202 32 22MB
German Pages 400 Year 1843
Wilhelm von Humboldt1«
gesammelte Werke.
Wlerter Band.
Berlin, «eilrurkt nini verlegt hei (i. Keinier. 1843.
I n h a l t Seite
Ueber Göthe's Herrmann und Dorothea . . . . ( Ä s t h e t i s c h e Versuche.
Erster Theil.
1—268
Braunschweig
1799. 8. XXX. 360 S . ) Kinleitung I.
1
W i r k u n g des G e d i c h t s im G a n z e n . —
E s l ä f s t e i n e n rein
d i c h t e r i s c h e n K i n d r u c k in d e m G e m ü t h e z u r ü c k II.
Hauptbestandteile
der
dichterischen
. . . .
Wirkung. —
d i e s e r B e u r t l i e i l u n g im A l l g e m e i n e n III.
16
E i n f a c h s t e r Begriff d e r K u n s t
IV.
17
H ö h e d e r W i r k u n g , z u d e r die K u n s t sich e r h e b t . — lität. —
Kister
ß e g r i l f des
Idealischen,
Idea-
als d e s N i c h t -
Wirklichen V.
19
Z w e i t e r und h ö h e r e r Begrilf d e s I d e a l i s c h e n , als e i n e s E t w a s , das alle W i r k l i c h k e i t ü b e r t r i f f t
VI.
21
N o t w e n d i g k e i t , in d e r sich j e d e r e c h t e K ü n s t l e r b e f i n d e t , i m m e r das Idealische 7.u e r r e i c h e n
VII. VIII.
25
N a c h a h m u n g der N a t u r
25
Z w e i t e r V o r z u g d e r K u n s t in
ihrer letzten
Vollendung:
T o t a l i t ä t . — Z w i e f a c h e r W e g , dieselbe zu e r h a l t e n . . . IX. X. XI.
13
Plan
Diese T o t a l i t ä t
ist
allemal eine
n o t w e n d i g e Folge
27
der
vollkommenen H e r r s c h a f t d e r d i c h t e r i s c h e n E i n b i l d u n g s k r a f t .
29
Kinlluls des Idealischen in der D a r s t e l l u n g a u f d i e T o t a l i t ä t .
32
Uebersicht
des g a n z e n
Weges,
welchen
d e r D i c h t e r von
s e i n e m u r s p r ü n g l i c h e n Z w e c k bis zu s e i n e m h ö c h s t e n Ziele zurücklegt XII.
U n t e i s c h e i d u n g des h o h e n und e c h t e n Styls in d e r D i c h t k u n s t von d e m Afterstyl in d e r s e l b e n
36
IV Seite XIII.
Anwendung thea.
—
des
Heine
Vorigen
auf
Objectivität
Herr mann
dieses
und
Gedichts.
Doro-
—
Erste
Stufe derselben XIV.
41
Zweite S t u f e der Objectivität
unsres Gedichts. —
Ver-
w a n d t s c h a f t s e i n e s S t y l s m i t dein S t y l d e r b i l d e n d e n K u n s t . XV.
Verwandtschaft aller Künste unter einander. — Verhältnis
jedes
Künstlers
zur
Kunst
überhaupt
und zu
seiner besondren XVI.
43
Doppeltes
4H
Mittel, wodurch unser Dichter diese, der bildenden Kunst nahe kommende, Objectivität
XVII.
Erläuterung
des G e s a g t e n
erlangt
4ec.
Nichts charakterisirt den epischen Sänger so sehr, als die Gewifslieit, mit der er auftritt; und in dieser Rücksicht gehört, wenn man einmal blofs von der grofsen und heroischen Epopee spricht, die Ankündigung des Gegenstandes und der Anruf der Muse iin Eingange
des Gedichts gar
nicht so sehr zu den unwesentlichen Erfordernissen derselben, als es vielleicht scheinen könnte. Nicht blofs dafs der Dichter die Aufmerksamkeit des Lesers stärker e r r e g t , je feierlicher er beginnt, und dafs diese Zuversicht selbst seinen Sängerberuf bewährt, so mufs er auch von selbst, erfüllt von einer grofsen, folgenreichen, allgemein bekannten Begebenheit, und in der Stimmung der Einbildungskraft, in der sie alles ins Grofse, ins Glänzende, ins reich-Sinnliche m a l t , und lauter Gegenstände um sich versammelt,
die dieser
Behandlung fällig
nen solchen Eingang gerathen. können,
das auszusprechen,
sind,
auf ei-
Er mufs nicht genug eilen wovon er selbst überströmt,
und ehe er die einzelnen Theile seines Gemähides besonders schildert, wenigstens zuerst nur mit den Hauptumrissen das Ganze hinzustellen.
Millen unter dieser Fülle von
Gegenstanden, und in dem Drange seiner Empfindung nrnfs er Beistand und Hülfe, aber er kann sie nur bei der Gottheit suchen, mit der er wirklich in diesem Augenblicke n ä her v e r w a n d t ist, da e r , wie sie, über der W e l t und der Menschheit, ü b e r der Vorzeit und der Gegenwart schwebt.
200 Auch sind alle eigentlich sogenannten epischen Dichter hierin dem Beispiel Homers gefolgt; und wie nahe dieser Eingang mit der individuellen Stimmung des Sängers zusammenhängt,
sieht man
besonders
deutlich an
Ariost.
D a er in der T h a t nicht sowohl durch eine einzelne Handlung oder Begebenheit begeistert w a r ,
sondern
sich nur
m e h r von dem Feuer belebt f ü h l t e , in das die Phantasie versetzt wird, wenn sich ihr eine zahlreiche Menge m a n nigfaltiger Gruppen, ein weites und reichbesäetes Feld zeigt, das sie durchlaufen k a n n ; so kündigt er bei weitem nicht so sehr seinen eigentlichen Stoff, als vielmehr die mannigfaltigen Gegenstände an,
die sich in dem ganzen Umfange
seiner Gesänge finden w e r d e n ,
und gestellt schon dadurch
von selbst zu, dafs er vor allem nur durch Mannigfaltigkeit und Abwechslung zu interessiren vermag. Unser Dichter befindet sich in einem noch andern Fall. Sein Stoff ist von der Art, dafs er ihm mit Sicherheit die Theilnahme jedes gefühlvollen Lesers verspricht, aber er trägt diese nicht unmittelbar an der Stirn, man mufs erst tiefer in ihn eingeht), um mit ihm vertraut zu werden, ihn erst kennen l e r n e n , um ihn lieb zu gewinnen.
Nach und
nach also und schrittweise mufs der Dichter den Leser in sein Interesse verweben, einfach und anspruchlos beginnen, u m sich am Schlüsse desto gewisser des vollen Siegs zu erfreuen.
Selbst der Anruf an die Muse konnte ihm daher
w e d e r eine höhere Kraft zu erlangen, noch die, welche er besitzt, zu bewähren dienen; er konnte ihn, wie wir im Vorigen gesehn haben, nur dazu brauchen, seinen Stoff innerhalb des Gebietes der Kunst in dem Augenblick zu erhalten, da er in das der Wirklichkeit überzugehen droht, seine physische W i r k u n g zu
schwächen,
um
seine
ästhetische
zu erhöhen. Indefs bringt er doch auch bei ihm unläugbar zugleich
201 nocli eine
a n d r e und dem epischen Gedicht
thümliche. W i r k u n g hervor.
mehr
D a d u r c h dafs er die H a n d l u n g
einen Augenblick in ihren u n u n t e r b r o c h e n e n
Fortschritten
anhält, dafs der D i c h t e r an dieser Stelle in w e n i g e zusammenfallt, was
eigen-
er bisher
Worte
geleistet h a t , u n d w a s ihm
n o c h zu besingen übrig bleibt, bildet sich der Stoff des G e dichts v o r u n s r e r
Einbildungskraft sinnlicher als ein G a n -
zes, das einem bestimmten Ziele zueilt.
Dadurch,
dafs e r
einen Augenblick a u s r u h e n und n e u e K r ä f t e s a m m e l n mufs, dafs er eines B e i s t a n d e s zu b e d ü r f e n g l a u b t , u m z u m Z i e l zu g e l a n g e n , erscheint sein G e s c h ä f t u n s b e d e u t e n d e r ,
die
B e w e g u n g , in der e r sich befindet, gröfser und lebendiger. Selbst die V o r s t e l l u n g d e r Muse, w e n n wir uns a u c h u n t e r diesem
Namen
nicht
mehr jene ehrwürdige
Gottheit
des
Allerthunis denken, w e n n wir es auch klar empfinden, dafs sich der D i c h t e r blofs an seine eigne B e g e i s t e r u n g w e n d e t , und dieser n u r j e n e sinnliche Einkleidung leiht, trügt d e n noch
dazu b e i , den dichterischen
m u n g zu erhöhen. die E h r f u r c h t
Schwung unsrer
Stim-
D e n n erkennen w i r gleich nicht m e h r
erweckende
Gröfse
einer B e w o h n e r i n
des
O l y m p s in ihr, so bleibt sie uns doch i m m e r die holde und liebliche T o c h t e r der P h a n t a s i e .
LXXVII. Zwiefach«: G a t t u n g
der
Knopfe.
D a l s also zwischen allen übrigen bisher bekannten epischen Gedichten ein w i c h t i g e r
und unsrem gegenwärtigen
in der
That
U n t e r s c h i e d v o r h a n d e n i s t , dafs derselbe in
d e m heroischen
Charakter liegt, welcher jenen
eigen ist,
und diesem fehlt, und dafs dieser C h a r a k t e r allerdings zu b e i t r ä g t , die eigentlich
da-
epische W i r k u n g zu inodificiren
202 und zu verstärken — sind die Resultate unsrer bisherigen Untersuchung. Durch diese aber wird der bisher festgesetzte Begriff der Epopee keinesvveges umgestofsen. Diesem ist schlechterdings Genüge geleistet, sobald unser Geinüth auf eine dichterische Weise in den Zustand lebendiger und allgemeiner sinnlicher Betrachtung versetzt ist. Niemand wird läugnen können, dafs dies eben so wohl durch einen bürgerlichen, als einen heroischen Stoff, durch eine erdichtete, als durch eine allgemein bekannte und welthistorische Begebenheit, durch Ereignisse, die nur einige wenige Personen betreffen, als durch solche, die ganze Nationen in Bewegung setzen, geschehen kann, wenn es aucli in dem einen Falle leichler gelingen sollte, als in dem andern. Welchen Gegenstand er aucli zur Bearbeitung wählt, so muís der Dichter immer von ihm aus auf einen allgemeinen Standpunkt führen können; wenn ilun auch sein Stoff wenig sinnlichen Reichlhum darbietet, mufs er ihm doch immer Gestalt und Bewegung, also sinnliches Leben, milthuilen können. Alsdann aber hat er sein Geschäft vollendet, und die epische Wirkung ist unläugbar vorhanden. Verbindet man mit der Epopee Nebenbegiiffe von dem Umfange des Gedichts, und der Gröfse der Handlung, mischt man unwesentliche Dinge, wie die Fabel und das Wunderbare hinein, so ist das allein der Fehler der Kritik. Alle diese Forderungen fliefsen nicht aus dem Wesen des epischen Gedichts, sie sind blofs von den vorhandenen ¡Mustern, welche unmöglich allen künftigen Erweiterungen Grenzen vorschreiben können, hergenommen, und sind endlich nicht einmal an und für sich fest und sicher bestimmt. Indefs lassen sich dieselben dennoch auf etwas Bestimmtes zurückführen; sie kommen alle darin überein, dafs der Stoff der Epopee ins Glänzende, sinnlich-Reiche bear-
203 beitet werden mufs; und zwischen einem Gedicht, in welchem dies geschehen ist, und einem andren, in dem, wie z. B . in dem unsrigen, eine gröfsere Einfachheit, und ein geringerer sinnlicher Reichlhum herrscht, ist ein unverkennbarer Unterschied.
Wenn es daher auch leicht ist, jene
Anforderungen einzeln zurückzuweisen, und es sogar mit Recht lächerlich zu machen, wenn man nur Könige und Helden, und diese in einem feierlichen und majestätischen Aufzuge auf dem Schauplatz des Dichters sehen will, so bleibt es darum nicht weniger gewifs, dafs, wenn der Dichter sich mit lauter sinnlich grofsen Gegenständen umgiebt, er auch unsre Einbildungskraft in einen höheren und sinnlicheren Schwung versetzt, als wenn er sich nicht über den gewöhnlichen Kreis unsers Lebens erhebt.
Sobald man
sich an diese verschiedene Stimmung der Phantasie hält, und nicht gerade auf diese oder jene Beschaffenheit des Stoffes dringt, so wird man den grofsen Unterschied beider Behandlungen nicht allein nie verkennen, sondern auch fühlen, wie wichtig es ist, beide nicht mit einander zu verwechseln. Ginge dieser Unterschied den Begriff des e p i s c h e n Gedichts nicht weiter an, beträfe er blofs die Wirkung desselben überhaupt, nicht gerade seine epische insbesondre, so wäre es minder nolhwendig, denselben herauszuheben. Aber wenn die Epopee auf der einen Seite nie genug L e ben, Bewegung und sinnlichen Glanz erhalten kann, und auf der andern den allgemeinsten Ueberblick, die tiefste Einsicht in die gesammte Natur verlangt; so müssen zwei Arten der Bearbeitung, von welchen die eine vorzugsweise den ersteren, die andre weniger diesen, aber darum (weil in der That die inneren Formen immer reiner hervortreten, j e einfacher die äufsern behandelt sind) vielleicht nur noch vollkommner den letzteren Endzweck erreicht, auch zwei
204 eigne Gatlungen derselben bilden, und die erstere inufs sogar, da sie das epische Gedicht nocli sichtbarer, als ein Maximum der darstellenden Kunst zeigt, in dieser Hinsicht einen Vorzug verdienen.
Wenigstens müssen wir uns sehr
hüten, dieselbe zu vernachlässigen, oder gar geringzuschätzen, da der Charakter unsrer Zeit schon darauf hinausgeht, überall den heroischen Glanz wegzuwischen, mit dem wir die Geschichte der Vorwell so zauberisch überkleidet sehen, und auch unsre Kunst sich offenbar hinneigt, ner sinnlichen Höhe
von j e -
der Einbildungskraft ( d i e sie oft nur
darum zu verschmähen scheint, weil sie dieselbe nicht zu erreichen vermag) zu einer Wahrheit und Natur herabzusinken, die kaum noch künstlerisch heilsen darf. W e n n wir daher auch unsern Begriff der Epopee selbst nicht umzuändern brauchen, so müssen wir doch zwei wesentlich verschiedene Galtungen
derselben
unterscheiden,
von denen wir nur die eine, gerade weil es an Mustern derselben fehlte, noch nicht gehörig zu nennen im Stande waren.
So wie es ein bürgerliches Trauerspiel im Gegen-
salz des heroischen giebl, eben so und noch mehr, da dieser mehr sinnliche S c h w u n g der Phantasie, wie wir gesehen haben, in der T h a l den Begriff der Epopee näher angeht, als den Begriff der Tragödie, müssen wir auch eine ähnliche Art der Epopee annehmen; Herrmann
und
und eine solche ist
Dorothea.
Diese beiden Galtungen nun kommen in dem wesentlichen Begriff des epischen
Gedichts schlechterdings
einander überein, gehen beide von der Darstellung
mit einer
einzelnen Handlung aus, zeigen beide den Menschen und die Welt in ihrer Verbindung, und versetzen beide das Gemüth in den Zustand der sinnlichsten, aber allgemeinsten Betrachtung, sind aber in der Art, wie sie diese Wirkung erreichen, von einander verschieden.
205 Die h e r o i s c h e
E p o p e e neinlich w ä h l t iliren
Gegen-
s t a n d so, dafs er eine möglichst glänzende Aufsenseite hat, und ist v o r z u g s w e i s e b e s c h ä f t i g t ,
diese
zu z e i c h n e n ;
sie
m a h l t ins s i n n l i c h - R e i c h e G l ä n z e n d e , P r ä c h t i g e , sie v e r s e t z t (um sie noch bestimmter zu charakterisiren) d i e E i n b i l d u n g s k r a f t in e in e S Ii n u n im g, w o d i e s e l b e der
lebhaftesten
erfreut.
Mitwirkung
der
äufsern
sich
Sinne
Objectiv wird sie sich durch einen aus der G e -
s c h i c h t e e n t l e h n t e n , allgemein b e k a n n t e n Stoff (denn s c h w e r lich d ü r f t e j e ein erdichteter ihren F o r d e r u n g e n g e n ü g e n ) , d u r c h eine g r ö f s e r e Menge solcher B e g e b e n h e i t e n , die n u r d a s öffentliche L e b e n der V ö l k e r unter e i n a n d e r , als solc h e r , w e l c h e eine ruhige und g e w ö h n l i c h e P r i v a t e x i s t e n z darbietet,
durch eine feierliche A n k ü n d i g u n g ihres G e g e n -
s t a n d e s , (die ihr unentbehrlich scheint) ü b e r h a u p t aber d u r c h d e n R e i c h t h u m und den Glanz der S c h i l d e r u n g e n
und d e s
V o r t r a g s auszeichnen. Die b ü r g e r l i c h e unpassend keinen,
auch
E p o p e e ( d e n n so u n a n g e n e h m u n d
dieser Ausdruck ist, so linden w i r
doch
w e l c h e r d e n Begriff n u r gleich gut e r f ü l l t e ) f ü h r t
zu e i n e m gleich allgemeinen Ueberblick
ü b e r das
Schick-
sal und die Menschheit, und besitzt dieselbe sinnliche Individualität, dieselbe künstlerische Vollendung. was
ihr
llium.
mangelt, Aber
G e b a l t an die
ist nur
auch
sie entschädigt
dafür d u r c h einen
G e d a n k e n und E m p f i n d u n g e n ,
Einbildungskraft
in
Das
einzige,
derselbe sinnliche R e i c h greiseren
und setzt daher
nähere Verbindung
mit
dem blofs b i l d e n d e n Sinn, mit dem Geist und dem Gefühl.
D e n n das vergifst man g e w ö h n l i c h ,
dafs es a u -
fser d e m Gebiete d e r Sinnlichkeit n o c h das Gebiet der E m pfindungen u n d eben so
gut
G e s i n n u n g e n g i e b t , w e l c h e s dem D i c h t e r
zu G e b o t e stellt, und g e r a d e a u c h in h o h e m
G r a d e g e m a c h t ist, eine epische W i r k u n g h e r v o r z u b r i n g e n ,
206 sobald er nur versteht, es in der n o t w e n d i g e n Allgemeinheit zu umfassen. Indem wir also unser Gedicht dieser Galtung zuschreiben, räumen wir ihm dadurch unmittelbar eine hohe und eigentümliche Schönheit ein, eine innere Trefflichkeit, die jenen höheren Glanz, jene reichere Pracht wenigstens nirgends mit Bedauern zu vermissen erlaubt. Wir sagten im Vorigen, dafs das epische Gedicht, mehr als jede andre Dichtungsart, den Gestalten, die sonst ausschliefsend der bildenden Kunst angehören, B e w e g u n g und S p r a c h e miltheilt. Wenn nun die heroische Epopee ihnen eine raschere, mehr mit sich fortreifsende, vielfachere Bewegung leiht; so giebt ihnen die unsrige eine reichere, tiefer eindringende und seelenvollere Sprache.
LXXVIII. Eigentliiimliche Grüfse des Gegenstandes unsres Gedichts.
Des Beweises, dafs H e r r m a n n u n d D o r o t h e a nicht der heroischen Epopee beigezählt werden darf, werden uns unsre Leser leicht überheben.
Es hegt von selbst am Tage,
und ist noch mehr durch dasjenige klar, was wir bei der allgemeinen Prüfung des Geistes, in welchem es gedichtet ist, über seinen geringeren sinnlichen Reichlhum, und seinen überwiegend gröfseren Gehalt für den Geist und die Empfindung gesagt haben.
Es ist unverkennbar, dafs, so
rein bildend es auch den Sinn und die Einbildungskraft beschäftigt, es doch diese letztere und die Sinne nicht in den lebhaften Schwung versetzt, in welchem uns z. B. Homer durch den Glanz und den Reichlhum
seiner
Dichtungen
mit sich fortreifst. Aber desto nölhiger wird es seyn, einige Worte über die Gröfse und Wichtigkeit des Gegenstandes, den es darstellt, hinzuzufügen, und es gegen den
207 Vorwurf zu rcllen, dafs es nur die unbedeutenden Schicksale Herrmanns und Dorolheens schildert. Es ist natürlich, dafs diese Grüfse nicht im ersten Augenblick in die Augen fallen kann, dafs sie sogar eben deswegen, weil sich ihr Bild erst nach uud nach vor unserm Geiste gestaltet, eine eigen modilicirte Empfindung hervorbringt.
Es ist ganz etwas anders, mit der Ankündigung ei-
nes schon vorher bekannten Gegenstandes,
oder mit der
Sache selbst anzuheben; ganz etwas anders, als epischer Sänger, als lebendiges Organ des Rufs und der Geschichte, oder als einfacher Erzähler, als blofser Dichter aufzutreten. In dem ersteren Fall erhebt sich die Einbildungskraft des Lesers auf den blofsen Ton, den sie anstimmen hört, wird, noch ohne dafs der Gegenstand selbst wirkt, von dem Feuer mit ergriffen, das den Dichter begeistert; in dem letzteren mufs erst der Geist und das Herz den Stoff selbst umfassen, ehe das Interesse daran sich ihr ganz milzutheilen vermag.
Natürlich tnufs also dort das Gefühl einer glänzen-
deren, mehr phantastischen, aber eben so natürlich liier das einer gehallvolleren und innigeren Gröfse entstehen. so finden wir es auch in der Thal.
Und
Die ersten Verse des
Dichters w e c k e n blofs Neugierde und Theilnahme in uns, aber bei den letzten Gesängen sind wir von dem Höchsten und I3esten durchdrungen, was wir j e in unsern glücklichsten Momenten dachten oder empfanden. D a s grüfsesle Geheininifs besonders des epischen Dichters besteht in der Kunst, den Boden zuzubereiten, auf welchem seine Figuren erscheinen, ihnen den Hintergrund zu geben, vor dem sie hervortreten sollen. unser Dichter
auf eine ausnehmende
Diese Kunst hat Weise
verstanden.
Die Personen seines Gedichts sind allein sein W e r k ;
sie
haben keinen andern Werth, keine andere Wichtigkeit, als die er ihnen mitgetheill h a t , aber die Begebenheiten,
die
208 Zeitumstände, in die er ihre Schicksale v e r w e b t , das, w a s er eigentlich durch sie darstellt, w a s , indefs wir sie sehen, in ihrer Gestalt, in ihren Handlungen auf uns einwirkt, das hat für sich, und unabhängig von seiner Bearbeitung, ein grofses, ein allgemeines, ein hinreifsendes Interesse. Gleich in dem ersten Gesänge zeigen sich uns zwei bedeutende, sichtbar von einander
geschiedene
Gruppen;
im Vordergrunde einige einzelne Charaktere, Menschen, die Gleichheit des Wohnorts, der Beschäftigung, der Gesinnungen in einen engen Kreis mit einander verbindet; dann in der Ferne ein Z u g von Ausgewanderten, durch Krieg und bürgerliche Unruhen aus ihrer Heimalh vertrieben.
Gleich
hier also sieht die ¡Menschheit und das Schicksal vor uns da, jene in reinen, festen, idealischen und zugleich durchaus individuellen F o r m e n , dieses in einer Staaten erschütternden, wirklichen und historischen Begebenheit.
Die Ruhe
einer Familie contrastirt gegen die Bewegung eines Volks, das Glück Einzelner gegen den Unternehmungsgeist Vieler.
LXXIX. Haupttliema
des
Gedichts.
Mit diesem Contrast ist zugleich das Hauptthema des ganzen Gedichts aufgegeben.
W i e ist intellectuelles, mo-
ralisches und politisches Fortschreiten mit Zufriedenheit und R u h e ? wie dasjenige, wonach die Menschheit, als nach einem allgemeinen Ziele, streben soll, mit der natürlichen Individualität eines j e d e n ? wie das Betragen Einzelner mit dem Strom der Zeit und der Ereignisse ? wie endlich überhaupt das, was der Mensch selbst in sich schaffen und umwandeln kann, mit demjenigen, w a s , aufser den Grenzen seiner Macht, mit ihm selbst und um ihn her vorgeht, so vereinbar, dafs jedes wohlthätig auf das andre zurück, und
209 beides zu höherer allgemeiner Vollkommenheit zusammenwirkt? Diese Fragen sind in den Gesprächen des Wirths mit seinen beiden Freunden, in dem Streite der beiden Eltern über die Unzufriedenheit des Vaters mit dem Betragen des Sohns, in der entschlossenen Aeufserung Herrmanns über den thätigen Antheil an der allgemeinen Gefahr, endlich in der Gegeneinanderstellung seiner Meinung und der des früheren Verlobten Dorotheens über die Zeitumstände überhaupt, um nur dieser vorzüglichsten Stellen zu gedenken, nach einander aufgeworfen, oder beantwortet. Die Antwort selbst ist zugleich die richtigste für die philosophische Prüfung, die genügendste für das praktische Leben, und die tauglichste zu dem dichterischen Gebrauch. Alle jene Dinge, zeigt uns der Dichter, sind vereinbar durch die Beibehaltung und Ausbildung unsres natürlichen und individuellen Charakters, dadurch dafs man seinen geraden und gesunden Sinn mit festem Muth gegen alle äufseren Stürme behauptet, ihn jedem höheren und besseren Eindruck offen erhält, aber jedem Geist der Verwirrung und Unruhe mit Macht widersteht. Alsdann bewahrt das ¡Menschengeschlecht seine reine Natur, aber bildet sie aus; alsdann folgt jeder seiner Eigenthümlichkeit, aber aus der allgemeinen Verschiedenheit geht Einheit im Ganzen hervor; alsdann erhalten die äufsern Ereignisse und Zerrüttungen die Thätigkeit der Kräfte rege, aber der Mensch formt darum nicht weniger die Welt nach sich selbst; alsdann wächst, mitten unter den gröfsesten Stürmen, ununterbrochen, und nur mit dem Wechsel gröfserer oder geringerer Ruhe und Zufriedenheit, die allgemeine Vollkommenheit, und einer nicht verächtlichen Generation folgt immer eine noch bessere nach. Dies nun, die Menschheit selbst in ihren, zugleich durcli iv. 14
210 ihre innre Kraft und die iiufsere B e w e g u n g bewirkten F o r t schritten, hat unser D i c h t e r unsrer Einbildungskraft stellen verstanden.
darzu-
E r hat diesem Stoff dadurch m e h r dich-
terische Idealität gegeben, dafs er zu den C h a r a k t e r e n l a u ter rein m e n s c h l i c h e , durch keine Cultur v e r z ä r t e l t e ,
und
doch der Cultur nicht verschlossene Naturen g e w ä h l t ,
sei-
nen
Hauptpersonen
aber sogar
etwas
das an H o m e r s Helden erinnert,
Heroisches,
etwas,
beigemischt h a t ;
dadurch
mehr sinnliches L e b e n , dafs er die wichtigsten und gröfsesten Begebenheiten in seine Handlung hineinzieht; dadurch endlich mehr Individualität, dafs er die ganze
Eigentüm-
lichkeit unsres vaterländischen Charakters und unsrer Z e i t mit auftreten läfst.
E s ist ein Deutsches
Geschlecht,
und
am Schlufs unsres Jahrhunderts, das er uns schildert.
LXXX. ( i r ö f a e in den ilarin aufgeführten C h a r a k t e r e n und B e g e b e n h e i t e n .
In den Charakteren ist gerade immer dasjenige herausgehoben, was poetisch und praktisch die gröfsesle W i r k u n g t h u t ; es herrscht immer darin eine doppelte Art der S t ä r k e , einmal die ursprüngliche der N a t u r , und dann d i e , aus dem Zusammenwirken lichkeiten entspringt.
aller verschiedenen
welche
Eigentüm-
D e n n durchaus waltet die
mensch-
liche Empfindung darin v o r , dafs nichts gut ist, w a s nicht natürlich i s t ,
dafs alles Natürliche mit einander in durch-
gängiger Harmonie steht, und dafs nur aus der reinen Kraft der verschiedenen Individuen die volle der Menschheit hervorgeht Die
Charaktere
der Hauptpersonen
sind wirklich
für
sich selbst von der A r t , dafs sie sich a l l e m , was nur an sich gut i s t , anschliefsen, Wechselwirkung
und
unterhalten
mit allem eine w o h l t ä t i g e
können:
einige a n d r e ,
denen
211 diese Eigenschaft nicht so eigen
ist,
helfen dies noch in
ein helleres Licht stellen, und wo das Gespräch
(das
fast
immer diese Materie behandelt) den moralischen Werth und die Gesinnungen der Menschen berührt, da wird i m m e r nur bewiesen, dafs wenn sich L e b e n im L e b e n
vollenden soll,
das Natürliche nicht unterdrückt und das Mannigfaltige nicht einförmig gemacht werden inufs.
Von scheinbaren Fehlern
unsrer Natur aus, wird in diesen Gesprächen immer gezeigt, w i e sie nur Veranlassungen s i n d , sich zum B e s s e r e n und Höheren zu erheben, streitende Neigungen
werden freund-
lich mit einander
a u s g e g l i c h e n , und
so sehr in ihrem
Ganzen umfafst, dafs es nur wenig b e -
die Menschheit wird
deutende Z ü g e in ihrem Bilde geben w i r d , die hier nicht berührt wären.
A m einfachsten, allgemeinsten und schön-
sten ist sie in der Stelle geschildert, w o (S. 100.) der thätige und rastlose U m s e g l e r
des Meers
und der E r d e
mit
d e m stillen und ruhigen B ü r g e r verglichen wird. S o herrscht also in dem ganzen Gedicht der schöne Geist der Billigkeit, welcher alle D i n g e nur von der S e i t e aufnimmt, von der sie gut und erhebend scheinen; so werden w i r ,
auf eine wahrhaft epische W e i s e , auf den allge-
gemeinen Standpunkt geführt, von dem wir alles, und alles mit gleich g r o f s e m , parteilosem Interesse a n s e h n , und so schiebt sich, ohne dafs wir es selbst b e m e r k e n , das heure Bild der ganzen Menschheit
unge-
den wenigen Personen
unter, die wir vor uns handelnd erblicken. W e n i g e r ruhig und befriedigend, aber gleich grofs und kräftig, ist das Bild der Begebenheiten.
Die merkwürdigste,
die vielleicht die ganze Geschichte aufweist, die französische Revolution, ist von ihren drei grüfsesten Seilen, von dem edeln F r e i h e i t s - E n t h u s i a s m u s , der ihren Anfang bezeichnete, von dem Kriege mit dem Auslande, derung einer so zahlreichen
und von der A u s w a n -
Menge von Familien gezeigt. 14 '
212 Gerade diese drei sind es a u c h , welche sich dein Interesse der L e s e r am meisten empfehlen müssen: die erste durch den Anlheil, den nolhwendig ihre Ideen und Empfindungen daran n e h m e n ; die zweite
durch die Wichtigkeit, die sie
für ihr Vaterland und ihre eigne Existenz hat; die letzte endlich durch das rührende Bild, durch welches der D i c h ter so viele von ihnen an dasjenige erinnert, was sie selbst theils gesehn, theils erfahren haben. Allein das, was diese Begebenheiten mittelbar für sich enthalten,
ist
alles;
wenig,
es ist vielmehr
Gedränge
noch
des Z u g e s , blofs das
noch bei
allein und unweitem
blofs das
nicht
verwirrte
mannigfaltige Elend
der
Flüchtlinge, die Gräuel und das Verderben des Kriegs vor sich zu erblicken;
die Hauptwirkung entsteht erst
durch
die Vergleichung dieser Zeit mit der Vergangenheit aller Jahrhunderte, durch den unsichern und ahndungsvollen Blick in die Zukunft.
„Unsre Zeit, heifst es, vergleicht sich den
seltensten Zeiten; in der heiligen und in der gemeinen Geschichte findet sich nichts, was ihr ähnlich w ä r e ; wer in diesen Tagen gelebt hat, hat schon J a h r e gelebt; so drängen
sich alle Geschichten.
Die Verhältnisse der Gesell-
schaft sind so umgekehrt, die Stützen, auf denen eines jeden sicheres Daseyn
ruhte,
so umgestürzt w o r d e n , dafs
einzelne Menschen, mitten in unsern gebildeten
und culti-
virten S t a a t e n , ganze Schaaren ohne Heimath und Wohnort herumführen, und dadurch an jene frühesten Zeiten eri n n e r n , wo ganze Nationen durch Wüsten und Irren herumwanderten. hen?
Und wo ist das Ende dieses Unheils zu se-
Man täusche sich nicht mit betrüglicher Hoffnung!
— gelöst sind die Bande der W e l t : wer k n ü p f e t sie wieder, Als allein nur die Notli, die höchste, die uns bevorsteht?''
So stellt uns der Dichter zugleich die höchste Unruhe, die äufserste Zerrüttung, eine wahrhaft rettungslose Verzweif-
213 lung, aber neben derselben auch das sicherste Gegenmittel, die beste Quelle des Trostes und der Hoffnung dar.
Wenn
die Bande der Welt sich lösen, so sind wir es, die sie w i e der zu knüpfen vermögen.
Hierin schliefst sich das ganze
Gedicht zusammen, darin vereinigen sich alle einzelnen Eindrücke, die es auf uns gemacht hat.
Aus dem
Untergang
und der Zerstörung sehen wir neues L e b e n , aus der V e r wirrung der Völker das Glück und die fortschreitende Veredlung einer Familie hervorgchn. Herrmann und Dorothea sind es, die uns von Anfang an allein beschäftigen, allein unsre ganze Aufmerksamkeit erschöpfen.
W i e reich und erhaben jene Bilder mensch-
licher Charaktere, wie grofs und hinreifsend diese Schilderungen der Zeit hätten seyn m ö g e n , sie hätten diesen liefen und bleibenden Eindruck in uns nicht können, wenn
hervorbringen
wir sie nicht immer nur in diesen beiden
Figuren gesehen, wenn sie nicht immer nur dazu beigetragen hätten, diese vollsländig auszumahlen. ten wir Völker und Zeilen verlassen,
Unwillig hät-
und wären nur zu
den Empfindungen und dem Schicksal der beiden Liebenden zurückgekehrt, die sich einmal allein unsres ganzen Herzens, unsres ungelheillen Interesses bemächtigt hatten. Um beide bilden sich von dein Anfange des Gedichts an zwei verschiedenartige Gruppen.
Dorothea gehört zu
demjenigen Tlieil unsier Nation, der durch den
Umgang
mit unsern mehr verfeinerten Nachbarn eine höhere Cultur und mehr äufsre Bildung erhallen, und durch eben diese Nachbarschaft auch an den neueren philosophischen Ideen mehr Anlheil genommen h a t ; sie befindet sich zugleich in dem Zustande höherer Spannung, in welchen jede aufserordenlliche Begebenheil die Seele immer versetzt;
diese
Stimmung wird noch durch ihre erste unglückliche Liebe und die schwerinülhige
Erinnerung daran v e r m e h r t ;
und
214 dies alles z u s a m m e n g e n o m m e n ,
und in einem
weiblichen
C h a r a k t e r mit einander v e r s c h m o l z e n , m a c h t sie z u e i n e m feineren, h ö h e r e n , idealischeren W e s e n ,
als H e r r m a n n ist,
zu einem Wesen, mit dem w i r noch herzlicher und inniger sympathisiren.
Dagegen läfst H e r r m a n n s C h a r a k t e r nichts
an männlicher
Stärke und natürlicher Einfachheit v e r m i s -
s e n , und beide vereinigt geben nun das lebendigste Bild einer fortschreitenden Veredlung unsres Geschlechts.
Denn
ihre Aehnlichkeit ist so vollkommen, dafs sie sich auf das innigste an einander anschliefsen k ö n n e n , und ihre beiderseitige Verschiedenheit gerade von der A r t , dafs j e d e r von dem andern, was ihm selbst mangelt, empfängt.
LXXXI. Resultat