229 53 14MB
German Pages 400 [404] Year 1843
Wilhelm von Humboldt's
gesammelte Werke.
Vierter Band.
Berlin, gedruckt und verlegt bei G. Reimer.
1843.
PHOTOMECHANISCHER NACHDRUCK WALTER DE GRUYTER · BERLIN · NEW YORK 1988
ISBN 3110102161 © 1843/1988 by Walter de Gmytci Sc Co., Berlin 30, Printed in the Netherlands Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Bindearbeiten: C. F. Walter, Berlin
I
n
h
a
l
t
.
Ueber Göthe's Herrmann und Dorothea (Aesthe tische Versuche.
Erster Theil.
. Seite 1—268
. . . .
Braunschweig
1799. 8. XXX. 360 S.) Einleitung I.
Wirkung des Gedichts im Ganzen. —
1 Es läfst einen rein
dichterischen Eindruck in dem Gemüthe zurück . . . . II.
Hauptbestandteile der dichterischen Wirkung. — dieser Beurtheilung im Allgemeinen III. Einfachster Begriff der Kunst
13
Plan 16 17
IV. Höhe der Wirkung, zu der die Kunst sich erhebt.— Idealität. —. Erster Begriff des Idealischen, als des Nicht Wirklichen
19
V. Zweiter und höherer Begriff des Idealischen, als eines Etwas, das alle Wirklichkeit übertrifft *
21
VI.
Notwendigkeit, in der sich jeder echte Künstler befindet, immer das Idealische zu erreichen
VII.
Nachahmung der Natur
VIII.
25
Zweiter Vorzug der Kunst in ihrer letzten Vollendung:
Totalität. — Zwiefacher Weg, dieselbe zu erhalten . . . IX.
25
27
Diese Totalität ist alleinal eine nothwendige Folge der vollkommenen Herrschaft der dichterischen Einbildungskraft.
29
X.
Kinftul's des Idealischen in der Darstellung auf die Totalität.
32
XI.
Uebersicht des ganzen Weges, welchen der Dichter von seinem ursprünglichen Zweck bis zu seinem höchsten Ziele zurücklegt
XII.
36
Unterscheidung des hohen und echten Styls in der Dichtkunst von dem Afterstyl in derselben
39
IV
XIII.
Anwendung des Vorigen auf H e r r m a n n u n d D o r o thea.
—
Reine Objectivität dieses Gedichts. —
Erste
Stufe derselben XIV.
41
Zweite Stufe der Objectivität unsres Gedichts. —
Ver-
wandtschaft seines Styls mit dem Styl der bildenden Kunst. XV.
Seit«
43
Verwandtschaft aller Künste unter einander. — Doppeltes Verhältnifs jedes Künstlers zur Kunst überhaupt und zu seiner besondren
XVI.
46
Mittel, wodurch unser Dichter diese, der bildenden Kunst nahe kommende, Objectivität erlangt
XVII.
49
Erläuterung des Gesagten an der Schilderung der G e -
stalt Dorotheens XVIII.
52
In wie fern macht unser Dichter, bei seiner Verwandt-
schaft mit der bildenden Kunst, die besondren Vorzüge der Dichtkunst geltend ? XIX.
56
E i g e n t ü m l i c h e Natur der Dichtkunst, als einer redenden Kunst
XX.
59
Dritte und letzte Stufe der Objectivität des Gedichts
XXI.
.
62
Zwiefache Gattung beschreibender Gedichte in Rücksicht auf ihre grofsere oder geringere Objectivität — erläutert an Homer und Ariost
XXII.
·.
.
Homer verbindet die einzelnen Theile seiner Dichtun-
gen fester zu einem Ganzen XXIII.
68
Ariost rechnet mehr auf den Elfect, Homer wirkt stärker
durch die reine Form XXIV. XXV.
69
Colorit Homer ist mehr naiv; Ariost mehr sentimental. —
71 Re-
sultat der ganzen Untersuchung XXVI.
74
Einflufs dieser Verschiedenheit beschreibender Gedichte
auf die Wahl der Versart XXVII.
76
Zu welcher jener beiden Gattungen unser Dichter ge-
hört, beweist er durch die Zeichnung seiner Figuren XXVIII.
.
.
XXX.
77
Vergleichung unsers Dichters mit Homer in diesem
Stück. — Beispiel an Glaukiis und Diomedes Waffeiitausch XXIX.
65
Schilderung Herrmanns und Dorotheens
78 81
Erste Einführung Dorotheens durch Herrmanns Erzäh-
lung von ihr
82
XXXI. Schilderung der Jungfrau in ihrer Wirkung.auf H e r m a n n . XXXII.
Seite 84
Die Wirkung des Mädcherts auf den Jüngling ist nicht
in einer unbestimmten GrÖfse, sondern in dem bestimmten Begriff der vollkommnen Angemessenheit beider Naturen gezeichnet
87
XXXIII.
Dorotheens eignes Erscheinen
91
XXXIV.
Erzählung des heroischen Muths 1er Jungfrau. — Ob
der Dichter gut that, gerade diesen Zug aus ihrem Leben herauszuheben? XXXV.
92
Dorotheens Zusammenkunft mit Herrmann; — erst am
Brunnen, dann auf dem Wege zu seinem Eltern . . . . XXXVI.
95
Eintritt der beiden Liebenden in das Zimmer der El-
tern. — dichts. — XXXVII.
Dorotheens Benehmen bis zum Schluls des Ge99
Anruf der Muse
Kurze Vergleichung dieser Schilderung mit dein im
Vorigen Gesagten. —
Heine Objectivität derselben — so
wie des ganzen Gedichts XXXVIII.
Schlichte .Einfalt und
100 natürliche
Wahrheit
unsres
Gedichts
102
XXXIX. .Die Verbindung reiner Objectivität mit einfacher Wahrheit macht dies Gedicht den Werken der Alten ähnlich XL.
.
107
Verschiedenheit unsres Gedichts von den Alten. — M a n gel an sinnlichem Reichthum
XLI.
109
Dieser Mangel an sinnlichem Reichthum zeigt sich auffallend in der Behandlung des Wunderbaren
XLII.
(14
Der Unterschied dieses Gedichts von den Werken der
Alten offenbart sich aber auch in einem ihm e i g e n t ü m lichen Vorzug
117
XL1II.
Erläuterung des Vorigen durch einige Beispiele
XLIV.
Reicher Gehalt dieses Gedichts für den Geist und die
.
Empfindung. — E i g e n t ü m l i c h e Behandlung desselben . XLV.
. .
119 125
Eigentümlichkeit unsres Gedichts in der Verbindung
dieses wahrhaft modernen Gehalts mit jener echt antiken Form . XLVI.
(32
Vaterländischer Charakter unsres Dichters in seiner Ver-
gleichung m i t den alten und den neueren Dichtei n andrer Nationen gezeigt
135
VI Seite XLVII.
Einilufs der geschilderten Kigentlüimliclikeit des G e -
dichts auf die Totalwirknng desselben XLVIII. XLIX.
Resultate. — Allgemeiner Charakter
138 unsres Dichters.
139
Rechtfertigung des bei der Zeichnung dieses Charak-
ters gewählten Ganges L.
141
Flüchtiger Blick auf das Verhältnis des Charakters unsere Dichters überhaupt zu (jem besondren dieses Gedichts .
LI.
.
143
Zwiefache Beurthcilung eines Kunstwerks
LH.
Epische Dichtung. —
145
Unbestimmtheit des gewöhnlichen
Begriifs derselben
146
LI1I.
Methode der Ableitung der verschiednen Dichtungsarten.
L1Y.
Allgemeiner Charakter der Epopee. — Aus welcher Stimmung der Seele das Bedürfnifs zur epischen
148
Dichtkunst
herüielst ? LV.
149
Zustand allgemeiner Beschauung entgegengesetzt dem Zustande einer bestimmten Empfindung
LVI.
150
Besondre Schilderung jenes allgemein beschauenden Zustandes
LtVII.
152
Verbindung des Zustandes allgemeiner Bescliauung mit
der Thätigkeit der dichterischen Einbildungskraft. — Entstehung des epischen Gedichts LVI1I.
154
Eigenschaften des Zustandes allgemeiner Beschauung
L1X.
157
Eigenschaften der dichterischen Einbildungskraft in B e ziehung auf jenen Zustand
LX.
159
In der Verbindung des Zustandes allgemeiner Beschauung und der dichterischen Einbildungskraft
treten der Form
nach gleichartige Eigenschaften mit einander in Wechselwirkung. —
Ei η Hufs, welchen dies auf die epische Stim-
mung ausübt LXT.
162
Weitere Schilderung einer rein epischen Stimmung
LX1I.
.
.
Definition der Epopee
164 167
XL1H.
Unterschied zwischen der Epopee und der Tragödie
XLIV.
Die Tragödie erregt eine bestimmte Empfindung, und
.
169
ist daher lyrisch LXV.
Worin beide Dichtungsarten mit einander übereinkom-
men? und worin sie von einander abweichen?
. . . .
176
VII
LXVI.
Warum die Werke der Alten vorzugsweise eine so gröfse
Rulle hervorbringen"? LXVI1.
Seite 179
tJflterschied zwischen der Epopee und der Idylle. —
Charakter der letzteren in Rücksicht auf die Stimmung, aus der sie herfliefst XLV1II.
179
Charakter der Idylle in Rücksicht auf den Gegenstand,
den sie schildert LXIX.
182
Unterschied zwischen der Epopee und andern erzählen-
den, aber nicht epischen Gedichten LXX.
185
Diese Gattung beschreibender Gedichte hat einen be-
schränkteren Zweck, als die Epopee, und steht ihr in dichterischer Vollendung nach LXXI.
188
Einwurf gegen die Anwendung des Begriffs der Epopee
auf das gegenwärtige Gedicht LXX1I.
Beantwortung
191
dieses Einwiirfs. —
Begriff des He-
roischen LXXIII.
193
Gewöhnlicher Begriff der grofsen Epopee. —
Seiner
Unbestimmtheit ungeachtet liegt ihm Wahrheit zum Grunde. LXXIV.
Beweis des Gesagten durch ein Beispiel aus der Iliade.
LXXV.
Jener unbestimmte Begriif der Epopee wird bestimmt,
sobald man ihn auf den des Heroischen zurückführt LXXVI.
.
.
198
Ankündigung des Gegenstandes und Anruf der Muse
in der Epopee LXXVII.
199
Zwiefache Gattung der Epopee
LXXVIII.
Eigenthümliche
Gröfse
des Gegenstandes
201 unsres
Gedichts LXXIX. LXXX.
194 196
206
Haliptthema des Gedichts Gröfse in den
208
darin aufgeführten Charakteren und
Begebenheiten
210
L X X X I . Resultat des Ganzen. — Eigentlicher Stoff des Gedichts. LXXXII.
Gesetze der Epopee. —
lichkeit LXXXIII. LXXXIV. LXXXV.
214
Gesetz der höchsten Sinn216
Gesetz durchgängiger Stetigkeit Gesetz der Einheit Gesetz des Gleichgewichts
218 220 222
LXXXVI.
Gesetz der Totalität
224
LXXXVII.
Gesetz pragmatischer Wahrheit
225
vnr LXXXVIN. LXXXIX. XC.
Plan des Geilichts. — Gang der Handlung ,
.
.
Echt dichterische Erfindung des Ganzen
. . . .
233
Augenblick, in welchem die Handlung anhebt
. . . .
234
XCl.
Entscheidende Umstände,
durch welche die Handlung
ihre Hauptwendungen erhält XCII.
236
Benutzung des Orts und der Zeit
XCIII.
241
Stetigkeit in den nach einander erregten Empfindungen.
— Ausnahme davon. —
Mittel des Apothekers gegen die
Ungeduld XCIV.
244
Charaktere des Gedichts. —
der dieselben gehören. —
Allgemein^ Gattung, zu
Ihre Aehnlichkeit mit den Ho-
merischen tCV.
247
Verhältnis der Cultur und einer cultivirten Zeit zu dein
epischen Gebrauch iCVI.
250
Möglichkeit der heroischen Epopee in unsrer Zeit .
CCVII. XVIII.
Darstellung einfacher Weiblichkeit in Dorotheen
.
.
253
.
255
Idealität in der C h a r a k t e r - S c h i l d e r u n g . — Verhältnifs
der Charaktere zu einander LC1X.
257
Diction
259
Einfachheit der Diction "I.
261
Periodenbau
II.
264
Versbau und Rhythmus
III.
265
Uebereinstimmung des besondren Charakters
des
Ge-
dichts mit dem allgemeinen der Gattung, zu der es gehört IV.
Seite 22ft
Schlufs
ieber
den
267 268
Geschlechtsunterschied
und
dessen
Einflufs auf die organische Natur (Schiller's Hören.
Erster Band.
270—301
Tübingen 1795. 8.
Stück 2. S. 9 9 - 1 3 2 . )
ieber vier Aegyplische, löwenköpfige Bildsäulen in den hiesigen Königlichen Antikensammlungen 302—333 (Abhandlungen der historisch - philologischen Klasse der Königlichen Akademie Berlin, 1825.
der Wissenschaften zu
Berlin 1S26. 4. S. 145 — 168.)
Hiezn die Kupfertafel.
IX
Sonette.
(Handschriftlich.)
Seite 334-390
1.
Die steinernen Zeugen
334
2.
Der Schatten
335
3. 4. Irdischer Zwiespalt. I. II 5. Das Unwiederbringliche β.
Das fremde Land
7. Kalter Trost 8. Die Gesinnung 9. Der Ritter
336. 337 338 339 340 341 342
10. Die Treue 11. Wesen der Schönheit 12. Der Komet
343 344 345
13.
Die Falkenberge
346
14.
Die Brahmin und das Sudra-Weib
347
15. Hulda 1β. Ate
348 349
17.
Leben im Lebenlosen
350
18.
Klarheit und T i e f e
351
19. 20. 21. 22.
Die Eiche Vereinigung Der Schauspieler Blinder Gehorsam
352 353 354 355
23. Durga 24. Das Gold 25. Freiheit und Gesetz
356 357 358
26.
Die Wehinuth
359
27. 28.
Opfer der Tyrannei Juno Ludovisi
360 361
29. Paros 30. Die Jungfrau Israels 31. Die Schauspielerin
362 363 364
32. 33.
Der Schmerz Molly
365 366
34. 35. 36. 37.
Die Nonne Die Doppelwesen Ein alter Freund Pflichterfüllung
367 368 369 370
χ
38.
Seite 371
Entschuldigung;
39.
Die sieben Risciiis
372
40.
Die Wolken
373
41.
Wasser und Feuer
374
42.
Die Säule
375
43.
Der Osten
376
44.
Eilen und Verweilen
377
45.
Die Legirung
378
46.
Heilsame Zucht
379
47.
Die Amazonen
380
48.
Macht und Ohnmacht
381
49.
Die Elemente
382
50.
Die Zeit
383
51.
Die Baguette
384
52.
Die Natur
385
53.
Der Tod
54.
Des Alters Gewinn.
57.
Irdisches Treiben
38Ö I — III
387—389 390
Uebeν
(»tftlie's H e r r m a n n u n d
P a r i s , im A p r i l
Horoflien.
17HS.
Einleitung. Nichts vollendet so sehr den absoluten Werth eines Gedichts, als wenn es, neben seinen übrigen eigenthömlichen Vorzügen, zugleich den sichtbaren Ausdruck seiner Gattung und das lebendige Gepräge seines Urhebers an sich trägt.
Denn wie grofs auch die
einzelnen Schönheiten seyn mögen, durch welche ein Kunstwerk zu glänzen im Stande ist, wie regellos die Bahnen, welche selbst das echte Genie manchmal verfolgt; so bleibt es doch immer gewifs, dafs dasselbe da, wo es in seiner vollen Kraft thätig ist, auch immer In einer reinen und entschiedenen Individualität auftritt, und sich eben so wieder in einer reinen und bestimmten Form ausprägt.
Wenn daher andere Pro-
ducte der Kunst nur eine einseitige Bewunderung oder eine flüchtig aufbrausende Begeisterung hervorbringen; so sind es allein die, welche jenen Grad der Vollkommenheit besitzen, in welchen der Leser seine volle
2 und dauernde Befriedigung- findet ^ und aus denen er wieder die Stimmung zu schöpfen vermag, die ihnen selbst das Daseyn gab.
Vorzüglich aber sind sie ein
dankbarer Gegenstand für die ästhetische Beurtheilung. Denn sie erheben zugleich mit sich auch ihren Beurtheiler empor, und führen von selbst eine Art der Kritik herbei, die in dem einzelnen Beispiel zugleich die Gattung, in dem Werke zugleich den
Künstler
schildert. Eine solche Beurtheilung schien mir
Göthens
H e r r m a n n und D o r o t h e a vorzugsweise z u v e r d i e nen.
Denn in dem eigentümlichen Geiste, der diese
Dichtung beseelt, glaubte ich in vorzüglich sichtbarer Stärke die doppelte Verwandtschaft zu erkennen, in welcher derselbe auf der einen Seite mit der allgemeinen Dichter- und Künstlernatur überhaupt, auf der andern mit der besondern Eigentümlichkeit ihres V e r fassers steht.
Die poetische Gattung und die epische
Art erscheint nur selten so rein und so vollständig, als in der meisterhaften Composition dieses Ganzen, der dichterischen Wahrheit dieser Gestalten, dem stetigen Fortschreiten dieser Erzählung; und wenn G ö t h e ' s Eigentümlichkeit
in einzelnen ihrer Vorzüge
stärker und leuchtender aus andern seiner Werke h e r vorstralt., so findet man in keinem, so wie in diesem, alle diese einzelnen Straten in Einem Brennpunkt v e r sammelt. Die kritische Zergliederung dieses Werks zu übernehmen, hiefs in einem noch eigentlicheren Verstände,
3 als es dite ästhetische Beurtlieilung immer thun niufs, in das Wesen der dichterischen Einbildungskraft
ein-
zudringen; und so trieb mich die Begierde, dieser g e heimnifsvollsten unter allen menschlichen Kräften mit Begriffen näher zu kommen, nicht weniger, als die Liebe zu diesem Gedicht, den Versuch zu wagen, aus dem diese Schrift entstand. Diesem
Gesichtspunkte,
von
dem ich
ausging,
habe ich mich bemüht, in der Ausführung getreu zu bleiben.
Ich habe die Betrachtung
des Gedichts so
wenig als möglich von der Betrachtung des Dichters getrennt, und dasselbe, so viel ich immer konnte, nur als den lebendig dargestellten Gedanken einer individuellen dichterischen Einbildungskraft beurtheilt.
Denn
die Natur eben dieser Einbildungskraft zu studieren, war mein hauptsächlichster Endzweck. Dies bitte ich den Leser nicht aus den Augen zu verlieren, wenn er vielleicht finden sollte, dafs ich mich bisweilen zu sehr von meinem Gegenstände entferne, zu hoch zu allgemeinen Grundsätzen
erhebe,
oder zu weit auf andre Dichtungsarten und Dichternaturen verbreite.
Beides war auf dem W e g e ,
ich einmal nahm, unvermeidlich.
den
Denn um zu zeigen,
dafs dies Gedicht die allgemeine Natur der Poesie und der Kunst reiner, als nicht leicht ein andres, sich zum besondern Charakter aneignet, .mufste ich nothwendig, das Wesen der Kunst in ihren ersten Gründen aufsuchend, bis auf die höchsten Principien der Elemen1*
4 tar-Aesthetik zurückgehn; und um demselben, so wie dem Dichter selbst, die ihnen gebührende Stelle u n ter den übrigen Kunstwerken und Künstlern anzuweisen, eben so nothwendig die verschiedenen Nebenarten aufführen, welche dieselbe Gattung mit ihnen befafst. Ich wählte aber diese Methode, immer zugleich bei meinem Gegenstande etwas Allgemeineres,
die
Poesie und die Dichternalur überhaupt, im Auge zu haben, nicht ohne Absicht.
Jede philosophische Beur-
teilung kann auf einen zwiefachen Endzweck hinarbeiten, mehr auf die objective Beschaffenheit des Werks, das sie zu würdigen versucht, oder mehr auf den Geist Rücksicht nehmen, der nothwendig war, es h e r vorzubringen.
In dem ersteren Fall befördert sie die
Gesetzmäfsigkeit unsrer Thätigkeit; in dem letzteren bildet sie die ihr günstige Stimmung unsres Gemüths. In dem Gemüthe des Menschen aber sind die Anlagen zu jeder Art der Kraftäufserung mit einander verwandt, und jede einzelne entwickelt sich freier und vollkominner, wenn sie durch die verhältnifsmäfsige Ausbildung der übrigen unterstützt wird.
Von wel-
chem Gegenstande man daher immer reden mag, so kann man ihn auf den Menschen, und zwar auf das Ganze seiner intellectuellen und moralischen Organisation beziehen.
Bei .jeder eigentümlichen
Philoso-
phie, jedem weitumfassenden System der Naturforschung, jeder grofsen politischen Einrichtung kann man untersuchen, was dadurch der philosophische, nalur-
5 historische, politische Geist allein und in ihre* Verbindung gewonnen haben.
Mtin kann an diese Un-
tersuchung die noch allgemeinere anknüpfen, um wie viel dadurch der menschliche Geist
Oberhaupt dem
letzten Ziele seines Strebens näher gerückt ist, dem Ziele nemlich: die ganze Masse des Stoffs, welchen ihm die Welt um ihn her und sein inneres Selbst darbietet, mit allen Werkzeugen seiner Empfänglichkeit in sich aufzunehmen, und mit allen Kräften seiner Selbstthätigkeit umzugestalten und sich anzueignen, und dadurch sein Ich mit der Natur in die allgemeinste, regste
und
bringen.
übereinstimmendste
Wechselwirkung
zu
Man mufs sogar immer beides, sobald man
einen hohen praktischen Endzweck verfolgt, und man darf es wenigstens nie ganz vernachlässigen, wenn man von der Kunst spricht, die aus dem Innersten des menschlichen Gemüths selbst entspringt, und von einem Kunstwerke, das mit dem Gepräge einer grofsen E i genthümlichkeit gestempelt ist. Erwählt man nun diesen höheren Standpunkt, so bezieht man seinen einzelnen Gegenstand auf einen allgemeinen, aufser demselben liegenden Mittelpunkt, und arbeitet an einem mehr oder minder beträchtlichen Theil eines weilen und erhabenen Gebäudes.
Dieser
Mittelpunkt ist nemlich: die B i l d u n g d e s Mensch.en; dies Gebäude: die C h a r a k t e r i s t i k d e s m e n s c h l i chen und
Gemüths in
den
in s e i n e n wirklichen
möglichen
Anlagen
Verschiedenheiten,
w e l c h e d i e E r f a h r u n g a u f z e i g t . Maft besitzt nun-
6 mehr in der Summe der Vorzüge des Geistes und der Gesinnung, welche die Menschheit bisher dargethan hat, eine idealische, aber bestimmbare Gröfse, nach welcher sich der Einzelne beurtheilen läfst; man sieht ein Ziel, dem man nachstreben kann; man kennt einen Weg, auf dem es möglich ist, im höchsten Verstände des Worts E n t d e c k e r zu seyn, indem man d u r c h die T h a t als Dichter, Denker, oder Forscher, aber vor allem als handelnder Mensch, jener Summe etwas Neues hinzufügt, und damit die Grenzen der Menschheit selbst weiter rückt. Man gewinnt eine Idee, welche durch Begeisterung zugleich Kraft mittheilt, da das Gesetz die Schritte nur leitet, nicht anch beflügelt, und den Muth mehr daniederschlägt, als erhebt. Es giebt keine freie und kraftvolle Aeufserung unsrer Fähigkeiten ohne eine sorgfältige Bewahrung unsrer ursprünglichen Naturanlagen; keine Energie ohne Individualität. Deswegen ist es so nothwendig, dafs eine Charakteristik, wie die eben geschilderte, dem menschlichen Geiste- die Möglichkeit vorzeichne, mannigfaltige Bahnen zu verfolgen, ohne sich darum von dem einfachen Ziel allgemeiner Vollkommenheit zu entfernen, sondern demselben vielmehr von verschiedenen Seiten entgegen zu eilen. Nur auf eine philosophisch empirische Menschenkenntnifs läfst sich die Hoffnung gründen, mit der Zeit auch eine philosophische Theorie der Menschenbildnng zu erhalten. Und doch ist diese letztere nicht blofs als allgemeine Grundlage zu ihren einzelnen Anwendungen, der Erziehung und Ge-
7 setzgebung, (die selbst erst von ihr durchgängigen Zu~ sammenhang in ihren Principien erwarten dürfen) sondern auch als ein sicherer Leitfaden bei der freien Selbstbildung jedes Einzelnen ein allgemeines und besonders in unserer Zeit dringendes Bedürfnifs. Je gröfser die Anzahl der Richtungen ist, welche ihm offen liegen, je reichhaltiger der Stoff, welchen unsre Cultur ihm darbietet, desto mehr fühlt sich auch der bessere Kopf verlegen, unter dieser Mannigfaltigkeit eine verständige Wahl zu treffen, und auch nur Mehreres davon mit einander zu verbinden. Ohne diese Verbindung aber geht die Cultur selbst verloren. Denn wenn die Cultur des Menschen die Kunst ist, sejn Gemüth durch Nahrung fruchtbar zu machen, so mufs er dazu seine Organe so harnionisch stimmen, und eine solche äufsre Lage wählen, dafs er so Vieles, als mög-r lieh, sich aneignen kann, da ohne Aneignung kein Nahrungsstoff weder in das Gemüth, noch in den Körper übergeht. Eine solche C h a r a k t e r i s t i k des M e n s c h e n durfte ich zwar nie zu einer eigentlichen Wissenschaft erheben, ob sie gleich mehr bestimmt wäre, philosophisch und zum Behuf höherer Ausbildung zu entwickeln, was der Mensch überhaupt zu leisten vermag, als historisch zu zeigen, was er bisher wirklich geleistet hat; aber sie würde dennoch nicht minder verdienen, als eine eigne, philosophisch geordnete Erfahrungstheorie von der Masse der übrigen philosophischen Kenntnisse abgesondert zu werden. In wie ferne sie
8 hierauf Ansprüche machen, und selbst eines eignen Namens bedürfen möchte, da sie sich auch in ihrem allgemeinen Theile von der Psychologie und Anthropologie wesentlich unterscheiden würde, ist hier nifcht der Ort, auseinanderzusetzen.
Ich glaubte ihrer nur
überhaupt erwähnen zu müssen, um für die B e u r t e i lung dieser Blätter den entfernteren Zweck bestimmter anzudeuten, den ich bei Ausarbeitung derselben nie aus den Augen verlor. Der Rückblick auf diesen entfernteren Zweck aber hat mich genöthigt, einen Gang zu wählen, der, wie ich fürchte, vielen zu lang und zu beschwerlich scheinen wird.
Mein Raisonnement ist nemlich für die I n -
dividualität meines Gegenstandes vielleicht zu allgemein, für seine Anschaulichkeit zu philosophisch geworden. Wenn ich mir auch schmeicheln könnte, den Aesthetiker einiger Mafsen befriedigt zu haben, so darf ich nicht auch hoffen, dem Dichter unmittelbar bei seinem Geschäft nützlich zu werden.
Die philosophische Höhe,
zu der ich mich von meinem Standpunkte aus n o t wendig erheben mufste, ist dem ausübenden Künstler weder bequem noch fruchtbar; er braucht mehr specielle und empirische Regeln.
Wenn diese dem Phi-
losophen zu eng und individuell sind, so erscheint ihm dagegen dasjenige, was für diesen gehörigen Gehalt und Tauglichkeit zum allgemeinen Gesetz hat, immer hohl und leer.
So stehen beide in einem n o t w e n d i -
gen und unvermeidlichen Widerstreit mit einander. Aber die Philosophie der Kunst ist auch nicht
9 hauptsächlich für den Künstler, und wenigstens nie für den Augenblick der Hervorbringung bestimmt.
Es ist
ein Vorzug und ein Unglück der Philosophie überhaupt immer nur den Menschen, nie die Ausübung zum unmittelbaren Endzweck zu haben.
Der Künst-
ler kann ohne sie Künstler, der Staatsmann ohne sie Staatsmann, der Tugendhafte ohne sie tugendhaft seyn; aber der Mensch bedarf ihrer, um, was er von ihnen empfängt, zu geniefsen und zu benutzen, um sich selbst und die Natur zu kennen und diese Kenntnifs fruchtbar zu machen ; und jene sogar können ihrer nicht entbehren, wenn sie sich selbst verständlich werden und mit ihrer Vernunft dem Fluge ihres Genies oder der Tiefe und Richtigkeit ihres praktischen Sinns gleichkommen wollen.
Eben so ist auch die Aesthelik un-
mittelbar nur für denjenigen bestimmt, welcher durch die Werke der Kunst seinen Geschmack, und durch einen freien und geläuterten Geschmack seinen Charakter zu bilden wünscht; der Künstler selbst kann sie nur gebrauchen, sich überhaupt zu stimmen, sich, wenn er sich eine Zeit hindurch seinem Genie überlassen hat, wieder zu orientiren, den Punkt zu bestimmen, auf dem er steht, und wohin er gelangen sollte.
Ueber
den W e g aber, der ihn zu diesem Ziele führt, kann ihm nicht mehr sie, sondern allein seine eigne und fremde Erfahrung Rath ertheilen. Zwar wird ihm auch diese immer nur einzelne Bruchstücke zu liefern im Stande seyn,
abgerissene
Regeln, denen es nicht blofs an Vollständigkeit, son-
10 dem auch an Allgemeingültigkeit fehlt. Dessenungeachtet wäre es nicht minder wichtig, dieselben zu sammeln und zu ordnen, und jeder, welchem sein Talent die Bahn der Kunst mit entschiedenem Erfolge zu w a n deln erlaubt, sollte sorgfältig aufzeichnen, was er auf derselben an sich selbst bewährt gefunden hat.
Es
würde dadurch nicht blofs der Kunst, sondern auch der Philosophie ein wesentlicher Dienst geleistet.
Denn der
Aesthetiker benutzt diese poetischen Geständnisse eben so, als der Psycholog die moralischen, und freut sich, die Künstlernatur, die er sonst nur mit Mühe aus ihren Werken ahndet, nun durch unmittelbare Anschauung zu erkennen.
Dies ist es, was D i d e r o t s ästhetischen
Aufsätzen einen so grofsen Werth giebt, der Reichthum von Bemerkungen und Erfahrungen, der ζ. B. seine V e r s u c h e ü b e r d i e M a l e r e i und seine A b h a n d l u n g ü b e r d i e d r a m a t i s c h e P o e s i e so fruchtbar für den Künstler und Theoretiker macht. Der Abstand, welcher sich zwischen dem allgemeinen Gesetz und dem individuellen Kunstwerk b e findet, hindert oft, dafs das letztere sogleich vollkommen als der einzelne Fall erscheine, in welchem das erstere dargestellt ist.
Sehr leicht könnte sich daher
der Leser in der Folge dieser Versuche zu der B e schuldigung veranlafst finden, dafs ich den Charakter des beurtheilten Gedichts nicht treu genug vor Augen gehabt, und meine Behauptungen nicht durch vollkommen passende Beispiele gerechtfertigt hätte.
Ehe er
indefs ein solches Verdammungsurtheil ausspricht, mufs
11 ich ihn bitten, sich mit dem Geiste des Ganzen recht vertraut zu machen, und diesen auch bei einzelnen Stellen nie aus dem Gesicht zu verlieren.
Denn auch
mir hat immer der Totaleindruck vorgeschwebt, und ich kenne in ästhetischen Beurtheilungen keine andre Absonderungs-Methode, als diejenige, welche die einzelne Eigenschaft, auch zu einem augenblicklichen G e brauche getrennt, noch immer durch das Ganze, mit dem sie verbunden ist, modificirt betrachtet. Bei der Bestimmung der Dichtungsart, zu welcher H e r r m a n n u n d D o r o t h e a gehört, habe ich nöthig gefunden, eine eigne, von dem gewöhnlichen Begriff der Epopee abweichende Gattung derselben festzusetzen. Ich fürchte hiebei nicht den Vorwurf, zum Behuf eines einzelnen Gedichts ohne Noth eine neue Gattung geschaffen zu haben.
Wer die Theorie der Kunst bear-
beitet, befindet sich in dem gleichen Fall mit dem Naturforscher.
Was diesem die Natur ist, das ist jenem
das Kunstgenie.
Wofern er nur gewifs ist, dafs die-
ses und zwar in seiner vollen und reinen Kraft g e wirkt hat, (denn hierüber mufs er einen freien und eigenmächtigen Richterspruch fällen) so bleibt ihm nichts übrig, als die Geburten desselben gerade für das zu nehmen, wofür sie sich ankündigen, sie einfach zu b e schreiben, und sein System, wenn sie sich seiner Classification widersetzen, nach ihrem Bedürfnifs zu e r weitern. Die Entwicklung philosophischer Theorieen an einzelnen zum Grunde gelegten Beispielen führt gewöhn-
lieh mehr als Einen Nachtheil mit sich. Entwedef leidet dadurch die Allgemeinheit der Theorie, oder es wird auch in dem einzelnen Fall, von dem man ausgeht, mehr hineingelegt, als sich sonst natürlich darin gefunden hätte.
So wie ich in dieser Einleitung den
Zweck auseinandergesetzt habe, auf den ich hinarbeitete, glaube ich keinen dieser beiden Vorwürfe mehr befürchten zu dürfen.
Bei der Methode, die ich wählte,
mufste sich zwar das gesammte Feld der Kunstphilosophie meinem Blicke zeigen, aber ich durfte mich nie von dem Standpunkte entfernen, auf den ich mich g e stellt hatte. Wenn die erstere Betrachtung mir die Bahn, die ich zu durchlaufen hatte, eröffnete, so mufste die letztere sie zu begränzen dienen.
Dies bitte ich den
Leser besonders da nicht zu vergessen, wo ich über andre Dichtungsarten und Dichternaturen, wie ζ. B. über d i e T r a g ö d i e und über A r i o s t rede.
Denn da ich
ihrer immer nui in Beziehung auf meinen eigentlichen Gegenstand erwähne, so könnte mein Raisonnement in diesen Stellen, ohne diese Erinnerung, leicht schief und einseitig erscheinen.
Freilich aber gestehe ich gern,
dafs ein tieferes Eindringen in die Grundprincipien einer allgemeingülligen Philosophie der Kunst überhaupt mir bald zu reizend schien, um dasselbe als einen blofs untergeordneten Zweck meiner Arbeit zu betrachten, und dafs meine Bemühung vielmehr wesentlich darauf hinging, den gesammten Vorrath meiner Ideen über diesen Gegenstand zu einem, "auch von jeder fremden
13 Beziehung unabhängigen und so viel möglich in sich selbst vollendeten Ganzen systematisch zu ordnen. Sollte übrigens der geschmackvolle Kunstrichter die Resultate dieser Untersuchungen mit minderer Ausführlichkeit und mit einer gedrängteren Kürze dargestellt wünschen; so fühle ich vielleicht lebhafter, als irgend einer meiner Leser, die Billigkeit dieser F o r derung, in so fern sie den Styl und den Vortrag ausschliefsend betrifft. licums hingegen
Für einen grofsen Theil des P u b -
glaub' ich
meinen
philosophischen
Raisonnements sowohl mehr Klarheit, als mehr überzeugende Kraft dadurch ertheilt zu haben, dafs ich sie unmittelbar an die Zergliederung eines vollendeten Kunstwerks angeschlossen; und ich habe der Versuchung nicht widerstehen können, manche sonst nicht unwichtige Rücksichten dem höheren Interesse aufzuopfern, welches ein so allgemein beliebtes Meisterstück jedem nicht ganz mifslungenen Versuch seine Schönheiten zu entwickeln, unstreitig zu erlheilen vermag.
I. Wirkung des Gedichts im Ganzen. —
Es läist einen rein dichterischen
Eindruck in dem Gemüthe zurück.
Die schlichte Einfachheit des geschilderten Gegenstandes und die Gröfse und Tiefe der dadurch hervorgebrachten Wirkung, diese beiden Stücke sind es, welche in G ö t h e ' s H e r r i n a n n u n d D o r o t h e a die Bewunderung des Lesers am sllirksten lind unwillkiihrliehstcn an sich reifsen.
14 Was sich am meisten entgegensteht, was nur dem Genie des Künstlers, und auch diesem allein in seinen glücklich* sten Stimmungen zu verknüpfen gelingt, finden wir auf einmal vor unsrer Seele gegenwärtig — Gestalten, so und i n d i v i d u e l l ,
wahr
als nur die Natur und die lebendige
Gegenwart sie zu geben, und zugleich so r e i n und i d e a l i s c h , als die Wirklichkeit sie niemals darzustellen vermag. In der blofsen Schilderung einer einfachen Handlung erkennen wir das treue und vollständige Bild der Welt und der Menschheit. Der Dichter erzählt die Verbindung eines Sohns aus einer wohlhabenden Bürgerfamilie mit einer Ausgewanderten ; er thut nichts, als die einzelnen Momente dieser Handlung, die einzelnen Theile dieses Stoffs aus einander legen, die Reihe der Umstände entwickeln, wie sie natürlich und nothwendig aus einander entspringen; er ist nie mit etwas andrem, als mit seinem Gegenstände beschäftigt; alle Hindernisse, durch die er den Knoten der Handlung schürzt, alle Mittel, durch die er ihn wieder löst, sind allein aus diesem und aus den Charakteren der handelnden Personen genommen; alles, wodurch er die Theilnahme des Lesers gewinnt, ist allein in diesem Kreise enthalten, und nie tritt er in seiner eignen Individualität hervor, nie schweift er in eine eigne Betrachtung,
oder eine eigne Empfindung aus.
Und auf welchen Standpunkt versetzt!
sieht sich dadurch der Leser
Das Leben in seinen gröfsesten und wichtigsten
Verhältnissen und der Mensch in allen bedeutenden Momenten seines Daseyns stehen auf einmal vor ihm da, und er durchschaut sie mit lebendiger Klarheit. W a s seinem Herzen das Wichtigste ist, sein Nachdenken und seine Beobachtung am anhaltendsten beschäftigt, sieht er mit wenigen, aber meisterhaften Zügen in überraschender Wahrheit geschildert —
den Wechsel
der Alter
15 und Zeiten, die forliichreitende Umänderung in, Sitten und Denkungsart, die Ilauptstufen menschlicher C'ultur, und vor allem das Verhältiiifs hauslicher Bürgerlugend und stillen Familienglücks zu dem Schicksal von Nationen und dem Strome aufscrordentlicher Ereignisse. Begebenheiten
einer einzelnen Familie
Indem er nur den zuzuhören glaubt,
fühlt er seinen Geist in ernste und allgemeine Betrachtungen versenkt,
sein Herz zu wehmuthsvoller Rührung hin-
gerissen, sein ganzes Gemüth hingegen zulelzt wieder durch einfache, aber gediegene Weisheit beruhigt. Denn die wichtige Frage, die sich im unsrer Zeit überall jedem anfdrängen mufs: wie soll bei dein allgemeinen Wechsel, in welchem Meymmgen, Sitten, Verfassungen und Nationen fortgerissen werden, der Einzelne sich verhalten? findet er nicht allein in den mannigfaltigsten Gestalten aufgeworfen, sondern auch so beantwortet, dafs die Antwort ihm mit der Belehrung zugleich Kraft zum Handeln und Muth zum Ausharren in die Seele haucht. Aus der Mitte aller Verhältnisse seiner Zeit und seines Vaterlandes, sieht er sich in eine Welt versetzt, in die er sonst nur, von der Erinnerung an die einfachsten und frühesten Menschenaller erfüllt, an der Hand der Alten einzugehen pflegt.
Denn indem ihn der Dichter bei der gan-
zen Individualität seines Wesens ergreift, führt er ihn zu den reinen und ursprünglichen Naturforinen zurück; indem er in der Wirklichkeit alles vertilgt,
und
was sie zur
blofsen Wirklichkeit und untauglich zum Gebrauch für die Phantasie macht, benutzt er noch bis auf den kleinsten Zug. ihre Individualität. S o rein dichterisch l>at er seinen Stoff erfunden und ausgeführt.
16 II. Hauptbestandteile aller dichterischen Wirkung. —
Plan dieser Beur-
t e i l u n g im Allgemeinen.
Nichts ist ei» so zuverlässiger Beweis des echt
'lich-
terischen Charakters, als die Verbindung des Einfachsten und des Höchsten, des durchaus Individuellen und vollkommen Idealischen (dieser beiden Hauptbestandteile aller künstlerischen Wirkung) in derselben Schilderung und derselben Gestalt. Denn durch einzelne Bilder der Phantasie den Geist auf einen hohen und weitumschauenden Standpunkt zu führen, ist die schöne Bestimmung des Dichters, vermittelst durchgängiger Begrenzung seines
StoiTs eine unbegrenzte
und unendliche Wirkung hervorzubringen, durch ein Individuum einer Idee Genüge zu leisten, und von Einem Punkt aus eine ganze Welt von Erscheinungen zu eröffnet. Zwar kann es leicht scheinen, als sey das Geschäft, das ihm dadurch aufgelegt wird, nur die übertriebene F o r derung eines undichterischen Zeilalters, das, indem es überall nach philosophischen Begriffen hascht, auch überall nur Ideen sucht, und das blofse und leichte Spiel der Sinne und der Einbildungskraft verschmähl.
Man darf ab6r nur seine
nächste und eigentlichste Bestimmung genau untersuchen, und man wird unläugbar finden, dafs, indem er dieser vollkommen zu genügen strebt, er sich zugleich auf dem W e g e befindet, jenes zu erreichen, sich zu Idealen zu erheben und eine gewisse Totalität zu erlangen. Dies liegt uns jetzt zu zeigen ob.
Denn
wenn das
Gedicht, das wir zu beurlheilen im Begriff sind, wirklich einen so rein dichterischen Eindruck zurücklägt, als wir so eben beschrieben haben, so wird uns nichts so sicher, als die Erörterung des Wesens der Dichtkunst selbst, bei d e r
17 S c h i l d e r u n g s e i n e s . i i i g e m e i n e n C h a r n k l e r s leiten; und diese Schilderung macht den ersten und hauptsächlichsten Theil uns res Geschäfts aus. Haben wir diesen vollendet, so bleibt uns dann nur noch übrig, d i e A r b e i t d e s D i c h t e r e m i t d e n bes o n d r e n R e g e l n d e r G a t t u n g zu v e r g l e i c h e n * zu der sie gehört. Denn nur , indem wir diese doppelte ßeurlheilung mit einander verbinden, können wir gewifs seyn, weder der Originalität des Dichters, noch den gerechten Ansprüchen der Theorie der Kunst zu nahe za treten.
III. Einfachster Begriff der Kunst.
Das Feld, das der Dichter als sein Eigenthum bearbeitet, ist das Gebiet der Einbildungskraft; nur dadurch, dafs er diese beschäftigt, und nur in so fern, als er dies stark und ausschliefsend thut, verdient er Dichter zu heifsen. Die Natur, die sonst nur eine« Gegenstand für die sinnliche Anschauung abgiebt, mufs er in einen Stoff für die Phan* taeie umschaffen. D a s W i r k l i c h e in e i n B i l d zu v e r w a n d e l n , ist die allgemeinste Aufgabe aller Kunst, attf die sich jede andre, mehr oder weniger unfniitelbar, zurückbringen liifet Um hierin glücklich zu seyn, hat der Künstler nur Einen Weg einzuschlagen. Er mufs in· unsrer Seele jede Erinnerung an die Wirklichkeit vertilgen, nnd nur die Phantasie allein rege und lebendig erhalten. An seinem Objecle darf er deut Gehalt und selbst der Forin nach nur wenig ändern; wenn man die Natur in seinem Bilde wiedererkennen soll, sa mufs er sie streng und treu nachahmen; eö bleibt ihm ako nicht» übrig, als sich an das Subject zu
18 wenden, auf das er wirken will. Liefse er auch den Gegenstand selbst, bis auf seine kleinsten Flecken, gerade so wie er in der Natur ist, so hätte er denselben nichts desto weniger zu etwas durchaus Verschiedenem gemacht-, denn er hätte ihn in eine andre Sphäre versetzt. In der Wirklichkeit schliefst immer eine Bestimmung jede andere aus; was sie also dem Gegenstände durch ihre Beschaffenheit giebt, das nimmt sie ihm wieder durch ihr ausschiiefsendes Daseyn; vor der Phantasie hingegen fällt diese Beschränkung, die nur aus der Natur der Wirklichkeit herfliefet, von selbst hinweg, da die Seele, von der Phantasie begeistert, sich über die Wirklichkeit erhebt. Diese allgemeinste und einfachste Wirkung aller Kunst beweisen am besten diejenigen Gemähide, die sich begnügen, leblose Naturgegenstände darzustellen. Eine Pflanze, eine Frucht ist gerade so gemahlt, wie sie in der Natur vor uns daliegt, es ist nichts ausgelassen, nichts hinzugesetzt; warum macht sie dennoch einen anderen Eindruck, als der wirkliche Gegenstand? warum ist ein solches Stück in Rücksicht auf den allgemeinen Begriff der Kunst durchaus von demselben Werth in seiner Gattung wie jede andere Vorstellung in der ihrigen? Blofs darum, weil es gerade und rein zur Phantasie des Zuschauers geht, und eben so rein aus der Phantasie des Künstlers entsprungen ist. Bis so weit ist die Kunst mehr beschrieben, als definirt; ihr Wesen mehr empirisch erläutert, als philosophisch entwickelt worden. Eine wahre Definition mufs sich, wenn sie nicht willkiihrlich scheinen soll, auf eine Ableitung aus Begriffen gründen. Eine solche kann für die Kunst nur aus der allgemeinen Natur des Gemüths Statt finden. Wir unterscheiden drei allgemeine Zustände unserer Seele, in denen allen ihre sümmtlichen Kräfte gleich thätig, aber in jedem Einer besondern, als der herrschenden, un-
19 tergeordnet sind. Wir sind entweder mit dem Sammeln, Ordnen und Anwendeil blofser Erfahrungskenntnisse, oder mit'der Aufsuchung von Begriffen, die von aller Erfahrung unabhängig sind, beschäftigt; oder wir leben mitten in der beschränkten und endlichen Wirklichkeit, aber so als wäre sie für uns unbeschränkt und unendlich. Der letztere Zustand kann, das begreift man leicht, nur der Einbildungskraft angehören, der einzigen unter unsern Fähigkeiten, welche widersprechender Eigenschaften zu verbinden im Stande ist. Was in demselben vorgeht, mufs eine zwiefache Eigenschaft in sich vereinigen. Es mufs 1) ein reines Erzeugriifs der Einbildungskraft seyn; und 2) immer eine gewisse, äufsere oder innere, Realität be'silzen. Ohne das erslere wäre die Einbildungskraft nicht herrschend-, ohne das andere, wären die übrigen Kräfte unsrer Seele nicht zugleich thälig. Da aber die Realität, von der hier die Rede ist, sich nicht auf ein Daseyn in der Wirklichkeit beziehen darf, so kann dieselbe nur auf Gesetzmäfsigkeit beruhen. Aus diesem Zustande nun entspringt das Bedürfnifs der Kunst. Daher ist die Kunst die F e r t i g k e i t , d i e E i n b i l d u n g s k r a f t n a c h G e s e t z e n p r o d u c t i v zu m a c h e n ; und dieser ihr einfachster Begriff ist zugleich auch ihr höchster.
IV. Höhe «1er Wirkung, zu der