedrich II., starb, hinterließ er das Reich in einem traurigen Zustande. Die königlichen Rechte waren fast restlos in die Hände der adligen Herren gefallen, die sich nun Fürsten nannten. U m die Abrundung der Fürstentümer erhob sich ein Kampf aller gegen alle; es kam die Zeit des Faustrechts herauf. Als nach einem dreiundzwanzigjährigen Interregnum im Jahre 1273 wieder ein König gewählt wurde, Rudolf von Habsburg, war er nicht viel mehr als eine unter den vielen streitenden Parteien. Auch das Gebiet der späteren Schweiz war zerwühlt von den Kämpfen zwischen Kaiser und Papst. Auch hier erhoben sich immer zahlreicher die Burgen des nach Macht und Besitz strebenden Adels. Unter den neuen Herren waren auch viele geistlichen Standes. So besaßen in der Schweiz die Äbte von St. Gallen und die Bischöfe von Basel, Sitten und Chur ausgedehnte Territorien und Hoheitsrechte. Aus dem Gewimmel der kleineren Dynasten, wie der Grafen von Kiburg, Lenzburg, Toggenburg, Neuenburg, Greyerz und der zahlreichen Ritter erhoben sich einige mächtige Fürstengeschlechter, die nach politischer Zusammenfassung des ganzen Landes strebten. Die ersten waren die Zähringer. Sie schlössen sich der päpstlichen Partei an und brachten das ganze Gebiet südlich des Rheins mittelbar oder unmittelbar in ihre Gewalt. Im Jahre 1098 mußte Kaiser Friedrich I. diese Tatsache im Frieden von Konstanz anerkennen. Da die Zähringer zugleich kaiserliche Statthalter in den burgundischen Ländern nördlich des Genfersees waren, umfaßte ihre Herrschaft zum erstenmal Gebiete beiderseits der Sprachgrenze. Eine besondere Bedeutung erlangten

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I. 4. Die Schweiz unter dem fränkischen und dem deutschen Reich

die Zähringer für die Schweiz dadurch, daß sie zahlreiche Städte als militärische Stützpunkte anlegten. Die zwei bedeutendsten sind Bern (1191) und Freiburg (1179), erbaut auf sicheren Felsen, die von drei Seiten von der Aare beziehungsweise der Saane umflossen werden. Beide Städte sind Gründer eidgenössischer Kantone geworden. Nach dem Aussterben der älteren Linie der Zähringer im Jahre 1218 waren die erfolgreichsten Dynastien der Schweiz im Osten die Habsburger, im Westen die Savoyer, die bis in die moderne Zeit eine europäische Rolle gespielt haben. — Die Habsburger, benannt nach ihrem Schloß im Aargau, das heute noch steht, erlangten mit Rudolf III. im Jahre 1273 die Königskrone; sie haben die deutsche Kaiserwürde nach längeren Unterbrechungen später f ü r dauernd an sich gezogen. König Rudolf ist auch der Begründer der habsburgischen Territorialmacht. Nachdem er den größten Teil des schweizerischen Mittellandes unterworfen hatte, brachte er Österreich in die Gewalt seines Hauses. Die Savoyer im Westen versuchten dasselbe, was Habsburg im Osten zu gelingen schien. Graf Peter, genannt der kleine Karl der Große, dehnte zeitweise seine Macht bis über die Aare aus, wurde jedoch von Rudolf von Habsburg in den Westen zurückgeworfen. Habsburg blieb damit die herrschende Macht zwischen Alpen und Jura, ein entscheidender Faktor für die Entwicklung der Schweiz. 5. KULTUR UND GESELLSCHAFT DES MITTELALTERS Im Mittelalter hatten sich unter dem Zwang der Verhältnisse drei voneinander streng geschiedene Stände gebildet. Der erste Stand der Ehre und dem Ansehen nach war die Geistlichkeit. Die politische Herrschaft war in den Händen des Adels, des zweiten Standes. Beider Fundamente und der Träger aller Lasten aber war der dritte Stand, der Bauer, in den meisten Ländern leibeigener Untertan des Adels oder der Kirche. Das Mittelalter sah in seiner Gesellschaftsordnung nicht das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung, sondern einen Teil der göttlichen Weltordnung. Jedem Stande war im Glauben dieser Zeit eine bestimmte Aufgabe im höchsten Weltplan gestellt. Die Geistlichkeit — und sie allein — hatte Seele und Gewissen der Menschen zu betreuen und durch ein heiliges Leben die Sünden der übrigen Menschheit aufzuwiegen. Dem Adel oblag die Führung des Schwertes, aber nicht zur Verteidigung eigener Gewalt, sondern zur Beschützung der Schwachen, zur Verteidigung der Gerechtig-

Ständeordnung. Ritterliche Kultur

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keit. Dem Bauern war es aufgetragen, der Menschheit das irdische Dasein zu ermöglichen. Jeder Stand sollte sich mit der ihm gestellten Aufgabe begnügen und hatte die Tugenden auszubilden, die dieser Aufgabe angemessen waren. Dem Adel allein sprach man Tapferkeit, Schönheit und Kraft zu, während der Bauer schon in seinem gebildeten Gang ein Bild der Unterwürfigkeit bot. Jeder Versuch, sich über seinen Stand zu erheben, galt als frevelhafte Überheblichkeit und Ungehorsam gegenüber der göttlichen Weltordnung. Die soziale Verachtung lastete schwerer auf dem dritten Stande als die drückendsten Abgaben. Bildung und Kunstbetätigung waren im früheren Mittelalter das Werk der Kirche gewesen. Später bildete auch das Rittertum seine eigene Kultur aus. Eine blühende und farbenprächtige Literatur stellte dem Adel die ritterlichen Ideale der Ehre, Treue und Tapferkeit vor Augen. Aber das Mittelalter war bestrebt, alles Gedankliche in sichtbare Bilder zu verwandeln. "Wenn es die Aufgabe des Ritters war, seine K r a f t in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen, so verbildlichte der Künstler diese Aufgabe z. B. im Drachenkampf. Der Drache ist das Symbol alles Bösen. Auch die Vollkommenheit hatte ihr sichtbares Symbol, und zwar in der Frau. Im uneigennützigen Dienst seiner „Herrin" entwickelte der Ritter die Kraft, die er brauchte, um sich selbstlos in den Dienst einer idealen "Weltordnung stellen zu können. Der Frauendienst ist der Ursprung der mittelalterlichen weltlichen Lyrik. Die schönsten Werke dieser ritterlichen Dichter sind in der Mannessischen Handschrift gesammelt, die in Zürich wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden ist. Es ist selbstverständlich, daß die obige Skizze der mittelalterlichen Gesellschaft nicht deren Wirklichkeit, sondern ein selten erreichtes Ideal wiedergibt. Im wirklichen Ritter tobte noch viel ursprüngliche Wildheit. Unbändige Kampfwut stachelte den Adel zu endlosen Fehden, zu denen das damalige Gesetz jedem Ritter das Recht gab. Diese Fehden wurden oft mit äußerster Grausamkeit, immer aber auf dem Rücken der wehrlosen Bauern durchgefochten. Von den Tugenden, mit denen der Adel seinen Herrschaftsanspruch rechtfertigte, besaß er meist nur die Tapferkeit, nicht aber Gerechtigkeit und Maß. Die feinen Sitten änderten daran nur wenig, da sie nur unter Gleichgestellten verbindlich waren. Das Fehderecht führte seit dem Niedergang des Kaisertums zu einer entsetzlichen Anarchie. Die Anarchie war im Mittelalter eine größere Plage als die Despotie. Man nahm

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I. 5. Kultur und Gesellschaft des Mittelalters

daher gern letztere in Kauf, wo sie imstande war, die Adelsanarchie zu überwinden. Es war dies der Fall in Frankreich und England. Dort unterdrückte die Monarchie nach langen Kämpf en den Feudalismus und errichtete eine neue feste und einheitliche Staatsautorität. In Deutschland gelang etwas Entsprechendes dem Könige nidit. Hier blieben im Gegenteil die Vasallen Herr und rissen ein Königsredit nach dem andern an sich, bis sie schließlich selbst selbständige Landesherren wurden und das Reich in eine Unzahl von Kleinstaaten zerfiel. Innerhalb des deutschen Reiches ging daher die Erneuerung des Staatslebens und die Überwindung der Feudalanarchie nicht vom König aus, sondern von den Einzelfürsten — und von Kräften, die wir im nächsten Kapitel zu betrachten haben werden.

II. PERIODE

Von der Gründung der Eidgenossenschaft bis zum Ende des Mittelalters 1. DER DREILÄNDERBUND Das Mittelalter war nicht nur die Zeit des Adels und der Kirche, es war zugleich eine Zeit großartiger Freiheitsbestrebungen. Als die Fürsten begannen, die feudale Anarchie durch eine neue Staatsautorität zu ersetzen, regten sich auch Kräfte des Volkes, die aus eigenem Antrieb dasselbe versuchten. Wir haben hier zwei Kräfte zu unterscheiden, eine alte und eine neue. Einerseits bestanden noch Überreste der alten Bauerngemeinden, die ihre uralte Freiheit und Selbstverwaltung aus der Zeit der Völkerwanderung herübergerettet hatten. Solche Bauerngemeinden, die über sich nur Gott und den Kaiser anerkannten, gab es an der Nordsee, in Friesland und Holstein, und in den Alpen, in Gebieten also, die abseits vom großen Weltgeschehen lagen. — Der andere Keim mittelalterlicher Volksfreiheit war die Stadt. Die ältesten Städte Süd- und Westeuropas stammten aus der Römerzeit. In den von Germanen besiedelten Gebieten hatten sich von ihnen nur kümmerliche Reste erhalten. Die Römerstädte standen im Mittelalter meist unter der Herrschaft des Bischofs, der die Nachfolge des römischen Präfekten übernommen hatte*). — Allmählich entstanden um große Abteien neue Mittelpunkte städtischen Lebens. Daraus erklärt es sich, daß eine ganze Reihe von Städten einem Abte unterstanden. In Zürich besaß die Äbtissin der 853 von Ludwig dem Deutschen gegründeten Fraumünsterabtei die Hoheitsrechte, auch St. Gallen unterstand dem Abte des Klosters. Ähnliche Zentren späterer Städte bildeten die königlichen Pfalzen. * ) Schweizerische Bischofsstädte aus römischer Zeit sind: Basel, Genf, Chur.

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II. 1. Der Dreiländerbund

Seit den Kreuzzügen (1096 bis 1291) hatten die Städte einen großen Aufschwung genommen. Die Kaufleute wurden reich durch den Orienthandel und überflügelten bald wirtschaftlich das Rittertum. Die Hoffnung auf die Abgaben der Märkte und auf militärische Vorteile reizte auch die Großen des Reiches, Städte anzulegen. Das 12., 13. und 14. Jahrhundert sind eine Epoche systematischer Städtegründung. Schon gleich von Anfang an wurde in diese jungen Gemeinwesen der Keim der Freiheit gelegt. Denn u m sie zu bevölkern, mußte der Gründer die Bürger mit ausgedehnten Freiheiten ausstatten. „Stadtluft macht frei", heißt ein Sprichwort des Mittelalters. Schon im 12. Jahrhundert begannen die reichen Städte Deutschlands und Italiens, sich von ihren Herren, Fürst oder Bischof, freizumachen. In langen, vielfach bis ins 16. Jahrhundert andauernden Kämpfen entwanden zahlreiche Städte dem Stadtherren seine Gewalt und errichteten eine Selbstverwaltung, wie sie die alten Landgemeinden besaßen oder die griechisch-italischen Stadtrepubliken des Altertums besessen hatten. Das Organ ihrer Selbstverwaltung war der Rat, das Herz des städtischen Lebens das Rathaus, das meist am Marktplatz stand. Die Freiheit der städtischen und bäuerlichen Gemeinden widersprach zunächst durchaus nicht der Einheit des Reiches. Das mittelalterliche Reich hatte eine viel größere Mannigfaltigkeit und' geistige Weite als irgendein moderner Staat. Jedes natürlich entstandene Gebilde konnte in ihm Daseinsrecht erwerben, und doch bildete das Ganze eine ideelle Einheit. Es schloß in sich Monarchien und Republiken, geistliche und weltliche Herrschaften, Aristokratien und Demokratien. Das höchste Ziel der Bürgerschaften war, Reichsfreiheit zu erwerben, ihre Stadt zur Reichsstadt zu erheben. Die Reichsstadt hatte keinen Herrn über sich als den Kaiser selbst. Dies bedeutete praktisch fast vollständige Selbstverwaltung, denn der Kaiser machte nur auf wenige, fest umschriebene Rechte Anspruch. Die ganze innere Ordnung blieb der Bürgerschaft selbst überlassen. Je mehr der Kaiser in seiner Macht geschwächt wurde, desto weniger konnte er die Freiheit seiner Städte schützen. So waren sie gegenüber dem übermütigen Adel schließlich auf Selbsthilfe angewiesen. Das stärkte ihr Selbstgefühl und zwang sie, sich zu militärischer Macht zu erheben. Reichsstädte wurden als Kollektivwesen dem Adel allmählich ebenbürtig. Feste Mauern und Tore schützten die Märkte und Bürgerhäuser vor Uberfällen. Das ganze deutsche Reich, mit Einschluß von Flandern und Norditalien, war am Ende des Mittelalters mit diesen Keimen der Freiheit übersät. Auch

Städtische Selbstverwaltung. Die drei Waldstätte

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die bisher rein bäuerliche alemannische Schweiz erhielt am Ende des Mittelalters ihr städtereidies Antlitz. Fürstliche Gründungen dieser Zeit sind neben den schon genannten Städten Freiburg und Bern unter anderem Aarau, Winterthur, Thun, Burgdorf, Rapperswil. Die Schweiz als politisches Gebilde ist entstanden aus dem Zusammenschluß solcher freier Bauern- und Bürgergemeinden. Sie wurzelt also als staatlicher Organismus im späteren Mittelalter. Die eigentlichen Gründer der Eidgenossenschaft aber sind die drei Bauerngemeinden Uri, Schwyz und Unterwaiden, die sogenannten Waldstätte, die im Herzen der Alpen den buchtenreichen Vierwaldstätter See umlagern. In zahlreichen Alpentälern hatten sich aus der Völkerwanderungszeit die persönliche Freiheit der Bauern und die Organisation der Bauerngemeinden erhalten, die beide im Flachland dem Feudalismus hatten weichen müssen. Die Gemeinden waren oft zugleich Gerichtsgemeinden und Markgenossenschaften, d. h. politische Einheiten und wirtschaftliche Verbände zur Verwaltung der gemeinsamen Alpweiden und Wälder. W o sich feudale Grundherrschaften gebildet hatten, hatten sie die gleichen Pflichten und Rechte wie der gewöhnliche freie Bauer. Eine Ständetrennung verhinderte von Anfang an der allen gemeinsame Kampf mit der harten Natur des Landes und die oberste Autorität der Landsgemeinde5''), auf der jährlich über die allgemeinen Angelegenheiten beraten und beschlossen wurde. Im Rat der Gemeinde galt der Freiherr und Grundbesitzer nicht mehr als der einfache Landmann. In diesem Bergland fühlte sich der freie Bauer noch dem Adel ebenbürtig. In U r i und S c h w y z hatten sich sowohl Gerichtsgemeinden als auch Markgenossenschaften erhalten. Die große Mehrzahl der Bewohner waren freie Bauern, nur wenige waren Hörige größerer Grundherrschaften. Als ihr Oberhaupt wählten die Landleute selbst ihre Ammänner**). Das Tal U r i hatte der erste deutsche König, Ludwig der Deutsche, im Jahre 853 der Fraumünsterabtei von Zürich geschenkt, deren erste Äbtissin seine Tochter war. Diese Schenkung beeinträchtigte aber nicht die persönliche Freiheit der Talbewohner. Sie hatten bloß ihre Abgaben nach Zürich zu *) Versammlung der stimmfähigen Bürger eines Kantons Zur Ausübung der politischen Reite. **) Ammann = Bezeichnung f ü r Bezirks- und Gemeindevorsteher, Landammann = Regierungsvorsitzender eines Kantons. „Landmann", Mehrzahl „Landleute" = Angehörige einer Landgemeinde, entsprechend dem „Bürger" der Stadt.

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II. 1. Der Dreiländerbund

entrichten. Politisch stand Uri nicht unter einem Grafen, sondern unter dem Reidisvogt von Zürich. Reichsvogt wurde derjenige Beamte genannt, der im Namen des Königs die Befugnisse ausübte, die dem König noch geblieben waren. N u r selten erschien er in den abgelegenen Tälern. Die Lage der S c h w y z e r war weniger günstig, da die Habsburger dort im erblichen Besitz der Grafschaftsrechte waren. Doch hatte man in Schwyz noch nicht vergessen, daß der Graf nur ein Beauftragter des Königs war, und man war keineswegs gewillt, sich zum Untertanen einer habsburgischen Familienherrschaft herunterdrücken zu lassen. Als Herrn anerkannten auch die Schwyzer nur den König. Der Graf, auch wenn es der mäditige Habsburger war, galt ihnen nur als dessen Stellvertreter. Tatsächlich genoß Schwyz wie Uri fast vollständige Selbstverwaltung. U n t e r w a i d e n war gegenüber den beiden andern Tälern dadurch im Nachteil, daß sich die ursprüngliche politische Einheit der Gerichtsgemeinde aufgelöst und die einheitliche Markgenossenschaft nie bestanden hatte. Grundherrschaften und freie Bauern hielten sich ungefähr die Waage. Im 13. Jahrhundert setzte die Bildung von Gemeinden ein, die Freie und Unfreie gleicherweise umfaßten. Die Habsburger aber hatten hier eine stärkere Stellung als in den andern beiden Tälern. Sie waren Inhaber der gräflichen Gewalt und der Vogtei über die Klöster. Unterwaiden konnte seine Freiheit später nur durch Anschluß an die beiden Nachbartäler erlangen. Als das Land die politische Unabhängigkeit errang, gewann es jedoch nicht zugleich die politische Einheit. Die zwei Talschaften bildeten jede für sich einen besonderen Kanton, Ob- und Nidwaiden, und sie sind bis heute getrennt geblieben. Im Verhältnis zur Gesamteidgenossenschaft dagegen gelten sie als ein einziger Kanton. Lange Zeit führten die Bergbewohner in ihren weltabgeschiedenen Tälern unangefochten ihr freies Hirten- und Bauernleben. Die Wege der Reichspolitik führten über die Bündnerpässe im Osten und den Großen St. Bernhard im Westen. Da wurde gegen Ende des 12. Jahrhunderts über den Gotthard ein neuer Weg geschaffen (1293 zum erstenmal urkundlich erwähnt). Der „stiebende Steg", der außen um einen Felsen herumführte, und die „Teufelsbrücke" machten die Schöllenenschlucht gangbar. Sie sind die ersten technischen Leistungen schweizerischen Straßen- und Brückenbaus. Der Kampf zwischen Kaiser und Papst war gerade auf dem Höhepunkt. So ist es verständlich, daß die Länder um den Gotthardpaß, der die leichteste und kürzeste Verbindung zwischen Deutschland und

Gotthardstraße. Reidisfreiheit Uris

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Italien darstellte, mehr als bisher die Aufmerksamkeit auf sich zogen und die Begehrlichkeit großer Herren des Tieflandes weckten. Im Gebiet der späteren Schweiz waren im 13. Jahrhundert die Habsburger die mächtigsten Herren. Große Teile des Mittellandes waren in ihrem Besitz, und schon griffen sie weiter nach den Bergen aus. Auch auf den Gotthardpaß und die drei Länder am See hatten sie es abgesehen. Sie benutzten, wie alle andern Dynasten audi, ihre gräflichen Rechte als Mittel zur Errichtung einer persönlichen Landesherrschaft. Mit Hilfe einer gehorsamen Beamtenschaft suchten sie wieder geordnete und abgerundete Staatswesen zu bilden, zugleich aber audi die freien Angehörigen des Reiches zu steuerpflichtigen Untertanen ihres Hauses zu machen. Für die meisten Länder bedeutete die Errichtung einer solchen Landesherrschaft eine Wohltat, denn sie befreite die Bevölkerung von der Anarchie der Adelsherrschaft. Für die Täler um den Vierwaldstätter See aber hätte sie zugleich den Verlust der Freiheit bedeutet. So wurde die Abwehr der Habsburger der Grundtrieb der Politik der Bergbewohner. Am Anfang des 13. Jahrhunderts führte Graf Rudolf I. von Habsburg den ersten Schlag gegen die Freiheit der drei Länder. Er nützte eine N o t lage des Königs Heinrich, des Sohns und Statthalters Kaiser Friedrichs II., aus und ließ sich das Tal Uri gegen eine Summe Geld verpfänden. Er hoffte damit die Gotthardstraße in die Gewalt seiner Familie zu bringen. Er hatte aber nicht mit dem Freiheitsdrang der Urner gerechnet und noch weniger mit ihrer Energie und ihrem Weitblick. Die Urner, die sogleich sahen, was auf dem Spiele stand, brachten, wahrscheinlich aus den Zöllen der Gotthardstraße die Summe auf, die zu ihrem Loskauf nötig war. Sie übergaben das Geld dem König und erlangten dafür von ihm den ersten schweizerischen Freiheitsbrief""). Heinrich kaufte sie von Habsburg los und versprach ihnen, daß sie nie wieder vom Reiche veräußert werden dürften (1231). Uri hatte damit die rechtliche Bestätigung seiner Reidisfreiheit erhalten. Reidisfreiheit war zur Zeit Karls des Großen der natürliche Rechtsstand des freien Bauern gewesen. Nachdem aber die Bauernfreiheit fast überall erloschen war, bedeutete es eine einzigartige Tat, daß ein kleines Land im Getriebe der großen Politik seine alte Freiheit gegen die Entwicklungstendenz der ganzen Zeit zu sichern verstand und dafür sogar die königliche Bestätigung erlangte. Seit dem Freiheitsbrief von 1231 war Uri tatsächlich *) Freiheitsbrief, auch Freibrief — Freiheitslirkunde. 3

Wartburg, Schweiz

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II. 1. Der Dreiländerbund

eine unabhängige Republik. Die königlichen Rechte übte im Namen des Königs der Amman des Landes aus. Seit 1243 führt Uri ein eigenes Siegel. Die Freiheitstat der Urner war ein Ansporn auch für die Schwyzer. Im Kampf zwischen Kaiser und Papst nahmen sie für Friedrich II. Partei. Eine Schar Schweizer marschierte 1240 nach Italien ins Lager des Kaisers vor Faenza. Sie boten dem Kaiser freiwillig ihre Hilfe an und erhielten dafür auf ihre Bitte einen Freiheitsbrief, in dem er ihre Reichsfreiheit anerkannte. Bemerkenswert ist der persönliche Ton der Urkunde. Der Kaiser hebt rühmend hervor, daß die Schwyzer aus eigenem Entschlüsse sich an ihn gewendet hätten, lobt ihre Treue und nimmt sie unter seinen persönlichen Schutz. Die Schweizer Freiheit stand also anfangs nicht im Gegensatz zum Reich, sie war im Gegenteil verbunden mit der Treue zum Reich. Die Absicht der Bergleute war nicht, sich aus dem Staatsverband herauszulösen — was sie wollten, war nur, daß sich kein anderer Herr zwischen sie und den Kaiser dränge. Aus der immer noch anschwellenden Flut des Feudalismus ragte der Kaiser wie ein Fels alter Volksfreiheit. Auf ihn hofften auch in Deutschland noch jahrhundertelang, bis zu den Zeiten Huttens und des deutschen Bauernkrieges die gedrückten Bauern und alle Anhänger der Freiheit. Die Freiheitsbriefe bedeuteten also auch nicht eine revolutionäre Neuerung, sondern nur eine rechtliche Bekräftigung der von jeher bestehenden Reichsfreiheit der zwei Täler. Daß eine solche Bekräftigung damals nötig war, beweist nur, daß dieser Freiheit von anderen Mächten Gefahr drohte. Der Untergang des letzten mächtigen Kaiserhauses, der Hohenstaufen, in der Mitte des 13. Jahrhunderts, brachte für die Waldstätte eine schwierige Zeit. Während zweier Jahrzehnte fehlte dem Reich das Oberhaupt, die Waldstätte waren völlig auf sich gestellt. Ein Glück war es für sie, daß das Haus Habsburg sich in zwei Linien spaltete, wobei die Güter und Rechte in der Innerschweiz*) an die jüngere und schwächere Linie fielen. So wurde ihre Freiheit, obschon sie von den Habsburgern nicht anerkannt war, doch auch nicht ernstlich angefochten. — Das wurde anders, als 1273 Graf Rudolf III. von Habsburg, seit 1239 Haupt der älteren Linie, auch den Besitz und die Rechte der jüngeren Linie in der Innerschweiz erwarb. Rudolf hatte eine besonders glückliche Hand im Erraffen von Ländern. '') Innerschweiz, Zentralsdiweiz, Urschweiz, U r k a n t o n e : Bezeichnungen für die Täler um den Vierwaldstätter See.

Schwyz reichsfrei. Gefahr Habsburg. Territorialherrschaft

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Sein Gebiet umfaßte schließlich fast das ganze schweizerische Mittelland und umklammerte bereits die drei Länder von allen Seiten. Diese gerieten in Gefahr, sowohl ihre persönliche Freiheit als auch ihre Reichsunmittelbarkeit zu verlieren. Die Gefahr stieg aufs höchste, als Rudolf noch im selben Jahr zum deutschen König gewählt wurde. Auch als König trieb Rudolf in erster Linie Hausmachtpolitik, d. h. er benutzte seine königlichen Redite dazu, die Herrschaft seiner Familie zu vergrößern. Was noch übrig war an Reichsgütern oder an Reichsrechten, ließ er von denselben Beamten verwalten wie sein privates Hausgut, so daß die Reichsgüter mit den Hausgütern verschmolzen, der Unterschied verwischt wurde. Wie weit Rudolf mit solchen Versuchen auch in den Waldstätten ging, ist mit Sicherheit nicht festzustellen. Doch der Wortlaut der Bundesurkunde und die Teilsage, welche von der Unterdrückung des Landes durch habsburgische Vögte berichtet, lassen ahnen, daß der König auch hier seinen Hausbeamten die Reichsrechte übertrug. Empörend für die freien Bauern war, daß landesfremde Beamte nun über sie Recht sprechen sollten, die dazu meist unfreien Standes waren. Von Anfang an wehrten sie sich dagegen mit der ihnen eigenen Zähigkeit. Doch nurUri war gegen Rudolf rechtlich gesichert. Unterwaiden hatte, so weit wir sehen, überhaupt noch keine kaiserliche Freiheitsurkunde erworben. Den Freiheitsbrief der Schwyzer anerkannte der König nicht, da Friedrich II., als er ihn ausgestellt hatte, im Kirchenbann gewesen war. Auch die entschiedenste Reichstreue half den Schwyzern nicht. Als sie Rudolf wie seinerzeit Friedrich II. freiwillig bewaffnete Hilfe brachten, erhielten sie zwar die rote Reichssturmfahne mit dem Christuskreuz als Feldzeichen (das Urbild der heutigen Schweizerfahne), nicht aber die Bestätigung des Freiheitsbriefes von 1240. Die Schwyzer wurden gerade dadurch zu den eigentlichen Bannerträgern der Freiheit, daß ihre Freiheit am stärksten gefährdet war. Sie sind es auch, die der Schweiz den Namen gegeben haben. A m 15. Juni 1291 starb König Rudolf. Sogleich erhoben sich die Bedrückten in ganz Süddeutschland gegen seinen Sohn, Herzog Albrecht. Auch die drei Waldstätte schlössen sich dem allgemeinen Aufstand an. Doch schon im folgenden Jahr wurde die Erhebung von Albrecht niedergeschlagen. Ihr einziges dauerhaftes Ergebnis blieb der Bund der drei Länder. Diese hatten sich von Anfang an nicht auf fremde Hilfe, sondern auf die eigene Kraft verlassen. N u r ein festes Zusammenhalten aber versprach dauerhaften Schutz gegen Habsburg. So schlössen die drei Länder Anfang

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II. 1. Der Dreiländerbund

August 1291 ihren „Ewigen Bund" und legten damit den Grund zur heutigen Schweiz. Die Urkunde gibt sich als Erneuerung eines älteren Bundes. Dies beweist, daß die ersten gemeinsamen Verteidigungsmaßnahmen der drei Länder schon weiter zurückliegen. Doch ist nicht mehr mit Sicherheit zu sagen, wann dieser ältere Bund geschlossen worden war. Möglicherweise steht er noch im Zusammenhang mit den letzten Kämpfen zwischen dem Papst und den Hohenstaufen in den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts. — Die drei Länder versprachen sich in dem Vertrag unbedingte Hilfe gegen jeden, der ihnen Unrecht zufügen würde. Der Wille, die Selbstverwaltung auch gegen Habsburg, ja gegen den König zu behaupten, spricht sich in dem „Richterartikel" aus: „Wir h a b e n . . . gelobt, daß wir in unseren Tälern keinen Richter annehmen oder anerkennen, der dies Amt um irgendeine Gabe oder um Geld erkauft hätte oder nicht unser Landsmann oder Einwohner wäre." Doch die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Grundherren wurden ausdrücklich anerkannt. Es handelt sich um eine politische Erhebung, die nicht zu vergleichen ist mit den französischen oder englischen Bauernerhebungen des 14. Jahrhunderts. Der Vertrag begründete weiterhin einen Zustand der Rechtssicherheit, indem er die alte germanische Selbsthilfe, wie eigenmächtige Pfändung des Schuldners, verbot. Jedermann sollte Recht bei seinem Richter suchen und es sich nicht selbst mit Gewalt verschaffen. Gegen Mörder und Brandstifter und ihre Hehler wurden Strafbestimmungen aufgestellt. Streitigkeiten zwischen den Tälern sollten durdi Schiedsgericht geschlichtet werden. — "Was der Kaiser für das Reich vergeblich erstrebt hatte, was die Fürsten in ihren Territorien durch das Mittel des von oben regierten Beamten- und Zwangsstaates erreichten, das schufen die Bauern der drei Täler in Freiheit und aus eigener Kraft: eine dauerhafte Rechts- und Friedensordnung. Einzigartig wie die durch Bauern geschaffene Friedensordnung war auch die Bestimmung, daß der Bund ewig dauern sollte. V o n Anfang an dachten seine Gründer nicht nur an ein vorübergehendes Zweckbündnis, sondern an eine dauernde Verbindung. Da der Bund nicht nur von den Obrigkeiten, sondern von allen Landleuten persönlich beschworen wurde, nannten sie sich Eidgenossen. „Schweizerische Eidgenossenschaft" ist bis heute der offizielle Name der Schweiz geblieben. Seit 1291 haben die Eidgenossen ihre Selbständigkeit dauernd zu behaupten gewußt. Doch fiel ihnen die Freiheit nicht als Geschenk zu. Sie mußten alle Energie, allen Opferwillen, alle diplomatische Geschicklichkeit ein-

Der Bund von 1291. Morgartenkrieg

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setzen, deren sie fähig waren. Denn Habsburg dachte nicht daran, auf den Besitz des Gotthardpasses zu verzichten. Ein Glück war es für die Eidgenossen, daß wiederholt habsburgfeindliche Fürsten zu Königen gewählt wurden, Adolf von Nassau (1291) und Heinrich VII. (1308). So konnten sidi die Habsburger nidit mit aller Kraft auf sie werfen, auch König Albrecht fand während seiner kurzen Regierungszeit (1298 bis 1308) keine Gelegenheit sie zu unterwerfen, und so blieb alles fünfundzwanzig Jahre lang in der Schwebe. 1309 erlangten die Eidgenossen sogar die Anerkennung ihrer Reichsunmittelbarkeit durch Heinrich VII. Der König stellte allen drei Ländern, zum erstenmal auch Unterwaiden, gleichlautende Freiheitsbriefe aus, befreite sie von jeder auswärtigen Gerichtsbarkeit außer der königlichen und faßte sie unter einem eigenen Reichsvogt zu einer besonderen Reichsvogte i zusammen. Aber auf wirkliche Hilfe von Seiten des Königs konnten sie nicht rechnen. Zwar kam ihnen der Gegensatz zwischen Habsburg und dem Könige dadurch zugute, daß er die Kräfte der Habsburger anderweitig band. Doch blieben sie darauf angewiesen, ihre nun von Reichs wegen anerkannte Freiheit selbst zu schützen. Die Doppelwahl nadi dem Tode Heinrichs VII. brachte die Entscheidung. 1314 wählte ein Teil der Kurfürsten Friedrich von Habsburg, die Gegenpartei Ludwig von Bayern zum König. In dem ausbrechenden Thronkrieg hielten sich die Eidgenossen zum Wittelsbacher, obwohl sie rings von den Ländern ihres habsburgischen Feindes umgeben waren. Die Habsburger waren entschlossen, mit den widerspenstigen Bauern endgültig abzurechnen, und ihr Angriff ließ nicht auf sich warten. Im Herbst 1315 sammelte der Bruder König Friedrichs, Herzog Leopold, ein stattliches Heer, das über den Morgarten in das Land einfallen sollte. Es war der einzige Paß, den die vorsichtigen Eidgenossen noch nicht befestigt hatten. Die beabsichtigte Überraschung mißlang aber, da die Eidgenossen durch ihren guten Nachrichtendienst Kunde von dem Plan erhalten hatten. Sie führten den Krieg eben nidit als primitives Naturvolk, sondern waren vertraut mit allen Erfordernissen damaliger Kriegführung. Am 15. November empfingen sie den überraschten Feind, als er, auf der Straße zwischen dem Aegerisee und dem Morgartenberg anmarschierend, sidi in denkbar ungünstiger Lage befand, mit einem Steinhagel, der das ganze Ritterheer in Verwirrung brachte. In kurzer Zeit lagen Hunderte von Rittern auf

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II. 1. Der Dreiländerbund

dem Schlachtfeld, und der Rest der Armee stürmte in wilder Flucht davon, wobei ein großer Teil in den See gedrängt wurde und ertrank. Die Schlacht am Morgarten ist der erste große kriegerische Erfolg der Eidgenossen, und er hat ihren europäischen Ruf begründet. Seit Jahrhunderten war man gewohnt, nur noch Ritter im Kampfe zu sehen. Doch erwies sich die ritterliche Kriegführung als gänzlich ungeeignet zu einem Gebirgskrieg, und gegenüber der neuen Waffe der Eidgenossen, der Hellebarde, einer Verbindung von Axt, Spieß und Haken, hielten die besten Panzer nicht stand. Mit dem Haken rissen die Hirten den Ritter vom Pferde, mit der Axt durchhieben sie dann dem hilflos am Boden Liegenden Panzer, Helm und Schädel. Wenige Wochen nach ihrem Siege, am 9. Dezember 1315, erneuerten die Eidgenossen in Brunnen zum zweitenmal ihren Bund, den sie diesmal in deutscher Sprache niederschrieben. Sie fügten ihm die Bestimmung bei, daß kein Land sich mit fremden Mächten ohne Erlaubnis der zwei anderen verbinden dürfe. Die drei Länder traten seither gegen außen als eine geschlossene Einheit auf. Ludwig der Bayer bestätigte 1316 sämtliche Freiheitsbriefe der Eidgenossen. 1323 huldigten diese einem ihnen gestellten Reichsvogt nur unter der Bedingung, daß sie auch nicht mehr an das königliche Hofgericht gezogen werden dürften. Schon traten sie auch dem Reichsoberhaupt als selbständige Macht gegenüber. Seit 1331 erscheint kein Reichsvogt mehr in den Tälern, sie sind praktisch unabhängige Republiken geworden.

2. DIE BEFREIUNGSSAGE

Die Eidgenossen waren sich wohl bewußt, daß sich in ihrem Freiheitskampf eine Kraft offenbarte, der die Zukunft gehörte. Nur so ist die Entschlossenheit der Staatsmänner und die Todesverachtung der Kämpfer zu begreifen. Das Volk hatte nicht nur die äußere Kraft zur Befreiung, sondern auch die geistige Kraft, durch die Zufälligkeiten der äußeren Ereignisse hindurch den tieferen Sinn der eigenen Taten zu erkennen. Das Bild, das sich das Volk von diesen Taten machte, gibt uns die Befreiungssage. Sie zeigt in großen Gestalten die Kräfte, die die Befreiung bewirkten, und enthält so eine höhere Wahrheit als alle Historie, die auf zufällig erhaltene schriftliche Quellen angewiesen ist.

Tell und der Rütlisdvwrur

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Da ist einmal der habsburgische Landvogt Geßler, der das Volk unterdrückt und es in absichtlich demütigender Form seine Ohnmacht fühlen läßt. Auf offenem Platze in Altdorf steckt er einen H u t auf einen dürren Stecken und befiehlt jedermann, vor dem Hute sein Knie zu beugen. Den Schützen Teil, der den Hut nicht achtet, zwingt er, einen Apfel v o m Haupte des eigenen Sohnes zu schießen. Teil stedkt vor seinem Meisterschuß einen zweiten Pfeil in seinen Gürtel. Nachdem der Apfel gefallen ist, verlangt der Vogt den Sinn dieser Handlung zu erfahren. Teil entgegnet ihm, nachdem ihn der Vogt seines Lebens versichert hat, daß der zweite Pfeil für ihn selbst bestimmt war, hätte der erste seinen Sohn getroffen. Da deutet Geßler sein Wort um: er habe Teil zwar das Leben, nicht aber die Freiheit gesichert. Er läßt ihn binden und gefangen über den See führen. Doch ein Sturm bricht aus. Der Vogt weiß sich nicht anders zu helfen, als indem er seinem Gefangenen das Steuerruder übergibt. So erhält Teil die Möglichkeit sich zu befreien. In einem Hohlweg erschießt er den Vogt und befreit sich und die Seinen von dem Verfolger. Teil tut also äußerlich nichts anderes, als daß er sich in gerechter Notwehr seines Feindes entledigt. Doch damit wird er zum Befreier des Landes. Denn schon sind andere bereit, die T a t des Teil fortzusetzen und das Befreiungswerk zu vollenden, während Teil wieder in den Hintergrund tritt. Es sind die drei ersten Eidgenossen. In nächtlichen Zusammenkünften auf dem Rütli, einer Waldwiese am See, haben sie zusammen mit dreißig Gesellen einen geheimen Bund zur Befreiung ihrer Heimat geschlossen. Gleich nach dem Tode Geßlers bricht der Aufstand los. Die Burgen werden gebrochen, die übrigen Vögte vertrieben, das Land befreit und der Bund öffentlich besiegelt. Zwei Epochen stellt die Sage einander gegenüber. In dem Vogt verkörpert sie den alten Stand des Adels, den seine Tugenden zur Herrschaft befähigt hatten. Doch diese Tugenden sind entartet. Der Vogt mißbraucht seine Gewalt, er mißhandelt seine Untergebenen, er bricht in unedler Weise das Vertrauen, das Teil in sein Wort gesetzt hatte. Dieselben Rittertugenden aber, die der Vogt verrät, leben in neuer Weise in den einfachen Bauern des Gebirges. Der Gang der Sage zeigt, wie Teil zuerst durch seine Haltung vor dem Vogt und im Sturm auf dem See Proben der Selbstbeherrschung, des Mutes, der Wahrhaftigkeit und der Besonnenheit ablegen muß, bevor er aus eigener Befugnis die höchste Tugend, die Gerechtigkeit üben und den Vogt nach eigenem Richterspruch mit dem Pfeil

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II. 2. Die Befreiungssage

richten darf. Audi die Landleute beweisen ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung durch Mäßigung und Verzicht auf Rache. Nicht politische Theorien und nicht ungezügelte Begierden sind es also, die sich hier gegen die alte göttliche Ordnung der mittelalterlichen Welt auflehnen. Der eidgenössische Bund war in Wahrheit von keiner anderen Kraft getragen als das Reich selbst. Wie die Lehensordnung, so beruhte auch die Eidgenossenschaft auf der christlichen Grundkraft von „Treu und Glauben": auf der „Treue" zur gemeinsam beschworenen Rechtsordnung und auf dem „Glauben", daß in jedem Eidgenossen der selbe freie Wille zur rechtlichen Gemeinschaft lebendig und wirksam sei. Teil spricht vor Geßler ein Wort, das in seiner ganzen Schlichtheit eine Offenbarung dieser gemeinsdiaftsbildenden Grundkraft ist. Auf die Frage, warum er den Hut des Vogtes nicht gegrüßt habe, antwortet er: „Es ist geschehen ,ohne Gefährde', denn wäre ich witzig, dann hieße ich nicht der Teil". Der Ausdruck „ohne Gefährde" bedeutet so viel wie „ohne Arglist, ohne Hintergedanken". In allen eidgenössischen Verträgen bekräftigt dieser Ausdruck die Absicht der Vertragschließenden, niemals den ursprünglichen Sinn des Vertrages durch juristische Auslegung oder Ausdeutung des Wortlautes zu verfälschen. Die Kunst der Auslegung, der Überlistung, der Diplomatie aber ist das, was im Mittelalter der „Witz" genannt wurde. Und „Witz" ist es, was Geßler in unritterlicher Weise gegen Teil betätigt, indem er das gegebene Wort anders auslegt, als Teil es verstanden hatte. Dadurch aber zerschneidet er das Band von Treu und Glauben, das den Menschen an den Menschen bindet und stellt sich außerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Der Ausspruch Teils läßt darauf schließen, daß das Wort „Teil" ursprünglich nicht ein Eigenname, sondern Bezeichnung eines Mannes war, der sein Verhältnis zum Mitmenschen allein auf Treu und Glauben gründet, unter Verzicht auf jede Anwendung des „Witzes". — Der Bund der Eidgenossen bedeutet also nicht Zerstörung, sondern letzte Erfüllung des Reiches. Denn der Sinn des christlichen Reiches des Mittelalters bestand nicht in äußerer Organisation oder Herrschaft. Es war vielmehr da, und nur da, wirklich lebendig, wo die ritterlichen und christlichen Tugenden stark genug waren, Frieden und Recht unter den Menschen zu schaffen und damit einen wahren, auf menschliche Gesinnung, nicht auf äußere Macht gegründeten Einklang zwischen der menschlichen Gemeinschaft und der göttlichen Weltordnung herzustellen. Das Neue am eidgenössischen Bund ist, daß hier Treu und Glaube nicht mehr die hierarchische Beziehung zwischen Lehensherrn und

Die Befreiungssage als mythisches Urbild der Eidgenossenschaft

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Vasallen, sondern die Gemeinschaft freier, gleichgestellter Männer begründen. Nur dem Adel hatte das Mittelalter bisher die Kräfte zugesprochen, die Frieden und Recht aufrechterhalten können. Jetzt aber waren die Tugenden, die den Adel und den König zur Herrschaft befähigten, im einzelnen Menschen erwacht und lebendig geworden. Er war reif geworden, sein Leben aus eigener Kraft der göttlichen Weltordnung einzugliedern. Es war der Augenblick eingetreten, da der Freiherr von Attinghausen bekennen mußte: Hat sich der Landmann solcher Tat verwogen, Ja, dann bedarf er unser nicht mehr! .„ , ... . J (Schiller) Die alte Hierarchie aber hatte ihr Herrschaftsrecht selbst verwirkt, da sie nicht imstande war, diese individuelle Kraft als ihr gleichberechtigten Träger der Rechtsordnung anzuerkennen, wie sie noch Friedrich II. durch den Sdiwyzer Freiheitsbrief von 1240 anerkannt hatte. Sie selbst hatte ja begonnen, das menschliche Band von Treu und Glauben durch die Kette der Organisation und der Beamtenbürokratie zu ersetzen. Jahrhundertelang noch versuchten die Vorkämpfer der alten Hierarchie, auch den Eidgenossen diese Ketten aufzuerlegen und sprachen ihnen das Recht ab, die Friedensordnung des Reiches auf ihre eigene Weise, als Bund freier Männer, zu verwirklichen. Die Eidgenossen aber hielten unbeirrbar an dem einmal Gewonnenen fest und wußten es auch gegen scheinbar überlegene Mächte zu behaupten. Wie die Griechen von ihren Dichtern die Gedanken und Bilder erhielten, die sie zum Leben brauchten, und die Römer von ihrem Gesetzbuch, so war bis in die moderne Zeit die Befreiungssage eine Quelle der Kraft für die Eidgenossen. In ihren Gestalten sahen sie die Vorbilder ihres eigenen Lebens. In den verschiedensten Formen wurde die Sage überliefert: als Volkslied, als Erzählung, auf der Bühne des Volkstheaters, im Werke des Historikers, bis sie im Drama Schillers ihre klassische Endform erhalten hat. Erst das 19. Jahrhundert wagte es, die Sagengestalten ernsthaft anzugreifen. Aber mag auch die Wissenschaft ihre historische Wirklichkeit in Frage stellen, eines kann nur die Sage geben: das Urbild des wahren Eidgenossen. Nicht einer Regierung, auch nicht einer Volksmehrheit ist der Eidgenosse verpflichtet, sondern allein der göttlichen Weltordnung. Was diese von ihm verlangt, das sagt ihm kein Priester und kein König, das sagt ihm allein sein eigenes freies Gewissen. Da diese Freiheitskraft in allen Landleuten lebte,

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II. 2. Die Befreiungssage

blieb die Tat des Teil nicht die bedeutungslose Tat eines Einzelnen, sondern sie fand augenblicklich Anklang und Fortsetzung aus der Gesamtheit des Volkes. Die Tat des Einzelnen wurde zum Ausgangspunkt für eine neue Gestaltung der Gemeinschaft, ohne daß Teil deshalb eine offizielle Führung hätte übernehmen müssen. Nicht eine Revolution der Willkür und der Unordnung bedeutete die Befreiung der drei Täler, sondern im Gegenteil die stärkste Ordnung. Denn ihr Kraftquell war nicht die Weisheit einer Regierung, sondern das Gewissen jedes Talgenossen. In der bildlichen Darstellung des Bundesschwures halten die drei ersten Eidgenossen ihre linke Hand aufwärts, zum Zeichen, daß sie ihre innersten Beschlüsse vor dem höchsten Richter zu verantworten gedenken. Die drei rechten Hände vereinigen sich in der Mitte, zum Zeichen, daß sie die Kraft, die sie in ihrem Inneren erlangt haben, in den Dienst der Gemeinschaft stellen werden. Der Sinn der Schweizer Geschichte ist überall dort erfüllt, wo dieses mythische Urbild — soziales Handeln aus persönlichem Antrieb — eine neue Verwirklichung findet. 3. DIE A C H T A L T E N O R T E * )

Für ein oberflächliches Auge ist die Gründung der Eidgenossenschaft nichts anderes als ein Glied in der großen Freiheitsbewegung des Spätmittelalters. Es zeigt jedoch nicht nur die Sage, sondern auch eine eingehende historische Betrachtung, daß ihr der Rang des Außergewöhnlichen und Einmaligen zukommt. Einzigartig war der Weitblick der zum großen Teil anonymen eidgenössischen Staatsmänner. In den Verhältnissen der großen Politik waren sie erstaunlich bewandert. Mit bäuerlicher Hartnäckigkeit und Schlauheit verbanden sie ein ungewöhnliches diplomatisches Geschick. Auch zeichnete sie die Fähigkeit aus, von allen Seiten Gleichgesinnte an sich heran zu ziehen und so ihrer Freiheit Dauer zu sichern. Dies ist es, was die Eidgenossenschaft von allen ähnlichen Bünden des Mittelalters unterscheidet. Auch in Friesland und Holstein kämpften freiheitsliebende Bauern einen heroischen Kampf gegen Fürstenmacht und errangen oft glänzende Siege. Doch fehlte ihnen der Blick für die Wirklichkeit, und sie fanden nicht die Wege, ihrer Freiheit in der neuen Welt * ) „ O r t e " , später auch „Kantone" nannte man die einzelnen selbständigen Staatswesen, •die den Bund bildeten.

Der Bund mit Luzern

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der Fürstenallmacht einen sicheren Hort zu erbauen. Es blieb von ihr nichts übrig als das Lied und die Sage. Audi die großen Städtebünde des deutschen Reiches führten zu keiner dauernden Staatsbildung. Selbst der größte unter ihnen, die mächtige Hansa, verfiel schließlich wieder der Auflösung. Das ist daraus zu erklären, daß im Mittelalter die Verachtung des Bauern beim Städter nidit weniger eingewurzelt war als beim Adel. Er verschmähte es, mit dem Bauern gemeinsame Sache zu machen, so daß beide Teile der überhandnehmenden Fürstenmacht anheimfielen. Der Bund der Eidgenossen aber wurde zu einem widerstandsfähigen und lebenskräftigen Gebilde, weil sich hier Stadt und Land zusammenfanden, das gegenseitige Mißtrauen überwanden und so gemeinsam die Stürme der Jahrhunderte überdauerten. Dies Zusammenstehen von freien Städten und Ländern gibt der Eidgenossenschaft ihre Sonderstellung in der europäischen Geschichte. Die erste Stadt, die dem Dreiländerbund beitrat, war naturgemäß das am Ausfluß des Sees liegende L u z e r n . Die Stadt war entstanden als Umschlagplatz für die Bewohner der Seeufer und verdankte ihren Aufschwung der Eröffnung des Gotthardpasses. Sie stand unter der wenig drückenden Herrschaft des Klosters Murbach im Elsaß und entfaltete bald eine weitgehende Selbstverwaltung. Da geschah ihr das Unglück, daß König Rudolf 1291 dem Abt von Murbach alle seine Rechte über die Stadt abkaufte. Sie wurde damit in den Gegensatz zwischen Habsburg und Eidgenossen hereingezogen, welcher auch ihr Wirtschaftsleben schwer schädigte. Der Morgartenkrieg sperrte ihnen den Gotthardverkehr. Eine scharfe Spannung entstand zwischen Anhängern Habsburgs und der Eidgenossen. Letztere schlössen sich 1321 zu einem Geheimbund zusammen. Als 1330 der Wiederausbruch des Krieges zwischen Habsburg und den Eidgenossen drohte, war Luzern vor die Entscheidung gestellt, ob es zu einer habsburgischen Untertanenstadt herabsinken oder mit den Eidgenossen zusammen die Freiheit erkämpfen wolle. Die Stadt entschied sich für das Wagnis der Freiheit. Am 7. November 1332 schloß Luzern den ewigen Bund mit den drei Ländern. Charakteristisch dabei ist, daß Luzern nicht einfach dem Vertrag von 1291/1315 beitrat. Den Kern der Eidgenossenschaft bildeten die eng verbundenen drei Länder. Dazu traten nach und nach die weiteren Orte als selbständige Individualitäten. Jedes neue Bündnis hatte seine Eigenart und entsprach den besonderen Verhältnissen. Die Hauptbestimmungen aller eidgenössischen Bündnisse waren:

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II. 3. Die acht alten Orte

die Hilfsverflichtung, das Schiedsgericht bei Streitigkeiten und die ewige Dauer. Eine besondere Bedingung für die Aufnahme Luzerns war das Verbot, ohne Willen der drei Länder andere Bündnisse einzugehen. — Der Bund mit Luzern schloß den Kreis der Länder um den See. Allerdings hatte Luzern damit noch nicht die Freiheit selbst erlangt. Es hatte erst den Rückhalt gewonnen, den es brauchte, um sich von Habsburg zu lösen. Schwere Prüfungen standen der Stadt noch bevor. Einen anderen Ursprung und daher auch einen anderen Charakter hatte das Bündnis mit Z ü r i c h . Die Stadt Zürich, am Ausfluß des großen Sees, war zusammengewachsen aus Untertanen zweier Gotteshäuser, des Fraumünsters und des Großmünsters, aus der Gemeinde der freien Alemannen am Zürichberg und den Dienstleuten der Königlichen Pfalz. Die Äbtissin des Frauenklosters, welcher auch Uri unterstand, war im Besitz des Markt-, Zoll- und Münzrechts und der niederen Gerichtsbarkeit. Die Vogteigewalt aber, d. h. die eigentliche Staatshoheit, war in den Händen der Zähringer. Verwaltung und Hofdienste der Äbtissin besorgten adlige Vasallen, die in der Stadt wohnten. Ihnen ist die kulturelle Blüte des 13. Jahrhunderts zu verdanken. Früh schon entstand eine Rivalität zwischen den Rittern, die zuerst die Stadt beherrschten, und den Kaufleuten, die immer mehr in den Rat der Äbtissin eindrangen. Obwohl sie an Reichtum die Ritter bald überflügelten, wurden sie von diesen verächtlich „Pfeffersäcke" genannt. Bei Auflösung der Zähringer Herrschaft südlich des Rheines wurde Zürich zur Reichsstadt (1218). Im Laufe des 13. Jahrhunderts gingen die wichtigsten Hoheitsrechte von der Äbtissin an den Rat über. In der ersten Verfassung (1304) erscheint der Rat als Träger der obrigkeitlichen Gewalt. Die Stadt war auf dem Weg zur Selbständigkeit. Da wurde Zürich im 14. Jahrhundert von einer Bewegung erreicht, die von Italien bis nach Flandern ganz Europa erfaßte. Der Stand der Handwerker, der schon lange die Mehrheit der Stadtbevölkerung ausmachte, begann seine Ansprüche anzumelden und stellte damit die Herrschaft von Adel und Kaufmannschaft in Frage. Das nahe Zusammenleben in den engen Straßen und der mittelalterliche Trieb zur Bildung von Bruderschaften unter Gleichgestellten, bewogen die Handwerker in allen europäischen Städten, sich zu Zünften zusammenzuschließen. Gemeinsam bestellten sie ihre Rohstoffe, die Preise der Zunft waren für alle Zunftgenossen verbindlich. Sie sicherte dem Handwerker ein menschenwürdiges Auskommen, dem Kunden gute Qualität der Waren. Die Zunft regelte

Entwicklung der Stade Zürich

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die Ausbildung der Lehrlinge, gestaltete das ganze gesellige Leben des Handwerkers und gab ihm seine Standesehre, in der er sich seines Wertes bewußt wurde wie der Ritter in der Ausübung seiner Rittertugenden. Die Gemeinschaft der Zunft umfaßte das gesamte Leben, sie reichte bis in das Religiöse hinauf, indem sie z. B. jedem neu eintretenden Mitglied die Lieferung von Wachs für die Kerzen des Zunftaltars vorschrieb. Überall wo die Handwerker auch Anspruch auf politische Mitregierung erhoben, veranlaßten sie Parteikämpfe. In Zürich nahmen diese besonders leidenschaftliche Formen an. Die Oberrheinische Chronik berichtet, sie seien hier „also stark als in welschem Lande, wo Ghibellinen und Guelfen sind". Der Rat suchte vergeblich, der Gefahr mit Verboten zu begegnen. Da fand die Handwerkerbewegung einen Führer in dem Ritter Rudolf Brun. In einer stürmischen Bürgerversammlung stürzte er 1336 die bisherige Regierung. Die angesehensten Mitglieder des Rates wurden verbannt. Die Bürgerschaft nahm eine neue Verfassung an. Dreizehn Mitglieder des Rates sollten wie bisher aus dem Adel und der Kaufmannschaft gewählt werden. Dazu traten jetzt die dreizehn Zunftmeister als gleichberechtigte Ratsmitglieder. Uber dem Stadtrat stand, mit weitgehenden Vollmachten ausgerüstet, der auf Lebenszeit gewählte Bürgermeister. Erster Bürgermeister wurde natürlich Rudolf Brun selbst. Diese eigenartige Verbindung von Demokratie und Diktatur ist etwas f ü r die Schweiz Ungewöhnliches. Zürich ist die einzige Schweizerstadt, welche Ansätze zur Diktatur gezeigt hat. Sie wiederholten sich auch in späteren Jahrhunderten immer wieder und geben der Zürcher Geschichte ihr originelles Gepräge. 1373 wurde die Stellung des Bürgermeisters auf das übliche Maß eines jährlich wechselnden Beamten reduziert und 1393 der Große Rat der Zweihundert als Vertreter der Bürgerschaft zur obersten Stadtbehörde erhoben. Damit hatte Zürich im wesentlichen die Verfassung erlangt, die bis zum Ende der alten Eidgenossenschaft (1798) in Geltung blieb. Die Verbannung der bisherigen Machthaber brachte Zürich in langwierige Streitigkeiten mit dem umliegenden Adel, bei dem die Verbannten Zuflucht fanden. Diese versuchten im Februar 1350 in nächtlichem Uberfall die verhaßte neue Ordnung zu stürzen. Aber Brun war gewarnt, und der Plan einer „Mordnacht" mißglückte. Die in Zürich eingedrungenen Verschworenen wurden in den dunkeln Gassen niedergekämpft. Als aber auch Habsburg gegen Zürich auf den Plan gerufen wurde, mußte sich Brun nach

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II. 3. Die acht alten Orte

Hilfe umsehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit den Waldstätten zu verbinden: das geschah am l . M a i 1351. Der Bund mit Zürich trägt wieder einen eigenen Charakter. Die Bedürfnisse der beiden Partner sind in den Bestimmungen deutlich zu erkennen. Die Eidgenossen übernahmen die Gewährleistung für die Brunsche Zunftverfassung; dafür forderten und erreichten sie, daß das Bündnis ein ewiges sein sollte, entgegen dem Brauch der Städte, die es sonst vorzogen, nur kurzfristige Bündnisse von Fall zu Fall zu schließen. Für die Eidgenossen hatte aber nur eine dauernde Verbindung Wert. Beide Teile behielten sich jedoch selbständige Außenpolitik und eigenes Bündnisrecht vor. Die gegenseitige Hilfeleistung war beschränkt auf einen bestimmten geographischen Umkreis. Schließlich enthielt der Vertrag Bestimmungen über das Schiedsgericht zwischen den Verbündeten. Der Gewinn Zürichs bedeutete einen derartigen Machtzuwachs, daß die Waldstätte auch die sichere Aussicht auf einen Krieg mit Österreich mit in Kauf nahmen. Herzog Albrecht führte ein starkes Heer gegen die Stadt. Dreimal belagerte er sie und brachte sie in harte Bedrängnis. Die Eidgenossen dagegen sicherten ihre strategische Stellung und die Verbindung mit Zürich, indem sie 1351 G l a r u s und 1352 Z u g eroberten und als neue Orte in ihren Bund aufnahmen. Der Habsburger rief zahlreiche Fürsten und Städte zum Kampf gegen sie auf. Sogar Kaiser Karl IV. nahm eine Zeitlang an der Belagerung Zürichs teil, bemühte sich aber in Gemeinschaft mit den namhaftesten Fürsten des Reiches um einen Ausgleich. Da Brun um jeden Preis Frieden wollte, mußten die Eidgenossen schließlich im Frieden von 1355 die zwei neuen Orte wieder aufgeben, um nicht auch Zürich zu verlieren. Die endgültige Angliederung von Glarus und Zug wurde dadurch aber nur verschoben. 1364 besetzten die Schwyzer Zug von neuem, das nach einiger Zeit der Bevormundung durch Schwyz im Anfang des 15. Jahrhunderts gleichberechtigtes Bundesmitglied wurde. Glarus befreite sich endgültig 1387, indem es nach dem Vorbild der inneren Orte seine Landsgemeinde konstituierte. Den bedeutendsten Zuwachs erfuhr die junge Eidgenossenschaft durch den Beitritt des mächtigen B e r n . Diese Stadt war 1191 von Herzog Berchtold IV. von Zähringen am Aareübergang als Stützpunkt gegen den aufsässigen Adel angelegt worden. Wenn die Vereinigung von Stadt und Land die Stärke der Schweiz ausmacht, so gilt das in besonderem Maß für Bern. Die Stadt ist gewisermaßen aus der Landschaft hervorgewachsen,

Anschluß von Zürich, Glarus, Zug, Bern

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wie wenn sie eine Kristallisation der Kräfte des Landes wäre. Die führende Schicht der Bevölkerung bestand aus den Rittern der umliegenden Lande, die zugleich Grundherren und Stadtbürger waren. Da Bern auf Reichsboden gegründet war, wurde es wie Zürich nach dem Aussterben der älteren Linie der Zähringer im Jahre 1218 freie Reichsstadt. Die zentrale Lage und der Weitblick seiner führenden Adelsgeschlechter machten es bald zum Mittelpunkt einer zweiten, westschweizerischen Eidgenossenschaft, die gleichwertig neben der Alpeneidgenossenschaft der Innerschweiz steht. In der Zeit des Chaos und der Unsicherheit begann Bern im Grenzgebiet zwischen deutscher und französischer Sprache eine neue Friedensordnung zu sdiaffen, indem es eine große Zahl von Städten und Herren zu einer politischen Vereinigung zusammenfaßte. Bern übernahm in der "Westschweiz die Aufgabe des Kaisers, der nicht mehr imstande war, die Rechtsordnung im Reiche aufrechtzuerhalten. Es trat damit als ordnende Macht ebenbürtig neben die Fürstengeschlechter. Die Politik Berns weist dieselbe Festigkeit, Zähigkeit und Folgerichtigkeit auf, die wir an der Politik der Urkantone bewundern. Bern war die erste Stadt, die zur Sicherung ihrer Existenz ein großes Territorium schuf, teils durch Eroberung, teils durch Kauf, meist aber auf dem Wege, daß die Stadt die adligen Grundherren der weiteren Umgebung dazu bestimmte, Bürger in Bern zu werden und ihr Herrschaftsgebiet in den Dienst der Stadt zu stellen. So wurde die führende Schicht des Adels in der Stadt, zugleich aber auch die Verbindung von Stadt und Land gestärkt. Willig unterstellte sich die Landschaft der Führung der Stadt, denn dort herrschten ja Männer, die in der Landschaft selbst verwurzelt waren und nicht als Fremde empfunden wurden. Die bernische Verfassung hatte am Ende des 13. Jahrhunderts im wesentlichen ihre endgültige Form erlangt. Sie unterschied sich von der zürcherischen dadurch, daß sie keine Zunftherrschaft aufwies. Der Rat der 200, durch eine besondere Wahlbehörde aus der ganzen Bürgerschaft gewählt, war der Souverän und ernannte Schultheiß und kleinen Rat. Bern war also rechtlich eine Republik gleichgestellter Bürger. Tatsächlich herrschten in Räten und Behörden die bewährten Geschlechter — adliger oder bürgerlicher Herkunft. Aus ihnen bildete sich, ähnlich wie im alten Rom, eine Amtsaristokratie, welche später als Patriziat bezeichnet wurde. Am Anfang des 14. Jahrhunderts stand Bern so achtunggebietend da, daß alle, die seine weitere Ausdehnung fürchteten, sich zusammenschlos-

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II. 3. Die acht alten Orte

sen, um die Stadt zu erdrücken. Die Fürsten und Herren der ganzen Westschweiz bis nach Savoyen und Basel, sogar Kaiser Ludwig der Bayer wurden in den Kampf gegen Bern gezogen. Schon damals war Bern mit den Eidgenossen verbündet. Bei der kleinen Stadt Laupen, die von den Feinden belagert wurde, kam es 1339 zur Schlacht, die nach anderthalb Stunden mit einem vollständigen Siege der vereinigten Berner und Eidgenossen endete. Der Sieg bei Laupen besiegelte die Vormachtstellung Berns. Bald mußten die Gegner diese Tatsache durch Friedensschluß anerkennen. Es zeugt für die Unabhängigkeit und Überlegenheit der bernischen Staatsführung, daß sie nach dem Friedenschluß gleichzeitig mit Österreich und den Eidgenossen zu einem Abkommen gelangten. Allein nur das mit den Eidgenossen am 6. März 1353 abgeschlossene Bündnis entwickelte sich zu einer dauernden Verbindung. Was Bern zu diesem Bündnis bewog, war nicht Mißtrauen gegen Österreich. Es war einmal das Bestreben, nach allen Seiten den Landfrieden — womöglich für dauernd — zu befestigen, außerdem aber gedachte es, dadurch sein Territorium vor allfälligen Übergriffen der Eidgenossen zu sichern. Die Erfolge der Innerschweizer trugen die Idee der freien Bauernrepublik weit über die Grenzen der damaligen Eidgenossenschaft hinaus und hätten ohne ein festes Vertragsverhältnis auch die bernische Herrschaft in den benachbarten Gebirgstälern gefährden können. Die Verbindung der Eidgenossen mit Bern war noch loser als diejenige mit Zürich. Bern schloß den Vertrag nur mit den drei Waldstätten, nicht mit deren Verbündeten. Noch lange Zeit ging die Stadt ihre eigenen Wege, erst im folgenden Jahrhundert verwuchs sie enger mit der übrigen Eidgenossenschaft. 4. DER SEMPACHER KRIEG Gegen Ende des 14. Jahrhunderts kam der Gegensatz zwischen der Fürstenmacht und der Freiheitsbewegung der Städte und Bauern zu einem dramatischen Höhepunkt. Durch das ganze Reich ging die Spaltung. Ebenso unüberwindlich wie der Freiheitsdrang der Schweizer waren Haß und Verachtung, die der Adel ihnen und ihresgleichen entgegenbrachte. Niemals konnten die Vertreter der geheiligten alten Ständeordnung dulden, daß Bürger oder gar Bauern die Aufgabe der Regierung selbst übernahmen und sich damit auf eine Stufe mit den Fürsten stellten. Ein Fürstenbund, an dessen Spitze der König selbst trat, sollte die Entwicklung

i. Tel! von Ferdinand

Hodler

Teufe/sbriickc

von Caspar

Wolf,

Acirmi

Zuspitzung der Standesgegensätze.

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der Städte hemmen. Den Fürstenbünden traten die Städtebünde entgegen, die alle Städte Oberdeutschlands bis nach Mainz hinunter umfaßten. Ihnen traten auch die Schweizer Städte bei. Zürich wurde zum Vorort*) des süddeutschen Städtebundes. Kennzeichnend für die Leidenschaftlichkeit der Parteiung sind die gegen eine ganze Anzahl von Städten versuchten Handstreiche des Adels und seiner Anhänger. Die meisten dieser „Mordnächte" scheiterten an der Wachsamkeit der Bürger, so die Anschläge auf Zürich (1350) und auf Luzern (1343). Die Rettung der Städte wurde o f t mit sagenhaften Zügen ausgeschmückt. Ein ähnlicher Anschlag auf Solothurn (1382) wurde zum Vorspiel des Sempacher Krieges. Es war ein Raubritterstreich des mit Habsburg verwandten Grafen Rudolf von Kiburg (der sog. Kiburger Krieg). Die aufkommende Geldwirtschaft und die ständigen Fehden hatten ihn wie den größten Teil des Adels in Schulden gestürzt. Den gänzlichen Ruin hoffte er durch einen Überfall auf die Stadt Solothurn abzuwenden. Aber er fand die Mauern der Stadt besetzt und sah sich bald durch Bern und Solothurn so in die Enge getrieben, daß er seine Festungen Burgdorf und Thun den Bernern verkaufen mußte (1384). Von der Schweiz aus wurden die Gegensätze einer gewaltsamen Lösung entgegengetrieben, denn hier standen sich die Vorkämpfer der Freiheitsbewegung und der Adelsmacht, die Eidgenossen und Habsburg unmittelbar in altem Haß gegenüber. Besonders die Luzerner arbeiteten auf Krieg hin, denn sie waren noch immer habsburgische Untertanen und erstrebten mit allen Mitteln ihre Befreiung. Habsburg anderseits hielt trotz aller Niederlagen jahrzehntelang an dem Ziele fest, die Schweizer als Rebellen zu züchtigen und sie in die ihnen gebührende Knechtschaft zurückzustoßen. 1385 rissen sich die Luzerner von der habsburgischen Herrschaft los und nahmen die Bauern des österreichischen Tales Entlebuch in ihr Burgrecht auf. Ihre Gewaltakte gegen die österreichischen Besitzungen der Umgebung führten im Jahre 1386 zum Krieg. Er brachte die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Fürsten und Adel einerseits und Bauern und Städten anderseits. Beide Teile waren sich bewußt, daß es um Sein oder Nichtsein ging. Die deutschen Städte aber zogen sich nach vergeblichen Vermittlungs'•") Vorort nannte man diejenige Stadt, welche innerhalb eines Bundes selbständiger Gemeinwesen die Stellung eines Präsidiums inne hatte, weldie ihr jedoch keine tatsächlichen Vorredite gab. In der Eidgenossenschaft war später Zürich „ V o r o r t " : es berief meist die Tagsatzungen ein. 4

Wartburg, Schweiz

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II. 4. Der Sempadier Krieg

versuchen von ihren Verbündeten zurück, wohl weil sie für ihren Handel fürchteten. Die Eidgenossen mußten den Kampf allein durchfechten. Mit einem glänzenden Ritterheer zog Herzog Leopold gegen Luzern. Bei der Stadt Sempach traf er am 9. Juli 1386 zu beidseitiger Überraschung auf das Heer der Eidgenossen. Die nun folgende Schladit ist eine der denkwürdigsten und wohl die ruhmvollste der Schweizer Geschichte. Die Eidgenossen stellten sich nach altalemannischem Brauch in Keilform zum K a m p f auf. Das österreichische Heer war zahlenmäßig mehrfach überlegen. Da die Reiterei sich des Geländes wegen nicht zur Entfaltung bringen konnte, stiegen die Ritter von ihren Pferden und stellten sich, von Kopf bis Fuß gepanzert, in kompakter Schlachtordnung auf. Aus der undurchdringlichen Eisenwand stachen die langen Spieße hervor; ein Kampf mit dieser Masse von wandelndem Eisen schien aussichtslos. Es war der heißeste T a g des Jahres. Lange Zeit konnten die Eidgenossen dem Feinde nicht beikommen. Doch schließlich erzwangen sie den Nahkampf, und ihre Hellebarden durchschlugen wie früher am Morgarten die Panzer der schwerbeweglichen und erschöpften Ritter. Gefangene wurden nicht gemacht. Der Herzog selber fiel und mit ihm fielen hunderte der angesehensten Herren aus ganz Europa, die seinem Zuge gefolgt waren. — Es wurde erzählt, die Eidgenossen hätten ihren Sieg einem Manne aus Unterwaiden zu verdanken, Arnold von Winkelried. Dieser hätte, als die Eidgenossen zu erliegen drohten, mit beiden Armen so viel Spieße der Gegner erfaßt, als er erreichen konnte, und sie mit seinem Leibe niedergedrückt. Uber seine Leiche seien die Eidgenossen durch die offene Lücke der Speerwand in die Masse der Ritter eingedrungen und hätten das fürchterliche Blutbad unter ihnen angerichtet. Die moderne Forschung läßt es als höchst wahrscheinlich erscheinen, daß diese Erzählung der Wahrheit entspricht. Winkelried ist wie Teil ein Nationalheld der Schweiz geworden. Die Sdilacht bei Sempach machte einen gewaltigen Eindruck auf die Zeitgenossen. Bis nach Lübeck und nach Italien drang die Kunde von den Bauern, die ein großes Adelsheer vernichtet hätten. Der Adel aber hatte im Gebiet der Schweiz solche Verluste erlitten, daß er sich nicht mehr erholte, in der Schweiz selbst lebte die Erinnerung an die Schlacht zunächst im Lied, nicht in der Geschichtsschreibung fort. Als Kampf zwischen dem Löwen — dem Wappentier Österreichs — und dem Stier von Uri stellte der Mythos den Kampf zwischen Adel und Eidgenossen dar. In späterer Zeit wurde jährlich auf dem Schlachtfeld ein Dankgottesdienst gehalten. —

Schlacht bei Sempach und ihre Bedeutung

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Auch der Sieg der Glarner über die Österreicher bei Näfels (1388), der Glarus die endgültige Freiheit brachte, lebt im Lied und in der jährlichen Schlachtfeier fort. Nach diesen zwei Schlachten, bei Sempach und Näfels, entartete der Krieg zu einem verheerenden Raub- und Zerstörungsfeldzug. 1389 kam es zu einem "Waffenstillstand, der 1394 in einen zwanzigjährigen Frieden umgewandelt wurde. Die Eidgenossen erlangten darin die faktische Anerkennung ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Sempacher Krieg schließt das Heldenzeitalter der Schweizer Befreiungskämpfe. Zugleich aber liegt seine Bedeutung darin, daß er der geschichtlichen Entwicklung in der Schweiz und in Deutschland verschiedene Wege weist. In der Schweiz hatten die Bauern und Bürger die Fürsten bis zur Vernichtung geschlagen. Die deutschen Städte dagegen hatten sich nicht in den Kampf gewagt. Mangel an ernsthafter Opferwilligkeit, Fehlen wirklichen Zusammenhalts und Furcht vor wirtschaftlichen Nachteilen hatten eine rechtzeitige gemeinsame Erhebung gegen die Fürsten vereitelt. Die deutschen Städte waren nicht bereit zum Einsatz der ganzen Existenz wie die Eidgenossen. So mußten sie es erleben, daß sie, nachdem sie ein gemeinsames Vorgehen mit den Schweizern nicht gewagt hatten, von den Eidgenossen ohne Hilfe gelassen und 1388 vom Grafen von Württemberg besiegt wurden und daß der König ihren Bund auflöste. In Deutschland, nördlich des Rheines, hatte der Fürst triumphiert, in der Schweiz, südlich des Rheines, hatte sich der Volksstaat behauptet. Es war das erste Anzeichen für die spätere Trennung der Schweiz von Deutschland. An diese dachte allerdings damals noch niemand. Die Eidgenossenschaft gehörte nach wie vor zum Deutschen Reiche. Im damaligen Reiche hatten freie Republiken noch Raum neben Fürstenstaaten. Auch waren die deutschen Städte trotz ihrer Niederlage keineswegs vernichtet. Als Träger wirtschaftlicher und geistiger Kultur stand ihnen noch eine große Zukunft bevor. Aber als politische Macht hatte das Fürstentum in Deutschland seither unbestritten die erste Stelle. Die Schweizer Städte dagegen erhielten durch den Ausgang des Krieges die Möglichkeit, ihre Territorien zu ansehnlichen Staaten auszubauen. Schließlich grenzten die Stadtgebiete unmittelbar aneinander, so daß für die Herrschaft des Adels kein R a u m mehr blieb. Der verarmte Adel mußte nach und nach alle seine Güter und Rechte an die finanzkräftigen Städte abtreten. 1397 setzte der letzte selbständige Ritter des Westens, Peter von Torberg, Bern zu seinem Erben ein. 4*

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II. 4. Der Sempadier Krieg

1436 starb mit Friedrich von Toggenburg der letzte bedeutende Feudalherr des Ostens. Doch wird die Bedeutung dieses Erfolges erst recht klar, wenn wir den Blick über die Grenzen des Deutschen Reiches werfen. W i e in Deutschland, so unterlagen auch in Frankreich im 14. Jahrhundert die Bürger, als sie versuchten, dem Adel die Alleinherrschaft zu entreißen. 1382, vier Jahre v o r Sempach, besiegte Karl VI. bei Rosbecque die flandrischen Städte, und entwaffnete Paris. Die französische Bauernbewegung der Jacquerie wurde ebenso im Blute erstickt wie die Bewegung des W a t T y l e r in England. Zugleich verloren die italienischen Städte größtenteils ihre Freiheit wieder an Tyrannen. So bleibt von der ganzen großen Freiheitsbewegung des Mittelalters nur derjenigen der Schweiz ein dauernder Erfolg beschieden. Diese Sonderstellung erlangte sie durch den Sempacher Krieg. 5. DIE ERSTEN BUNDESGESETZE Mit dem Sempadier Krieg schließt das erste Jahrhundert der Schweizer Geschichte ab: die Zeit des heroischen Freiheitskampfes, in der die Eidgenossen sich gegen einen überlegenen Feind behaupteten und ihm sogar große Gebiete abgewannen. Die Eidgenossenschaft umfaßte jetzt acht Orte, und bei dieser Zahl blieb es fast ein Jahrhundert lang. Dieser so kleine und äußerlich unscheinbare Bund von Städten und Ländern war ein höchst merkwürdiges und kompliziertes Gebilde. E r verdiente noch kaum den Namen eines Staatenbundes. Es fehlte jedes die ganze Eidgenossenschaft umschließende Band. Sechs verschiedene und voneinander unabhängige Verträge regelten die gegenseitigen Beziehungen der Orte. Die Eidgenossenschaft besaß weder Siegel noch Kasse, weder Hauptstadt noch Regierung, j a nicht einmal einen gemeinsamen Namen. Auch die „Tagsatzung", an der sich bei Gelegenheit die Gesandten der O r t e zur Beratung gemeinsamer Angelegenheiten versammelten, war nicht eine Bundesbehörde, sondern eine Konferenz unabhängiger Staaten. Jeder O r t konnte, wenn er es für nötig hielt, einige oder alle andern an beliebiger Stelle zu einer Tagsatzung laden. Diese hatte keine Befugnisse, nie konnte sie für alle verbindliche Gesetze erlassen. Das Ergebnis ihrer Verhandlungen war höchstens ein Vertrag oder gemeinsamer Beschluß unabhängiger Staaten. V o n einem eidgenössischen Staate konnte also noch keine Rede sein.

Eigenart der Eidgenossenschaft

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Als Staat galt entweder der einzelne Ort oder dann das Reich, als dessen Glieder sich die Eidgenossen immer noch betrachteten. Ja, ihre höchste Ehre und Würde sahen sie darin, dem Reich anzugehören. Das Reich war ihnen nicht ein Staat neben andern, sondern die einzige wahre Lebensform der christlichen Gemeinschaft. V o m Kaiser leiteten sie ihre Freiheiten her; Aufgabe des Kaisers und des Reiches war es, die mannigfachen sozialen Gebilde in seinem Körper in ihrer Eigenart zu schützen. Doch dem Ideal des Reiches entsprach nicht die Wirklichkeit. Der Kaiser war nicht mehr der allmächtige Herr, sondern ein Fürst unter andern, mit seinen politischen Partikularinteressen und so bestätigten die Kaiser in den ersten Jahrzehnten der Freiheitskämpfe die Reichsfreiheit der Eidgenossen immer nur, wenn sie in Gegensatz zu Habsburg gerieten. In Wirklichkeit war die Eidgenossenschaft auf Selbsthilfe angewiesen. Es war für sie ein großer Glücksfall, daß nach dem Tode König Albrechts 1308 für über ein Jahrhundert kein Habsburger mehr zum König gewählt wurde. Sie konnte so aus dem Gegensatz des jeweiligen Kaisers zu ihrem Erbfeind Nutzen ziehen. Die endgültige Anerkennung durch das Reich fand sie 1415, als König Sigismund sie brauchte in einem Konflikt mit Habsburg. Er verlieh mit Zustimmung der „Kurfürsten, Fürsten, Grafen, Edlen und Getreuen" allen acht Orten volle Reichsfreiheit. Der Begriff der Reichsfreiheit hatte sich aber seit einem Jahrhundert zu dem der vollkommenen Selbständigkeit erweitert. Während um 1300 noch ein königlicher Vogt die königliche Autorität vertrat, waren dessen Befugnisse um 1400 völlig in die Hände der Gemeindebeamten übergegangen, die an mandien Orten noch lange den Titel Reichsvogt trugen. Indem die freien Gemeinden in den Besitz der königlichen Hoheitsrechte kamen, wurden sie auch offiziell als den Fürsten ebenbürtig anerkannt. A m Ende des Mittelalters löste sich so das Reich als Staatsverband völlig auf. Seine Erben wurden nördlich des Rheines fast ausschließlich die Fürsten, südlich des Rheines aber die freien Stadt- und Landrepubliken. Obwohl von einem schweizerischen Staate noch keine Rede sein kann, regte sich früh ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Eidgenossen. Zwei Quellen sind es, aus denen es sich speiste: einmal die gemeinsam erlebte Gefahr und die gemeinsam erstrittenen Siege, dann das Erlebnis gemeinsamer Gesinnung, die in allen kräftig pulsierte, vergleichbar einer schicksalbestimmten Freundschaft zwischen Einzelmenschen, die trotz ihrer verschiedenen Anlagen und trotz gelegentlicher heftiger

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II. 5. Die ersten Bundesgesetze

Meinungsverschiedenheiten immer wieder mit unwiderstehlicher Gewalt sich zueinander gezogen fühlen. Auch Außenstehende haben schon im 14. Jahrhundert die Zusammengehörigkeit der Eidgenossen empfunden, und so ist auch der gemeinsame Name „Schweiz" nicht bei den Eidgenossen, sondern bei den Österreichern zur Zeit des Zürichkrieges zuerst aufgekommen. "Wie stark das Zusammengehörigkeitsgefühl im 14. Jahrhundert war, zeigen zwei Verträge, die als die ersten Bundesgesetze gelten können. Der erste war der „ P f a f f e n b r i e f " von 1370. Der Anlaß zu dem Vertrag war ein Handstreich der Söhne des ehemaligen Zürcher Bürgermeisters Brun auf den Schultheißen von Luzern. Besonders schwerwiegend war, daß die beiden Übeltäter, die der immer noch starken österreichischen Partei in Zürich angehörten, sidi weigerten, vor dem Gericht in Zürich zu erscheinen. Der eine berief sich auf seine Stellung als Geistlicher, der andere auf die als österreichischer Lehensmann. Gegen derartige, durch die Ständeordnung bedingte Ausnahmestellung wandte sich nun der Vertrag, den man als Pfaffenbrief bezeichnet. In doppelter Hinsicht eröffnet er den Weg in die Zukunft. Erstens stellt er der alten Ständeordnung einen neuen Staatsbegriff entgegen. Jeder Bewohner der sechs beteiligten Orte (Bern und Glarus haben den Vertrag nicht unterschrieben) wurde verpflichtet, seiner Obrigkeit einen Treueid zu schwören, der jedem anderen Eid, auch dem Lehenseid vorzugehen hätte. Ein strenges Verbot wurde erlassen, in weltlichen Fragen geistliche oder ausländische Gerichte anzurufen. Diese Bestimmungen zeigen, wie der weltliche Volksstaat in der Eidgenossenschaft zum Selbstbewußtsein erwacht war und sich von der Kirche sowohl wie von der mittelalterlichen Lehensordnung emanzipierte. Die Entwicklung zur Aufhebung der Standesvorrechte gegenüber der Gemeinschaft hatte in den einzelnen Orten schon lange begonnen, ja, sie war im Wesen der genossenschaftlichen Staatsordnung der Eidgenossenschaft von Anfang an enthalten. Schon im 13. Jahrhundert bestimmte ein schwyzerischer Landsgemeindebeschluß „Wollen die Klöster, die in dem Lande sind, nicht ihrem Gute entsprechend Steuern und andere Abgaben wie andere Landsleute tragen, so sollen sie Feld, Wasser, Holz, Wunn und Weid des Landes meiden". Die zweite Neuerung war die, daß die Eidgenossen gemeinsam die Aufgaben übernahmen, die das Reich nicht mehr zu erfüllen imstande war. Während es im Mittelalter, und in der Gesellschaft des Adels noch lange

Pfaffenbrief und Sempadierbrief

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Zeit darüber hinaus, üblich war, daß sich der in seinem Recht Verletzte selbst Recht schaffte, verbot der Pfaffenbrief im ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft jede Privatfehde. Jeder Bewohner wurde an die ordentlichen Gerichte gewiesen, ein ordentlicher Rechtsgang bei Streitigkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Orte festgelegt. Im ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft sollte der Verkehr für alle, auch fremde Reisende, gemeinsam gesichert werden. Man sieht, wie der Staat in gesunder Art langsam den einzelnen an die Zügel zu nehmen beginnt. Es war damals notwendig, die Anarchie des Mittelalters zu überwinden, im Gegensatz zum 20. Jahrhundert, welches eher vor dem Problem steht: wie befreien wir den Menschen wieder aus den Klauen der Staatsallmacht? Das zweite Gesetz, das von allen acht Orten und der Stadt Solothurn besiegelt wurde, ist der „ S e m p a c h e r b r i e f " von 1393, der die erste schweizerische Kriegsordnung enthält. Er unterstellt die Krieger einer strengen Disziplin, verbietet jeden Aufbruch zu eigenmächtigen und mutwilligen Kriegszügen, auch jede Plünderung ohne Erlaubnis der Hauptleute, fordert gleichmäßige Verteilung der Kriegsbeute und stellt Frauen und Kirchen unter den Schutz der Kämpfenden, „da der allmächtige Gott gesprochen hat, daß seine Häuser des Gebetes Häuser sollen geheißen werden und durch ein Frauenbild aller Menschen Heil erneuert und gemehret worden ist". Wieder zeigt sich hier, daß der einfache Bauer und Bürger für sich die Regeln ritterlicher Kriegführung anerkennt und damit seine Ebenbürtigkeit mit dem Ritterstand erweist. Bei den Vertretern der alten hierarchischen Ordnung galt dies jedoch noch für lange Zeit nicht als Verdienst, sondern als sträfliche Uberhebung und grenzenlose Anmaßung. Man warf den Eidgenossen vor: „Die Eidgenossen dünken sich also groß, sie meinen, sie seien beider Schwerter (des weltlichen und des geistlichen) Genoß ( = Teilhaber)", d . h . sie stellten sich auf gleiche Stufe mit Kaiser und Papst. Das weltliche Schwert handhabten sie in der Tat so, daß Friede und Recht, deren Niedergang schon Walther von der Vogelweide beklagt hatte, in ihrem Herrschaftsbereich nicht mehr ein leeres Wort blieben. Durch die zwei Gesetze von 1370 und 1394 erlangte die Schweiz Rechtssicherheit für den einzelnen und die Rechtsgrundlage für den inneren Frieden. Dies in einer Zeit, da rings umher noch wilde Fehden tobten. Vor allem in Deutschland machten Raubsucht, Fehdelust des Adels, Ständehaß zwischen Adel, Fürst und Bürger das Leben unsicher. Noch über

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II. 5. Die ersten Bundesgesetze

hundert Jahre dauerte es, bis auch nördlich des Rheins, auf dem Reichstag zu Worms (1495), ein energischer Versuch gemacht wurde, der Anarchie ein Ende zu bereiten. 6. ERWEITERUNG DER EIDGENOSSENSCHAFT UM 1400 Das 14. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Selbstbehauptung gegen die Angriffe Habsburgs. U m 1400 begannen nun die Eidgenossen ihrerseits mächtig nach allen Seiten auszugreifen. Schon im 14. Jahrhundert hatten die Städte Zürich, Bern, Luzern durch Kauf und Eroberung weite Territorien erworben, die sie im 15. Jahrhundert immer noch erweiterten. Vor allem sahen die benachbarten Bauernländer auf die freien Bauerngemeinden der Schweiz als auf ihre Vorbilder. In ihrem Streben nach Freiheit konnten sie auf deren Hilfe zählen. So befreite sich aus eigener Kraft und mit schwyzerischer Hilfe das Land A p p e n z e l l . Die Vogtei über die ursprünglich reichsfreien Appenzeller Gemeinden hatte Ludwig der Bayer an den Abt von St. Gallen verkauft. Ihre innere Selbstverwaltung hatten sie aber bewahrt. Um 1400 suchte der Abt Kuno von Stoffeln — der sich mehr an das Vorbild der Fürsten als an das seiner Vorgänger hielt — die Bauern zu Leibeigenen herabzudrücken und eine straffe Landesherrschaft zu errichten. Bald lehnten sich die Bauern gegen die maßlosen Fronden und Abgaben auf. Die süddeutschen Städte, bei denen der Abt Hilfe suchte, traten f ü r den Fürsten ein; es fehlte ihnen das Verständnis für die Bauernfreiheit. So schloß Appenzell 1403 ein Bündnis mit Schwyz, das alle Freiheitsbestrebungen nah und fern tatkräftig unterstützte. Es entspann sich ein wütender Krieg, indem wieder der ganze Haß zwischen Bauern und Herren zum Austrag kam. Die Appenzeller erfochten mehrere glänzende Siege über die Heere der Städte und der Habsburger, die dem Abt zu Hilfe eilten. (Schlacht am Speicher 1403, Schlacht am Stoß 1405.) Ihr Siegeszug glich einer Lawine, die eine Zeitlang alles mitriß. Alle Besiegten schlössen sie zu einem großen „Bund ob dem See" zusammen. Am Widerstand der Stadt Bregenz aber zerschellte plötzlich die ganze junge Macht. Der Bund ob dem See zerfiel. Doch die Appenzeller behaupteten ihre eigene Freiheit. Um sie zu sichern, erweiterten sie das Bündnis mit Schwyz 1411 zu einem Bündnis mit den sieben östlichen Orten der Eidgenossenschaft, mußten sich aber mit der Stellung eines bevormundeten Mitglieds begnügen, indem ihre Außenpolitik der Aufsicht der Eidgenossen

Freiheitsbewegung in Appenzell, Wallis und Graubünden

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unterstellt blieb. Erst 1513 wurde Appenzell als gleichberechtigter O r t in die Eidgenossenschaft aufgenommen. In den Jahren um die Jahrhundertwende knüpften die Eidgenossen auch die ersten Beziehungen zu den weiten Tälern des Rheins, der Rhone und des Tessins an. Auch dort waren Gemeinwesen verwandter A r t entstanden, die ihren natürlichen Rückhalt an der starken Eidgenossenschaft am Nordabhang der Alpen fanden. Wie in der Innerschweiz hatten sich hier Bauerngenossenschaften erhalten. In den Tälern des Rheins und des Inn (Graubünden oder Rätien) und der Rhone (Wallis) war der Adel zwar stärker als in der Eidgenossenschaft, aber er mußte sich auch hier den Gemeinden unterordnen. In den Bündnissen, die die Gemeinden zur Sicherung von Friede und Freiheit schlössen, waren Bauern und Adel gleicherweise beteiligt. Das W a l l i s bildete politisch eine Einheit, an deren Spitze seit Ausgang der Antike der Bischof von Sitten stand. Das Volk erkämpfte sich Freiheit und Mitregierung, indem es den Bischof gegen Ubergriffe des Adels und des gefährlichen Herzogs von Savoyen, der die Landesherrschaft beanspruchte, schützte. In R ä t i e n war die Zersplitterung der politischen Einheit am weitesten fortgeschritten. Geistliche und weltliche Herrschaften standen neben Gemeinden freier Bauern, von denen die einen alteingesessen, die andern als Kolonisten aus dem Wallis eingewandert waren. Auch sprachlich zeigt das Land — auch heute noch — die größte Vielfalt innerhalb der Eidgenossenschaft. Die südlichen Täler sprechen italienisch, vom Norden drang im friedlichen Verkehr das Deutsche ein. Dazwischen lagen die Täler der Rätoromanen und die Hochgebirgsgemeinden der Walliser Einwanderer. Zwischen 1367 und 1436 gründeten Bauern undHerren drei große Bünde: 1367 entstand der „Gotteshausbund" an der Paßstraße von Chur ins Engadin, 1395 schlössen sich die anderswo feindlichen Elemente Adel, Kirche und freie Bauerngemeinden unter der Führung des Abtes von Dissentis im oberen Rheintal zum „Grauen Bund" zusammen und schworen, „solange Grund und Grat stehen, gute Eidgenossen und treue Freunde zu sein, einander zu schützen und zu schirmen, alle, geistlich und weltlich, edel und unedel, arm und reich". — 1436 bildete sich nach Aussterben der Grafen von Toggenburg der „Zehngerichtebund" im Prättigau und Davos. Schon im 15. Jahrhundert handelten die drei Bünde meist gemeinsam, aber erst 1524 vereinigten sie sich zu einem Gesamtbunde, dem heutigen Kanton Graubünden. Dieser rätische Bund war das demokratischste Gebilde der alten Eidgenossenschaft.

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II. 6. Erweiterung der Eidgenossenschaft um 1400

Jede Gemeinde war souverän und schickte ihre Abgeordneten auf den Bundestag in Chur. Vor jeder wichtigen Entscheidung mußte der Bundestag die Gemeinden selbst um ihre Meinung fragen. Diese Volksanfrage nannte man Referendum. Sie ist das Vorbild ähnlicher Einrichtungen der modernen Schweiz geworden. — Wallis und Graubünden traten zu einzelnen Orten der Eidgenossenschaft in die lockere Beziehung von verbündeten und befreundeten Ländern, die später „Zugewandte Orte" genannt wurden, die man aber nicht bei jeder gemeinsamen Angelegenheit zu Rate zog, wie dies bei den eigentlichen acht Orten der Fall war. Das Wallis schloß Verträge mit Bern (1397), mit Uri, Schwyz, Luzern (1403) und der Graue Bund einen Vertrag mit Glarus (1400). Auch die italienisch sprechenden Gemeinden der südlichen Alpentäler besaßen alte Markgenossenschaften, in denen sowohl Adel wie Leibeigenschaft im freien Bauerntum völlig aufgegangen waren. Der mailändischen Landesherrschaft aber, die im 13. Jahrhundert die Visconti errichteten, konnten sie sich nicht entziehen. Die Erhaltung einer gewissen Selbstverwaltung verdanken sie der späteren Eroberung durch die Eidgenossen. Ein erster Versuch zur Gewinnung der Gotthardstraße südlich der Alpen scheiterte allerdings in der Niederlage eines schweizerischen Heeres bei Arbedo (1422). Doch schon 1440 kam das Livinental, die oberste Talstufe des Tessin wieder an Uri und war damit endgültig mit der Eidgenossenschaft verbunden. Im 14. Jahrhundert hatten die inneren Orte mit ihrem Kampfruf der Freiheit den Ton in der eidgenössischen Politik angegeben. Im 15. Jahrhundert übernahmen die Städte die Führung. Ihr Motiv war der Wille zur Macht, das Erraffen von Ländern und Herrschaften. Bern hatte vor allen den Vorsprung. Doch die andern Städte und dann auch die Länder ahmten es nach. Daß die städtische Politik maßgebend geworden war für den ganzen Bund zeigt die Eroberung des A a r g a u (1415). Die Gelegenheit dazu bot ein Streit zwischen König Sigismund und Herzog Friedrich IV. von Habsburg. Dieser hatte gegen das damals in Konstanz, 1414 bis 1418, versammelte Konzil konspiriert, das die in der Kirche eingerissenen Mißstände beheben sollte. Nicht weniger als drei Päpste bekämpften sich damals und belegten ihre Anhänger gegenseitig mit dem Bann. Wenn Friedrich im Verein mit Papst Johann XXIII. das Konzil zu sprengen suchte, so war das ein Vergehen gegen die gesamte Christenheit. Der König erklärte ihn daher in die Reichsacht und forderte alle Glieder des Reiches auf, den Geächteten seiner Länder zu berauben. Bereitwillig fielen alle

Eroberung des Aargaus

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Nachbarn über den Herzog her. Die Eidgenossen äußerten zwar zuerst Bedenken, da sie eben mit dem Herzog einen fünfzigjährigen Frieden geschlossen hatten. Doch der König erklärte, daß dieser Vertrag sie von den Pflichten gegenüber dem Reiche nicht entbinden könne, und befahl ihnen, am Reichskrieg teilzunehmen. Als er ihnen außerdem den Besitz der eroberten Länder verhieß, ließen sie ihre Bedenken fallen. Allein die Urner blieben dem Kriegszuge fern, da sie auch die königliche Sanktion nicht als genügende Entschuldigung für einen Vertragsbruch gelten lassen wollten. Die übrigen Orte aber zogen zu Felde, alle unter dem Adlerbanner des Reiches. Die Eroberung des Aargau (1415) war keine große Kriegstat, denn der Herzog, von allen verlassen, war außerstande, sich erfolgreich zu wehren. Die Eidgenossen verteilten die Beute unter sich nach dem Grundsatz, daß jeder behalten solle, was er erobert habe. Den Bernern blieb etwa die Hälfte des Ganzen, Luzern und Zürich erhielten je ein Stück. Das gemeinsam eroberte Land beschloß man in gemeinsame Verwaltung zu nehmen. Die Proteste des Herzogs und des Königs, der sidi mit ihm versöhnt hatte, wurden durch die finanzkräftigen Städte mit Geldmitteln zum Schweigen gebracht. Mit der Eroberung des Aargau tritt neben den vollberechtigten Orten und den Zugewandten ein drittes Element in den Verband der Eidgenossenschaft: die „gemeine Herrschaft". Diese Einrichtung hat viel beigetragen zur Kräftigung des Bundes. Alle Orte hatten nun eine dauernde gemeinsame Angelegenheit. Alle zwei Jahre stellte ein anderer Ort den Vogt für die gemeine Herrschaft. Die Tagsatzung trat daher von jetzt an regelmäßig in Baden zusammen. Ihre Aufgabe war es, jährlich den Rechenschaftsbericht entgegenzunehmen und die Uberschüsse zu verteilen. Die Tagsatzung entwickelte sich zu einer Art Bundesorgan. Ihr Geschäftsgang war zwar äußerst schwerfällig, da die Gesandten nach den „Instruktionen""') ihrer Regierung stimmen mußten. Mehrheitsbeschlüsse waren nur in Sachen der gemeinen Herrschaften verbindlich. Doch war die Bedeutung der Tagsatzung größer, als es nach diesen Voraussetzungen scheinen könnte. Es entwickelte sich mit der Zeit ein gemeineidgenössischer Takt, gegen den sich die einzelnen Orte nur selten zu vergehen wagten. O f t instruierten die Orte ihre Gesandten dahin, sich der Mehrheit der Orte anzuschließen. So erhielt das „ I n s t r u k t i o n " : in der Eidgenossenschaft gebräuchlicher Ausdruck für Weisungen der Regierung an ihre Tagsatzungsgesandten. Verb: instruieren.

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II. 6. Erweiterung der Eidgenossenschaft um 1400

Mehrheitsprinzip eine gewisse praktische Geltung, wenn es auch nie zum Gesetz erhoben wurde. Bei Streitigkeiten zwischen den Orten hätte es allem eidgenössischen Brauch ins Gesicht geschlagen, wenn ein Ort sich ihrer Schiedsgerichtsbarkeit hätte entziehen wollen. Die Behandlung des Aargau und der Appenzeller scheint dem Wesen der Eidgenossenschaft als Bund freier Gemeinschaften zu widersprechen. Doch nur dem modernen Menschen scheint dies so. Die Unterwerfung des Aargau widerspricht keinem Grundsatz der Eigenossenschaft, denn diese lebte nicht nach Grundsätzen, sondern nach "Wirklichkeiten. Ihre Freiheit bestand in der selbsterworbenen Selbständigkeit der einzelnen Orte und sie fand ihre Stütze in der Treue zum geschworenen Eid und in der festen Verankerung im Recht. Als Realpolitiker und nicht als Staatstheoretiker anerkannten die Eidgenossen die Freiheit aller derjenigen Gemeinwesen, die ihre Freiheit selbst geschaffen hatten und in denen sie sich in der Wirklichkeit bewährt hatte. Dies war der Fall für die acht alten Orte. Die Appenzeller dagegen mußten vorerst noch unter Vormundschaft genommen werden, da sie ihrer eigenen politischen Leidenschaften zu wenig Herr waren. Der Aargau aber war von jeher Untertanenland gewesen, es bestand dort gar keine Freiheitsbewegung, die ihn als selbständigen Ort in die Eidgenossenschaft hätte einführen können. Es stand völlig außerhalb der Möglichkeiten jener Zeit, aus einem allgemeinen Prinzip heraus — das noch gar nicht ausgesprochen war — eine Freiheit einzuführen, wo sie nicht selbst gewachsen war. Dagegen blieben die Eidgenossen ihrem Rechtsprinzip auch als Herren über Untertanen treu, indem sie sich — bis zum Untergang der alten Eidgenossenschaft — im allgemeinen streng an die bei der Eroberung bestehenden Selbstverwaltungsrechte ihrer Untertanen hielten. Dies blieb auch später so, als in den europäischen Fürstenstaaten der Absolutismus jede lokale Selbständigkeit einer zentralen Staatsgewalt zu unterwerfen strebte. Durdi die verschiedene Behandlung neu angegliederter Gebiete bewiesen die Eidgenossen einen bemerkenswerten Grad politischer Reife, Beweglichkeit und Vorurteilslosigkeit.

7. D E R A L T E Z Ü R I C H K R I E G

Trotz gemeinsamer Taten und Gesinnung war der Bund der Eidgenossen nicht eitel Friede und Freundsdiaft. Verschiedenheit der Temperamente und der Lebensbedingungen führten immer wieder zu Spannungen zwischen den

Konflikt zwischen Zürich und Schwyz

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Orten. Es ergab sich schon aus der N a t u r des Bundes, daß jeder O r t seine eigene Außenpolitik verfolgte, die sich nicht selten mit der eines, andern Ortes kreuzte. Besonders heftig prallten o f t die Städte mit den Länder-Orten zusammen, wenn sie in den Nachbargebieten widerstreitende Interessen verfolgten. So konnte nur unter größter Anstrengung der unbeteiligten Orte ein Bruderkrieg verhindert werden, als Bern im Wallis den Herzog von Savoyen, die "Waldstätte aber die Freiheitsbestrebungen der Bauern unterstützten. In den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts entzündete sich ein Streit, der nicht mehr ohne Krieg entschieden werden konnte; denn er rührte nicht nur an lokale Interessen verschiedener Orte, sondern an die Grundlage des Bundes selbst. Der Konflikt, der unter dem Namen „der Alte Zürichkrieg" in die Geschichte eingegangen ist, entstand durch einen Zusammenstoß zwischen Schwyz und der Stadt Zürich. Beide Orte hatten es bei ihrer Ausdehnungspolitik auf die Länder des Grafen von Toggenburg zwischen Rheintal und Zürichsee abgesehen, die nach seinem Tode zur Verteilung gelangen sollten. Zürich begehrte sie, weil sie die Handelsstraßen nach den Bündener Alpenpässen beherrschten, Schwyz, weil es sich nur nach dieser Richtung ausdehnen konnte. Es begann ein Wettlauf um die Gunst des kinderlosen Grafen. Der schlaue und geschmeidige Schwyzer Landammann Ital Reding lief dabei seinem Rivalen, dem Zürcher Bürgermeister Rudolf Stüssi, bald den Rang ab, da der letztere den Grafen durch sein allzu schroffes und selbstsicheres Auftreten abstieß. Als der Graf 1436 starb, besaß Schwyz das Recht, sich mit den benachbarten Landschaften zu verbünden, und es griff auch sogleich zu. Da Schwyz überall die Bevölkerung hinter sich hatte, schlugen alle Versuche der Zürcher fehl, sich in den strittigen Gebieten festzusetzen. Als beide Parteien Truppen ins Feld schickten, konnte jeder Zwischenfall zum Kriege führen. Die Eidgenossenschaft stand vor einer ihrer schwersten Bewährungsproben. Die erste Bestimmung der Bündnisse, die Hilfsversprechung, hatte sich in den Kriegen gegen Habsburg vollauf bewährt. Jetzt mußte es sich zeigen, ob sich auch das Prinzip der Gewaltlosigkeit und des Schiedsgerichts in der Eidgenossenschaft durchsetzen würde. Keinen Augenblick schwankten die unbeteiligten Orte in ihrer Haltung. Mit äußerster Energie bemühten sie sich um eine Schlichtung, ließen aber zugleich mit aller Deutlichkeit Zürich und Schwyz wissen, daß sie mit ganzer Gewalt gegen den einschreiten würden, der sich dem Schiedssprüche nicht fügen würde. Gleichgültig konnte ihnen sein, wem die Erbschaft des Grafen von Toggen-

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II. 7. Der alte Zürichkrieg

bürg zufiel; nicht aber war ihnen gleichgültig, ob das Bundesrecht sich Geltung verschaffen würde. Als es Schwyz gelang, von den Erben des Toggenburgers das Pfandrecht über die strittigen Gebiete zu erwerben, hatte es das entschiedene rechtliche und tatsächliche Übergewicht über Zürich gewonnen. Die Schärfe des politischen Gegensatzes wurde gesteigert durch die Gegensätzlichkeit städtischen und bäuerlichen Selbstbewußtseins und Ehrgeizes. Bürgerliches Ehrgefühl und bürgerlicher Hochmut ließen ein Nachgeben gegenüber Bauern nicht zu. Die Haltung der Zürcher versteifte sich um so stärker, je mehr sich der Bauer als diplomatisch überlegen erwies. Dieser dagegen ersparte dem Gegner, sobald er sich selbst rechtlich gesichert wußte, keine Demütigung, die er ihm zufügen konnte. Der Bürgermeister Stüssi setzte nun seine Stadt dadurch ins Unrecht, daß er seiner politischen Leidenschaft die Zügel schießen ließ. D a er den Schwyzern juristisch unterlegen war, suchte er sie mit Gewalt zum Nachgeben zu zwingen. Entgegen allem eidgenössischen Brauch sperrte er ihnen die Lebensmittelzufuhr, auf welche die Gebirgsländer angewiesen waren. Als Schwyz deshalb Zürich vor ein Schiedsgericht forderte, bestritt dieses die Zuständigkeit des Schiedsgerichts, da sein Marktrecht älter sei als der Bund mit den Eidgenossen. Auch den Zürich ungünstigen Schiedsspruch der Eidgenossen in der Frage der Toggenburger Erbschaft weigerte sich Stüssi anzuerkennen. Als die Schwyzer wegen der Zürcher Lebensmittelsperre zu den Waffen griffen, stand deshalb Zürich allein da; alle andern Orte schlugen sich auf die Seite der Schwyzer. In einem kurzen, aber verheerenden Feldzug zwangen sie Zürich zum Verzicht auf seine Ansprüche und zur Aufhebung der Lebensmittelsperre. Hier aber ließen sich die Schwyzer eine Handlung zu Schulden kommen, die ebenfalls allem eidgenössischen Brauche Hohn sprach: sie benutzten die allgemeine Erbitterung gegen Zürich, um der Stadt einige Dörfer am oberen Zürichsee wegzunehmen. Diese Demütigung konnte der stolze Bürgermeister Stüssi nicht verwinden. D a er sich von den Eidgenossen verlassen fühlte, sah er sich nach anderweitiger Hilfe um. Er fand sie bei Habsburg. Soeben war nach langer Unterbrechung wieder ein Habsburger König geworden: Friedrich III. Dieser war der Enkel des beiSempach gefallenen Leopold III., und er ergriff mit Freuden die Gelegenheit, die verhaßte Eidgenossenschaft durch ihre eigenen Zwistigkeiten zu zerstören. 1442 schloß er mit Zürich ein Bündnis, durch welches beide Teile ihr Gebiet auf Kosten der Eidgenossen vergrößern wollten. Der

Krieg der Eidgenossen gegen Zürich und Habsburg

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König erschien selbst in der Stadt, die Zürcher schmückten sich mit Pfauenfedern. Was geplant war, erfuhren die Eidgenossen, als der König sich weigerte, ihre Freiheitsbriefe zu bestätigen und die Rückgabe des Aargaus verlangte. Die Eidgenossen erhoben Einspruch gegen das zürcherische Bündnis mit Habsburg. Die Zürcher aber beriefen sich auf ihr im Bundesvertrag vorbehaltenes Bündnisrecht. Doch dies war es gerade, was die Erbitterung der Eidgenossen auf den Höhepunkt brachte. Die Zürcher glaubten sich durch eine Auslegung des Wortlautes rechtfertigen zu können, die dem Geist des Vertrages widersprach. Ein Bündnis mit Österreich konnte nur gegen die Eidgenossen gerichtet sein. Zürich verwendete hier dieselbe K r a f t des „Witzes", der juristischen Deutung, die Geßler gegenüber Teil ins Feld geführt hatte. Sie verleugneten damit die Grundlage des Bundes, der auf „ T r e u und Glauben", auf den „ohne G e f ä h r d e " , ohne Hintergedanken und Vorbehalte geschworenen Eid gebaut war. Ohne Schwanken hielten die Eidgenossen an dem Anspruch auf die unbedingte Bundestreue Zürichs fest. D a die Zürcher von ihrer neuen Verbindung nidit lassen wollten, blieb nichts anderes übrig, als diese mit dem Schwerte zu zerhauen. Der nun folgende Krieg war zwar seinem Ursprung nach ein innerer Konflikt der Eidgenossenschaft. Aber er wurde durch die Teilnahme Österreichs und des österreichisch gesinnten Adels wieder zu einem K a m p f e zwischen der adligen und der eidgenössischen Lebensform. Wieder prallten Adel und Fürst zusammen mit Bürger und Bauer. Der Adel Süddeutschlands nahm an dem Kriege teil, „um die Büberei jenseits des Rheins zu halten". J a , Friedrich I I I . wandte sich um H i l f e an Frankreich „wegen des allgemeinen Beispiels, das alle Fürsten angeht, wenn sich Knechte gegen Herren und Bauern gegen Edle erheben". 1443 überfluteten die Eidgenossen zum zweiten Male die Zürcher Landschaft und schlössen die Stadt von allen Seiten ein. H i l f e von Österreich hatte sie wenig zu erwarten. Der K a m p f wurde von beiden Seiten mit der Schonungslosigkeit des Hasses und der Rachsucht geführt. In Zürich wurden mehrere angesehene Ratsherren wegen eidgenössischer Gesinnung hingerichtet. Die grausigste Bluttat des Krieges aber war die von Ital Reding erzwungene Hinrichtung der gesamten Besatzung der kleinen zürcherischen Festung Greifensee, die sich den Eidgenossen auf Gnade und Ungnade hatte übergeben müssen. D a s Ereignis blieb unlöschbar im Gedächtnis der Eidgenossen haften, und noch in späterer Zeit erklärten sie Kriegsunglück als göttliche Strafe für diesen „Mord von Greifensee". Audi jetzt verließ sie das Kriegs-

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II. 7. Der alte Zürichkrieg

glück. Ihre Belagerungskünste wurden vor Zürich zu Schanden. Bereits erreichte sie die Kunde, daß ein gewaltiges Entsatzheer herannahte. So drohte eine ungünstige Wendung der Dinge. Außerstande, den verhaßten Eidgenossen beizukommen, suchte der Habsburger Hilfe im Ausland. Frankreich stand damals im hundertjährigen Krieg mit England. Da der französische König eben einen Waffenstillstand mit England geschlossen hatte, war er froh, seine brotlos gewordenen Söldnerbanden loszuwerden. Statt der 5000 Mann, die Friedrich verlangt hatte, rückten deren 40 000 im August 1444 ins Elsaß ein. Ihr Anführer war der Dauphin, der die Gelegenheit benutzen wollte, um dieses Gebiet samt Basel für Frankreich zu erobern. Die Armee der Armagnaken, wie die Söldner genannt wurden, sollte die Stadt Zürich entsetzen. Die Eidgenossen schickten ihr zur Aufklärung eine kleine Schar von 1300 Mann entgegen. Dieser kurze Streifzug war vom Schicksal dazu ausersehen, das grandioseste Beispiel eidgenössischen Kampfgeistes zu werden. Nach einem Siege über die Vorhut der Armagnaken stürmte die Mannschaft gegen ausdrücklichen Befehl weiter vor. Die Hauptleute, die zur Umkehr mahnten, wurden überschrien, ein Basler Bote, der vor der Stärke der Feinde warnte, kurzerhand erstochen. Jede militärische Vorsicht wurde außer acht gelassen. Es war, wie wenn die Mannschaft das Opfer vom Schicksal geradezu hätte ertrotzen wollen. Sobald die Eidgenossen am 26. August die Birs oberhalb Basels überschritten hatten, waren sie von einer gewaltigen Ubermacht eingeschlossen. Zehn Stunden wehrten sie sich, zuerst auf freiem Felde, dann hinter den Mauern des Siechenhauses von St- Jakob, wehrten sich nicht mehr um ihr Leben, sondern um den Ruhm, vor keiner Macht in der Welt gewichen zu sein. Erst als die Franzosen ihre Artillerie herbeiführten, konnten sie vernichtet werden. Von der ganzen Truppe blieben nur zweihundert Mann am Leben, die abgedrängt oder als Verwundete gefangen wurden. Keiner hatte sich freiwillig ergeben, keiner seine Kameraden verlassen. Die Eidgenossen empfanden die Schlacht zuerst nicht als Heldentat, sondern als Niederlage, und hoben die Belagerung von Zürich auf. In der Stadt aber läuteten alle Glocken. Doch zeigte sich bald, daß die Niederlage einem Siege gleich kam. Der Heldenkampf der kleinen Schar hatte dem Dauphin einen solchen Eindruck gemacht, daß er seinen Angriff auf die Eidgenossen aufgab und mit ihnen Frieden schloß. Mit dem Frieden- und Freundschaftsvertrag von Ensisheim am 28. Oktober 1444 beginnt die Jahrhunderte dauernde Verbindung der Schweiz mit Frankreich. Alle Zeitgenossen, die

3. Schlacht bei Sempach, aus der Chronik von Diesbo/d Schilling

(Bern)

,/. Schlacht aus der C'.hronik

bei von

Grandson, SchodoIer(Aaranj

St. Jakob an der Birs. Friedensschluß

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einen Blick für das Wesentliche hatten, standen unter dem Eindruck eines Ereignisses von symbolischer Bedeutung. So Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., der damals am Konzil in Basel anwesend war. Jeder Satz seines Berichtes zeugt von dem Staunen, das ihn erfüllte. Hier hatte er in Wirklichkeit die Todesverachtung kennengelernt, von welcher der Gelehrte bisher nur in den griechischen und römischen Geschichtsschreibern gelesen hatte. Er war der erste, der die Eidgenossen mit den Helden des Altertums verglich. Nach dem Abzug der Armagnaken hatte Österreich keine Aussicht mehr, die Eidgenossen zu überwältigen. Denn auch die deutschen Fürsten zeigten keine Lust, dem Aufgebot des Kaisers gegen die Eidgenossen Folge zu leisten. Während der Krieg zu planmäßiger Verheerung ausartete, bemühten sich weite Kreise des ganzen Reiches um eine Vermittlung. Nach langwierigen Verhandlungen kam man schließlich im Jahre 1450 zum Frieden. Zürich wurde wieder in den Bund aufgenommen, nachdem es auf das Bündnis mit Österreich verzichtet hatte. Alle Gebiete außer den Abtretungen von 1440 erhielt es zurück. Die besiegte Stadt wurde also nicht gedemütigt. Die Weisheit der eidgenössischen Staatskunst verlangte von allen Parteien volles Vergessen. Trotzdem beide Parteien mit der äußersten Erbitterung gekämpft hatten, schloß der Krieg mit einem Verständigungsfrieden, der sich auf das vor dem Kriege bestehende Bundesrecht gründete. So kam die Versöhnung einer Neugründung gleich. Der Krieg hatte die Eidgenossen, einschließlich Zürichs, fester zusammengeschmiedet als der Friede. Das Bundesrecht und die Unauflösbarkeit der Bünde hatten sich durchgesetzt. Auch hatte sich das Bewußtsein der eigenen Stärke in den Eidgenossen gewaltig gehoben. Die vereinte Macht Frankreichs und Habsburgs hatte sie nicht besiegen können, obwohl sie im Bürgerkrieg standen. Zugleich aber bedeutete der Krieg eine erste Entfremdung vom Reiche. Denn dieses blieb jetzt für dauernd in der Hand Habsburgs. Der Habsburger aber hatte sich nicht gescheut, gegen die Eidgenossen das Reich aufzurufen, ja sogar ausländische Söldnerscharen gegen sie ins Feld zu führen. Auch die weltgeschichtlich bedeutsame Verbindung mit Frankreich nimmt ihren Anfang mit dem Zürichkrieg. Die Eidgenossen hatten internationale Achtung erworben und waren in das Getriebe der großen Politik eingeführt.

..

Wartburg, Schweiz

66 8. DER BURGUNDERKRIEG Nach der schweren Erschütterung des Bruderkrieges erschien die Eidgenossenschaft wie neu geboren, und mit irischer Lebenskraft setzte sie ihr Wachstum fort. Teils durch Bündnis und Vertrag, teils durch frechen Uberfall erwarben die Eidgenossen in den folgenden Jahren alle Gebiete bis zu der natürlichen Grenze des Landes, dem Rhein und dem Bodensee. Der jahrelange Kriegszustand hatte in ihnen ein reizbares Ehrgefühl und eine Rauflust erweckt, die sie zum Schrecken der umliegenden Länder werden ließ. Jede Schlägerei mit den Nachbarn, jede vermeintliche Beleidigung beantworteten sie spontan, oft ohne Mitwirkung der Obrigkeiten, mit kriegerischem Auszug, Plünderung und Brandschatzung. Auffällig ist dabei, daß ihre wilden Kriegszüge oft die natürlichen Grenzen überfluteten, ihre territoriale Ausdehnung jedoch diese Schranken, trotz vieler sich bietender Gelegenheiten, nicht überschritt. S o macht das Wachstum der Eidgenossenschaft nicht den Eindruck einer geplanten Eroberungspolitik, sie gleicht eher dem natürlichen Wachstum eines organischen Wesens. Seine Grenzen sind von der Natur vorgeschrieben, aber innerhalb dieser Grenzen überwindet es siegreich alle ihm entgegenstehenden Gewalten. Diese Naturkraft hatte sich bis ins zweite Drittel des 15. Jahrhunderts nach Norden und Osten gewendet. Dort war die natürliche Grenze mit der Eroberung des bis dahin habsburgischen Thurgaus (1460) erreicht. Gegen Ende des Jahrhunderts wendete sie sich nun im Burgunderkrieg gegen Westen. Der Burgunderkrieg hatte, wie alle bisherigen Kriege der Eidgenossen, eine grundsätzliche Bedeutung: wieder hatte sich das einzige Volksheer Europas mit der Welt des Adels zu messen. Zugleich stellte der Zusammenstoß mit Burgund die Schweiz mitten in die Auseinandersetzung der großen Weltmächte. Drei Persönlichkeiten hatten am Ende des 15. Jahrhunderts das Schicksal Europas in ihrer H a n d : Ludwig X I . von Frankreich, Karl der Kühne von Burgund und Kaiser Friedrich III. — Ludwig X I . , der als Dauphin bei St. Jakob mit den Eidgenossen Bekanntschaft gemacht hatte, war der erste völlig moderne französische Herrscher. Diplomatische Gewandtheit und Skrupellosigkeit in der Wahl der Mittel verschafften ihm eine Überlegenheit über alle Zeitgenossen, die ihm das Lob Machiavellis eintrug. Er führte sein Land aus dem Mittelalter in die Neuzeit über und legte den Grund zum französischen zentralisierten Beamtenstaat. Frankreich zu

Ludwig X I . — Karl der K ü h n e — Friedrich I I I .

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einem geschlossenen Nationalstaate zu machen, der in Europa als Großmacht aufzutreten in der Lage wäre, dieses Ziel verfolgte der dürre Verstandesmensch mit geradezu religiöser Inbrunst. Der Gegenspieler Ludwigs war Herzog Karl der Kühne von Burgund. Als Vasall des Kaisers und des französischen Königs besaß er weite Gebiete beidseits der deutsch-französischen Grenze: die Niederlande, Flandern, das Herzogtum und die Freigrafschaft Burgund. Durch seinen Reichtum war er mächtiger als seine beiden Lehensherren. Von brennendem Ehrgeiz erfaßt, strebte er danach, seine zwischen der Nordsee und dem Genfer See zerstreuten Gebiete zu einem geschlossenen Territorium zu vereinigen und zu einem Königreich Burgund, das das dritte dieses Namens gewesen wäre, zu erheben. Im Gegensatz zu Ludwig X I . lebte Karl der Kühne in der Vorstellungswelt des Mittelalters. An seinem Hof erlebte das Rittertum eine letzte, glänzende Blüte. Der Orden des goldenen Vließes mit seinen feierlichen Zeremonien sollte die Standesehre des Adels wach halten und die alten Formen des Rittertums in neuer Pracht auferstehen lassen. Zugleich aber verfügte Karl über die stärkste, mit der modernsten Artillerie ausgerüstete stehende Armee. D a er wertvolle Teile Frankreichs besaß und sie von Frankreich zu trennen beabsichtigte, wurde Ludwig X I . sein erbittertster Feind. Der Habsburger Friedrich III. brachte die Kaiserkrone f ü r dauernd an das H a u s Österreich. Auch er war erfüllt von einem großartigen Zukunftstraum, der Weltherrschaft seines Hauses. In den fünf Vokalen des Alphabetes drückte er seinen Wahlspruch aus: ;411es frdreich ¿st Oesterreich Untertan. Ihrem Wesen nach stand die Eidgenossenschaft zwar im schärfsten Gegensatz zu den Zielen Karls des Kühnen. Doch ein Wesensgegensatz ist kein Kriegsgrund. Auch hatten die Eidgenossen mit Burgund so wenig natürliche Reibungsflächen, daß diese allein den Zusammenstoß nicht erklären können. Persönliche Leidenschaften und Ziele, zufällige Ereignisse und ein auch dem heutigen Historiker schwer durchschaubares Intrigenspiel, das die Ahnungslosigkeit der Eidgenossen in Dingen der großen Politik in seine Rechnung einzusetzen wußte, alle diese Momente waren es, welche den Wesensgegensatz der beiden stärksten Militärmächte Europas erst zum politischen Gegensatz und zum militärischen Zusammenprall steigerten und damit den geschichtlichen Kräften Gelegenheit gaben, sich in weithin sichtbaren Taten zu manifestieren.

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II. 8. Der Burgunderkrieg

Zu den Mächten, die im Zusammenstoß zwischen den Eidgenossen und Karl dem Kühnen eigene Ziele verfolgten, gehörte auch Bern. Als einziger Ort besaß Bern eine zielbewußte Außenpolitik. Die herrschenden Geschlechter hatten in langer Tradition Fähigkeiten erworben, die der ganzen Eidgenossenschaft zugute kamen. Sie allein überblickten die politische Lage Europas und verstanden sich in der Welt der fürstlichen Diplomatie als Ebenbürtige zu bewegen. Sprachen- und Weltkenntnis verschaffte ihnen die Verbindung mit dem Westen. Die treibende Kraft war in Bern der Schultheiß Niki aus von Diesbach. Er verfolgte das hochgesteckte Ziel, die Herrschaft der Stadt über den J u r a nach Burgund und südwestlich bis an den Genfer See auszudehnen. Dies war nur möglich, wenn Burgund aus der Nachbarschaft der Eidgenossenschaft verdrängt wurde. Intime Beziehungen zu Ludwig XI., an dem er den nötigen Rückhalt zu gewinnen hoffte, verschärften den Gegensatz zu Burgund. Den Anlaß zum Krieg schuf ein Feldzug, den 13 000 Eidgenossen im J a h r 1468 in das Elsaß unternahmen, um die verbündete Stadt Mühlhausen gegen den österreichischen Adel zu schützen. Als sie sich an die Belagerung der Stadt Waldshut machten, wußte Herzog Sigismund, Herr der habsburgischen Länder am Oberrhein, sich nicht anders zu helfen, als daß er den Eidgenossen die Zahlung von 10 000 Gulden verspradi und als Pfand die Landstriche nördlidi des Aargau einsetzte. Weil der Herzog nie bei Geld war, hofften die Eidgenossen, bald in den Besitz der Gebiete zu kommen. Da suchte und fand der Herzog Hilfe bei Karl dem Kühnen. Dieser schoß ihm 50 000 Gulden vor und erhielt seinerseits die betreffenden Gebiete und dazu das Oberelsaß als Pfand. Sigismund hoffte, mit Unterstützung des mächtigen Burgund diesmal endlich den Erbfeind seines Hauses bändigen zu können. Die Lage der Eidgenossen schien sich zu verdüstern, zumal Karl bald auch Verbindung mit Savoyen suchte und so die Westschweiz von drei Seiten zu umklammern drohte. — Aber Sigismund mußte bald zu seiner Enttäuschung erfahren, daß Karl weder daran dachte, ihm gegen die Eidgenossen zu helfen noch die verpfändeten Länder zurückzugeben. Sein Vogt, Peter von Hagenbach, madite sich durch seine Rücksichtslosigkeit bald allgemein verhaßt. Da er die mit den Eidgenossen befreundeten Städte des Elsaß nicht weniger belästigte als vorher der österreichische Adel, schlössen diese gegen Burgund ein Bündnis, das zur Unterscheidung von der „oberen" Eidgenossenschaft die „niedere Vereinigung" genannt wurde. Von diesem Zeitpunkt an beginnt das Mißtrauen der Eidgenossen

Vorgeschichte des Krieges

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gegen Burgund sich zum H a ß zu steigern. Er erklärt sich weniger durch das, was K a r l wirklidi tat, als durch das, was man von ihm befürchtete und was m a n ihm zutraute, da niemand seine wirklichen Absichten kennen konnte. Die gegen den Herzog von Burgund entstandene Mißstimmung wußte nun der französische König meisterhaft seinen Plänen dienstbar zu machen. Es gelang ihm das unerhörte Kunststück, die Eidgenossen mit Habsburg zu versöhnen, — gegen Burgund. Durch seine Vermittlung wurde im März 1474 in Konstanz ein ewiger Friede, die „ewige Richtung", zwischen den zwei alten Feinden geschlossen, unter dem Jubel der Bevölkerung, die sich jetzt von der Gefahr dauernder Kriege befreit glaubte. Dieser Friede war nur möglich, weil die Eidgenossenschaft im Norden und Osten eine natürliche Grenze gefunden hatte, über die sie nicht hinaus strebte, der Habsburger aber zum erstenmal einen unbefristeten Verzicht auf die verlorenen Gebiete aussprach. Zugleich verbündeten sich die Eidgenossen sowie Herzog Sigismund mit der „Niederen Vereinigung". Diesem Bündnis folgte im Oktober ein weiteres zwischen den Eidgenossen und Frankreich, so daß 1474 die Stellungen bezogen waren: die Eidgenossen, die niedere Vereinigung, Frankreich u n d Habsburg hatten sich gegen Burgund zusammengefunden. Es bestand allerdings in der Schweiz eine starke Friedenspartei, die die Eidgenossenschaft jedem internationalen Konflikt fernhalten wollte. Es brauchte das Aufgebot aller K r ä f t e der Kriegspartei und den vollen Einsatz des französischen Geldes, um alle Orte zum Eintritt in das französische Bündnis zu bewegen. In Bern selbst widerstand ihm der ritterliche Adrian von Bubenberg. Nikiaus von Diesbach ließ ihn in verletzender Form aus dem R a t e ausstoßen, um den Weg f ü r seine Machtpolitik freizubekommen. Nicht n u r Bern, der ganzen Eidgenossenschaft wußte er seine Politik aufzuzwingen. Bern hatte für kurze Zeit die Führung an sich gerissen. Unterdessen hatte bereits im Elsaß der Kriegszustand begonnen. Als die verbündeten Städte die Pfandsumme an Karl zurückzahlen wollten, um sich von seiner gefährlichen Nachbarschaft zu befreien, weigerte sich dieser, sie anzunehmen. Darauf erhob sich das Volk gegen Hagenbach, der im Mai hingerichtet wurde. Seit 1473 stand Karl überdies im Krieg mit dem Kaiser. Im Oktober 1474 erklärte ihm Bern im Auftrag des Reiches und im N a m e n der Eidgenossen den Krieg. Noch in demselben Jahr unternahm Diesbach einen Feldzug nach Westen über den Jura, und 1475 besetzte er unter dem nichtigen Vorwand, Savoyen habe mailändischen Söldnern den

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II. 8. Der Burgunderkrieg

Durchzug nach Burgund erlaubt, das savoysche Waadtland. Damit trieb Bern Savoyen auf die Seite Burgunds. Sobald jedoch die Schweizer im Krieg mit dem Herzog standen, beeilten sich ihre zwei Verbündeten, der Kaiser und der König von Frankreich, mit Karl Frieden zu schließen und die Eidgenossen im Stich zu lassen. Sie hofften, ohne eigene Anstrengung des Gegners ledig zu werden, und in dieser H o f f n u n g wurden sie auch nicht getäuscht. Die Eidgenossen, die geglaubt hatten, als bloße „Nebensächer" ( = Mithelfer) in diesen Feldzug einzutreten, sahen plötzlich die ganze Last des Krieges at-f ihre eigenen Schultern abgewälzt. Denn auf sie warf sich jetzt Karl mit seiner ganzen Macht. In diesem Augenblick aber riß der T o d Diesbadi aus seinen Plänen heraus und entfernte damit den Mann, der dem ohne tiefere Notwendigkeit entfesselten Krieg einen Sinn hätte geben können. "Wider Erwarten erfolgte der Angriff Karls nicht vom Elsaß, sondern vom "Westen her. Doch sein erster Feldzug fand schon am 2. März 1476 ein rasches Ende. Es gelang ihm zwar, die Stadt Grandson am Neuenburger See zu erobern. Zur Vergeltung f ü r ähnliche Taten der Eidgenossen ließ er die ganze Besatzung im See ertränken oder an den Nußbäumen der Umgebung aufhängen. Doch schon war eine eidgenössische Armee im Anmarsch. Eine Stunde vor Grandson stieß sie auf den Feind. Nach altem Brauch ließen sich die Krieger auf ein Knie nieder und sprachen das Schlachtgebet, was im burgundischen Heer, namentlich bei den zahlreichen Dirnen, einen Heiterkeitsausbruch hervorrief. Die Schlacht jedoch war entschieden, bevor sie recht begonnen hatte. Eine kleine Rückwärtsbewegung, die Karl aus taktischen Gründen befohlen hatte, löste bei seinen Söldnern eine Panik aus, die sich bald in wilde Flucht verwandelte. Unvergeßlich ist im Volk die Beute von Grandson geblieben. Nicht nur die ganze Artillerie mit dreihundert Tonnen Pulver, auch zahlreiche Banner und das ganze reiche Gezelt fiel den Siegern in die Hände, mitsamt allen darin befindlichen Schätzen. Mit manchen Funden wußten die Krieger gar nichts anzufangen. Um wenige Grosdien verkauften sie silberne Schalen, die sie von zinnernen nicht unterscheiden konnten, und Edelsteine, die sie für Glas hielten. Der Herzog war entschlossen, die Schmach zu rächen und ließ sich nicht von einem neuen Feldzug gegen die Eidgenossen abhalten. Schon im Mai war er wieder bereit. Diesmal fand er den ersten Widerstand vor der Stadt Murten, die von den Bernern verteidigt wurde. Als Kommandant des

Sdiladit bei Grandson und bei Murten

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gefährlichen Postens hatte sich der eben nodi schwer gekränkte Adrian von Bubenberg zur Verfügung gestellt. Das eben w a r die Stärke Berns, daß alle Kräfte, der Edelmut des Ritters, die Tüchtigkeit des Bürgeris und die renaissancehafte Genialität eines Diesbach ihre Erfüllung in der Gemeinschaft, im Dienste der Stadt suchten und fanden. — Die Eidgenossen aber, die weder Interesse noch Sinn für die bernische Westpolitik hatten, ließen sich nicht eher zum Ausmarsch bewegen, als bis die Burgunder das bernische Gebiet selber angriffen. Dann aber rückten sie vollzählig und in Eilmärschen heran. Am 22. Juni früh morgens stand das eidgenössische Heer vor Murten. Die Sdiladit bei Murten ist einer der denkwürdigsten Siege des schweizerischen Fußvolkes. Diesmal war der Feind nicht durch das Gelände behindert. Er konnte alle Vorteile der Lage, der technischen Überlegenheit, vor allem seine Artillerie voll zur Geltung bringen. Der Herzog erlag nicht dem Mißgeschick, sondern dem Mut und der Entschlossenheit der Eidgenossen, die in frontalem Angriff alle seine Feldbefestigungen überrannten, trotz mörderischem Artilleriefeuer. Sie wollten den Feind nicht nur schlagen, sondern vernichten, damit sie nicht noch einmal auszurücken hätten. Das gelang auch fast vollständig. Uber 10 000 Tote bedeckten das Feld. Gefangene wurden keine gemacht. Die Fliehenden wurden erbarmungslos niedergemacht oder in den See getrieben, — was nicht umkam, wurde in alle Winde zerstreut. Der Herzog selbst, von zwölf Rittern gefolgt — bis in die Niederlage hielt er an seinem Zeremoniell fest —, entkam. Doch sein Großmachttraum war ausgeträumt. Die Schlacht bei Murten hat den Eidgenossen den Ruf der Unüberwindlichkeit verschafft. Die bestorganisierte Armee des damaligen Europa, mit starker Artillerie und Reiterei versehen, war durch den entschlossenen Angriff des Fußvolkes vernichtet worden. Dabei fehlte den Eidgenossen das einheitliche Kommando. Kein Führer trat besonders hervor, die notwendigen Vereinbarungen traf ein Kriegsrat, der aus den Hauptleuten der verschiedenen Orte bestand. Und doch kämpfte die Armee, wie wenn ein einziger W i l l e sie beseelt hätte. Es war nicht der Sieg eines Feldherrn über einen andern, sondern der Sieg eines in seinem Willen geeinten Volkes über Organisation und technische Überlegenheit. Der Feldzug des folgenden Jahres machte dem Krieg ein Ende. Der Herzog von Lothringen, dem Karl sein Land entrissen hatte, nützte dessen Notlage aus, u m es zurückzuerobern. Auch dieser Feldzug wurde durch die Schweizer entschieden, die dem Herzog von Lothringen als Söldner zu

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II. 8. Der Burgunderkrieg

Hilfe eilten. Karl der Kühne unterlag in der Schlacht bei Nancy und fand tapfer kämpfend den Tod. Den Burgunderkrieg hatten die Eidgenossen nicht als Angegriffene, sondern als Angreifer geführt. Doch nach dem Tode Nikiaus von Diesbachs standen sie vor dem unerwartet großartigen Erfolg in völliger Ratlosigkeit. Durch den Tod Karls waren dessen Länder herrenlos geworden. Die Eidgenossen hätten sich ohne Schwierigkeit die angrenzenden Länder W a a d t und Freigrafschaft angliedern können. Doch hatte außer Diesbach gar niemand solche Ziele gehabt. So gingen alle Länder Karls entweder an Frankreich über oder an Maximilian, den Sohn des Kaisers, der rechtzeitig die Tochter Karls geheiratet hatte. Nicht einmal das Waadtland behielten die Berner, da sie bei keinem der Orte auf Verständnis für ihre Eroberungen stießen. Es trat hier zum erstenmal in der Schweiz der Interessengegensatz zwischen Osten und Westen zutage. Für die Expansionspolitik Berns fehlte den übrigen Orten das Verständnis, — sie hatten ja selbst dabei nidits zu gewinnen. Da man die Siege gemeinsam erfochten hatte, wurde auch gemeinsam über die Beute verfügt. Statt auf Landgewinn, war das Interesse der Eidgenossen auf Geld gestellt. Die französischen Pensionen hatten den Appetit der Herrschenden geweckt, und bald konnte man nicht mehr ohne das Gold des Auslands leben. Audi die politischen Vorteile wurden so zu Geld gemacht, die Freigrafschaft z. B. dem Meistbietenden, dem König von Frankreich verkauft, der sie allerdings dann wieder an Habsburg, den Erben Karls, verlor. Private und öffentliche Pensionen und der Ruf militärischer Unüberwindlichkeit waren der ganze Gewinn des Sieges. Die burgundische Beute hatte auch dem Volke den Kopf verdreht. Wie eine Erleuchtung stieg ihm die Erkenntnis auf, daß das Kriegshandwerk ein lohnender Erwerb sei. So begann ein Wettlauf der europäischen Fürsten um Schweizer Söldner. Die Erlaubnis zur Werbung bezahlten sie den Räten mit hohen Pensionen. Erhielten sie die Erlaubnis dennoch nicht, so warben sie im geheimen und waren sicher, immer Leute zu finden, die gegen klingendes Geld in fremde Dienste zogen. Ein fremder Werber brauchte nur seinen Kronensack auszuschütten, so liefen ihm von allen Seiten Leute zu, die auch Bußen und Strafen nicht scheuten. Die Neigung zu eigenmächtigen Kriegszügen hatte von jeher im Volk gelebt. Schon der Pfaffenbrief von 1370 hatte dagegen ein Verbot erlassen müssen. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts w a r die Eidgenossenschaft fast ununterbrochen im Kriegszustand, oft durch den Mutwillen der eigenen

Folgen des Krieges. Pensionen und Reislauf

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Bevölkerung, und so nahm die seit dem Zürichkrieg eingerissene Verwilderung immer mehr überhand. Da die Obrigkeiten selbst nicht mehr frei von Korruption waren, verloren sie vollends die Herrschaft über das Volk. Die Söldner schrien über die Ratsherren, die ihnen ihren Verdienst nicht gönnen wollten und dabei doch selbst, ohne Gefahr des Lebens, vom Gelde der Fürsten reich wurden. Das Bewußtsein der Macht schien Volk und Regierung zu verderben. Ein zügelloser Mutwille griff in allen Kreisen Platz. Wer sich nicht selbst an Solddienst und Pensionen beteiligte, tobte sich aus an Kirchweihfesten, in Rauferei und Trinken, Spiel und Streit. Auch der Verdienst des Kriegers war meist in kürzester Zeit im Würfelspiel und in zügellosem Luxus wieder zerronnen. Mehr als der Gewinn lockte das Kriegerleben selbst. Es kam soweit, daß es zeitweise in der Schweiz an Arbeitskräften fehlte. Der „Reislauf", wie man den Kriegsdienst im Solde fremder Fünsten nannte, wurde zum eigentlichen Nationalberuf der Schweizer. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ließen sich immer wieder Tausende von der Lust nach Abenteuer und Erwerb zum Kriegsdienst gewinnen. Doch allmählich, am Anfang des 16. Jahrhunderts, gelang es, den Solddienst in geordnetere Bahnen zu lenken. Die Werbungen ohne vertragliche Erlaubnis seitens der Regierung konnten eingedämmt werden. Um diese Erlaubnis mußten die Fürsten bitter kämpfen. Das Kampfmittel waren offizielle Pensionen an die Regierungen und unoffizielle an einflußreiche Politiker. Das finanziell überlegene Frankreich strebte nach einer Monopolstellung in der Söldnerwerbung, die es aber nie erreichte. Die Vermutung läge nahe, daß die Schweiz durch Solddienst und Pensionen in Abhängigkeit vom Ausland geraten wäre. Doch ist dies nur sehr bedingt der Fall. Der karge Boden vor allem der Gebirgstäler wies seine Bewohner auf den Solddienst als einziges Mittel, zu Wohlstand zu kommen. Doch ebensosehr wie die Söldner auf das Geld waren die europäischen Fürsten auf die Schweizer Söldner angewiesen. Ihre Zuverlässigkeit und Tapferkeit war unbestritten und erneuerte immer wieder den Ruf der Schweizer als eines kriegerischen Volkes, auch in Zeiten, da die Schweiz als Staat längst nicht mehr aktiv in die große Politik eingriff. Dann darf nicht vergessen werden, daß die Annahme von Pensionen fremder Fürsten damals nichts Anrüchiges hatte und in ganz Europa unter Staatsmännern allgemeiner Brauch war. Annahme von Pensionen bedeutete nicht unbedingt Abhängigkeit vom Geldgeber. In Fragen, welche die Eidgenossenschaft selbst berührten, hielten sich die Ratsherren meistens unabhängig und entschieden

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II. 8. Der Burgunderkrieg

nadi dem Interesse des eigenen Landes und nicht nach demjenigen des Geldgebers. Die weltgeschichtliche Bedeutung des Burgunderkrieges besteht darin, daß er den Versuch eines übernationalen Zwischenreiches zwischen Deutschland und Frankreich zum Scheitern brachte. In den herrenlos gewordenen Raum brachen nun die zwei Großmächte Frankreich und Habsburg ein, die jetzt gemeinsame Grenzen erhielten und deren Rivalität die Geschichte der folgenden Jahrhunderte erfüllt. Ohne es zu wollen und zu wissen, haben die Eidgenossen durch Vernichtung Karls des Kühnen einen bedeutenden Beitrag zur Ausbildung des von nationalen Gegensätzen bestimmten nachmittelalterlichen Europa geleistet. Daß die Schweiz selbst später in veränderter Form und kleinerem Maßstab einmal die Nachfolge Burgunds als übernationaler Staat übernehmen würde, konnte dama's niemand ahnen.

9. BRUDER KLAUS UND DAS STANSER VERKOMMNIS Bald nach dem Ende des Burgunderkrieges trat in der allgemeinen Verwilderung ein Zwiespalt, zutage, der früher oder später einmal zum Austrag kommen mußte. Es war der Zwiespalt zwischen Länderorten und Städteorten. Schon seit langem verfolgten die Länder mit Neid und Besorgnis den Aufstieg der Städte, mit dem sie nicht Schritt zu halten vermochten. Den Anstoß zu dem Zwist gab ein frecher Gewaltstreich, den eine Schar wilder Gesellen aus der Innerschweiz unternahmen, um von Savoyen ausstehende Kriegskontributionen einzutreiben. In der Fastnachtszeit machten sich ihrer fast zweitausend auf unter einem Banner, auf das sie als Feldzeichen einen Narren und eine Sau gemalt hatten — an Selbsterkenntnis wenigstens fehlte es ihnen nicht. Erst in Freiburg konnte die rauhe Gesellschaft zum Stehen und mit Hilfe von Wein und Geld zur Vernunft gebracht werden. In den Städteorten erregte dieser zügellose Aufbruch größte Erbitterung. Um ähnlichen Erscheinungen gewachsen zu sein, schlössen sie unter sich ein engeres Bündnis. Die Länder sahen dies mit grimmigem Mißtrauen und verboten Luzern die Teilnahme. Dazu hatten sie nach dem Bundesvertrag das Recht, doch Luzern kehrte sich nicht an das Verbot. Die Spannung stieg. Die Unterwaldner fingen an, die Bauern des Luzerner Territoriums gegen die Stadt aufzuwiegeln, ein unerhörter Schritt gegenüber einem Bundes-

Das Stanser Verkommnis

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mitglied. Luzern erhielt aber von dem geplanten Aufstand rechtzeitig Wind und richtete den Rädelsführer hin. — Der Eidgenossenschaft schien eine größere Katastrophe bevorzustehen, als sie der Zürichkrieg gewesen war. Langwierige Verhandlungen führten zu keinem Ergebnis. Denn es tauchten sogleich prinzipielle Fragen auf. Die Länder forderten die Auflösung des Städtischen Sonderbundes, die Städte sagten dies nur unter der Bedingung zu, daß eine festere Friedensordnung eingeführt würde. Sie gingen darauf aus, eine stärkere Bundesgewalt zu schaffen. Zugleich forderten sie die Aufnahme der zwei Städte Solothurn und Freiburg in den Bund. Beides lehnten die Länder ab, denn beides hätte die Stellung der Städte gestärkt. Auf der Tagsatzung in Stans im Dezember 1481 trafen die Gegensätze mit voller Schärfe aufeinander. Es stand der Bürgerkrieg bevor. Da ritt der Pfarrer Heini am Grund früh vor Tag zu dem Einsiedler Nikiaus von Flüe, im Volk Bruder Klaus genannt, der in einer wilden Schlucht in Unterwalden wohnte, um ihn um Rat zu fragen. Und das Wunder geschah, daß sich die feindlichen Brüder dem Worte des Einsiedlers fügten und die Versöhnung zustande kam. F r e i b u r g und S o l o t h u r n wurden von den acht alten Orten als gleichberechtigte Glieder in den Bund aufgenommen, aber unter der Bedingung, daß sie ihre Außenpolitik der Aufsicht der übrigen Orte unterstellten. Zugleich schlössen die acht alten Orte das „ S t a n s e r V e r k o m m n i s " . Neben dem Sempacherbrief und dem Pfaffenbrief bildete dieser Vertrag das dritte Bundesgesetz. Es verpflichtet die Obrigkeiten, bewaffnete Aufbrüdie, wie den Saubannerzug, zu verhindern, und verbietet jede Aufwiegelung der Untertanen eines andern Ortes. Alle Orte sollten gegen einen solchen Friedensbrecher Hilfe leisten, ebenso gegen Aufstände der Untertanen. Alle fünf Jahre sollten alle Bünde vor dem ganzen Volke beschworen und die drei Bundesgesetze öffentlich verlesen werden. Nicht nur Regierungen waren eben durch die Verträge verbunden, sondern das ganze Volk einschließlich der „Untertanen", die man wie die Angehörigen der Orte „Eidgenossen" nannte und denen man nach dem Stanser Verkommnis ebenfalls Anteil an gemeinsamer Kriegsbeute zusprach. Das Stanser Verkommnis blieb 300 Jahre lang die Grundlage der Eidgenossenschaft. Es hielt sogar dem Sturm der Glaubensspaltung stand. Glockengeläute verkündete in der ganzen Eidgenossenschaft, daß der Friede gerettet und der Bund vielleicht vor völliger Zerstörung bewahrt war. Die Geschenke, die von allen Seiten zur Klause des Einsiedlers getra-

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II. 9. Bruder Klaus und das Stanser Verkommnis

gen wurden, sowie die Dankschreiben der Regierung zeigen, daß man sich bewußt war, wem man die Rettung verdankte. Die Tagsatzung von Stans ist einer der Augenblicke, in denen die soziale Urform der Eidgenossenschaft Wirklichkeit wurde. Wieder ist es wie im Teilmythos ein einzelner, der ohne Amt und Auftrag den rettenden Entsdiluß findet. Wieder ist seine Tat nur dadurch sinnvoll, daß dieser einzelne in den andern Verständnis und Anklang findet. Daß die Tagsatzungsgesandten sich vom Bruder Klaus zum Frieden bewegen ließen, ist ein Beweis, daß in der Schweiz auch damals nicht nur das lebte, was sich äußerlich als Verwilderung kundtat, sondern daß noch Aufnahmefähigkeit da war für höhere menschliche Regungen. Die Autorität des Bruders Klaus beruhte nicht auf einer offiziellen Stellung oder einem Amt. Sie beruhte allein auf seiner einzigartigen Persönlichkeit. Er selbst w a r gar niditi auf der Tagsatzung erschienen. Er soll, nach der zuverlässigsten Überlieferung, nur gesagt haben, die Aufnahme von Freiburg und Solothurn sei Gottes Wille. Er allein konnte mit diesem Wort Glauben und Anklang finden, sein Wort stand als unerschütterliche Wahrheit über jedem andern Menschenwort. Doch diese unbedingte moralische Autorität hatte er nicht durch Taten in der großen Welt erlangt, sondern durch sein heiliges Leben in der Einsamkeit. Zuvor w a r er mitten im Leben gestanden, als Bauer, als Familienoberhaupt, als Richter. Als Hauptmann hatte er den Zürichkrieg mitgemacht und die ganze Verwilderung der Zeit miterlebt. In seinem fünfzigsten Jahr aber hatte er sich vom äußeren Leben zurückgezogen und in der Einsamkeit seinen Geist durch Gebet und heiliges Leben zu einem anders gearteten Wirken in der äußeren Welt vorbereitet. Bruder Klaus ist lange vor seiner offiziellen Heiligsprechung (1947) der Nationalheilige der Eidgenossen geworden. Wie Franz von Assisi gewissermaßen die dem Italiener eigene Innigkeit im Erleben der schönen Welt, wie Jeanne d'Arc die Schwungkraft der französischen Nation verkörpert, so können wir in Bruder Klaus eine besonders reine, ins Ubersinnliche gesteigerte Verwirklichung des schweizerischen Nationalcharakters erblicken. Er ist gewissermaßen ein Heiliger auf eigene Faust und aus eigener Verantwortung. Er gleicht darin dem Teil, der ohne adelige Herkunft und Erziehung, rein aus sich heraus die Rittertugenden entwickelt hatte. Klaus konnte weder lesen noch schreiben noch gehörte er einem Orden oder einer bestimmten Richtung innerhalb der Kirche an. Auch in der Klause ergab er sich nicht weltfremder Absonderung, sondern blieb ein Mann des Lebens.

Nikiaus von Fliie

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Während das irdische Treiben der Eidgenossen in Verwilderung, in die Gier nach den Gütern der Welt und im Austoben des Machttriebes entartete, sammelte der Bruder in der Einsamkeit die sittlichen und geistigen Kräfte, die ihn fähig machten, das verlorene Gleichgewicht im Volksleben wieder herzustellen. Er wurde zum Ratgeber des Volkes und der Regierungen und befruchtete das politische und soziale Leben von der Sphäre des Alltags bis in diejenige der höchsten Staatsleitung. Fürstliche Gesandte, die ihn um Rat fragten, staunten über seine Weltkenntnis. Die Lösung von allem Irdisdien gab ihm die Fähigkeit, die Welt in ihrem wahren Wert und ihren wahren Verhältnissen zu durchschauen und zu ordnen. Uberall wirkte er als Ratgeber oder Schiedsrichter zu Friede und Recht. Als erster hat er über das Wesen der Eidgenossenschaft etwas in Worten auszusprechen vermocht, indem er seinen Landsleuten den in volkstümlich bildhafter Sprache gehaltenen Rat gab: „Macht den Zaun nicht zu weit!" Stärkere Ausdehnung hätte eine Umgestaltung der Eidgenossenschaft in einen den Fürstenstaaten ähnlichen zentralisierten Machtstaat notwendig gemacht, wozu ja der Reformplan der Städte bereits ein Anfang gewesen wäre. Daß die tragende Kraft des Bundes in sittlicher, nicht in politischer Sphäre zu suchen ist, das brachte die Gestalt des Bruders Klaus dem Volk zum Bewußtsein, als es drohte, dem äußerlichen Treiben der Politik zu verfallen. So wurden das Leben und die Worte des Einsiedlers gleich dem Teilmythos zu einer Kraftquelle des nationalen Lebens. 10. DER SCHWABENKRIEG — LÖSUNG V O M REICH

Die Eidgenossen hatten ihre Freiheit ursprünglich in Anlehnung an Kaiser und Reich erlangt. Mit Stolz fühlten sie sich als Angehörge des Reiches. Doch hatte der Lauf der Entwicklung sie dem Reiche immer mehr entfremdet. Seit dem Morgartenkrieg hatte in der Schweiz der Volksstaat, in Deutschland der Fürstenstaat sich durchgesetzt. Entscheidend aber war, daß mit Friedrich TII. die Kaiserkrone für dauernd in die Gewalt der Habsburger kam. Wie alle Kaiser des späteren Mittelalters konnten sie ihre kaiserliche Autorität nur auf die eigene Hausmacht gründen, was sie anderseits bewog, ihre Stellung als Reichsoberhaupt für die Interessen ihrer Hausmachtpolitik auszunützen. Schon Friedrich III. hatte im Zürichkrieg das Reich gegen die Eidgenossen aufgehoben, im Burgunderkrieg hatte er sie im Stich gelassen, was ihm beides unvergessen blieb. Zum endgültigen Bruch,

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II. 10. Der Schwabenkrieg. Lösung vom Reich

zum letzten Krieg mit Habsburg und zur Trennung vom Reich kam es unter dem Sohn Friedrichs, dem Kaiser Maximilian I. Maximilian unternahm einen großangelegten Versuch, das hoffnungslos zerrüttete Reich wieder zu einem handlungsfähigen Gebilde zu machen. Auf dem Reichstag zu Worin 1495 wurde ein Plan zur Reichsreform gutgeheißen. Er enthielt drei Bestimmungen. Ersters verbot der „ewige Landfriede" alle Fehden innerhalb des Reiches. Es sollte endlich mit der mittelalterlichen Anarchie aufgeräumt, Friede und Sicherheit gefestigt werden. Zur Schlichtung von Streitigkeiten wurde zweitens als oberstes Appellationsgericht das Reichskammergericht eingesetzt. Drittens sollte eine allgemeine Reichssteuer erhoben werden, um dieses Gericht und die Friedensordnung zu finanzieren. Der Kaiser legte nun größten Wert darauf, daß auch die Eidgenossen dieser Ordnung beitraten. Die Eidgenossen aber weigerten sich, eine Teilnahme an der Reichsreform auch nur in Erwägung zu ziehen. Eine andere Haltung war ohne Selbstaufgabe gar nicht möglich. Denn in der Reichsreform offenbarte sich ein der Eidgenossenschaft, und der bisherigen Reichsidee selbst, entgegengesetztes Prinzip. Auf dem Reichskammergericht sollte von gelehrten Juristen nach römischem Recht gerichtet werden. Das römische Recht aber ist immer und überall der Wegbereiter des Staatsabsolutismus gewesen. Niemals konnten die Eidgenossen es sich gefallen lassen, daß ausländische Richter nadi fremdem Recht über sie zu Gericht saßen. Schutz gegen den fremden Richter war ja gerade der Zweck des ersten Bundes gewesen. Sie waren entschlossen, an der eigenen Gerichtshoheit gegen jedermann, auch gegen den Kaiser, festzuhalten. Das erfuhr schon Friedrich III., als er den Eidgenossen die eigene Gerichtsbarkeit verweigerte. Er erhielt darauf in Konstanz den Bescheid: wenn er ihnen auch ihre Gerichte zu bestätigen verweigere, so würden sie trotzdem wie bisher über Bösewichte zu Gericht sitzen, und wer sie darum angreifen wolle, der möge es versuchen. 1497 drohte Maximilian bei den Verhandlungen in Innsbruck: Wenn die Eidgenossen sich nicht in die Sache schickten, so würde er mit Gewalt gegen sie vorgehen. Er erhielt von dem Zürcher Bürgermeister Conrad Schwend die Antwort: Er rate das seiner Majestät nicht, denn diese seien so unverständige Leute, daß sie auch die königliche Krone nicht verschonen, sondern große Ehre darein legen würden, „um so hitziger drauf zu schlagen". Das war für das Bewußtsein der Zeit eine Ungeheuerlichkeit, denn

Widerstand gegen die Reichsreform

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noch wurde die königliche Gewalt als göttliche Gewalt, das Reich als Gottesreith empfunden. Die Reichsreform hatte jedoch den Eidgenossen keine irgendwie gearteten Vorteile zu bieten. Inneren Frieden und Rechtssicherheit hatten sie ja selbst aus eigener K r a f t schon seit einem Jahrhundert verwirklicht. Nikiaus Schradin sagt in seiner Chronik: „Solt einer tragen Gold in siner H a n d On Gleit (ohne Geleit) durch das ganz Schwyzer Land Dem geschech (geschähe) niemer Schmach noch Sdiant (Leid)" Vollends wenn es an das Zahlen von Steuern ging, hatten die Eidgenossen ein schlechtes Gehör. Waren doch Steuern das Kennzeichen der Unfreiheit. Die Weigerung der Eidgenossen führte alsbald auf beiden Seiten des Rheines zu einem Ausbruch von Haß und Leidenschaft, der mit unerhörter Kraft die ganze Bevölkerung ergriff. Eine Flut von Schmähungen ergoß sich über die Eidgenossen, die natürlich die Antwort nicht schuldig blieben. Dieser Haßausbruch zeigt, wie weit sich die verwandten Stämme nördlich und südlich des Rheines schon zu zwei verschiedenen Nationen mit gegensätzlichem Wesen entwickelt hatten. Nicht nur die Fürsten, sondern auch das Volkslied, der Gelehrte, der Bürger, alle Stände und Kreise in Deutschland verabscheuten die Eidgenossenschaft als eine Verirrung von der menschlichen Gemeinschaft. J a , es fehlte überhaupt das Verständnis für ihre Gemeinschaftsform. Im Adel lebte noch der alte H a ß gegen die Rebellen, die sich der heiligen Ständehierarchie entzogen hatten. Dazu kam die Empörung über die „Kuhmäuler", die es wagten, ihre eigene Rechtsordnung der neuen Reichsordnung vorzuziehen, eine Empörung, die durch alle Stände ging. Das Volkslied schalt die Eidgenossen das „ungehorsame Volk", „denn sie wollten sein gar niemands Knecht, selber Herr wollten sie bleiben". Es vergleicht sie mit Luzifer, der sich gegen Gott erhoben hat, und fordert sie auf, wie andere Christen „sich den zwei Häuptern, die Gott selbst hat gemacht" (Papst und Kaiser), zu beugen. „Ein Bauer soll sich begnügen dran, daß er mag schlechte ( = schlichte) Nahrung han." Nicht anders spricht der humanistische Gelehrte. Trithemius nennt in den Annalen von Hirsdiau die Schweizer „von Natur übermütig, den Fürsten feind . . . ungehorsam gegen ihre Herren", ihre Freiheit ist ihm „angemaßte Freiheit". Doch muß er zugeben, daß sie im Kriege „herzhaft . . . und in aller Not treueste Helfer sind . . . und auch der Reiche den Armen nicht verachtet".

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II. 10. Der Schwabenkrieg. Lösung vom Reich

Obwohl er also den Eidgenossen die Fähigkeiten zuspricht, die sie zur Selbstregierung befähigen, vermag er es nicht, ihnen auch das Recht darauf zuzuerkennen. Die äußerste Form aber, die das Unverständnis für die Freiheit annehmen kann, ist das Mitleid mit der bedauernswürdigen Verirrung, der dieses Volk verfallen sei. In diesem Ton ist das Gebet zur Bekehrung der Eidgenossen gehalten, das Wimpheling 1504 verfaßte. „Aus bloßer Unkenntnis des göttlichen Gesetzes", sagt er in der Einleitung, sei dieses Volk „in den Abgrund des Irrtums und Ungehorsams" gefallen, „schwerlich ohne Verderben seiner Seele." Er bittet Gott, daß es „endlidi erleuchtet werde und zum R e i c h , . . . zu aller gerechten Ordnung" zurückkehre. Bei der Zügellosigkeit der Zeit konnte der gegenseitige Haß von einem T a g auf den andern sich in einen wütenden Krieg entladen. Sowohl die Eidgenossen wie die damals aufkommenden deutschen Landsknechte brannten darauf, sich mit dem Gegner messen zu können. Der Abschluß eines Bündnisses zwischen den rätischen Bünden und den sieben östlichen eidgenössischen Orten brachte den Krieg zum Ausbruch. Audi die ruhig-kühle Politik Berns, das mit Solothurn und Freiburg dem Bündnis ferngeblieben und diesmal im Gegensatz zur Zeit des Burgunderkrieges am stärksten für die Erhaltung des Friedens eingetreten war, konnte den Bruch mit dem Reiche nicht verhindern. Im Nu loderte der Kampf auf an der ganzen Grenze vom Inn bis zum Rheinknie bei Basel. Schwabenkrieg nannte man ihn auf der Schweizer Seite, Schweizerkrieg auf der deutschen. Wieder bewährte sich die unwiderstehliche K r a f t des schweizerischen Unabhängigkeitswillens. Der letzte Unabhängigkeitskrieg war der kürzeste. Die Entscheidung fiel am 22. Juli 1499 in der Schlad« bei Dörnach in der Nähe von Basel. Audi die Graubündner behaupteten in mehreren Gebirgsschladiten ihre Unabhängigkeit. Ein erbarmungsloser Verwüstungskrieg zwang den Kaiser schließlich zum Nachgeben. In Basel, das neutral geblieben war, wurde im September desselben Jahres der Friede geschlossen. Er löste die Eidgenossenschaft tatsächlich vom Reich, ohne daß die Trennung formell ausgesprochen wurde. Die Ansprüche des Reiches wurden im Friedensvertrage gar nicht erwähnt und damit in Wirklichkeit fallen gelassen. Wohl gehörte die Eidgenossenschaft formell bis 1648 noch dem Reich an, in ihrer politischen Entwicklung aber ging sie von nun an ihre eigenen Wege. Auch die eigene, aus den altgermanisdien Verhältnissen fortentwickelte Rechtsordnung blieb der Schweiz erhalten. Sie machte die Übernahme des römischen

Der Krieg. — Friede zu Basel

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Rechts nicht mit. Das Recht wurde nicht Sache einer Gelehrtenkaste, sondern blieb Ausdruck des Volksgewissens, zum Richteramt wurde weiterhin der Mann von Lebenserfahrung, nicht der Gelehrte herangezogen. Auch einen großen materiellen Gewinn brachte der „Schwabenkrieg" der Eidgenossenschaft. Zwei Jahre nach Friedensschluß (1501) nahm sie die beiden Rheinstädte B a s e l und S c h a f f h a u s e n als Glieder in ihren Bund auf. Damit fand sie ihre endgültige Nordgrenze. Besonders wertvoll war der Beitritt Basels, das als Sitz einer Universität und tüchtiger Buch reformiertes Strafgericht in Thusis sämtlidie Reformierte in dem Untertanenland Veltlin ermordet wurden. Sieg und Niederlage, Unterdrückung und Befreiung, patriotischer Aufschwung und gemeiner Verrat, internationale Diplomatie und lokale Sonderinteressen führten in dem unglücklichen Lande während 20 Jahren einen wahren Hexensabbat auf (1618—39). Zum Befreier wurde schließlich der Oberst Jürg Jenatsch, die problematischste Gestalt der damaligen Schweizer Geschichte. In der Jugend ein feuriger protestantischer Prediger und Patriot, 9

Wartburg, Schweiz

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I I I . 3. Gegenreformation. Politische Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert

der sich nidit scheute, den Führer der katholisch-spanischen Partei, Pompeius Planta, eigenhändig mit der Axt zu erschlagen, entwickelte er sich in fremden Diensten zu einem tüchtigen Truppenführer und gewiegten Diplomaten, der sogar Richelieu gewachsen war. Um seine Heimat von den Österreichern zu befreien, die das Land 1622 und 1629 besetzt hatten, schloß er sich dem Herzog Rohan an, der es im Jahre 1631 im Auftrage Richelieus eroberte. Als aber Richelieu Mine machte, das Land als Faustpfand in der Hand zu behalten, trat Jenatsch heimlich zum katholischen Glauben über, verband sich mit den verhaßten Spaniern und zwang seine ehemaligen Freunde durch eine allgemeine Verschwörung zum Abzug (1637). Auch er fiel nach der Befreiung durch politischen Mord. Jürg Jenatsch ist eine der Gestalten, über die der Spruch der Geschichte immer wieder schwanken wird, da er wie selten ein Mensch in den Kampf zwischen Treue zu einer Idee und Treue zur Heimat gestellt war. Der europäische Krieg hatte den zwei Religionsparteien Zurückhaltung auferlegt. Doch kaum war er zu Ende, als sich schon die konfessionellen Gegensätze wieder meldeten und im Jahre 1656 zu einem dritten Bürgerkriege zwischen Bern und Zürich einerseits und den V Orten anderseits führten. Der Krieg von 1656, nach dem Orte der Entscheidung der „erste Villmerger Krieg" genannt, brach aus, weil sich Zürich für einige Schwyzer einsetzte, die zur Reformation übergetreten waren. Der Krieg kam zu einem raschen Ende, als die Katholiken in entschlossenem Vorstoß das bernische Heer, das den Zürichern zu Hilfe kam, über den Haufen warfen. Der Kappeler Friede wurde wiederhergestellt und die Vorherrschaft der katholischen Orte von neuem anerkannt. Die eidgenössische Politik beschränkte sich seither auf zwei Dinge: das eine war eifersüchtige Überwachung der Gegenpartei, das andere war eine möglichst einträgliche Gestaltung des Sold- und Pensionsgeschäftes mit dem Ausland. So erneuerten alle 13 Orte 1663 zu äußerst günstigen Bedingungen das alte Soldbündnis mit Frankreith. Das Übergewicht, das die kleinen katholischen Orte kraft ihrer Mehrheit hatten, fiel den mächtigen reformierten Städten mit der Zeit immer lästiger. Ein Zwischenfall führte am Anfang des 18. Jahrhunderts den letzten Religionskrieg herbei. Der Anlaß war ein Aufstand des reformierten Toggenburg gegen den Abt von St. Gallen, der seit 1468 die Landeshoheit innehatte. Diesmal waren Zürich und Bern entschlossen, ganze und gründliche Abrechnung zu halten. Mitte Mai schlugen sie nach wohlüberlegtem Plane

Die Villmerger Kriege

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los. Die Abtei St. Gallen wurde leicht erobert. Schwerer, aber doch erfolgreich war der Kampf gegen die V Orte, der sich wieder bei Villmergen entschied. Der Friede von Aarau im Jahre 1712 brachte den Reformierten endlich die konfessionelle Gleichberechtigung, indem er konfessionelle Fragen in den Gemeinen Herrschaften den Mehrheitsbeschlüssen entzog und einem Schiedsverfahren unterstellte. Zugleich aber verschaffte der Friede den reformierten Orten das politische Ubergewicht: die katholischen Orte mußten auf die Mitherrschaft in Baden verzichten. Damit wurde ihnen die Verbindung mit dem Ausland abgeschnitten. Doch weit entfernt davon, den Bund zu festigen, riß der Friede von Aarau ihn erst recht auseinander. Die katholischen Orte konnten den Verlust der Vormacht nicht verschmerzen und suchten sogar in einem geheimen Vertrage 1715 Hilfe bei Frankreich, um das Verlorene wieder zu gewinnen. Es zeigte sich, daß das Übel, an dem die Eidgenossenschaft, krankte, schlechterdings unheilbar, eine Versöhnung der Glaubensparteien unmöglich war. Im Verhältnis der Schweiz zum Ausland traten bis zur französischen Revolution keine wesentlichen Änderungen mehr ein. Das Soldbündnis mit Frankreich, 1777 von allen Orten erneuert, und die politische Neutralität blieben die Grundpfeiler der schweizerischen Stellung in Europa. Doch hatten die einzelnen Orte noch nicht auf jede eigene Außenpolitik verzichtet, noch weniger auf Kundgebung ihrer Sympathien. Als Ludwig XIV. zum Verfolger der Reformierten in Frankreich wurde, organisierten ihre Glaubensgenossen in der Schweiz die Flüchtlingshilfe, und sie erlaubten von nun an auch den protestantischen Großmächten, bei ihnen Söldner zu werben. Die Siege Marlboroughs und des Prinzen Eugen im Spanischen Erbfolgekrieg (1702—1713), die das europäische Gleichgewicht wieder herstellten, wurden in Bern wie Siege eines Verbündeten gefeiert, da sie auch hier als Befreiung von einer drohenden französischen Gewaltherrschaft über Europa empfunden wurden. Als 1707 das Herrscherhaus des verbündeten Neuenburg ausstarb, versuchte Ludwig XIV., sich in den Besitz des Landes zu bringen. Doch Bern, der mächtigste der Schweizer Kantone, erhob energischen Einspruch, der bis zur Kriegsdrohung ging, so daß der ferne und daher ungefährliche König von Preußen zum Fürsten gewählt werden konnte. Die europäische Kriegslage machte es dem König von Frankreich unmöglich, sich gegen Bern durchzusetzen.

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132 4. A R I S T O K R A T I E U N D D E M O K R A T I E Im Zeitalter des Absolutismus erlebte auch die Schweiz eine Entwicklung, die derjenigen des übrigen Europa parallel lief. Zugleich aber gab sie den allgemeinen Tendenzen, wie in ihrer ganzen bisherigen Geschichte, wieder eine charakteristisch schweizerische Form, so daß sie auch in dieser Periode ihre Sonderart nicht verlor. Die Entwicklung ist staatsrechtlich schwer faßbar; es handelt sich dabei weniger um eine formelle als um eine gesinnungsmäßige Wandlung. So sehen wir z. B., wie die Formen der Tagsatzung, die ursprünglich Ausdruck der Bundesbrüderschaft gewesen waren, zu Formeln erstarren und die steife Würde des Alters annehmen. Jede Tagsatzung wurde mit einer weitläufigen zeremoniellen Begrüßung eröffnet, die keiner erfüllten Wirklichkeit mehr entsprach. In den einzelnen Orten setzte seit der Reformation eine langsame, aber ständig fortschreitende Entwicklung ein, die überall mit der Ausbildung einer ausgesprochenen Aristokratie endete. Das politische Leben, das einst von der ganzen Bevölkerung getragen war, zog sich unaufhaltsam auf einen immer enger werdenden Kreis Bevorzugter zurück. Verschiedene Kräfte wirkten zu dieser Entwicklung mit. Schon die mittelalterliche Rechtsordnung, auf der unverändert die eidgenössischen Staaten beruhten, enthielt starke Rechtsdifferenzierungen. Die öffentlichen Befugnisse hatten im Mittelalter ein privatrechtliches Element aufgenommen: sie wurden nicht nur als Amt, sondern zugleich als Besitz des Amtsträgers empfunden. Allerdings gelangte in der Schweiz nie ein einzelner in den ausschließlichen Besitz der Staatsgewalt wie in den Monarchien. Aber auch hier waren die politischen Rechte nicht gleichmäßig verteilt, sondern mannigfaltig abgestuft und differenziert. In den Genuß öffentlicher Ämter konnte man nur gelangen als Angehöriger einer Gemeinde oder einer Korporation innerhalb der Gemeinde. In den Städteorten war die oberste Staatsleitung der Stadt, und innerhalb der Stadt einem bestimmten Teil der Bürgerschaft vorbehalten. So ist schon in der bestehenden Rechtsordnung selbst die Versuchung eingeschlossen, einerseits die überlieferten Rechtsunterschiede zu steigern, anderseits rein gewohnheitsmäßige Vorteile in dauernde Vorrechte umzuwandeln. Zu dem rechtlichen Moment tritt das materielle. Der Besitz des Bürgerrechtes in einem der schweizerischen Orte war im Zeitalter der Pensionen und des Solddienstes mit so vielen Vorteilen verbunden, daß man den Kreis

Entwicklung zur Aristokratie

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der Nutznießer dieser Vorteile nach Möglichkeit zu beschränken suchte. — Auch von der Seite der Religion her wurde die allgemeine Entwicklung gefördert. Reformation wie Gegenreformation hatten die Obrigkeit zur Vollstreckerin des göttlichen Willens erhoben. Die Prediger beider Konfessionen wurden nicht müde, von der Kanzel herab zu verkünden, daß die Regierungen nur Gott verantwortlich seien und von Gott allein ihren A u f t r a g hätten. Die Regierungen ihrerseits nahmen diesen Auftrag insofern ernst, als sie sich nicht nur f ü r das Wohlergehen, sondern auch für das Seelenheil ihrer Untertanen verantwortlich fühlten und durch Überwachung der Sitten und scharfe Zensur der Druckschriften ihrer Pflicht nachzukommen suchten. Der erste Schritt zur Aristokratie war die Erschwerung der Aufnahme neuer Bürger im 17. Jahrhundert. Die Landkantone gingen darin voran. D a sich die Landleute den Anteil an Allmend und Pensionen nicht schmälern lassen wollten, wiesen sie Gesuche um Aufnahme ins Landrecht immer mehr ab. In den Städten taten die Zünfte dasselbe. Sie waren ursprünglich gegründet worden als Kampforganisationen und als Bürgen f ü r gute Arbeit. Mit der Zeit wurden sie immer mehr zu bloßen Nutznießern ihrer politischen Machtstellung, indem sie ihren Angehörigen Monopolstellung und sicheres und leichtes Auskommen verschafften. Auch die Aufnahme in das städtische Bürgerrecht, das im 15. Jahrhundert jeder Zuziehende noch mit Leichtigkeit hatte erwerben können, wurde im 17. Jahrhundert überall erschwert und schließlich ganz verweigert. Die Berner schlössen 1643 alle neu aufzunehmenden Bürger vom Recht, an dem „Regiment" teilzunehmen, aus mit der Begründung, sie seien „zur Besetzung desselben bei diesen Zeiten Gottlob genugsam versehen". Aber auch innerhalb der regierenden Schichten bildete sich ein engerer Kreis von Auserwählten. Der Reichtum, den die vom Schicksal Begünstigten im Handel oder in fremden Kriegsdiensten erworben hatten, öffnete ihnen den Weg zu Bildung und Staatsämtern. Wer einmal Ratsherr, Landvogt oder Oberst gewesen war, ließ sich nicht gern wieder aus der einflußreichen Stellung verdrängen. D a die Räte sich im wesentlichen selbst ergänzten, fand man mit der Zeit immer wieder dieselben Namen auf den Wahllisten. Aus der Gewohnheit wurde dann ein Rechtsanspruch. In Luzern ging man so weit, daß man der Einfachheit halber die Ratsherrnstellen erblich erklärte. Im kleinen wie im großen bietet sich uns dasselbe Bild, öffentliche Ämter und öffentliche Güter wurden als Einnahmequelle betrachtet und

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III. 4. Aristokratie und Demokratie

behandelt. "Wer über sie verfügte, suchte nach Möglichkeit sich und seine Nachkommen in ihren ausschließlichen Besitz zu bringen. Je weniger Familien an solchem Besitze beteiligt waren, um so größer war der Vorteil. In den kleinen Gemeinden bestand der Vorteil in der Nutznießung der Gemeindegüter wie Weiden oder Holz, in den Zentren der Macht winkte den Einflußreichen das Gold der fremden Fürsten und die Aussicht auf Kommandostellen in den Söldnerheeren. So entstand überall eine Bevölkerungsklasse, die vom politischen Leben ausgeschlossen und in ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit gehemmt war. Als bloß geduldete „Hintersassen" mußte sie jährlich durch Abgaben das Recht erkaufen, wenigstens in der Gemeinde oder in der Stadt leben zu dürfen. Die Beziehungen zu den Höfen, Solddienst und Pensionen trugen in besonders hohem Maße zur Absonderung der obersten Herrenschicht bei. Das fremde Gold, das natürlich nur den Herrschenden zufloß, ermöglichte ihnen ein standesgemäßes Leben und erhöhte ihr Selbstbewußtsein. Wer einmal in Versailles vom Glänze des Sonnenkönigs bestrahlt worden war, wollte in der Heimat nicht wieder mit dem gewöhnlichen Bürger verwechselt werden. Er verlangte von dem eigenen Volke dieselbe Verehrung, die den Monarchen auf ihrem Throne zuteil wurde. Alle diese Einflüsse änderten den Geist der Regierung. Vor der Reformation betrachteten die Regierenden ihre Stellung mehr als eine ihnen gestellte Aufgabe; jetzt legten sie immer mehr Gewicht darauf, daß sie ein von Gott verbürgtes Besitzrecht am Staate hätten. Der Berner Schultheiß saß wie ein Monarch auf seinem vergoldeten Throne und hielt ein Szepter in der Hand. Die Volksbefragungen hörten gegen Ende des 16. Jahrhunderts ganz auf, wie auch in Frankreich die États Généraux seit 1614 in Vergessenheit gerieten. Am Ende des 17. Jahrhunderts stellte der Rat von Bern fest, daß er nur Gott verantwortlich sei, 1722 tilgte er aus dem Ratssiegel die Erwähnung der Bürgerschaft. Die untergebene Bevölkerung, früher als ebenbürtige Eidgenossen begrüßt, sank in den Augen der Aristokraten zu unmündigen Untertanen hinab. Eine eigenartige Form nahm der neue Geist in den Landkantonen an. Diese hatten zwar die alte alemannische Demokratie voll aufrechterhalten. Jedes Frühjahr traten alle über sechzehn Jahre alten Männer, ausgerüstet mit dem Schwert als Zeichen der Selbstherrlichkeit, zur Landsgemeinde zusammen, um die Behörden zu wählen und über Gesetze abzustimmen. Doch war auch hier der Staat zur Einnahmequelle des Bürgers geworden.

Die demokratischen Orte

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Der Landmann zahlte keine Steuern, das Haupttraktandum der Landsgemeinde war vielmehr die Verteilung der Staatseinkünfte. Diese bestanden hauptsächlich in den fremden Pensionen, den „Bundesfrüchten", in dem Profit also, den man aus dem militärischen Ansehen zog. In Schwyz erhielt jeder Landmann von Geburt an jährlich zwei Gulden. Dazu kam der Verkauf der Stimmen bei den Wahlen. Der Landmann betrachtete es als sein überkommenes Recht, von dem, den er wählte, bezahlt, zu werden. Denn die Staatsstellen wurden um ihrer Einkünfte willen begehrt. Der hohe Beamte war sicher, vom französischen Könige mit reichen Gaben bedacht zu werden. Der Landvogt hoffte auf Sanierung seiner Finanzen aus den Einnahmen seiner Vogtei. Alle Gesetze gegen diesen Stimmenkauf waren umsonst. Die Bestechung wurde oft in der naivsten Öffentlichkeit betrieben. 1760 zechten die Zuger auf offenem Platze während vierzehn Tagen auf Kosten zweier Landvogtskandidaten. Um die Bestechung wenigstens in geordnete Bahnen zu lenken, begannen die Landsgemeinden die Ämter förmlich zu taxieren oder zu verlosen. Audi in den Landsgemeindeorten entstand so aus denen, welche die Ämter zu kaufen vermochten, eine Ämter-Aristokratie. Für ihre Vorzugsstellung mußte sie sich besteuern lassen, und immer wieder kamen Augenblicke, wo die Gemeinde den Aristokraten zeigte, wer Herr im Lande war. Wenn sie von einer plötzlichen Laune gepackt wurde, dann konnten die Mächtigen in Ungnade fallen und waren oft ihres Lebens nicht mehr sicher. Denn hier war es das souveräne Volk, das dann erklärte, seine Beschlüsse seien von Gott eingegeben. Der General Reding in Schwyz z. B. konnte froh sein, daß der Sturm, der einmal gegen ihn losbrach, sich legte, als er jedem Landmann einen Taler versprach, denn schon war Ruf ertönt: Türmt ihn ein, henkt ihn! Unter den Städten müssen wir zwei Gruppen unterscheiden: Zunftstädte (Zürich, Basel, St. Gallen, Schaffhausen) und Patrizierstädte (Bern, Solothurn, Freiburg, Luzern). In den Zunftstädten hatten die alten Handwerkergesellschaften die Herrschaft inne. Aus Vertretern der Zünfte setzten sich Räte und Behörden zusammen. Das Untertanenland betrachteten sie als ein Absatzgebiet, das ihnen die Weisheit der Vorsehung zugeteilt hatte. So verbot man allen nicht Zünftigen die selbständige Ausübung der Gewerbe, vor allem auf dem Lande. Aber nicht nur materiell, auch geistig sollte die Stadt ihre Monopolstellung behalten. Den Bauernsöhnen wurde deshalb das Studium verboten, so daß die letzte Pfarrer- und Schreiberstelle den Stadtbürgern vorbehalten blieb.

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III. 4. Aristokratie und Demokratie

Eine Aristokratie mehr tatsächlicher als rechtlicher Art entstand in diesen Städten dadurch, daß viele zünftische Familien sich vom Handwerk zurückzogen, sich dem Staatsdienst als dem edelsten Beruf zuwandten und die adlige Lebensführung der Zeit annahmen. Sie wurde verstärkt durch die besonders in Zürich und Basel im 17. und 18. Jahrhundert reich werdenden Kaufleute und Industriellen, welche kraft ihrer finanziellen Überlegenheit innerhalb der Zünfte an die Macht gelangten. In den friedlichen Zeiten des 17. und 18. Jahrhunderts wurde die Ständetrennung in eine herrschende Oberschicht, einen städtischen Handwerkerstand und einen ländlichen Bauernstand allgemein als segensreiche Arbeitsteilung empfunden, welche die Harmonie des ganzen Volkskörpers gewährleiste. Wie die andern Stände entwickelte auch die Oberschicht ein besonderes Berufsethos. Sie trug vor Gott die Verantwortung für das "Wohl ihrer Untertanen, wofür sie anderseits von diesen unbedingtes Vertrauen forderte. Es bildete sich zwischen Regent und Untertan das patriarchalische Verhältnis des besorgten Landesvaters zum bevormundeten Kinde, wie es sich etwa in den Sätzen des Bürgermeister Heidegger von Zürich ausspricht: „Ein wahrer Vater des Volkes wachet, damit sie schlafen, er sorget und arbeitet, damit sie ohne Sorgen in Frieden und Ruhe leben. Er herrschet über alle, damit er allen diene." Diejenigen Orte, welche am ehesten den Namen Aristokratie, d. h. „Herrschaft der Besten", verdienten, waren die Patrizierstädte, allen voran der europäische Musterstaat Bern. Hier hatte sich über die Masse der Gewerbetreibenden eine besondere regierende Oberschicht erhoben. Von der Zunftherrschaft unterschied sich das Patriziat dadurch, daß seine Geschlechter die Staatsleitung zu ihrem ausschließlichen Lebensberuf machten. Sein Organ war der Große Rat. Nur wer im Großen Rat saß, hatte teil an der Regierung. Er bestand aus 299 lebenslänglichen Mitgliedern. Erst wenn die Zahl unter 200 gesunken war, etwa alle zehn Jahre, schritt man zur Ergänzung, die aber mehr eine Ernennung durch die Behörden als eine "Wahl war. Diese Ratsergänzungen brachten zahlreichen Familien schlaflose Nächte, denn von ihrem Ausgang hing ihr Schicksal ab. Am meisten Aussicht hatte, wer bereits viele Verwandte im Rate besaß. "Wer noch nicht zu den Bevorzugten gehörte, konnte in ihren Kreis gelangen, wenn er eine Ratstochter zur Frau erhielt und der Schwiegervater ihm die erwünschte Stelle besorgte. So ging jeder Wahl ein großes Treiben voraus, das mit zahlreichen Verlobungen endete. Die Ratstöchter nannte man „Barettlitöchter", weil das Abzeichen der Ratsherren das Barett war.

Zunft- und Patrizierstädte. — Bern

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Nur ein Teil der städtischen Bürgerschaft war im Rat vertreten. Man unterschied deshalb die bloß „regierungsfähigen" Familien von den »regierenden", die allein noch die Ratsherrenstellen versahen. Diese Beschränkung der Aristokratie auf einen kleinen Teil der Stadtbürger hatte ihre Vorzüge. Zum Patrizier gehörte das standesgemäße Leben und das großartige Auftreten. Jedes der großen Geschlechter müßte neben seiner Stadtwohnung ein Landgut mit einer schloßartigen Residenz besitzen. Dies alles konnten sich die Patrizier ohne Bedrückung der Untertanen nur deshalb leisten, weil ihre Zahl so klein war. Die Lebensgrundlage der Patrizier waren die Vogteistellen in den fünfzig bernischen Landvogteien und die Einkünfte aus dem französischen Solddienst. Man hat diesen herrschenden Familien mit Recht den römischen Namen Patrizier gegeben. "Wie die römischen Patrizier kannten sie nur drei Berufe: den des Kriegers, des Staatsmanns oder des Bauern. Die Staatsleitung war ihnen nicht nur selbstverständliche Einnahmequelle, sondern auch eine verpflichtende Aufgabe. Sie setzten ihre Ehre darein, das Regiment gut und gerecht zu führen. Obwohl ihnen Hochmut und Mangel an Bildung vorgeworfen wurde, erfreuten sie sich bei ihren Untertanen einer unbestrittenen und verdienten Beliebtheit. Um die Sauberkeit der Verwaltung zu sichern, legte sich das Patriziat selbst ein Verbot auf, Handel zu treiben. Nur der Weinhandel war den Patriziern erlaubt. Durch ihren Grundbesitz und die Tätigkeit als Landvögte blieben sie in ständiger Berührung mit der Landbevölkerung und kannten die Bedürfnisse des Volkes aus eigener Anschauung. Die Regierung kontrollierte streng die Amtsführung der Vögte. Deren Amtsvorgänger saßen alle im Rat; Betrug war dadurch ausgeschlossen. Es galt fast als Grundsatz, daß in einem Streit, zwischen Bauer und Vogt der Bauer Recht bekam. Viele Landvögte wurden wahre Wohltäter ihrer Untergebenen. Der Reisende staunte über den Wohlstand der bernischen Dörfer und über die prächtigen Straßen. Durch ihre Politik der Kornspeicherung suchte die Regierung der ärmeren Bevölkerung für Notzeiten billiges Brot zu sichern. Die Steuergelder der Untertanen legte sie entweder in nützlichen Bauten an oder hielt sie nach Art der guten Hausväter für Notzeiten in Reserve. Auch darin gleicht das Berner Patriziat dem römischen, daß sich in ihm eine starke politische Tradition ausbildete und politische Befähigung geradezu erblich wurde. Im 18. Jahrhundert finden wir an den führenden

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III. 4. Aristokratie und Demokratie

Stellen zum Teil dieselben Geschlechter wie im 14. Jahrhundert. So ist es eine unbezweifelbare Tatsache, daß sich das bernische Patriziat für die Zeit des Absolutismus in Europa glänzend bewährt hat. Im Europa, das von den Fürstenhöfen beherrscht war, konnte nur als gleichberechtigt anerkannt werden, wer fähig war, sich in den damals gültigen gesellschaftlichen Formen zu bewegen; nur eine kleine Oberschicht aber konnte diese Formen ausbilden und zur Tradition werden lassen. Durch das Patriziat wurde Bern ein Staat, den auch das fürstliche Europa als ebenbürtig anerkannte und weithin sogar als Musterstaat bewunderte. Allerdings war dieses Patriziat nur fähig, eine für friedliche Zeiten brauchbare Routine aufrechtzuerhalten. Als die französische Revolution ihm ganz neue Aufgaben stellte, wurde gerade diese Routine ihm zum Verderben, denn seine geistige Nahrung bezog es ausschließlich aus der Vergangenheit und war unfähig, einen Blick in eine andersgeartete Zukunft zu werfen. So war das Patriziat auch ein Hemmnis für den Aufstieg der außerordentlichen Begabung. Diese fand in der Monarchie, vor allem in der aufgeklärten Monarchie des 18. Jahrhunderts oft raschere Anerkennung und stärkere Förderung als in der Heimat, wie das Beispiel Albrecht von Hallers zeigt. Obwohl Haller in Deutschland zu Weltruhm gelangt war, mußte er sich in Bern nach seiner Rückkehr mit untergeordneten Stellen begnügen. Manche Begabung mag so in der Zurücksetzung verkümmert sein. Zu einer Darstellung der alten Eidgenossenschaft gehört auch ein Blick auf die Gemeinen Herrschaften. Die Verhältnisse in diesen Untertanenländern waren im allgemeinen denjenigen in den städtischen Gebieten nicht unähnlich. Die einzelnen Gemeinden wurden in ihrer weitgehenden Selbstverwaltung nicht geschmälert, und die Vögte waren auf bestimmte Befugnisse, wie Gerichtsvorsitz und Bezug von Bußen und Steuern, beschränkt. Das Übel war weniger Bedrückung oder Ausbeutung der Untertanen als das System des zweijährigen "Wechsels der Obrigkeit. Gerade dann, wenn ein Vogt sich eingearbeitet hatte, mußte er das Land seinem Nachfolger aus einem andern Orte überlassen. So konnte keine aufbauende Arbeit geleistet werden; die Tätigkeit des Vogtes beschränkte sich meist darauf, möglichst hohe Einkünfte zu erzielen, vor allem wenn er aus einem Landsgemeindekanton stammte, wo er meist den Wählern sein Amt hatte bezahlen müssen. Am schlimmsten waren die Verhältnisse in den italienischen Vogteien. Die Straße über den Monte Ceneri war die einzige in der Eidgenossenschaft, auf welcher die Reisenden von Räubern überfallen wurden, da

Eigenart der schweizerischen Zustände im Zeitatter des Absolutismus

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kein Ort bereit war, etwas für ein Land zu tun, das nicht ihm allein gehörte. Die Prozeßsucht des Volkes bot gewissenlosen Vögten große Möglichkeiten zu hemmungsloser Bereicherung, und wegen ihrer Sprachunkenntnis blieben auch Vögte guten "Willens gegen die eingerissenen Mißstände machtlos. Ein Vergleich der schweizerischen mit den europäischen Verhältnissen im 17. und 18. Jahrhundert ergibt also folgendes Bild: Auch die Schweiz erlebte in der Epoche des Absolutismus eine Steigerung der Staatsgewalt zu göttlicher Autorität, auch hier erhob sich die Obrigkeit zu einer Institution von Gottes Gnaden und betrachtete sich als die verkörperte Weisheit, die in väterlicher Fürsorge über unmündige Untertanen zu wachen habe. — Aber ebenso deutlich sind die Unterschiede. Die Staatsautorität sammelte sich nie auf einem einzigen Haupte, sie blieb immer in der Hand ganzer Korporationen: der Landsgemeinden, der städtischen Bürgerschaften, der Patriziate. Die Staatsgewalt selbst aber erreichte nie dieselbe Fülle wie in den absoluten Monarchien. Sie verstieg sich selten zu der Anmaßung, selbst neues Recht zu schaffen. Ihre Aufgabe sah sie vielmehr darin, die von alters her überkommene Ordnung zu wahren. Die ererbten Rechte der Untertanen waren ihr in der Regel ebenso unantastbar wie ihre eigenen Vorrechte. Noch 1761 erklärte eine Gerichtssatzung Berns: „Es soll eine jede Stadt, Landschaft und Gerichtsstelle Unserer Botmäßigkeit bey allen den Freiheiten, Satzungen und Gebräuchen, deren sich dieselbe durch unsere ausdrückliche Begünstigung von alters her zu erfreuen gehabt, auch ferner geschützt und geschirmt bleiben." Vor nichts scheuten sich die Regierungen mehr als vor Erhebung ungewohnter Steuern. Nur in den äußersten Fällen, wie gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, konnten sie sich dazu entschließen. So fehlten den Regierungen die Mittel zur Entfaltung von Pracht und absolutistischer Allmacht, vor allem auch zum Ausbau einer Bürokratie. Aber dies alles war auch nicht notwendig, denn die Stärke der Obrigkeit ruhte auf dem Vertrauen des Volkes. Ihre Machtmittel blieben äußerst dürftig. Der einzige städtische Beamte in der Landschaft war der Vogt, alle anderen Ämter, mit Ausnahme gelegentlich des Schreibers, blieben der örtlichen Selbstverwaltung überlassen. Noch immer galten vor Gericht die örtlichen Rechtssatzungen. So fehlten denn den schweizerischen Staaten die kennzeichnenden Merkmale der absoluten Monarchien: die verschwenderische Hofhaltung, das kostspielige stehende Heer, die ausgebildete Bürokratie und die fortwährend steigenden Steuern, anderseits aber auch die Möglichkeit einer planmäßigen

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III. 4. Aristokratie und Demokratie

Modernisierung. Vieles von dem ursprünglichen eidgenössischen Geiste hat sich auch während der Zeit des Absolutismus erhalten, weniger in den Staatsformen als in der Staatsgesinnung und vor allem in der Zurückhaltung des Staates gegenüber dem Eigenleben der kleineren Gemeinschaften. Immer noch konnten die Obrigkeiten ohne militärische Machtmittel unbesorgt über ein Volk regieren, in dem jeder Mann seine Waffe im Hause hatte. 5. D I E I N D U S T R I E Als die politische Energie der Eidgenossenschaft im 16. Jahrhundert versiegte, suchte sich die schöpferische K r a f t des Volkes neue "Wege. Sie fand sie zuerst in der Wirtschaft. Die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz seit dem 17. Jahrhundert bietet ein ebenso einzigartiges Bild wie die politische Entwicklung am Ende des Mittelalters. Die Schweiz wurde das am meisten industrialisierte Land Europas. Wieder wußte sich die Schweiz in einer allgemein europäischen Bewegung ihren eigenen Charakter zu bewahren. Im Gegensatz zu anderen Industrieländern vermochte die neue W i r t schaftsform hier der N a t i o n nicht ihren Stempel aufzudrücken. Nie faßte in der Schweiz der Merkantilismus Fuß, welcher die Industrie als Machtmittel des Staates behandelt. Die schweizerische Industrie war ausschließlich das Werk privaten Unternehmergeistes. Ein Glück war es f ü r sie, daß der Staat sich noch gar nicht um sie kümmerte. Die Schweizer Unternehmer erschienen im Ausland nie als Vertreter staatlicher Machtpolitik und konnten daher ihre Verhandlungen mit rein wirtschaftlichen Argumenten führen. Die Bahnbrecher waren reformierte Glaubensflüchtlinge. 1587 führte Ch. Cusin die Uhrenindustrie in Genf ein. Flüchtlinge aus Locarno brachten 1555 das Seidengewerbe nach Zürich. Diese Zweiteilung sollte bis in die moderne Zeit maßgebend bleiben: im Westen (Genf, Neuenburg) Uhrenindustrie, aus der sich die Feinmechanik, im Osten (Zürich, St. Gallen) Textilindustrie, aus der sich später die Maschinenindustrie entwickelte. Der größte Feind der Industrie w a r die Zunft. Denn die Industrie bedrohte das idyllische Dasein und die Selbständigkeit des Handwerkers. Von Anfang an traten die Gegensätze scharf zutage. Die Industrie entwickelte die Erzeugung nach kapitalistischen Gesichtspunkten die allein sie instandsetzten, auch im Ausland wettbewerbsfähig zu werden. Doch wenn die Industrie in das Gebiet der Gewerbe übergriff, hatte sie regelmäßig schärf-

Entstehung von Industrie und Großunternehmen

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sten Widerstand der Zünfte zu gewärtigen. In den meisten Fällen setzte sich die Industrie durch. Wenn die Unternehmer gezwungen wurden, in die Zünfte einzutreten, so ergriffen sie dort in kurzem die Herrschaft; wollte man ihre Betriebe einschränken, dann ließen sie ihre finanzielle Überlegenheit spielen und zwangen die Zunfthandwerker, in ihren Werkstätten Lohnarbeit für den Großbetrieb auszuführen. Doch ganz konnte die Industrie die Einschränkungen durch die Zünfte nie überwinden. In den Gewerben, die durch die Industrie nicht berührt wurden, Bäckerei, Schmiede usw., blieb das Zunfthandwerk herrschend bis zur Revolution. Der Großunternehmer konnte für seine Wirtschaftsform auch soziale Argumente ins Feld führen. In der Umgebung der drei Textilstädte Zürich, St. Gallen und Basel arbeiteten Tausende von Bauernfamilien neben der Landwirtschaft als Heimarbeiter für die städtischen Unternehmer. Endlich hatten sie eine lohnende Beschäftigung für die Zeit der langen Winterabende gefunden. Es entstand so eine Schicht von Landbewohnern, die in gesundem Wechsel von Arbeit im Haus und auf dem Felde ein reichliches Auskommen fand und mit der Zeit zu wachsendem Wohlstand gelangte. Die Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land, die im Mittelalter die politische Befreiung ermöglicht hatte, setzte sich jetzt auf wirtschaftlichem Gebiet fort, allerdings unter unbedingter Vorherrschaft der Stadt. Der Unternehmergewinn blieb dem Städter vorbehalten. Doch suchte die Gewerbegesetzgebung in ehrlicher Weise eine Ausbeutung des Heimarbeiters zu verhindern. Dieser blieb ein freier Mann; er arbeitete, für wen und wann er wollte; der Webstuhl gehörte meist ihm. Die Industrie konnte sich nicht wild entfalten. Die Zürcher Fabrikordnung von 1717 z. B. schützte den Arbeiter durch Festlegung gerechter Löhne. Der Menscli selbst war noch nicht zum Wirtschaftsobjekt geworden. Die schweizerische Industrie war durch das Glück begünstigt. Der dauernde Friede gab Sicherheit. Die Kriege unter den Nachbarn erlaubten es den Schweizern, ihnen die Absatzmärkte streitig zu machen. Auch die einzigartige politische Stellung der Schweiz und das Ansehen, das ihr die Tüchtigkeit ihrer Soldaten verschaffte, kam den Unternehmern zugute. In Frankreich waren sie geradezu einer der privilegierten Stände. Der ewige Friede von 1516 hatte sie von allen Zollerhöhungen befreit. Die Bedeutung des Solddienstes für die schweizerische Industrie kann kaum überschätzt werden. Zu manchem Unternehmen lieferten die ausländischen Pensionen oder Offiziersgehälter das Anfangskapital. Noch wich-

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III. 5. Die Industrie

tiger waren die vielfältigen Beziehungen, welche die jungen Offiziere in ihren ausländischen Dienstjahren anknüpften. Mancher Industrieherr schickte seine Söhne in französischen oder niederländischen Kriegsdienst, damit sie dort die Sprachen und die Länder kennenlernten und sich ein offenes Auge für die große "Welt bildeten. Die Weltkenntnis, die Erfahrung und die Beziehungen, welche der Solddienst verschafften, kamen dann zu Hause der Industrie zugute. Der bewegliche europäische Mensch hat von alters her einen bestimmten typischen Lebenslauf. Zwisdien die Jugend und die Zeit der produktiven Arbeit schiebt er, wenn die äußeren Verhältnisse ihm die Freiheit dazu lassen, eine Zeit der Wanderschaft ein, in der er sein Wissen und Können durch Er-fahrung, im wörtlichen Sinne, vertieft und stärkt. So war es beim mittelalterlichen Ritter, so beim Handwerker, so beim Studenten und Gelehrten des 19. Jahrhunderts. Audi die ausländischen Dienstjahre des jungen Fabrikherren sind eine besondere, damals zeitgemäße „Metamorphose" dieser typischen Erscheinung. Das größte Kapital der schweizerischen Industrie aber war die Geschicklichkeit und Anpassungsfähigkeit der Unternehmer. Als die Holländer im 17. Jahrhundert die Indienne und damit die Baumwollindustrie aufbrachten, verboten die meisten Länder das neue Gewerbe, da es Woll- und Leineweber brotlos mache. Nicht so die Schweiz. Sie wurde zum Land der größten Baumwollindustrie Europas. Jede Neuerung machte die Schweizer Textilindustrie mit, jeder Änderung des Geschmacks paßte die sich in kürzester Frist an. Das Verfahren der Färbung in Türkischrot kam 1750 nach Frankreich. Sdion 1767 war es auch in Zürich eingeführt. Das erstaunlichste Phänomen der Schweizer Industrie ist St. Gallen. Obwohl die Stadt kein Untertanenland beherrschte, bewahrte sie eine führende Stellung in der ganzen Ostschweiz. In St. Gallen wurden alle europäischen Sprachen gesprochen. Unvergleichliche Qualität der Ware und weitreichende Verbindungen sicherten den St. Gallern einen dauernden Vorrang auf den europäischen Messen. Die Großunternehmer in St. Gallen waren auf die Mitarbeit der Bauernhände der Umgebung angewiesen. Da sie ihr Wirtschaftsgebiet nicht politisch beherrschten, behielt die Organisation der Erzeugung eine unerhörte Freiheit. Jeder konnte sich nach bestem Können einrichten. Der Großbetrieb bedeutete noch nicht Versklavung an der Maschine, sondern Eingliederung in eine lockere Arbeitsgemeinschaft, die sich über das ganze Land verbreitete. Im Wirtschaftsgebiet von St. Gallen konnte jeder emporsteigen in dem Maße, wie er seine Arbeitsleistung

Eigenart der Schweizer Industrie

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steigerte. Der einfachste Arbeiter konnte bei der Bestimmung des Preises mitwirken, er konnte mit seinem Erzeugnis spekulieren, ja, selbst Unternehmer werden. Der Vorrang St. Gallens beruht, einzig auf der Überlegenheit von kaufmännischer Fähigkeit und Tradition. Um 1790 arbeiteten für St. Gallen mindestens 120 000 Menschen. Zu den sechzig St. Galler Handelshäusern waren mit der Zeit noch dreißig in Appenzell gekommen. Mit Staunen sah der Fremde in den Flecken des kleinen Landkantons Paläste, die einer Hauptstadt Ehre gemacht hätten. Die Entstehung der Schweizer Industrie erinnert — ähnlich wie die Entstehung der Bünde im Mittelalter — an das Heranwachsen eines Naturorganismus. Im ganzen unbehelligt vom Staate, aber auch nicht gefördert von ihm, entfaltet sie sich unaufhaltsam und doch ohne jede Gewaltsamkeit. Keine Naturgegebenheiten werden durch sie vergewaltigt. Sie rechnet mit den natürlichen Voraussetzungen und mit den natürlichen Fähigkeiten der Bevölkerung und sucht diese Fähigkeiten zu Höchstleistungen zu entwickeln. So waren die Hände der Appenzeller geschickt für die feinsten Arbeiten, da sie als Hirten keine harte Feldarbeit zu leisten hatten. "Wie die Berner Patrizier in jahrhundertelanger Tradition die Fähigkeiten des Herrschers entwickelten, die Innerschweizer die des Kriegers, so die St. Galler die des Kaufmanns und die ostschweizerische Bauernbevölkerung die der Feinweberei und des kunstvollen Färbens, die 'Westschweizer die des Feinmechanikers. Von jeher lag die Stärke der Schweiz in der Qualität und in der Fähigkeit, Natur zu vergeistigen, ohne sie zu vergewaltigen Das 18. Jahrhundert war die goldene Zeit des Industriearbeiters. Ein früher ungeahnter Wohlstand verbreitete sich in der ganzen Bevölkerung, denn zwischen den verschiedenen Industrieorten entwickelte sich nicht etwa eine wilde Konkurrenz, sondern eine vernünftige Arbeitsteilung. Zürich und Basel führten in der Seidenindustrie, St. Gallen in der Baumwolle, für deren Appretur es das Berufsgeheimnis hütete. Auch das Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter blieb im ganzen natürlich gesund. D a die ganze Entwicklung etwas Natürliches hatte, änderte der Reichtum auch die Grundhaltung des Volkes nicht in dem Maße, wie man es erwarten sollte. Die reichsten Kaufleute bewahrten in ihrer Lebensführung bürgerliche Haltung und bürgerliches Auftreten. Der Reichtum war eben nicht ein Ergebnis zufälliger Ereignisse oder glücklicher Spekulationen, sondern die Frucht angestrengter, zuverlässiger und vor allem gemeinsamer Arbeit eines ganzen Volkes.

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III. 5. Die Industrie

Die Wirkungen des neuen "Wohlstandes auf die Moral waren stärker in der Arbeiterschaft als im Unternehmertum. Das viele Bargeld, das jetzt durch die Hände einfacher Leute ging, ließ die alte Ehrfurcht vor dem Gelde schwinden. Man lernte es ausgeben. Immer neue Bedürfnisse wurden entdeckt und verlangten nach Befriedigung. Die Mehlsuppe kam aus der Mode. Die neuen Genußmittel Kaffee, Tee, Schokolade erschienen auf dem Tische des Heimarbeiters. Der Leichtsinn der Baumwollspinner wurde sprichwörtlich. An Sonntagen sah man sie mit Goldborten an der Kleidung und Silberschnallen an den Schuhen auf den Promenaden oder in den Wirtshäusern. D a das Sparen ihnen ein unbekannter Begriff war, gerieten sie bei Absatzstockungen sofort in die größte Not. Tiefer Sehende bemerkten mit Recht, daß materieller Wohlstand das Glück der Menschen keineswegs verbürge, und es stiegen die schwersten Bedenken gegen die ganze Entwicklung auf; denn noch war das erste Anliegen der Besten die Sorge um die innere Natur des Menschen und nicht der Gewinn äußerer Güter. Aber der Siegeszug der Industrie war unaufhaltsam. Und er ließ auch den Geist nicht unberührt. Das Mittelalter und die Zeit bis 1700 hatte noch gelehrt: „Die Erde ist unsere Mutter, Handel und Gewerbe sind allein für Mägde zu halten." Als Grundlage der Wirtschaft und Quelle des Reichtums kannte man allein die gottgeschaffene Natur. Nun hatte die Industrie gezeigt, was Geist und Kraft des Menschen vermochten. Sie schien zu beweisen, daß die Erde ein Ort des Glücks werden könne, wenn sich der Mensch aufraffte, sein Los zu verbessern. Der Mensch wurde von einem neuen Selbstgefühl erfüllt. Schon ertönte der R u f nach Freiheit. 1759 stellte die Kaufmannschaft von St. Gallen gegenüber den Zünften den Satz auf: Es gehöre zur bürgerlichen Freiheit, daß jeder seine Gaben da geltend machen dürfe, wo sie am besten taugten. Auch hier stand also die menschliche Betätigung, nicht der Profit im Vordergrund. 6. D I E A U F K L Ä R U N G Seit der Glaubensspaltung war die Schweiz als politisches Gebilde einer hoffnungslosen Erstarrung verfallen, die sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zur politischen Ohnmacht verurteilte. Seit dem 17. Jahrhundert hatten die schöpferischen Kräfte in der Industrie ein neues Tätigkeitsfeld gefunden. Im 18. Jahrhundert erlangte die Schweiz zum erstenmal Weltbedeutung durch geistige Leistungen. Die Bewegung der Aufklärung, die

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Anfänge der Aufklärung

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damals durch Europa ging, ergriff auch die Schweiz. Doch gab sie ebensoviel aus dem eigenen wieder zurück, wie sie von außen empfangen hatte. Ihre g e i s t i g e Weltbedeutung im 18. Jahrhundert steht ebenbürtig neben der i n d u s t r i e l l e n und neben der m i l i t ä r i s c h - p o l i t i s c h e n der früheren Zeiten. Um Sinn und Inhalt der Aufklärungsbewegung zu begreifen, müssen wir uns noch einmal in den Geist der vorausgehenden Epoche versetzen. Noch war alles menschliche Denken, Handeln und Fühlen beherrscht von einem durch das kirchliche Dogma bestimmten Glauben. Der Hintergrund des menschlichen Lebens blieb wie im Mittelalter die Verstrickung in die Erbsünde, aus der nur die unverdiente und unbegreifliche Gnade Gottes retten konnte. Der düstere Grundton kam sogar in der Kleidung zur Geltung, die bis zum 18. Jahrhundert dunkel und eintönig blieb. Von derselben Grundstimmung war auch das staatliche und gesellschaftliche Leben beherrscht. Alles Gute galt als ein Geschenk, alles Üble, wie Krieg und Seuche, als eine Strafe Gottes. So fragte man auch nicht, was die Herrschenden zur Herrschaft berechtigte. Gott hatte eben in seinem unergründlichen Ratschluß die einen erhöht, die andern erniedrigt. Die Grundlage jeder Macht war nicht Gewalt, sondern der Glaube des Volkes, daß der Obrigkeit die Herrschaft nach göttlichem Rechte zustehe. Umgekehrt war die Obrigkeit verpflichtet, für das Seelenheil der ihr Anvertrauten zu sorgen. Von der Kanzel herunter wurde verdammt, was diesem Seelenheil hätte abträglich sein können: Schmuck, Luxus, Bücher, alles, was den Geist an das Irdische kettet. Und die Regierungen, besonders der Schweiz, unterstützten die Kirche mit ihren Sittenmandaten. Überwachung der Sitten war Aufgabe der guten Regierung. Um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts trat nun eine grundlegende Änderung der Gesinnung ein. Der Gedanke begann sich dem Glauben zu widersetzen, die Idee der Freiheit trat an zum Kampf gegen die überlieferten Autoritäten. Der erste Anstoß zur Umwälzung kam von der Naturwissenschaft her. Die großen Astronomen des 16. und 17. Jahrhunderts hatten der Kirchenlehre den ersten Stoß versetzt. Der Erfolg der Naturwissenschaft stärkte das Vertrauen in die Vernunft. Das Naturgesetz trat an die Stelle der Offenbarung. Seit dem 18. Jahrhundert wagt sich das freie Denken auch an den Staat und die Gesellschaft. Die Kritik macht nicht mehr halt, weder vor König noch Kirche. Es bereitet sich die große soziale und politische Umwälzung 10

Wartburg, Schweiz

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III. 6. Die Aufklärung

unserer Zeit vor, deren erster Stoß die französische Revolution ist. Zugrunde liegt ihr ein neues Menschenbild. Der Mensch fragte sich, ob es denn wahr sei, daß er dazu bestimmt sei zu gehorchen, zu dienen und zu dulden. Die Frage selbst enthielt schon die Antwort. Unmöglich konnte der Mensch das verworfene Geschöpf sein, als das ihn die überlieferte Lehre hinstellte, wenn er sidi fähig zeigte, aus eigener Kraft die Gesetze der Welt zu enthüllen. Eine optimistische Stimmung erfaßte die Menschheit. Nicht länger konnte die Erde ein Jammertal sein, das der Mensch zerknirscht durchirrte, um das bessere Jenseits zu verdienen. Seine Vernunftfähigkeit bestimmte ihn zu Freiheit und Glück, schon im Diesseits. Diese optimistische Grundstimmung befeuert bewußt und unbewußt das ganze Tun und Denken des 18. Jahrhunderts. Das goldene Zeitalter war nicht mehr in der Vergangenheit, im verlorenen Paradiese zu suchen, sondern es tauchte wie eine Fata Morgana in der Zukunft auf, als ein Ziel, das die Menschheit erringen könnte, wenn sie nur sich dazu aufraffte. Der Grundglaube des 18. Jahrhunderts ist der an den Fortschritt. Wenn das goldene Zeitalter noch nicht erreicht ist, wenn der Mensch noch falsche Wege geht, so ist; das nur Folge mangelhafter Bildung oder fehlerhafter Einrichtungen, und nicht im Wesen des Menschen begründet. Damit ist in der Erziehung oder „Aufklärung" die Aufgabe des Jahrhunderts gestellt. Zugleich aber ist der Same gestreut zu allen Umwälzungen, auch den politischen und sozialen. Ihnen liegt zugrunde der Glaube, daß der Mensch bestimmt sei, aus eigener Kraft in der diesseitigen Welt die Glückseligkeit zu erwerben, und der Wille, die Hindernisse, die sich dieser Glückseligkeit entgegenstellen, aus dem Wege zu räumen. Die neue Gesinnung machte sich zuerst in Zeitschriften geltend. Eine der ersten Zeitschriften deutscher Sprache, dem englischen Spectator nachgebildet, waren die „Discourse der Mahlern" (1721—1723), herausgegeben von den zwei Zürchern Joh. J a k . Bodmer (1698—1783) und Joh. J a k . Breitinger (1701—1776). W a s diese zum Schreiben drängte, w a r der Wunsch, ihren Mitmenschen den Weg zur „Glückseligkeit des gegenwärtigen und zeitlichen Lebens" zu weisen. Während gleichzeitig eine andere Zeitschrift noch im alten Geiste erklärte: „Es gebühret Gott allein, das menschliche Herz zu kennen", machte Bodmer die Erkenntnis des Menschen zur Grundlage der Menschenbeglückung. Der irdische Mensch und sein Wohl rückt in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. In den „Discoursen der Mahlern " tauchen alle Gedanken auf, die das Jahrhundert beherrschen sollten. Freund-

Geist der Aufklärung. Bodmer

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schaft und Liebe werden die Führer zu wahrer Menschenkenntnis. Die Hoffnung erwacht, durch „Aufklärung der Gemüter" Tugend pflanzen zu können. Dem Kirchengebot stellt Bodmer das selbständige Gewissen gegenüber, der Autorität die „gesunde Vernunft", der Tradition das dem Menschen eingeborene Naturrccht. Zugleich aber entwickelte Bodmer einen Sinn für die ursprüngliche K r a f t des Natürlichen und des Genialen, der ihn zum Entdecker Shakespeares, Miltons und der mittelalterlichen deutschen Literatur werden ließ. Bodmers literarische Entdeckungen, sein energisches Eintreten für die Aufklärung, die literarischen Kämpfe mit Gottsched machten die Stadt Zürich, in der von jeher ein reges geistiges Leben geherrscht hatte, zu einem Mittelpunkt deutscher Kultur. Und doch liegt die Bedeutung Zürichs weniger in der persönlichen Leistung einzelner als in dem Geist, der die Stadt als Gemeinwesen belebte. Ein ganzer Kreis von Menschen wurde von dem Neuen ergriffen und schuf eine Atmosphäre von höchster geistiger Spannung. Nicht nur eine literarische, sondern auch eine politische und allgemein menschliche Erneuerung wurde angestrebt. — Die bedeutendsten Vertreter der Zürcher Aufklärung sind neben Bodmer und Breitinger: der Maler und Idyllendichter Salomon Geßner, der Arzt und Schriftsteller Johann Kaspar Hirzel, der Maler Heinrich Füßli, vor allem aber der vielseitig begabte und tätige Theologe Johann Kaspar Lavater (1741—1801) und der junge Heinrich Pestalozzi (1746—1827). Der neue Geist wirkte sich nicht in gewaltsamem Umsturz aus, sondern in einer allmählichen, aber gründlichen Umgestaltung der Gesellschaft. In dem Maße, wie sich das Innere des Menschen der religiösen Bevormundung entzog, entfaltete sich ein Gesellschaftsleben von bisher unbekannter Intensität. Konzert, Theater, Geselligkeit wurden in den gebildeten Kreisen immer mehr zu einem Bedürfnis, das auch die Sittenzucht der Kirche nicht mehr einzudämmen vermochte. Allmählich lockerte sich die Steifheit der alten Formen. Der Schultheiß von Bern, der sich im 17. Jahrhundert nur in Amtskleidung gezeigt hatte, trug diese jetzt» nur noch zu seinen Amtshandlungen. Der Mensch begann sich vom Zwange des Amtes und des Standes zu befreien und sich als Mensch zu fühlen. Die Entdeckung des menschlichen Innern führte zu einem unwiderstehlichen Drang nach Mitteilung und Austausch der überströmenden Gefühle. Nie ist die Freundschaft mehr verherrlicht worden als im 18. Jahrhundert, keine Zeit kennt eine stärkere Sehnsucht nach Erweiterung und Bereicherung des eigenen Selbst durch das unmittelbare Schenken und Beschenktwerden von Mensch zu Mensch. ic*

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III. 6. D i e Aufklärung

Der Ausdruck dieses Bedürfnisses ist der unerschöpfliche Reichtum des Briefwechsels jener Zeit. Der Grundton aller menschlichen Beziehungen aber wurde die Begeisterung für die gemeinsamen Ideale von Freiheit, Brüderlichkeit und allgemeiner Menschenbeglückung. Der Ausgangspunkt der Aufklärung waren die Fortschritte der Naturwissenschaften gewesen. Ihre Entwicklung ging auch im 18. Jahrhundert mit Riesenschritten vorwärts, jetzt nicht mehr als Angelegenheit weniger Gelehrter, sondern begleitet vom Interesse der weitesten Öffentlichkeit. Seit dem 18. Jahrhundert beteiligt sich auch die Schweiz in führender Stellung an der Weiterbildung der Naturwissenschaft. Die vier Bernoulli sowie Leonhard Euler, alle von Basel, waren Mitbegründer der modernen Mathematik. Der Berner Professor Albrecht von Haller machte große Entdeckungen auf dem Gebiete der Anatomie und Medizin. Er war einer der letzten Menschen von wahrhaft universaler Bildung — Arzt, Dichter, politischer Schriftsteller, Staatsbeamter und Lehrer in einer Person. Eine eigenständige schweizerische wissenschaftliche Leistung ist die Entdeckung des Gebirges. Bis ins 18. Jahrhundert verabscheute der Mensch — auch der Schweizer — das Gebirge. Er mied es als den Sitz aller Schrecken und Mühsale. Der erste, der es wagte, das Gebirge zum Gegenstand der Wissenschaft zu machen, war der Zürcher Mathematiker und Arzt Johann Jakob Scheuchzer (1672—1733). Als erster bestieg er aus Wissensdurst die Gipfel. Der Genfer Horace Bénédicte de Saussure (1740—1799) begründete dann die Wissenschaft vom Gebirge; er entdeckte die Gesetze der Vergletscherung; das Gebirge war ihm nicht mehr die unbegreifliche, schreckliche Masse von Fels und Eis. Er begann es in seiner Entstehung und in seiner Entwicklung als Werk der Natur zu verstehen. Der Geist der Wissenschaft hatte die Angst vor dem Gebirge überwunden: die Entschleierung seiner Geheimnisse konnte beginnen. Sie führte zur Entstehung einer neuen Wissenschaft: der modernen Geologie. Jetzt erst war auch die Zeit gekommen, wo man die Schönheit des Gebirges entdecken konnte. Als erster pries der schon genannte Haller die göttliche Einsamkeit, die unberührte Erhabenheit des Hochgebirges, das Glück der Einfachheit, das seinen Bewohnern gegeben war. Haller erschloß der Menschheit ein Paradies, das in greifbarer Nähe vor ihren Augen lag, das sie bisher nur nicht erkannt hatte. Die rasche Verbreitung, die sein Gedicht über die Alpen fand, zeigt, daß ein neues Naturgefühl im Entstehen war, das nur eines großen Gegenstandes bedurfte, um zur Begeisterung zu wer-

Naturwissenschaft. — Naturbegeisterung

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den. "Wie mit einem Schlage erschloß sich jetzt der ganzen Menschheit das Erlebnis des Hochgebirges, das bisher nur Auserwählten vorbehalten w a r : es ist das Erlebnis der inneren Erhebung, der geistigen und seelischen Befreiung und Läuterung in der reinen Luft der Bergeshöhe. Im 18. Jahrhundert erwachte der Trieb, der auch heute noch den Bergsteiger dazu bestimmt, die höchsten und gefährlichsten Gipfel zu erklettern. Friedrich von Tschucfi kennzeichnet ihn mit den schönen "Worten: „Es ist vielleicht die Sehnsucht des Herrn der Erde, auf der letzten überwundenen Höhe im Uberblick der ihm zu Füßen liegenden "Welt das Bewußtsein seiner Verwandtschaft mit dem Unendlichen durch eine einzige freie Tat zu besiegeln." Allerdings bewunderte man die Alpen zunächst mehr aus der Ferne und suchte meist nur die niedrigeren Stufen selbst auf. Das eigentliche Gipfelerlebnis kam erst im 19. Jahrhundert zu seiner vollen Entfaltung. Die gemeinsame Liebe zum Gebirge war es auch, welche die deutsche und die französische Schweiz im 18. Jahrhundert einander näher brachten. Durch einen rein geistigen Prozeß wurden so die Untertanen und Zugewandten des "Westens, die dem Bundesleben bisher ferngestanden hatten, innerlich zu Voll-Eidgenossen. Die Alpenbegeisterung, die Haller als Dichter zum Ausdrude gebracht hatte, äußerte sich in Genf in der "Wissenschaft der Geologie und in der Genfer Alpenmalerei, die im 19. Jahrhundert aufblühte und bis auf Hodler nachwirkte. In der deutschen Schweiz war es Caspar "Wolf (1735—1798), dem es eine Lebensaufgabe wurde, die Alpenwelt im Bilde zu erschließen. Kein anderer hat jedoch so viel dazu beigetragen, die Schweizer Berge zum Gegenstand der europäischen Naturbegeisterung zu machen, wie der Genfer Jean Jacques Rousseau (1712—1778). In die Tasche des Sdiweizerreisenden gehörte damals nicht ein Reiseführer, sondern Rousseaus Roman „La Nouvelle Heloi'se", der 1761 erschienen war. Rousseau kannte wie wenige die Natur aus eigenem Erleben. 1712 in Genf geboren, war er schon als Knabe seinem rohen Lehrmeister entlaufen und hatte jahrelang ein ungebundenes "Wanderleben geführt, oft unter freiem Himmel übernachtend. Alle Berufe hatte er versucht, vom Vagabunden bis zum Diplomaten. Keiner hatte ihn dauernd zu fesseln vermocht. Am besten konnte er sich genugtun als Schriftsteller. Doch war das Ende seines Lebens verbittert durch die Verfolgungen, die er um seine Schriften zu erleiden hatte. — Rousseau blieb nicht bei der Verherrlichung der äußeren Natur stehen. Er drängte ihn, der Natur auch in den Beziehungen zwischen den Menschen

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III. 6. Die Aufklärung

wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen. Erfüllt von wilder Verachtung für die menschliche Gesellschaft, von der er sich verkannt und ausgestoßen glaubte, deckte er schonungslos ihre Schwächen auf. Rousseaus Ideen sind der erste großangelegte Angriff auf die bisherige Entwicklung der europäischen Kultur. Sein erstes Werk war die kleine Schrift über die Frage, ob Künste und Wissenschaften zur Besserung des menschlichen Charakters beigetragen hätten (1751). Das ganze 18. Jahrhundert bejahte in seinem Fortschrittsglauben diese Frage unbedingt. Rousseau aber verneinte sie und erregte damit einen Sturm der Entrüstung auf der einen, der Begeisterung auf der anderen Seite. Wie alle Denker des 18. Jahrhunderts suchte audi er den Weg zur Beglückung des irdischen Menschen. Doch sein Gefühl und seine Erfahrung belehrten ihn, daß das irdische Glück nicht in Besitz, nicht in Zivilisation und Kultur, nicht in Bildung bestehen könne, sondern einzig im Ausleben der gesunden Triebe, welche die Natur selbst in den Menschen gelegt hat. Rousseau glaubt an die Güte des Menschen, aber an die des unverbildeten Naturmenschen. Denn auch die Stimme des Gewissens ist ihm Stimme der Natur. Den gebildeten Gesellschaftsmenschen der Zeit dagegen verachtete er als das verkommene Produkt einer falschen Erziehung. „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht, alles verdirbt unter den Händen des Menschen." Mit solchen und ähnlichen Leitsätzen forderte Rousseau seine Zeit heraus. Er war es, von dem der Ruf „Zurück zur Natur" ausging, der die zweite Hälfte des Jahrhunderts erfüllt. In zwei Richtungen entwickelten sich die Konsequenzen der Lehren Rousseaus. In seinem Erziehungsroman „Emile" fordert er eine neue Erziehung, in welcher der Zögling an der Hand der Natur, nicht der Bücher ins Leben eingeführt werden soll. Das Denken, nicht fertige Gedanken soll ihm beigebracht werden, der Charakter, nicht das Wissen gebildet werden. Im „Contrat Social" (1762) stellt er die Gesellschaft dar, wie sie sein müßte, wenn sie der Natur des Menschen entsprechen sollte. E r geht aus von dem Bilde des freien, guten, ehrlichen Naturmenschen, der als Einzelwesen wie ein Tier in den Wäldern haust. Eine Gesellschaft kann nur durch einen freiwilligen Vertrag unter den freien Einzelnen entstanden sein, durch den Gesellschaftsvertrag. Aus dem Ursprung der Gesellschaft ergibt sich von selbst die Idee der Volkssouveränität und der Demokratie. Das Volk als die Summe der verassoziierten Individuen gibt sich selbst seine Gesetze. Nur in seinem Auftrag und unter seiner Kontrolle darf die Regierung ihre Gewalt ausüben. Mit Rousseau beginnt die Idee der Volkssouveränität ihren

Rousseau

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Siegeslauf auf dem Kontinent. In England war sie schon früher von Locke begründet worden. Doch ist das Vorbild Rousseaus nicht bei diesem zu suchen, sondern in den realen politischen Verhältnissen seiner Vaterstadt Genf, wo die oberste Gewalt beim Volke lag. Zum zweitenmal erhält so Genf internationale Bedeutung. Als erster forderte Rousseau den allmächtigen Volksstaat. Das Individuum sollte nicht nur vor der Willkür der Regierung geschützt sein, wie das die Aufklärung bisher gefordert hatte, es sollte selbst ein Mitträger der obersten Autorität werden. Der Contrat Social ist die Bibel der Jakobiner geworden, das Buch lag auf dem Tische des Wohlfahrtsausschusses, jenes Ausschusses, dessen Seele Robespierre war. Durch einen seltsamen Widerspruch verschwindet nämlich in der Theorie Rousseaus die Freiheit vollständig, von der er ausgegangen war. In Wirklichkeit setzt er an die Stelle des alten Tyrannen, des absoluten Monarchen, den neuen modernen Tyrannen, den „Willen des Volkes", vor dem in seiner Theorie sämtliche Ansprüche des Individuums in nichts zu zerfließen haben. Die Theorien Rousseaus sind voll von Widersprüchen. Doch echt in ihm ist die Leidenschaft, mit der er seine Zeit kritisiert, echt ist auch das Gefühl, das aus seinen Werken spricht, daß das wahre Glück der Menschen nicht von außen begründet werden kann, weder durch Wissen noch durch Besitz, sondern daß es aus der Übereinstimmung des Menschen mit seiner eigenen Natur aufgebaut werden muß, daß es also eine Sache des Seins, nicht des Habens ist. Dadurch übertrifft Rousseau an Tiefe alle Zeitgenossen des französischen Kulturkreises. Der tiefere Blick in die menschliche Natur und die Schwungkraft seiner Sprache und seiner Ideen haben Rousseau einen Einfluß gesichert, wie ihn kein anderer Schweizer je erlangt hat. Dank ihren Schriftstellern wurde die Schweiz das große Reiseland Europas. Es setzte ein Zustrom von fremden Reisenden ein, der im 19. Jahrhundert immer mehr anschwoll. Erst waren es Hunderte, dann Tausende, die kamen, um in der kräftigen Natur der Schweiz aufzuatmen. Sie sahen das Land zunächst mit den Augen seiner Schriftsteller: als Idyll, als Friedensinsel, als irdisches Paradies, auch als Land der Freiheit. Ebenso gesucht wie die Naturschönheiten war für viele die menschliche Begegnung mit den führenden Persönlichkeiten der Schweiz, besonders mit dem anregenden Geiste der Stadt Zürich. Unter den Persönlichkeiten, denen die Berührung mit der Schweizer Natur und mit ihren Schweizer Freunden zu bedeutenden Erlebnissen wurden, sind die hervorragendsten Klopstock, Wieland, Fichte, Goethe, Gibbon und später Byron.

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III. 6. Die Aufklärung

Obwohl der heftigste Protest gegen die bestehende Welt im 18. Jahrhundert von einem Schweizer, von Rousseau, ausgegangen war, bewahrte die schweizerische Aufklärung im allgemeinen einen stark konservativen Zug. Sie war zwar belebt von demselben Glücksgefühl, dem Selbstbewußtsein und den Zukunftshoffnungen, welche die ganze Menschheit des 18. Jahrhunderts erfüllten. Aber diese Stimmung beruhte in der Schweiz weniger auf philosophischen Lehren oder auf dem Stolz der erfolgreichen Vernunft, als auf dem Gefühl einer besonderen Gnade des Schicksals. Natur, Vorsehung und die eigene Arbeit hatten das Land sichtbar mit dem Glück des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes gesegnet. So griffen weder der Rationalismus noch die religionsfeindliche Stimmung der Aufklärung in der Schweiz so stark um sich wie in den benachbarten Ländern. Die Wohltaten der Vorsehung schienen zu offensichtlich, als daß man sie hätte leugnen dürfen. Und dankbare Verbundenheit mit der eigenen Vergangenheit bewahrte die Schweizer Aufklärung davor, in politischen Fragen dem Rationalismus zu verfallen und in Verfassungsformen das Heil zu suchen. Alles, was die Schweiz an geistigen Gütern besaß, war die Wirkung menschlicher Gesinnung, nicht das Werk von Organisation oder vollkommener Staatsform. Die Aufklärung sah ihre Aufgabe daher nicht darin, das Alte zu zerstören und durch Neues zu ersetzen, sondern die Ursprünge des bestehenden Zustandes zu ergründen und die Kräfte, die ihn hervorgebracht hatten, neu zu beleben. So bedeutet die Aufklärung für die Schweiz in erster Linie das Erwachen eines nationalen Selbstbewußtseins. Das Ziel und Vorbild der Aufklärung war nicht ein für die Zukunft vorgespiegeltes irdisches Paradies, sondern die Kraft und Einfachheit der alten Eidgenossen, der eigenen Vorfahren. Rousseau fand daher in der Schweiz weit mehr Anklang als die rationalistisdie Richtung eines Voltaire. Was Rousseau als Ideal des glücklichen Naturmenschen darstellte, glaubten die Schweizer in ihrer eigenen Vergangenheit oder gar in dem einfachen Leben ihrer Landbevölkerung wiederzufinden. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte wurde ein Hauptanliegen der Aufklärung. Nicht zufällig ist daher die größte literarische Leistung der damaligen deutschen Schweiz die Schweizer Geschichte des Schaffhausers Johannes Müller, des „Schweizer Tacitus", die ein klassisches Werk der deutschen Literatur geworden ist. Geschichtsschreibung war für Müller nicht eine Angelegenheit der Gelehrsamkeit, sondern des Lebens. Ihre Aufgabe sah er darin, die entartete Gegenwart durch das Beispiel der Ahnen auf-

Eigenart der Schweizer Aufklärung

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zurütteln und zu beschämen. So war der Bruch zwischen dem alten und dem neuen Geist in der Schweiz nicht so scharf wie in andern Ländern. Sie hat das Glück gehabt, daß sie nie ihre eigene Vergangenheit verdammen mußte, um zu einer "Weiterentwicklung den "Weg frei zu bekommen. Grundsätzliche Kritik am bestehenden Staate, theoretische Betrachtung des Staates überhaupt, ist der schweizerischen Aufklärung, abgesehen von Rousseau, fast fremd. Nur im Kreise Bodmers in Zürich fand sich zeitweise eine Gruppe von Jünglingen zusammen, die aus der Lektüre Rousseaus, Montesquiens und Plutarchs revolutionäres Pathos schöpften. Es blieb auch bei ihnen eine Jugenderscheinung. Die meisten Aufklärer bejahten den bestehenden aristokratischen Staat. Er bot genügend Möglichkeiten, Menschenglück und Fortschritt zu fördern. Man mußte dazu nicht die Revolution abwarten. J a , der aristokratische Staat bewährte sich im Sinne der Aufklärung besser als die innerschweizerischen Demokratien, die zu sehr an alten Vorurteilen festhielten und zu planmäßigen Neuerungen unfähig waren. Charakteristisch für die Mannigfaltigkeit der schweizerischen Verhältnisse ist die Tatsache, daß der erste Staat, der nach Preußen die Folter abschaffte, das patrizisch regierte Solothurn war, während in dem demokratischen Glarus noch 1782 eine Hexenverbrennung, die letzte in Europa, stattfand. Viele der mittelalterlichen Unmenschlichkeiten aber verschwanden in den fortgeschritteneren Orten schon im Laufe des 18. Jahrunderts, so neben der Folter die Leibeigenschaft und die Hexenverfolgung, indem immer mehr Gerichte einfach keine Klagen wegen Zauberei mehr entgegennahmen. Die Regierung von Solothurn gab 1785 ihren Leibeigenen „das edle Kleinod der Freiheit, erfüllt von der Hochachtung vor dem erhabenen Beruf des Menschen und der natürlichen Gleichheit, auch in Begeisterung für Glückseligheit und Wohlfahrt". Diese Sätze zeigen, wie weit in Regierungskreise schon die neuen Lehren gedrungen waren. Dia Bemühungen des aufgeklärten Absolutismus um die Hebung von Wohlstand und Gesittung der Völker fand in der Sdiweiz ihr Gegenstück in dem patriarchalischen Verhältnis, das die hervorragendsten unter den patrizischen Landvögten zu ihren Untergebenen herzustellen verstanden. Die bekanntesten Beispiele sind der Landvogt von Greifensee, Salomon Landolt, und die Gestalt Arners in Pestalozzis Roman Lienhardt und Gertrud, die auf das Vorbild bernischer Landvögte zurückgeht. Aber es blieb auch hier bei der Erziehungsarbeit des geistig und sittlich höher Stehenden am unmündigen Untertanen, bei der väterlichen Fürsorge des Mächtigen

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III. 6. Die Aufklärung

für den Schwachen. An eine Änderung der Herrschaftsverhältnisse und Verzicht auf die Privilegien dachte noch niemand. Diesen Führungsanspruch des Gebildeten übernahmen auch noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die ersten Generationen des Liberalismus. Die Träger des Liberalismus waren eine durch die Aufklärung herangebildete Aristokratie der Bildung, die am Anfang des 19. Jahrhunderts die alte Geburtsaristokratie verdrängte. Der aufgeklärte Patrizier oder Landvogt des 18. Jahrhunderts ist etwa wie ein Verbindungsglied zwischen dem Vertreter der Obrigkeit von Gottes Gnaden des 17. und dem liberalen Magistraten des 19. Jahrhunderts. Was die Schweizer Aufklärer bekümmerte, war weniger die aristokratische Regierungsform als das Versiegen alles inneren Zusammenhalts in der Eidgenossenschaft. Gerade die Besinnung auf die eigene Vergangenheit brachte ihnen zum Bewußtsein, daß die Kraft der Schweiz in gemeinsamer Gesinnung, nicht in Organisation oder geschriebenem Vertrag zu suchen war. So gingen sie auch nicht zuerst daran, Verfassungen zu entwerfen, sondern sie sahen ihre Aufgabe darin, die abgerissenen Bande der Freundschaft wieder neu zu knüpfen. Zahlreiche „patriotische" Gesellschaften suchten diesem Bedürfnis zu entsprechen. Am stärksten schlug eine Schrift des Luzerners F. U. Balthasar ein, die er betitelte: „Der patriotische Traum eines Eidgenossen von einem Mittel, die veraltete Eidgenossenschaft zu verjüngen" (1758). Das wichtigste schien ihm, daß sich die Schweizer aller Kantone und Stände kennen und schätzen lernten. Als Mittel schlug er die Gründung einer gemeinsamen Bildungsstätte vor. Achtung vor dem Bundesgenossen, Freundschaften über das ganze Land hin sollten die Frucht dieser Einrichtung sein. — 1762 entstand infolge der Anregungen Balthasars die Helvetische Gesellschaft. Sie war ein echter Ausdruck der Bestrebungen des 18. Jahrhunderts. Es trafen sich in dieser Gesellschaft tatsächlich Patrizier mit Bauern und Bürgern, Reformierte mit Katholiken, Leute aller Stände und Orte. Die Gesellschaft hatte zum Ziel, „Freundschaft und Liebe, Verbindung und Eintracht unter den Eidgenossen zu stiften, die Triebe zu schönen, guten und edlen Taten auszubreiten, Freiheit und Tugend auf künftige Alter und Zeiten fortzupflanzen". Der Wunsch nach weiterer Wirksamkeit und nach Freundschaft überflutete bereits alle Schranken der Kantons- und Standesgrenzen. Die Bildung der Schweiz zur Nation begann im geistigen, nicht im Politischen. Allerdings blieb es vorläufig bei dem „Triebe zu edlen Taten", denn die Regierungen erlaubten die Taten selber noch nicht. Doch dadurch wurde die Begeisterung, welche die Ver-

Helvetische Gesellschaft

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Sammlungen der Gesellschaft, belebte, nicht beeinträchtigt. Das 18. Jahrhundert hatte die glückliche Gabe, sich an Ideen und Gefühlen berauschen zu können. Auch war ein solches Treffen der Eidgenossen aus rein geistigen Interessen etwas so neues, daß dieses Gefühl des Neuen eine volle Entschädigung für den Mangel an äußerer Wirksamkeit bot. Praktische Arbeit des Fortschritts ist im 18. Jahrhundert nicht im Rahmen der Eidgenossenschaft geleistet worden, wohl aber im engeren Rahmen der einzelnen Kantone. Doch blieb die Tätigkeit der Helvetischen Gesellschaft auch politisch nicht wirkungslos. In ihr bildete sich der Geist und fanden sich die Herzen der Männer, die dann in der schweren Zeit der Revolution die Führung des Landes zu übernehmen und es vor Chaos und Terror zu bewahren vermochten. Die Aufklärung brachte der Schweiz wie Europa eine völlige Umwandlung des menschlichen Bewußtseins und eine Erneuerung der Gesellschaft. Die staatliche Ordnung aber vermochte sie nicht zu verändern. So entstand gegen Ende des Jahrhunderts ein ausgesprochener Gegensatz zwischen der aufgeklärten Gesinnung und Bildung weiter Kreise und den veralteten Privilegien und staatlichen Formen. Dieser Gegensatz brachte der Schweiz zwar keine lebensgefährlichen Spannungen, aber aus eigener Kraft vermochte sie ihn ebensowenig zu überwinden wie die andern europäischen Völker außer den Franzosen. In Frankreich zuerst gelangten die Ideen und die Begeisterung der Aufklärung zur politischen Herrschaft. Die Revolution gab diesem Lande die Stoßkraft, die ihm ermöglichte, nach dem Verblassen der alten Denkweise auch das alte Gesellschaftsgebäude Europas zu stürzen.

7. D I E

LANDWIRTSCHAFT

Rousseaus Ruf „Zurück zur Natur" war nicht eine bloße Dichterphantasie, sondern entsprach den Bedürfnissen der Zeit. Daher hatte er auch den überwältigenden Erfolg. Auf dem Gebiet der Landwirtschaft zeigte sich eine mit Rousseau verwandte Bewegung in der Physiokratie. Die Physiokraten erklärten Grund und Boden zur einzigen Quelle nationalen Reichtums und den Bauern zum einzigen Schöpfer reeller "Werte. In der Pflege der Landwirtschaft sahen sie die Hauptaufgabe der staatlichen Wirtschaftspolitik. Mit dem Erscheinen der Physiokratie brach auch in der Schweiz für die Landwirtschaft eine Zeit der Umwälzung an. Doch übernahmen die Schweizer die französischen Theorien nicht etwa unbesehen. Großbetrieb,

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III. 7. Die Landwirtschaft

kapitalistische Ausbeutung des Bodens, einseitige Schutzgesetze für die Landwirtschaft lehnten sie ab. Die Hauptsorge der „Agronomen", wie sich in der Schweiz die Vertreter der Reform nannten, war die Unabhängigkeit des Landes. Sie sahen, wie die Bevölkerung sich mehrte, der anbaufähige Boden aber seine höchste Ausdehnung bereits erreicht hatte. Zürich z. B. mußte schon ein Viertel seines Brotbedarfes einführen. Abhilfe war nur möglich, wenn man den Ertrag des Bodens steigerte. Den Anstoß zur Reform der Landwirtschaft gaben wieder einzelne, nicht der Staat. Die bedeutendste Arbeit wurde in Bern geleistet. Mit der Industrie hatten die Berner nie Glück gehabt. Um so eifriger ergriffen sie die Führung in der Landwirtschaft. Die Änderung kam nicht vom Bauern aus, sondern von der Aristokratie der Grundbesitzer, die in Bern identisch war mit dem Stande der Regierenden und Gebildeten. 1759 wurde die ökonomische Gesellschaft gegründet, die durch ihre gründlichen Arbeiten bald zu "Weltruf gelangte. Ein Riesenarbeit lag vor den kühnen Pionieren. Die Bewirtschaftung des Bodens war noch dieselbe wie vor tausend Jahren. Aussaat und Ernte wurden gemeinsam nach Gemeindebeschluß durchgeführt, und im Herbst ging das Vieh über alles Land. Es war dem einzelnen unmöglich, in dieser Wirtschaftsform rationeller zu arbeiten oder irgendwelche Verbesserungen vorzunehmen. Dazu lag ein Drittel des Landes immer brach, da man sich noch an die Dreifelderwirtschaft hielt. Ein großer Teil des Landes, die Allmend, war als Viehweide völlig ungenügend ausgenutzt. Die Agronomen stellten sich nun eine doppelte Aufgabe: Erstens handelte es sich darum, den Ertrag des Bodens zu erhöhen. Sowohl Allmend wie Brache sollten einer intensiven Bebauung zugeführt werden. Dazu mußten aber zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Wenn der Boden nicht mehr alle drei Jahre sich erholen konnte, mußte er durch gründliche Düngung in seiner Fruchtbarkeit erhalten werden; wenn die Weide abgeschafft wurde, mußte das Vieh im Stall gefüttert werden. Die Landwirtschaft wurde zur Wissenschaft, an der auch schon Chemie und Technik Anteil zu nehmen begannen. Der stärkste Widerstand kam von den Bauern selbst, die schwer von ihrem jahrhundertealten Brauch abzubringen waren. Hieraus ergibt sich die zweite Aufgabe der Agronomen: die Erziehung der Bauern, ihre Befreiung aus den Fesseln des Herkommens. Da die Reformer dem regierenden Stand angehörten, konnten sie auch die Regierung für ihre Pläne gewinnen. 1763 gründete Bern die Landesökonomiekommission, welche die

Die landwirtschaftlichen Reformen

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Erneuerung von Staats wegen zu unterstützen hatte. Doch wirkte sie nicht durch Befehle, sondern durch Preisschriften, Vorschläge, Belehrung. Die Bewegung ging durch das ganze Jahrhundert. Allmählich verschwanden Brache und Allmend, der Boden wurde rationeller bebaut und der Ertrag stieg, wie es die Agronomen vorausgesehen und versprochen hatten. Gut eidgenössisch war die Langsamkeit der Bewegung. Niemand drängte auf eine Revolution, wo man mit Geduld auch zum Ziel kommen konnte. Nie wurde der Boden des Rechts verlassen. Da die Allmend Eigentum der Gemeinde war, konnte nur die Gemeinde selbst über ihre Abschaffung beschließen. 8. P O L I T I S C H E

UNRUHEN

I M 17. U N D 18.

MAJOR

JAHRHUNDERT

DAVEL

Wie ein Idyll lag die Schweiz während des 17. und 18. Jahrhunderts inmitten sich bekämpfender Mächte. Ausländische Besucher staunten über das trotz allen Trübungen harmonische Verhältnis zwischen den Ständen und über den geringen Aufwand an Organisation und Schaustellung, mit dem der Staat auskam. Von dem Beamtenstaat, wie ihn die modernen Monarchien begründet hatten, waren kaum die ersten Ansätze zu erkennen. Die Schweiz war in ihrem politischen Aufbau wohl das altertümlichste Gebilde Europas. Doch erlebte auch sie trotz der idyllischen Stille ihrer Verhältnisse im 17. und 18. Jahrhundert eine ganze Anzahl politischer Unruhen. Die bedeutendste Erhebung gegen die bestehende Ordnung in der Zeit zwischen der Reformation und der französischen Revolution war der Bauernkrieg von 1653. Er entstammt weniger der äußeren N o t als einem Gefühl des Mißbehagens über die beginnende Entfremdung zwischen Volk und Obrigkeit. Dies gibt ihm seinen besonderen schweizerischen Charakter und unterscheidet ihn von den Bauernerhebungen anderer Länder. Es fehlt ihm jede Forderung auf Neuverteilung des Besitzes. Gerade die wohlhabendsten Bauern in den Gebieten der großen Städtekantone fühlten sidi bedrückt durch die Sittenmandate, durch die Steuern, welche die Obrigkeiten während des Krieges hatten erheben müssen, durch das strenge Schuldrecht. Sie glaubten nicht mehr mit der Achtung behandelt zu werden, auf die sie als Eidgenossen Anspruch hatten. Die Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit brachte den Unwillen zum Ausbruch. Ein Bauernbund stellte sich dem „Herrenbund", wie man die Tagsatzung nannte, entgegen. Die

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III. 8. Politisdie Unruhen im 17. und 18. Jahrhundert. Major Davel

Bauern beriefen sich auf die alte Schweizer Freiheit. Aber was sie darunter verstanden, war bloß eine größere Selbständigkeit des Landes gegenüber der städtischen Obrigkeit. Von einer Teilnahme an der Regierung oder von einer Reform von Staat und Bund war nicht die Rede. Die bewaffnete Erhebung aber wurde von den Obrigkeiten unterdrückt und durch Hinrichtungen geahndet. Weder für die Form der Landesregierung noch für die Lage der Bauern hatte der Krieg tiefgreifende Veränderungen zur Folge, da er nicht der Ausdruck schwerer Mißstände oder eines ernsthaften Planes, sondern bloß einer vorübergehenden Unzufriedenheit gewesen war. Ähnlich verhält es sich mit den Unruhen des 18. Jahrhunderts. Audi ihnen lagen keine politischen Ideen zugrunde. Es waren entweder Machtkämpfe rivalisierender Persönlichkeiten oder dann Kämpfe um alte oder neu zu erwerbende Vorrechte bestimmter, eng umgrenzter Gruppen innerhalb des Gesamtvolkes. — So erhoben sich etwa 1755 die Livinentaler, als ihre Herren, die Urner, wegen eingerissener Unregelmäßigkeiten Einblick in die Gemeinderechnungen forderten. Der Aufstand wurde blutig bestraft, und das Livinental verlor seine Selbstverwaltung. — 1749 wurden in Bern Samuel Henzi und zwei Mitverschworene hingerichtet, weil sie auf den Sturz der Patrizierherrschaft hingearbeitet hatten. Aber auch sie waren nicht von den Ideen einer allgemeinen Freiheit und Gleichheit erfüllt. Das Gelingen ihres Planes hätte lediglich dem gewöhnlichen Stadtbürger Anteil an den Vorrechten des Patriziats eingebracht» Die einzige Bewegung von grundlegender Bedeutung war der Kampf der Genfer Bürger um die Errichtung einer vollständigen Demokratie. 1738 entstand in Genf die erste systematische Verfassung des Kontinents mit grundsätzlicher Trennung der Gewalten. Der Kampf zwischen Demokratie und Patriziat zog sich durch das ganze Jahrhundert hin und wurde mit der modernsten Waffe der Politik, mit der Publizistik, durchgefochten. Auch Rousseau, der Begründer der modernen demokratischen Staatslehre, wurde in die Auseinandersetzungen hineingezogen. Sie waren ein Vorspiel der französischen Revolution und gingen am Ende des Jahrhunderts unmittelbar in diese über. Die seltsamste Erscheinung des ganzen 18. Jahrhunderts aber ist das Unternehmen des Majors Davel gegen Bern. Davel war als Waadtländer bernischer Untertan. Seine Verdienste als Offizier trugen ihm die Ernennung zum Inspektor eines waadtländisdien Militärkreises ein. Obwohl er sich in allen Lebenslagen bewährte und einen praktischen und klaren Blick

Unruhen im Livinental, in Bern und Genf. Major Davel

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bewies, gleicht sein Leben eher dem eines mittelalterlichen Märtyrers als dem eines modernen Menschen. Wie Bruder Klaus verband er Weltklugheit mit wahrhaft überirdischer Reinheit des Charakters. J a , es wurden ihm mitten in dem Jahrhundert moderner Ungläubigkeit Heilkräfte und Wunder zugesprochen. Milde gegen andere, Strenge gegen sich selbst und vollkommene Bedürfnislosigkeit vollenden das Bild des Heiligen. Mit Schmerz sah er die Schäden des Landes: Trunksucht, Arbeitsscheu, Prozeßsucht, Zerfall des Gottesdienstes. Den Herren von Bern warf er vor, daß sie dieser Sittenverderbnis gegenüber gleichgültig blieben. Es reifte in ihm der Entschluß, die Waadt zu befreien und als 14. Ort in die Eidgenossenschaft einzuführen. Der Aufstand entsprang nicht einer politischen Idee, sondern einer sittlichen Verpflichtung. Wie Jeanne d'Arc gehorchte Davel der göttlichen Stimme in seinem Innern. Bevor er seinen Entschluß faßte, prüfte er sich drei Monate lang in der Einsamkeit, ob er sich nicht täusche. Am Ostermontag des Jahres 1723, als alle bernischen Vögte zu den Wahlen nach feern gereist waren, berief er sein Bataillon ein und führte es — ohne Munition, mit entladenen Gewehren — nach Lausanne. Dem Rat der Stadt eröffnete er ohne Rückhalt sein Vorhaben und seinen Plan. Die Waadt sollte sich als unabhängiger Ort konstituieren und keinen Berner mehr als Vorgesetzten ins Land lassen. Niemanden hatte er in sein Vorhaben eingeweiht, um im Falle des Mißlingens niemanden ins Verderbnis zu reißen. Keine Gewalt sollte angewendet werden, wofern Bern auf Gewalt verzichtete. Absichtlich ließ Davel die primitivsten militärischen Vorsichtsmaßregeln außer acht, und an seine persönliche Sicherheit wendete er keinen Gedanken. Dies alles tat er nicht aus Unfähigkeit; seinen militärischen Scharfblick hatte er ja oft genug bewiesen. Aber die Befreiung der Waadt sollte nicht. ein Werk des Aufruhrs und der Berechnung sein, sondern eine Tat der sittlichen Erhebung. Entweder gelang es, das gesamte Volk zu schlagartiger Befreiung anzufeuern, dann war jede Vorsicht überflüssig, oder es gelang nicht, dann war alles verloren, und jede militärische Aktion wäre nur nutzloses Blutvergießen gewesen. Wieder sucht sich das Urbild des Teil-Mythos zu verwirklichen, wenn auch unter völlig veränderten Verhältnissen. Ebensowenig wie Teil oder Bruder Klaus drängt Davel seinen Mitbürgern seine eigene Ansicht oder einen eigenen Plan auf. Er spricht aus, was ihm sein Gewissen befiehlt und bekräftigt den Ausspruch mit dem Einsatz seines Lebens. Alles weitere überläßt er der Vorsehung und der Einsicht seiner Mitbürger, denn eine

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III- 8. Politische Unruhen im 17. und 18. Jahrhundert. Major Davel

soziale Tat von bleibendem Wert kann nur vollbracht werden, wenn alle Beteiligten sie wollen. Auf den Teil-Schuß hatte die Befreiung der Waldstätte geantwortet, das Wort des Bruders Klaus hatte Anklang gefunden im Gewissen der Tagsatzungsgesandten. Davel fand für seine T a t in seiner Zeit keinen Widerhall. Er blieb allein und fiel. Der Rat von Lausanne verhaftete ihn, und Bern überließ es seinen eigenen Landsleuten, ihn zu verurteilen. Davel blieb heiter und gefaßt bis zum Schluß, denn nicht den Erfolg hatte er gesucht, sondern einen Auftrag Gottes ausgeführt. Das Ende Davels ist dem des Sokrates ähnlich. Seine Aufrichtigkeit und Gelassenheit entwaffnete die Richter nicht weniger als die Klarheit seines Verstandes, der in offenbarem Widerspruch zu seiner Handlungsweise zu stehen schien. Auch unter der Folter blieb er ohne Klagelaut. Er wurde zum Tode verurteilt. In der Abschiedsrede auf dem Blutgerüst ermahnte er das Volk zu einem christlichen Leben. Das Schicksal Davels zeigt deutlich, daß die Lebenskraft der alten Eidgenossenschaft versiegt war. Der beste und reinste ihrer Bürger sah sich vor seinem Gewissen dazu verpflichtet, gegen den bestehenden Zustand aufzutreten. Es gab zwar in Bern selbst Leute, welche die Richtigkeit seiner Kritik einsahen, doch geschah wenig zur Besserung. Das schlimmste Zeichen aber war, daß Davel nirgends in der Eidgenossenschaft Verständnis fand, am wenigsten bei den Waadtländern, deren Nationalheld er heute ist. Die Kräfte des Gewissens, die er wie alle repräsentativen Eidgenossen angerufen hatte, waren nicht mehr stark genug, eine Erneuerung der Eidgenossenschaft herbeizuführen. So mußte denn die Katastrophe von außen den Weg frei machen. 9. D E R U N T E R G A N G DER A L T E N

EIDGENOSSENSCHAFT

Das Ereignis, das die Lebensunfähigkeit der alten Eidgenossenschaft bewies und ihr das arme Lebenslicht ausblies, war die französische Revolution. In ihrem Anfangsstadium fand sie, wie in ganz Europa, auch in der Schweiz in weitesten Kreisen begeisterten Widerhall, denn sie schien endlich die Verwirklichung der Ideale zu bringen, die das ganze 18. Jahrhundert belebt hatten. Die Erklärung der Menschenrechte, die Umwandlung Frankreichs in einen Verfassungsstaat, die Beseitigung der Ständevorrechte und Feudallasten, die Einheit des Gesetzes für das ganze Staatsgebiet, das alles versprach die Menschheit einem goldenen Zeitalter entgegenzuführen,

/. Got t belf, Por Irli! von J. F.

Didier

Erste Einwirkungen der Revolution

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in dem nicht mehr Willkür und Selbstsucht herrschen, sondern Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dem Menschen ermöglichen würden, ein dem im 18. Jahrhundert erreichten Reifegrad würdiges Dasein zu führen. Doch vollzog sich die Umwandlung Frankreichs nicht in friedlichen Bahnen, sondern in blutigen Gewaltakten. Audi dachte das revolutionäre Frankreich nicht daran, seine Errungenschaften für sich zu behalten. Unter der Parole „Krieg den Palästen, Friede den Hütten" entfesselte die Revolutionsregierung im April 1792 einen Krieg gegen Europa, der schließlich dem General Bonaparte zur Diktatur verhalf und mit geringen Unterbrechungen Europa über 20 Jahre lang verwüstete. Die Ausschreitungen der Revolution und ihre kriegerische Ausbreitung brachten die Ernüchterung und führten innerhalb und außerhalb Frankreichs zu einem unüberbrückbaren Riß zwischen den Anhängern und den Gegnern der Revolution. Die Sympathien der Regierungen in der Schweiz standen eindeutig auf der Seite der französischen Aristokratie. Emigranten wurden gut aufgenommen und verstärkten die antirevolutionäre Stimmung. "Wo sich in der Schweiz Anwandlungen zur Nachahmung der Revolution zeigten, wie in der Waadt (1791) und unter den Zürcher Bauern (1795), schritten die Regierungen mit äußerster Strenge dagegen ein. Doch einsichtige Männer, wie Johannes Müller, Pestalozzi, Lavater, der Berner Patrizier Philipp Emanuel Fellen'oerg und andere erkannten die welthistorische Notwendigkeit der sich in Frankreich gewaltsam abspielenden Umwälzung. Sie sahen, daß die Eidgenossenschaft in der alten Form nicht fortbestehen konnte und nur durch energische, freiwillig und rasch durchgeführte Reformen zu retten war. Zwar bestand in der Schweiz wegen ihres "Wohlstandes und wegen des Fehlens unversöhnlicher Standesgegensätze keine Gefahr einer Revolution im französischen Stil. Doch hatte gerade die Steigerung von Wohlstand und Bildung im 18. Jahrhundert Teile der Landbevölkerung dem bestehenden Zustand entfremdet und ein Gefühl unwürdiger Zurücksetzung gegenüber den Städten aufkommen lassen. Die Regierungen ihrerseits hatten den Zusammenhang mit dem Volk verloren und hielten an politischen Vorrechten und wirtschaftlichen Monopolen fest, die nicht mehr in einer entsprechenden Überlegenheit an Bildung und Tatkraft ihre Rechtfertigung fanden. So hielten denn viele die Sache der französischen Revolution für die Sache der Menschheit, und die zahlreichen von Frankreich hereinkommenden revolutionären Flugschriften schienen nichts anderes auszudrücken als die berechtigten Wünsche des Volkes nach größerer 11

Wartburg, Schweiz

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III. 9. Der Untergang der alten Eidgenossenschaft

geistiger, wirtschaftlicher und politischer Bewegungsfreiheit. Den stärksten Anklang fand die Revolution naturgemäß in der französischen Schweiz. Das Waadtland hatte von jeher höheren Bildungsstand als die deutsche Schweiz und engere kulturelle Beziehungen zu Frankreich. Genf machte als einziges Glied der Eidgenossenschaft alle Phasen der Revolution einschließlich der Periode der Schreckensherrschaft mit. Die alte Eidgenossenschaft war aber nicht nur außerstande, die notwendigen Reformen durchzuführen, sie war auch unfähig, der Revolution energisch Widerstand zu leisten. Es fehlte ihrer Leitung jegliche Weitsicht, aber auch dem ganzen Volk der Opfersinn, welcher der Eidgenossenschaft des 15. Jahrhunderts trotz ihrem Mangel an Organisation ihre unwiderstehliche Gewalt gegeben hatte. So wurde ein gemeinsames Handeln auch im Augenblick höchster Gefahr gar nicht ernsthaft versucht. Diese Energielosigkeit offenbarte sich zum erstenmal, als beim Sturm auf die Tuilericn am 10. August 1792 fast die ganze Schweizer Garde des Königs von wütenden Volkshaufen niedergemacht wurde. Ein Sturm der Entrüstung ging durch das Land. Doch kam es zu keinen energischen Gegenmaßnahmen, da die Mehrheit der Kantone aus alter Gewohnheit freundschaftlicher Beziehungen keinen Bruch mit Frankreich wollte. Die Eidgenossenschaft verharrte weiter in Neutralität. So kam es erst 1798 zur Katastrophe. Als letzter aller Nachbarn Frankreichs, abgesehen von Spanien, kam die Schweiz an die Reihe, von dem Drachen der Revolution verschlungen zu werden. Die Franzosen hatten mit ihr keine Eile, denn die Schweiz war ihnen nicht gefährlich. Ihre Neutralität bot im Gegenteil große Vorteile, besonders als Lücke in der Blockade, die Frankreich umschloß. Die Beute war ihnen sicher, sobald die europäische Lage erlaubte, die H a n d danach auszustrecken. So weit war es 1797, als der Friede von Campo Formio ganz Oberitalien und Deutschland bis an den Rhein Frankreich auslieferte. Was die Franzosen verlockte, die Schweiz zu besetzen, waren die Schätze, welche die haushälterischen Regierungen seit Jahrhunderten in den Staatskassen angehäuft hatten. Bereits stand hinter der Regierung auch der General Bonaparte, der den Besitz der Alpenpässe erstrebte. Schon 1797 entriß er den Graubündnern das Veltlin, das damit der Schweiz für immer verlorenging. Ende 1797 wurde im französischen Direktorium der Entschluß zur Besetzung der Schweiz gefaßt. An der Vorbereitung des französischen Einmarsches waren auch zwei Schweizer beteiligt: der Waadtländer Cesar La-

Vorbereitung des Umsturzes

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harpe und der Basler Peter Ochs. Laharpe hatte nach schwerer Kränkung seiner persönlichen Ehre durch einen Berner Patrizier die Schweiz verlassen und in Rußland als Erzieher des späteren Zaren Alexander I. eine bedeutende Stellung eingenommen. Er verschaffte nun der französischen Regierung die Bittschriften Unzufriedener und die Rechtsgutachten, die sie als Vorwand für die Intervention brauchte. — Ochs w a r im Ausland aufgewachsen, und es fehlte ihm das Verständnis für die Wesensart und die Bedürfnisse der Schweiz. Vollkommen von dem rationalistischen Geiste des 18. Jahrhunderts eingenommen, erstrebte er die Umwandlung der Eidgenossenschaft in einen zentralisierten Einheitsstaat nach dem Muster des revolutionären Frankreich. Im Dezember 1797 folgte er einer Einladung nach Paris und arbeitete dort mit der französischen Regierung zusammen den Plan der Revolutionierung der Schweiz aus. Das Vorgehen der Franzosen war äußerst geschickt und stellte die an die Formen des ancien regime gewöhnten Regierungen vor völlig neue Aufgaben. Statt Soldaten schickten die Franzosen zuerst Agenten, die mit den revolutionären Schlagworten und Versprechungen Mißtrauen zwischen Volk und Regierungen säten, indem sie die Aristokraten in den Augen des Volkes zu wahren Teufeln der Tyrannei stempelten. Sich selber aber boten sie als Befreier an — ohne allerdings den Preis der „Befreiung" zu nennen. Dem harmlosen Volke kam nicht einmal der Gedanke, daß alle Versprechungen nur den Sinn hatten, es einzuschläfern. Den Regierungen gegenüber aber verwendeten die Franzosen die Taktik der Zermürbung durch Truppenzusammenzüge, hingeschleppte Verhandlungen und fortwährend sich steigernde Forderungen. Sie griffen nie die ganze Eidgenossenschaft an, sondern stellten ihre Forderungen immer nur an die benachbarten Orte, die sich nicht zu wehren getrauten, da die übrigen Orte in geradezu unglaublicher Verblendung ihnen nicht halfen. Jeder hoffte, wenn er dem Tiger schmeichle, werde er ihn selbst nicht verschlingen. Das erste Opfer w a r Bern. Die bernische Regierung war weder der französischen Taktik noch der inneren Lage gewachsen. Auch den schamlosesten französischen Forderungen gegenüber trieb sie eine Politik des Zauderns und Nachgebens und zersetzte damit selbst den im deutschen Teil des Kantons Bern völlig ungebrochenen Widerstandswillen des Volkes, welches das Zaudern und Zögern als Verrat auslegte. Der energische Berner Schultheiß Steiger, der von Anfang an äußersten Widerstand hatte leisten wollen, konnte sich gegen die ängstliche Friedenspartei im R a t nicht durchsetzen. h*

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III- 9. Der Untergang der alten Eidgenossenschaft

Das kläglichste Schauspiel aber bot die letzte Tagsatzung, die in Aarau versammelt war, um gemeinsame Verteidigungsmaßnahmen zu treffen. Nach vier Wochen brachten die Gesandten nichts zustande, als daß sie unter Tränen der Rührung die alten Bünde zum ersten- und zum letztenmal seit der Glaubenstrennung neu beschworen. Der einzige Handelnde war der französische Gesandte Mengaud, der unter den Augen der Tagsatzung aufrührerische Schriften in Kirchen und Wirtshäusern verbreitete, während sein Mund von Friedensbeteuerungen troff. Im Januar 1798 riefen die Waadtländer ihre Freiheit aus, nachdem die Franzosen ihnen Hilfe zugesagt hatten. Doch mußten diese die Enttäuschung erleben, daß die Revolution in vollkommener Ruhe vor sich ging, so daß ihre Hilfe überflüssig wurde. Die bernischen Vögte verließen unbehelligt das Land. Doch fanden die Franzosen in einem armseligen Zwischenfall einen Vorwand zum Einmarsch. Die Waadt wurde besetzt und mußte diese „Hilfe" mit einer Zwangsanleihe von 700 000 J^ivres bezahlen. Auf die Kunde vom Einmarsch in die Waadt stob die Tagsatzung auseinander. Fast alle Unteranen erhoben sich nun und erhielten von ihren Herren Freiheit und Rechtsgleichheit. Die Revolution war in der ganzen Schweiz ohne Blutvergießen vollendet,, bevor die Franzosen sie betraten. Zugleich aber hatte sie das Land wehrlos gemacht, und Bern stand dem französischen Angriff allein gegenüber. Die andern Regierungen sahen sich außerstande zu helfen. Vielerorts weigerten sich die aufgebotenen Truppen rundweg, für die „bernischen Tyrannen" ins Feld zu ziehen. Auch jetzt wäre ein Widerstand noch nicht aussichtslos gewesen, wenn nicht die Friedenspartei in Bern selbst in Nachgeben und Verhandeln das Heil gesucht und jede energische Abwehr hintertrieben hätte. Der französische General Brune täuschte die leichtgläubige Berner Regierung mit Scheinverhandlungen, bis er genügend gerüstet war. Am 2. März besetzte er Freiburg und Solothurn, dann verlangte er die Abdankung der Berner Regierung. Diese ging so weit, ihm auch darin zu willfahren. Das unaufhörliche Nachgeben demoralisierte die bernischen Truppen vollständig. Sie begannen zu meutern und über Verrat zu murren und liefen schließlich zum größten Teil auseinander. Erst als Brune verlangte, daß man ihm erlaube, mit seinen Truppen die Stadt zu „besuchen", raffte sich die neue provisorische Regierung zum Widerstand auf. Aber es war bereits zu spät. Zwar gelang es einer mutigen Schar von Freiwilligen, die von Süden anrückenden Franzosen bei Neuenegg mit dem Bajonett über die Grenze zurückzuwerfen, aber sie ret-

Einmarsch der Franzosen

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teten damit nur die militärische Ehre, nicht die Stadt, denn unterdessen brach der Widerstand im Norden im Gefecht beim Grauholz zusammen, und Bern kapitulierte. Am 6. März um 1 Uhr zogen die Franzosen mit klingendem Spiel in die Stadt ein, die bisher noch nie einen Feind in ihren Mauern gesehen hatte. Die übrige Schweiz, außer den inneren Orten, unterwarf sich kampflos.

IV. P E R I O D E

Die Schweiz seit der französischen Revolution 1. DIE HELVETISCHE REPUBLIK

Was es heißt, von einer fremden Armee „befreit" zu werden, erfuhr die Schweiz nur zu bald. Mit brutaler Gewalt wurde sie unter französische Militärherrschaft gestellt und ihre Staatskassen geleert. Die Beute, welche die Franzosen machten, war unermeßlich. Aus Bern allein entführten sie elf vollbepackte Wagen mit Kassenvorräten. Auch die Kommissare und Soldaten versahen sich mit „Andenken". Unabschätzbaren Schaden erlitt das Privateigentum durch Plünderungen und Einquartierung. Kurz, die Schweiz erlitt alles, was ein erobertes und rechtloses Land eben zu dulden hat. Ein Lichtblick in dieser trüben Zeit ist die Treue der ehemaligen Untertanenländer. Die italienisch sprechenden Tessiner gaben den Einflüsterungen der Italiener nicht nach, welche sie zum Anschluß an die neue norditalienische Republik aufforderten. Aus eigener Kraft wehrten sie sogar einen bewaffneten Uberfall ab. Audi in der Waadt erhob sich keine Stimme für den Anschluß an Frankreich, obwohl sie das einzige der Schweiz verbliebene rein französisch sprechende Gebiet war. Genf und Neuenburg hatten die Franzosen von ihr getrennt. Dem Tessin und der Waadt gehört das Verdienst, die mehrsprachige Schweiz gerettet zu haben. Der Entschluß, auch der niedergeworfenen Schweiz treu zu bleiben, war freiwillig und bedeutet eine wahre Erweiterung, ja eine Neugründung der Eidgenossenschaft. Es war dies die Frucht der vernünftigen Politik der herrschenden Orte in den Untertanenländern. Obgleich alle dreizehn Orte der alten Eidgenossenschaft deutscher Sprache waren, hatten sie niemals daran gedacht, den Untertanen die deutsche Sprache aufzudrängen. Die Vögte hatten im Verkehr mit den

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IV. 1. Die helvetische Republik

TJntertainen die Sprache des Landes — italienisch oder französisch — benutzt, nicht ihr Deutsch. Die Berner hatten 1537 in Lausanne sogar eine französische Akademie gegründet. So lernten die Schweizer schon vor Jahrhunderten das Zusammenleben mit, anderssprachigen Mitbürgern, und das Verhältnis zwischen den Sprachen blieb auch später unproblematisch, als in Europa die Wellen des Nationalismus hoch gingen. Die staatliche Neuordnung war ein Werk der Eroberer. Die Franzosen brachten der Schweiz eine Verfassung mit, die Peter Ochs in Paris nach dem Muster der französischen Direktorialverfassung angefertigt und welche die französische Regierung mit den ihr nötig erscheinenden Abänderungen versehen hatte. Die Abgeordneten der besetzten Kantone wurden nach Aarau beordert, und unter dem Druck von 1200 französischen Bajonetten nahmen sie am 12. April die Verfassung an. Alsbald wurde in Aarau die neue Regierung, das fiinfköpfige Direktorium, gewählt. Als diese gegen das französische Raubsystem protestierte, ersetzte der französische Kommissar kurzerhand die zwei aufsässigen Direktoren durch zwei Franzosenfreunde. Weiterer Kritik verstopfte er den Mund, indem er das Standrecht gegen die erklärte, die etwas gegen die französische Nation zu äußern wagten. Die neue Verfassung war eine Schöpfung des rationalistischen aufklärerischen Denkens. Es fehlte ihr jede Rücksicht auf die historische Entwicklung der Schweiz. In den einzelnen Bestimmungen wie in der ganzen Ideologie war sie nichts anderes als ein Abklatsch der Verfassung des damaligen Frankreich. Alle bisherigen Bünde wurden abgeschafft und die Schweiz unter dem Namen „Helvetische Republik" zu einem streng zentralisierten Einheitsstaat umgeschaffen. Die Schweiz machte so unter fremdem Zwang den größten Sprung ihrer Geschichte. Zum erstenmal wurde sie überhaupt als Ganzes zu einem Staat. Eine einzige Regierung von fünf Direktoren stand an seiner Spitze. Unter dem Direktorium amteten die Ministerien. Die Kantone sanken zu bloßen Verwaltungsbezirken herab, entsprechend den französischen Departementen. Jede lokale Selbständigkeit verschwand, die ganze Verwaltung wurde den Beamten der Zentralregierung unterstellt, die sämtlich von oben ernannt wurden. Was dem Bürger an Rechten blieb, war äußerst dürftig: Er durfte über die Verfassung abstimmen und Wahlmänner wählen, die dann ihrerseits die Abgeordneten in die helvetischen Räte wählten. Die Gesetze zu beschließen war ausschließlich Sache der zwei Räte: des Senats und des Großen Rates. Da diese rationalistisch

Die helvetische Verfassung

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ausgeheckte Verfassung keine Grundlage in der Wirklichkeit hatte, mußte sie mit künstlichen Mitteln in den Gemütern befestigt werden. Dem dienten die nach französischem Muster eingeführten staatlichen Feste, wie sie z. B. beim Eintritt der jungen Bürger ins Bürgerrecht gefeiert werden sollten. Bisher war der Staat nichts anderes gewesen als die Summe der realen Macht- und Rechtsverhältnisse; der gewöhnliche Bürger war kaum je mit ihm in Berührung gekommen. Jetzt sollte er ein Gegenstand des Enthusiasmus und der Verehrung werden. Zum erstenmal schlug in der Schweiz der im Westen entstandene Gedanke ein, daß in der Staatsform das Heil der Menschheit ruhe. Man traute der Verfassung sogar zu, die Menschen erziehen zu können. Artikel 14 lautet: „Er (der Bürger) will nur die moralische Veredlung des menschlichen Geschlechts, er ladet ohne Unterlaß zur süßen Bruderliebe ein." Doch wenn auch die staatliche Ordnung der Helvetik und ihre Ideologie der ganzen schweizerischen Tradition widersprachen, so waren doch die Freiheitsrechte, welche die Verfassung dem einzelnen brachte, eine Wohltat und ein notwendiger Fortschritt. Vor allem fielen alle Unterschiede zwischen Herren und Untertanen fort. Die Menschenrechte und mit ihnen auch die allgemeine Rechtsgleichheit wurden verkündet. Zum erstenmal erhielt jeder Schweizer das Recht der freien Niederlassung in der ganzen Schweiz, die Freiheit des Glaubens und der Meinungsäußerung, soweit sie nicht von den Franzosen unterdrückt wurde. Von größter sozialer Bedeutung war die Gewerbefreiheit und die Abschaffung der alten Feudalrechte, die auf Grund und Boden lasteten. Obwohl die helvetische Verfassung einen längst überlebten Zustand beseitigt hatte und viel Wertvolles enthielt, waren nur wenige zufrieden mit dieser Art von Neuordnung. Das Selbstbewußtsein der Schweizer lehnte sich auf gegen die Entrechtung und Mißachtung ihrer eigenen Natur. Nach ihrer Meinung brauchten sie sich nicht von den Franzosen über die Freiheit belehren zu lassen. Nicht eine neue Freiheit hatten sie durch die Revolution einführen wollen. Sie hatten ja ihre eigene Freiheit selbst geschaffen, und diese wollten sie wieder erwecken, nachdem sie in den letzten Jahrhunderten eingeschlafen war. Der Grundinhalt dieser Freiheit war die tätige Mitarbeit jedes einzelnen an der Gemeinschaft, der er angehörte. Die Schweiz ist nicht nur das Produkt zufälliger politischer Kombinationen, sondern es liegt ihr, wenn auch unbewußt, eine wahrhaft philosophische Anschauung von Mensch und Gemeinschaft zugrunde. Der schweizerische Freiheitsgedanke

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IV. 1. Die helvetische Republik

ruht auf der Empfindung, daß nur der in einer lebenskräftigen Gemeinschaft tätige Mensch die Möglichkeit hat, alle seine individuellen Kräfte zu einem vollen und runden Charakter auszubilden. Diese natürliche Gemeinschaft waren bisher die Gemeinde und der Kanton gewesen. In der modernen Zeit hätte es sich darum gehandelt, Wirkungsfeld und Gesichtskreis des einzelnen auf die ganze Schweiz zu erweitern. "Was aber die Franzosen taten, war das Gegenteil. Sie zerstörten jede kleinere Gemeinschaft, in welcher der einzelne reale Wirkungsmöglichkeiten hat, und nahmen zugleich dem einzelnen die Möglichkeit politischer Mitarbeit im Großen. Das öffentliche Leben sollte, wie in Frankreich, das Reservat einer absolutistischen und zentralisierten Beamtenbürokratie werden. Das widerspricht aller Schweizer Tradition, denn diese will, daß jeder nur da wirken darf, wo er Verhältnisse und Personen aus langer Erfahrung kennt. Jedes Wirken im Großen muß hier im Kleinen heranwadisen und im Kleinen zuerst seine Berechtigung und Befähigung erweisen. Die neue Verfassung verletzte besonders stark das Gefühl der inneren Orte. Sie hatten die habsburgischen Vögte nicht vertrieben, um jetzt Gesetze und Befehle der Regierung von Aarau anzunehmen. Die neue „Freiheit" war ihnen eine hohle Phrase — gerade ihre Freiheit und ihre demokratischen Einrichtungen, die Landsgemeinde, wollte man ihnen ja wegnehmen. Die Glaubensfreiheit schien ihnen der Anfang der Ketzerei. „Die Religion unserer Väter ist unsere Konstitution, das Kreuz unser Freiheitsbaum", predigten die Geistlichen. In den Bergen erfuhren die Franzosen noch einmal die ganze Kraft des altsdiweizerischen Kampfgeistes. Einen großartigen und zeitweise siegreichen Widerstand leisteten die Schwyzer, die Walliser, die Graubündner. Aber die Übermacht war zu groß. Das Wallis und Graubünden wurden grausam verwüstet. Schwyz dagegen kapitulierte in würdiger Form und erst, nachdem dem Volke sein Glaube und der Besitz seiner Waffen zugesichert worden waren. Den heldenhaftesten Widerstand leistete das kleine Nidwaiden. Als die helvetischen Räte von allen Bürgern, auch den Geistlichen, einen Eid verlangten, fügten sich alle Orte außer dem kleinsten. Ganz allein erhoben die Nidwaldner die Waffen für ihre Freiheit und ihre alte Religion. Die kurze Befreiung endete mit dem furchtbarsten Blutbad der Epoche. Durch die Unbeugsamkeit der Nidwaldner zur Raserei getrieben, fielen die Franzosen in blinder Zerstörungswut über das Land her und machten nieder, was sie fanden. Der General Schauenburg bezeichnete diesen Tag als den

Aufstand der Nidwaldner. Koalitionskrieg

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heißesten seines Lebens. Die besiegten Nidwaldner wurden gezwungen, vor einem Freiheitsbaum den Bürgereid zu schwören. Ihr "Widerstand hatte gezeigt, was die ganze Eidgenossenschaft hätte leisten können, wenn sie rechtzeitig alle Kräfte eingesetzt hätte. Auch so war der Verzweiflungskampf der Innerschweizer nicht ohne Wirkung: die Franzosen lernten ihre Kraft kennen, und Napoleon sagte später, nur die Achtung vor den Bergkantonen habe ihn gehindert, der Schweiz ein Ende zu machen. So hatte die Schweiz unter französischem Druck die Revolution nachgeholt. Aber diese „helvetische Revolution" unterschied sich vorteilhaft von der französischen. Vom ersten bis zum letzten Schritt war sie gekennzeichnet durch ihre Menschlichkeit und Mäßigung. Kein Revolutionstribunal schickte die Aristokraten auf das Schafott, keine Enteignungen fanden statt, keine Ausnahmegesetze wurden erlassen gegen die „Feinde der Republik", keine Assignaten ruinierten den Staat und die Wirtschaft, in den Behörden gaben die Männer der Bildung den Ton an. Was in dieser Zeit an Bluttaten und Gewaltsamkeiten geschah, ist fast ohne Ausnahme in das Schuldbuch des Eroberers zu schreiben. Die gesetzgebenden Räte suchten sogar gegenüber dem Eroberer eine gewisse Selbständigkeit zu bewahren, indem sie bei den Wahlen zum Direktorium die beiden Anhänger der Franzosen, Ochs und Laharpe, übergingen. Erst unter französischem Druck mußten diese später ins Direktorium aufgenommen werden. Die Schweiz sollte bald auch die außenpolitischen Folgen ihrer Unterwerfung erfahren. Mit der Neutralität war es natürlich aus. Die Schweiz wurde als Vasallenstaat in das französische Machtsystem eingegliedert. Als 1799 der Krieg zwischen Frankreich und Österreich—Rußland wieder ausbrach, wurde die Schweiz zum erstenmal seit dreihundert Jahren wieder Kriegsschauplatz für fremde Heere. Die Österreicher und eine russische Armee rückten von Osten, eine andere unter Suworow von Süden her in das Land ein, um die Zentralfestung Europas den Franzosen zu entreißen. Doch nach den zwei Schlachten bei Zürich war das ganze Gebiet wieder in französischer Hand. Suworow mußte sich auf einem abenteuerlichen Gebirgsmarsch nach Osten durchschlagen. Noch nie seit ihrem Bestehen hatte die Eidgenossenschaft so gelitten wie in dem Kriegswinter von 1799. In dauernder Erinnerung blieben der Hunger, die Plünderung, die Brände und die Gewalttaten der fremden Armeen. Nach einem alten, aber begreiflichen Trugschluß wurde für das nationale Unglück der neue Staat, die Helvetische Republik verantwortlich gemacht.

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IV. 1. Die helvetische Republik

Diese verlor damit jeden Boden unter den Füßen. Die Jahre bis 1803 sind erfüllt mit Parteikämpfen. Die „Unitarier" wollten den Einheitsstaat behalten, die „Föderalisten" zum alten Bund zurückkehren, die „Patrioten erstrebten die Errichtung einer extremen Demokratie, die „Republikaner" gedachten die Regierung den Gebildeten vorzubehalten. Die alte Eidgenossenschaft war zertrümmert. Es war unmöglich, sogleich eine neue Form zu finden, die allen berechtigten Ansprüchen genügen konnte. So folgte ein Staatsstreich dem andern, ohne daß man zu einer Lösung kam. Doch derjenige, auf den es zuletzt ankam, war der allmächtige Herr Frankreichs, der Konsul Napoleon Bonaparte. Im Jahre 1802 zog er mit kluger Berechnung die französischen Truppen aus der Schweiz zurück, „aus Achtung vor der schweizerischen Unabhängigkeit", wie er sagte. Alsbald brach in der Schweiz der Bürgerkrieg aus. Jetzt hatte Bonaparte, was er wollte. Aller Welt war bewiesen, daß die Schweiz, sich selbst überlassen, der Anarchie verfallen würde. Blitzschnell griff Bonaparte ein, befahl Einstellung der Feindseligkeiten und berief eine Gesandtschaft der Schweizer (die „Helvetische Consulta") nach Paris, der er seine eigene Ordnung verkündete: die „Mediationsakte" vom 19. Februar 1803. Mit dem Eingreifen Bonapartes war das Zwischenspiel der Helvetischen Republik zu Ende. In der kurzen und unruhigen Zeit hatte der Einheitsstaat keine Gelegenheit gehabt, dauernde Werke zu schaffen. Trotzdem bedeutet die Periode der Helvetik einen entscheidenden Wendepunkt in der Schweizer Geschichte. Sie beseitigte einerseits die alten Vorrechte und Unterschiede so vollständig, daß eine Rückkehr zum alten Zustand nicht mehr möglich war und die Schweiz neue Grundlagen für ihr politisches Leben suchen mußte. Sie machte anderseits die Bahn für neue Kräfte frei. Während die alte Aristokratie als Stand für ein paar Jahre gänzlich ausgeschaltet war, nahm eine neue Schicht der Gebildeten, zum Teil aus dem Patriziat hervorgegangen, das Schicksal des Landes in die Hand. Es zeigte sich, daß die geistige Erneuerung des 18. Jahrhunderts eine neue Aristokratie von höchster sittlicher und geistiger Kraft hervorgebracht hatte. So fand die Helvetik für alle leitenden Stellen Männer, die ihrer Aufgabe voll gewachsen waren. Die bedeutendsten unter ihnen waren die Direktoren Maurice Glayre (Waadt), Lukas Legrand (Basel), die Minister Albert Stapfer (für Kunst und Wissenschaft), Albert Rengger (für Inneres), Finsler (für Finanz), Kuhn (für Justiz). Außerhalb der Behörden wirkten für die neue Ordnung Pestalozzi, dem die helvetische Regierung seine Wirksamkeit in

Ende der Helvetik. Führende Persönlichkeiten

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Stans und Burgdorf ermöglichte, und Paul Usteri. Pestalozzi begründete das moderne Volksschulwesen, während Usteri die freie Presse als bestimmendes Moment in das politische Leben einführte. Die beiden Neuerungen haben die Grundlage der modernen Demokratie geschaffen, die das Volk nicht mehr auf die Teilnahme am Gemeindeleben beschränkt, sondern ihm Anteil an der Gestaltung des gesamten Nationallebens gibt und daher weitere Kenntnisse und Interessen voraussetzt. Was alle diese Männer vereinigte, war ein an der klassischen Literatur und der deutschen idealistischen Philosophie gebildetes Verantwortungsbewußtsein, eine schon im Leben bewährte praktische Tüchtigkeit, eine auf der Höhe der Zeit stehende Bildung und ein auf die Zukunft gerichteter Sinn. Nicht mehr der alten, in Kantone und Stände zersplitterten Schweiz fühlten sie sich verpflichtet, sondern der neuen, zunächst erst in ihrer Idee bestehenden schweizerischen Gesamtnation. N u r der Gesamtstaat konnte ihnen ein angemessenes Tätigkeitsfeld bieten. Es lag nicht an einem Mangel an Tatkraft und gutem Willen, wenn der Einheitsstaat sich nicht durchsetzen konnte, sondern an seiner inneren Unmöglichkeit. Was ihm entgegenstand, war einerseits der eingewurzelte Föderalismus der Schweizer, anderseits das Ubergewicht der Ungebildeten in den gesetzgebenden Räten. Die führenden Männer der Helvetik waren es daher, die die Partei der „Republikaner" bildeten. Diese sind die eigentlichen Vorläufer des Liberalismus des 19. Jahrhunderts, welche dem einzelnen volle persönliche Freiheit einräumen, die Staatsgeschäfte aber einem engeren Kreis einer sittlich und geistig gebildeten Oberschicht vorbehalten wollten. Ihr Werk ist auch zur Hauptsache die Gesetzgebung der Helvetik. In ihr hat der Geist der neuen Zeit den bedeutendsten Niederschlag gefunden. Es sollen daher noch kurz die wichtigsten Teile der helvetischen Gesetzgebung berührt werden. Der Artikel 13 der Verfassung bestimmte, daß es keine unablösbaren Zinse mehr geben dürfe. Damit war die Aufhebung der Feudallasten ausgesprochen. Uber den Modus der Aufhebung erhob sich ein erbitterter Kampf. Es setzte sich schließlich der Standpunkt durch, daß diese Zinse nur gegen Entschädigung aufgehoben werden konnten, denn sie galten als rechtmäßiges Eigentum der Bezieher, und am Eigentum wollte sich die Helvetik nicht vergreifen. Nach dem Gesetz vom 10. November 1798 sollte der Staat selbst auf seine Zehnten ohne Entschädigung verzichten lind dazu einen Teil der Entschädigungen übernehmen, die an private Zinsbezieher hätten entrichtet werden sollen. Das Gesetz konnte aber nicht durchgeführt

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I V . 1. Die helvetisdie Republik

werden, denn der Staat entblößte sich selbst durch den Verzicht auf seine bisherigen Einkünfte, und neue standen ihm noch keine zur Verfügung. Die Befreiung der Bauern von den Grundlasten geschah schließlich nicht durch eine Revolution wie in Frankreich, sondern in einer langsamen Entwicklung, die bis weit ins neue Jahrhundert hinein reichte. Charakteristisch für die Helvetik ist, daß sie dem Staat ganz neue Aufgaben übertrug, so vor allem die Erziehung. Der Minister Stapfer stellte einen großzügigen Plan einer vollständigen Nationalerziehung auf, deren Krönung die eidgenössische Universität sein sollte. Auch diese Pläne scheiterten an der Geldfrage. Eine wichtige Frage war, wie man die neu proklamierte Gleichheit in den einzelnen Gemeinden verwirklichen sollte. Es waren bisher überall nur dieAlteingesessenen im Genuß der Allmend, der Gemeindegüter gewesen. Die Allmend galt als Kollektiveigentum der Teilhaber an der Genossenschaft. Man konnte nicht Gleichberechtigung aller Gemeindebewohner verkünden, ohne Raub an diesem Eigentum zu begehen. Die Helvetik fand eine originelle Lösung, die in einigen Kantonen bis heute vorbildlich geblieben ist: Sie schuf zwei Gemeinden nebeneinander, die Bürgergemeinde, die im Besitz der Gemeindegüter blieb, und die Einwohnergemeinde, welcher alle politischen Befugnisse vorbehalten waren. Jeder neu zuziehende Schweizer Bürger mußte ohne weiteres in die Einwohnergemeinde aufgenommen werden, da die Verfassung Niederlassungsfreiheit gewährte. Aber wenn er in die Bürgergemeinde eintreten wollte, mußte er eine Einkaufssumme bezahlen, die ihn zur Nutznießung der Gemeindegüter berechtigte. Reichtum an Ideen und Plänen und Armut an greifbaren "Werken macht das Wesen der Helvetik aus. Doch darf man ihre Bedeutung nicht unterschätzen. Die Ideen, die sie vertrat, waren seither nicht mehr auszulöschen. Was sie abgeschafft hatte, ließ sich auf die Dauer nicht wieder einführen: die Untertanenverhältnisse, die Privilegien der regierenden Familien, der Zunftzwang, der konfessionelle Zwang, die Folter als Mittel des Rechts. Das politische Leben der Schweiz war nach langer Erstarrung wieder in Fluß gekommen. Die Helvetik hatte zum erstenmal denjenigen Kräften zum Durchbruch verholfen, die das 19. Jahrhundert beherrschen sollten. Die Schweiz war mit der politischen Presse, mit dem Parteikampf und mit der Macht neuer politischer Ideen bekannt geworden. Audi war das Bewußtsein nicht mehr auszulöschen, daß die Schweiz eine Nation bildete. Ein großer Teil des Volkes hätte sich niemals mehr mit der Herstellung des

Leistung und Bedeutung der Helvetik

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alten, losen Bundes zufrieden gegeben. Anderseits hatte sich auch unwiderlegbar erwiesen, daß der Einheitsstaat dem Wesen der Schweiz widersprach. Die Schwierigkeit bestand darin, den rechten Mittelweg zu finden. Dazu brauchte die Schweiz noch ein halbes Jahrhundert. — Eine andere unvergeßliche Lehre war die, daß man nun aus bitterer Erfahrung wußte, was Fremdherrschaft und Verlust der Neutralität bedeutete. So war die Helvetik nicht nur fruchtbar durch ihre Ideen und Pläne, sondern auch durch die Erfahrungen, die sie hinterließ. 2. DIE MEDIATION Die neue Verfassung, die Bonaparte nun der Schweiz auferlegte, war ein äußerst geschickter Kompromiß zwischen dem alten, lockeren Bunde und den Forderungen der neuen Zeit. Er zeugte von einer ausgezeichneten Sachkenntnis des Diktators. Einige Mitglieder der Helvetischen Consulta in Paris wollten am Einheitsstaat festhalten. Bonaparte war es, der sie über das Wesen des eigenen Staates belehrte: „Eure Staatsform ist es, die Euch in Europas Augen interessant macht . . . Bedenkt wohl, wie wichtig es ist, solche charakteristischen Züge zu besitzen... Ich weiß wohl, daß dieses demokratisches System von vielen Nachteilen begleitet ist . . . Aber nun besteht es seit Jahrhunderten, es beruht auf dem Klima, den Bedürfnissen und den einfachen Gewohnheiten der Bewohner, es ist dem örtlichen Geist angemessen, und man muß nicht Recht behalten wollen gegenüber der Notwendigkeit." Die Mediationsakte stellte die Souveränität der Kantone wieder her. Die Tagsatzung erlebte eine Wiederauferstehung. Sie blieb eine Konferenz unabhängiger Staaten, deren Gesandte nach Instruktion stimmten. Aber sie vereinigte nun nicht mehr nur die dreizehn alten Orte. Aus dem Gebiet der bisherigen Gemeinen Herrschaften und Zugewandten Orte wurden sechs gleichberechtigte neue Kantone geschaffen. Der bernische Aargau, die Gemeinen Herrschaften von Baden und Freiamt und das eben erst von Österreich abgetretene Fricktal wurden zum neuen Kanton Aargau vereinigt. Der Kanton Waadt blieb von Bern unabhängig. — Gegenüber der vorrevolutionären Zeit sind verschiedene Fortschritte zu verzeichnen. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit blieb bestehen, Untertanen gab es keine mehr. Ebenso blieben das Recht der Freizügigkeit sowie die Handels- und Gewerbefreiheit erhalten. Dies waren allerdings die einzigen Freiheitsrechte,

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IV. 2. Die Mediation

die vor Bonaparte Gnade gefunden hatten. Denn auch im Ursprungsland der Revolution hatte bereits die rückläufige Bewegung eingesetzt. Durch die Erfahrungen der Revolution waren die Menschen mißtrauisch geworden gegen allzu weitgehende Freiheit. So erhob niemand Einspruch dagegen, daß die Pressefreiheit zum Beispiel stillschweigend übergangen wurde. — Ein weiterer Fortschritt war die Schaffung einer gewissen Zentralgewalt. Die Tagsatzung allein hatte das Recht, über Krieg und Frieden zu beschließen. Die Schweiz erhielt ein ständiges Oberhaupt in dem Landammann, der das Recht hatte, im Notfall Truppen aufzubieten. Landammann wurde nach einem bestimmten Turnus das Oberhaupt eines der sechs bedeutendsten alten Kantone. Die Mediationsakte wurde von der Mehrheit des Volkes als Wohltat empfunden. Napoleon wurde gefeiert als der Hersteller der lokalen Freiheit und Selbständigkeit der Kantone, und bis in die entferntesten Täler lebt er fort im Volkslied. Die größte Wohltat der Mediationszeit aber war der zehnjährige Friede, der Zeit ließ zu ruhiger Aufbauarbeit. Allerdings war diese Arbeit nur möglich im Rahmen der Kantone, denn diese hatten wieder fast unumschränkte Souveränität. Uberall ergriffen wieder die alten, bewährten Familien die Herrschaft, mit ihnen aber auch die tüchtige und sparsame Haushaltung, welche die Kantone langsam aus den Schulden der Helvetik herausbrachte. Alle dreizehn Landammänner der Mediationszeit gehörten den ehemals regierenden Familien an, obwohl diese rechtlich keinerlei Privilegien mehr besaßen. Für die verantwortlichen Staatsmänner allerdings war die Zeit der Mediation eine Zeit des Bangens und der Sorge. Ihnen war es nicht verborgen, daß das Leben der Schweiz nur von der Gnade Napoleons abhing. Diese Gnade mußte mit Gehorsam und Stellung von Truppen erkauft werden. O f t fürchteten die Männer der Regierung für den Bestand des Staates, wenn sie die Forderungen des Gewaltigen nicht sogleich erfüllen konnten. Äußerst schwierig war es, die geforderten Truppen — zuerst 16 000, dann 12 000 Mann — aufzubringen. Seitdem der französische Herrscher selbst die Offiziere ernannte und die Truppen auf seinen Eroberungsfeldzügen einsetzte, hatte der französische Solddienst den früheren Reiz verloren. Man mußte schließlich Landstreicher einziehen und Straffällige zum Militärdienst verurteilen, um annähernd die gewünschte Zahl zu erreichen. Am schwersten hatte die Schweiz zu leiden unter der Kontinentalsperre, der Blockade, die Napoleon 1806 über England verhängte, um dieses Land

Die Schweiz unter der Herrschaft Napoleons

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zu Boden zu zwingen. Besonders katastrophal wirkte sich die Sperre für die Textilindustrie der Ostschweiz aus, die ganz auf die Einfuhr englischer Rohstoffe angewiesen war. D a Napoleon an Stelle der englischen die französische "Ware setzen wollte, war er besonders hart gegen die leistungsfähige schweizerische Industrie und suchte sie durch Zölle abzudrosseln. Eine furchtbare Krise brach aus, die viele bekannte Handelshäuser in den Konkurs, viele Arbeiterfamilien an den Bettelstab brachte. Zum Schrecken der Schweizer begann er auch, Teile der Schweiz abzureißen. 1810 annektierte er das Wallis; auch den Tessin ließ er besetzen, und ohne den entschiedenen Willen der Tessiner, bei der Schweiz zu bleiben, wäre die italienische Schweiz wohl verloren gewesen. Jede freie Meinungsäußerung gegen Napoleon mußten die Regierungen unterbinden, um den Mächtigen nicht zu reizen. Gegen die Presse wurde wie in Frankreich selbst die Vorzensur eingeführt. Zehn Jahre dauerte das Regime der Mediation. Der Sturz Napoleons riß sie mit in den Abgrund, was bewies, daß sie eine Ordnung nur von Gnaden des Kaisers gewesen war. Auf Napoleons russischem Feldzug haben die schweizerischen Truppen zum letztenmal in fremden Diensten ihre Zuverlässigkeit und Tapferkeit bewiesen. Auf dem Rückzug von Moskau deckten sie den Übergang über die Beresina und retteten damit dem Kaiser die Reste seiner Armee. Die Tagsatzung spradi ihnen den Dank des Vaterlandes dafür aus, daß sie geleistet hätten, „was von ihnen als Schweizern erwartet wurde". Von den ausgerückten 9000 Mann der vier Regimenter kehrten noch etwa 700 zurück. Aber auch auf der Seite der Gegner Napoleons kämpften Schweizer Söldner, zeitweise gegen 15 000, die allerdings nicht den Dank der Tagsatzung erhielten, da sie wider ausdrückliches Verbot gegen Napoleon dienten. Die meisten von ihnen kämpften in Spanien. Es waren zum Teil Abenteurer, zum Teil Anhänger der alten Ordnung. Als sich 1808 das spanische Volk gegen die französische Invasion erhob, schlössen sich die Schweizer in spanischen Diensten der Widerstandsbewegung an. Sie waren es, die unter dem Kommando des Schwyzer Generals Theodor Reding in der Schlacht bei Baylen den Armeen Napoleons die erste Niederlage beibrachten.

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Wartburg, Schweiz

178 3. PESTALOZZI

Doch weder militärische noch politische Taten waren es, welche die Blicke des Auslandes damals auf die Schweiz zogen, sondern das Werk eines einzelnen, des Zürchers Johann Heinrich Pestalozzi (1746—1827). Seitdem er in Stans nach dem unglücklichen Aufstand der Nidwaldner das Waisenhaus geleitet und die Kinder unter unsäglichen Mühsalen wie eine Mutter betreut hatte, wurde er fast zu einer legendären Gestalt. Er bekannte später: „Schon lange, ach, seit meinen Jünglingsjahren, wallte mein Herz wie ein mächtiger Strom einzig und allein nach dem Ziele, die Quelle des Elends zu verstopfen, in der ich das Volk um mich versunken sah." Aber seine Wirksamkeit entspringt nicht bloß dem Mitleid, sondern einer tieferen Einsicht in die Probleme der Zeit. Lange vor dem Ausbruch der Revolution quälten ihn die Zustände in Europa. Er ist der erste Mensch, der die soziale Frage in ihrer ganzen Schwere erlebte und erkannte. Er erfaßte sie nicht nur in ihren äußeren Erscheinungen, sondern in ihrem menschlichen Kern. Die Grundfrage seines Lebens lautete: „Warum geht mein Geschlecht im Jammer der Rechtlosigkeit und im Eleiid innerer Entwürdigung dahin, indessen einzelne Menschen sich zu einer merklichen Höhe bürgerlichen Wohlstands und sittlicher Veredlung erheben?" Auf allen Stufen der Menschheit, im Palaste des Königs wie in der Hütte des Bettlers, hat dieses Elend dieselben Ursachen und dieselben Wirkungen. Sein Wesen ist sittliche und geistige Verkommenheit. Es entsteht überall da, wo in dem Doppelwesen Mensch das Tierische über das Göttliche, das in ihm lebt, das Ubergewicht erlangt. Das ganze Elend läßt sich in die Worte fassen: „In der Weihe der Tierkraft, die die entheiligte Macht angebetet, ist der Erdkreis verwildert." Pestalozzi hat tiefer als irgendein Zeitgenosse empfunden, daß die Menschheit in eine Epoche eingetreten war, w o alle religiösen und sozialen Traditionen, die bisher die menschliche Gemeinschaft getragen hatten, am Erlöschen waren, wo nur noch eine bewußte Erneuerung aus dem sittlichen Kern des Menschen selbst vor dem Niedergang bewahren kann. „Wir kämpfen den Kampf des Ewigen, des Unveränderlichen, des Göttlichen, das in unserer Natur ist." In diesem Kampf war Pestalozzi befeuert von dem felsenfesten Glauben, daß auch im verkommensten Menschen der Funke des Göttlichen zur Flamme entfacht werden kann. „Es ist im Innern unserer Natur ein heiliges göttliches Wesen, durch dessen Bildung und Pflege der Mensch sich allein zu der innern Würde seiner Natur zu erheben, durch die er allein Mensch zu werden vermag."

Pestalozzis Idee der Menschenbildung

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Doch niemals begnügte sich Pestalozzi damit, menschliche Sittlichkeit zu fordern oder zu predigen. Das einzigartige seines Werks, seine eigenste, persönlichste Tat ist die, daß er eine praktische Methode suchte, nach der das Bewußtsein des „Göttlichen, das in unserer Natur ist",in jedemMenschen geweckt und für das Leben gefestigt werden kann. Für dieses Ziel hat er ein wahres Martyrium auf sich genommen. Die Gedanken und Ziele Pestalozzis sind nicht Ausgeburten der Studierstube, sondern Früchte eines unsäglich harten und qualvollen Lebens. Es bestand aus einer einzigen Kette von Enttäuschungen und Zusammenbrüchen. Als Jüngling hatte Pestalozzi dem Kreise Bodmers angehört. Er war der einzige unter den Altersgenossen, der auf der revolutionären Jugendgesinnung sein Leben aufbaute. Er tat dies jedoch nicht als politischer Revolutionär, sondern indem er unter Verzicht, auf eine bürgerliche Laufbahn nur der Aufgabe lebte, die er sich gestellt hatte. Ohne jede äußere Hilfe oder Vorbereitung, ganz aus sich selbst heraus und aus seinem intensiven Miterleben der Zeit suchte Pestalozzi die Wege zur Heilung des menschlichen Elends zu bahnen. Gerade die grausamen Niederlagen zwangen ihn dazu, immer neue Wege zu suchen und sich immer neu über seine Ziele klarzuwerden. Als Landwirt, als Armenerzieher, als Volksschriftsteller, als Waisenvater und Institutsleiter rang er unermüdlich darum, die Mittel zur Bewältigung der Zeitfragen zu entwickeln. Bis zu seinem fünfzigsten Jahr war er von aller Welt verkannt, ja verachtet wegen seiner eigenwilligen Lebensart. Erst im Angesicht des größten Elends, in Stans, ging ihm seine Grundidee auf: die Idee einer Menschenbildung, die das ganze Volk umfassen sollte. Hier, unter den verkommenen Opfern des Krieges, erlebte er, wie die K r a f t der Liebe auch in dem zum Tier herabgesunkenen Menschen den Funken des Göttlichen wieder zu erwecken vermag. Er schuf sich damit selbst den Erfahrungsbeweis für eine Wahrheit, die ihn von jeher belebt hatte: „Die Wahrheit der Natur, die Gott mit seinem ewigen Griffel in das Herz aller Menschen geschrieben, ist mit der Wahrheit der Religion und des Evangeliums in ewiger göttlicher Übereinstimmung." Eine Menschenbildung, die dem Menschen nicht fertige Formen aufpreßt, sondern den in ihm veranlagten Kräften zu voller und harmonischer Entfaltung verhilft, ist daher zugleich „die menschliche Kunst des Christentums selbst". Die ganze K r a f t Pestalozzis gehört seit Stans dem Ringen um diese „Kunst des Christentums", um eine der menschlichen Natur selbst abgelauschte Methode der Erziehung. Das Leiden und die wahrhaft heroische K r a f t des Vertrauens in die Sendung — nicht seiner Person, aber seiner 12*

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IV. 3. Pestalozzi

Idee — geben seinen Worten das Gepräge tiefster Wahrheit. Seine aus innerster N o t geschriebenen Werke ergriffen die Besten in ganz Europa und machten sein Erziehungsinstitut in Iferten (Yverdon), das er von 1804 bis 1825 leitete, zu einem Wallfahrtsort für die gebildete Welt. Pestalozzi verwirklicht in einer neuen Form, wie alle typischen Vertreter des eidgenössischen Geistes, das Urbild des Teil-Mythos. Er gibt sich voll und ganz der Aufgabe hin, welche die Zeit stellt. Aber die Antwort auf die Zeitfragen schöpft! er völlig voraussetzungslos aus seiner eigenen persönlichen Erfahrung. In seinen „Nachforschungen über den Gang der N a t u r in der Entwicklung des Menschengeschlechts" (1797) sagt er: „Ich kann und soll hier eigentlich nichts wissen und nichts suchen als die Wahrheit, die in mir selbst liegt." Denn seine ganze Lebensarbeit ist begleitet von der Uberzeugung: „Gottes Wille und das Edelste, Beste, das ich zu erschaffen vermag, ist ein und eben dasselbe." Was in der Teilsage mythisches Bild ist, erscheint bei Pestalozzi auf der Stufe bewußter Erkenntnis. Es ist die Erkenntnis, daß die einzige K r a f t , welche die menschliche Gemeinschaft zu tragen vermag, die sittliche K r a f t des einzelnen Menschen ist. Keiner wie er hat daher den Aberglauben bekämpft, daß das Heil vom Staate oder von der Kollektivität kommen könne. „Das Individuum, wie es dasteht vor Gott, vor seinem Nächsten und vor sich selber, von Wahrheit und Liebe in sich selber gegen Gott und den Nächsten ergriffen, ist die einzige reine Basis der wahren Veredlung der Menschennatur und der sie bezweckenden wahren Nationalkultur." Menschenbildung ist daher das einzige Mittel einer wahren Erneuerung der Gemeinschaft, sie ist die wahre Revolution, ohne sie bleiben alle sozialen und politischen Umwälzungen Stüdewerk. „Es ist für den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Weltteil keine Rettung möglich, als durch Erziehung, als durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durch die Menschenbildung." Denn: „In dem Grade, wie der Mensch sich selbst hochachtet, also liebt er auch seinen Nächsten, und so wie er ohne innere Achtung gegen sich selbst lebt, also haßt er auch den Nächsten . . . Selbstachtung ist also das wahre Mittel, das Menschengeschlecht zu vereinigen." Die Revolution Pestalozzis ist in dem Ruf enthalten: „Laßt uns Menschen werden, damit wir wieder Bürger, damit wir wieder Staaten werden können!" Nicht auf Gehorsam der Bürger ruht die K r a f t eines Staates und vor allem der Demokratie, sondern auf ihrem unbestechlichen Rechtssinn. „Hin bist du, N a m e Vaterland, . . . wenn idi ohne Interesse f ü r das öffentliche

Die Bedeutung von Pestalozzis Werk

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Recht und ohne Abneigung gegen das öffentliche Unrecht und gegen seine Quelle, die willkürliche Gewalt, in der bürgerlichen Gesellschaft lebe." „Die physische K r a f t ( = die S t a a t s m a c h t ) . . . ist nicht eigentlich der Staatssegen, sondern n u r . . . eine Grenzfestung im S t a a t . . . Die innere Staatsk r a f t . . . ist die individuelle s i t t l i c h e . . . K r a f t der Bürger selber." Den Ängstlichen, die sich vor der Freiheit des Volkes fürchten, ruft er zu: „Ich weiß gegen die Ausartung keiner einzigen menschlichen Tugend auf jeden Fall Mittel. Aber das weiß ich doch, daß keine K r a f t und keine Tugend in meiner Seele deswegen ausgelöscht werden soll, damit sie nicht ausarten könne/' V o n diesem menschlichen Standpunkt aus f a n d Pestalozzi auch die innere Freiheit, welche ihm ermöglichte, der Revolution vorurteilslos gegenüberzutreten und sowohl ihre Berechtigung zu erkennen, wie auch ihre Fehler zu durchschauen. „Ich sah die ganze Revolution von ihrem Ursprung an für eine einfache Folge der verwahrlosten Menschennatur an und achtete ihr Verderben für eine unausweichliche Notwendigkeit, um die verwilderten Menschen zur Besonnenheit über ihre wesentlichsten Angelegenheiten zurückzuführen." D a s Werk Pestalozzis ist die schweizerische Form einer europäischen Bewegung, die in Frankreich als politische Revolution, in Deutschland als idealistische Philosophie in Erscheinung trat. Ihren Inhalt könnte man mit dem Worte Pestalozzis umreißen: „Glaube an dich selbst, Mensch, glaube an den inneren Wert deines Wesens, so glaubst du an Gott und an die Unsterblichkeit." Auf Pestalozzis Erziehung zur Selbstachtung wies Fichte hin, als er ein Mittel suchte, Deutschland von der Unterjochung Napoleons zu befreien. U n d in der T a t , der arme Schweizer war der wahre Gegenspieler des Diktators im „Hochkampf Bonapartes mit dem besseren, edleren Wesen der Menschennatur". Für die Schweiz aber ist er etwas wie ein Schutzgeist, da er als erster und deutlicher als irgendein zweiter die N o t wendigkeit erkannte, daß die alte, natürliche Freiheit in eine neue und bewußte Freiheit übergeführt werden müsse, wenn die Menschheit an den Problemen der modernen Zeit nicht scheitern soll. Dasselbe Ziel wie Pestalozzi verfolgte mit ähnlicher Leidenschaft, aber von völlig anderen materiellen und geistigen Voraussetzungen aus Philipp Emanuel Fellenberg (1771—1841). Fellenberg entstammte einem angesehenen bernischen Patriziergeschlecht. Die Begeisterung f ü r die Freiheit und den Willen, alle seine K r ä f t e in den Dienst der Hebung des Volkswohls

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IV. 3. Pestalozzi

zu stellen, gaben ihm schon sein Elternhaus mit. Einzigartig aber ist die K r a f t der Selbstgestaltung, mit der er seinem Leben die vollendete Geschlossenheit der Form aufzwang. Mit fünfzehn Jahren nahm er seine Erziehung in die eigene Hand. Während zehn Jahren führte er das asketische Leben des "Wanderers und Lernenden, um Einblick zu bekommen in die Welt und die Menschheit in allen Erscheinungsformen, vom Leben der niedersten Stände bis in die Sphäre des philosophischen Denkens. Der entscheidende Wendepunkt wurde ihm wie Pestalozzi der Zusammenbruch von 1798. Er lehrte ihn die Unbeständigkeit aller äußeren Stützen kennen und führte ihn zum Entschluß, das Bild einer vollkommenen Welt im Kleinen als Keim einer Erneuerung der Gesellschaft aufzubauen. „Ich beschloß, auf eigenem Grund und Boden zum Besten des Landes die Fragen zu lösen, welche ich im Großen nicht lösen konnte." Er erwarb das verwahrloste Gut Hofwil und schuf dort in kürzester Zeit eine Musterlandwirtsdiaft, die letzte im Sinne der Agronomen des 18. Jahrhunderts. Der Landwirtschaftsbetrieb wurde die Grundlage eines Erziehungsstaates, der mit der Zeit alle Stufen von der Kleinkindererziehung bis zur Fürstenschule umfaßte. Berühmt wurde vor allem die von Johann Jakob Wehrli geleitete Armenschule. In der Schule für höhere Stände fanden sich Vertreter aller Völker. Auen Fürstensöhne erhielten dort ihre Erziehung. Die Anstalt entwickelte sich zu einem eigentlichen kleinen Königreich, das von Fellenberg fast ein halbes Jahrhundert mit unerbittlicher Willenskraft zusammengehalten wurde. Das Ziel des Unternehmens war, den Weg zur Lösung der sozialen Frage zu bahnen. Das enge Zusammenleben sollte sämtliche Stände, Völker und Religionen zum Gefühl gegenseitiger Achtung und gegenseitiger Unentbehrlichkeit erziehen. Hofwil hat Goethe das Vorbild für die pädagogische Provinz in Wilhelm Meister gegeben. Die Bedeutung Hofwils liegt darin, daß sich in dem Werk Fellenbergs alle Kulturbestrebungen und alle geistigen Strömungen des 18. Jahrhunderts wie in einem Brennpunkt sammeln und in praktische Lebensgestaltung übergeführt werden. Es vereinigten sich hier das Idyll des Landlebens mit der unerbittlichen Strenge des kategorischen Imperativs, die praktische Ausübung der religiösen Toleranz mit dem fast gewalttätigen Willen zur Menschenbeglückung. Fellenberg bietet das größte Beispiel jener schweizerischen Abart des aufgeklärten Despotismus, welcher noch aus der geistigen Überlegenheit des alten Patriziats heraus das Volk zur Mündigkeit heranziehen will und damit die Zeit des Liberalismus und der Demokratie her-

Fellenberg. — Umsturz von 1815

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aufführt. Pestalozzi sagte von Fellenberg: er „ist im eigentlichen Sinne ein königlicher Mensch. Er wird mit der Kraft des Helden unserer Zeit und in aller Höhe seines Geistes w i r k e n . . . Tausende werden gelüsten, Götter auf Erden zu werden wie er ist, aber es wird wenigen gelingen". Und Gotthelf in seinem Nachruf: „"Wohl selten fand der Tod einen, der so viel geschaffen, mit eiserner Kraft das Geschaffene erhalten und regiert hat wie Fellenberg. Er beugte die Natur seinem Willen. Der Morast mußte zur Wiese, wilder Boden zu fruchtbarem Felde werden. Wo er mit dem Fuß stampfte, schien ein Haus zu wachsen . . . Und wie er den Boden entsumpfte, wollte er die Menschheit entsumpfen." Durch Rousseau, durch Hofwil und durch die Schriften und die menschlichen Taten Pestalozzis wurde die Schweiz ein Mittelpunkt der pädagogischen Bestrebungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Dies ist vielleicht ihr bedeutendster Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte dieser Periode. 4. DIE R E S T A U R A T I O N

Die Jahre 1814/15 bedeuten für die Schweiz in mancher Beziehung einen Abschluß. Damals erhielt sie ihre heutigen Grenzen, ihre heutige Kantonseinteilung, die völkerrechtliche Anerkennung ihrer Neutralität. Der Ubergang von der napoleonischen Herrschaft zu der neuen Form ging in der Schweiz so wenig wie in Europa ohne heftige Auseinandersetzungen vonstatten. Nach der Schlacht bei Leipzig brachte die Tagsatzung den Mut auf, ihre Neutralität zu erklären. Da die Schweiz jedoch außerstande war, ihre Grenzen zu schützen, wurde sie von den Verbündeten nicht geachtet. Metternich, der Gegenspieler Napoleons und der führende Mann der folgenden Jahrzehnte, ging darauf aus, die Schweiz für dauernd dem österreichischen Einfluß zu unterwerfen. Als einige Berner Aristokraten die Verbündeten aufforderten, die Schweiz zu besetzen, gingen diese bereitwillig darauf ein. Gleichzeitig mit dem Einmarsch der Österreicher in Bern, am 23. Dezember 1813, übernahm dort die alte patrizische Regierung wieder die Gewalt. Alles während der Revolution Geschehene erklärte sie als unrechtmäßig. Auch in andern Kantonen wurde die alte Regierung, zum Teil durch Staatsstreich, wiederhergestellt. Die Tagsatzung erklärte die Mediationsakte für aufgehoben. Für eine Neuordnung aber fehlte jede Grundlage, vor allem die Einigkeit. Vom April 1814 bis August 1815 verhandelte die sogenannte lange Tagsatzung

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IV. 4. Die Restauration

in Zürich, bis sie zu einer Einigung kam. Der Bundesvertrag vom 7. August 1815 ließ alle Kantone der Mediationszeit unversehrt bestehen. Dazu traten nodi die drei ehemaligen Zugewandten Orte Wallis, Neuenburg und Genf, die sich von Frankreich wieder gelöst hatten. Bern wurde für den Verlust seiner Untertanen mit dem Gebiet des Bischofs von Basel, mit dem Berner J u r a entschädigt. Damit hatte die Schweiz ihre letzte Abrundung erhalten, und ihre Kantone hatten die heutige Zahl 22 erreicht. Der Bundesvertrag von 1815 ist die erste gesamtschweizerische Staatsordnung, die sich die Schweiz selbst gegeben hat. Im wesentlichen hatten sich die Tendenzen der alten Orte durchgesetzt. Die Souveränität blieb bei den Kantonen. Wie in den alten Bünden wurden die Orte verpflichtet, sich in Gefahr beizustehen und bei Streitigkeiten einem Schiedsgericht zu unterziehen. Die einzigen Bundesorgane waren die Tagsatzung, auf der jeder Kanton eine Stimme besaß, die Kanzlei und der sogenannte Vorort. An den drei Vororten Zürich, Bern und Luzern tagte in einem Turnus von je 2 Jahren die Tagsatzung. Der betreffende Ort führte in der Zwischenzeit die Geschäfte, und sein Oberhaupt hatte den Vorsitz an der Tagsatzung. Die Vollmachten, die der Landammann unter der Mediation gehabt, hatte, fielen fort. Das Schweizer Bürgerrecht, die Gewerbefreiheit, die Niederlassungsfreiheit, die Glaubensfreiheit waren im Bundesvertrag nicht mehr geschützt. Katholische Orte duldeten keine Reformierten mehr auf ihrem Boden. Es ist bezeichnend für den Glauben der Regierungen an die Ewigkeit ihrer Herrschaft, daß sie es unterließen, etwas über die Revision des Vertrages zu bestimmen. Spätere Änderungen konnten daher auf legalem Wege gar nicht durchgeführt werden. Doch sind gewisse Fortschritte gegenüber dem vorrevolutionären Zustand nicht zu verkennen. An die Stelle der verschiedenen Bündnisse w a r ein einziger Vertrag getreten, der alle 22 Kantone gleichmäßig umfaßte. Das Untertanenverhältnis blieb abgeschafft. Die Tagsatzung erhielt wirkliche Kompetenzen, besonders für Militärwesen und Außenpolitik. Sie erhielt das Recht, für die innere und äußere Sicherheit der Schweiz die nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Zu diesem Zwecke standen ihr eine Kasse und eine eidgenössische Armee zur Verfügung, die aus Kontingenten der Kantone zusammengesetzt war. Die Tagsatzung wurde so zum ersten Keim einer Zentralgewalt. Einen ähnlichen Charakter zeigt die Neuordnung in den Kantonen. Man hob die Verfassungen der Mediationszeit auf, ohne doch unbedingt zu

Bundesvertrag und Kantonsverfassungen 1815

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den vorrevolutionären Zuständen zurückzukehren. Nirgends wagten es die alten Herren, die übrige Bevölkerung ganz von der Mitregierung auszuschließen. In den Städtekantonen erhielten die bisherigen Untertanen, d. h. die Landbevölkerung, Vertreter in den Räten, wenn auch bei weitem nicht entsprechend ihrer zahlenmäßigen Bedeutung. — Am stärksten hielt sich die liberale und demokratische Idee in den neuen Kantonen. Denn diese verdankten ja ihre Enstehung der Revolution. Aber auch sie konnten sich dem allgemeinen Zuge der Zeit nicht entziehen. Auch sie schränkten die Demokratie ein, indem sie der Regierung große Autorität und lange Amtsdauer erteilten. Allerdings konnte in den neuen Kantonen keine alte Aristokratie die Gewalt ergreifen. Ihre Stelle nahm die Aristokratie des Besitzes und der Bildung ein, indem für das aktive wie für das passive Wahlrecht der Vermögenszensus, den schon die Mediation eingeführt hatte, beibehalten oder erhöht wurde. — Die Landsgemeindeorte stellten die auch durch die Mediationszeit kaum berührte alte Verfassung wieder her. Als Uri seine Verfassung in das Bundesarchiv niederlegen sollte, erklärte der Kanton 1820: „Daß wir zwar nie eine in Urkund geschriebene Verfassung unseres Kantons gehabt haben, daß aber durch Jahrhundert lange Übung und bestehende Gesetze dieselbe auf folgenden Grundsätzen v e r u h t : . . . " Es folgen in sechs Artikeln die Verfassungsbestimmungen, deren zweite lautet: „Die souveräne, oberste Gewalt steht der Landsgemeinde zu." Die Vertretung der Schweiz auf dem Wiener Kongreß, der Europa nach dem Sturze Napoleons neu zu ordnen hatte, entsprach völlig der zerfahrenen Situation im Innern. Nicht nur die Eidgenossenschaft, jeder einzelne Kanton, der etwas zu erreichen hoffte, schickte seinen Gesandten nach Wien. Den größten Erfolg erzielte die Genfer Abordnung unter Pictet de Rochemont. Durch seine staatsmännische Erfahrung und gesellschaftliche Gewandtheit wußte sich Pictet die Gunst der Großmächte zu gewinnen. Er erreichte eine Abrundung des Genfer Gebietes, das die Stadt in territoriale Verbindung mit der übrigen Schweiz brachte. Im 2. Pariser Frieden, nach dem endgültigen Sturz Napoleons, erhielt Genf dazu eine zollfreie Zone bis an den Jura, die bis heute besteht. — Die Regelung der Schweizer Verhältnisse wurde in die Wiener Schlußakte aufgenommen und erhielt damit völkerrechtliche Geltung. Der größte Erfolg des hervorragenden Staatsmannes Pictet aber war, daß er auf der 2. Pariser Friedenskonferenz die Großmächte zur Anerkennung der ewigen Neutralität der Schweiz zu bewegen vermochte. Die

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IV. 4. Die Restauration

Mächte unterzeichneten am 20. November 1815 ein von Pictet entworfenes Aktenstück, in dem sie anerkannten, „daß die Neutralität und Unverletzlichkeit der Schweiz und ihre Unabhängigkeit von jedem fremden Einfluß in den wahren Interessen der Politik ganz Europas liege". Der Wert der Formulierung liegt darin, daß der Schweiz keine Verpflichtungen auferlegt wurden, sondern daß sich umgekehrt Europa verpflichtete, die schweizerische Neutralität anzuerkennen. Nicht die Mächte schufen die Neutralität, die Schweiz selbst hatte sie geschaffen, und die Mächte anerkannten sie als konstitutives Element der europäischen Rechtsordnung. Noch nie hatte Europa innerhalb so kurzer Zeit eine so gewaltige Erschütterung erlebt wie in den 25 Jahren zwischen dem Ausbruch der Revolution und dem Sturze Napoleons. Mit welchen Hoffnungen hatten weite Kreise die Revolution begrüßt! Ein goldenes Zeitalter hatte man von ihr erwartet. Welche Enttäuschung war gefolgt! Nicht das irdische Paradies hatte die Revolution gebracht, sondern die Herrschaft der Guillotine, die unerhörte Despotie Napoleons, 20 Jahre Krieg und Elend. Die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, mit denen der ganze tolle Tanz sich beflaggt hatte, schienen den Enttäuschten nur noch ein verführerisches Blendwerk des Teufels zu sein, eine heuchlerische Maske, hinter der sich die dunkelsten Triebe der Herrschsucht und Zerstörungswut verbargen. Aus dieser Stimmung verstehen wir die Grundhaltung der auf Napoleon folgenden Epoche. „Nie wieder Revolution", „zurück zum Alten", war ihre Parole. Das Alte war doch besser gewesen. Zur Freiheit waren die Menschen nicht geschaffen. Sie mißbrauchten sie, sobald ihre Ketten zerrissen waren. Nicht mehr Freiheit schien das höchste Gut, sondern eine fest in der Tradition verankerte Autorität, die Frieden und Ordnung sicherte. Statt der illusionären Brüderlichkeit hatte die geplagte Menschheit eine väterliche Regierung nötig, unter deren Autorität sie wie seit dem Mittelalter ruhig dahindämmern konnte. Die Monarchen Europas schlössen am 18. November 1815 die „Heilige Allianz", in der sie gelobten, gemeinsam den Frieden Europas zu schützen und die revolutionären Kräfte im Bann zu halten, zugleich aber auch ihre Völker nach „christlichen Grundsätzen" „väterlich" zu betreuen. Auch die Schweiz trat 1817 der Heiligen Allianz bei. Auch hier war ja mit den „Patriziern" das Prinzip der „väterlichen" Regierung wieder eingekehrt. Die Epoche von 1815—1830 hat ihren Namen „Restauration" von einem Schweizer, Karl Ludwig von Haller (1768—1854). Sein Werk „Restauration der Staatswissenschaft" (6 Bände, 1816—25) gibt die theo-

Der Geist der Restauration

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retische Begründung der der Revolution entgegengesetzten Staatslehre. Mit aller Schärfe wendete sich Haller gegen die Lehre Rousseaus von der Volkssouveränität. Die alte Ordnung der autoritären Regierung und der ständisch gegliederten Gesellschaft begründete er aus ihrem natürlichen und geschichtlichen Ursprung. Ein allgemeines Naturgesetz ergebe, daß der Starke herrsche und der Schwache sich an ihn anlehne. Das Naturgesetz aber setzte er, wie die Denker des Mittelalters, der göttlichen Weltordnung gleich. "Weil die Obrigkeit den Staat geschaffen habe, sei sie auch dessen Eigentümer. Aus eigenem Recht herrsche die Regierung, nicht im Auftrage des Volkes, wie Rousseau meinte. Die offensichtliche Schwäche dieser Lehre liegt darin, daß sie dem Mächtigen das Recht zu herrschen gibt, aber zugleich das Alte als das Gute hinstellen will. Sie übersieht dabei, daß die Macht auch einmal einer neuen Kraft zufallen kann, wie etwa einer Revolutionspartei, wodurch diese dann nach demselben Prinzip das Recht zu herrschen erhielte. Wie in Rousseaus Lehre müssen wir auch in derjenigen Hallers das Berechtigte anerkennen. Er vertrat die Rechte des historisch Gewordenen gegenüber der abstrakten rationalistischen Theorie. Die Revolution verabscheute er, weil sie Einrichtungen zerstörte, in denen er die Weisheit der Geschichte verkörpert sah, der die Weisheit des einzelnen menschlichen Verstandes niemals gleichkommen könne. In seinen Ansichten ging er einig mit den führenden politischen Denkern der gegenrevolutionären Strömung: Edmund Burke in England, Joseph de Maistre in Frankreich, Adam Müller in Deutschland. Hallers Lehren fanden in dem ganzen konservativen Europa großen Anklang. In Preußen wurden sie sozusagen offizielle Staatslehre. Übrigens fuhr die Schweiz gar nicht schlecht mit der staatlichen Ordnung, welche die Restauration gebracht hatte. Die aristokratischen Regierungen stellten nicht nur die alte Staatsform soweit wie möglich wieder her, sie bewährten auch wieder ihr altes Pflichtbewußtsein. Wenn sich die ganze Staatsverwaltung wieder hinter verschlossenen Türen abwickelte wie im 18. Jahrhundert, so war darüber niemand unglücklich, denn die Patrizier regierten nach alter Sitte mit äußerster Sparsamkeit; die Kassen füllten sich wieder, der öffentliche Wohlstand nahm zu. Die Regierung bot wieder wie ehedem das Vorbild des soliden Hausvaters, und das sagte dem behäbigen Volke mehr zu als das fiebrige Planen und Schuldenmachen, das man an der modernen Regierung der Helvetik erlebt hatte. Die Aristokraten regierten wieder um der Ehre willen, nicht wegen der Besoldung. Denn diese trug

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IV. 4. Die Restauration

nichts ein. öffentliche Diskussion jedoch scheuten sie, nicht weil sie K r i t i k hätten fürchten müssen, sondern weil sie darin eine Beeinträchtigung ihres Ansehens sahen. Wie in g a n z Europa w a r auch in der Schweiz die Schere der Zensur ein Hauptregierungsmittel der Restauration. A u d i hier erwies sich die Dezentralisation der Schweiz als Element politischer Lebendigkeit und konkreter Freiheit. W e n n in einem K a n t o n die Zensur die Autoren zu stark beschnitt, waren sie sicher, f ü r ihre Artikel in irgendeinem anderen K a n t o n Abnahme zu finden. Zwei Blätter besonders waren bei freien Geistern beliebt wegen ihrer offenen Sprache und ihres Mutes: die „ N e u e A a r gauer Z e i t u n g " und die „Appenzeller Z e i t u n g " . Gegen ihre K r i t i k waren die Regierungen der anderen Kantone machtlos, weil der Bundesvertrag keine H a n d h a b e bot, um die Presse von Bundes wegen gleichmäßig zu überwachen. 5. DIE R E G E N E R A T I O N T r o t z der Vorzüge ihres idyllischen Daseins w a r der Restauration kein langes Leben beschieden. Weder der Bundesvertrag noch die Kantonsverfassungen genügten den Forderungen des neuen Jahrhunderts. In allen Ländern, welche die französische Revolution erreicht hatte, hatte sie als Erbschaft zwei Ideen hinterlassen, deren Verwirklichung sich auf die Dauer nirgends unterdrücken ließ. Die eine forderte Einheit und Freiheit der N a t i o n e n , die andere die Freiheit der Person und aus ihr hervorgehend eine demokratische Staatsordnung, in der jeder Mensch mitbestimmenden Anteil a m Schicksal des Staates hat. In Westeuropa w a r die erste Forderung gegenstandslos, d a die westeuropäischen N a t i o n e n seit Jahrhunderten in geschlossenen Monarchien geeint waren. Im Westen ging der K a m p f nur noch um die Erringung einer freieren S t a a t s f o r m . Die Schweiz aber hatte mit den Völkern Mitteleuropas, mit Deutschen und Italienern das Schicksal gemeinsam, daß sie im 19. Jahrhundert beide Probleme zugleich lösen mußte: Schaffung der politischen Einheit und Erneuerrng der Demokratie. D a die K r ä f t e und Ideen der Revolution noch überall lebendig waren, konnten sich die alten Mächte nicht einer gesicherten Herrschaft erfreuen. D i e Zeit der Restauration ist durch einen erbitterten A b w e h r k a m p f der alten Mächte gegen die Revolution gekennzeichnet. D e r bedeutendste und konsequenteste Vertreter der Restauration w a r der Fürst Metternich, der, so weit seine Macht reichte, jede Regung revolutionärer und freiheitlicher

Die Schweiz und Europa zur Zeit der Restauration

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Gedanken unterdrückte. Seine K a m p f m i t t e l waren die Zensur und ein raffiniert arbeitendes System der polizeilichen Überwachung. Wie die Polizei den einzelnen überwachte, so überwachten die monarchischen Großmächte gemeinsam die Völker Europas, um sich gemeinsam gegen neue Revolutionen zu schützen. Sie scheuten zu diesem Zwecke auch nicht vor militärischen Maßnahmen zurück. Wenn Metternich bei seiner Unterdrückungspolitik es hauptsächlich auf die Universitäten abgesehen hatte, so zeigt dies, daß er die Gefahr am richtigen Orte suchte. D a s Streben nach Erneuerung von Staat und Gesellschaft ging noch nicht von der breiten Masse aus, sondern von der obersten Schicht des wohlhabenden Bürgertums. Seit der Revolution waren wie überall in Europa neue Schichten der Bevölkerung zu Wohlstand und Bildung gelangt, die sich nicht mehr von der Mitregierung ausschließen ließen. Revolutionäre Gesinnung war noch das Privileg der kleinen Minderheit der Gebildeten. Die Motive der Neuerer und die Vorwürfe, welche sie gegen die bestehenden Mächte erhoben, waren von der mannigfaltigsten Art. A m meisten schadete der Restauration in den Augen der Neuerer, daß sie die nationale Geltung und Würde der Schweiz dem Auslande gegenüber nicht immer zu behaupten imstande war. A u d i die Schweiz bekam die Aufsicht der Großmächte zu spüren. Man nahm es ihr übel, daß sie nach ihrem alten, schönen Brauch politischen Flüchtlingen ein Asyl bot. Die Verfolgungen der deutschen Universitäten durch Metternich brachten manchen verfolgten Freiheitskämpfer in die Schweiz. Viele von ihnen wurden an Schulen und Universitäten angestellt und brachten dem geistigen Leben wertvolle Befruchtung. Die Großmächte indessen sahen in der Schweiz ein Nest von Verschwörern, wo verbrecherische Pläne gegen das legitime Europa ausgeheckt wurden. Ein wahres Kesseltreiben wurde zuweilen gegen sie veranstaltet, so nach der Niederlage der liberalen Erhebungen in Italien und Spanien. Unter der Drohung bewaffneter Intervention mußte die T a g satzung 1823 im „Fremden- und Preßkonklusum" den Kantonen Verschärfung der Zensur und der Bestimmungen gegen die Flüchtlinge empfehlen. Mehr als empfehlen konnte die Tagsatzung glücklicherweise nicht. D a s N e t z der Zentralgewalt war derart weit, daß die gefährdeten Flüchtlinge ohne Schwierigkeit durch die Maschen gingen. Dem Basler Professor K a r l Folien verhalfen seine Basler Freunde zur Flucht nach Amerika. Sein Bruder Ludwig „erkrankte" rechtzeitig in Aarau, so daß die Kantonsregierung aus

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IV. 5. Die Regeneration

humanitären Rücksichten seine Auslieferung verweigern konnte. Basel wagte sogar mit Erfolg, den Großmächten zu trotzen und Wilhelm Snell gegen sie zu schützen. Ein gewaltsames Eingreifen hinderte der liberale englische Minister Canning, der sich von der Politik der Heiligen Allianz abgewendet hatte. Es ist verständlich, wenn schweizerische Patrioten die Schwäche der Schweiz gegenüber den Großmächten als eine Schmach empfanden und nach Stärkung der Zentralgewalt riefen. Auch Handel und Gewerbe litten unter der Schwäche und Uneinigkeit der Schweiz und unter mangelnder Bewegungsfreiheit. Eine gemeinsame Zollpolitik z. B. erwies sich wegen des Kantonsegoismus als völlig undurchführbar. — Jedoch hatten diese Schwierigkeiten auch ihre positiven Auswirkungen: sie zwangen die Unternehmer zur Selbsthilfe. Die schweizerische Industrie bewährte im 19. Jahrhundert dieselbe Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit wie im 18. Mit größter Energie und Raschheit wurde die Einführung der Spinnmaschine betrieben. Aus den Reparaturwerkstätten der Firma Escher und Wyss in Zürich entstand bald eine erste schweizerische Maschinenfabrik. Aus dem gesteigerten Konkurrenzkampf aber ging die die Schweiz als Industrie- und Welthandelsmacht hervor. Doch gerade der Erfolg der Schweizer Industrie forderte eine Umgestaltung der politischen Verhältnisse. Die Industrie des Maschinenzeitalters verlangt nach gesteigertem Austausch. Alle Länder Europas setzten daher ihre Binnenzölle herab und vereinheitlichten Post, Maße, Gewichte und Währung. In der Schweiz aber geschah nichts derartiges. Die Postgebühren, welche die verschiedenen Kantone erhoben, machten einen Brief von Genf nach St. Gallen teurer als einen von Genf nach Konstantinopel. Uber 400 Zölle und Brückengelder erschwerten den Verkehr. Ein Reisehandbuch von 1837 berichtet: „Nicht nur jeder Kanton hat seine eigenen Maße und Gewichte, sondern oft auch jeder Bezirk, jede Stadt. Es soll in der Schweiz wenigstens 11 verschiedene Fuße, 60 Ellen, 20 Arten Flächenmaße . . . geben." Nicht besser stand es mit dem Münzwesen. Der wirtschaftliche Fortschritt forderte eine größere politische Vereinheitlichung der Schweiz, denn nur auf dem Wege einer einheitlichen Gesetzgebung konnten die zahllosen Hemmungen beseitigt werden, die das Wirtschaftsleben beeinträchtigten. Man würde jedoch fehlgehen, wenn man nur die materiellen Motive der Liberalen sehen würde. Noch war es die Idee der Freiheit, welche die Jugend begeisterte. Es war eine idealistische Generation, welche die Freiheit nicht ihrer materiellen Vorteile wegen forderte, sondern weil nur

Die liberale Bewegung

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sie der Menschenwürde entsprach, weil nur sie dem Menschen die Möglichkeit gab, alle seine Fähigkeiten voll zu entfalten und damit das Vollmaß seines eigenen Wesens erst kennenzulernen. Vor allem auf den deutschen Universitäten holten sich die Studenten bei den Verkündern der deutschen idealistischen Philosophie eine weitherzige Lebensauffassung, die sie zu Feinden jeder Art von Zwang und Unterdrückung madite. Audi lebten noch die Männer, welche die französische Revolution erlebt hatten und die in den Jahren des Umsturzes die Führer der Schweiz gewesen waren. Doch war der Schweizer Liberalismus weniger radikal als der deutsche und französische. Wieder sah man in der Schweiz das Heil nicht in völligem Umsturz oder in der Nachahmung des Auslandes, sondern in der natürlichen Fortentwicklung der eigenen Formen. Die Schweizer Liberalen brauchten sich bei ihren Freiheitsforderungen nicht auf ausländische Vorbilder zu berufen. Sie konnten sich an die eigene Tradition halten. Die liberale Bewegung erstrebte auch nicht nur eine politische Erneuerung, sondern einen allgemeinen menschlichen Fortschritt. Zu ihren Zielen gehörte eine umfassende Volksbildung, die der Demokratie ihre Grundlage geben sollte. Die Träger der Bewegung entstammten meist dem mittleren Bürgertum und den bisher zurückgesetzten Kleinstädten. Es waren Advokaten, Ärzte, Pfarrer, Professoren, auch etwa Müller und andere Dorfgrößen. Die Vorrechte der Patrizier und der Besitzenden schienen ihnen etwas Menschenunwürdiges, Unvernünftiges, das der alten Schweizer Freiheit widerspreche. Mit rücksichtsloser Offenheit kämpften sie für ihre heilige Sache. Die Bewegung hatte etwas Jugendfrisches und Hinreißendes. Es war ein Kampf der Weltanschauung, der hier zwischen den Konservativen und den Liberalen entbrannte. Der Liberalismus glaubte an die Fähigkeit und das Recht des Menschen, sich selbst zu bestimmen, an den unendlichen Fortschritt, den keine bestehende Regierung das Recht habe zu hemmen. Den Standpunkt der Aristokratie hat am wirkungsvollsten der Berner Pfarrer Jakob Kuhn vertreten, wenn er sagte: „Ihr glaubt doch alle, daß zu einem Landesregenten besondere Kenntnisse, Klugheit und Erfahrung nötig sind. Also muß man nicht fragen: Wo sind mehr Köpfe (womit er auf das demokratische Prinzip der Mehrheitsbeschlüsse anspielt), sondern: Wo ist mehr Kenntnis in den Köpfen?" „Einverstanden", hätte ein Liberaler darauf antworten können, „aber wer beweist mir, daß diese Kenntnis nur in den Köpfen der Aristokraten zu finden ist? Versuchen wir es doch einmal mit der Demokratie, und ihr werdet staunen, welche Kräfte plötzlich aus dem

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IV. 5. Die Regeneration

Volke hervorwachsen werden, die euer altmodisches Regiment gar nicht sich hat entwickeln lassen." Das war es ja eben. Nicht daß die alten Familien schlecht regierten, warf man ihnen vor, sondern daß sie glaubten, allein zur Regierung fähig zu sein und niemand anders zuließen, daß sie das Volk und damit auch die gebildeten Bürger wie unmündige Kinder bevormundeten. Bevormundung aber konnte ein Volk nicht mehr ertragen, das die französische Revolution erlebt hatte. Die Begeisterung für Freiheit und Fortschritt fand, da sie offiziell keine Wirkungsmöglichkeit hatte, die typisch schweizerische Ausdrucksform des Vereins. Der Verein w a r die Vorform der Partei. Wie in Deutschland bildeten sich auch in der Schweiz Studentenverbindungen, die den ausdrücklichen Zweck hatten, für Freiheit und Vaterland einzustehen. In großen Festveranstaltungen der allgemein schweizerischen Vereine kam mehr eidgenössischer Geist zur Geltung als in dem langweiligen Getriebe der Regierungen. — Einen innigen Anteil nahmen die Schweizer Liberalen an der Sache der verfolgten Deutschen und Polen und besonders an dem Freiheitskampf der Griechen. Wenn man schon zu Hause nichts für die Sache der Freiheit tun konnte, so nahm man sich mit um so größerer Liebe der Gesinnungsfreunde im Ausland an. Große Summen, zum Teil aus den ärmsten Haushaltungen, wurden für die Griechen zusammengebracht. Auch Freiwillige nahmen an ihrem Aufstand gegen das Türkenjoch teil. In diese Stimmung schlug Ende Juli 1830 wie ein Blitz die Nachricht von der Revolution in Paris ein. Die Pariser hatten den reaktionären König Karl X . in blutigen Straßenschlachten zur Abdankung gezwungen und durdi den Bürgerkönig Louis-Philippe ersetzt. Das französische Beispiel brachte die Lawine ins Rollen. In Belgien, Italien, Polen, in einigen deutschen Fürstentümern und auch in der Schweiz gab es den Anstoß zur Erhebung. Die Bewegung von 1830/31, in der Schweiz Regeneration, d.h. Erneuerung genannt, ergriff vor allem die großen Kantone des Flachlandes. Sie nahm überall einen ähnlichen Verlauf. Die Freiheitsfreunde begannen damit, daß sie die Forderungen der Unzufriedenen in Bittschriften zusammenstellten, die sie dann der Regierung übersandten. Diese Bittschriften enthielten zwei Gruppen von Forderungen: Erstens verlangten sie eine gleichmäßige Verteilung der politischen Rechte, d.h. Beseitigung der Vorrechte von Hauptstadt und Besitz. Die Regierung sollte nicht mehr in unnahbarer Höhe thronen, sondern dem Volke verantwortlich sein. Die zweite Gruppe von Forderungen betraf die Freiheit der Person. Die Freiheit des

i j. G. Keller, Porträt

von KS

taufer

. Henri Da four, Porträt

von Farns

Der Sieg des Liberalismus 1830/31

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Glaubens, des Gewerbes und des Handels, der Versammlung und der Vereinsbildung, der Presse und der Meinung sollte gewährleistet, der einzelne auch vor Ubergriffen des Staates geschützt werden. Daher die Forderung nach Trennung der Gewalten. Diese Bittschriften führten aber nirgends zum Ziel. Die Regierungen zauderten und machten Miene, die Sache zu verschleppen. So mußten die Liberalen mit gröberem Geschütz auffahren. Sie griffen zu dem gewagten Mittel der Volksversammlung. Für die Verfechter der Volkssouveränität war es nur natürlich, daß sie an den „Souverän" selbst appellierten. Mit großem Geschick wurden in vielen Kantonen diese Volkstage organisiert. Nicht geringer als das Organisationstalent war der persönliche Mut der Führer, denn die Versammlungsfreiheit bestand ja noch nicht. Eine besondere Achtung aber nötigen uns diese ersten Äußerungen der modernen Demokratie ab durch die Disziplin, mit der die Volksversammlungen durchgeführt wurden. Kein Ruf nach Gewaltsamkeit wurde laut. In Ruhe und ohne billige Schmähungen brachten die Redner ihre Beschwerden gegen die Regierung vor. In ernster und würdevoller Haltung, entblößten Hauptes, hörte das Volk zu. Nachdem die Bittschriften eine große Anzahl Unterschriften erhalten hatten, lösten sich die Versammlungen in Ordnung auf, und das Volk zog, Freiheitslieder singend, nach Hause. Nicht die großen Massen haben die Revolution von 1830 gewollt, sondern einige wenige Männer aus den Kreisen des gebildeten Bürgertums. Im Thurgau war es der Pfarrer Bornhauser, im Kanton Bern die Brüder Schnell von Burgdorf, im Kanton Waadt der Advokat Henri Druey. Die Bittschrift des Zürcher Volkes an die Regierung war von dem deutschen Arzte Ludwig Snell verfaßt worden. Die bedeutendste der vielen Volksversammlungen, diejenige des Zürcher Landvolkes in Uster, war geleitet von dem Müller Heinrich Guyer und dem Arzt Johann Hegetschweiler, der seine Rede mit den Schillerworten begann: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei und würd' er in Ketten geboren!"' Diese Männer und ihre Gesinnungsgenossen haben die Masse durch ihr Wort und ihren Rat erst in Bewegung gesetzt. Ihnen ist die energische und disziplinierte Durchführung der Umwälzung zu verdanken. Unter dem Druck der laut gewordenen öffentlichen Meinung gaben die 13

Wartburg, Schweiz

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IV. 5. Die Regeneration

Regierungen in Bern, Zürich, Luzern, Solothurn und St. Gallen nach und bestellten einen Verfassungsrat, der die neue Verfassung auszuarbeiten hatte. Es gab aber Regierungen, welche hofften, durch Verzögerung einer Reform entgehen zu können. Dort mußte noch ein dritter Akt in das Drama eingeschaltet werden, um es zu Ende zu führen. In den Kantonen Aargau, Waadt, Basel, Schaffhausen und Freiburg lenkte die Regierung erst ein, als die revolutionären Führer die Volksmassen bewaffnet gegen die Hauptstadt führten. Audi diese Truppen hielten sich tadellos; so begnügte sich der Anführer der Aargauer Bauern, nachdem er die Hauptstadt besetzt hatte, damit, die Einberufung des großen Rates und die Wahl eines Verfassungsrates zu verlangen. Dann zog er sidi nach Lenzburg zurück, um jeden Anschein des Terrors zu vermeiden. Plünderungen oder sonstige Ausschreitungen kamen bei seinen Truppen nicht vor. Im Gegenteil, die Wirte der Hauptstadt machten mit den einquartierten Aufständischen die besten Geschäfte. — In Freiburg konnte allerdings nur das persönliche Dazwischentreten des Schultheißen eine Schießerei verhindern. Am schmerzlichsten wurde der Umsturz von den ehemaligen Herren in Basel und Bern empfunden. Als die bernische Patrizierregierung durch eine Volksversammlung zum Rücktritt gezwungen wurde, hielt sie sich selbst in ihrer Abdankungsurkunde einen Nachruf, der in seinem würdevollen Ton ganz dem patriarchalischen Stil der bisherigen Regierung entsprach. „Nach dem Beispiel unserer Vorfahren, die nun in Gott ruhen, haben wir uns bestrebt, die Verwaltung gewissenhaft und zum Besten von Stadt und Land zu führen. Unsere Kraft lag im Zutrauen des Volkes. Allein in letzter Zeit haben sich die meisten Gemüter uns e n t f r e m d e t . . . Mit tiefer Wehmut mußten wir erkennen, daß wir das Vertrauen nicht mehr herstellen konnten. Darum verzichten wir hiermit auf unser Recht, die neue Verfassung selbst zu beraten." — Die Urkunde gibt ein treues Bild der Lage. Das bernische Patriziat hatte jahrhundertelang den Staat geleitet und sich nur auf das Vertrauen des Volkes stützen können. Die letzte Ursache dafür, daß sich „die Gemüter ihm entfremdeten", war die seit der Revolution gründlich veränderte Struktur des Staates. Im alten Staate, wie er vor der französischen Revolution bestanden hatte, hatten die Herrschaftsrechte der Hauptstadt und des Patriziats ihre innere Berechtigung gefunden. Dieser Staat war zusammengesetzt aus einer Vielheit ländlicher und städtischer Korporationen. Das Herrschaftsrecht des Patriziats unterschied sich von den mannigfaltigen Vorrechten der Korporationen nicht dem Wesen, sondern

Der Umsturz in Bern und Basel

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nur dem Umfang nach. Die Revolution aber hatte die Kantone zu Einheitsstaaten mit gleichmäßiger allgemeiner Landesgesetzgebung umgestaltet, und auch die Restauration hatte diese Entwicklung nicht mehr rüdegängig machen können. Als bei steigender Bildung des Volkes auch die Ansprüche sich steigerten, mußten diese notwendig den Rahmen der Gemeinde überschreiten und sich auf die Mitwirkung an der Gesetzgebung des Gesamtstaates richten. So teilt das Patriziat das Schicksal der französischen Monarchie, die ebenfalls als Krönung mannigfaltiger Ständevorrechte ihre innere Berechtigung gehabt, diese aber mit der Einführung des Einheitsstaates und der Rechtsgleichheit verloren hatte. So wenig wie die französische Monarchie hatte das Patriziat nach dem Sturze Napoleons auf die Dauer wieder Wurzeln fassen können. Basel war der einzige Ort, an dem die Revolution zum blutigen Bürgerkrieg zwischen Stadt und Land ausartete. Die Tagsatzung mußte 1833 zur Trennung des Kantons in zwei Halbkantone schreiten. Doch wurde diese Trennung mit unnötiger Härte für die Stadt durchgeführt. Die Mehrheit der Orte war liberal geworden und nützte ihre Macht zu einem wahren Vergewaltigungs- und Racheakt gegenüber dem konservativen Basel aus. Nicht nur das Territorium des Kantons, auch sein Staatsvermögen wurde geteilt, und zwar nach gleichen Teilen, obwohl die Stadt einen unvergleichlich größeren Anteil an dessen Zustandekommen gehabt hatte. Die sinnloseste Maßnahme war wohl die Teilung des Universitätsvermögens. Dies war ein Schlag gegen die alte Universität selbst. Es ist nur der privaten finanziellen Hilfe einzelner Basler zu verdanken, wenn die älteste Universität der Schweiz damals nicht zusammenbrach. Neben Unterwaiden und Appenzell war damit ein dritter Doppelkanton entstanden. Wie die beiden Unterwaiden und die beiden Appenzell, so sind auch die beiden Basel (genannt Basel-Stadt und Basel-Land) im Innern völlig selbständig. Gegenüber der Eidgenossenschaft gelten aber alle drei Doppelkantone nur als je ein Kanton. Ihre Stimme zählt auf der Tagsatzung nur, wenn die zwei Gemeinwesen desselben Namens einig waren. Die neuen Kantonsverfassungen entsprachen den in den Bittschriften enthaltenen Forderungen: Die Volkssouveränität wurde zum obersten Grundsatz erhoben. Die politische Rechtsgleichheit wurde fast vollständig durchgeführt. Nur in einzelnen Kantonen behielten die Hauptstädte oder gewisse Landesteile geringe Vorrechte, die aber im Laufe des folgenden Jahrzehnts verschwanden. Die Verhandlungen der Räte wurden öffentlich, 13*

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IV. 5. Die Regeneration

die Regierungen der Volksvertretung verantwortlich. Die neuen Staaten waren jedoch noch nicht absolute, sondern repräsentative Demokratien. Zur unmittelbaren Mitregierung hielten die liberalen Führer der Regeneration das Volk noch nicht für reif genug. Die Rechte des Volkes waren: Abstimmung über die Verfassung und Wahl des Großen Rates; an der Gesetzgebung erhielt es noch keinen direkten Anteil; diese lag ausschließlich in der Befugnis der Großen Räte. Der Große Rat, die Volksvertretung, wurde die politisch entscheidende Instanz — bisher war es der Kleine Rat, die Regierung, gewesen. Diese war nun verpflichtet, Interpellationen aus dem Großen Rat zu beantworten. Der Große Rat konnte aus eigener Initiative Gesetze erlassen, an die sich die Regierung zu halten hatte. Die Regierung erhielt so einen ganz anderen Charakter als in der Zeit der Restauration. Während sie vorher im eigentlichen Sinne geherrscht hatte, sank sie jetzt zu einem Kollegium von beaufsichtigten Beamten herab. Die Führer der Parteien, welche den Großen Rat beherrschten, wurden jetzt die mächtigsten Männer. Die Regeneration brachte nicht eine neue ruhige „goldene" Zeit, sondern einen frischen, leidenschaftlichen politischen Kampf. Parteien und Personen wechselten rasch, es fehlte nicht an persönlichen Verfolgungen. Fühlbarer als die Staatsveränderung war für den einzelnen die Gewinnung der persönlichen Freiheit. Handels- und Gewerbefreiheit brachten einen frischen Zug in das Wirtschaftsleben; die Ablösung der Feudallasten wurde nun energisch zu Ende geführt; die Pressefreiheit gab jedem, der sich dazu berufen fühlte, die Möglichkeit, öffentlich zu wirken. Zum Zeichen, daß es mit den Vorrechten der alten Stände endgültig vorbei sei, begannen die Hauptstädte, ihre alten Tore und Mauern einzureißen. Der Landbewohner konnte jetzt bei Tag und bei Nacht frei in der Stadt aus- und eingehen — zum Entsetzen vieler konservativer Städter. Die dauerndste Leistung hat die Regeneration wohl auf dem Gebiete der öffentlichen Erziehung vollbracht. Das Volksschulwesen mußte fast von Grund auf neu geschaffen werden. Die neuen Regierungen führten die allgemeine Schulpflicht ein und gründeten Seminare zur Ausbildung der Lehrer. Zürich (1833) und Bern (1834) wagten sogar die Errichtung einer Universität. Diese großzügige Förderung des Erziehungswesens entsprach dem liberalen Grundsatz, daß Bildung von Geist und Charakter die Grundlage jedes Fortschrittes sein müsse. Und Fortschritt war es ja, was man mit jugendlichem Idealismus erstrebte. Die neue Erziehung, von der Volksschule bis zur Universität, war als Pflanzstätte der liberalen Weltanschauung

Auswirkungen der Regeneration

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gedacht. D i e ersten Professoren der neuen Universitäten waren vielfach deutsche Flüchtlinge. Die Bewegung der Regeneration hatte n u r die größeren Kantone des Tieflandes erfaßt. E t w a die H ä l f t e , v o r allem die kleinen Bergkantone, waren v o n ihr unberührt geblieben. In den sechs Kantonen Uri, Schwyz, Unterwaiden, Glarus, Zug und Appenzell bestanden immer noch die aus der urgermanischen Zeit stammenden Landsgemeindedemokratien, so daß hier eine demokratische R e f o r m ohnehin überflüssig w a r . I n diesen Kantonen liegt die oberste Gewalt in den Händen der Volksversammlung, die einmal jährlich auf offenem Platze zusammentritt. Die feierliche F o r m der Eröffnung bringt den Teilnehmern ihre Verantwortung zum Bewußtsein und bildet ein ernstes psychologisches Hindernis f ü r alle Versuche demagogischer Verhetzung. Ein besonders schöner Brauch besteht in Glarus, w o die noch nidit stimmfähigen jungen Männer den Verhandlungen beiwohnen und von ihren V ä t e r n lernen, wie sie sich ihrer Freiheit und Verantwortung würdig z u erweisen haben. Die Landsgemeinde wurde in den Kantonen Sdiwyz und Zug 1 8 4 8 aufgehoben, 1 9 2 8 auch in U r i . D a die Kantone Appenzell und Unterwaiden in je zwei Halbkantone geteilt sind, bestehen heute in der Schweiz noch fünf Landsgemeindekantone.

6. DIE G R Ü N D U N G DES BUNDESSTAATES Von den zwei politischen Problemen der Schweiz hatte die Regeneration erst eines gelöst: Die Revision der Kantonsverfassungen.

Das Ziel der

Liberalen blieb aber die Revision des gesamten Bundes im Sinne einer stärkeren Zentralisierung. Zahlreiche Volksversammlungen verfaßten Zuschriften an die Tagsatzung, in denen die Bundesrevision verlangt wurde. Es zeigte sich jedoch, daß an ein baldiges Ergebnis nicht zu denken w a r . Die Kantone, welche die Umwälzung der J a h r e 1 8 3 0 / 3 1 nicht mitgemacht hatten, v o r allem die kleinen katholischen Bergkantone, widersetzten sich jeder Änderung, vorläufig mit Erfolg. Eine Zentralisierung der Schweiz war, wie wir im letzten Kapitel gezeigt haben, in den Augen aller k l a r Sehenden eine unbedingte Notwendigkeit. Doch haben auch die Motive der kleinen K a n t o n e ihre innere Berechtigung. W a s sie z u Feinden der Zentralisierung machte, w a r einmal der natürliche Konservativismus des Bergbewohners, der sich schon in der Zeit der R e f o r -

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IV. 6. Die Gründung des Bundesstaates

mation gezeigt hatte. Für die Innerschweizer hatte die alte Eidgenossenschaft etwas Ehrwürdiges. Sie hatten sie ja geschaffen, und sie hatten sie am tapfersten verteidigt beim Einfall der Franzosen. Mit Erbitterung dachten sie an die Zeit der Helvetik zurück, wo ihre Landsgemeinden abgeschafft waren, der Landmann das Recht verloren hatte, selbst seine Obrigkeit zu wählen und Beschlüsse zu fassen, wo alles von der Hauptstadt aus befohlen wurde. Gegen jede Stärkung der Zentralgewalt waren sie daher mißtrauisch. Auch fehlte hier die Industrie und damit das materielle Bedürfnis nach Einheit, im Gegenteil: die Alpenkantone profitierten an den Zöllen der Alpenstraßen. Mit Erbitterung bekämpften sie vor allem den liberalen Grundsatz der freien Niederlassung. Sie erblickten darin eine Gefahr für ihre hergebrachte Religion und für die innere Geschlossenheit ihrer alten Gemeinwesen. Man kann den inneren Orten die Berechtigung ihres Standpunktes nicht absprechen. Sie vertraten in Wirklichkeit die ursprüngliche Idee der Eidgenossenschaft. Der Bund hatte ja bei seiner Gründung nur den Zweck gehabt, die Freiheit der einzelnen Orte zu schützen. Ebensowenig wie sich die Innerschweizer den habsburgischen Vögten unterworfen hatten, wollten sie sich jetzt einer schweizerischen Zentralregierung unterwerfen. Ihr höchstes Gut war ihre jahrhundertealte Selbstverwaltung und Freiheit. — Doch wird durch diese Argumente das Ziel der Vereinheitlichung nicht entwertet. Als loser Staatenbund hätte die Schweiz wohl das 20. Jahrhundert nicht mehr erlebt. Die Zeit forderte die Zentralisierung. Die große Aufgabe war, eine lebensfähige Vermittlung der Ansprüche beider Seiten herbeizuführen, mit andern Worten: Schaffung einer starken und handlungsfähigen Zentral gewalt, ohne die berechtigte Selbständigkeit der Kantone zu vernichten. Dem 1830 siegreichen Liberalismus war es nicht gelungen, die Bundesrevision zu erzwingen. Erst der Ende der dreißiger Jahre sich von ihm ablösende Radikalismus brachte die dazu notwendige Stoßkraft auf. Die Grenze zwischen den beiden Richtungen ist nicht scharf zu ziehen. Der Radikalismus ist als Volksbewegung ein Ergebnis der liberalen Erziehungspolitik. Diese trug das liberale Ideengut der Aufklärung in weitere Kreise des Volkes und machte die junge Generation mit dem Gedanken vertraut, daß nicht Beharren, sondern Bewegung der normale Zustand des Lebens sei. Dem Liberalismus und Radikalismus gemeinsam waren die Ideen von Freiheit, Demokratie, Fortschritt, der Anspruch auf das irdische Glück, das Vertrauen in die menschliche Vernunft. Der Liberalismus aber war aus-

Föderalismus und Zentralismus. Die radikale Bewegung

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gesprochen individualistisch. Im Glauben an die Güte des Menschen erhoffte er den Fortschritt vom uneingeschränkten freien Wettbewerb auf allen Gebieten des Lebens. Als Aufgabe des Staates galt ihm lediglich Schutz von Recht und Freiheit; das Leben selbst sollte staatsfrei und der Verantwortung des einzelnen überlassen bleiben. Ideell stützte er sich auf die humanitäre Philosophie Voltaires, auf die Menschenrechte und den deutschen Idealismus. Seine Führer waren eine ausgesprochene Aristokratie der Tatkraft und der Bildung. Ihrem Temperament und ihrer Uberzeugung entsprach es, auch den Gegner als Menschen gelten zu lassen und sich in der Politik an die Wege der Legalität zu halten. Der Radikalismus nun steigert die liberale Gesinnung zu einem Fanatismus, der entschlossen ist zur „radikalen" Vernichtung des Gegners. Zugleich verschiebt er das Schwergewicht auf die Idee der Volkssouveränität. Nicht vom Wettbewerb freier Individuen, sondern vom allmächtigen und sozial verantwortlichen Volksstaat erwartet er den Fortschritt. Der Wille des Volkes ist ihm oberstes Gesetz, unmittelbare Volksherrschaft sein Ziel. Sein politisches Pathos ist dasjenige Rousseaus. Die klarste Gegenüberstellung von liberaler und radikaler Gesinnung geben die Worte des Waadtländers Henri Druey: „Der Radikalismus . . . spricht dem Volke das Recht zu, seine Souveränität jeden Augenblick auszuüben, wie es will. Sein Wille kann durch die Verfassung nicht gebunden werden, da die Verfassung selbst nur Ausfluß seines Willens i s t . . . Der Liberalismus dagegen läßt die Beauftragten des Volkes ( = die Behörden) sagen: der Staat bin ich, und stellt damit die Beauftragten über das auftraggebende V o l k . . . Er will die Regierung den Fähigen g e b e n . . . er will die Regierung der B e s t e n . . . Der Radikalismus aber zieht die Regierung aller vor . . . Denn der Instinkt der Massen geht sicherer, wo es sich um das Allgemeinwohl handelt, als der Stolz der Gebildeten." Der schweizerische Radikalismus ist eine Teilerscheinung einer Bewegung, die ganz Europa erfaßte: als junges Deutschland und junges Italien, als französischer Republikanismus und englischer Radikalismus. Seine weltanschauliche Grundlage war der zur Religion erhobene Materialismus des 19. Jahrhunderts. Den Grundton radikaler Gesinnung geben die Worte Feuerbachs: „Die Aufhebung eines besseren Jenseits im Himmel schließt die Forderung in sich: es soll, es muß besser werden auf der E r d e . . . Wenn wir nicht mehr ein besseres Leben glauben, sondern wollen, aber nicht vereinzelt, sondern mit vereinten Kräften wollen, so

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IV. 6. Die Gründung des Bundesstaates

werden wir auch ein besseres Leben schaffen." Die ganze Leidenschaft des Radikalismus richtete sich daher gegen Kirche und Religion. Der „Aberglaube" — worunter der Radikalismus alles verstand, was religiöser Glaube war — schien ihm der größte Feind des Fortschritts. Wo es um seine Ziele ging, scheute er auch vor Gewalt und Rechtsbruch nicht zurück. Die Bewegung war in ihrem Ungestüm eine Mischung von jugendlichem Idealismus, von unreifer Halbbildung und von urschweizerischem Draufgängertum. Es war eine Erhebung der jungen Generation gegen die Mäßigung und Zaghaftigkeit des älteren Liberalismus. Sie verpolitisierte für ein Jahrzehnt das ganze Leben des Volkes. Jedes Schützenfest wurde zur politischen Kundgebung, jeder Mensch wurde daraufhin geprüft und danach gewertet, welcher Partei er angehöre. Die ganze Periode war erfüllt von Gewalttat, Demagogie, „Putschen", Staatsstreichen. Die Rücksichtslosigkeit des Radikalismus forderte nicht nur den Widerstand der Katholiken heraus, sondern auch denjenigen der gläubigen Reformierten und aller derjenigen Liberalen, die auch in politischen Fragen nicht vom Wege des Rechts abgehen wollten. Ihnen erschien das radikale Draufgängertum als Zerstörung aller göttlichen und menschlichen Ordnung. Die schärfste Verurteilung hat der Radikalismus wohl aus der Feder Jeremias Gotthelfs erhalten: „Das bezeichnende M e r k m a l . . . der radikalen Politik ist, daß dieselbe sich in alle Lebensverhältnisse aller Stände drängt, das Heiligtum der Familien verwüstet, alle christlichen Elemente zersetzt. Wo man im Hause den Fuß absetzt, tritt man auf diese Schlange, diese Landplage E u r o p a s . . . Dieselbe ist eigentlich keine Politik, sondern eine eigene Lebens- und Weltanschauung, die alle Verhältnisse umfaßt, der ganzen Menschheit sich bemächtigen w i l l . . . Von Fanatismus, welcher den Sektierern eigen ist, werden ihre Anhänger getrieben. Ihre Parole ist vorwärts, Fortschritt, ihr Feldgeschrei Freiheit. Wo ist je bei einer Sekte Freiheit? Ist das Leugnen einer höheren Welt, das Wandeln im Fleische, das Beißen und Fressen untereinander Fortschritt, vorwärts?" Den ersten Rückschlag erlebte die Bewegung im Kanton Zürich. Das Volk war unzufrieden darüber, daß der Fortschritt mit höheren Steuern bezahlt werden mußte. Den Anlaß zur Erhebung aber gab dem noch kirchengläubigen Volke die unkirchliche Erziehungspolitik der Regierung. Als die liberale Regierung den Begründer der kritischen Theologie, David Strauß, als Theologieprofessor an die Universität berufen wollte, wurde sie durch den blutigen „Zürichputsch" gestürzt.

Zusammenstoß der radikalen und der konservativen Volksbewegungen

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Der Radikalismus traf nun nicht mehr wie der Liberalismus von 1830 auf ein bereits veraltetes System, das reif war zum Verschwinden. Auch auf der Gegenseite hatte sich die politische Leidenschaft der Massen bemächtigt. Dem fanatischen Radikalismus stellte sich ein fanatischer Katholizismus entgegen. D a der Radikalismus sich zum Vorkämpfer der Bundesrevision erhob, verquickte sich die Frage der Bundesreform mit derjenigen der Weltanschauung. Als die antireligiöse, ja, atheistische Tendenz der Radikalen immer stärker zutage trat, begannen die Katholiken der inneren Orte für ihre Religion zu fürchten, und sie sammelten sich zu entschlossenem Widerstand gegen jede Neuerung, denn von einem Siege des Radikalismus erwarteten sie — anfangs wohl mit Recht — das Schlimmste. Nicht privilegierte Stände, wie in anderen Staaten, waren in der Innerschweiz „konservativ", sondern die breite Masse des Landvolkes. So konnte 1841 der im Vergleich mit Europa paradoxe Zustand eintreten, daß Luzern nach einem Wahlsiege der Konservativen die demokratischste Verfassung unter den größeren Kantonen erhielt — die es dem Papste schickte, um für sie seinen Segen zu erbitten — und gleichzeitig der Kirche die größten Vorrechte, wie die Aufsicht über die gesamte Volkserziehung, einräumte. Die Leiter der luzernisdien Politik, Bernhard Meyer und Konstantin Siegwart-Müller wurden zugleich die Leiter der ganzen konservativen Schweiz und die verhaßtesten Feinde der Radikalen. Der populärste und der mächtigste Parteiführer war der Bauer und Viehhändler Joseph Leu. Sein Leben war der Bauernschaft Vorbild. Strengste Frömmigkeit verband sich in ihm mit Lebenstüchtigkeit und kräftigem, volkstümlichen Humor. Alle Tage besuchte er die Messe, am Abend erklärte er den Hausgenossen die Bibel. Eine jährliche Wallfahrt nach Einsiedeln gehörte zu den Bräuchen seiner Familie. So sehr er es verstand, auf dem Viehmarkt seinen Nutzen zu wahren, so haben doch auch seine grimmigsten Feinde niemals seine Reditschaffenheit angezweifelt. Seine Ermordung 1845 machte ihn zum Märtyrer der alten Freiheit. Im Jahre 1841 begann die gewaltsame Auseinandersetzung der zwei Bewegungen, die schließlich zum Bürgerkrieg führen sollte. Noch vor dem konservativen Umschwung in Luzern hatten die katholischen Bauern des Aargau versucht, eine ihnen mißliebige Verfassungsänderung durch gewaltsamen Aufstand zu verhindern. Die Regierungstruppen zerstreuten sie aber am 13. Januar 1841 nach kurzem Gefecht bei dem schon von den Konfessionskriegen her bekannten Villmergen. Die Regierung suchte nun nacht

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IV. 6. Die Gründung des Bundesstaates

dem Siindenbock und fand ihn in den Klöstern. Es hieß, das Kloster Muri habe mit seinen Glocken Sturm geläutet. Die Wahrheit dieser Behauptung ist bis heute nicht erwiesen. Der Großrat und Seminardirektor Augustin Keller ergriff im Großen Rat das Wort und setzte die Aufhebung sämtlicher Aargauischer Klöster durch. Seine Rede gipfelte in den Worten: „Stellen Sie einen Mönch in die grünsten Auen des Paradieses, und so weit sein Schatten fällt, wächst kein Gras mehr." Die Aufhebung der acht Klöster wurde ohne Verzug durchgeführt. Mitten im Winter mußten die Mönche die Zellen verlassen und auswandern. Dieser Schritt des Aargau war die erste deutliche Äußerung radikaler Gesinnung und zugleich der erste Rechtsbruch, der Anlaß zum Kriege werden sollte; denn der Bundes vertrag enthielt einen Artikel, der den Bestand der Klöster gewährleistete. Heftig gerieten die zwei Parteien auf der Tagsatzung aneinander. Als aber der Aargau zwei Jahre später vier Frauenklöster wiederherstellte, erklärte sich die Mehrheit der Orte befriedigt und die Angelegenheit für erledigt. Dagegen protestierten aber die katholischen Orte. Daß eine Mehrheit der Kantone einen Vertragsbruch duldete, mußte die Katholiken tief verletzen und schweres Mißtrauen gegen die größeren Kantone wecken. Von nun an verschärfte sich die Spannung jedes Jahr, bis sie sich im Bürgerkrieg entlud. Die Antwort auf die Klosteraufhebung des Aargau gab Luzern, indem es die Jesuiten zu Leitern des staatlichen Unterrichts berief. Rechtlich war diese Maßnahme unanfechtbar. Jeder Kanton hatte das Recht, seine inneren Angelegenheiten nach eigenem Gutdünken zu ordnen. Augustin Keller hielt zwar auf der Tagsatzung eine Rede für die Ausweisung der Jesuiten. Er blieb aber in der Minderheit, denn sein Vorschlag entbehrte jeder Rechtsgrundlage. Er bestärkte dagegen die Katholiken im Glauben, daß es auf ihre Religion abgesehen sei. Die Radikalen faßten die Berufung der Jesuiten als Provokation und Kampfansage auf. Ihnen waren die Jesuiten die erklärten Feinde jedes Fortschrittes, die planmäßigen Unterdrücker jeder Freiheit und menschenwürdigen Ordnung, die „schwarze Brut, das giftige Ungeziefer". Die Wellen der Erbitterung gingen bei den Radikalen so hoch, daß es zu dem Beschluß kam, mit bewaffneten Freiwilligen gegen die Stadt Luzern zu ziehen und die Regierung zu stürzen. Den Luzerner Radikalen kamen ihre Gesinnungsgenossen aus den Nachbarkantonen zu Hilfe. Als der erste sogenannte Freischarenzug mißlang, mußten 150 Luzerner, die kompromit-

Freischarenzüge. — Sonderbund

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iiert waren, das Land verlassen. Die Radikalen aber schrien nach Rache und bereiteten einen zweiten Einfall vor. "Während die Regierungen der radikalen Kantone Bern, Aargau, BaselLand und Solothurn beide Augen zudrückten, entwendeten die Freischärler aus den Zeughäusern zehn Kanonen, und unter Führung eines Offiziers des eidgenössischen Generalstabes, des bernischen Hauptmanns Ulrich Ochsenbein, überfielen sie Luzern im April 1845 ein zweitesmal. Aber auch dieses Unternehmen scheiterte kläglich. Die Luzerner Regierung hatte sich vorgesehen und schlug die Eindringlinge vor den Toren der Stadt zurück. 1800 gerieten in Gefangenschaft, 105 wurden auf der Flucht von den erbitterten Bauern erschlagen. Zu Tausenden strömte das Luzerner Volk zu der feierlichen Messe auf dem Marktplatze, in der es für die Rettung von Freiheit und Glauben dankte, während die Kirchen nebenan die gefangenen „Befreier" kaum zu fassen vermochten. Obwohl viele der Freiwilligen im guten Glauben ausgezogen waren, für Freiheit und Fortschritt zu kämpfen, war es für die Schweiz ein Glück, daß ihre Unternehmungen fehlgeschlagen sind. Ein Sieg der Freischaren hätte niemals eine gerechte und würdige Lösung der Bundesrevision gebracht. Er hätte mit Vergewaltigung der inneren Orte und mit dauernder Verbitterung geendet. Durch ihr Mißlingen wurde der Weg frei für eine Lösung, die aus der Sphäre blinder politischer Leidenschaften in diejenige der politischen Vernunft und Verantwortung gehoben wurde. Dazu boten die inneren Orte selbst die Hand. Man versteht es, wenn sie nach dem unter verbündeten Staaten unerhörten Rechtsbruch sich enger zusammenschlössen, um sich in Zukunft gemeinsam gegen solche Übergriffe zu schützen. Noch im Dezember 1845 gründeten die fünf inneren Orte zusammen mit Freiburg und Wallis eine „Schutzvereinigung", von den Gegnern „Sonderbund" genannt. Dieses Sonderbündnis w a r nicht nur gegen Freischaren gerichtet, sondern auch gegen „unbefugte Bundesbeschlüsse'', d. h. gegen Mehrheitsbeschlüsse der Tagsatzung, welche die Verbündeten nicht anerkennen wollten. Es war ausdrücklich ein Bund zum Schutz gegen die Bundesrevision. Im Sonderbund lebte der alte, aus der Zeit der Reformation stammende Block der V Orte wieder auf. Wie dreihundert Jahre früher w a r es auch jetzt die Sorge um die innere Freiheit und den angestammten Glauben, was die Katholiken zu engerem Zusammentreten veranlaßte. Der Sonderbund setzte sich dadurch ins Unrecht, daß er Hilfe beim

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IV. 6. Die Gründung des Bundesstaates

Ausland suchte, vor allem bei Österreich, und damit das Odium des Landesverrats auf sich lud. Die führenden Männer der radikalen Kantone aber befleißigten sich seit dem zweiten Freischarenzug einer korrekten Haltung und legten Wert darauf, die Bundesrevision auf dem Wege ordentlicher Bundesbeschlüsse und staatlicher Autorität durchzuführen. In erstaunlich kurzer Zeit entwickelten sie sich aus jugendlichen Raufbolden zu verantwortungsbewußten Staatsmännern. Der Kampf um den neuen Bund wurde damit in den Saal der Tagsatzung verlegt. 1846 stellte Zürich den Antrag auf bewaffnete Auflösung des Sonderbundes. Man war also in latentem Kriegszustand. Doch schlugen die Radikalen jetzt noch nicht los, da sie noch nicht die Mehrheit der Kantonsstimmen für sich hatten. Der Bundesvertrag verpflichtete zwar keine Minderheit, sich den Revisionswünschen einer Mehrheit zu unterwerfen. Das Mehrheitsprinzip galt also nicht. Doch war es besser, nach einem Prinzip zu handeln, das wenigstens von dem größten Teil der Bevölkerung anerkannt wurde, als bloße Gewalt sprechen zu lassen. Diese Mäßigung erwarb den radikalen Politikern das Recht, im Namen der gesamten Eidgenossenschaft zu sprechen, während ihre frühere Gewaltpolitik bloße Parteipolitik gewesen war. Nach einer Straßenschlacht in Genf, die im Oktober 1846 die Radikalen ans Ruder brachte und dem radikalen Wahlsieg in St. Gallen im Mai 1847 besaß die Revisionspartei in der Tagsatzung die Mehrheit. Unverzüglich schritt sie zur Auflösung des Sonderbundes. Den besten Beweis für das Verantwortungsgefühl der Tagsatzung bietet die Wahl des Generals: sie ernannte den Genfer Henri Dufour und nicht einen Führer der Freischarenzüge. Dufour neigte persönlich mehr zum Konservatismus als zum Radikalismus. Trotzdem nahm er die Wahl an, da er sich dazu verpflichtet glaubte. Er war ein Mann, der weit über den streitenden Parteien stand und der nur dem allgemeinen Vaterland dienen wollte. Obwohl er die eidgenössischen Truppen in einem Bürgerkrieg führte, ist Dufour bis heute der populärste und am meisten verehrte schweizerische General geblieben. Das verdankt er teils seiner militärischen Fähigkeit: in weniger als vier Wochen führte er den ganzen „Sonderbundskrieg" zu Ende, ohne irgendeinen Rückschlag zu erleiden — noch mehr aber seiner Menschlichkeit: im Armeebefehl vom 22. November sagte er: „Ihr werdet in den Kanton Luzern einrücken. Wie Ihr die Grenzen überschreitet, so laßt Euern Groll zurück und denkt nur an die Erfüllung der Pflichten, welche das Vaterland Euch a u f e r l e g t . . . Sobald der Sieg für uns entschieden ist, so

Der Sonderbundskrieg

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vergesset jedes Rachegefühl... Aditet die Kirchen . . . Nichts befleckt Eure Fahne mehr als Beleidigungen gegen die Religion. Nehmt alle Wehrlosen unter Eueren Schutz . . . Zerstört nichts ohne Not." Durch den Sieg der Tagsatzungstruppen war der Weg zur Bundesrevision frei geworden. Ganz Europa hatte mit wachsender Erregung die Entwicklung in der Schweiz verfolgt. Den konservativen Mächten erschien die Niederlage der Freischaren als Sieg der eigenen Sache, das Vorgehen der Tagsatzung aber als ein revolutionäres Unterfangen, als Bruch der Verträge. Schon im Januar 1847 hatten die Vertreter der drei Ostmächte Bern ostentativ verlassen. Metternich und der preußische König planten eine Intervention; dies um so mehr, als auch die Völker den Sonderbundskrieg mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten. Sie sahen in ihm die erste Erhebung für die europäische Freiheit. Mit Jubel begrüßten sie den Sieg über die „finsteren Mächte der Reaktion". Hunderte von Glückwunschadressen aus allen Ländern Europas, besonders aus Deutschland, erreichten die Tagsatzung. Uberall fühlte das Volk solidarisch mit der Tagsatzung. Die Adressen an die Tagsatzung waren gewissermaßen die erste Welle der Revolution, die bald darauf ganz Europa erschütterte. Die Revolution von 1848 machte das Eingreifen der Mächte unmöglich und gab so der Schweiz Zeit, ihre Verfassung auszuarbeiten und ihre neue Ordnung zu festigen. 7. DIE BUNDESVERFASSUNG V O N 1848

Die Bundesverfassung von 1848 ist eine der glücklichsten Schöpfungen der Schweizer Geschichte. Die Mäßigung der Sieger hat die Unterlegenen in kürzester Zeit mit der Niederlage versöhnt, so daß die Verfassung bis heute die Grundlage des schweizerischen Staatslebens geblieben ist, da sie im Maße des Möglichen alle berechtigten Ansprüche befriedigte. Tradition und Wesen der Schweiz verlangten Selbständigkeit der Kantone, d. h. Dezentralisierung. Die politische Entwicklung der Zeit forderte einen starken Staat und einheitliche Gesetze, also Zentralisierung. Zwischen den beiden Forderungen wurde in einem der Schweiz angemessenen Föderalismus ein lebensfähiger Ausgleich gefunden. Aus dem früheren Bunde wurde jetzt, zum ersten Male aus freiem Willen der Schweiz selbst, ein Staat. Erst jetzt erhielt das schon jahrhundertealte Nationalgefühl politische Form. Die Verfassung sagt dies auch mit aller Deutlichkeit in der Präambel: Die Schweiz habe die Verfassung angenommen „in der Absicht,

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I V . 7. Die Bundesverfassung von 1848

den Bund der Eidgenossen zu befestigen". Die Verfassung schafft nicht etwas Neues; ebensowenig wie die Freiheitsbriefe des Mittelalters die Freiheit oder die Neutralitätsurkunde die Neutralität geschaffen haben, ebensowenig schafft die Verfassung die Eidgenossenschaft. Die Eidgenossenschaft ist eine Wirklichkeit, die vor jeder Verfassung und unabhängig von jedem Papier besteht. Die Aufgabe der Verfassung ist nur, diese Eidgenossenschaft zu „befestigen". Die Bundesgewalt erhielt durch die Verfassung eine doppelte Erweiterung: eine Erweiterung der Aufgaben und eine Erweiterung der Befugnisse. Als Zweck des Bundes nennt Art. 2 Behauptung der Unabhängigkeit nach außen, Handhabung von Ordnung und Ruhe im Innern — dies sind auch die bisherigen Aufgaben des Bundes gewesen — dazu Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Förderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt. Der Gesamtstaat übernimmt also jetzt den Schutz der Freiheitsrechte des Bürgers. Diese Rechte werden dann noch namentlich aufgeführt: Glaubensfreiheit, Niederlassungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Rechtsgleichheit, Freiheit der Meinungsäußerung. Damit der Bund seine alten und neuen Aufgaben zeitgemäß erfüllen kann, müssen auch seine Befugnisse und Machtmittel erweitert werden. Die wesentlichste Neuerung ist deshalb die, daß dem Bund die Souveränität, das Recht der Gesetzgebung zugesprochen wurde. Doch erhielt er nicht die gesamte Souveränität. Die Rechte des Bundes sind genau umschrieben. Alle Rechte, die ihm nicht ausdrücklich zugewiesen werden, bleiben in der Hand der Kantone. Die zweiundzwanzig Kantone bleiben also bestehen mit ihren eigenen Regierungen und Gesetzen. Damit der Bund zum Schutze der Unabhängigkeit wirksam nach außen auftreten konnte, mußte ihm die gesamte Außenpolitik zugesprochen werden. E r allein erhielt das Recht, über Krieg und Frieden und über Staatsverträge zu beschließen. Die Vereinheitlichung des Militärwesens gab ihm die Mittel zur Erfüllung dieser Aufgabe in die Hand. Auch zur Handhabung der inneren Ordnung erhielt der Bund jetzt den Kantonen übergeordnete Kompetenzen. Die Verfassung verbot den Kantonen jede Selbsthilfe bei Streitigkeiten und gab dem Bunde das Recht der Intervention gegen innere Unruhen. Die Kantonsverfassungen mußten vom Bunde genehmigt werden. — Der „gemeinsamen Wohlfahrt", die der Bund nach Artikel 2 zu fördern hatte, diente vor allem die wirtschaftliche Vereinheitlichung des Landes. Diese Vereinheitlichung war unumgänglich notwendig, wenn die Schweiz im modernen Wirtschaftskampf bestehen wollte. Hatte

Befugnisse des Bundes. Bundesbehörden

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doch sogar das politisch zersplitterte Deutschland schon seit zehn Jahren im preußischen Zollverein seine wirtschaftliche Einheit erlangt. Der Bund übernahm jetzt den Zoll, die Münze, die Bestimmung von Maßen und Gewichten und die Post. Alle inneren Zölle wurden abgeschafft, der Verkehr zwischen den Kantonen freigegeben. Auch die Niederl assungs- und die Gewerbefreiheit diente der Vereinheitlichung des Wirtschaftsraumes. Jeder Schweizer konnte von jetzt ab seine Fähigkeiten auf dem ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft zur Geltung bringen, gleichgültig, welchem Kanton er angehörte. Zur Handhabung der neuen Befugnisse des Bundes mußten neue Bundesbehörden geschaffen werden. — Die Gesetzgebung wurde der B u n d e s v e r s a m m l u n g übertragen, die damit die alte Tagsatzung ablöste. Sie besteht aus zwei Räten, die ein getreuer Ausdruck des schweizerischen Föderalismus sind. Der N a t i o n a l r a t wird von dem ganzen Volk gewählt, proportional der Bevölkerungszahl. Er ist der Ausdruck der nationalen Einheit. Daneben steht aber der S t ä n d e r a t , in den jeder Kanton zwei Vertreter schickt. Er setzt die alte Tagsatzung fort. Hier behielten also die kleinen Kantone nach alter Tradition ein relatives Übergewicht — obwohl sie eben besiegt worden waren. Die zwei Räte sind gleichberechtigt; jedes Gesetz muß von beiden genehmigt werden. Das Volk selbst hatte vorläufig noch kein direktes Mitspracherecht an der Gesetzgebung. N u r über die Verfassung hatte es abzustimmen und den Nationalrat zu wählen. Die Eidgenossenschaft hatte, wie die meisten Kantone, noch nicht die Form einer reinen, sondern die einer repräsentativen Demokratie. Ein erster Ansatz zur unmittelbaren Demokratie ist die Bestimmung, daß auf das Verlangen von 50 000 Schweizer Bürgern nach einer Verfassungsänderung das Volk über die Frage abzustimmen hat, ob eine Änderung stattfinden solle. Als ausführende Behörde wurde ein siebenköpfiger B u n d e s r a t eingesetzt. Einer der sieben Bundesräte ist zugleich Bundespräsident, hat aber als solcher keine besonderen Rechte; er hat lediglich repräsentative Aufgabe. Die Entscheidungen werden vom gesamten Bundesrat kollegial gefällt. Der Bundesrat ist kein stürzbares Ministerium, sondern eine von der Bundesversammlung in einem drei-, jetzt vierjährigen Turnus gewählte Behörde. Meistens bleiben einmal gewählte Bundesräte lebenslänglich oder bis zu freiwilligem Rücktritt im Amt. Diese eigenartige, sonst nirgends wiederkehrende Form der höchsten Staatsexekutive ist aus spezifisch schweizerischen Voraussetzungen und Bedürfnissen heraus zu verstehen. Sie unterscheidet

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IV. 7. Die Bundesverfassung von 1848

sich grundsätzlich sowohl von der parlamentarischen wie von der präsidialen Regierungsform. Der Parlamentarismus, welcher den Bestand der Regierung von dem Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig macht, entspringt der Auffassung, daß der Staat das Organ des durch die Parteien vertretenen Volkswillens ist. Es ist diejenige Regierungsform, welche die innenpolitischen Verhältnisse am reinsten zum Ausdruck bringt. Dasselbe gilt für den amerikanischen Präsidenten, insofern er vom Volke gewählt wird. Doch tritt hier in der festen Amtsdauer das Bedürfnis nach einer stabilen Staatsführung und einer geradlinigen Außenpolitik mehr in den Vordergrund. Was die schweizerische Regierungsform bestimmt, ist weniger ein innen- oder außenpolitisches Bedürfnis als die Aufgabe, die gemäß den natürlichen und historischen Voraussetzungen in der Schweiz im Vordergrund steht: die Aufgabe der Verwaltung gemeinsamer Rechtsordnungen und gemeinsamer Güter. Alle schweizerischen Regierungen, auch die kantonalen, haben in erster Linie die Aufgabe und den Charakter von Verwaltungsbehörden. Sie sind daher nicht zum Rücktritt verpflichtet, wenn ihre Vorschläge in den Räten in der Minderheit bleiben. Die „Vertrauensfrage" besteht in der Schweiz nicht als verfassungsmäßige Institution. So wurde die Regierung der Schweiz die stabilste ganz Europas, da sie unabhängig ist von den täglichen Schwankungen der öffentlichen Meinung. Es setzt sich in dieser Einrichtung die alte genossenschaftliche Staatsgesinnung fort, nach welcher der Staat die Summe der von allen Beteiligten gemeinsam getroffenen Rechtsvereinbarungen und der gemeinsamen Güter ist und die Behörden nicht als vorgesetzte Autorität, sondern als Treuhänder des gemeinsamen materiellen und geistigen Gutes empfunden werden. Obwohl die Männer der Regierung in der Regel aus Parteien hervorgehen, werden sie in erster Linie nicht nach ihren parteipolitischen Ansichten, sondern nach ihrer Tüchtigkeit als Beamte beurteilt. Eine dritte Bundesbehörde war das vorläufig noch nicht ständige B u n d e s g e r i c h t , das bei politischen Rechtsfragen von eidgenössischer Bedeutung zu amtieren hatte. Eine Frage, die in andern Staaten das ganze politische Leben vergiftet und einigen von ihnen den Untergang gebracht hat, wurde hier ohne Diskussion in einem einzigen Artikel erledigt: die Sprachenfrage. Die Verfassung erklärte die drei großen Landessprachen für gleichberechtigt; jeder Abgeordnete konnte in den Räten sich seiner eigenen Sprache bedienen. Die Verfassung ließ den Kantonen ausgedehnte Rechte: sie behielten die

ly. Henri

Dimani,

Photographie

/if. Lands^eweinde in Giants

Vergleich mit der Entwidmung Deutschlands und Italiens

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ganze Rechtspflege, die Verwaltung von Schule und Kirche, die eigenen Steuern und Finanzen. Nicht nur der Bund, auch die Kantone sind noch wahre Staaten mit eigenem Gesetz und eigener Verwaltung. Doch verliert ihre Geschichte an Farbigkeit. Das Wesentliche geschieht politisch von jetzt an auf dem Boden des Bundes. Setzt man die Entwicklung der Schweiz bis 1848 in Parallele zur Entwicklung Europas, so muß auffallen, daß die Schweiz schon vor dem Ausbruch der Revolution von 1848 ein Ziel erreicht hatte, um das die andern Völker damals vergeblich kämpften und zu dem sie später erst auf Umwegen und in unvollständiger Art gelangten: den modernen Volksstaat und die nationale Einheit. Diesen Vorsprung hat die Schweiz zwei Umständen zu verdanken. Der eine Umstand ist der, daß sie einen kürzeren Weg zu beschreiten hatte als Deutschland und Italien. Nie hatte die Schweiz eine Monarchie zu bekämpfen gehabt. Auch der vorrevolutionäre Staat des ancien régime und der Restauration war von republikanischer Form gewesen. Bei den revolutionären Umwälzungen des 19. Jahrhunderts handelte es sich nicht um einen Kampf gegen eine vom Volk losgelöste Autorität von Gottes Gnaden. Die Redite des Volkes mußten weder theoretisch noch praktisch aus dem Nichts neu geschaffen werden. Es handelte sich vielmehr lediglich um eine zeitgemäße Erweiterung der von jeher üblichen lokalen Selbstverwaltung zu einer Beteiligung des Volkes an der Verwaltung des Kantons, dann um die Vereinigung der kantonalen Volksstaaten zu einem engeren Bundesstaate. Auch den konservativsten — oder nach dem Ausdruck der Gegner: „reaktionärsten" — Regierungen der Schweiz stand als Machtmittel nie eine stehende Armee oder eine zur Unterdrückung des Volkes taugliche Polizei zur Verfügung. Die einzige zuverlässige Stütze ihrer Macht war die stillschweigende oder die ausdrückliche Zustimmung des Volkes selbst. Eine große Erleichterung bedeutete es für die Schweiz weiterhin, daß sich ihre politische Entwicklung vom Kleinen aus schrittweise vollziehen konnte. Der erste Schritt wurde 1830 getan in der Reform einiger Kantonsverfassungen. Erst nachdem die Liberalen in den größeren Kantonen in den Besitz der Macht gelangt waren, traten sie an die Aufgabe heran, auch den Bund zu erneuern. So erlebte die Schweiz 1848 nicht wie Deutschland und Italien die Erhebung eines Volkes, das ohne politische Macht und ohne politische Erfahrung im Kampfe gegen festverwurzelte Monarchien gleichzeitig den demokratischen Staat und die nationale Einheit erkämpfen wollte. In der Schweiz waren es liberale Staatsmänner im Besitze der Staatsgewalt und 14

Wartburg, Schweiz

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IV. 7. Die Bundesverfassung von 1848

in enger Verbindung mit der öffentlichen Meinung, die festgefügte Volksstaaten gegen die widerstrebende Partei ins Feld führen konnten. Wie ihre beiden Nadibarnationen hat die Schweiz schließlich die Einheit nicht durch regellosen Volksaufstand, sondern durch offizielle Staatspolitik erlangt. Doch sind hier die entsprechenden Entwicklungen auf einen kürzeren Zeitraum zusammengedrängt. Mit den europäischen Volkserhebungen von 1848 lassen sich die Freischarenzüge und die Putsche der Vierzigerjähre vergleichen. Was die Schweiz durch den Sonderbundskrieg 1847 erreichte, gewann Italien durch den Krieg von 1859/60, Deutschland durch den von 1870/71. Doch muß der wesentliche Unterschied festgehalten werden, daß in Deutschland und Italien die nationale Einheit von ursprünglich nichtrevolutionären Kräften erzwungen wurde, die zum Teil die revolutionär-nationale Bewegung in den Dienst eigener Interessen zu stellen vermochten, während es in der Schweiz die liberalen Staatsmänner selbst waren, die ihre eigenen Ziele verwirklichten. Der Kampf ging in der Schweiz nicht zwischen einer alten Staatsgewalt und einer Volksbewegung, die sich den Anteil am Staate erobern wollte, sondern zwischen verschiedenen Auffassungen über den Machtbereich und die nationale Organisation einer Staatsgewalt, die von vornherein grundsätzlich auf beiden Seiten Ausfluß der Volkssouveränität war. 8. DIE SCHWEIZ V O N 1848 BIS 1914

a) I n n e r e

Konsolidierung

In den hundert Jahren seit der Gründung des Bundesstaates hat die Schweiz eine durchaus ruhige Entwicklung genommen. Die Verfassung von 1848 ist zwar oft revidiert worden, in ihren Grundzügen aber gibt sie auch der heutigen Schweiz ihre politische Form. Hundert Jahre Bewährung madien sie dem Schweizer ehrwürdig. Zur „Bundesstadt", das heißt zum Sitz der neuen Landesregierung, bestimmte die erste Bundesversammlung Bern. Es war eine glückliche Wahl, und sie konnte als gutes Vorzeichen für die Zukunft des Bundes gelten. Denn die Stadt verkörpert durch ihre Tradition politischen Weitblick und Beständigkeit; ihre engen historischen Beziehungen zur Westschweiz und ihre Lage nahe der Sprachgrenze lassen sie als den geeigneten Sitz gemeinsamer Behörden eines aus verschiedenen Sprachgruppen zusammengesetzten Volkes erscheinen.

Die ersten Jahre des Bundesstaates

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Während siebzig Jahren herrschte in Bundesrat und Bundesversammlung der 1847 siegreiche Liberalismus. Die Liberalen, die Vertreter von Bildung und Besitz, drängten seit der Bundesgründung die extremen Radikalen wieder in den Hintergrund. Ihr mäßigender Einfluß hatte schon den Kompromiß der neuen Verfassung ermöglicht. Die leitenden Männer des jungen Bundesstaates, wie der Nationalrat Alfred Escher von Zürich oder die Bundesräte Jonas Furrer, Ulrich Odisenbein und Henri Druey vereinigten jugendlich kämpferisches Temperament und den Schwung der liberalen Oberzeugung mit Mäßigung und politischer Erfahrung. Gemeinsame Gesinnung und das stolze Bewußtsein des gewonnenen Sieges gaben ihrer Arbeit Durchschlagskraft und Zielsicherheit. Die Leiter der neuen Politik handelten von Anfang an nicht als Vertreter einer Partei, sondern als Vertreter des gesamten Volkes. Damit haben sie in kurzer Zeit auch die Unterlegenen mit dem Bundesstaate versöhnt und diesen auf die Dauer befestigt. 1852 wurden den „Sonderbündlern" die noch fälligen Kriegsschulden erlassen. Die Anhänger der alten Schweiz waren zwar machtlos, doch konnten sie in den Räten ungehindert zu Worte kommen. Im Nationalrat vertrat der Luzerner Philipp Anton Segesser mit Würde und Uberzeugung die Redite der kleinen Gebirgskantone. Er erwarb durch seine aufrechte Haltung auch die Achtung seiner Gegner. Während in der Bundespolitik sich der gemäßigte Liberalismus durchsetzte, blieben in vielen Kantonen radikale Regierungen am Ruder, in andern schwangen sich bald wieder die Konservativen obenauf. In einzelnen Kantonen, wie Bern, Tessin, Freiburg, behielten die politischen Gegensätze noch eine Zeitlang die Schärfe der vorausgehenden Kampfzeit, ohne jedoch das politische Leben des Bundes wesentlich zu beeinflussen. Die erste innenpolitische Maßnahme der neuen Regierung war die Übernahme und Vereinheitlichung der Zölle, der Post und der Münzprägung, eine wahre Wohltat für die Wirtschaft des ganzen Landes. Für die Verluste, welche die Kantone dadurch erlitten, wurden sie entschädigt, wie auch die Feudallasten zur Zeit der Helvetik nur gegen Entschädigung aufgehoben worden waren. Das ebenfalls in der Verfasung verankerte Recht des Bundes, eine Universität zu gründen (Artikel 22) konnte bis heute nicht verwirklicht werden; denn die Katholiken fürchteten eine reformierte, die französisch sprechenden Schweizer eine deutsche Beeinflussung ihrer Jugend. Die Befürworter der Universität argumentierten, diese Einrichtung würde das 14*

212

IV. 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914

Nationalgefühl stärken und den Austausdi .zwischen Sprachen und Konfessionen fördern. Es setzte sich aber — glücklicherweise — die Erkenntnis durch, daß kulturelle Fragen nicht nach denselben Gesichtspunkten zu behandeln sind wie politische, daß Einheit zwar auf dem politisch-rechtlichen Felde bis zu einem gewissen Grade notwendig war, auf kulturellem Gebiet aber nicht aufbauend, sondern zerstörend gewirkt hätte. Jeder Versuch staatlich organisierter kultureller Vereinheitlichung müßte in der Schweiz zu einer Schwächung der politischen Einheit führen; denn diese beruht nicht auf Einförmigkeit, sondern auf der freiwilligen Zusammenarbeit der verschiedenen Volks- und Landesteile. Freiwilligkeit aber setzt Freiheit voraus. Was der einzelne zum Gedeihen des Ganzen beitragen kann und will, muß — besonders auf kulturellem Gebiet — ihm selbst überlassen sein, wenn der Beitrag von echtem "Wert sein soll. Auch der Austausch zwischen Sprachen und Konfessionen kann nicht gesund und fruchtbar bleiben, wenn er nicht spontan erfolgt. Die umfassendsten Organismen, die noch individuellen geistigen Charakter tragen können, sind aber die Kantone. Der Bund als Ganzes ist ein rein politisches Gebilde. Er überließ daher das ganze Erziehungswesen bis in die akademische Sphäre hinauf den Kantonen. Dadurch blieb das kulturelle Leben in gesunder "Weise von der allgemein schweizerischen Politik getrennt, diese wurde daher von Weltanschauungsgegensätzen verhältnismäßig wenig belastet; die Kantone aber behielten ihre geistige Individualität, die sie befähigt, sich gegenseitig durch mannigfaltige bodenständige Leistungen zu befruchten. Das Geistesleben wahrte die enge Verbindung mit den lokalen Verhältnissen und blieb frei von der Aufsicht einer hauptstädtischen Instanz. — Wenn die Räte auf die Universität verzichten mußten, so schufen sie dafür die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich. Gegen diese erhob sich keine Opposition, da sie unbelastet war von weltanschaulichen Zielsetzungen. 1855 wurde sie eröffnet und erlangte bald Weltruf.

b) D a s V e r h ä l t n i s z u m

Ausland

Kaum war der neue Bund geschaffen, so hatte er sich auch schon in den schwierigsten außenpolitischen Lagen zu bewähren. Als kurz nach Ende des Sonderbundskrieges die große europäische Revolution ausbrach, appellierten die Aufständischen in Nord und Süd an die Solidarität ihrer poli-

Der Neuenburger Konflikt

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tischen Glaubensgenossen in der Schweiz. Die Radikalen, besonders die hitzigen Tessiner, brannten darauf, Fortschritt und Freiheit auch jenseits der Grenze zum Siege zu bringen. Es gehörte zu den heikelsten Aufgaben des jungen Bundes, diese Versuchungen abzuwenden und die Neutralität auch den Bürgern des eigenen Landes aufzuzwingen. Die Niederlage der Revolution warf Tausende von Flüchtlingen in die Schweiz. Einige, die, wie Mazzini und Garibaldi, von der Schweiz aus neue Ausfälle organisierten, wurden ausgewiesen. Doch sorgte die wachsame öffentliche Meinung dafür, daß keiner das Land verlassen mußte, wenn er in Gefahr war, der Rache der Verfolger zu verfallen. Unter den deutschen Flüchtlingen waren viele, die der Schweiz wertvolle Bereicherung brachten, wie der Architekt Semper, Richard Wagner, Herwegh, Kinkel. Das gefährlichste Nachspiel der Umwälzung von 1847/48 war der Neuenburger Konflikt von 1856. Neuenburg war seit 1814 Schweizer Kanton, blieb zugleich aber die einzige Monarchie im eidgenössischen Staatsverbande. Fürst von Neuenburg war der König von Preußen. Im Sonderbundskrieg war der Ort neutral geblieben. Da erhoben sich die Bewohner der Bergdörfer, hauptsächlich die politisch zurückgesetzten Uhrmacher, stiegen in die Hauptstadt hinunter und riefen am 1. März 1848 die Republik aus. Die Bundesverfassung sprach implicite die Trennung von Preußen aus, indem sie nur noch Republiken in der Schweiz duldete. Doch hatte die alte Ordnung noch zahlreiche und überzeugte Anhänger. Am 3. September 1856 wagten die Royalisten ihrerseits einen Staatsstreich. Doch schon am folgenden Tage waren sie die Gefangenen der Regierung. Die Angelegenheit brachte die Schweiz in scharfen Konflikt mit dem König von Preußen, der beinahe zu einem Krieg geführt hätte. Schon standen 25 000 Mann unter General Dufour am Rhein, als unter Vermittlung Englands und Napoleons III. eine Einigung zustande kam. Der preußische König verzichtete auf sein Fürstentum, wofür die Schweiz den Aufständischen Amnestie zu gewähren hatte (1857). 1860 war im Süden der Schweiz an die Stelle der ewig verfeindeten Österreicher und Piemontesen das geeinigte Italien getreten. Zehn Jahre später erlangte im Norden Deutschland seine nationale Einheit. In allen Kriegen der letzten Jahre hatte die Schweiz strikte Neutralität gewahrt, was von den Mächten auch anerkannt wurde. Auf die schwerste Probe wurde sie gestellt, als im deutsch-französischen Krieg eine französische Armee von 90 000 Mann gegen die Schweizer Grenze gedrängt wurde und

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IV. 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914

in der Schweiz entwaffnet werden mußte. Zum erstenmal erhielt damals die Schweiz Gelegenheit, Opfern eines modernen Krieges Asyl und Hilfe zu gewähren. Die innere Ruhe der Schweiz und ihre Einigkeit wurde durch die Bildung von Nationalstaaten im Norden und Süden in keiner "Weise berührt, wohl aber ihre außenpolitische und militärische Stellung beeinträchtigt. Sie war seither lückenlos umschlossen von vier europäischen Großmächten. Wenn die Schweiz in den bewaffneten Konflikten ihrer Nachbarn auch neutral blieb, so bedeutet dies nicht, daß sie sich gleichgültig vom Weltgeschehen zurückzog. Sie war vielmehr führend an den Versuchen beteiligt, ein neues Völkerrecht zu schaffen, das in Kriegsfällen die Leiden der Betroffenen mildern sollte. — Der größte schweizerische Beitrag zu einem humaneren Völkerrecht war die Begründung der Genfer Konvention. Es steht hinter diesem Erfolg die Initiative des Genfers Henri Dunant. Er hatte auf den italienischen Schlachtfeldern mit Schaudern die Leiden der Verwundeten sehen müssen. In seiner Schrift „Souvenirs de Solferino" richtete er einen bewegten Appell an das Weltgewissen. Er forderte, daß genügende Hilfe schon im Frieden vorbereitet würde. Viele Verbände entstanden, die sich seine Forderungen zu eigen machten. Im Jahre 1863 gründeten in Genf Vertreter dieser Verbände aus verschiedenen Ländern das Internationale Rote Kreuz. Der Bundesrat griff nun die Anregung selbst auf, und er erreichte 1864 den Abschluß der Genfer Konvention, welche das Sanitätspersonal den Kampfhandlungen entzieht und allen Staaten wirksame Verpflichtungen zur Rettung und Pflege aller Verwundeten auferlegt. Als 1868 alle europäischen Staaten der Konvention beigetreten waren, war sie ein Bestandteil des Völkerrechts geworden. In Anerkennung der Initiative der Schweiz wurde zum Zeichen der Sanitätsorganisation die Umkehrung des Schweizer Wappens gewählt: das rote Kreuz im weißen Feld. Grundsätzlich hat sich durch die Schaffung des Bundesstaates zweierlei im Verhältnis der Schweiz zum Ausland geändert: Einmal konnte sie nun andern Staaten gegenüber mit größerer Festigkeit auftreten als bisher. So mannigfaltig sie im Innern blieb, nach außen handelt sie seither als Einheit. Die Handlungsunfähigkeit, eine Folge der Glaubensspaltung, war nun überwunden. Es war aber auch höchste Zeit, da schon zwei Jahrzehnte nach der Begründung der Einheit die Schweiz nur noch von Großstaaten umgeben war und die Entstehung von bisher nicht bekannten Machtzusammenballungen eine Steigerung und Zusammenfassung der eigenen Kräfte

Die Genfer Konvention. Außenpolitische Lage

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forderte, wenn die Schweiz auch im rücksichtslosen Machtkampf des 19. und 20. Jahrhunderts bestehen sollte. Die andere Wirkung, welche die Gründung des Bundesstaates auf die Außenpolitik der Schweiz hatte, war die, daß sie die bisher üblichen Beziehungen zum Ausland löste. Jetzt erst wurde erreicht, was schon Zwingli erstrebt hatte: die Verfassung verbot Soldverträge mit dem Ausland. Nach Ablauf des letzten Vertrages, desjenigen mit Neapel, wurde 1859 auch der individuelle Eintritt in fremde Söldnerheere verboten, während das Verbot des Eintritts in fremde National armeen erst 1927 ausgesprochen wurde. Auch Bündnisse mit dem Ausland wurden seither keine mehr abgeschlossen. In der Bundesversammlung, der das Bündnisrecht verfassungsmäßig zusteht, ist seit 1848 über kein einziges Bündnis auch nur verhandelt worden. Das Verbot des Reislaufs setzte eine geänderte wirtschaftliche Lage voraus. Der Teil der Bevölkerung, der bisher sein Auskommen im Solddienst gefunden hatte, mußte sich nach neuen Möglichkeiten umsehen. Viele wanderten aus, die meisten aber fanden Verdienst in der sich rasch entfaltenden Wirtschaft. Das Aufblühen der Industrie nahm dem Solddienst seine wirtschaftliche, der fortschrittliche Geist des 19. Jahrhunderts seine moralische Berechtigung. Die Entwicklung der schweizerischen Wirtschaft war aber nur möglich im Anschluß an die Weltwirtschaft. Da die Schweiz weder mit Bodenschätzen noch mit besonderer Fruchtbarkeit des Bodens gesegnet ist, bleibt sie für die Ernährung ihrer Bevölkerung auf den Austausch mit der Außenwelt angewiesen. c) A n s c h l u ß a n d i e

Weltwirtschaft

Bei der steigenden Bevölkerung und der ständig wachsenden Bedeutung des Außenhandels hatte die Schweiz das größte Interesse daran, daß die Schranken zwischen den Völkern möglichst wegfielen. In einer freien Weltwirtschaft hatte sie mit ihrer Qualitätsproduktion die besten Möglichkeiten. Auch hatte der Liberalismus, die damals herrschende Richtung, an sich einen weltbürgerlichen Zug. So trat der Bundesrat überall für die Erleichterung des internationalen Austausches ein. 1865 trat die Schweiz der lateinischen Münzunion bei, welche die Währungen Italiens, Frankreichs, Belgiens und der Schweiz vereinheitlichte. 1865 wurde die Telegraphenunion gegründet, 1874 der internationale Postvertrag abgeschlossen, aus dem im Jahre 1878 der Weltpostverein hervorging; der Sitz beider Organisationen wurde die

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IV. 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914

Schweiz. Über den Siegeszug des Freihandelsgedankens in den sechziger Jahren konnte niemand glücklicher sein als die Schweizer Industriellen, denn er eröffnete ihnen unbeschränkte Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entfaltung. Die Schweiz ging zwar nie zum vollständigen Freihandel über, da die Zölle die einzige Einnahme des Bundes waren. Doch blieb es bis Ende der siebziger Jahre bei rein fiskalischen Zöllen, die den Handel kaum merklich belasteten. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts war eine Zeit fast ununterbrochenen materiellen Aufstieges. Doch fiel der Schweiz der Anschluß an die Weltwirtschaft nicht von selbst zu. Das gebirgige Gelände machte den Bau von Straßen und Eisenbahnen schwieriger und kostspieliger als in den andern europäischen Ländern. Das Problem des Eisenbahnbaus bewegte jahrelang die ganze Öffentlichkeit. Nicht nur technische, auch psychologische Schwierigkeiten waren zu überwinden. Viele verschrien das „Höllenfuhrwerk" als Werk des Teufels, die Abergläubischen fürchteten für Gesundheit und Seelenheil. Bei den ersten Vermessungen rissen die erbitterten Bauern die Vermessungspfähle aus dem Boden. Die erste schweizerische Bahn wurde 1847 zwischen Zürich und Baden eröffnet. Die Jahre nach dem Sonderbundskrieg waren erfüllt von heftigen Kämpfen um die Gestaltung des schweizerischen Bahnnetzes. Zwei Ansichten standen sich diametral entgegen. Die einen, unter Führung des energischen bernischen Bundesrates Jakob Stämpfli traten für den staatlichen Bau ein. Das neue Verkehrsmittel müsse der Gesamtheit dienen und dürfe nicht ein Objekt der Spekulation werden. Dieser Ansicht stand diejenige der liberalen Großunternehmer gegenüber, die aus wirtschaftlichen Gründen für den Privatbau waren. Ihr bedeutendster Wortführer war der Zürcher Alfred Escher. Dieser war als Finanzmann und Präsident des Nationalrates mächtiger als der Bundesrat; Stämpfli trat 1863 aus dieser Behörde zurück, als er sah, daß er gegen seinen Rivalen nidit aufkommen konnte. Die Idee des Privatbaus gewann fast vollkommen die Oberhand. Das Eisenbahngesetz von 1852 verzichtete auf den Staatsbau und beschränkte den Staat auf die Erteilung der Konzessionen. Stämpfli setzte nur die Bestimmung durch, daß dem Bund das Recht zum Rückkauf der Bahnen vorbehalten wurde. So ermöglichte er die spätere Uberführung der Privatbahnen in die Bundesbahnen. Ein wahres Gründungstieber ergriff nun die Unternehmerwelt. Eine große Zahl von Aktiengesellschaften wurde gegründet, die sich oft rücksichtslos bekämpften. Das stärkste Unternehmen war die von Escher selbst gelei-

Bau der Eisenbahnen

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tete Nordostbahn. In relativ kurzer Zeit erhielt die Schweiz nun ihr Eisenbahnnetz, das eines der dichtesten der "Welt geworden ist. Die belebende Wirkung der Bahnen machte sich bald bemerkbar. Vor allem gab die billige Kohlenzufuhr der Industrie einen großen Aufschwung. In die Wirtschaft des Landes haben sie tief eingegriffen, indem sie es der Weltwirtschaft anschlössen, mit all ihrem Segen und all ihren Gefahren. Audi das Landschaftsbild haben die Bahnen stark umgeformt, besonders durch die kühnen Viadukte der Alpenbahnen. Der heftige Kampf Escher-Stämpfli weist bereits auf ein Problem der modernen Welt hin, dem auch die Schweiz nicht länger ausweichen konnte. Es war nicht bloß ein Streit der Interessen, sondern der Prinzipien. Beide glaubten, auf ihrem Wege das Wohl des ganzen Landes zu fördern. Stämpfli war ein überzeugter Vorkämpfer des Wohlfahrtsstaates. Der Bund selbst sollte zum Unternehmer werden und für das wirtschaftliche Gedeihen des Volkes besorgt sein. Seine Gegner nannten ihn daher einen Kommunisten. Doch konnte er nicht durchdringen, weil das Volk noch Bedenken gegen eine zu kühne Finanzpolitik hatte und mißtrauisch war gegen die Staatsallmacht, weldie die unausweichliche Folge einer Wohlfahrtspolitik gewesen wäre. Doch wer war es eigentlich, der über ihn den Sieg gewonnen hatte? Die Idee der Wirtschaftsfreiheit, sagten die Gegner Stämpflis; die „Eisenbahnkönige", sagten seine Anhänger. Mit ingrimmigem Haß blickte der Unterlegene auf die neuen Herren der Wirtschaft, die Besitzer des Kapitals. Seine Zeitung schrieb: „Indem dieses Königtum Fürsten gleich über Kapitalien von Millionen und Millionen verfügt, ein ansehnliches Beamtenheer unterhält und . . . die besten Kräfte und Köpfe in seine Dienste lockt . . . indem es über die wichtigsten öffentlichen Verkehrsanstalten fast unbeschränkt gebietet, ist dasselbe eine Macht geworden, ein Staat im Staate . . . Das Eisenbahnkönigtum ist es, das die freie Presse für seinen Dienst zu erkaufen sucht, das, wo es sich mächtig genug fühlt, kantonale und eidgenössische Beamtenstellen vergibt, Majoritäten in den gesetzgebenden Räten macht und so der Demokratie zum Spott dem Staate seine Gesetze diktiert." Mit diesen Worten ist in aller Sdiärfe ein Hauptproblem des modernen Staates gekennzeichnet: seitdem die Technik dem Menschen die Maschine in die Hand gegeben hat, ist wirtschaftliche Freiheit gleichbedeutend mit wirtschaftlicher Allmacht desjenigen, der sich die kostspieligen Produktionsmittel beschaffen kann, das heißt des Kapitalisten. Dieser Allmacht des Unternehmers suchte Stämpfli durch die Allmacht des demokratischen Volks-

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IV. 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914

staates entgegenzuwirken. So steht der Mensch auch in der Schweiz wie zwischen Skylla und Charybdis, und es ist ihm die Aufgabe gestellt, zwischen den beiden Ungetümen der Macht seine Redite als Mensch zu behaupten. Vorerst hatte der junge Kapitalismus mit seinem Prinzip der Freiheit noch den Vorsprung vor dem Staate. Denn im allgemeinen Bewußtsein lebte noch stark der idealistische und optimistische Glaube des 18. Jahrhunderts, daß Mensch und Natur im Grunde gut seien. Erst die Mißstände in der kapitalistischen Wirtschaft haben dann diese Freiheit in Mißkredit gebracht und die Gegenbewegung ausgelöst. d) D i e d e m o k r a t i s c h e

Bewegung

Seit der Regeneration der dreißiger Jahre bestand in den Kantonen, die keine Landsgemeinde besaßen, das repräsentative System, welches die oberste Staatsgewalt in die Hände der Volksvertretung, also des Großen Rates legt. Dieses System entsprach dem Geist des die Zeit beherrschenden Liberalismus, der im freien Wettbewerb die Gewähr für den Sieg des Vernünftigen, in der Herrschaft der Vernunft aber die Gewähr für den materiellen und geistigen Fortschritt sieht. Das repräsentative System führte, besonders in den wirtschaftlich fortgeschrittenen Kantonen, zur Herrschaft einer kleinen Elite tatkräftiger und hervorragender Persönlichkeiten. Das liberale System wies aber trotz seiner guten Verwaltung und seiner großen wirtschaftlichen Leistungen Mängel auf, die mit der Zeit immer fühlbarer wurden. Entsprechend ihrem Grundsatz der Selbstverantwortung jedes einzelnen kümmerten sich die liberalen Regierungen nicht um die wirtschaftlidie Lage der breiten Massen, welche bei der Entwicklung der modernen Industrie in wirtschaftlich gedrückte Verhältnisse geraten waren. Auch wurde es dem Volk immer unerträglicher, daß eine bestimmte Gruppe von Intellektuellen und Finanzleuten über den Staat wie über ihr Privateigentum verfügten. Am ausgeprägtesten war das liberale System im Kanton Zürich. Die Schöpfer des Kapitalismus, die Bankiers, „Eisenbahnbarone", Fabrikbesitzer, beherrschten zugleich auch die Räte. In der Gesetzgebung wußten sie ihre Interessen zu fördern, in die Behörden abhängige Kreaturen zu setzen. Kein Wunder, daß ihr Gebaren immer selbstherrlicher und hochmütiger wurde. Im Gefühl ihrer großen Leistungen glaubten sie sich unentbehrlich, und ihre Gewalt nahm fast diktatorischen Charakter an. Den allmächtigen Alfred Escher nannte man den „König von Zürich". Die Masse der wirt-

Die demokratische Bewegung

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schaftlich Zurückgesetzten konnte schließlich in der Regierung nichts anderes sehen als die Vertretung einer Interessengruppe. Es entstand eine Volksbewegung, welche den Einfluß der Finanzmächte auf den Staat brechen wollte: die Partei der „Demokraten", die sich aus Arbeitern, kleinen Gewerbetreibenden und Bauern zusammensetzte. Mit verstärktem Nachdruck nahmen sie die Forderungen des Radikalismus wieder auf. Durch Ausdehnung der Volksrechte hofften sie die Mißstände zu beseitigen. Die Bewegung verfolgte zwei Ziele. Erstens sollte die repräsentative durch die reine Demokratie ersetzt werden. Diesem Zweck sollten zwei neue Einrichtungen dienen: das „Referendum" und die „Initiative". Das Referendum ist das Recht des Volkes, durch Abstimmung einem von der gesetzgebenden Behörde erlassenen Gesetz die Sanktion zu erteilen oder zu verweigern. Man unterscheidet das obligatorische Referendum, durch welches ein Gesetz erst dann rechtskräftig wird, wenn es in der Volksabstimmung angenommen worden ist, und das fakultative Referendum, welches die Abstimmung nur dann vorsieht, wenn eine bestimmte Zahl von Bürgern sie fordert . — Die Initiative gibt dem einzelnen das Recht, Begehren über Änderung von Verfassung oder Gesetz zu stellen, über welche abgestimmt werden muß, wenn eine bestimmte Zahl von Bürgern durch ihre Unterschrift die Anregung unterstützt. Initiative und Referendum sind in den Landsgemeindekantonen schon durch die Landsgemeinde verwirklicht. Außerhalb dieser ältesten Demokratien bestanden erst Ansätze zum Referendum in dem Recht der Volksabstimmung über die Verfassung und in dem Vetorecht des Volkes gegen Gesetze, das in St. Gallen seit 1831, in Luzern seit 1841 bestand. — Das zweite Ziel ist sozialpolitischer Natur. Der Staat sollte die Pflicht übernehmen, die wirtschaftlich Schwachen zu schützen, das heißt die Arbeitszeit des Arbeiters gesetzlich zu regeln und die Progressivsteuer einzuführen. Den Durchbruch der demokratischen Bewegung in der ganzen Schweiz brachte, nachdem andere Kantone mit der Verfassungsänderung schon vorangegangen waren, der Sturz Eschers in Zürich (1869). Ein kantonales Aktionskommitee veranstaltete eine große Volksversammlung, und eine Petition mit 27 000 Unterschriften zwang die Regierung zur Revision der Verfassung. Der erste Artikel der neuen Verfassung lautete: „Die Staatsgewalt beruht auf der Gesamtheit des Volkes; sie wird unmittelbar durch die Stimmbürger, mittelbar durch Behörden und Beamte ausgeübt." Alle Beteiligten erhielten Erfüllung ihrer Forderungen: die Bauern Verminde-

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IV. 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914

rang der indirekten Steuern, die Gewerbetreibenden billigen Kredit, die Arbeiter Verkürzung der Arbeitszeit. Die Verfassung wurde durch Einführung von Initiative und Referendum im demokratischen Sinne umgestaltet. Von Zürich aus trat die demokratische Bewegung ihren Siegeszug durch die ganze Schweiz an, so daß heute Initiative und Referendum in allen Kantonen verwirklicht sind. Doch war damit die wirtschaftliche Macht der Unternehmer nicht erschüttert. Es handelt sich bei der demokratischen Reform noch um eine rein politische Angelegenheit. Wo das Volk selbst als Konkurrent gegenüber dem Unternehmertum auftreten wollte, scheiterte es kläglich, so bei dem Versuch, mit einer „Nationalbahn" den Privatbahnen den Rang abzulaufen. e) D e r

Kulturkampf

Wie Deutschland und Frankreich erlebte auch die Schwciz in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen Wiederausbruch des Weltanschauungskampfes zwischen der katholischen Kirche und dem weltlich gewordenen Staat. Nach deutschem Vorbild nannte man ihn „Kulturkampf". Sein Ursprung liegt in dem Anspruch des politischen Radikalismus, die Autorität des weltlichen Staates auch gegenüber der Kirche durchzusetzen. Es war ein Angriff des rationalistischen Geistes der Aufklärung auf die katholische Kirche, welche den Fanatikern des Fortschritts von jeher als ihr Hauptfeind erschienen war. Schon die Auseinandersetzungen der dreißiger und vierziger Jahre hatten kulturkämpferische Züge aufgewiesen, wie die Aufhebung der Klöster im Aargau oder die Freischarenzüge gegen die Jesuiten in Luzern. Die „Kulturkämpfer" der siebziger Jahre waren gekennzeichnet durch ein besonders hohes Maß von Verständnislosigkeit gegenüber den ihrem einseitig rationalistischen Denken unzugänglichen Werten des Christentums. Bedenklicher jedoch ist, daß sie entgegen ihren eigenen Grundsätzen von Freiheit und Demokratie Staats- und Polizeigewalt im Kampfe gegen die Überzeugung ihrer Gegner einsetzten. Den Anlaß zum Kulturkampf bot der Syllabus errorum von 1864 und die Unfehlbarkeitserklärung des Papstes von 1870. Der Syllabus erklärte alle Grundprinzipien des weltlichen Staates für Irrtum; die Unfehlbarkeitserklärung erschien als eine bewußte Kriegserklärung an den Geist des 19. Jahrhunderts. Auch in katholischen Kreisen erschien sie als eine Ungeheuerlichkeit. Es setzte eine Abfallbewegung ein, die in Deutschland und der Schweiz zur Bildung einer von Rom unabhängigen

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Der Kulturkampf

Aitkatholischen Kirche führte. Einige Schweizer Kantone, voran Bern, suchten diese Bewegung als Kampfmittel gegen die katholische Kirche zu verwerten. Sie gewährten den Altkatholiken alle mögliche Unterstützung und entzogen 1873 dem Bischof von Basel ihre Anerkennung, da er für die Autorität des Papstes einstand. Bern suchte die ganze Kirdie zu verstaatlichen. Es führte die Volkswahl der Geistlichen ein, ließ diese staatlich examinieren, setzte widerspenstige ab. 1873 wies der Bundesrat zur Entrüstung der Katholiken den Nuntius aus. (Erst 1920 wurde die Nuntiatur wiederhergestellt.) Doch alles war umsonst. Auch militärische Gewalt richtete nichts aus gegen die Uberzeugung der Katholiken. Je rücksichtsloser der Staat vorging, um so größer wurde der Widerstand der Geistlichkeit und die Anhänglichkeit der Bevölkerung. Der Versuch des Staates, das geistige Leben unter seine Herrschaft zu zwingen, verlief erfolglos. Gegen Ende der siebziger Jahre flaute der Konflikt ab. Eine grundsätzliche Lösung wurde nicht gefunden, aber ein erträgliches Nebeneinander von Kirche und Staat. Es war bestimmt durch die allmählich sidi durchsetzende Einsicht, daß Staat und Kirche verschiedene Belange des Menschen berühren und deshalb eine einheitliche Regelung beider Sphären weder notwendig noch wünschbar ist. Politisch hatte der Kulturkampf die Folge, daß die konservative Partei in einigen Kantonen zur Herrschaft kam, wo man das Uberhandnehmen der radikalen Staatsallmacht nicht dulden wollte. Im heißblütigen Tessin dauerten die heftigen Parteikämpfe bis 1890 fort. Schließlich mußte dort der Bund eingreifen und mit militärischer Gewalt die Ruhe der Wahlen sichern. f) D i e V e r f a s s u n g s r e v i s i o n v o n

1874

Sowohl politisch wie sozial und wirtschaftlich hatten die ersten 20 Jahre des Bundesstaates die Schweiz vollständig umgestaltet. Es erhob sich daher der Ruf nach einer Anpassung der Verfassung an die neuen Verhältnisse und an die neuen Ideen. Drei Tendenzen vereinigten sich in der Forderung nach Revision: 1. sollten die neuen demokratischen Volksrechte auch im Bunde Eingang finden, 2. sollte der Bund wie die Kantone größere soziale Aufgaben und damit auch größere Kompetenzen erhalten. Die ärmeren sozialen Schichten verlangten eine Vergrößerung der Staatsgewalt, damit der Staat ihnen helfen könne. Diese Vergrößerung der Staatsgewalt ging

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IV. 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914

auf Kosten der Kantonselbständigkeit, aber auch auf Kosten des freien Individuums. Die Revisionisten strebten also außerdem nach größerer Zentralisierung. Überdies setzte sich im Kampf um die Revision der Kulturkampf fort. Besonders leidenschaftlich war der Kampf um die Einheit der Volksschulerziehung. Die Anhänger der Staatsallmacht hätten am liebsten die ganze Volkserziehung zur Sache der Bundesgesetzgebung erklärt. Von möglichster Einheitlichkeit erhofften sie — die Radikalen und Sozialisten — die schönsten Vorteile. Gerade diese Einheit und den Verlust der lokalen Selbständigkeit fürchteten und verabscheuten die Föderalisten, zu denen außer den Katholiken von jetzt an auch die französisch sprechenden Westschweizer gehörten. Ein erster Revisionsentwurf wurde 1872 von diesen zwei Gruppen in der Volksabstimmung zu Fall gebracht. Die Revisionisten mußten auf die Bundesaufsicht über die Schule verzichten. Die Schweiz erhielt keinen „Schulvogt", wie die Föderalisten sagten. Eine neue Vorlage wurde 1874 mit großer Mehrheit angenommen. Die neue Verfassung brachte eine größere Zentralisierung im Militär- und Rechtswesen, sie gab dem Bunde neue wirtschaftliche Kompetenzen, die Aufsicht über "Wasserbau und Forstpolizei im Hochgebirge und vor allem das Gesetzgebungsrecht über die Fabrikarbeit und die Eisenbahnen. Als neues Volksrecht wurde das fakultative Referendum für Bundesgesetze eingeführt. Aus dem Kulturkampf stammen verschärfte Bestimmungen gegen die Klöster und die Einführung der Zivilehe, womit die Schweiz einer allgemein-europäischen Entwicklung folgte. Die neue Verfassung hatte bedeutsame Auswirkungen. Das Referendum, das anfangs vielen Liberalen gefährlich und bedenklich erschien, hat sich in der Folgezeit so gut bewährt, daß es 1921 auf Staatsverträge ausgedehnt werden konnte. Nur etwa ein Zehntel der von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze wurden vor das Volk gebracht. Meistens wurden solche Vorlagen abgelehnt, die eine zu große Steigerung der Staatsgewalt gebracht hätten. Das Referendum erwies sich als ein Element der politischen Beruhigung, da die Minderheiten jetzt in der Lage waren, ein Gesetz, das sie bekämpften, vor das Volk zu ziehen. Es gelang immer wieder, durch Zusammenhalten Beschlüsse der Räte in Volkabstimmungen zu Fall zu bringen. Im Jahre 1891 wurden die Volksrechte durch die Einführung der Initiative für Teilrevisionen der Verfassung erweitert. "Wenn 8 Kantone oder 50 000 stimmfähige Bürger einen Änderungsvorschlag einbringen, muß darüber eine Volksabstimmung stattfinden. So erhielt das Verfassungsleben

Verfassung von 1874. Referendum und Initiative

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der Schweiz eine außerordentliche Beweglichkeit. Zwischen 1874 und 1947 ist über nicht weniger als 81 Verfassungsänderungen abgestimmt worden, wovon die meisten auf Initiativen zurückgingen. 45 der Änderungen wurden angenommen. Zum Vergleich sei erwähnt, daß die USA seit 1789 nur 21 Verfassungsänderungen durchgeführt haben. Das Initiativrecht für Gesetze besteht dagegen bis heute nicht. Audi die Volkswahl des Bundesrates wurde vom Volke selbst abgelehnt. Während es sich in den kleinen Verhältnissen der Gemeinde und des Kantons ein Urteil über die persönliche Eignung der Kandidaten zutraute, überließ es die Wahl der obersten Landesbehörde weiterhin den eidgenössischen Räten, die durch ihre genauere Kenntnis der persönlichen Verhältnisse und der Erfordernisse des Amtes besser befähigt sind eine sachlich richtige Wahl zu treffen. Initiative und Referendum sind ursprünglich schweizerische Formen. Ihr Vorbild kann nicht in andern Ländern gefunden werden, wohl aber in der Vergangenheit der Schweiz selbst: in den Landsgemeinden der Landkantone und in den Volksanfragen der Städteorte. Durch diese Einrichtungen unterscheidet sich die „reine" Demokratie der Schweiz von der repräsentativen Form der anderen modernen Demokratien. Sie hat mehr Verwandtschaft mit der Demokratie des alten Athen als mit der Amerikas und des europäischen Westens. In der Schweiz ist der Bürger nicht auf die Wahl seiner Vertreter beschränkt. Er kann selbst, auch gegen den Wunsch von Regierung und Räten, eine Volksabstimmung veranlassen, vorausgesetzt, daß er für seine Idee genügend Unterschriften erhält. Nicht nur in Behörden und Räten ist die Willensbildung des Staates verkörpert, auch das Gewissen und die Einsicht des einzelnen sind formell anerkannte Elemente des Staatsaufbaus. Das Urbild des Teil-Mythos erweist sich so als lebendige Kraft bis in das moderne Verfassungsleben hinein. Die stärkere Zentralisierung, die übrigens im Laufe der Zeit zwangsläufig immer weiter fortschritt, ließ die Gefahr eines Uberhandnehmens der Bundesbürokratie auftauchen. Dies wird weitgehend dadurch vermieden, daß die neuen Bundesbefugnisse nicht von Bundesbeamten, sondern von den kantonalen Organen gehandhabt wurden. Dies setzt allerdings ein aufrichtiges Vertrauensverhältnis zwischen Bund und Kantonen voraus, anderseits fördert diese Einrichtung gerade dieses Vertrauen, da Bund und Kantone weniger als Rivalen auftreten, sich vielmehr als Teile ein und desselben Organismus betätigen. — So zeigt die politische Organisation der Schweiz ein außerordentlich mannigfaltiges Bild. Auf drei verschiedenen

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IV. 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914

Stufen äußert sich selbständige politische "Willensbildung: in der Gemeinde, im Kanton und im Bund. Überdies ist die Willensbildung des Bundes nicht an einer Stelle konzentriert. Verfassungsmäßige Organe des Gesamtstaates sind neben dem B u n d e s r a t und der B u n d e s v e r s a m m l u n g auch die K a n t o n e , das V o l k a l s G e s a m t h e i t in den Abstimmungen und Wahlen und schließlich der e i n z e l n e B ü r g e r durch sein Recht auf Initiative und Referendum. Die Verfassungsrevision von 1874 hatte die formalpolitischen Fragen in der Schweiz im 'wesentlichen gelöst, wenn auch noch viele Einzelbestimmungen seither geändert worden sind. In den Vordergrund des Interesses traten von jetzt an immer mehr die wirtschaftlichen und sozialen Fragen.

g) W i r t s c h a f t l i c h e E n t w i c k l u n g s e i t

1870

Die bedeutendste der wirtschaftlichen Fragen war immer noch die der Eisenbahn. Zwei Probleme waren es, welche die Gemüter bewegten: der Bau der Gotthardbahn in den siebziger Jahren und der Staatsankauf der Bahnen in den neunziger Jahren. Der Bau der Gotthardbahn war im wesentlichen ein Werk der Privatwirtschaft. Ihr Begründer war A. Escher; doch die Gotthardbahn sollte ihm den Sturz auch seiner wirtschaftlichen Macht bringen. 1872 wurde mit dem Bau begonnen unter der technischen Leitung von Louis Favre. Das Unternehmen wurde durch Eschers Gotthardgesellsdiaft und staatliche Beiträge der Schweiz, Deutschlands und Italiens finanziert. Als sich herausstellte, daß der Voranschlag zu niedrig berechnet war, mußte Escher von der Leitung zurücktreten. Erst nach langwierigen Verhandlungen konnten die nötigen Mittel bereitgestellt und der Bau bis 1882 vollendet werden. — Für die Schweiz war der Durchstich des Gotthards von dreifacher Bedeutung. Er stellte erstens die Bahnverbindung mit dem südlichen Nachbarn, mit Italien her, und ermöglichte dadurch die engen wirtschaftlichen Beziehungen, 'die seither zwischen den beiden Ländern bestehen. Er brachte zweitens den Tessin in nähere Verbindung mit der deutschen Schweiz, und er lenkte drittens einen großen Teil des internationalen Verkehrs über die Schweiz; so wurde sie zu einem Schnittpunkt der europäischen Verbindungen. Die Schweiz hatte damit den Vorsprung seiner Nachbarn wieder eingeholt, die schon 1867 die Brennerbahn, 1871 den Tunnel des Mont Cenis

Durchstich des Gotthard. Die Bundesbahnen

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eröffnet hatten. 1906 wurde als zweite durchgehende Verbindungslinie von internationaler Bedeutung die Simplonbahn gebaut. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde auch die Frage der Bundesbahn wieder akut. Der Bund hatte sich bei Erteilung der Konzession j a das Recht des Rückkaufs vorbehalten. Lange sträubte sich das Volk in seiner Mehrheit gegen die Verstaatlichung der Bahnen aus Abneigung gegen Schulden und Bürokratie. Es wurde erst bekehrt, als Krisen und Rücksichtslosigkeiten der „Eisenbahnbarone" die Privatbahnen in Mißkredit brachten. Die Leitung der Bahnen zeigte bei Unterhandlungen mit ihren Angestellten oft einen nidit mehr zeitgemäßen Starrsinn des Unternehmerstandpunktes. Die Tarife waren überhöht und die Zusammenarbeit der verschiedenen Bahnen mangelhaft. Bei den Befürwortern der Verstaatlichung spielte auch wieder die Vorstellung der Staatsallmacht und des demokratischen Wohlfahrtsstaates mit. Im Abstimmungskampf 1898 war ihre Parole: „Die Schweizerbahnen dem Schweizervolke". Das war auf die Aktionäre gemünzt, unter denen übrigens sehr viele Ausländer waren. Dieser Parole antwortete die andere: „Die Schweizer Schuld dem Schweizervolke". Es haben beide Recht behalten. Das Rückkaufgesetz wurde angenommen, die Schulden aber, die es mit sich brachte, belasten heute noch den Haushalt des Bundes. Die steigende Bevölkerungszahl und der immer schärfer werdende Wettkampf auf dem internationalen Markt zwangen die Schweiz, in der wirtschaftlichen Entwicklung mit den europäischen Industriestaaten Schritt zu halten. Die erste Volkszählung von 1837 hatte eine Bevölkerung von 2,2 Millionen ergeben. Im Jahre 1946 waren es 4,4 Millionen. In hundert Jahren hatte sich also die Bevölkerung verdoppelt. Schon in früheren Jahrhunderten hatte sich die Schweiz nur knapp, die armen Bergkantone nur mit Hilfe des Solddienstes ernähren können. Das Wachstum der Bevölkerung zwang, neue Quellen des Erwerbs zu erschließen. D a die Steigerung des Bodenertrages nur sehr beschänkt möglich ist, war die Schweiz auf industrielle Ausfuhr angewiesen. Weil ihr aber überdies die Rohstoffe fehlen, kann sie sich einzig durch Höchstleistungen der Veredlungsindustrien auf dem Weltmarkt halten. So machte auch die Schweiz den Aufstieg der modernen Industrie und den Ubergang zum spezialisierten Maschinenbetrieb mit. Eine wertvolle Hilfe bietet die Natur durch die gewaltigen Wasserkräfte der Bergströme. Im 20. Jahrhundert vermochte sich die schweizerische Industrie und Eisenbahn durch energischen Ausbau der elektrischen Krafterzeugung weitgehend von der ausländischen Kohle unabhängig zu machen. 15

Wartburg, Schweiz

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IV. 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914

Da die Industrie des 18. Jahrhunderts größtenteils Heimindustrie gewesen war, mußte die Schweiz beim Übergang zur Maschine vieles vom Ausland lernen. Ein rascher und gründlicher Ausbau des Schulwesens, auch des Fachschulwesens, bietet Gewähr, daß das größte „Kapital" einer spezialisierten Veredlungsindustrie, das technische Können und die Zuverlässigkeit der Arbeitsleistung ständig erhalten und gesteigert wird. Günstig w a r für das Land die Epoche des Freihandels in den 60er und 70er Jahren. Es wurden damals von der schweizerischen Technik Aufgaben gelöst, die man vor wenigen Jahren noch für unlösbar angesehen hatte, wie die Durchstechung des Gotthards und die Konstruktion von Gebirgslokomotiven. Schwieriger wurde die Lage, als Ende der siebziger Jahre wieder eine Schutzzollbewegung in Europa einsetzte. Die Exportindustrie konnte sich halten dank rascher Anpassung an die neuen Verhältnisse und dank ihrer Konzentration auf Qualität. Die Umstellung wurde durch Einwanderung deutscher Facharbeiter stark gefördert. — Die schweizerische Textilindustrie war der englischen bis Mitte des Jahrhunderts noch ebenbürtig. Doch mußte sie immer mehr vor der englischen weichen, da diese billigere Kohle zur Verfügung hatte. Dafür entstand im Anschluß an die Reparaturwerkstätten der Textilfabriken eine neue Maschinenindustrie. Auf der Wiener Ausstellung von 1873 zeigte es sich, daß sie die englische bereits überholt hatte. Hervorragendes leisteten die Maschinenfabriken in Oerlikon und Winterthur, besonders in der Konstruktion von Lokomotiven. Die Elektroindustrie erhielt einen starken Antrieb durch die Erfindung der Fernleitung, die von einer Schweizer und einer deutschen Firma gemeinsam gemacht wurde. — In Basel entwickelte sich ebenfalls eine neue Qualitätsindustrie von einzigartiger Bedeutung: als die Seidenbandweberei langsam zurückging, entstand aus der Seidenfärberei heraus die Farben- und dann die allgemeine chemische Industrie. In Verbindung mit der Universität und der Ärzteschaft entwickelte sich so ein Wirtschaftszweig, der bis zu ein Achtel der ganzen Welterzeugung an chemischen Präparaten liefert. — Die bis zum äußersten spezialisierte Uhrenindustrie des Westens versorgte die ganze Welt mit ihren unübertrefflichen Präzisionsuhren. Von dem Anschluß an die Weltwirtschaft wurde auch die Landwirtschaft betroffen. Als mit der Entwicklung der Eisenbahn die Einfuhr von Rußland und Amerika einsetzte, fielen die Getreidepreise bald auf weniger als die Hälfte. Ähnlich wie in anderen Ländern wurde durch die internationale Konkurrenz auch in der Schweiz die Existenz des Bauern in Frage gestellt.

Entwicklung der Industrie und Landwirtschaft

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Doch fand der Schweizer Bauer einen eigenen Weg, um seine wirtschaftliche Stellung zu behaupten. Er fing an, wie die Industrie für die Ausfuhr zu arbeiten. Dazu eignete sich nur Qualitätsware. Die Landwirtschaft suchte ihr Heil in der Milchwirtschaft. Zum Käse traten als Ausfuhrwaren bald auch Milchschokolade und Kondensmilch. Die Schweizer Milchwirtschaft hatte einen Verbündeten, der sie außer Konkurrenz stellte: die Bergnatur, die ihrer Milch die unvergleichliche Qualität verleiht. Noch in einer anderen Hinsicht wurde die Bergnatur zum Verbündeten der Wirtsdiaft des Landes. Schon im 18. Jahrhundert war die Schweiz ihrer Schönheit wegen von Ausländern aufgesucht worden. Seit dem Bau der Eisenbahnen wurde die Schweiz eines der beliebtesten Reise- und Ferienjänder Europas. Die Entdeckung der Heilkräfte der Bergluft ließ außerdem eine Menge von Kurorten entstehen, denen unzählige Lungenkranke ihre Heilung verdanken. Eine Steigerung erfuhr der Zustrom der Fremden durch das Aufkommen des Sports, sowohl des Bergsteigens wie des Wintersports. Der Fremdenverkehr wurde zu einem wichtigen Erwerbszweig der Schweiz, der viele abgelegene Alpengegenden vor Entvölkerung geschützt hat. Diese Wandlungen in der schweizerischen Wirtschaft hatten eine doppelte Wirkung: Einmal wurde die Schweiz zu einem ausgesprochenen Industrieund Handelsstaat. 1939 wurde ihr Außenhandel, wertmäßig auf den Kopf der Bevölkerung berechnet, nur von Holland und England übertroffen. Diese Stellung auf dem Weltmarkt konnte die Schweiz nur durch äußerste Spezialisierung, auch in der Landwirtschaft, erreichen. Das Ergebnis dieser Anstrengungen ist aber ein allgemeiner Lebensstandard, der von keinem Lande der Erde übertroffen wird.

h) D i e s o z i a l e u n d p o l i t i s c h e E n t w i c k l u n g s e i t d e m E n d e d e s 19. J a h r h u n d e r t s Die Umwandlung der Schweiz in einen auf Welthandel eingestellten Industriestaat hatte tiefgreifende Wandlungen ihrer sozialen Struktur zur Folge. 1850 noch lebten 2 240 000 Schweizer auf dem Land, nur 154 000, das sind 6 % der Bevölkerung, in Städten von über 10 000 Einwohnern. Die entsprechenden Zahlen für 1941 sind: 2 860 000, 1 400 00 (33 %). Die städtische Bevölkerung hat sich verzehnfacht. Ebenso bedeutend ist die Verls*

228

I V . 8. Die Sdiweiz von 1848 bis 1914

Schiebung der Berufstätigkeit. Während 1850 zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren, ist es heute nur noch ein Fünftel. 45 % arbeiten in Industrie und Handwerk, 10 % in Handel und Bankwesen. Nur in England und Belgien übertrifft der verhältnismäßige Anteil der Industrie an der Gesamtbevölkerung denjenigen der Sdiweiz. Doch ist trotz dieser umfassenden Verschiebungen vieles von den alten Eigentümlichkeiten der Sdiweiz erhalten geblieben. Die Geschlossenheit der alten Konfessionsgebiete zwar hat die starke Binnenwanderung längst völlig aufgehoben. Doch die Lebendigkeit des selbständigen Gemeindelebens hat sidi erhalten, obwohl nur noch jeder dritte Eidgenosse in seiner Heimatgemeinde ansässig ist. Das ausgewogene Verhältnis zwischen Stadt und Land, das von jeher eine der Stärken der Sdiweiz gewesen war, ist auch durch das Anwachsen der Städte und durch die Industrialisierung nicht völlig zerstört worden. Es hat aber einen anderen Charakter angenommen. Obwohl nur noch ein Fünftel der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeitet, haben immer noch zwei Drittel ihren Wohnsitz auf dem Lande, in Dörfern oder Kleinstädten. Das rührt daher, daß die schweizerische Industrie weitgehend dezentralisiert blieb. In Kleinstädten, ja in Dörfern finden sidi oft Fabriken von Weltruf. N u r an wenigen Orten entstanden die abstoßenden Massensiedlungen, die das soziale Leben vieler Länder so schwer belasten. Die entstehende Industrie konzentrierte sich nicht an wenigen bevorzugten Orten, sie suchte die Gegenden auf, die überschüssige Arbeitskräfte besitzen und die Wasserkräfte zur Verfügung stellen. So konnte das Alpental Glarus zu einem ausgesprochenen Industrieland werden. Vielfach behielten die Arbeiter noch einen kleinen Bauernbetrieb bei, so daß die Verbindung mit dem Lande nicht verloren ging. Die Qualitätsarbeit fordert beruflich geschulte Arbeiter. Diese können erhöhte Anforderungen stellen, bringen aber anderseits kraft ihrer Bildung ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse anderer Berufe und anderer Bevölkerungsklassen mit als ein völlig ungeschultes Proletariat. Ein solches aber konnte in der Schweiz im Vergleich zu den großen Industriestaaten nur in geringerem Maße entstehen. So ist es verständlich, daß die üblen sozialen Begleiterscheinungen der modernen Wirtschaft trotz der starken Industrialisierung nicht allzu krasse Formen annahmen, daß die sozialen Verhältnisse im Ganzen gesund blieben und der nihilistische Geist des Umsturzes um jeden Preis nie in gefährlichem Maße um sich greifen konnte. Trotzdem wurde auch für die Schweiz seit Ende des 19. Jahrhunderts die

Soziale Umschichtung. Soziale Frage

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soziale Frage die Zentralfrage. Für einen Teil der Arbeiter hatte das Aufkommen des Industrialismus dieselben Folgen wie in den andern Ländern. Auch in der Schweiz hatte die französische Revolution die alte Gewerbeordnung zerstört und so die unbemittelten und konkurrenzunfähigen Handwerker und Heimarbeiter den neuen Fabrikherren ausgeliefert. Handelsund Gewerbefreiheit bedeuteten zunächst Freiheit des wirtschaftlich Starken, den Schwachen hemmungslos auszubeuten. In ungesunden Lokalen, an lärmenden Maschinen waren die Unglücklichen bis 16 Stunden am Tage — oder auch in der Nacht — an eine geisttötende, mechanische Arbeit gebunden, bedrückt von der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage und von der ständigen Furcht, von einem Tag auf den andern entlassen zu werden. Der dunkelste Punkt war der Mißbrauch der Kinder, der ähnliche Formen annahm wie in England. Die erste Phase der Arbeiterbewegung war in der Schweiz wie in Schlesien, in England und teilweise in Frankreich der Aufstand des Arbeiters gegen die Maschine. Im Jahre 1832 verbrannten die "Weber in Uster eine Fabrik, in der neue Webmaschinen versucht werden sollten. Ihr Wortführer erklärte: „Wir sind es uns und unseren Kindern schuldig, die Maschinen zu zerstören, weil sie uns um unseren Verdienst bringen." Obgleich der Liberalismus für die Klagen der Arbeiter noch lange taub blieb, kam es erst 1870 zur Gründung einer eigentlichen Arbeiterpartei (Sozialdemokratische Partei). Bis dahin suchten die Arbeiter ihr Heil in der formalen politischen Freiheit. Der 1838 in Genf gegründete Grütliverein war erfüllt von dem idealistischen Glauben, daß Freiheit und absolute Demokratie auch Gerechtigkeit und Lösung der sozialen Frage bringen würden. Die Arbeitervereine waren zuerst bloß Bildungsvereine, nicht politische Parteien. Politisch füllten die Arbeiter die Reihen der Demokraten und Radikalen. Doch mit dem Anwachsender Städte und der stärkeren Entwurzelung der Arbeiterklasse drang auch in der Schweiz der Klassenkampf ein. Mit sozialistischen Ideen wurden die Schweizer Arbeiter zum erstenmal in den vierziger Jahren durch den deutschen Schneidergesellen W. Ch. Weitling und die deutschen Arbeitervereine bekannt. Der ersten Internationale schlössen sich auch die schweizerischen Arbeitervereine an. Genf wurde Treffpunkt der internationalen Revolutionäre. Dort wurde 1868 von 3000 Bauarbeitern der erste Streik durchgeführt mit dem Erfolg, daß ihre Arbeitszeit um eine Stunde herab-, der Lohn um 10 % heraufgesetzt wurde. Eine eigene Soziallehre begründeten die Schweizer Arbeiterführer nicht.

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IV. 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914

Ihr Kampf verfolgte in erster Linie praktische Ziele. Sie gründeten Gewerkschaften, die mit den Unternehmern Gesamtarbeitsverträge abschlössen, Krankenkassen gründeten und die Lohnkämpfe durchfochten. Die Konsumvereine, die sich 1890 in der ganzen Schweiz zusammenschlössen, verbilligten dem Arbeiter das Leben. Die Schweiz wurde das Land mit dem ausgebreitetsten Genossenschaftwesen. Der Marxismus fand ,in der Schweiz nur schwer und langsam Eingang, zuerst durch ausgewiesene deutsche Sozialdemokraten. Viele Arbeiter begegneten den Ansichten des Marxismus noch mit Widerwillen: der grundsätzlichen Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen, der Vorliebe für den vollständig rationalisierten Großbetrieb, dem Ziele des Zwangsstaates, der Aufhebung der Nationalitäten. Der Gegensatz zum bestehenden Staat wurde nie so grundsätzlich und scharf, wie er es zeitweise in Deutschland war. Dem Sozialdemokraten wurde nie der Eintritt in die Staatsverwaltung verwehrt. So beschränkte sich die Arbeiterpartei auch in der Hauptsache auf die legalen Kampfmittel, welche die bestehende Verfassung zur Verfügung stellte. Otto Lang und Greulich, die Arbeiterführer am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bekannten sich zwar zum Klassenkampf und zum Recht des Arbeiters auf den vollen Ertrag seiner Arbeit. Doch waren sie ebenso entschieden gegen Revolution und Gewalt und suchten ihr Ziel mit den Mitteln der Demokratie zu erreichen. Als 1887 der schweizerische Arbeiterbund und das Arbeitersekretariat gegründet wurden, gewährte der Bund dem letzteren seine finanzielle Unterstützung, wie sie auch die andern Berufsverbände, der Handels- und Industrieverein, das Bauernsekretariat und der Handwerker- und Gewerbeverein genossen. Seit der Mitte des Jahrhunderts begann auch der Staat sich der Arbeiter anzunehmen. Auf Initiative einzelner Behörden oder auch einzelner Arbeiter, die von ihren demokratischen Rechten Gebrauch machten, kamen Gesetze zustande, welche die Kinderarbeit verboten, die Arbeit der Erwachsenen zeitlich beschränkten und die Arbeiter vor Schädigung ihrer Gesundheit schützten. Das erste befriedigende Fabrikgesetz der Schweiz entstand 1864 im Kanton Glarus. Es wurde von der versammelten Landsgemeinde gutgeheißen. Die Bundesverfassung von 1874 gab dem Bund die Befugnis zur Fabrikgesetzgebung und übertrug ihm den Arbeiterschutz. 1877 wurde das Fabrikgesetz erlassen, das die Arbeitszeit beschränkte, die Kinderarbeit in Fabriken verbot und Vorschriften gegen gesundheitsschädliche Fabrikein-

Sozialistische Bewegung. Neue Parteien

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richtungen erließ. Das eidgenössische Fabrikinspektorat hat die Durchführung dieser Bestimmungen zu überwachen. Die Gründung der Sozialdemokratischen Partei im Jahre 1870 leitete eine neue Epoche im schweizerischen Parteileben ein. Die zwei großen alten Parteien der Liberalen und der Konservativen waren Parteien der Weltanschauung gewesen und hatten alle Bevölkerungskreise umfaßt. Sie gingen auf die Gestaltung des ganzen politischen Lebens aus. Die sozialdemokratische Partei war die erste Partei, welche die Interessen einer bestimmten sozialen Schicht gegenüber dem Volksganzen vertrat. Mit der Verfassungsreform von 1874 hatten die Liberalen und Radikalen ihre formalpolitischen Ziele erreicht. Gegen 1900 fing ihre innere Kraft langsam an zu erlahmen. Sie hatte keine neuen Ziele mehr aufzustellen, die das ganze Volk bewegt hätten. Die Liberalen und die Radikalen (oder Demokraten) schlössen sich 1894 zur freisinnig-demokratischen Partei zusammen. Da an Stelle der politischen die sozialen und wirtschaftlichen Fragen in den Vordergrund traten, löste sich die innere Geschlossenheit der alten Weltanschauungsparteien. Die anfangs sehr kleine sozialdemokratische Partei erhielt immer mehr Zuwachs aus Arbeitern, die sich als „klassenbewußte Proletarier" der Partei ihrer Klasse anschlössen. Den Verlust hatten die Demokraten zu tragen, während die konservative Partei ihre Stellung behauptete. Einen weiteren schweren Verlust erlitt die freisinnig-demokratische Partei durch die Abspaltung der Bauern, die wie die Arbeiter begannen, ihre eigenen Wege zu gehen. 1897 schlössen sich die verschiedenen Bauernvereine zum schweizerischen Bauernverband zusammen. Er errichtete wie der Arbeiterbund ein eigenes Sekretariat. 1918 gründeten die Bauern eine eigene „Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei". Die freisinnige Partei blieb zwar die größte, verlor aber die absolute Mehrheit. Es kommt immer mehr die Zeit herauf, wo die einzelnen Interessengruppen sich organisieren, sich aus dem Volksganzen aussondern und bewußt ihre eigene Interessenpolitik treiben, oft gegen das wohlerkannte Landesinteresse. Die neuen sozialen Verhältnisse forderten auch neue politische Formen. Schon die Einführung von Initiative und Referendum hatten den Minderheiten die Möglichkeit eröffnet, zur Geltung zu kommen. Wo das Volk die Regierung selbst wählte, mußten sich bald verschiedene Parteien in die Regierungsposten teilen, und die Ansicht verschwand allmählich, daß nur homogene Regierungen aktionsfähig seien. Auch in dieser Hinsicht folgte der Bund schließlich der Entwicklung in den Kantonen. 1891 wurde zum

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IV. 8. Die Schweiz von 1848 bis 1914

erstenmal ein katholisch-konservativer Bundesrat gewählt: Josef Zemp von Luzern. 1919 erhielt die katholisch-konservative Partei einen zweiten Sitz im Bundesrat, 1929 trat die Bauern-, Bürger- und Gewerbepartei in die höchste Landesbehörde ein, 1943 auch die sozialdemokratische Partei. Es besteht seither der Brauch, nicht nur die verschiedenen sprachlichen, sondern auch die politischen Gruppen in der obersten Landesbehörde zu vereinigen. Das Prinzip der Zusammenarbeit hat sogar eine bestimmte verfassungsmäßige Regelung erfahren durch die Einführung des Proportionalwahlrechts. Es besteht darin, daß die Ratssitze auf die Parteien proportional zu ihrer Stimmenzahl verteilt, werden, während im Majorzsystem*), das bis dahin gültig gewesen war, sämtliche Sitze der Mehrheitspartei des Wahlkreises zugefallen waren. 1891 wurde das neue System im Tessin als erstem Kanton eingeführt. 1918 fand es auch im Bunde Eingang für die "Wahlen des Nationalrates. Ein Rückblick auf die politische Entwicklung der Eidgenossenschaft zeigt zwei charakteristische Merkmale. Das eine ist das kräftige politische Leben, das sie von ihrer Gründung an erfüllte. Schon in den ersten Jahrhunderten traten Spannungen auf, die immer neu überwunden werden mußten. Die Städte standen den Ländern gegenüber, die östlichen den westlichen, die katholischen den reformierten Orten. Seit der Revolution trat dazu der Gegensatz zwischen Föderalisten und Zentralisten, das 19. Jahrhundert brachte die Auseinandersetzung zwischen den weltanschaulich begründeten Parteien der Konservativen und der Liberal-Radikalen. Am Ende des 19. Jahrhunderts erscheinen die sozial bedingten Interessenparteien. Durch die ganze Geschichte der Schweiz hindurch läßt sich erkennen, daß auch der härteste Parteikampf, auch der Bürgerkrieg, nie zur Lösung des Bundes führte. Der Wille zum Bund stand fast immer über dem Parteiinteresse. So ist es erklärlich, daß im Parteikampf von der Waffe seit Jahrzehnten kein Gebrauch mehr gemacht worden ist, obwohl jeder Wehrmann sein Gewehr zu Hause hat. Sprachliche Unterschiede haben zu Parteibildung niemals Anlaß gegeben. Das andere Merkmal ist die Art und Weise, wie notwendig gewordene Neuerungen durchgeführt werden. Die bundesstaatliche Organisation der Schweiz bringt es mit sich, daß die ersten Versuche immer im Rahmen der *) Proportionalwahlredit oder kurz „Proporz" nennt man in der Schweiz das Verhältniswahlrecht. Für das Mehrheitswahlrecht wurde analog zu „Proporz" der Ausdruck „Majorz" gebildet.

Eigenart des schweizerischen Staatswesens

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Kantone gemacht werden. Was sich im kleinen erprobt hat, kann dann allmählich auf das Ganze übertragen werden. So setzte sich das Repräsentativsystem 1830/31 in den Kantonen durch, der Bund übernahm es achtzehn Jahre später in die Bundesverfassung. Die ersten Versuche mit Initiative und Referendum machten die Kantone, erst später gingen diese Einrichtungen auch in das Bundesleben über. Dasselbe gilt für die Sozialgesetzgebung. Nur dadurch, daß ihre Befürworter auf ihre Bewährung in dem kleinen Kanton Glarus hinweisen konnten, war es möglich, sie dem gesamten Volke annehmbar zu machen. Die Gewohnheit der gemeinsamen Regierung durch verschiedene Parteien und die Proportionalwahl haben sich ebenfalls zunächst in den Kantonen, später erst im Bunde durchgesetzt. Hierin liegt wohl der größte Vorzug der Dezentralisierung des politischen Lebens: die fortwährende Erneuerung der rechtlichen und staatlichen Formen, die jeder lebendige Staat braucht, kann im Bundesstaate geschehen chne gewaltsame Experimente, welche das Wohl des Ganzen aufs Spiel setzen. Neu auftretende Probleme können dort, wo sie zuerst sichtbar werden, im kleinen, übersichtlichen Rahmen des einzelnen Kantons gelöst werden. Was sich bewährt, findet dann seinen Weg auch in die Gesetzgebung des Bundes. Schädliches kann in seinen Folgen schon im Kleinen sichtbar werden, noch ehe es das Leben des ganzen Volkes gefährdet. Außerdem gibt die weitgehende Selbständigkeit der Kantone den eidgenössischen Räten die Möglichkeit, die höchsten Magistrate des Bundes unter einer großen Zahl von Männern auszuwählen, die bereits im kleinen Gelegenheit hatten, verantwortliches Handeln und staatspolitische Fähigkeiten zu erproben. Vor allem gibt die Mannigfaltigkeit eigenständiger und selbstverantwortlicher politischer — und auch kultureller — Körperschaften die Möglichkeit, unaufhörlich gegenseitig Erfahrungen auszutauschen, die nicht gemacht werden könnten, wenn ein und dieselbe Organisation das ganze Land umfassen und einheitlich gestalten würde.

9. DIE SCHWEIZ SEIT DEM AUSBRUCH DES WELTKRIEGES Der Ausbruch des Weltkrieges 1914 überraschte die Völker wie ein Blitz aus heiterem Himmel und versetzte dem Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts einen jähen Schlag. Der Krieg machte Kräfte der Bestialität frei, die man längst überwunden glaubte, die sich auch nach dem Friedensschluß

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IV. 9. Die Schweiz seit dem Ausbrudi des Weltkrieges

nicht mehr bändigen ließen und die Welt in das Chaos stürzten, in dem sie sich heute windet. N u r wenige tiefer Sehende hatten die Anzeichen der drohenden Katastrophe schon in den Zeiten des materiellen Wohlergehens erkannt. Die Schweiz ist keine Insel. Wenn sie auch materiell verschont blieb, so sieht sie sich doch gleich den andern Völkern in den höllischen Strudel hineingerissen und hat zu zeigen, ob sie sich auch im 20. Jahrhundert zu bewähren vermag. Ihre äußere Unabhängigkeit vermochte sie zu behaupten dank ihrer festen politischen Haltung. Die zwei Grundpfeiler, auf denen die Unabhängigkeit der Schweiz beruht, sind eine zuverlässige und grundsätzliche Neutralitätspolitik und eine starke, zum Kampf gegen jeden Angreifer entschlossene Armee. Sie haben gemeinsam eine doppelte Aufgabe zu erfüllen: einerseits haben sie den Krieg vom Lande fern zu halten, anderseits sollen sie jedem Nachbarn die volle Sicherheit geben, daß jede Macht, die das schweizerische Territorium zu ihrer militärischen Basis oder Durchmarschstraße machen wollte, auf den zähesten Widerstand stoßen würde. Am 1. August 1914 erklärte der Bundesrat, die Sdiweiz werde ihrer Tradition und ihren internationalen Verpflichtungen gemäß unbedingte Neutralität einhalten. Diese wurde von allen Mächten ohne Vorbehalt anerkannt. Zu ihrer Sicherung stand während des ganzen Krieges die Armee an den Grenzen, zeitweise in voller Kriegsstärke. In den Jahren vor Kriegsausbruch war sie in richtiger Erkenntnis der Weltlage neu organisiert und bewaffnet worden. Ernsthafte Verletzungen ihres Territoriums sind der Schweiz während des ganzen Krieges erspart geblieben. Damit hat sich die „bewaffnete Neutralität" auch im modernen Krieg als wirksames Mittel der politischen Selbstbehauptung erwiesen. Gefährlicher als militärischer Druck waren geistige und wirtschaftliche Einflüsse, die von außen in die Schweiz hereinschlugen. Zum erstenmal tat sich wegen entgegengesetzter Sympathien ein Graben auf zwischen der deutschen und der französischen Schweiz. Eine hemmungslose Propaganda der Kriegsparteien suchte ihn nach Möglichkeit zu erweitern. Da sich die Neutralität nur auf staatliche Handlungen, nicht auf die Gesinnung bezieht, griff die Regierung nur sehr schwach ein. Es waren angesehene Einzelne, die durch ihre Mahnungen die beidseitige Parteinahme etwas dämpften. Besonders gefährdet war die wirtschaftliche Lage der Schweiz, weil beide Kriegsparteien eine unerbittliche Blockade des Gegners durchführten. Zu

Verhältnis zu den Mächten w ä h r e n d des ersten Weltkrieges

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ihrer schmerzlichen Überraschung mußte die Schweiz erfahren, daß sich keine der beiden Parteien an die in der Haager Konvention von 1907 festgelegten Rechte der Neutralen hielt. Da die Schweiz weder genügend Lebensmittel für ihre Bevölkerung hervorbringt noch die Rohstoffe für ihre Industrie selbst besitzt, mußte sie ihren Außenhandel um jeden Preis aufrechterhalten. Sie hatte ihn daher einer Kontrolle der Großmächte zu zu unterwerfen, da beide Parteien sich dagegen sichern wollten, daß die eigenen Produkte über die Schweiz dem Gegner zugute kommen würden. Empfindlicher war die Kontrolle der Entente als diejenige Deutschlands. Nur mit Mühe erhielt die Schweiz das nötige Getreide. Es blieb der Regierung nichts anderes übrig, als den ganzen Außenhandel staatlich zu regeln. Die Versorgung des Landes mit Lebensmitteln und Rohstoffen wurde ihre schwerste Aufgabe. Auf Grund der Vollmachten, welche die Bundesversammlung am Anfang des Krieges dem Bundesrat erteilt hatte, griff dieser auch in die Gestaltung der bisher freien "Wirtschaft ein. Immer mehr Lebensmittel mußten rationiert, immer mehr Höchstpreise festgesetzt werden. Die Bauern wurden angehalten, eine bestimmte Menge Brotgetreide abzuliefern. Am Ende des Krieges standen die meisten wichtigen Wirtschaftszweige unter Staatsaufsicht. Nur so konnte es verhindert werden, daß der Mangel einzelne Bevölkerungsteile allzu hart traf und eine allgemeine Krise herbeiführte. Und doch blieb die Schweiz nicht ganz von den sozialen Erschütterungen verschont, die der Krieg in den Nachbarländern mit sich brachte. Den ersten, heilsamen Schock erhielt der bisher selbstzufrieden dahinlebende Schweizer gegen Ende des Weltkrieges. In der Schweiz, die zum Hauptquartier der Weltrevolution ausersehen war, wurde 1916/17 die Dritte Internationale gegründet. Die Teuerung, der auch die staatliche Wirtschaftspolitik nicht ganz Herr wurde, das Beispiel Rußlands, das Geld und die Propaganda, die von dort her das Land überfluteten, reizten die Arbeiter zum Versuch eines gewaltsamen Umsturzes. Für einen Augenblick schlug auch in der Schweiz die Illusion ein, man könne durch Umsturz und Diktatur das Paradies auf Erden schaffen. Doch der Versuch scheiterte dank der Festigkeit der Regierung und der Zuverlässigkeit der Armee. Der auf den 11. November 1918 angesetzte Generalstreik brach schon am 14. zusammen. Der Friedensschluß von 1919 wurde auch in der Schweiz vielerorts mit Glockengeläute begrüßt. Doch folgte bald die Ernüchterung, als die Härte

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IV. 9. Die Schweiz seit dem Ausbruch des Weltkrieges

der Friedensbedingungen bekannt wurde, die den Keim neuer Konflikte in sich trugen. Vor die schwierigste Frage sah sich die Eidgenossenschaft gestellt, als sie eingeladen wurde, in den neuen Völkerbund einzutreten. Zum erstenmal seit hundert Jahren hatte sie wieder eine außenpolitische Frage grundsätzlicher Art zu entscheiden. Wie die ganze Welt wurde auch die Schweiz damals von der allgemeinen Friedenshoffnung erfaßt. Doch war sie das einzige Land der Welt, das über den Beitritt zum Völkerbund abstimmte (16. Mai 1920). Das Ergebnis war bis zuletzt zweifelhaft, denn weite Kreise des Volkes sträubten sich innerlich dagegen, in eine Organisation einzutreten, die den Charakter eines Organs der Sieger, nicht eines Organs der Menschheit hatte. Doch das geschlossene Eintreten der Westschweiz für den Völkerbund erzwang ein knappes Mehr. Auch die Regierung hatte das Ihrige beigetragen, dem Schweizer den Eintritt in den Völkerbund schmackhaft zu machen, indem sie die schweizerische Neutralität auch unter dem Regime des Völkerbundes bestätigen ließ. Das Londoner Protokoll vom 13. Februar 1920 gewährte der Schweiz eine Ausnahmestellung. Ihre Neutralität wurde insofern anerkannt, als sie nur verpflichtet wurde, an wirtschaftlichen, nicht aber an militärischen Sanktionen des Völkerbundes teilzunehmen. Aber es war nicht mehr die „integrale" (vollständige), sondern eine „differentielle" (eingeschränkte) Neutralität. Doch haben sich weder die Befürchtungen noch die Hoffnungen, die man in den Völkerbund setzte, erfüllt. Weder wurde die Schweiz in internationale Konflikte hineingezogen, abgesehen von dem kurzen Zwischenspiel der Sanktionen gegen Italien 1935, noch war der Bund imstande, den erhofften Frieden zu bringen. Daß sein Sitz in Genf war, bot der Schweiz manche Gelegenheit, ihr internationales Ansehen zu festigen. Das größte Verdienst darum erwarb sich der Bundesrat Motta. Unermüdlich arbeitete er daran, den Völkerbund zum Instrument des Friedens zu machen, das er sein sollte. Als erster trat er für die Aufnahme Deutschlands ein. Die Hoffnung, daß nach dem Kriege Wohlstand, Friede und Vertrauen zwischen Nationen und Parteien bald wiederhergestellt sein würden, erwies sich als Täuschung. Auch die Perioden des wirtschaftlichen Aufstieges brachten das Gefühl der Sicherheit nicht mehr zurück, das seit 1914 verloren war. Die Kulminationen der wirtschaftlichen Kurven waren Wellenberge, auf die immer sogleich ein neues Wellental folgte. Auch die Schweiz wurde von den internationalen Krisen in Mitleidenschaft gezogen, wenn auch nicht

Völkerbund und Weltkrise

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in dem katastrophalen Ausmaß wie etwa Deutschland. Besonders seit dem Beginn der Weltkrise 1929 hat sie immer wieder mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen. Schwere Hemmungen legte ihrer Wirtschaft die immer schroffer werdende Autarkiepolitik der meisten Handelspartner auf. Die freie Wirtschaft war zwar nach Kriegsende wieder hergestellt worden und gilt auch heute noch als Grundlage der Wohlfahrt der Schweiz. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Schweizer Wirtschaft nur auf Grund höchster individueller Leistungen ihren Platz auf dem Weltmarkt behaupten kann, daß Höchstleistungen aber nur auf dem Boden der Freiheit und der persönlichen Verantwortung erwachsen können. Anderseits rufen die N o t zeiten immer stärker nach staatlichen Hilfsmaßnahmen und fordert ein wacher gewordenes soziales Gewissen eine rechtlich verankerte Sicherung der Lebensgrundlagen des Volkes. Die den modernen Kulturverhältnissen angemessene Verbindung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit ist für die Schweiz wie für die ganze Menschheit das Kernproblem der Zeit. D a die Entwicklung noch in vollem Fluß ist, muß es der Zukunft überlassen bleiben, welche Formen die Schweiz finden wird, um dieses Menschheitsproblem auf ihrem Boden zu lösen. Nur eines ist sicher: wenn auch die Meinungen über die beste Lösung der sozialen Frage geteilt sind, es wird in der Schweiz nur ein Weg Erfolg haben können, der im Einklang mit der eigenen Tradition steht. Die Voraussetzung einer selbständigen Entwicklung ist aber die Erhaltung der politischen Unabhängigkeit. Dieser mußte seit dem Beginn der dreißiger Jahre wieder das Hauptaugenmerk des Schweizer Volkes gelten. Denn schon ließen die Wirtschaftskrisen und ein neu erwachender Nationalismus die Gegensätze der Weltmächte immer schärfere Formen annehmen, und im Hintergrund zeichnete sich die Gefahr eines neuen Weltkrieges ab. Als der Völkerbund in der Abrüstungsfrage scheiterte und auch gegenüber den internationalen Konflikten versagte, da war der Augenblick gekommen, wo die Schweiz ihre uneingeschränkte Neutralität wieder herstellen mußte, wollte sie nicht zum Trabanten einer Mächtepartei werden. Am 14. Mai 1938 erreichte Motta die Anerkennung der „integralen" Neutralität, die damit wieder zum Grundpfeiler der schweizerischen Außenpolitik wurde. So traf der Ausbruch des zweiten Weltkrieges die Schweiz ebensowenig unvorbereitet wie der des ersten. D a sie sich keinen Illusionen über die Weltlage hingab, hatte sie ihre militärische Verteidigung schon in Friedens-

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I V . 9. Die Schweiz seit dem Ausbruch des Weltkrieges

zeit von langer Hand vorbereitet. Nach Äußerungen von deutscher militärischer Seite war sie neben Deutschland das einzige Land — die Großmächte nicht ausgenommen —, das für einen Krieg vorbereitet war. Die militärische Aufgabe w a r diesmal schwieriger als im ersten Kriege. Damals ging es darum, die Neutralität des schweizerischen Staatsgebietes zu schützen. Im zweiten Kriege, solange die Schweiz von den Achsenmächten völlig eingeschlossen war, stand sie nur noch einem möglichen Angreifer gegenüber. Um diesen Angriff zu verhindern, wurde die Verteidigung so organisiert, daß erstens der Widerstand möglichst lang fortgesetzt werden konnte und zweitens der Angreifer aus einer Besetzung der Schweiz keinen Gewinn mehr zu erwarten hatte. Der Gewinn, den eine Besetzung der Schweiz geboten hätte, wäre der Besitz ihrer Produktionsanlagen und ihrer Alpenpässe gewesen. Der Verteidigungsplan sah deshalb vor, daß das Tiefland mit Einschluß der großen Städte preisgegeben werden sollte, doch unter Zerstörung sämtlicher Verkehrs- und Produktionsanlagen. Das Gros der Armee wurde 1940 in die Alpen zurückgezogen, wo in jahrelanger Arbeit eine riesige Gebirgsfestung, das sogenannte Réduit, entstand. Das Réduit ermöglichte eine Verteidigung der Alpenpässe auf lange Sicht. Ein Angriff auf die Schweiz verlor damit jeden Anreiz und ist auch unterblieben.

10. DIE SELBSTERFASSUNG DES SCHWEIZERISCHEN GEISTES IM 19. JAHRHUNDERT

Die Schweiz ist heute wie alle anderen Völker in den Kampf um die Erhaltung der Menschlichkeit und die Erneuerung der Gemeinschaft gestellt. Sie steht mit der gesamten Menschheit vor der riesenhaften Aufgabe, das Recht und die Freiheit der menschlichen Persönlichkeit zu retten vor den Mächten der Barbarei, die von außen oder innen, chaotisch oder organisiert, wissentlich oder unbewußt die Dämme aller Ordnung überfluter.. Der Kampf ist weder in der Schweiz noch anderswo in der W e h heute schon entschieden. Eine Kraftquelle wird der Schweizer immer wieder in der Vergangenheit des eigenen Volkes finden können, vor allem in den großen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Denn in ihnen erreicht die Schweiz die Entwicklungsstufe der bewußten Selbsterkenntnis. Männer wie Pestalozzi, Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller und Jakob Burckhardt standen fest und aufrecht in ihrer Zeit, wie die Gipfel der Alpen in der Mitte Europas. Obgleich sie ihre Zeit intensiv miterlebten und als Wirkende

Jeremias Gotthelf

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mitten im tätigen Leben standen, ließen sie sich nicht von den Tagesströmungen beherrschen, sondern bewahrten den Abstand des sachlichen Betrachters. In durchaus persönlicher und bewußter Art setzen sich diese Persönlichkeiten mit den sittlichen und ideellen Mächten der eidgenössischen Tradition auseinander. Die menschlichen Werte dieser Tradition sind es, welche ihr Werk mit Wärme, Kraft und sittlichem Ernst durchpulsen. Die Freiheit und Unabhängigkeit ihres Urteils — auch gegenüber dem eigenen Volk — erscheinen wie eine vergeistigte Erneuerung des altschweizerischen Freiheitssinns. Nur andeutungsweise soll im folgenden am Beispiel der drei letztgenannten Persönlichkeiten der Vorgang dieser Selbsterfassung des schweizerischen Geistes veranschaulicht werden. J e r e m i a s G o t t h e l f (Pseudonym für Albert Bitzius, 1797—1854) w a r Pfarrer im Kanton Bern. Zum Schriftsteller wurde er, als der Radikalismus in der Schweiz einbrach und den alten Volkscharakter zu zersetzen drohte. „Er trat in die Schranken für Gott und Vaterland, für das christliche Haus und die Zukunft der Unmündigen". Mit der Gewalt und dem heiligen Zorn eines alttestamentlichen Propheten bekämpfte er diese „Landplage Europas". In einer Festrede sagte er: „Denn nimmer dürfen wir es vergessen — das ist ein Unterschied, der sein soll zwischen uns und andern Völkern . . . — daß die Kraft bei uns im einzelnen liegt, während andere Völker die Kraft in der Masse s u c h e n . . . Die Folgen dieser Lehre werden einst blutig leuchten über E u r o p a . . . denn sie ist eine unchristliche und geradezu aller brüderlichen Liebe, allem sittlichen Ernste feindselig. W i r Schweizer verwerfen sie noch trotz mancherlei törichtem Geschrei aus zwei entgegengesetzten Enden, wo aus dunklen Höhlen die Torheit predigt." In Gotthelf vereinigen sich in seltener Innigkeit die beiden Wesensseiten, weiche Natur und Geschichte im schweizerischen Geistesleben verankert haben: Verbundenheit mit den urwüchsigen Naturkräften des eigenen Volkes und ein offener Blick für die Fragen der ganzen Menschheit. Gotthelfs Bücher wirken wie der zu Fleisch und Blut verdichtete Charakter des Berner Bauernvolkes, so daß sie Fremden nur schwer zugänglich sind; zugleich aber entwickelt er durch seine Teilnahme an den Zeitereignissen eine geradezu prophetische Einsicht in die großen Weltzusammenhänge. Ähnliches kann gesagt werden von dem Zürcher G o t t f r i e d K e l l e r (1819—1890). Zuerst stand er auf der Gotthelf entgegengesetzten Seite. In der Jugend hatte er sich für die radikale Gewaltpolitik des „Fortschritts" begeistert. Später wurde er zürcherischer Staatsschreiber, einer der tüchtigsten,

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IV. 10. Selbsterfassung des schweizerischen Geistes

die der Kanton je gehabt hat. In energischer Selbsterziehung erwarb er die Fähigkeit, als Schriftsteller ein kraftvolles, objektives, von Humor und tiefer Menschlichkeit durchwobenes Bild seines Volkes zu schaffen. Audi in offiziellen Akten erhielt Keller Gelegenheit, sich über das Wesen der Schweiz auszusprechen. In einem von ihm redigierten Erlaß der Zürcher Regierung im Jahr der deutschen Reichsgründung, 1871, steht: „Trennen wir nicht den Staatsbürger, der sich oft an erfüllter Form genügen läßt, vom vollen und ganzen Menschen, welcher, mitten in der Gemeinschaft, einsam und verantwortlich der göttlichen Weltordnung gegenübersteht! Steigen wir hinab in die Grundtiefen unseres persönlichen Gewissens und schaffen wir uns dort die wahre Heimat, so werden wir ohne Neid und ohne Furcht auf fremde Größe und in die Zukunft blicken können." Diese Worte klingen wie ein moderner Kommentar zu den ältesten Bundesbriefen und sind ein schönes Beispiel für die Kontinuität der schweizerischen Staatsgesinnung. Keller durchschaute wie Pestalozzi und Gotthelf seine Zeit, und in seinen letzten Jahren sah er mit wachsender Besorgnis in die Zukunft. Eine Notiz für ein nicht ausgeführtes Werk lautet: „Ahnung vom Ende, wenn es so weitergeht". J a k o b B u r c k h a r d t (1818—1897) war Bürger von Basel und Professor an dessen alter humanistischer Universität. Seine Stellung zum öffentlichen Leben spricht er aus mit den Worten: „Es gibt neben dem blinden Lobpreisen der Heimat eine ganz andere und schwerere Pflicht, nämlich sich auszubilden zum erkennenden Menschen, dem die Wahrheit und die Verwandtschaft mit allem Geistigen über alles geht und der aus dieser Erkenntnis auch seine wahre Bürgerpflicht würde ermitteln können, wenn sie ihm nicht mit seinem Temperament angeboren ist." Aus solcher Verantwortung heraus erkannte er auch die Gefahren der Zeit und der Zukunft, die er so charakterisiert: „Von der Zukunft hoffe ich gar nichts; möglich, daß uns noch ein paar halb und halb erträgliche Jahrzehnte vergönnt s i n d . . . Ich bin nämlich der Meinung, daß Demokraten und Proletariat, auch wenn sie noch die wütendsten Versuche machen, einem immer schroffer werdenden Despotismus definitiv werden weichen müssen, sintemal dieses liebenswürdige Jahrhundert zu allem eher angetan ist, als zur wahren Demokratie." Denn die Zeit ist beherrscht von den Typen, die Burckhardt die „terribles simplifacteurs" nannte, die nicht ruhen, bis die ganze Welt einer ihrem Hirne entsprungenen Theorie unterworfen ist, wobei sie blind sind für alle ihnen unzugänglichen Werte und alle fremden Rechte.

Gottfried Keller. Jakob Burckhardt

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Es ist erstaunlich, wie genau die drei genannten Männer die Katastrophe unserer Zeit nicht nur geahnt, sondern geschildert haben, obwohl alle zu einer Zeit lebten, in der Wohlstand und Friede herrschten und die alten Traditionen unerschüttert schienen. Nur ein tieferer Blick konnte schon damals die Keime zukünftigen Verfalls erkennen. Burckhardt wußte schon vor 1900, was wir heute alle täglich neu erfahren: daß nur eine Erneuerung von Grund auf die endgültige Vernichtung der Menschheit aufhalten kann. Schon 1872 hat er die Empfindung, daß alle erhaltenden Mächte im Niedergang begriffen seien, es bleibe nur die Hoffnung, daß in letzter Stunde noch „das Große, Neue, Befreiende kommen w e r d e . . . Aber was? D a überfragen Sic mich. Es könnte sein, daß wir es verkennen, wenn es in die Welt tritt." Die Weltereignisse selbst haben bewiesen, daß die genannten Persönlichkeiten ihre und unsere Zeit richtig beurteilt haben. Dies berechtigt uns zu dem Vertrauen, daß auch das Idealbild, das sie von der Schweiz aufgestellt haben, ihrem wahren Wesen entspricht, gleichgültig, ob es in der Wirklichkeit erreicht wird oder nicht. Eine knappe, aber treffende Charakterisierung findet es in dem oft zitierten Ausspruch J . Burckhardts, in dem er dem Kleinstaat seine Rolle in der Weltgeschichte zuweist, der aber zugleich auch für diesen eine ernste Mahnung enthält: „Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck in der Welt sei, wo die größtmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind . . . Denn der Kleinstaat hat überhaupt nichts als die wirkliche, tatsächliche Freiheit, wodurch er die gewaltigen Vorteile des Großstaates, selbst dessen Macht ideal völlig aufwiegt; jede Ausartung in die Despotie entzieht ihm seinen Boden, auch die in die Despotie nach unten, trotz allem Lärm, womit er sich dabei umgibt." 11. DER SCHWEIZERISCHE STAATSGEDANKE UND DIE SCHWEIZERISCHE NEUTRALITÄT Es liegt im Wesen der Eidgenossenschaft begründet, daß eine Darstellung des schweizerischen Staatsgedankens nicht am Anfang, sondern am Schluß einer Geschichte der Schweiz stehen muß. Denn dieser Staatsgedanke ist nicht das Erzeugnis einer Theorie, sondern die zur Idee erhobene Erfahrung der eidgenössischen Geschichte. Die historische Rückschau aber erkennt, daß diese Idee, wie sie sich im Mythos vom Teil und vom Rütlischwur zum Bild gestaltete, jahrhundertelang als lebendige K r a f t wirksam war, bevor 16

Wartburg, Schweiz

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IV. 11. Der schweizerische Staatsgedanke. Die schweizerische Neutralität

sie in Begriffen ausgesprochen werden konnte. Ihre Bewußtwerdung geschah gleichzeitig mit dem geistigen Erwachen des übrigen Europa. In Bruder Klaus erscheint sie als praktische Lebensweisheit, in Zwingli als humanistisch-ethische Haltung. Aber erst im 18. Jahrhundert erreichte sie mit Johannes Müller, dem Geschichtsschreiber, und Heinrich Pestalozzi, dem Pädagogen, die Stufe der vollen Selbsterkenntnis, erst im 19. Jahrhundert verdichtete sie sich zu staatlicher Form. Um ein abschließendes Bild von dem Wesen der Eidgenossenschaft zu gewinnen, wenden wir uns noch einmal zu ihrem Ursprung zurück. Denn in ihrem Ursprung liegt auch das Wesen der heutigen Schweiz beschlossen. Es war für die Eidgenossenschaft von entscheidender Bedeutung, daß sie zur Zeit ihrer Gründung Glied des „Heiligen römischen Reiches" war. Dieses Reich hieß mit Recht das „Heilige", denn sein Ziel war nicht politische Macht, sondern die Civitas Dei, die Herrschaft von Friede und Recht auf Erden. Der Quell des Rechts aber war weder das Machtgebot des rechtsetzenden Staates noch eine abstrakte Idee von allgemeiner Gerechtigkeit, sondern das im christlichen Glauben verwurzelte Gewissen. Die Einheit des Reiches war nicht eine machtmäßig organisierte, sondern eine ideelle. Sie ruhte auf dem Glauben an die allgemeine Brüderschaft der Menschen. Der allen Menschen gemeinsame göttliche Ursprung bürgte dafür, daß alle die mannigfaltigen Rechtshandlungen, sei es der Erlaß des Kaisers, der Urteilsspruch des Richters, die durch den Eid freier Männer geschaffene Friedensordnung oder die Satzung einer freien Stadt, daß alle derselben Quelle christlichen Rechtssinns entstammten. Nicht äußere Machtmittel waren es, die das Reich zusammenhielten, sondern die menschliche K r a f t von Treu und Glauben: Treue zum gegebenen Wort und zu den vom Uberirdischen her fließenden sozialen Aufgaben, in die sich jeder Mensch durch seine Geburt hineingestellt sah; und Glauben an die Rechtlichkeit des Mitmenschen. Auf Treu und Glauben gründeten sich sowohl das Lehenswesen als auch die mannigfaltigen korporativen Bildungen, wie Landfriedensbünde, Einungen und Genossenschaften. Der Kaiser aber war die sichtbare Verkörperung dieser ideellen Einheit. In göttlichem Auftrag hatte er, über den Parteien stehend, die Lebensrechte der das Reich bildenden Gemeinwesen, in der ganzen Mannigfaltigkeit, wie sie Gott hatte entstehen lassen, zu schützen und zwischen ihnen den Frieden zu erhalten. In dieser Rechtsgesinnung des mittelalterlichen christlichen Reiches wurzeln alle politischen Formen der Schweiz, wurzelt auch ihr Staatsgedanke.

Hervorgehen der Eidgenossenschaft aus der Idee des mittelalterlichen Reichs

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Der Ursprung der s c h w e i z e r i s c h e n S e l b s t v e r w a l t u n g und damit der s c h w e i z e r i s c h e n D e m o k r a t i e liegt in der praktisch erwiesenen Fähigkeit der Stadt- und Landgemeinden, alle, auch die höchsten staatlichen Aufgaben selbst zu bewältigen. Die kaiserlichen Freiheitsbriefe bezeugten in rechtlich gültiger Form, daß diese politischen Gebilde, die ohne Zutun des Kaisers entstanden waren, doch mit der Idee des Reiches in Einklang standen und fähig waren, innerhalb ihrer Grenzen die Friedensordnung des Reiches selbst zu wahren. "Was die Aufgabe des Kaisers war, das übernahmen in den einzelnen Orten die Bürgerschaften oder Landsgemeinden und die gewählten Obrigkeiten. Den Frieden zwischen den Orten und die Sicherheit nach außen aber verbürgte ihnen der Eid, mit dem sie sich zu gegenseitiger Hilfeleistung und gegenseitiger Friedfertigkeit verbunden hatten. Die beschworenen Bundesverträge, in Streitfällen das Schiedsgericht, ersetzten innerhalb der Eidgenossenschaft die obrigkeitliche Gewalt des Kaisers. Der Bund war also auf dieselbe sittliche K r a f t gegründet, auf welcher die Hierarchie der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung beruhte: bevor es einen schweizerischen Staat gab, waren jahrhundertelang Treu und Glaube das einzige Band, das dieEidgenossenschaft zusammenhielt. Audi im s c h w e i z e r i s c h e n F ö d e r a l i s m u s lebt die Rechtsund Friedensordnung des mittelalterlichen Reiches fort. Die schweizerischen Länder und Städte schlössen sich nicht zusammen, um in einer größeren Einheit aufzugehen, sondern im Gegenteil, um gemeinsam die Freiheit und Eigenart jedes einzelnen Gemeinwesens wirksam zu schützen, seitdem der Kaiser diesen Schutz nicht mehr zu bieten vermochte. Diese föderal istische Gesinnung, erwachsen aus dem Geiste des Reiches, ist auch heute noch die Grundkraft des schweizerischen Staates. Was ursprünglich mehr als unbewußt naturhafte Kraft wirkte, läßt sich heute als Grundsatz ausdrücken. Er lautet: Jede Aufgabe des Gemeinschaftslebens soll nach Möglichkeit von denjenigen gelöst werden, die unmittelbar an ihr beteiligt sind: was die Gemeinde allein bewältigen kann, das soll ihr auch überlassen bleiben; was der Kanton zu leisten imstande ist, das soll er selbst leisten. Nur diejenigen Aufgaben darf die größte Einheit, der Bund, übernehmen, welchen die kleineren Gemeinwesen allein nicht gewachsen sind, wie Außenpolitik oder Eisenbahnwesen. Die Glieder des Bundes, bis zur Gemeinde hinab, handeln also im Rahmen ihrer Zuständigkeit aus eigenem Recht und in eigener Verantwortung. Dies wirkt sich auch auf das Schweizer Bürgerrecht aus. Jeder Schweizer ist Bürger einer Gemeinde und eines 16*

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IV. 11. Der schweizerische Staatsgedanke. Die schweizerische Neutralität

Kantons. Es gibt keine vom Gemeindebürgerrecht getrennte schweizerische Staatszugehörigkeit. Wie es die Einheit des ehemaligen Reiches war, so bleibt die E i n h e i t d e r E i d g e n o s s e n s c h a f t auch heute noch eine ideelle Größe. Nicht eine durchgreifende Organisation, obwohl diese bis zu einem gewissen Grade notwendig geworden ist, schafft die wirkliche Einheit der Schweiz, sondern der gemeinsame Wille zum Frieden, zur Gemeinschaft und zur Zusammenarbeit mit den „Genossen" des „Eides". Ihre Voraussetzung ist daher geradezu die Erhaltung der Selbständigkeit der Glieder, die Anerkennung des Rechts jedes kleinen Gemeinwesens, ja, jedes einzelnen Eidgenossen auf volle Selbstverantwortlichkeit in jeder Frage, die nicht notwendig einer umfassenderen Instanz übertragen werden muß. Diese föderalistische Gesinnung ist es, welche die Eidgenossenschaft geschaffen und durch die Stürme der Zeiten erhalten hat. Sie überwand das Mißtrauen zwischen Stadt und Land, sie stellte die kleinen Orte den großen gleich, sie ermöglichte es, die religiöse Spannung auszuhalten und innere Zwistigkeiten zu überwinden. Sie legte dem Sieger in den sechs Bürgerkriegen, welche die Schweiz erlebt hat, die Mäßigung auf, welche ihn hinderte, seine Macht zu mißbrauchen. Nie wurde der Unterlegene in seiner Existenz oder in seiner Eigenart angetastet. Die Friedensbedingungen wurden nicht nach der Größe des Waffenerfolges abgemessen, sondern nach Rechtsgrundsätzen, die mit dem Sinn der Bundesverträge vereinbar waren. Der Sieg in den Bürgerkriegen wurde gewissermaßen als Gottesurteil hingenommen, das zwischen zwei verschiedenen Rechtsauffassungen zu entscheiden hatte. Abgesehen vom Sonderbundskrieg wurde der Friede immer zwischen gleichberechtigten Partnern abgeschlossen. Hier löst sich auch das Rätsel der V i e r s p r a c h i g k e i t der S c h w e i z . Als im 19. Jahrhundert der Nationalismus seine verheerende Flut über Europa ergoß, wurde in der Schweiz in aller Selbstverständlichkeit das föderalistische Prinzip auch auf das Verhältnis zwischen den Sprachen übertragen. Die Bundesverfassung anerkennt das Deutsche, das Französische und das Italienische als gleichberechtigte Amts- und Nationalsprachen. In den eidgenössischen Räten können alle drei benutzt werden, alle eidgenössischen Erlasse werden in allen dreien veröffentlicht. 1937 wurde auch das Rätoromanische zur Nationalsprache erklärt, nicht jedoch zur Amtssprache, da es nur in einem einzigen Kanton (Graubünden) gesprochen wird. So wurde die Schweiz als Ganzes von Sprachenkämpfen und National-

Viersprachigkeit der Schweiz

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haß nie berührt. Gelegentliche Auseinandersetzungen sprachlicher Art blieben auf das enge Gebiet zweisprachiger Kantone (Freiburg) beschränkt. Mehrsprachigkeit der Schweiz bedeutet aber nicht Vermischung der Sprachen oder Verwischen der Sprachgrenzen. Mehrsprachig ist die Bundesverwaltung und ist die gebildete Schicht der Schweiz durch freiwillige Aneignung der anderen Landessprachen. Die einzelnen Kantone aber — und in den mehrsprachigen Kantonen die einzelnen Gemeinden — sind in Schule und Verwaltung streng einsprachig. Es gilt hier das Territorialprinzip, nach welchem sich auch der Zugewanderte den sprachlichen Verhältnissen des Gebietes, in dem er sich aufhält, anzupassen hat. So läßt sich der Begriff der „Minderheit", welcher in anderen mehrsprachigen Ländern eine so große Rolle gespielt hat, auf die Schweiz gar nicht anwenden. Der Friede zwischen den Sprachen wird in der Schweiz nicht durch Maßnahmen des Minderheitenschutzes erreicht, sondern dadurch, daß der föderalistische Grundgedanke auch für die Sprache gültig ist. Die Regelung sprachlicher Verhältnisse bleibt ausschließlich Sache der unmittelbar beteiligten Glieder des Bundes — der Kantone oder Gemeinden — und steht außerhalb der Zuständigkeit zentraler Behörden. So kann der Gedanke, einem anderen Landesteil die eigene Sprache aufzudrängen, gar nicht aufkommen. Die 40 000 Rätoromanen haben dasselbe Recht, sich ihrer Sprache zu bedienen wie die 2,8 Millionen Deutschsprechenden, ihre Rechte als Schweizer Staatsangehörige sind in keiner Weise durch die Sprache bestimmt. Dadurch wird die Sprache der Sphäre der Politik überhaupt entzogen. Sprachliche Unterschiede haben — im Gegensatz zu den konfessionellen oder den sozialen Verhältnissen — nie zur Bildung von politischen Parteien geführt. Das Wesen der Eidgenossenschaft liegt also weniger in der demokratischen Form als in einer von jeder Staatsform unabhängigen Grundgesinnung, welche dem demokratischen Staat erst seine innere Berechtigung gibt. Diese Grundgesinnung, die man als „ p o l i t i s c h e n H u m a n i s m u s " bezeichnen könnte, läßt sich etwa in folgender Weise umschreiben: Der höchste Wert und der letzte Zweck jeder Gemeinschaft ist der Mensch, und zwar nicht eine bestimmte Vorstellung von dem Menschen, wie er sein sollte, sondern der wirkliche Mensch, mit allen Eigenheiten, mit denen Gott und die Natur ihn auf die Erde gestellt haben. Der Staat ist immer nur ein Mittel, diesem wirklichen Menschen zu einem seiner würdigen Leben zu verhelfen. Zu einem menschenwürdigen Dasein aber gehört die Möglichkeit, an der Gestaltung des Gemeinschaftslebens teilzunehmen. Da-

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IV. 11. Der schweizerische Staatsgedanke. Die schweizerische Neutralität

her muß der schweizerische Staat demokratische Formen entwickeln. Aber die Mitarbeit des einzelnen hat nur dann einen Sinn, wenn sie aus Sachkenntnis geschieht und wenn sie die Möglichkeit hat, sich in der Realität auszuwirken — also nicht nur formell bleibt. Dies — und nicht etwa bloß Schwäche oder Gewohnheit — ist der Grund, warum die Schweiz an ihrer föderalistischen Gliederung festhält. Die Selbständigkeit der kleinen Gemeinschaften gibt jeder, auch der geringsten K r a f t die Möglichkeit, im Rahmen ihres Gesichtskreises am Gemeinschaftsleben selbstverantwortlich mitzuwirken. Demokratie und Föderalismus sind in der Schweiz nicht zwei getrennte Begriffe, sondern sie sind ein und dasselbe, von zwei Seiten betrachtet. Beide aber haben ihre Berechtigung nicht in sich selber, sondern erhalten sie erst durch die Gesinnung des „politischen Humanismus", aus welcher sie hervorgegangen sind. Diese Grundgesinnung, nicht die demokratische Form ist es, was die Schweiz zum R e c h t s s t a a t macht. Sie setzt dem Staat Grenzen, deren Überschreitung auch die Demokratie zur Tyrannei werden ließe. Sie verpflichtet ihn, Grundsätze einzuhalten, an die auch die Volksabstimmung nicht rühren darf. Der Staat bleibt grundsätzlich Wahrer des Friedens und Verwalter — nicht Schöpfer — des Rechts, wie es sich im Zusammenleben freier Menschen bildet. So behält der Staat das Maß des Menschen, die Urverhältnisse des Lebens bleiben sichtbar und werden nicht durch staatliche Vormundschafts- oder Allmachtsansprüche verwischt oder vergewaltigt. Die anderen Lebensgebiete bleiben weitgehend selbständig und von Staatsinteressen unabhängig. So können Kultur, Staat und Wirtschaft ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen, ohne sich gegenseitig in ungesunder Weise zu beeinflussen. Dies zeigt sich zum Beispiel in dem Gang der Vereinheitlichung der Schweiz im letzten Jahrhundert. Die größten Fortschritte machte sie naturgemäß auf rechtlichem Gebiet. Das immer enger werdende Zusammenleben erzeugte das Bedürfnis nach einheitlichem Zivilrecht (1912) und Strafrecht (1942). Auf kulturellem Gebiet dagegen hat sich die volle Autonomie der Kantone erhalten. Gerade ein ernstes Arbeiten auf geistigem Gebiet wird sich als fortwährende Steigerung der Mannigfaltigkeit an selbständigen Leistungen auswirken. Von einer Einheit kann auf diesem Gebiet überhaupt nur insofern gesprochen werden, als der Wille zum Austausch und zur Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen, überall eigenwüchsigen kulturellen Organismen besteht. Eine schweizerische „Kulturpolitik" ist sowohl nach innen wie nach außen eine undenkbare Vorstellung. So gibt

Der „politische Humanismus" und die Neutralität

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es zum Beispiel kein allgemein schweizerisches Gesetz weder über Lehrplan noch über Organisation der Mittelschulen. Dafür besteht ein reger Austausch zwischen der Lehrerschaft über ihre Erfahrungen und Pläne. Nicht nur für die verschiedenen Bundesglieder, sondern auch für die verschiedenen Lebenisgebiete fordert der „politische Humanismus" weitgehende Autonomie und das Recht auf eigenständige Entwicklung. Wenn auch äußere Not oder menschliche Schwäche in der Wirklichkeit oft dazu führen, daß diese Grundsätze verletzt werden, so ist es doch ihre Wirksamkeit, welchc die Lebenskraft der Eidgenossenschaft aufrechterhält. Aus dieser Staatsgesinnung ergibt sich der Grundsatz der s c h w e i z e r i s c h e n A u ß e n p o l i t i k . Wenn die Idee des Rechtsstaates ernst genommen wird, so verbietet sie auch in der Außenpolitik die Anerkennung des Vorrangs der Gewalt. Es entspricht daher dem Wesen der Eidgenossenschaft, daß sie auf Macht- und Gewaltpolitik verzichtete, wenn sie mit sich selbst in Ubereinstimmung war. Fast alle machtpolitischen Unternehmungen einzelner Kantone oder Staatsmänner führten zu Katastrophen, wie die italienischen Feldzüge oder der Angriff Zwingiis auf die inneren Orte. So ergibt sich aus dem Wesen des eidgenössischen Staates mit Notwendigkeit der Verzicht auf jede Einmischung in irgendwelche Machtkämpfe des Auslandes. Ein Staat, welcher auf die Rechtswahrung beschränkt ist, hat weder das Recht noch die Möglichkeit, sich Ziele zu stellen, die über diese Aufgabe hinausgehen. J e mehr die Schweiz zur Selbsterkenntnis kam, um so grundsätzlicher wurde daher ihre N e u t r a l i t ä t . Sie ist zu einem in der Verfassung festgehaltenen Wesenszug des schweizerischen Staates geworden. Sie ist freiwillig, grundsätzlich, „ewig" wie die Eidgenossenschaft selbst. Dies unterscheidet sie von jeder zeitweiligen oder bloß zufälligen Neutralität anderer Staaten. Wie im Innern, so ermöglicht die Beschränkung des Staates auf die Rechtsfunktion auch nach außen eine mannigfaltige Differenzierung der Beziehungen. Das politische, das kulturelle und das wirtschaftliche Verhältnis zum Ausland bleiben grundsätzlich autonom, und jedes kann sich daher nach seinen eigenen Notwendigkeiten und Bedürfnissen entwickeln. Das p o l i t i s c h e V e r h ä l t n i s zum Ausland hat Bundesrat Petitpierre in einer Rede so formuliert: „Grundsätze, die stets unsere Außenpolitik geleitet haben" sind: „mit allen Völkern in Frieden zu leben und an allen Versuchen zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit auf den verschiedensten und weitesten Gebieten teilzunehmen, um so die Macht-

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IV. 11. Der schweizerische Staatsgedanke. Die schweizerische Neutralität

beziehungen zwischen den Staaten durch Reditsbeziehungen zu ersetzen." Der negative Begriff „Neutralität" ist also zu eng, um den ganzen Sinn der sdiweizerischen Außenpolitik zu umfassen. Neutralität im umschriebenen Sinn wäre sinngemäßer als „Uberparteilichkeit" oder „grundsätzliche Friedenspolitik" zu bezeichnen. Die Schweiz verzichtet daher auch darauf, ihre eigenen Rechtsgrundsätze mit Gewalt zu verbreiten oder bei solchen Versuchen anderer Mächte mitzuhelfen. Denn ein Krieg würde auf jeden Fall durch die Armeen größerer Mächte entschieden, und diese würden den Frieden bestimmen, nicht die Rechtsidee der Schweiz. Sie beschränkt sich daher grundsätzlich darauf, ihre Rechtsordnung in ihrer eigenen Machtsphäre, das heißt innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu handhaben. So hängt auch die K l e i n h e i t d e r S c h w e i z mit ihrem Charakter als Rechtsordnung zusammen. Die Eidgenossen dehnten ihre Grenzen nur so weit aus, wie sie die von ihnen geschaffene Rechtsordnung in der Realität des Alltags verwirklichen konnten. Dies ist auch der Sinn des Ratschlags von Bruder Klaus: machet den Zaun nicht zu weit. Anderseits hat die Schweiz den Schutz dieser Rechtsordnung niemals einer anderen Macht anvertraut als ihrer eigenen K r a f t . Schon der erste Bundesbrief verweigert die Anerkennung eines fremden Richters. Hier liegt auch der Grund, warum sich die Schweiz vom Reich getrennt hat. Die Idee des universalen Friedensreiches war zu erhaben, um unter Menschen dauernd Bestand zu haben, die Mittel des Kaisers ungenügend, um sie zu verwirklichen. Als das Reich sich immer mehr zu einer Fürstenaristokratie entwickelte und die habsburgischen Kaiser ihren Titel zur Steigerung der Macht ihrer Familie mißbrauchten, da trennte sich die Eidgenossenschaft von dem Reich, aus dem sie ursprünglich hervorgewachsen war. Sie tat es aber nicht aus Untreue zum Reich, sondern gerade, um die Rechtsund Friedensordnung im Sinne des Reiches innerhalb ihrer eignen Grenzen bewahren zu können. In Wirklichkeit hat also die Schweiz das Reich nicht verlassen, sondern sie hat dessen ursprünglicher Idee die Treue gehalten, während der übrige Körper des Reiches sich schließlich im Strudel der Machtkämpfe aufgelöst hat. So lebt in der Sdiweiz noch heute — im 20. Jahrhundert — eine letzte Bastion des mittelalterlichen Friedensreiches weiter. Eine glückliche Verbindung von Idealismus, von Selbstbescheidung und Wirklichkeitssinn ermöglichte es den Eidgenossen, bis heute immer wieder zu verhüten, daß ihr Staat zum Machtstaat entartete und der wahren Aufgabe des Staates untreu wurde.

Die Sdiweiz als Fortsetzerin der universalen Reidisidee

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So setzt auch die schweizerische Außenpolitik in gewissem Sinn die Idee des Reiches fort. Ihr höchstes Ziel ist dasjenige des mittelalterlichen Kaisers: „die Machtbeziehungen zwischen den Staaten durch Rechtsbeziehungen zu ersetzen". Die Neutralität bedeutet also nicht ein unbeteiligtes Zurückziehen von den Problemen der Menschheit. Sie ist vielmehr selbst die der Sdiweiz angemessene und in der Wirklichkeit erprobte Form der Menschheitssolidarität. Bundesrat Petitpierre erklärte in der erwähnten Rede: „Unser Neutralitätsstatut ist kein Hindernis für die Verwirklichung der kollektiven Sicherheit, im Gegenteil, es stellt einen besonderen Beitrag der Schweiz dar, den wir seit langem schon geleistet haben, einen Beitrag zur internationalen Befriedung. Indem es unsere Teilnahme an Bündnissen oder Blöcken ausschließt, bildet es ein Element der Sicherheit für alle Länder." Diese Haltung des Staates schafft die Möglichkeit, auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet zum Ausland Beziehungen anzuknüpfen, die frei sind von machtpolitischen Absichten und die einzig auf sachlichen Bedürfnissen oder persönlich-menschlichen Interessen beruhen. Es ist die „machtpolitische Unbescholtenheit (der schweizerischen Wirtschaft) als Ausfluß spezifisch schweizerischer Geisteshaltung, die es zuläßt, den anderen N a tionen vorbehaltlose und dadurch besonders fruchtbare Zusammenarbeit anzubieten". Die „machtpolitische Unbescholtenheit'' (der Ausdruck stammt aus dem Bericht einer chemischen Fabrik in Basel) macht die s c h w e i z e r i s c h e W i r t s c h a f t zu einem Element einer Weltwirtschaft, die auf rein sachlichen Beziehungen beruht. Auch auf dem Gebiet der Wirtschaft ist Universalität, nicht Abschließung nach außen das Ziel. Dasselbe gilt vom G e i s t e s l e b e n . Zur Frage der Unterstützung des kulturellen Wiederaufbaus Europas erklärte Petitpierre, daß hier jede Regierungsaktion ausgeschlossen sei, denn „auf dem Gebiet des Geistes und der K u l t u r . . . muß auf jeden Fall eine Konzentration, eine Zentralisation verhindert werden", hier komme es allein auf die „persönliche Initiative" an. Die geistigen und menschlichen Beziehungen, die von der Schweiz aus geknüpft werden, sollen frei bleiben von jedem machtpolitischen Hintergedanken. Nur vor sich selbst trägt der einzelne hier Verantwortung, nicht gegenüber dem Staat. Dies gibt dem einzelnen die Möglichkeit, seine geistigen Beziehungen ohne Rücksicht auf staatliche Interessen und unbeeinflußt von jeder Machtpolitik so zu gestalten, wie es seiner eigenen Natur entspricht Das schweizerische Geistesleben aber erhält durch die Neutralität die Möglichkeit zu einer universalen Solidarität mit allen „machtpolitisch

250

IV. 11. D e r schweizerische Staatsgedanke. Die schweizerische Neutralität

unbescholtenen" geistigen Bestrebungen. Anderseits bietet die Neutralität den sichersten Schutz der persönlichen Freiheit nach außen und innen. Jede Machtpolitik führt mit Notwendigkeit dazu, daß der Staat die Gesinnung seiner Bürger zu beeinflussen sucht. Ein Staat, welcher diese Möglichkeit nicht besitzt, muß auf Machtpolitik verzichten. Verzicht auf Machtpolitik und Achtung vor der Gewissensfreiheit bedingen sich gegenseitig. So erklärten am 21. März 1939 die eidgenössischen Räte mit Recht: „Der Kampf der gegensätzlichen Systeme in andern Ländern berührt unseren S t a a t nicht." Trotzdem kann dieser Kampf den einzelnen Menschen „berühren", denn der Mensch ist mit seiner Gesinnung dem Staat nicht unterworfen. Zur Neutralität ist nur der Staat in seinen politischen Handlungen verpflichtet. Eine Gesinnungsneutralität dagegen gibt es nicht, sie ist schon durch die Gewissensfreiheit ausgeschlossen. Die Meinung des einzelnen und ihre Äußerung in Wort und Schrift ist vom Staat grundsätzlich frei, anderseits ist auch der Staat für Meinungsäußerungen seiner Bürger nicht verantwortlich. Noch viel weniger als dem eigenen Staat wird selbstverständlich dem Ausland das Recht zugebilligt, Vorschriften über Ansichten und deren Äußerung zu machen. Es ist begreiflich, daß diese Trennung der Verantwortlichkeiten im Ausland oft mißverstanden wird und zu Spannungen mit andern Staaten führen kann. Die Schweiz muß jedoch daran festhalten; denn in diesem Verzicht des Staates auf Gesinnungs- und Kulturpolitik liegt gerade ein Element seiner Stärke. Der Schweizer kann eben deshalb seinen Staat so rückhaltlos bejahen, wie wohl selten ein Staat bejaht worden ist, weil dieser Staat sich von allem fernhält, was sein inneres Leben ausmacht und zugleich ihn vor Angriffen auf seine Gesinnung von außen schützt. So kann der Schweizer seine geistige Heimat da suchen, wo er sich innerlich hingezogen fühlt, er kann sich mit ganzem Herzen als Glied einer größeren kulturellen Gemeinschaft fühlen und doch gleichzeitig ebenso unbedingt zu seiner engeren Heimat, der Schweiz, stehen. Die Neutralität dient also nicht bloß der Erhaltung der äußeren Existenz, sondern sie dient der Erhaltung des Wesens der Schweiz. — Doch auch f ü r die übrige Welt kann die Schweiz mehr bedeuten, wenn sie ihrer Tradition treu bleibt, als wenn sie sie zugunsten eines anderen Prinzips aufgeben würde. Die Tatsache, daß die Schweiz mit keiner Machtpolitik belastet ist, verschafft ihr ein internationales Ansehen, das sie als Macht niemals erlangt hätte. Dieses Ansehen hat sie von jeher im Interesse der Menschlichkeit eingesetzt. In zahlreichen Fällen, von China bis Frankreich,

Schlußbetrachtung: die Stellung der Schweiz in der Welt

251

haben im letzten Krieg Schweizer — mit oder ohne Auftrag des Staates — zwischen feindlichen Parteien vermittelt. Nur das internationale Vertrauen und der R u f der Unparteilichkeit, den die Schweiz genießt, haben die "Wirksamkeit des Internationalen Roten Kreuzes ermöglicht, das Unermeßliches getan hat, um das Kriegselend zu lindern. Eines der schönsten Vorrechte des neutralen Staates ist die Gewährung des Asyls an politisch Verfolgte aller Parteien. Seit der Reformationszeit wurde immer wieder zahlreichen Flüchtlingen Asyl gewährt. Während des zweiten Weltkrieges waren es insgesamt etwa 300 000, von denen viele diesem Umstand die Erhaltung ihres Lebens verdanken. Doch darf nicht verschwiegen werden, daß gerade in der letzten Zeit in der Praxis des Asylrechts etwas mehr Mut am Platz gewesen wäre. Als 1815 die europäischen Monarchen eine dauernde Friedensordnung gründen wollten, anerkannten sie die schweizerische Neutralität als einen bereits bestehenden Grundstein dieses Friedenssystems, obwohl die Schweiz damals als einzige Republik zwischen den Monarchien stand. Auch heute ist es ihr Wunsch, ihre Aufgabe weiterzuführen und außerhalb jeder Machtgruppe zu bleiben, nicht um sich Gefahren zu entziehen, sondern um als unparteiische Macht weiterhin den Interessen der ganzen Menschheit dienen zu können. Es liegt im Interesse aller Mächte, welche aufrichtig den Weltfrieden erstreben, daß die Schweiz an ihrer bisherigen Politik festhält. Denn sie hat — wenigstens der Idee nach — verwirklicht, wonach die Völker heute streben: den Frieden zwischen den Nationen, den Verzicht auf Gewaltpolitik, die Anerkennung des Rechts auch im Verkehr zwischen den Nationen, die Befreiung des menschlichen Gewissens und der Wirtschaft von der Interessenpolitik des Staates. — Mit dem Gesagten soll die Schweiz jedoch keineswegs zum Idealstaat erhoben werden. Was hier dargestellt worden ist, ist nicht vollkommene Wirklichkeit, sondern es ist das der äußeren Erscheinung zugrunde liegende Urbild. In der Wirklichkeit hat die Schweiz immer wieder Abweichungen von diesem Urbild erlebt — wie jede menschliche Gemeinschaft unter dem Ideal bleibt, das sie sich stellt. Doch wird ihr bester Beitrag zur Befriedung der Welt der sein, daß sie sich bemüht, ihre eigene Idee, welche die Geschichte ihr als Auftrag mitgegeben hat, in jedem Augenblick aufs neue T a t werden zu lassen. Denn diese Idee ist nicht eine Illusion, wie die abstrakten Systeme, welche die heutige Menschheit überfallen, sondern sie entspringt der Erfahrung der eigenen Geschichte und hat sich seit sechseinhalb Jahrhunderten in der Wirklichkeit immer wieder bewährt.

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ZEITTAFEL bis 800 v. Chr. um 100 v . C h r . 58 v. Chr. 15 v. Chr.

Pfahlbauer Einwanderung der Hei vetier Unterwerfung der Hei vetier durch Cäsar (ßibracte) Unterwerfung der Rätier unter Rom

um 450—600 Einwanderung der Alemannen 443 Ansiedlung der Burgunder am Genfer See 455 Gründung des Königreichs Burgund 515 Gründung des Klosters St. Maurice 534 Unterwerfung der Burgunder unter das Frankenreich 538 Unterwerfung der Alemannen unter das Frankenreich nach 600 Columban und Gallus in der Schweiz 720 Gründung des Klosters St. Gallen 800 Kaiserkrönung Karls des Großen 843 Vertrag von Verdun, Teilung des karolingischen Reiches 853 Gründung der Fraumünsterabtei Zürich, Uri an die Äbtissin von Zürich 9.— 11. Jh. Kloster St. Gallen Kulturzentrum Süddeutschlands 888 Gründung des 2. Königreichs Burgund 917 Gründung des Herzogtums Schwaben (Alemannien) 920 Vereinigung Schwabens mit dem Deutschen Reich 1033 Vereinigung Burgunds mit dem Deutschen Reich 1076—1250 Kampf zwischen Kaiser und Papst 1098 Friede von Konstanz. Vormacht der Herzöge von Zähringen südlich des Rheins um 1177 Gründung Freiburgs i. U. durch Berthold IV. von Zähringen 1191 Gründung Berns durch Berthold V. von Zähringen

254 1218

Aussterben der alten Linie Zähringen. Zürich, Bern, Solothurn reichsfrei 1231 Freiheitsbrief der Urner 1240 Freiheitsbrief der Schwyzer 1273—1291 Rudolf von Habsburg deutscher König 1291, Anfang August: Ewiger Bund der drei Waldstätte Uri, Schwyz und Unterwaiden. Begründung der Eidgenossenschaft 1315, 15. November, Schlacht am Morgarten 1332, 7. November, Bund Luzerns mit den drei Waldstätten 1336 Brunsdie Umwälzung in Zürich 1339, 21. Juni, Schlacht bei Laupen 1349—1351 Pest (der „schwarze T o d " ) 1351, 1. Mai, Ewiger Bund Zürichs mit den vier Waldstätten 1352 Glarus und Zug in den Bund aufgenommen (1352 wieder aufgegeben) 1353, 6. März, Ewiger Bund Berns mit den drei Waldstätten 1364 Besetzung Zugs durch die Schwyzer 1370 Pfaffenbrief 1382—1384 Solothurner „Mordnacht", Kiburger Krieg 1386—1395 Sempacher Krieg 1386, 9. Juli, Schlacht bei Sempach Befreiung von Glarus 1388, 9. April, Schlacht bei Näfels 1393 Sempacherbrief um 1400 Erste Verbindung mit Wallis und Graubünden 1403—1411 Appenzeller Freiheitskriege 1403—1422 Erste Besetzung der Täler südlich des Gotthard 1422 Niederlage bei Arbedo 1414—1420 Konzil von Konstanz 1415

Eroberung des Aargau, Bestätigung der Reichsfreiheit aller acht Orte durch Kaiser Sigmund und den Reichstag 1436—1450 Der Alte Zürichkrieg 1439 Eroberung des Livinentals durch Uri 1444, 26. August, Schlacht bei St. Jakob an der Birs 1460 Eroberung des Thurgau 1460 Gründung der Universität Basel

255 1468 1474

Sundgauer und Waldshuter Feldzug „Ewige Richtung" mit Österreich Bündnis mit Ludwig X I . von Frankreich 1474—1477 Burgunderkrieg 1476, 2. März, Schlacht bei Grandson 22. Juni, Schlacht bei Murten 1477 Schlacht bei N a n c y 1477 „Saubannerzug" 1478, 28. Dez., Schlacht bei Giornico 1481 Stanserverkommnis, Aufnahme Freiburgs und Solothurns in den Bund (Nikiaus von Flüe) 1489 Hinrichtung H a n s Waldmanns in Zürich 1495 Feldzug K a r l s V I I I . nach Italien 1495 Reichstag zu Worms, Reichsreform Maximilians 1497—1498 Bündnisverträge mit den Rätischen Bünden 1499 Schwabenkrieg 22. Juli, Schlacht bei Dornach 22. Sept., Friede zu Basel, faktische Lösung vom Reiche 1500—1515 Mailänderzüge 1500 Verrat von N o v a r a 1501 Beitritt Basels und Schaffhausens zum Bund 1503 Erwerbung von Bellinzona Badener Beschlüsse gegen Pensionen und Reislauf (1508 aufgehoben) 1510 Bündnis der Eidgenossen mit Papst Julius II. 1512 Pavierzug, Mailand unter eidgenössischem Protektorat 1513, 6. Juni, Schlacht bei N o v a r a Appenzell als 13. Ort in den Bund aufgenommen 1515, 13., 14. September, Schlacht bei Marignano, Verzicht der Eidgenossen auf Großmachtpolitik 1516 Ewiger Friede mit Frankreich 1517, 31. Oktober, Luthers Thesenanschlag, Beginn der Reformation 1519, 1. J a n u a r , Zwingli in Zürich 1521 Soldbündnis aller Orte außer Zürich mit Frankreich (Franz I.) Pensionen- und Reislauf verbot in Zürich 1522 Schlacht bei Bicocca

256 1522 Fastenbruch in Zürich und Basel 1523, 29. Juni, Disputation in Zürich, Beginn der Reformation in der Schweiz 1525, Ostern, Abschaffung der Messe in Zürich, Abschluß der Reformation in Zürich 1525 Bauernunruhen und Wiedertäufer 1525 Schlacht bei Pavia 1526 Disputation in Baden 1527 Christliches Burgrecht Zürich—Konstanz (später auch Bern, Basel, Schaffhausen) 1528 Disputation und Reformation in Bern 1529 Reformation in Basel Bündnis der Katholiken mit König Ferdinand Erster Kappeler Krieg und Landfrieden Religionsgespräch in Marburg 1530 Reformation in Schaffhausen und Glarus Aufhebung der Abtei St. Gallen 1531, 11. Oktober, Schlacht bei Kappel, Tod Zwingiis Zweiter Kappeler Landfrieden, Herstellung der Abtei St. Gallen 1536 Eroberung der W a a d t durch Bern Calvins „Institutio Christiana" 1537 Gründung der Akademie in Lausanne 1536—1564 Calvin in Genf 1541 Annahme der Ordonnances Ecclesiastiques durch die Bürgerschaft von Genf 1545—1563 Konzil von Trient 1547 Schmalkaldischer Krieg, Konstanz habsburgisch 1553 Verbrennung Michael Servets in Genf 1555 Einführung des Seidengewerbes in Zürich durch Flüchtlinge aus Locarno 1559 Gründung der Akademie in Genf 1562—1598 Hugenottenkriege in Frankreich. Ludwig Pfyffer Führer der Katholiken 1564 Vertrag von Lausanne, Verlust der Gebiete südlich des Genfer Sees 1579/1586 Errichtung der Nuntiatur in Luzern

257 1586 1587 1587 1597

Borromäischer oder Goldener Bund Bündnis der Katholiken mit Spanien Ch. Cusin führt die Uhrenindustrie in Genf ein Trennung von Appenzell in Appenzell-Innerrhoden und Appenzell-Außerrhoden 1598 Edikt von Nantes und Friede von Vervins 1602 Escalade in Genf 1618—1648 Dreißigjähriger Krieg 1618—1637 Bündner Wirren 1620 Veltliner Mord 1637 Befreiung Graubündens durch Jürg Jenatsch 1648 Trennung der Schweiz vom Reich durch den Westfälischen Frieden 1653 Bauernkrieg 1656 Erster Villmergerkrieg 1663 Erneuerung des Bündnisses mit Frankreich (Ludwig XIV.) 1702—1712 Spanischer Erbfolgekrieg 1707 Neuenburg fällt an den König von Preußen zwischen 1707 und 1782 Wirren in Genf (Demokratie gegen Aristokratie) 1712 Zweiter Villmerger- oder Toggenburgerkrieg 1721—1723 „Discourse der Mahlern" von J. J. Bodmer 1723 Erhebung des Major Davel 1729 Erscheinen der „Alpen" von Albrecht von Haller (1708 bis 1779) seit 1740 Literarischer Kampf der Zürcher gegen Gottsched (J. J.Bodmer [1698—1783], J. J.Breitinger [1701—1778]) 1749 Verschwörung des Samuel Henzi in Bern 1755 Unterdrückung des Livinentaler Aufstandes 1759 Gründung der ökonomischen Gesellschaft in Bern 1761 Rousseau, La Nouvelle Heloi'se 1762 Rousseau, Contrat social; Emile 1762 Gründung der Helvetischen Gesellschaft 1763 Gründung der Landesökonomiekommission in Bern 1777 Erneuerung des Bündnisses mit Frankreich 1780 l.Band der „Geschichten der Schweiz" von Johannes Müller (1752—1809) 1789 Ausbruch der Französischen Revolution 17

Wartburg, Schweiz

1792 Beginn der Revolutionskriege 1792, 10. August, Tuileriensturm, Untergang der Schweizer Garde 1797 Bonaparte reißt das Veltlin von Graubünden ab 1798, März, Untergang der alten Eidgenossenschaft 1798, September, Aufstand der Nidwaldner 1798—1803 Helvetische Republik. Die Schweiz ein Einheitsstaat, Einführung der Menschenrechte und der Rechtsgleichheit 1798—1804 Pestalozzi in Stans, dann in Burgdorf 1799 Die Schweiz Kriegsschauplatz im 2. Koalitionskrieg, Schlachten bei Zürich. Zug Suworows über die Alpen 1799—1841 Ph. E. Fellenberg in Hofwil 1803, 19. Februar, Mediationsakte. Neue Kantone: St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt 1803—13 Mediationszeit 1804—1825 Pestalozzi in Iferten (Yverdon) 1812 Rückzug Napoleons von Moskau 1814, April, bis August 1815, Die Lange Tagsatzung 1815 Bundes vertrag. Neue Kantone: Wallis, Neuenburg, Genf 1815, 20. November, Anerkennung der immerwährenden Neutralität der Schweiz durch die Mächte im 2. Pariser Frieden 1815—1830 Restaurationszeit 1816—1825 Karl Ludwig v. Hallers „Restauration der Staatswissenschaften" 1817 Die Schweiz in der „Heiligen Allianz" 1823 Fremden- und Preßkonklusum 1830 Julirevolution in Paris 1830—1831 Regeneration in den Kantonen Zürich, Bern, Luzern, St. Gallen, Aargau, Thurgau, Waadt, Solothurn, Freiburg, Basel 1832 Verbrennung einer Fabrik in Uster 1833 Trennung des Kantons Basel in Basel-Stadt und BaselLand, Gründung der Universität Zürich 1834 Gründung der Universität Bern 1841 Klosteraufhebung im Aargau Sieg der Klerikalen in Luzern 1844 Berufung der Jesuiten nach Luzern

259 1844—1845 Freischarenzüge gegen Luzern 1845, 5. Dezember, Schutzvereinigung von 7 katholischen Orten („Sonderbund") 1846 Demokratische Umwälzung in Genf 1847 Wahlsieg der Radikalen in St. Gallen Auflösung des Sonderbundes durch die Tagsatzung, Sonderbundskrieg (General Dufour) Eröffnung der ersten Eisenbahn in der Schweiz (Zürich— Baden) 1848 Schaffung des Bundesstaates, Bundesverfassung seit 1852 Bau der Eisenbahnen 1855 Gründung der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich 1856—1857 Neuenburger Handel 1864 Genfer Konvention vom Roten Kreuz Fabrikgesetz in Glarus 1865 Telegraphenunion 1869 Demokratische Umwälzung in Zürich 1870 Gründung der Sozialdemokratischen Partei 1870—1871 Deutsch-Französischer Krieg, Internierung der Bourbakiarmee in der Schweiz 1873 u. folg. Kulturkampf 1874 Totalrevision der Bundesverfassung 1877 Eidgenössisches Fabrikgesetz 1878 Weltpostverein 1882 Eröffnung des Gotthardtunnels 1891 Einführung der Verfassungsinitiative in die Bundesverfassung 1898 Rückkauf der Eisenbahnen durch den Bund 1906 Eröffnung des Simplontunnels 1914—1919 Erster Weltkrieg. Bewaffnete Neutralität 1918 Gründung der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei 1919 Gründung des Völkerbundes 1920 Beitritt der Schweiz, „differenzielle" Neutralität 1929 Beginn der Weltwirtschaftskrise 1938 Rückgewinnung der „integralen" Neutralität 1939—1945 Zweiter Weltkrieg. Bewaffnete Neutralität. 17*

SACHREGISTER Aarau 31, 131, 164, 168, 170, 189 Aargau 22, 58 f., 60, 175, 194, 201 ff. Adolf von Nassau 37 Aebli, Hans 115 Agaunum s. St. Maurice Agronomen 156 f., 182 Albredit, König 35, 37, 53 Albrecht, Herzog 46 Alemannen, Alemannien (s. audi Schwaben) 15—23 Alexander I. 163 Ameaux, Pierre 123 Amerika 125, 208, 223, 226 Anshelm, Valerius 87 Appenzell 56 f., 60, 81, 114, 128, 143, 197 Arbedo 58 Attinghausen 41 Augsburg 119 Augusta Raurica 14 Aventin 91

Bonaparte s. Napoleon : Bonifatius 20 ' Bornhauser, Thomas 193 Borromeo, Karl 127 Bregenz 56 Breitinger, J. J. 146, 147 Brenner 224 ; Brun, Rudolf 45 ; Brune 164 j Brunner, Georg 104, 112 Bubenberg, Adrian 69 ff. Burckhardt, Jakob 238, 240 f. Burgdorf 31, 49 ; Burgund 17, 23 | Burgund (Herzogtum) 66 ff. | Burgunder 15, 17, 22 Byron 151

! Calvin 20, 107, 109, 121 ff., 126 Campo Formio 162 Canning 190 Cäsar 14 Baden 83, 85, 112, 131, 216 Ceneri, Monte 138 Balthasar, F. U. 154 Chur 14, 20, 25 Basel 14, 20, 25, 48, 64, 81, Cimbern 14 99, 104, 112 f., 135 f., 141, Columban 19 143, 148, 194 ff., 226 Como 20 Baylen 177 Cusin, Charles 140 Bellinzona 84 Beresina 177 Bern 26, 31, 46 ff., 49, 51, Davel 158 ff. 54, 56, 58, 61, 68 ff., 80, ' Deutschland, Deutsches 98, 101, 112 ff., 126, 131, ! Reich 20, 23 ff., 28, 30, 136 ff., 143 f., 156, 158, | 40, 51, 74,77 ff., 103,128, 163 ff., 184, 193 ff., 210 f. 181, 187, 192, 209 f., 224, Bernoulli 148 235, 237, 242 ff. Berthold s. Zähringen Diesbach, Nikiaus von 68ff., Bibracte 14 92 Bicocca 113 Dissentis 57 Bodmer J. J. 146, 147, 153, . Dornach 80 179 Dreux 127

Druey, Henri 193, 199, 211 Dufour, Henri 204 f., 213 Dunant, Henri 214 Eds 112 Einsiedeln 105, 201 Ekkehard 21 Elsaß 68 England 52, 64, 187, 226 Ensisheim 64 Entente 235 Erasmus 101, 105 Escher, Alfred 211, 216ff., 224 Esdier & Wyss 190 Eugen, Prinz 131 Euler 148 Faenza 34 Farei 122 Favre, Louis 224 Felix 19 Fellenberg, Philipp Emanuel 161, 181 ff. Feuerbach 199 Fichte 151 Finsler 172 Folien, Ludwig 189 — Karl 189 Franken 17, 22 Frankreich 14, 28, 52, 54, 64 f., 73 f., 83 ff., 112, 116, 124, 127, 129 f., 141 f., 155, 160 ff., 167 f., 181, 187, 192, 195 Franz 1.86, 113, 122 Franz Sforza 121 Freiburg 26, 31, 75 f., 80, 87, 135, 211 Freigrafschaft Burgund 17, 23, 72 Friedrich II., Kaiser 25, 33, 34, 35, 41

262

Sachregister

Friedrich III., König 62, 66 ff., 77 f. Friedrich IV., Herzog 58 Furrer, Jonas 211 Füßli, J . H . 147 Gallus 19, 20, 21 Garibaldi 213 Genf 14, 20, 121 ff., 126, 128, 140, 149, 151, 158, 167, 184, 204, 214, 236 Geßler 39 ff., 63 Geßner, Salomon 147 Gibbon 151 Giornico 80 Glarus 46, 51, 54, 105, 114, 153, 197, 228, 230, 233 Glayre, Maurice 172 Goethe 151, 182 Gotthard 7, 21, 32, 33, 37, 43, 58, 82, 224, 226 Gotthelf, Jeremias 183, 200, 238 f. Gottsched 147 Graf, Urs 100 Grandson 70 Graubünden (s. auch Rätien) 18, 89, 114, 129 ff., 162, 170 Grauholz 165 Greifensee 63, 153 Greulich 230 Greyerz 25 Grimsel 16 Grund, Heini am 75 Gubel 119 Gundobad 17 Guyer, Heinrich 193 i Habsburg, Habsburger 26, 32—34, 37, 43, 49, 53, 56, 62 ff., 69 ff. Hagenbadi, Peter 68 Haller, Albrecht von 138, 148 f. Haller, Karl Ludwig von 186 f. Hegetschweiler, Johann 193 Heinrich (VII.) 33

Heinrich VII., Kaiser 37 Heinrich I V . 127 Helvetien, Helvetier 1 3 - 1 5 , 19 Henzi, Samuel 158 Herwegh 213 Hirzel, J . K . 147 Hodler 149 Hofwil 182 f. Holbein 100 Hugenotten 127 Hutten 34, 105 Iferten 180 Italien 14, 18, 82 ff., 100, 209 f., 224, 236 Ivry 128 Jacquerie 52 Jenatsch, Jürg 129 f. Jesuiten 126 f., 202 Johann X X I I I . 58 Julierpaß 14 Julius II. 84 Jura, Berner 184

: Kuhn, Jakob 191 | Kuhn, Minister 172 Kuno von Stoffeln 56, 97 Laharpe, Cesar 163, 171 Landolt, Salomon 153 Lang, Otto 230 Langobarden 18 Laupen 48 Lausanne 14, 20, 126, 160, 168 Lavater, J . K. 147, 161 Legrand, Lukas 172 Leipzig 112, 183 Lenzburg 25, 194 Leopold 37 Leopold I I I . 50, 62 Leu, Joseph 201 Livinental 58, 82, 158 Locamo 84, 140 Locke 151 London 7, 236 Louis-Philippe 192 Ludwig der Bayer 37 f., 48, 56 Ludwig der Deutsche, König 29 Ludwig X I . 66 ff. Ludwig X I I . 82, 85 Ludwig X I V . 131 Ludwig Sforza 82 f. Lugano 84 Luther 103 ff., 122 Luzern 43, 49, 5 6 , 7 4 f., 109, 135, 184, 194, 201 ff., 219

Kappel 115 f., 118—120, 130 Karl der Große 22, 23, 24, 33 Karl IV. 47 Karl V. 112, 115, 122, 126 Könige von Frankreich: Karl V I I I . 82 Karl I X . 127 Karl X . 192 Herzöge von Savoyen: Machiavelli 66, 85, 90 Karl I I I . 121 Mailand 82 ff. Karl Emanuel 128 Manuel, Nikiaus 100, 104 Herzog von Burgund: i Manz, Felix 111 Karl der Kühne 66 ff. Marburg 116 f. Keller, Augustin 202 Marignano 86 ff., 120 Keller, Gottfried 239 f. Marlborough 131 Kelten 13 Maximilian I. 72, 78 ff. Maximilian Sforza 85 Keßler, Johannes 104 Mazzini 213 Kiburg 25, 49 Mengaud 164 Kinkel 213 Metternich 183, 188 f., 205 Klopstock 151 Meyer, Bernhard 201 I Konstanz 20, 58, 69, 107, Milton 147 126 j

Sachregister Möns Poeninus s. St. Bernhard Mont Cenis 224 Montesquieu 153 Morgarten 37, 38 Motta, Giuseppe 236 f. Moutier 21 Mühlhausen 68 Müller, Johannes von 152, 161, 242 Murbach 43 Muri 202 Murten 70 f. Näfels 51 Nancy 72 Napoleon I. 162, 171 f., 175 ff., 181, 183, 185 f. Napoleon III. 213 Neapel 82, 215 Neuenburg 25, 89, 131, 140, 167, 184, 213 Neuenegg 164 Nidwaiden 170 Nikiaus von Flüe 74 ff., 160, 242 Notker 21 Novara 82, 85 Odis, Peter 163, 168, 171 Ochsenbein, Ulrich 203, 211 Oerlikon 226 Österreich (s. audi Habsburg) 26, 63, 65, 129, 171, 204, 213 Paris 7, 99, 163, 185, 192 Pavia 84, 113 Pestalozzi, Heinrich 147, 153, 161, 172, 178—183, 238, 242 Peter von Savoyen 26 Peter von Torberg 51 Petitpierre 247, 249 Pfyffer, Ludwig 127 Philipp von Hessen 116 Philipp II. 128 Physiokraten 155 Piccolomini s. Pius II. Pictet de Rochemont 185 f.

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Piemont 213 1 Schwend, Conrad 78 Pius II. 65 Schwyz, Schwyzer 31 f., Pius IV. 127 35 f., 46, 56, 61 ff., 108, Planta, Pompeius 130 135, 170, 197 Platter, Thomas 91, 93, 94, Segesser, Philipp Anton 211 104 Sempach 50 Plutarch 153 Semper 213 Preußen 131, 187, 205, 213 Servet, Michael 123 Shakespeare 147 Rapperswil 31 Siegwart-Müller 201 Ratbert 21 Sigismund (König von BurRätier, Rätien 14, 23, 57, gund) 19 80 (s. auch Graubünden) — (Kaiser) 53, 58 Reding, General 135 — (Herzog) 68 Reding, Ital 61, 62, 63 Simplon 21 Reding, Theodor 177 Sitten 20, 25, 57 Regula 19 Snell, Wilhelm 190 Rengger, Albert 172 Snell, Ludwig 193 Richelieu 130 Solothurn 14, 49, 55, 75 f., Robespierre 151 80, 135, 153 Rohan 130 Spanien 126, 129 f., 177 Röist, Markus 107 ! Speicher 56 Rom 7, 19, 22 Stämpfli, Jakob 216 f. Rosbecque 52 Stans 75 f., 178 f. Rousseau, J. J. 1 4 9 — 1 5 3 , Stapfer, Albert 172, 174 155, 158, 183, 187, 199 St. Bernhard 14, 21, 32 Rudolf, König v. Burgund Steiger, Nikiaus von 163 23 St. Gallen (Abtei, Stadt, Rudolf von Habsburg 25, Kanton) 21,25,29,56,89, 26, 33, 34, 35, 43 114 ff., 130 f., 135, 140 ff., Rußland 171, 177, 226, 235 204, 219 Rütli 39, 241 Stimmer, Tobias 100 Samaden 99 St. Jakob 64 Samson 98 St. Julien 121 Saussure, H. B. de 148 St. Maurice 19 Savoyen 23, 26, 48, 57, 61, St. Moritz 99 68 ff., 121, 126, 128 Stoß 56 Sdiaffhausen 81, 112, 114 f., Strauß, David Friedrich 208 135, 194 St. Ursanne 21 Schauenburg 170 Stüßi, Rudolf 61 f. Scheuchzer, J. J . 148 Suworow 171 Schiller 41, 193 Schiner 84, 86, 92, 97 Tacitus 16, 152 Schnell 193 Teil, Teilmythos 39 ff., 50, Sdiodoler 87 63, 76 f., 82, 160, 180, Schöllenenschlucht 32 223, 241 Schradin, Nikiaus 79 Tessin 58, 84 ff., 167, 177, Schwaben (Herzogtum) 23 211, 221, 224 (s. auch Alemannien)

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Sachregister

Teufelsbrücke 32 Veltlin 85, 129, 162 Teutonen 14 i Venedig 84, 87, 99, 116 Thun 31, 49 Verona 84 Thurgau 22, 66. 193 Victor 19 Toggenburg 25, 52, 57, 61, Villmergen 130 f., 201 105, 130 Vindonissa 14 Trient 126 Visconti 58 Trithemius 79, 90 Trivulzio 87 Waadt 70, 72, 126, 162 f., Tschudi, Fr. von 149 167, 175, 194 T u n n a n n 83 Wagner, Richard 213 Tutilo 21 Waldshut 68 Waldstätte 31, 61 Ungarn 23 Waldmann, Hans 93 Wallis 16, 57, 61, 84, 89, Unterwaiden 31, 32, 35, 109, 197 170, 177, 181 U r i 31, 32, 33, 35, 59, 82, Walther von der Vogel109, 150, 185, 197 weide 55 Ursus 19 Wat Tylor 52 Uster 193, 221 Wehrli, Johann Jakob 182 Usteri, Paul 173 | Weitling 229

Wettstein 129 Wieland 151 Wien 7, 185 Wimpheling 80 Winkelried 50 Winterthur 31 Wolf, Caspar 149 Worms 56, 78, 102 Wyler 98, 103 Zähringen, Herzog von 25f., 44, 46 f. Zemp, Josef 232 Zug 46, 109, 135, 197 Zürich 27, 29, 31, 44 f., 49, 54, 56, 61 ff., 98, 104 ff., 135 f., 140 f., 147, 151, 153, 161, 184, 193 ff., 200, 204, 216, 218 f. Zwingli 20, 105 ff., 122, 242, 247

V E R Z E I C H N I S DER ABBILDUNGEN 1. Teil von Ferdinand Hodler 2. Teufelsbrücke von Caspar Wolf, Aarau 3. Schlacht bei Sempach, aus der Chronik von Diebold Schilling (Bern) 4. Sdiladit bei Grandson, aus der Chronik von Schodoler (Aarau) 5. Nikolaus von Flüe, Holzstatuette von ca. 1504 6. Zwingli, Gemälde von Hans Asper, Zürich 7. Calvin, Porträt in Rotterdam 8. Jürg Jenatsch, Porträt in Chur 9. Ludwig Pfyffer, Porträt in Luzern 10. Ansicht von Zürich im 17. Jahrhundert, Stich von Merian 11. Rousseau J. J., Porträt von Ramsay 12. Heinrich Pestalozzi, Porträt von F. G. A. Schöner, Zürich 13. Caspar Wolf, Breithorngletscher, Aarau 14. J. Gotthelf, Porträt von J. F. Dietler 15. G. Keller, Porträt von K. Staufer 16. Henri Dufour, Porträt von Favas 17. Henri Dunant, Photographie 18. Landsgemeinde in Glarus

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