140 58 12MB
German Pages 322 [317] Year 2009
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Katrin Wille - Thomas Holscher
George Spencer Brown
Eine Einfuhrung in die „Laws of Form" 2., Überarbeitete Auflage
VS VERLAG
FÜR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Tatjana Schonwalder-Kuntze - Katrin Wille - Thomas Holscher
George Spencer Brown
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Uber abrufbar.
2., überarbeitete Auflage 2009
Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag fur Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die EinSpeicherung und Verarbeitung In elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16105-1
Vorwort zur zweiten Auflage
Es sind ein wenig mehr als vier Jahre vergangen, seit wir die erste Auflage fer-
tiggestellt haben, um mit einem ersten detaillierten Textkommentar die Laws of Form einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Dass uns das gelungen ist, zeigen sowohl die zahlreichen Reaktionen von Kollegen aus verschiedenen
Disziplinen, als auch der Umstand, dass die hohe erste Auflage bereits vergriffen ist.
Wir haben alle Teile des Buches einer kritischen Priifung unterzogen, wobei
sowohl die einleitenden Texte als auch die Kommentare im Wesentlichen denen
der ersten Auflage entsprechen. Bei der Uberarbeitung haben wir darauf geach-
tet, den (Lehrbuch-)Charakter des Buches zu erhalten, so dass wir vor allem
stilistische Mängel behoben und — wo nötig — minimale Ergänzungen hinzuge-
fügt haben. Im Gegensatz dazu haben wir den letzten Teil — IV. Anwendungen und Deutungen — erheblich erweitert: Nicht nur wurden die Artikel JV.C Philosophie und IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie umfassend überarbeitet und
ergänzt, sondern es ist auch ein neuer Artikel: /V.E Form und Geschlechterun-
terscheidung hinzugekommen. Daran lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes ablesen, dass die Arbeit an den Laws of Form mit der Erstellung der ersten Auflage für uns keinesfalls beendet war, sondern dass die intensive Auseinanderset-
zung den Grundstein für Anwendungen in unseren eigenen Forschungen gelegt
hat.
Leider konnten wir für die zweite Auflage die neue Ausgabe der Laws of Form, die Ende 2008 erscheint, nicht mehr angemessen berücksichtigen, so dass
sich unsere Referenzen im Text auf die englische Ausgabe von 1994 beziehen.
An dieser Stelle sei Galia Assadi für viele kritische und konstruktive Anmer-
kungen bei der Überarbeitung gedankt. Ebenso gilt ihr und Kathrin Schlierkamp
unser Dank für die tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung eines druckreifen Typoskripts — wie immer wäre es ohne Hilfe nicht gegangen! Auch danken wir wiederum der Ludwig-Maximilians-Universität München, die im Rahmen des
Mentorinnen-Programms Gelder zur Erstellung der zweiten Auflage zur Verfügung gestellt hat. München im Oktober 2008
Tatjana Schönwälder, Katrin Wille und Thomas Hölscher
Danksagung der ersten Auflage
Das vorliegende Buch ist das Ergebnis langjähriger, intensiver, manchmal auch
notwendigerweise ruhender Forschungen des AutorInnenteams zu den Laws of Form Spencer Browns. Dem geistigen Austausch, den vielen Anregungen, den Ansätzen zum Weiterdenken und den kritischen Erwägungen haben wir es zu
verdanken, dass wir diese Arbeit auf den Weg und zu einem vorläufigen Ende bringen konnten.
Für die Initialzündung unserer Forschung und für viele, viele Interpretationsvorschläge, Handreichungen und Brückenschläge zu anderen philosophi-
schen Denkern des 20. Jahrhunderts danken wir vor allem Matthias Varga von Kibéd. Unter dessen Leitung fand ein sechsjähriges, interdisziplinär besetztes
Forschungscolloquium zu den Laws of Form statt, an dem neben unserem Team der Mathematiker Peter Schuster, die Mathematikerin und Logikerin Julia Zink, der Theologe und Philosoph Holm von Egidy und die Philosophin Susanne Kessler regelmäßig teilgenommen sowie intensiv und kontrovers diskutiert haben. Ihnen allen danken wir von ganzem Herzen für die tiefgehenden Diskussionen und zahlreichen Klärungen. Für die undogmatische Haltung seinen Schülern gegenüber und die Aufforderung, mit Spencer Brown eigene und neue Wege zu gehen, wollen wir Matthias Varga von Kibed ganz besonders danken. Gerüstet mit vielen Einsichten aus diesem Münchener Kreis haben Tatjana Schönwälder und Katrin Wille im Sommer 2002 ein Proseminar zu Spencer Brown angeboten, das sich zu einem fünfsemestrigen Textexegese-Seminar entwickelt hat, an dem hoch engagierte und vielfältig interessierte Studierende vieler Disziplinen teilgenommen haben. Auch diesen wollen wir für ihre Geduld und ihre Bereitschaft, mit dem AutorInnenteam sogar ein Wochenende im Kloster auf der Fraueninsel (Chiemsee), abgeschieden von allen störenden Einflüssen, zu verbringen, unseren tiefen und aufrichtigen Dank aussprechen. Dieser gilt insbesondere Christine Bruckmeier, Ilse Daiber, Volker Krux, Stephan Packard, Florian Prittwitz und Mechthild Schreiber für ihren unermüdlichen Einsatz und die unzähligen, sehr guten Beiträge, Hinweise und Denkanregungen. Stephan Packard haben wir nicht nur für engagiertes Mitdenken bei der Ent-
stehung der Interpretation zu danken, sondern insbesondere auch für seine kriti-
sche Lektüre des Manuskriptes, die wiederum mit vielen Anregungen — und Zuspruch - einher ging. Schließlich gilt unser Dank Karl-Georg Niebergall, der
an vielen Stellen zur Klärung der Gedankengänge beigetragen hat. Zuletzt sei
noch der Ludwig-Maximilians-Universität München für die finanzielle Unterstützung gedankt. München im August 2004
Thomas Hölscher, Tatjana Schönwälder, Katrin Wille
Inhalt
Vorwort zur zweiten Auflage .pp
5
Danksagung der ersten Auflage ss
6
LEEinleitung .…… ………… 니 늬 늬 이 이 아 아 아 아 아 아 아 이 아 이 이 이 이 미 이 이 이 이 이 이 이 이 이 이 이 이 이 이 아 이 이 이 이 아 이 이 이 이 아 아 아이 11
II. Kontexte und Architektur der Laws of Form .ee II.A Kontexte der Laws of FEo7772 ee
23 23
Katrin Wille und Thomas Hölscher
II.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of Form...
45
Tatjana Schönwälder-Kuntze
III. Kommentar zu den Laws of Form...
nn
63
0. Kapitel: Womit der Anfang gemacht wird...
64
Katrin Wille
Das erste Kapitel: THE
下 ORME rss
Tatjana Schünwälder-Kuntze und Katrin Wille
67
Inhalt
9
Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM .…………… せ ………………………………………・ 87 Katrin Wille und Thomas Hôlscher
Das dritte Kapitel: THE CONCEPTION OF CALCULATION ss
113
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Das vierte Kapitel: THE PRIMARY ARITHMETIC .… せ ........………………………………………・ 120 Tatjana Schönwälder-Kuntze
Das fünfte Kapitel:
A CALCULUS TAKEN OUT OF THE CALCULUS ............. 133
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Das sechste Kapitel: THE PRIMARY ALGEBRA .….……………… せ ………………………………………………・ 140 Tatjana Schönwälder-Kuntze
Das siebte Kapitel: THEOREMS OF THE SECOND ORDER se
149
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Das achte Kapitel: RE-UNITING THE TWO ORDERG.............cccccccccceceeeseeerees 154 Tatjana Schönwälder-Kuntze
Das neunte Kapitel: COMPLETENESS,,,,,,
이 의 의 이 아 아 아 마 아 아 아 아 아 아 아 아 아 아 이 이 이 이 166
Katrin Wille
Das zehnte Kapitel: INDEPENDENCE ...............ssssccecscceccccccccceececeeeceessseceens 171 Katrin Wille
Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE .…… せ ………………………………….. 174 Katrin Wille
Das zwölfte Kapitel: RE-ENTRY INTO THE FORM..........cccccsssssssssessssesevsveees 194 Tatjana Schönwälder-Kuntze
IV. Anwendungen und Deutungen.................................... IV.A Appendizes zu den Laws of Form...
ss
207
ーーー…ーーー…… 211
Tatjana Schünwälder-Kuntze
IV.B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft .ev Thomas Hôlscher und Katrin Wille
223
10
Inhalt ae
IV.C Phllosophle ,,,,,
235
Tatjana Schönwälder-Kuntze
IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie ,,,
257
Thomas Hölscher
IV.E Form und Geschlechterunterscheidung .…….….………… せ … せ ……………………………… 273 Katrin Wille
IV.F Praxis der Unterscheldung .be
287
Katrin Wille
V. Literaturverzeichnls .ee
301
VI. Register .ee
315
Sachregister .see
315
Namensregister .ee
320
Angaben zu den AutorInnen ..….......................................... 323
I. Einleitung
Die Laws of Form haben vor allem durch zwei Wendungen in vielen verschiedenen Disziplinen ‚Berühmtheit‘ erlangt: Durch die Anweisung: Draw a distinction und durch den Ausdruck Re-entry bzw. durch das, was er — vermeintlich —
bedeutet. Weniger bekannt als diese Wendungen
sind aber der Text und vor
allem die Gedankengänge der Laws of Form selbst. Deshalb ist es an der Zeit, den gesamten Text vorzustellen und damit den gedanklichen Kontext zu liefern,
in den die vielzitierten Wendungen eingebettet sind. Das Kernstück dieser Einführung ist ein Kommentar aller zwölf Kapitel der Laws of Form, mit dem wir das Ziel verfolgen, den Gedankengang des Textes durchsichtig zu machen, indem wir ihn kommentieren und kontextualisieren. Die Perspektive, aus der unser AutorInnenteam diese Einführung schreibt, ist eine philosophische. Unser Hauptinteresse liegt darin, die Laws of Form als begriffliche Arbeit am Unterscheidungsbegriff und dem daraus resultierenden
Formbegriff zu analysieren, um so ein angemessenes Verständnis für den Kalkül
des Hinweisens zu entwickeln. Das heißt nicht, dass damit die Laws of Form, die von Spencer Brown selber als Mathematik beschrieben worden sind, einfach in eine andere Disziplin versetzt werden sollen. Vielmehr befragen wir philoso-
phisch beispielsweise die besondere Gestalt der Mathematik, die Spencer Brown mit den Laws of Form ins Leben gerufen hat. Unsere Aufmerksamkeit liegt dabei auf der begrifflichen Entwicklung und darauf, den Spencer Brownschen
Ansatz in dieser den der Logik, men nicht
möglichst immanenter Gedankenentwicklung aufzuzeigen. Inwieweit Ansprüchen von Einzeldisziplinen, wie der Technik, der Mathematik, der Soziologie gerecht wird, können und wollen wir in diesem Rahbeurteilen. Das bleibe den LeserInnen überlassen.
1. Aufbau des Einführungsbuches Diese Einführung in die Laws of Form besteht aus fünf Teilen. Im ersten einleitenden Teil werden neben dem Überblick über den Aufbau dieses Buches die anderen Werke Spencer Browns, eine kommentierte Chronologie der diversen
Einleitungen und Vorworte Spencer Browns zu den Laws of Form sowie wich-
tige Stationen der Rezeptionsgeschichte vorgestellt.
Der zweite Teil ist den Kontexten und der Architektur der Laws of Form
gewidmet.
Es werden die für die Entstehung wichtigsten Kontexte skizziert:
Technik, Mathematik, Logik und ostasiatische Philosophie. Außerdem wird ein
12
Einleitung
Uberblick über den inneren Aufbau der Laws of Form, also den Zusammenhang der einzelnen Kapitel und ihr Auseinanderhervorgehen gegeben.
Den dritten Teil bildet der Kommentar zu den zwölf Kapiteln der Laws of Form, mit dem wir ein Novum in der Rezeptionsgeschichte vorlegen. Durch die strenge Orientierung am Text der Laws of Form wird nicht nur sichtbar, wie
verschiedene Formulierungen, die in der Rezeption oft aus dem Textzusammen-
hang gelöst worden sind, in die Gedankenentwicklung des Textes eingebettet
sind, sondern auch der Aufbau kann Schritt für Schritt nachverfolgt und eingeholt werden. Damit ist die Grundlage für den vierten Teil gelegt, in dem wichtige Interpretationen bzw. Anwendungsgebiete der Laws of Form dargestellt und eingeschätzt werden können.
Den Abschluss bildet eine Übersicht über die bisher bestehende Literatur zu
Spencer Brown.'
2. Weitere Werke Spencer Browns Die Beschäftigung mit den veröffentlichten Arbeiten Spencer Browns zeigt, dass sein Denken und Arbeiten interdisziplinär und ‚interstilistisch’ angelegt ist. Seine Texte erstrecken sich von der Statistik, Wissenschaftstheorie und Philoso-
phie über Technik, Mathematik und Logik bis zur Poesie. Im folgenden seien die Werke Spencer Browns, die chronologisch vor und nach den Laws of Form entstanden sind, kurz nacheinander skizziert.
Zu der Zeit als ‚Research Lecturer of Christ Church’ in Oxford hat Spencer
Brown
sich mit wissenschaftstheoretischen Fragen nach statistischer Signifi-
kanz, Methoden der Randomisierung und dem Begriff der Wahrscheinlichkeit beschäftigt. 1953 erschien ein Aufsatz mit einer Kritik an der statistischen Signifikanz von Experimenten zu Formen übersinnlicher Wahrnehmung?. Spencer Brown vertritt dort die allgemeinere These, dass experimentalpsychologische
Forschungsresultate dem Versagen der Randomisierungsverfahren geschuldet sind und stellt eine ausführlichere Studie zum Begriff des Zufalls, der Wahrscheinlichkeit und zum üblichen Verfahren der Randomisierung in Aussicht. Diese folgt 1957 mit der Monographie Probability and Scientific Inference. Darin stellt Spencer Brown seine Kritik an Zufallsgeneratoren und dem Randomisierungsverfahren in den weiteren Kontext einer grundsätzlichen Kritik der Wahrscheinlichkeitstheorie. Aus dem Vorwort wird deutlich, dass Spencer Brown dieses Buch als philosophische Kritik am Begriff der Wahrscheinlichkeit verstanden wissen will. Zunächst geht er den Voraussetzungen nach, die dem gewöhnlichen Begriff der Wahrscheinlichkeit zugrunde liegen, kritisiert das Konzept ‚Realität’ als Erwartbarkeit von Phänomenen, sowie das Bestreben der '
Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet, um zum Ausdruck zu bringen, wer von uns maßgeblich für welchen Text verantwortlich ist. Spencer Brown 1953
Einleitung
13
Wissenschaft, Veränderungen auf unabänderliche Formeln zu bringen. Ein Kennzeichen unserer Welt, die kein ‚Nichts-Universum’ ist, in dem wir nicht
vorkommen und kein ‚Alles-Universum’, in dem wir keine Unterscheidungen treffen könnten, liegt in einer Art Parallelentwicklung zwischen Beobachter und Beobachtetem, denn unsere Beobachtungen hängen von unserer eigenen Veränderbarkeit ab. Nach diesen und weiteren kritischen Analysen zu den Begriffen ‚Induktion’
und ‚Wahrheit’ stellt Spencer Brown innere Widersprüche und Antinomien der Wahrscheinlichkeitstheorie dar. Um den Begriff der Wahrscheinlichkeit weiter verwenden zu können und die Paradoxien der Wahrscheinlichkeit aufzulösen,
unterscheidet er zwischen primärer und sekundärer Zufälligkeit. Als wesentli-
ches Kriterium der Zufälligkeit gilt das Fehlen eines Musters und die primäre
Zufälligkeit bezieht sich nur auf ein individuelles Ereignis, die sekundäre Zufäl-
ligkeit auf eine ganze Folge. Spencer Brown zeigt, dass der Zufallsbegriff nur in Bezug auf einen Beobachter sinnvoll ist.” Ein Zufallsgenerator könne deshalb nicht sich selbst überlassen bleiben, sondern bekomme Feedback vom Bediener oder Beobachter, um ein Übermaß an bekannten Mustern zu verhindern? In
einer im Appendix abgedruckten wissenschaftlichen Diskussion mit einem Kritiker bekräftigt Spencer Brown seine These, dass ein Experimentator je nach verfolgten Zielen dazu beitragen kann, allein durch die Art, wie er seine Daten darstellt (ohne zu betrügen), die Signifikanz spezieller Trends zu maximieren oder zu minimieren.
In Bezug auf die Laws of Form ist wichtig festzuhalten, dass in diesem Buch eine Kritik an der wissenschaftlichen Praxis geübt wird, die Veränderungen in
Konstanten fixieren und kontrollieren will und dies mit selbstimmunisierenden Strategien durchführt. Diese Kritik findet sich auch in den Vorworten zu den Laws of Form wieder, z.B. durch die Aufnahme der kritischen Unterscheidung
von Ronald Laing zwischen vermeintlichen Data (von datum: gegeben) und Capta (von captum: genommen). Außerdem ist ein Vergleich der wissenschaft-
lichen Stile äußerst aufschlussreich: Während in der Monographie von 1957 die Fülle von alltagssprachlichen Überlegungen, Analysen des Sprachgebrauchs als Ausgangspunkt für die Argumentation, der kleinschrittige Aufbau der Argumen-
tation und die Fülle von Gedankenexperimenten stilbildend sind, kennzeichnet die Laws of Form ein äußerst verdichteter Stil. Diese kondensierte Darstellungsform fordert die LeserInnen gewissermaßen dazu auf, die kleinschrittige Argumentation, die Anbindung an alltagssprachliche Plausibilitäten selbst zu leisten.
Seine These über Zufallsgeneratoren besteht darin, dass die Reihen eines sich selbst überlassenen Zufallsgenerators nach jedem gewählten Standard höchst signifikant verzerrt sein werden. Damit können zwar die Paradoxien des Wahrscheinlichkeitsbegriffes, nicht aber dessen starke Vagheit gelöst werden. Von starker Vagheit soll dann gesprochen werden, wenn eine Besonderheit oder eine Variable erklärt werden soll, die sich aufgrund der Beobachtung verändert. Und eine solche Variable ist eben der Wahrscheinlichkeitsbegriff.
14
Einleitung
Darin liegt eine Stilähnlichkeit zu der kondensierten Textform von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, ein Werk, auf das sich Spencer Brown in Probability and Scientific Inference und in den Laws of Form an mehreren Stellen bezieht. Für das Entstehen der Laws of Form von 1969 sind zum einen Einflüsse aus der Elektroingenieurspraxis Spencer Browns äußerst wichtig. Wirksam war zudem der Austausch mit dem Psychiater Ronald Laing, der auch für die Bewegung der Antipsychiatrie steht. In den Laws of Form und in den Arbeiten aus den 70er Jahren sind viele Spuren dieser Einflüsse nachweisbar. Zeitlich kurz auf die Laws of Form folgen zwei unter dem Pseudonym ‚James Keys’ veröffentlichte Gedichtbände, 1970 erscheint 23 Degrees of Paradise und 1971 erscheint Only two can play this game.
In dem Gedichtband 23 Degrees of Paradise’ lässt sich Spencer Brown von
Gedichten englischer Dichter wie Blake und Chaucer, von gesellschaftlichen
Verhältnissen, Regeln und Verboten, von mythischen Stoffen, von Beziehungs-
themen zwischen Frau und Mann für seine eigenen Gedichte anregen. Das
Kernstück bildet eine Art Ballade, in der nicht nur ritterliche Welten und moderne medizinische Szenarien verschränkt werden, sondern auch alltägliche,
phantastische und verzerrte Realitäten ineinander geblendet werden. Diese Verschiebung von Realitäten und die Darstellung von verzerrten Operationsszenen in Krankenhäusern erinnert an den Text von Ronald Laing Birds of Paradise
von 1967. Andere Spuren des Einflusses von dem Kontakt zu dem Psychiater
Ronald Laing finden sich in einem lyrischen Spiel mit der schon erwähnten kritischen Unterscheidung zwischen Data und Capta und in dem Zitat einer
Stelle aus dem Thomas-Evangelium, die Laing den Birds of Paradise als Motto vorangestellt hat. Der Eintritt ins Königreich wird dort an das Verschwinden von Unterscheidungen gebunden, z.B.: „When you make the two one, and when you make the inner as the outer and the outer as the inner and the above as the below, and when you make the male and the female into a single one...“.° An
die Laws of Form direkt erinnert die Wiederholung eines Zitats von William
Blake: „Reason, or the ratio of all we have already known, is not the same that it
shall be when we know more.“"
Dem Gedichtband Only two can play this game? ist ein kurzes Vorwort von Ronald Laing vorangestellt. Der Band umfasst Gedichte, Darstellungen eigener Erfahrungen, theoretische Reflexionen und eine Art kommentierte Bibliogra-
phie, in der Spencer Brown intentionsverwandte Bücher vor allem anderer Au>
In der Anzeige seiner Werke in der Ausgabe der Laws of Form von 1994 findet sich hierfür die Beschreibung: , Transcendental verse’.
Spencer Brown 1970:66 Spencer Brown 1970:82
Inder Anzeige seiner Werke in der Ausgabe der Laws of Form von 1994 findet sich hierfür die Beschreibung: , The psychology of male-female relations’.
Einleitung
15
toren vorstellt, aber auch seine Laws of Form,
sowie umfangliche ,Notes’. In
seinem eigenen Vorwort macht Spencer Brown deutlich, dass dieser Band auch als westliche Kulturkritik verstanden werden soll, deren jüdische und griechische Hauptwurzeln beide die ,weibliche Seite’ abgewertet hätten und frauen-
feindlich seien. Mit diesem Gedichtband solle die Kluft zwischen der ,weibli-
chen’ und der ‚männlichen’ Seite überbrückt werden. Die poetische Form ist für Spencer Brown ein angemessener Ausdruck dessen, was er die ,weibliche Seite’
nennt. Spencer Brown beschreibt das Charakteristische dieses Buches so: ,,In this book I break two unwritten rules. In the first place I try to say something
positive. In the second, I speak from my own experience.”
In vielen der Reflexionen in Only two can play this game finden sich
Wortspiele, in denen Grundbegriffe der Laws of Form wie z.B. ,form’, ,calling’, ‚laws’ auftauchen. Außerdem werden eine ganze Reihe von Motiven aufgenommen und ‚erfahrungsgesättigter‘ verwendet, wie das Motiv der Einsicht in innere (und das sind mathematische) Strukturen durch den Blick nach Innen. Es wird immer wieder dazu aufgefordert, die Unterscheidungen zu erinnern, mit
denen wir unsere Wirklichkeit(en) konstruiert haben und dazu, gegen den ,cleveren Trick’ anzugehen, der uns das Tun vergessen lässt, durch das wir die Realität so gemacht haben, wie wir sie nun vorfinden. In der ersten Anmerkung, einem kleinen Essay für sich, parallelisiert Spencer Brown die grundlegenden
Elemente des mathematischen Entwurfs der Laws of Form mit verschiedenen westlichen und östlichen religiösen und mythologischen Schöpfungsentwürfen.
Aufgabe des Dichters sei es, den/die LeserIn oder ZuhörerIn auf eine Reise zu dem Ort mitzunehmen, der ihnen beiden gemeinsam ist. Das Motiv der Rei-
se, bei der der/die LeserIn begleitet ist und doch ihre eigenen Erfahrungen mit ganz neuen Räumen und Gegenden macht, durchzieht die Reflexionen über die
Arbeit eines Dichters (der hier zugleich immer auch für den Mathematiker steht). Dazu heißt es: „In short, a well-constructed work of art will pick you up, transport you, show the secrets of your being, return you, and plant you back on
your feet again...“" Die letzten beiden Stationen nennt Spencer Brown auch ‚Re-entry’ und gibt damit der formalen Figur aus den Zaws of Form eine Deutung innerhalb des Reisemotivs. Die zweisprachig erschienene Geschichtensammlung von 1995 A Lion’s
Teeth. The Tales of One Who Came Thus'' umfasst kurze Geschichten vor allem
aus den frühen 60er, 70er und 90er Jahren sowie einen Essay über die ‚Laws of
Time’ und autobiographisch untermischte Erläuterungen. Zu den Geschichten bemerkt Spencer Brown, dass sie ohne Moral seien und je nach LeserIn Unterschiedliches bedeuteten, das selbst wieder wandelbar sei. Vor allem die Kom-
II
Spencer Brown Spencer Brown In der Anzeige Beschreibung:
1971:13 1971:37 seiner Werke in der Ausgabe der Laws of Form von 1994 findet sich hierfür die ,Fabulous fables, together with an essay on the Laws of Time’.
16
Einleitung
mentare
aus den 90er Jahren sind durchdrungen
von
der Rezeption bud-
dhistischer Philosophie und Weltanschauung. In den Bezügen auf die Zaws of
Form stehen zwei neue Grundbegriffe im Vordergrund: das ,Nichts’ und die ‚konditionierte Koproduktion’. In den Laws of Form sei zwar gezeigt, wie das Universum entstehen muss, wenn die Möglichkeit der Unterscheidung gegeben ist, die neue entscheidende Frage ist aber vielmehr die, wie es jemals zur ersten
Unterscheidung kommen kann. Die neue Antwort ist, dass nur Nichts nichts verwandeln kann. Es kann also nur die selbstreferentielle Struktur des Nichts zur ersten Unterscheidung führen. Die buddhistische Idee der ‚konditionierten Koproduktion’ findet Eingang in die neuen Vorworte und Einleitungen, die Spencer Brown für die Ausgaben der Laws of Form von 1995 und 1997 verfasst hat — wir kommen darauf zurück. 3. Die verschiedenen Ausgaben der Zaws of Form Der Text der Laws of Form ist zehnmal an neun verschiedenen Orten aufgelegt worden. In fünf Zyklen, in der ersten Ausgabe 1969, in der dritten Ausgabe (der ersten amerikanischen) 1972, in der achten Ausgabe 1979, in der neunten Aus-
gabe 1994 und in der zehnten, der ersten deutschen Ausgabe 1997, hat Spencer Brown den Haupttext mit neuen Vorworten oder Einleitungen versehen, die jeweils verschiedene Schichten der Laws of Form in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit heben. Durch jeden dieser einleitenden Texte wird der Haupttext vor einen anderen Horizont gestellt. Diese Horizonte schichten sich mit jeder neuen veränderten Auflage hintereinander, so dass der Haupttext schon vor seinem eigentlichen Beginnen zu ‚irisieren’, also seine Farbe zu verändern an-
fängt."
Im ersten Zyklus, also der ersten Ausgabe der Laws of Form 1969, sind ein Vorwort (Preface), eine Einleitung (Introduction) und eine Anmerkung zum
mathematischen Zugang (A note on the mathematical approach) entstanden. Dieses Vorwort (Preface) hat den Charakter einer Danksagung an viele derer, die die Entstehung der Laws of Form unterstützt und begleitet haben.’ Die Einleitung (Introduction) bringt den mathematischen Anspruch zum Ausdruck, es werden die Motivation und das besondere Profil der Zaws of Form dargestellt,
Platzierungen derselben Anschlussmöglichkeiten Leistungskraft und Rolle fachende und klärende 12
zu andern mathematischen und logischen Projekten, an andere Systeme. In diesem Zusammenhang wird die der beiden Appendizes skizziert, durch die die vereinKraft der Laws of Form gegenüber mathematischen
Spencer Brown 1995:151
Derzeit erscheint gerade die elfte Auflage im Bohmeier Verlag in englischer Sprache mit einem
neuen Vorwort sowie drei neuen Appendices 7-9 und einer Ergänzung zu Appendix 5. Erwähnt werden so verschiedene Personen wie z.B. Bertrand Russell und Mr. I. V. Idelson, General Manager of Simon-MEL Distribution Engineering, der Chef der Firma, bei der Spencer
Brown als Ingenieur angestellt war.
Einleitung
17
Fragen (den Beweisen der Shefferschen Postulate als einem theoretischen Er-
folg) und der symbolischen Logik ausgeführt werden soll. Mit den Laws of Form wird ein Indikationenkalkül vorgelegt, der das Potential hat, einen Punkt der Einfachheit zu erreichen, der erlaubt, die Form zu betrachten, aus der die
Erfahrungen des Common
Sense wie auch die verschiedenen Wissenschaften
hervorgehen. Die Anmerkung zum mathematischen Zugang (A note on the ma-
thematical approach) zieht erkenntnistheoretische Konsequenzen aus der in der Einleitung skizzierten Art, die Rolle der Mathematik zu betrachten. Denn beginnen wir wirklich mit dem Anfang, also dem ursprünglichen Akt der Trennung (severance) und sehen, wie daraus alle môglichen Bereiche hervorgehen, dann wird deutlich, dass es auf dieser anfänglichen Stufe keinen Unterschied
gibt zwischen dem Universum und der Art, wie wir auf es einwirken (act upon it). Im zweiten Zyklus, also der dritten Ausgabe der Laws of Form 1972, ist ein
Vorwort zu dieser ersten amerikanischen Ausgabe (Preface to the first american edition) dazugekommen. Hier wird eine andere Qualität des Textes deutlich
stärker herausgehoben, als es im ersten Zyklus der Fall war, nämlich die Leistung im Umgang mit selbstbezüglichen Paradoxa. Als signifikantester mathematischer Anspruch wird skizziert, wie eine Analogie zur Verwendung der imaginären bzw. komplexen Zahlen in der mathematischen Theorie üblicher algebraischer Gleichungen hergestellt und produktiv fiir selbstbeziigliche Paradoxa genutzt werden kann. Im dritten Zyklus, der achten Ausgabe der Laws of Form 1979, ist ein weite-
res Vorwort fiir diese Ausgabe hinzugekommen (Preface to the 1979 Edition).
Ahnlich wie in der Einleitung zur ersten Ausgabe zehn Jahre früher wird die (neue) Verhältnisbestimmung zwischen Mathematik und Logik vorgenommen. Auferdem wird auf einen weiteren theoretischen Erfolg hingewiesen, denn mit dem Indikationenkalkül 2. Ordnung konnte nach Spencer Brown das Vier-
Farben-Theorem gelöst werden.
Im vierten Zyklus, der neunten Ausgabe der Laws of
Form 1994 ist wieder-
um ein neues Vorwort hinzugekommen (Preface to the 1994 limited edition). Dort wird nicht nur eine weitere Schicht des Textes in den Vordergrund gerückt, sondern es wird auch eine wirkliche Neukontextualisierung der Laws of Form
vorgenommen. Es wird nämlich der Gedanke der abhängigen Koproduktion aus dem Buddhismus aufgenommen und gezeigt, wo dieser Gedanke im Indikationenkalkül ganz elementar und an der Basis (im ersten Kapitel) angewandt worden ist. Es wird also eine Art nachträglich aufgefundene Geistesverwandtschaft
zum Ausdruck gebracht, die die Laws of Form nunmehr verstärkt mit einer ganz anderen Weltanschauung in Berührung bringen. Im fünften Zyklus ist die zehnte Ausgabe der Laws of
Form 1997, die erste
deutsche Ausgabe, um die beiden einführenden Texte ‚Vorstellung der interna-
tionalen Ausgabe‘ und eine neue ‚Einleitung‘ ergänzt worden. Die ‚Vorstellung
18
Einleitung
der internationalen Ausgabe‘ ist ein Text, der schon 1985 fiir eine geplante deutsche Ausgabe geschrieben wurde und hier erstmals abgedruckt ist. Dort ist die fiir den vierten Zyklus beschriebene Neukontextualisierung thematisch schon durchgeführt, die Einführung der Ausdrücke ,Koproduktion’ und ,konditionierte Struktur des Nichts’ bilden einen Schwerpunkt dieses Textes. Die Koproduktion wird als das eine Prinzip beschrieben, auf das der ganze Text der Laws of Form reduzierbar wäre. Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Beschäftigung mit der Möglichkeit wirklichen Wissens im Unterschied zu bloßem Meinen und Glauben, das nur durch den Weg von ‚Befehl und Betrachtung’ gewonnen werden
kann. Dies ist an einem Beispiel vorgeführt. In diesem Textstück fällt ein Stilunterschied auf, denn an einigen Stellen wird der/die LeserIn direkt angesprochen. In der neuen Einleitung wird der Unterschied zwischen der Spencer Brownschen und der Booleschen Algebra erstmals ausdrücklich ausgeführt. Die Laws
of Form werden als ein kreatives Werk beschrieben, das ein Schaffensfeld er-
öffnet, das sich selbst zu korrigieren vermag. Zu der deutschen Ausgabe sind
vier neue Appendizes hinzugekommen, darunter die schon 1979 angekündigte Lösung des Vier-Farben-Theorems und eine ‚Algebra für die natürlichen Zahlen’, von 1961 stammend.
4. Wichtige Stationen der Rezeptionsgeschichte der Laws of Form Der wichtigste Multiplikator für die Ideen der Laws of Form war eine privat organisierte Konferenz, die mit ausgewählten amerikanischen Geistesgrössen aus allen Denkrichtungen und Disziplinen zusammen mit Spencer Brown für einige Tage am Esalen-Institut in Kalifornien stattfand, einem damals
bekannten Zentrum für innovative Therapie, Psychologie und Spiritualität.
schon
Diese Konferenz war die Fernwirkung einer brillanten und wirksamen Re-
zension, die Heinz v. Foerster, damals Direktor des Biological Computer Lab der Universität Urbana/lllinois,
1969 im
Whole Earth Catalog veröffentlicht
hatte. Im selben Jahr war zwar in Nature die überaus respektvolle Besprechung
des berühmten englischen Management-Kybernetikers Stafford Beer erschienen,
aber ohne sichtbaren Erfolg. Stewart Brant, der Herausgeber der Zeitschrift,
später Leiter des Media-Lab am MIT, hatte zuvor Gregory Bateson, den Anthropologen und Biologen, sowie John Lilly, den Delphinforscher, um eine Rezension gebeten, die sie aber an v. Foerster weitergereicht hatten. Dessen Be-
sprechung schuf augenblicklich eine umfassende Resonanz. Eine neue amerikanische Ausgabe des Buches ging schnell in die zweite Auflage. Alan Watts,
Religionswissenschaftler, Philosoph, Zenmeister und Gründer der ‚Society of
Comparative Philosophy‘ war sogleich ‚elektrisiert‘ und beschloss, mit Brand, Bateson und Lilly, seine Lieblingsidee einer ‚American University of the Mas-
ters (AUM oder OM, dem Mantra gemäß) ins Leben zu rufen, mit Spencer Brown als erster Session. In Esalen trafen Mathematiker, Kybernetiker, Compu-
terwissenschaftler,
Anthropologen
und
Sozialforscher,
Kommunikationsfor-
Einleitung
19
scher, Biologen, Psychiater und Psychotherapeuten sowie praktizierende Experimentatoren diverser religiöser bzw. spiritueller Traditionen zusammen. Alle waren interessiert an einer grenzüberschreitenden Betrachtung der westlichen wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die Mehrzahl in strenger Erweiterung
bzw. Revision der Grundlagen ihrer Disziplinen und das sowohl in praktischer wie theoretischer Hinsicht. Ein Teil liebäugelte auch im damaligen herrschen-
den Trend mit esoterischer ‚Bewusstseinserweiterung‘. Hier bildete sich das Grundmuster einer unerwartet breiten, interdisziplinären, stets aber auch zwiespältigen Rezeption Spencer Browns.
Die meisten Zuhörer waren überfordert, aber das stand einer langfristigen tieferen Wirkung nicht entgegen. Spencer Brown schenkte ihnen nichts, vor allem was die mathematischen Grundlagen seiner Ideen betraf. Er bot eine souveräne, luzide Darstellung seiner Gedanken anhand detaillierter und origineller Erläuterungen zu den Laws of Form wie zu zentralen theoretischen Passagen von Only two can play this game. Thematisiert wurde die gesamte Breite und Tiefe seines Ansatzes: Von der radikalen Reduktion auf die Unterscheidung als einen einfachsten Ausgangspunkt bis zu den mehrfachen Windungen der selbstreferentiellen, rekursiven Formen; von der mathematischen Sprache des Calculus of indications bis zu sprachkritisch-methodologischen Erläuterungen
religiöser Sprachen. Anhand der Transkripte'” wird deutlich, dass er Spezifizierungen, Ergänzungen und auch Alternativmöglichkeiten zum ‚kanonischen’ Text der Laws of Form gegeben hat. Diversen Angeboten der Fragesteller in die esoterische Richtung verschließt er sich aber konsequent, im Dialog jedoch z.B. mit Bateson über Mensch- versus Tierkommunikation wird etwas von den wesentlichen Grundlagen deutlich. Heinz v. Foerster bleibt die Integrationsfigur für die weitere Rezeption. Aus
seinem Biological Computer Lab, das von 1958 bis 1976 existierte, verstand er
es, in seltener Vielfalt und zugleich philosophisch-epistemologischer Reflek-
tiertheit, einen interdisziplinären
Sammelpunkt
der Kognitionsforschung
zu
schaffen, an dem eine Fülle innovativer Logiker, Mathematiker, Elektrotechni-
ker, Informatiker, Biologen, Neurophysiologen und Sozialwissenschaftler zusammenwirkten. Alle orientiert an v. Foersters wissenschaftlichem Kernparadigma, der Erforschung zirkulärer, rekursiver, selbstreferentieller und selbstorganisierender Prozesse im Übergangsfeld von Maschinen zu Organismen, mit dem Ziel, eine ‚Kybernetik der Kybernetik‘ bzw. ,2nd Order Cybernetics‘ zu
entwickeln. Hier findet, direkt inspiriert durch Spencer Brown, die wichtige Ablösung der maschinellen, elektrotechnischen Sicht des ‚computings‘ und der Kybernetik (das Paradigma v. Neumanns und Wieners) durch das Paradigma lebender, später auch sozialer Prozesse bis hin zu Organisationen statt, die durch eine entsprechende andere Mathematik möglich geworden war. Hierfür stehen vor allem Humberto Maturana und Francisco Varela mit ihrer Theorie der Au5
Die Transkripte der Esalen-Konferenz sind unter ,AUM-Protokolle‘ im Internet abrufbar.
20
Einleitung
topoiesis bzw. der Principles of Biological Autonomy’. Die im Biological Computer Lab gesäten Ideen wirken bis heute weiter, in den vielfaltigen Konsequenzen aus einer ,General Systems Theory‘ und der ,2nd Order Cybernetics’
als ihrer inhärenten Reflexionsgestalt. An dieser Entwicklung hat einen nicht zu unterschätzenden Anteil der Chicagoer Spencer Brown Zirkel um den Mathematiker Louis Kauffman. Von 1975 an, ein Jahr nach seiner Begegnung mit den Laws of Form, die, nach seiner eigenen Aussage, sein gesamtes mathematisch-theoretisch-philosophisches Weltbild auf den Kopf stellten, versammelt er eine Anzahl von Wissenschaftlern wiederum der unterschiedlichsten Disziplinen fiir drei Jahre um sich. Hier wird
vielleicht zum ersten Mal eine systematische Lektüre der Laws of Form von vorne bis hinten, in allen thren Kapiteln vorgenommen, gegenüber dem bis
dahin — und bis heute vorwiegend — wohl weitgehend üblichen selektiven bis impressionistischen Lektüreverhalten. Kauffman hatte Kontakt zu v. Foerster
und hat zusammen mit Varela die wichtige Arbeit Form Dynamics" auf der
Basis von Spencer Browns Calculus of indications verfasst. Er arbeitet in der
Perspektive einer mathematischen Fundierung der ,2nd order Cybernetics’, aber
nicht
nur
an
einer
Mathematik
selbstreferentieller
Grundprozesse,
sondern
zugleich, ganz im Geiste der Laws of Form, an einer mathematischkonzeptuellen Formulierung der Interrelation von Einfachheit und Komplexität. Mithilfe der von ihm neu adaptierten ‚Knoten’-Theorie führt er dies in die
Grundlagen der Quantenphysik weiter." In Deutschland könnte man
ein Rezeptionszentrum mit ‚Bielefeld‘ um-
schreiben. Gemeint ist die systemtheoretisch angelegte Soziologie bzw. Sozio-
logische Theorie von Niklas Luhmann, die beispielsweise von Elena Esposito, Dirk Baecker oder Armin Nassehi und anderen fortgeführt wird. Luhmann hat das Verdienst, die Laws of Form und somit auch ihren Autor George Spencer Brown für die deutsche Diskussion entdeckt und eingeführt zu haben. Gesellschaft ist für Luhmann ein komplexes System unabzählbarer beständig iterierter, unterschiedlicher und in Rekursionsschleifen prozessierter, beobachtungs- und damit handlungsgenerierter wie -generierender Unterscheidungsbildungen.
Durch einen Hinweis von dem Philosophen und Psychotherapeuten Paul
Watzlawick, der seinerseits vermutlich durch die Diskussionen um die Esalen-
Konferenz auf die Laws of Form aufmerksam gemacht wurde, 1980 an den
Heidelberger Psychiater Fritz Simon, sind die Laws of Form zu einem Bezugspunkt für die Arbeiten des Heidelberger Forschungskreises zur systemischen
Therapie geworden. Prägend für diese Rezption wurde 1988 das Buch von Fritz
1° Varela 1979b 17
Kauffman/ Varela 1980 Damit folgt Kauffman emer Perspektive der Laws of Form als einem „account of the emergence of physical archetypes, presented as a rigorous essay in mathematics“, Spencer Brown 1971:109.
Einleitung Simon:
21 Unterschiede,
die
Unterschiede
machen.
Klinische
Epistemologie:
Grundlagen einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik, durch das erst-
mals Ausziige der Laws of Form auf deutsch zugänglich wurden. SchlieBlich verdient Erwähnung der Miinchner Logiker Matthias Varga v. Kibéd vom Seminar fiir Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie der Ludwig-Maximilians-Universitat. Varga v. Kibéd hat sich in seiner Habilitation und einer Reihe von Aufsätzen und Vorträgen mit den tiefgreifenden Einsichten
Spencer Browns in die zeichentheoretischen und paradoxientheoretischen Grundlagen der modernen Logik beschäftigt, die er in einem gross angelegten
Forschungsprogramm, das kritische Einsichten von Wittgenstein und Peirce mit
Spencer Brown zusammenspannt, für eine entscheidende Revision der moder-
nen Logik fruchtbar machen möchte. Dieser Ansatz einer ‚Logik der Logik‘ verspricht vor allem wichtige konzeptuelle Klärungen in den Grundlagen der modernen Logik und Sprachtheorie.
5. Zur Lesehaltung — ein Vorschlag Spencer Brown beschreibt an verschiedenen Stellen, dass zur Entwicklung der
Laws of Form ein Prozess des Verlernens gehört, ein Verlernen von üblichen Denkmustern und gewohnten Komplexitäten. So, wie er selbst den Ansatz der
Laws of Form durch einen Prozess des Verlernens ge- und erfunden hat, sieht
auch die Leseanweisung für uns InterpretInnen und LeserInnen aus: die Laws of Form im Interpretieren und Lesen immer wieder neu zu finden und zu erfinden, bedarf eines fortschreitenden Prozesses des Verlernens von Beschreibungsmus-
tern der eigenen Disziplin, von vorschnellen kritischen Urteilen nach üblichen Maßstäben und vor allem Geduld. Die Laws of Form fordern in besonderem Maße, sich auf sie einzulassen, mit ihnen und durch sie zurückzugehen zu dem Treffen einer Unterscheidung, durch die zwei unterschiedene Zustände hervor-
gebracht werden. Fragen danach, wie sich diese beiden Zustände zu Raum und Zeit, zum Subjekt und zur Wirklichkeit verhalten, sind zunächst zu verlernen. Ohne Übung in Langsamkeit und ohne Offenheit für Unvertrautes ist den Laws of Form kaum zu folgen.
Neben der Bereitschaft zum Verlernen stellen wir uns für die Lektüre dieser Einführung folgende Lesehaltung vor: Unsere Interpretationsvorschläge und den (englischen) Text der Laws of Form nebeneinander zu legen und beides in einer Hin- und Her- Bewegung zu lesen, Text, Kommentar, Text usw. Dadurch wird unser Text, der aus einem jahrelangen Dialog mit dem Text der Laws of Form und untereinander entstanden ist, durch jede/n LeserIn wiederum variiert und in vielerlei neue mögliche Dialoge mit den Laws of Form gebracht. Wir zitieren die Laws of Form und andere Texte Spencer Browns im Original, d.h. auf Englisch, kommentieren den Text aber auf Deutsch.'” Damit wer19
Hinweis: Wir zitieren die Laws of Form nach der Ausgabe von 1994, im Folgenden LoF.
22
Einleitung
den zwei Sprachstile zusammengebracht, die Spencer Brown selber so beschrie-
ben hat:
»[D]as, was ich das Irisieren englischer Worte nennen will — ihre Fähigkeit, jeden Augenblick die Farbe zu verändern, die unserer Prosa und Poesie solche Magie verleiht — [geht] im Deutschen verloren, wo für jedes Wort eine exakte Farbe gewählt werden muss, [weil es] die meisten verschiedenen Worte für Bedeutungsnuancen enthält, welche im Englischen durch ein und dasselbe Wort ausgedrückt werden, und der Unterschied dabei durch den Kontext festgelegt wird.‘
Da zur Form einer Unterscheidung nach Spencer Brown immer auch ein Kon-
text gehört, beginnen wir den Hauptteil mit einer Kontextualisierung der Laws of Form, also gleichsam mit einer Definition des äußeren Rahmens, in dem sie
spielen. Anschließend wird der Text in seiner inneren Architektur vorgestellt.
20
Vgl. die Vorstellung der internationalen Ausgabe, Spencer Brown 1997:1x.
II. Kontexte und Architektur der Laws of Form
IJ.A Kontexte der Laws of Form Katrin Wille und Thomas Holscher
Für die Entstehung und das Selbstverständnis der Laws of Form sind vor allem
vier Kontexte wichtig — Technik, Mathematik, Logik und ostasiatische Philosophie. Im Folgenden werden die Laws of Form nacheinander in diese Kontexte gestellt. Laut eigener Darstellungen Spencer Browns wurde die Entwicklung der
Laws of Form angestoBen durch Anwendungsprobleme in technischen Zusam-
menhängen. Zu dem Kontext , Technik’ (1) gehört deshalb auch eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Anwendung. Der Kontext ,Mathematik’
(2) ist deshalb zentral, weil Spencer Brown seine
Laws of Form als Mathematik versteht und seine Auffassung von Mathematik in Anknüpfung und Kritik an Boole an vielen Stellen beschreibt. Durch seine akademischen Studien und die Gespräche mit Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein ist der Kontext ‚Logik? (3) präsent. Spencer Brown führt aus, inwiefern die formale Aussagenlogik eine von verschiedenen möglichen Interpretationen der Laws of Form ist. Der Kontext ‚ostasiatische Philosophie’ (4) ist für Spencer Brown als ein Horizont seines Denkens von Anfang an deutlich. Dies zeigt sich durch das vorangestellte Zitat aus dem Daodejing und in späteren Anmerkungen und Vorworten dann in zunehmendem Maße an Bezügen auf buddhistisches Denken.
In diesem Kapitel orientieren wir uns vor allem an Äußerungen über diese
vier Kontexte in Texten von Spencer Brown, die eher Überblickscharakter ben. Wir führen hier zusammen und kommentieren, was Spencer Brown in diversen Vorworten und Einleitungen und auch in der AUM-Konferenz, auf er vor einem Öffentlichen Publikum die Zaws of Form erläuterte, dargestellt
haden der hat.
Außerdem nehmen wir auf wichtige Passagen der Selbstkommentierung in den beiden Texten Only two can play this game und A Lion’s Teeth Bezug.
24
Katrin Wille und Thomas Hölscher
1. Technik
Einen Hintergrund fiir die Laws of Form bildet ein technisches Anwendungsproblem'. Spencer Brown wurde in technischen Unternehmen’ eingestellt, um als ausgebildeter Logiker an der Entwicklung von Schaltkreisen für Transistorenelemente bei speziellen Computeranwendungen mitzuwirken.’ Eine der Aufgaben ist, Zählmaschinen von Wagenrädern vor und nach der Einfahrt von Zügen in einen Tunnel zu entwickeln. Diese Maschinen miissen zum einen vorwarts und rückwärts zählen und zum anderen die verschiedenen Zählergebnisse abgleichen kônnen.
Der Rahmen der akademischen Logik erweist sich den technischen Anforde-
rungen gegenüber als unzureichend: zum einen wegen mangelnder Möglichkeiten, mit der erforderlichen technischen Komplexität umzugehen, zum anderen darin, den Sicherheits- und Effizienzanforderungen gerecht zu werden. Die
Lösung für diese praktischen Anforderungen, die erst einmal ohne theoretische Fundierung bleibt, liegt in dem, was Spencer Brown später als ‚imaginäre Werte’ bestimmt. Er überträgt die Theorie der imaginären oder komplexen Zahlen i aus der Mathematik systematisch und nicht nur in ad hoc-Verwendungen auf die Arbeit mit Schaltsystemen.* Dies führt zu einfacheren Vorrichtungen als bisher üblich und ist deswegen ökonomisch günstiger und effizienter. In Schaltsystemen wird die Schaltalgebra technisch umgesetzt. Die Schaltalgebra ist eine mögliche Interpretation der Theorie der Booleschen Algebren. Den Booleschen Ausdrücken ,1° und ‚0’ können als Werte die beiden Zustände eines Schaltkreises ‚Energie fließt’ oder ‚Energie fließt nicht’ zugeordnet wer-
den. Den Operationen der Booleschen Algebren lassen sich verschiedene Kreisläufe im
Schaltkreis
zuordnen.
Bestimmte
Transistoren
(übersetzt:
Ubertra-
gungswiderstand) führen den Output eines Kreislaufes wieder in den Kreislauf
zurück, was als eine logische Verknüpfung zwischen den Eingangssignalen und
den Ausgangssignalen dargestellt werden kann.
3
„Ihe techniques here recorded being first developed not in respect of questions of logic, but in response to certain unsolved problems inengineering.” LoF:xvii. Spencer Brown nennt im Vorwort zur ersten Ausgabe der Laws of Form die Firma ‚SimonMEL Distribution Engineering’ (LoF:xvii) und in den Transkripten der AUM-Konferenz die Firma ‚Mullard Equipment, Ltd., a branch of the Phillips organization’, AUM 1,1. (Die erste Ziffer steht für das AUM-Transkript der jeweiligen Sitzung, die zweite für die Seitenzahl.)
Vgl. AUM 1,1.
Vgl. zu den komplexen Zahlen: „[Die komplexen Zahlen gehören] seit langem zum gesicherten Bestand der Analysis. Da es unter den reellen Zahlen kein Element c mit c? + 1 = 0 gibt (auf Grund der Ordnungsbeziehung in R ist jede solche Quadratsumme positiv), und da dies eine Unvollkommenheit derreellen Zahlen zum Ausdruck bringt, die sich häufig in Rechnungen störend auswirkt, wird durch eine nochmalige Erweiterung des Zahlenbereichs die Existenz eines Elementes mit dieser Eigenschaft (das dann natürlich außerhalb von R liegt) erzwungen.“, Remmert 1964:348. Vgl. außerdem zur Kritik an üblichen ad hoc-Verwendungen imaginärer Werte von Ingenieuren LoF:xxiv.
IL.A Kontexte der Laws of Form
25
Theoretisch können diese praktischen Lösungen aber innerhalb der beste-
henden logischen und technischen Erklärungsmuster zunächst nicht angemessen
beschrieben und erfasst werden. Die Innovation einer theoretischen Beschreibung dieses technischen Phänomens der in sich selbst zurücklaufenden Schaltkreise besteht nach Spencer Brown darin, diese durch Gleichungen mit ,imaginären Werten’ zu beschreiben. Spencer Brown unternimmt mit dem elften Kapi-
tel der Laws of Form den Versuch, die Primäre Algebra durch die Einführung von ‚Gleichungen zweiten Grades’ mit ‚imaginären Werten’ zu erweitern und
damit die technischen Anwendungen theoretisch zu fundieren.
Dieser Entstehungshintergrund der Laws of Form, aus dem Geiste des Praktischen’ ist aber nicht nur aus biographischen Gründen interessant, sondern auch in Bezug darauf, wie Spencer Brown auf der Basis dieser Erfahrung das Ver-
hältnis zwischen theoretischer Grundlagenarbeit und Praxis bestimmt. Der Austausch und das Zusammenspiel zwischen Theorie und Praxis laufen nicht nur in die eine Richtung, nämlich von der Theorie zur Anwendung, sondern auch in die andere Richtung, also von der Praxis zurück zur Theorie. Aus der prakti-
schen Arbeit gehen neue theoretische Impulse hervor, die einen längeren Suchprozess einleiten können, um etwas, das praktisch funktioniert, theoretisch beschreiben und begründen zu können. Dieser Suchprozess verläuft nicht deduk-
tiv, sondern eher wie ein Prozess des Vertrautwerdens mit dem neuen Boden, durch den dann plötzlich ein neuer theoretischer Zusammenhang aufscheinen
kann, der die Bildung eines theoretischen Gebäudes einleitet. Durch praktische Experimente und die Entwicklung von praktischem Können fokussiert sich nicht-intendiert die Aufmerksamkeit auf bisher ungewohnte Zusammenhänge, die die Voraussetzung für Erkenntnis und eigentliches Wissen ist.
Spencer Brown macht das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis produk-
tiv, indem er eine neue Form von ‚praktisch fundierter Theorie’ einführt, die sich von Theorie als reiner Beschreibung auf der einen Seite und Praxis als
bloßer Anwendung auf der anderen Seite unterscheidet. Kennzeichen sind’: a) dass aus der Entwicklung von Können und dem Vertrautwerden mit neuen
Formen erst die Möglichkeit von Wissen und Begründung erwächst*. Hierzu
°
Dieser Versuch einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen einer Theorie und ihren Gebrauchskontexten kann in den Horizont einer ganzen Reihe von Ansätzen gestellt werden, die das Verhältnis zwischen logischer Form und praktischem Gebrauch nicht extern und auBerlich denken, sondern intern und konstitutiv. Erwähnt sei die konstitutive Rolle der Anwendung im ‚angewandten Satz’ in Wittgensteins Tractatus, die Spencer Brown sicher bekannt war. Andere Neubestimmungen des Verhältnisses zwischen Logik und Anwendung finden sich z.B. bei expliziten Versuchen einer ‚pragmatischen Logik’: z.B. Brandom 2008, Putnam 2002, Dewey 2002, Quine 1975, v. Weizsäcker 1977. Vgl. dazu z.B. die Notes zum dritten Kapitel LoF:84f. Der Prozess des ,Sich-Vertraut-Machens’ (familiarize) wird in Only two can play this game sogar als Erinnerung an Verlorengegangenes bestimmt, vgl. Spencer Brown 1971:37 sowie AUM 2,10f.
26
Katrin Wille und Thomas Hölscher
gehören z.B. die praktischen Experimente für die Entwicklung neuer technib)
scher Anwendungen. dass (theoretisches) Wissen nicht durch die Mitteilung und Beschreibung von
Tatsachen gewonnen wird, sondern nur durch die Ausführung von Anwei-
sungen zu verschiedenen gedanklichen Handlungen, die in dem/der LeserIn
eine eigene (theoretische) Erfahrung erzeugt (vgl. die Ausführungen zur ‚in]unktiven Methode’ im nächsten Abschnitt). Für die Entwicklung eines derartigen Theorieentwurfs, in dem die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis unterlaufen werden soll, verwendet Spencer Brown ein differenziertes Vokabular für verschiedene Akzentuierungen der praktischen Dimension, wie z.B. Praxis als Können und Knowing-how (knowing-how), als innertheoretische und außertheoretische Anwendung (application), als Interpretation (interpretation), als Illustration (illustration), als Repräsentation (representation), als Gebrauch (use), als Anweisung (injunction). Der
Leitbegriff für die in den Laws of Form entwickelte ‚praktisch fundierte Theorie’, die für ihn zur Mathematik gehört, ist der der Anweisung (injunction). 2. Mathematik
Um die pragmatische Arbeit mit den imaginären Werten theoretisch zu fundie-
ren, geht Spencer Brown den Weg eines sich immer weiter fortsetzenden Prozesses der Vereinfachung von Strukturen bis auf den einfachsten Grund: das Treffen einer Unterscheidung. Das definierende Moment einer Unterscheidung
besteht darin, voneinander unterschiedene Zustände zu schaffen. Aus den Ei-
genschaften der einfachen Idee der Unterscheidung soll dann ein mathematischer Kalkül mit zwei Zuständen (Werten) aufgebaut werden. Die Erweiterung
des Kalküls um einen dritten, den ‚imaginären Zustand’, ermöglicht dann den
direkten Übergang zu schaltalgebraischen Anwendungen.
Der Ausgangspunkt ist ‚Unterscheidung? und nicht ‚Identität’. Dass ‚Identität’
kein Ausgangspunkt einer Theorie sein kann, zeigt sich einfach daran, dass mit
jedem Grundelement, das für eine Theorie gewählt wird, (meist implizit) eine
Unterscheidung getroffen wird zwischen dem jeweiligen Grundelement auf der einen und allen anderen möglichen auf der anderen Seite. Um die Bewegung der Vereinfachung und des Absehens von gewohnten Be-
stimmungen (mit) zu vollziehen, ist ein ‚Verlernprozess’ nötig. Zu verlernen sind alle konkreten Bestimmungen, Regeln, Qualifizierungen, Unterscheidungen bestimmter Art, Werte, Normen, Verbote, selbstverständliche Voraussetzun-
gen.’ Hinter all das ist zurück zu gehen bis hin zu dem einfachen Gedanken einer Unterscheidung zwischen zwei Zuständen. Nicht mehr und nicht weniger.* ”
10 dem Reduktionsprozess gehen wir auch hinter das isolierte Subjekt zurück, es wird gerade
nicht von einem eigens unterschiedenen Beobachter ausgegangen. Vgl. dazu in der Note on the
IT. A Kontexte der Laws of
Form
27
Dieser Verlernprozess hat in Spencer Browns Verständnis eine theoretisch-
strukturelle
und
eine
gesellschaftlich-moralische
Ebene,
und
die
,Selbst-
Analyse’ bis hin zur einfachsten Form kann mathematisch und auch psychologisch verstanden werden.’ Einfach eine Unterscheidung getroffen zu haben und
zwei Zustände zu haben, nennt Spencer Brown ‚mit der Form zu beginnen’."°
Dabei zeigt sich, dass die Form gleichzeitig der ,Ort maximaler Entleerung und maximaler Verdichtung ist. Ohne jede konkrete Bestimmung (und in diesem
Sinne völlig leer) liegt in der Form ein gemeinsamer Vorläufer für alle strukturellen Möglichkeiten, die erst durch schrittweise Differenzierungen auseinander
treten. Zu den Möglichkeiten, die dieser Rückgang zur Form birgt, schreibt der Interpret Louis Kauffman:
„Once we follow a structure back into what seems to be its essential simplicity, there is a new and wider view available, and this view compounded with what we already knew, leads to a new way to hold the entire matter and more possibility to move into even deeper simplicity. ... By moving into simplicity, we make room for a world with even greater complexity‘.''
Und über dieses Wagnis, die Grenze zwischen Einfachheit (simplicity) und Auflösung (vanishing) zu erkunden, heißt es anderswo:
„As things nearly vanish, we reach regions where apparently distinct domains touch, join and become 006.“ ^
Spencer Brown versteht die Laws of Form als ein mathematisches Werk, nicht als ein philosophisches oder logisches. /nhaltlich besteht sein Anspruch darin,
die Theorie der Booleschen Algebren einerseits mit einer zugehörigen Arithmetik zu fundieren und andererseits mit Gleichungen höheren Grades unter Ver-
wendung imaginärer Werte zu erweitern. Methodisch wählt er eine Form der Darstellung, die er in Beweisverfahren der akademischen Disziplin Mathematik
"0
Mathematical Approach: „The act is itself already remembered, even if unconsciously, as our first attempt to distinguish different things in a world where, in the first place, the boundaries can be drawn anywhere we please. At this stage the universe cannot be distinguished from how we act upon it, and the world may seem like shifting sand beneath our feet.” LoF:xxix. Der Prozess des Verlernens, des weitest möglichen Zurückgehens hinter Voraussetzungen, erinnert an das philosophische Verfahren des methodischen Zweifels, wie es vor allem von Descartes bekannt ist. Spencer Brown führt dieser Weg aber gerade nicht zum ,cogito’, sondern zu der selbstreferentiellen Form, wie im Kommentar zum zweiten Kapitel gezeigt wird. Vgl. AUM 1,3 und 1,9: „no quality other than being states”, „...we defined states without any concept of distance, size, shape --only of difference.” Damit ist auch nicht gemeint, dass die Zustände irgendeine Größe oder irgendeine Dauer haben sollen, es sollen all diese Bestimmungen hintergangen, unterschritten werden, vgl. AUM 1,10. Vgl. AUM 1,3 sowie: „One has to break every law, every rule, that we are taught in our upbringing. And why it is so difficult to break them, is that there is no overt rule that you may not do this, why it is so powerful is that the rule is covert.”, AUM 1,13. AUM 1,6
^
Kauffman 1998a:63
®
>
''
Kauffman 2000b:92
28
Katrin Wille und Thomas Hölscher
vorgeprägt findet. Das Charakteristische seines Vorgehens nennt er ‚injunktiv’,
wodurch die LeserInnen zu mitvollziehenden Denkhandlungen aufgefordert werden und die Darstellung aus dem Wechselspiel zwischen Aufforderung, Ausführung und Betrachtung ihren theoretischen Aufbau gewinnt. Der inhaltliche Anspruch: Die Primäre Arithmetik und die Theorie imaginärer Werte
Mit den Laws of Form will Spencer Brown eine Fundierung und eine Erweiterung der Theorie'* der Booleschen Algebren vorlegen. Beide Projekte hängen zusammen: Eine Erweiterung der Theorie der Booleschen Algebren um einen
dritten, ‚imaginären’ Term neben den Termen ,1’ und ‚0’ kann nach Spencer Brown nur dann hinreichend motiviert sein, wenn das theoretische Interesse sich
auch auf die Möglichkeiten der Ableitung der beiden üblichen Terme der Booleschen Algebren ,0’ und ,1 richtet. Damit wird eine ,protoboolesche’ Forschungsperspektive eingenommen, die nicht mit den Termen und Operatoren der Theorie der Booleschen Algebren einsetzt, sondern die nach Möglichkeiten
fragt, diese Theorie aus nur einer einzigen Idee abzuleiten und damit maximal einfach und hinreichend komplex in der Kalkülentwicklung einzusetzen. Diese Bedingungen maximaler Einfachheit und hinreichender Komplexität werden durch die Form der Unterscheidung erfüllt, die entsteht, wenn eine Unterscheidung getroffen wird, deren Resultat zwei Zustände sind. Die einfachste Art, die Beziehung zwischen diesen beiden Zuständen zu denken und formal darzustellen, besteht in einem anderen ‚Differenzmodus’
als dem der
üblichen binären Differenz zwischen 0 und 1 oder — im Modell der Aussagenlogik — wahr und falsch. Im zweiten Kapitel der Laws of Form wird entwickelt, dass der einfachste semiotische Ausdruck dieser beiden Zustände in der Markierung des einen Zustandes und der Nicht-Markierung des anderen Zustandes liegt. In der semiotischen Nutzung der Nicht-Markierung, des ‚leeren Raumes’,
die die Rückbeziehung auf die Form der Unterscheidung erlaubt, liegt eine wesentliche Vereinfachung. Die andere wichtige Vereinfachung besteht darin, dass das Markierungszeichen für den einen Zustand gleichzeitig als Zeichen für das, auf das operiert wird (den Operanden, also den Zustand) wie als Operationszei-
chen (als Operator) verwendet werden kann. Die dritte wesentliche Vereinfa-
chung bezieht sich auf die Eigenschaften des Zeichens in seiner Funktion als Operationszeichen. Denn der dadurch ausgedrückte Operator ist nicht auf einen einstelligen oder binären Geltungsbereich eingeschränkt. Die vierte Vereinfachung ist die, dass bei Kombination verschiedener Vorkommnisse des formalen
3 Vgl. AUM 4,6. *
Mit der Theorie Boolescher Algebren sind Sätze über die Booleschen Algebren gemeint, die in allen Modellen, Interpretationen der Booleschen Algebren gelten.
IT.A Kontexte der Laws of
Form
29
Zeichens zu einem komplexen Ausdruck die Reihenfolge der Zeichen keine Relevanz hat. Die Notation ist nicht linear, sondern zweidimensional.'° Mit diesem ,Minimalinventar’ an Zeichen kann auf die beiden verschiede-
nen Zustände der Form der Unterscheidung hingewiesen werden. Aus der Form der Unterscheidung ergeben sich zwei Grundregeln, Hinweise auf diese beiden
Zustände zu kombinieren. Dies führt zur Entwicklung einer (Primären) Arithmetik, die Spencer Brown als Wissenschaft von Konstanten und deren Bezie-
hungen bestimmt.'° Metaphorisch spricht Spencer Brown für seine Primäre Arithmetik auch von ,Individuenforschung’, während die Primäre Algebra Wissenschaft von den Beziehungen von Variablen ist, um in der Metapher zu blei-
ben: eher ‚soziologische Forschung’.'’ Seine These ist, dass es zu jeder Algebra, der Ebene der Variablen, d.h. des Generellen, eine Arithmetik, die Ebene der Konstanten, d.h. des Individuellen geben muss. Und diese Ebene ergibt sich eben durch die Ableitung von zwei verschiedenen Zuständen aus der Form der
Unterscheidung.
Damit fällt Spencer Brown aber nicht hinter eine Entwicklung innerhalb der Mathematik zurück, in der Mathematisierbarkeit und Quantifizierbarkeit ausein-
ander getreten sind und Mathematik sich gerade von dem Gegenstandsbereich der Zahlen und Größen gelöst hat. In An Investigation of the Laws of Thought
von George Boole heißt es z.B.: „[Die] Natur des Mathematischen [ist] nicht dadurch bestimmt, dass [sie] von Zahl und Quantität handelt‘“'*. Mathematik und genauer die abstrakte symbolische Algebra kann dann viel allgemeiner als Wissenschaft von symbolischen Operationen verstanden werden. Dieses algebraische System symbolischer Operationen kann für die verschiedensten Bereiche interpretiert werden, einer ist der Bereich der Eigenschaften der Zahlen, mögliche andere wären geometrische Probleme oder elektrotechnische Schaltkreise. Spencer Browns Entwicklung einer neuen Arithmetik für die abstrakte symbolische Algebra soll erklärtermaßen eine nicht-numerische Arithmetik sein. Mathematik im Sinne Spencer Browns ist nicht die Wissenschaft von Größen, sondern die Wissenschaft der Unterscheidungen bzw. der Hinweise auf Unterscheidungen. Die algebraischen symbolischen Operationen müssen also an die
”
6°
Spencer Brown spricht bei den beiden letzten Punkten von verdeckten Verboten, die mit unseren linearen Notierungsgewohnheiten zusammenhängen und die wir uns als Voraussetzungen meist gar nicht mehr bewusst machen. Darin liegt ihre Verdecktheit und scheinbare Selbstverständlichkeit. Vgl. dazu Spencer Brown 1997:xv und LoF:88-89, 92. Vgl. zu diesem Punkt auch Varga/ Matzka 1993 sowie den Kommentar zumzweiten Kapitel. Vgl. AUM 2,3.
”
Boole 1854:12
7
Vel. AUM 2,2.
30
Katrin Wille und Thomas Hölscher
Form der Unterscheidung zuriick gebunden werden, und genau das will die nicht-numerische, Primäre Arithmetik leisten.'? Dieser allgemeinere Begriff von Arithmetik zeigt, dass diese Wissenschaft
nicht auf die Elemente des Rechnens mit Zahlen festgelegt ist, wie es durch die Schulmathematik nahe gelegt wird. Die ,Konstanten’ und ,Individuen’, um die es in der Arithmetik geht, können, müssen aber keine Zahlen sein. Die Primäre Arithmetik versteht sich als eine der üblichen Zahlenarithmetik vorangehende Arithmetik, eine Art ,Protoarithmetik’, in der die Konstanten (Individuen) durch den einfachen Prozess der Unterscheidung gewonnen werden. In der Arithmetik
zeigt sich, ‚wie sich die Konstanten verhalten’ (how they perform”) und wie ihre Beziehungen zu bestimmen
sind.*' Die maximale
Vereinfachung
in der
Primären Arithmetik führt zu Ergebnissen, die so simpel und einfach sind, dass
sie ,gesehen’ werden können. Dies ist ein Kennzeichen für diese Ebene von ‚Protomathematik’. Auf der Basis der Lehre von diesen einfachsten Konstanten, der ,Primären Arithmetik’, wird die ‚Primäre Algebra’ errichtet, die Relationen und Beziehungen zwischen Variablen betrachtet, unabhängig von bestimmten Gegenstandsbereichen.
Spencer Brown legt mit den Laws of
Form einen Indikationenkalkül (calculus of
indications) vor. Dies ist ein Äquivalenzenkalkül, in dem Schemata für die
Transformation von Äquivalenzbeziehungen entwickelt werden. Die Bezeichnung des Kalküls als Indikationenkalkil ist überraschend und wirft die Frage auf, ob für diesen Typ von Kalkül das entscheidende Merkmal moderner Kalkü-
lisierung“, nämlich Formalität überhaupt, erfüllt ist. Der Kalkül ist formal,
wenn die verwendeten Symbole für nichts stehen, interpretationsfrei sind, also keine extrasymbolische Bedeutung haben. Die Symbole des Indikationenkalküls stehen für nichts und sind interpretationsfrei. Sie sind aber Hinweise auf die Zustände der Form der Unterscheidung. Die Symbole des Kalküls weisen ge-
wissermaßen auf das hin, was sie selbst sind: Unterscheidungen. Damit ist aber kein bestimmter Gegenstandsbereich aufgerufen und keine Interpretation gegeben, sondern vielmehr die Möglichkeit von Formen und Formalität überhaupt berührt. '?
”
21
22
Kauffman führt aus, dass die Primäre Arithmetik der geschlossenen Formen ein fundamentales
Muster sei, das der ‚First Order Logic’ unterliege. Die ‚First Order Logic’ gehe daraus hervor. Das sei ein Gedanke, an den man sich erst zu gewöhnen habe und der einen sehr anderen Blickpunkt auf Logik gäbe, denn Logik sei nicht mehr als die Eigenschaften des Aktes der Unter-
scheidung, vgl. Kauffman 2001b:90.
AUM 2,3
Vgl. AUM 2,3: „Not just to find the constants, because that would be, in terms of arithmetic of numbers, only to find the number. But to find out how they combine, and how they relate — and that is the arithmetic.” Vgl. zu einer Typologie von Merkmalen moderner Kalkülisierung Krämer 988:176ff.
IL.A Kontexte der Laws of Form
31
Aus der Form der Unterscheidung werden auch die beiden Axiome des ersten Kapitels der Laws of Form gewonnen. Die Axiome bilden also nicht den Ausgangspunkt, vielmehr gilt es von der Form der Unterscheidung her zu sehen, wann und unter welchen Bedingungen es überhaupt Sinn macht, von der Ce/tung von Grundsätzen (und dann der Grundgleichungen) zu sprechen. Vorausgesetzt sein müssen die Möglichkeiten des Prozesses der Unterscheidung. Dies
ist der Rahmen, innerhalb dessen Prozesse wiederholt werden können und erst auf der Ebene, auf der Wiederholung denkbar wird, können Grundsätze, hier
zwei Axiome, überhaupt gelten. Im Anschluss an die beiden Axiome und durch die Bildungs- und Transformationsregeln für Ausdrücke können dann Theoreme abgeleitet und bewiesen werden. Hierunter fallen nach Spencer Brown auch Sätze, die in üblichen Systemen den Status von Postulaten bzw. Axiomen ha-
ben.”
Spencer Brown entwickelt die drei Teile der Laws of Form, die Primäre Arithmetik, die Primäre Algebra und die erweiterte Algebra, wie gezeigt bewusst in Absetzung zur üblichen Arithmetik und Algebra, zur Theorie der Booleschen
Algebren und zu gängigen Versuchen, mit selbstreferentiellen und paradoxen Ausdrücken umzugehen, wie z.B. der Russellschen Typentheorie.
Die Gleichungen ersten Grades in der Primären Arithmetik und der Primären Algebra arbeiten im Rahmen der beiden Zustände der Form der Unterscheidung.
Die Gleichungen zweiten Grades der erweiterten Algebra entstehen durch das Hinzukommen einer anderen Dimension. Diese neue Dimension interpretiert Spencer Brown als selbstreferentielle Figur und spricht bei Gleichungen dann von Selbstreferentialität, wenn der Ausdruck, der bestimmt werden soll (,x’), in dem Ausdruck, durch den er bestimmt werden soll, selbst vorkommt oder, anders gesagt, wenn der Ausdruck, der bestimmt werden soll, in den, durch den er bestimmt werden soll, ‚wieder eintritt’.
Die Figur des Wieder-Eintritts oder ‚Re-entry’ charakterisiert die verschie-
denen Gleichungen zweiten Grades der erweiterten Algebra. Ein Typ von Glei-
chungen zweiten Grades nötigt zur Erweiterung der beiden bisherigen Zustände
um einen dritten, imaginär genannten Zustand (imaginary state).“ Dieser dritte Zustand ergibt sich durch die Oszillation zwischen den beiden anderen Zuständen, ist also eine Art Zwischenzustand, der das, was er ist, auch nicht ist.
2
”
Vgl. im Unterschied dazu die Rolle von Axiomen in der Logik: „Axiome gelten als ‚evidente’ Prinzipien, welche als eines Beweises nicht bedürftig an den Anfang gesetzt werden. Es sei betont, dass diese Axiome lediglich in Bezug auf den bestimmten Kalkül und in der Theorie T keines Beweises bedürfen; es bedeutet nicht, dass die Axiome nicht anderweitig gerechtfertigt werden müssten. Für jemanden, der z.B. keine unendlichen Mengen zulassen will, besitzt das Unendlichkeitsaxiom keine Rechtfertigung, auch wenn es ein Axiom von ZF ist.“ Link/ Niebergall 2003:119.
Vel. den Kommentar zum elften Kapitel.
32
Katrin Wille und Thomas Hölscher
Spencer Brown deutet an, mit der Idee der imaginären Werte in der erweiter-
ten Algebra auch einen Weg für den Umgang mit Paradoxien in der Logik gefunden zu haben, wie z.B. dem Satz ,Dieser Satz ist falsch.’, der dann wahr ist, wenn er falsch ist oder dann falsch ist, wenn er wahr ist. Denn zwischen den
Gleichungen zweiten Grades mit ungeradzahligen ,Re-entries’ in seinem erwei-
terten Kalkül und den paradoxen Sätzen besteht nach Spencer Brown eine Analogie. In allen diesen Fällen findet sich eine selbstreferentielle Struktur mit Ne-
gation. Die Lösung paradoxer Sätze?” kann nach Spencer Brown genau wie die
Lösung von Gleichungen zweiten Grades mit ungeradzahligen
‚Re-entries’ in
einem dritten, oszillierenden Zustand liegen. Dadurch besteht die Möglichkeit,
den eigenen theoretischen Rahmen zu erweitern, ohne solche Strukturen in einer
Art Präventivverfahren verbieten zu müssen, wie es z.B. die Typentheorie von Russell und Whitehead versucht. Injunktive Methode
In der Mathematik, wie Spencer Brown sie versteht, wird keine Aussage über
das gemacht, was ist. Dies ist eine Konsequenz aus dem oben beschriebenen
Reduktionsprozess, den Spencer Brown auch als einen von Existenz auf Wahrheit, Wahrheit auf Bezeichnung, Bezeichnung auf Form und Form auf Leere
bestimmt?’. Es werden keine Existenzaussagen getroffen. Dies heißt aber nicht
nur, sich der Existenzaussagen zu enthalten, sondern auch, die Idee der Existenz auf ihre Vorläuferin zu reduzieren, also die Idee von (selbständig) Bestehendem
fallen zu lassen. In diesem Prozess begegnen wir der Idee der Wahrheit, also der Übereinstimmung zwischen Repräsentation und Wirklichkeit. Aber auch diese Idee der Wahrheit fällt in der Bewegung der Reduktion, da es ohne die Idee
einer existierenden Wirklichkeit auch keinen Sinn mehr macht, von der Übereinstimmung zwischen Repräsentation und Wirklichkeit zu reden. Es bleibt die Idee des Hinweisens, die aber auf die Idee der
Form reduziert werden muss,
weil das, worauf hingewiesen werden kann, nicht einfach so vorhanden ist (das ist die Idee der Repräsentation, die wahr oder falsch sein kann), sondern als komplexe Form generiert wird. Diese Form hat aber keinen Bestand, sie hat keine Existenz, sondern muss in immer neuen Akten generiert und aufrechter2
27
Paradoxien können nach einem Grundmuster folgender Art gebildet werden: Verbindung von
Information über die Welt mit semantischer Information in einem Satz. , drückt aus, dass y wahr ist.’; Negation ‚$ drückt aus, dass w falsch (nicht wahr) ist.’; Reflexive Verwendung des Schemas ,@ drückt aus, dass ⑪ wahr ist.” Diese Funktion, etwas von sich selbst auszusagen, können indexikalische Ausdrücke übernehmen. (Indikatoren = sprachliche Zeichen, die abhängig von der Äußerungssituation, in der sie verwendet werden, auf einen Gegenstand verweisen.) Nehmen wir alle Bedingungen zusammen, ergibt sich das Schema: ,O drückt aus, dass 9 falsch ist.” vgl. Link/ Niebergall 2003:109. Vgl. Spencer Brown 1997:x.
Vel. die Notes zum elften Kapitel LoF:101.
IL.A Kontexte der Laws of
Form
33
halten werden, sie berührt die Grenze zum Verschwinden und löst sich auf, wenn kein Hinweis mehr erfolgt — so kann sie letztlich auf die Leere reduziert
werden. Dies sagt uns etwas über den Typ mathematischer Sätze und auch über die Methode, mathematische Sätze zu lesen und zu verstehen. Mathematische Sätze drücken aus, was erscheinen würde, wenn es könnte, Möglichkeiten, die sich im
Reduktionsprozess erschlieBen.~ Es gehört zum Charakter der in den Laws of Form vorgenommenen Reduktionsbewegung, dass auch Raum und Zeit nicht als bestehende Strukturen vorausgesetzt werden, sondern der Ort ihrer Entstehung und damit die Möglichkeit ihrer mathematischen Verwendung markiert
wird. Spencer Brown spricht von einem ersten Raum (first space), der durch die erste Unterscheidung (first distinction) zwischen Zuständen gemessen wird.
Raum ist das, was wäre, wenn es eine Unterscheidung geben könnte.” Die erste
Zeit (first time) wird durch die Bewegung der Oszillation zwischen den Zuständen bestimmt und hat keine Dauer. Zeit ist das, was wäre, wenn es eine Oszilla-
tion zwischen Zuständen geben könnte.”
Beschreiben wir die Ebene der ersten Unterscheidung in der normalen Sprache, dann stehen wir vor dem großen Problem, dass die Qualitäten der Beschreibung nicht zu den Qualitäten dessen, was beschrieben wird, gehören.
Deshalb braucht es eine Notation, bei der die Beschreibung und das Beschriebene strukturanalog sind.*' Die Notation aus der Alltagssprache heraus zu verste-
hen, ist sehr schwierig und gelingt nur, wenn man ‚gesehen hat’, worum es dort geht.
Die Sätze der Mathematik nach Spencer Browns Verständnis sind als Aufforderungen zu verstehen, als /njunktionen, theoretische Prozesse selbst zu voll-
ziehen. Denn der spezifisch mathematische Reduktionsprozess ist nur zu verstehen, wenn er realisiert wird, da ‚Form’ ja nichts für sich Bestehendes, sondern
nur als Generationsprozess zugänglich ist. Spencer Brown entwirft damit in konsequenter Form einen eigenen Erkenntnismodus, er sei ‚injunktiver Erkennt-
nismodus’ genannt.
28
” ? ”
AUM 1,12: „We represent what doesn’t actually happen but might happen, if it could” und AUM 4,3: „The universe is simply what would appear if it could“ sowie ,,Its laws are the laws of the possible, called by Sakyamuni ..., called by me the calculus of indications. Each teaches exactly the same teaching, how what cannot possibly be anything comes to appear as if it were something“, LoF 1994:vin.
Der ‚first space’, der einfach durch die Unterscheidung entsteht, hat noch keine Größe und
daher keine Maßstäbe. Deshalb kann es auf dieser Ebene (vgl. AUM 2,4) noch keine Geometrie geben, hier sind Primäre Arithmetik und Geometrie noch kondensiert.
Vgl. AUM 1,9. ywAnd in talking about the system, the qualities in the description do not belong to what we are describing“ (AUM
1,10). Es gilt also eine Sprache zu entwickeln, die, mit Wittgenstein gesagt,
die richtige ‚logische Mannigfaltigkeit’ hat.
34
Katrin Wille und Thomas Hölscher
Dieser ,injunktive Erkenntnismodus’ ist uns nicht ohne weiteres zugänglich
und will geübt sein. Dazu gehört, alle Verwendungen von ,ist’ durch: ‚lasst uns
so tun, als ob’ zu ersetzen. Außerdem gehört zur Realisierung des ‚injunktiven Erkenntnismodus’ ein systematisches Verlernen von Unterscheidungskomplexi-
täten, die in unserer natürlichen Sprache immer schon vorausgesetzt scheinen.
Befolgen wir nämlich einfach nur die Aufforderungen, die in den Laws of Form zu Beginn des Kalküls für die Konstitution der ersten Unterscheidung gegeben werden, dann können wir dabei auch übliche Ebenen von Unterscheidungskomplexitäten über- und unterschreiten, bis die Form der Unterscheidung selbst
gesehen werden kann.” Zu verstehen (understanding”’) heißt, Ebenen tiefer gehen zu können, sich ‚unter etwas Bisheriges, Gewohntes stellen zu können’
(standing under) und damit die Kompetenz zu entwickeln, zwischen verschiedenen Ebenen hin und her zu gehen.” Dies kann aber nicht in der Sprache ausgesprochen, also deskriptiv beschrieben werden, sondern es muss eine (theoreti-
sche) Erfahrung vermittelt werden, durch die etwas gesehen werden kann, erst
dann ist Verstehen möglich.”
Zu Spencer Browns Theorieaufbau gehört demnach wesentlich das Verfahren der Injunktion, das die Beschränktheiten der deskriptiven Alltagssprache, aber auch aller Formen von deskriptiver Kunstsprache zu überwinden vermag. Dies Verfahren ist ein quasi praktisches Gehen und damit Erschaffen eines theo?? »
»#
Vel. vor allem das zweite Kapitel der Laws of Form.
Because understanding means literally what it says: You go into another level and stand under.” AUM 4,4. Vol. AUM 4,4. Dort wird ausgeführt, dass dann, wenn alles nur auf einer Ebene gesehen wird, Widersprüche auftauchen. Unsere Sprache ist nicht so gemacht, dass wir verschiedene Ebenen hin- und rücküberschreiten können, es braucht Training. Der injunktive Gebrauch der Sprache steht dem deskriptiven entgegen und transportiert keine Meinungen (AUM 4,5). Für die Idee von Ebenen (levels) und Ebenenwechsel bezieht sich Spencer Brown auf das Buch von Rolt
(Übersetzung und Einführung. 1920) über die Engelshierarchien und die Heiligen Namen von
Dionysios Areopagita, einem spätantiken mystischen Theologen. Dass dies eine wichtige Anregung für Spencer Brown war, hauptsächlich die Fundierung seiner nicht-numerischen, formalen Mathematik betreffend, geht aus den akzentuierten Hinweisen in AUM (1,10f. und 4,2 und 4,4) und aus den Bücherempfehlungen von Only two can play this game hervor, wo es als eigener Titel angeführt ist. Dort heisst es: „Much of what is in this book is confirmed, with a very different method, in the next book [und das ist: Laws of Form selber]. The reader’s attention may be drawn, for example, to the parallel accounts of the emergence of time...“, Spencer Brown
”
1971:108f.
Denn in der Sprache, die physikalische Verhältnisse beschreibt, werden immer schon sehr komplexe, nach Spencer Browns Beschreibung mehrfach in sich selbst wieder eingetretene Un-
terscheidungen verwendet, auf die innerhalb der Sprache nicht verzichtet werden kann. Vgl. zum Wechsel von ‚seeing’, ,bemg und ‚doing’ AUM 4,2.
Vgl. auch das Verhältnis der Formen des Verstehens ‚communion’ und ‚communication’. Je
mehr gemeinsame Erfahrung (communion) da ist, desto weniger Kommunikation in der Wortsprache (communication) ist nötig. Je weniger gemeinsame Erfahrung da ist, desto mehr Kommunikation in der Wortsprache ist nötig, vgl. dazu AUM 3,2.
IL.A Kontexte der Laws of
Form
35
retischen Weges, der eben dadurch entsteht und gewusst werden kann. Die Injunktion, die diese Erfahrung vermittelt, unterschreitet die Differenz zwischen der aktiven Handlung eines Akteurs, der sich als Ursache versteht, auf der einen Seite und eines passiven Ereignisses auf der anderen Seite. Auf diese Weise
werden die üblichen Grenzen zwischen experimenteller und deduktiver Metho-
de und zwischen Theorie und Praxis eigentümlich verschoben.*
Der Typ der mathematischen Sätze und der ihm angemessene injunktive Erkenntnismodus haben erkenntnistheoretische Implikationen. Diejenige Erkenntnis ist adäquat, die den Generationsprozess von Unterscheidungen (mit)vollzieht. Durch das Treffen von Unterscheidungen entstehen Welten, die je nach Ebene und Unterscheidungskomplexität je andere sind.” 3. Logik
Spencer Brown versteht die Laws of Form als zur Mathematik und nicht zur Logik gehörig. Denn eine Untersuchung über die Gesetze der Form liefert den
elementaren Rahmen, innerhalb dessen z.B. die Aussagenlogik arbeitet. Er ver-
steht Mathematik wie die Grundlagenwissenschaft, Logik wie eine Anwendung
dieser mathematischen Grundlagen. Dieses Grundlagen-Anwendungsverhältnis bezieht er vor allem auf seine Laws of Form auf der einen und die Aussagenlo-
gik auf der anderen Seite.“ Spencer Brown bestimmt die Aussagenlogik als Interpretation des Indikationenkalküls aus den Laws of Form.” Dies gilt genauso für die Schaltalgebra, die auch als /nterpretation des Indikationenkalküls beschrieben wird: „The same mathematics underlie both, but it is not the same
as any one of its interpretations.“
Der zentrale Begriff für die Verhältnisbestimmung zwischen mathematischem Indikationenkalkül und Aussagenlogik, der der Interpretation, hat in Spencer Browns Verwendung folgende Kontur. Mit Interpretation ist nicht nur
%
7
3 ”
”
Die Grenzen, die Wittgenstein der Sprache in Satz 7 des Tractatus zieht, gelten nach Spencer
Brown nur für die deskriptive Sprache und werden seines Erachtens durch das injunktive Verfahren aufgehoben, vgl. Notes zum zweiten Kapitel LoF:77. Das Konzept der Injunktivität versteht sich ausdrücklich als Alternative zu Wittgensteins Tractatus. Allerdings hat Wittgenstein selbst mit diesen beiden Sprachmodi gearbeitet, vgl. z.B.: „Jede Vorschrift kann als Beschreibung, jede Beschreibung als Vorschrift aufgefasst werden.“ Philosophische Bemerkungen, 59. Zu den erkenntnistheoretischen Implikationen vgl. Spencer Brown 1994a:34. Dort kritisiert er einen ‚Trick’, der „dazu dient, uns das Tun vergessen zu lassen, mit dem wir sie [die physische Welt] so gemacht haben, wie wir sie nun vorfinden.“
[LJogic is not, and never has been, a fundamental discipline“, LoF:xi. Vgl. auch die Notes zum
elften Kapitel: „Thus the relation of logic to mathematics is seen to be that of an applied science to its pure ground...“, LoF:102. Hierzu wieder über den Unterschied in der ‚Introduction’ von 1967: ,, Thus the subject matter of logic, however symbolically treated, is not ... a mathematical study.“, xxviii. (Hvhb. K.W. und
T.H.) AUM 12
36
Katrin Wille und Thomas Hölscher
wie sonst für Kalküle üblich die Zuordnung von Werten zu Ausdrücken gemeint, sondern der Zusammenhang zwischen einer Theorie mit einer einfacheren und einer mit einer komplexeren Syntax. Die Theorie mit der einfacheren Syntax kann deshalb grundlegender genannt werden, weil gezeigt werden kann,
wie die komplexeren Theorien sich auf der Basis der einfacheren aufbauen las-
sen. In diesem Sinne können die komplexeren Theorien als Interpretationen der einfacheren verstanden werden. Die höhere Komplexität der Aussagen- und Prädikatenlogik zeigt sich an ihrer aus Spencer Browns Sicht viel zu komplizierten Syntax, wodurch verschiedene theoretische Möglichkeiten eher verbaut als ermöglicht werden. Die Sprache der Aussagen- und Prädikatenlogik enthält Symbole verschiedenen Typs, solche für Sätze (p, q) oder Dinge (x, y), Symbole für Eigenschaften (G, F), solche für Beziehungen wie Symbole für Relationen (R) und solche für Operato-
ren wie Symbole für Zusammenfassungen (V,3) und Symbole für Verknüp-
fungsoperationen (一 , A, v, >, ). In der mathematischen Sprache des Indika-
tionenkalküls dagegen sind all diese Unterscheidungen zwischen Formeln, Relationszeichen, Termen und Operatoren in dem Zeichen | kondensiert. Damit entwickelt Spencer Brown eine möglichst einfache Syntax (soweit hier überhaupt von Syntax im Unterschied zu Pragmatik und Semantik gesprochen werden kann), in der verschiedene Funktionen nicht durch je eigene Symboltypen,
sondern durch verschiedene Gebrauchsweisen im Kontext ausgedrückt werden
können.“
Der Ort der Aussagen- und Prädikatenlogik ist aus der Sicht Spencer Browns
nah an der Grammatik, nah an der natürlichen Sprache. Wie die Grammatik die Analyse der sprachlichen Konstruktionen ist, so sind Aussagen- und Prädikatenlogik die Analyse und die Formulierung der Strukturen und Regeln, die in Argumenten verwendet werden. Damit ist die Sprache der Aussagen- und Prädika-
tenlogik wie die der Grammatik aber eben zu komplex, um die Ebene der ersten
Unterscheidung ausdrücken zu können.” Spencer Brown sucht in den Laws of
Form eine Begründung für die Wahl seiner Syntax, die nicht auf die Alltags-
sprache zurückgreift und auch nicht (nachträglich) durch die Resultate und die Leistungskraft des Kalküls gegeben wird. Diese Begründung findet er in der Form der Unterscheidung.
Zu dem Interpretationsverhältnis zwischen mathematischem Indikationen-
kalkül und Aussagen- und Prädikatenlogik gehört die Möglichkeit der Uberset-
zung der Ausdrücke der Theorie mit der einfacheren Syntax in die Ausdrücke ‘!
2
Bei dieser Kondensation geht es nicht nur darum, dass sich ein vollständiges formales System auf nur einem Operator aufbauen lässt. Dies ist z.B. durch den Sheffer-Strich und den PeircePfeil schon anderweitig nachgewiesen. Das Besondere ist, dass die verschiedenen Symboltypen kondensiert werden. Dadurch wird eine formale Sprache entwickelt, die keine scharf individuierten Objekte, für die es einen eigenen Symboltyp braucht, voraussetzt. Vgl. AUM 1,11.
II.A Kontexte der Laws of Form
37
der Theorie mit der komplexeren Syntax. Im Appendix 2 , The calculus interpreted for logic’* legt Spencer Brown eine solche Übersetzungsmöglichkeit vor. Die genauen Zuordnungen zwischen den Ausdrücken der verschiedenen Spra-
chen sind nicht festgelegt, sondern lassen Spielraum fiir konventionelle Ent-
scheidungen. Die Zuordnung von ,marked state’ zu Wahrheit (W) oder ,unmarked state’ zu Falschheit (F) lieBe sich z.B. auch vertauschen.
Jede Theorie mit komplexerer Syntax, die in diesem Sinne als /nterpretation der Theorie mit der einfacheren Syntax verstanden werden kann, ist nach Spencer Brown in ihrem Anwendungsbereich eingeschränkter als die Theorie mit der einfacheren Syntax. Die Theorie mit der einfacheren Syntax ,unterliegt’ denen mit komplexerer Syntax und liefert für diese gewissermaßen einen gemeinsamen Vorläufer. Dies eröffnet auch die Möglichkeit, die Interrelationen zwischen den verschiedenen Symboltypen in komplexeren Sprachen als verschiedene Aspekte von Unterscheidungen und Hinweisen zu betrachten. Bei der Interpre-
tation des Indikationenkalküls bleibt so immer ein Ebenenunterschied bestehen,
es wird also nicht nur eine Ubersetzung in gleichwertige Sprachen vorgenommen. Dies zeigt sich an der Ubersetzung bzw. Interpretation des ,cross’ des Indikationenkalküls als non-Operator in der Aussagenlogik. Es wird durch diese
Interpretation eine von verschiedenen möglichen Gebrauchsweisen des ,cross’ herausgegriffen, nämlich die, invertierender Operator zu sein. Dadurch, dass diese Gebrauchsweise von den anderen Gebrauchsweisen getrennt wird, entsteht eine andere Sprache als die, in der das ‚cross’ einfach ,iiberschreite’ heißt. Diese Interpretation ist eine Repräsentationsentscheidung, die den Möglichkeitsspiel-
raum des ,cross’ einschrankt.“
4. Daoismus, Buddhismus
Spencer Brown hat die Laws of Form von der ersten Auflage an in den Kontext ostasiatischer Kulturen gestellt. Das Motto stammt aus einem Basistext des philosophischen und religiösen Daoismus, dem Daodejing*. In den späteren Vorworten nimmt Spencer Brown zunehmend auf den Buddhismus Bezug.” Im
Vordergrund stehen dabei die Themen ,Nichts’ und ,Leere’, die in ihrem kosmologischen Aspekt (Entstehung aus dem Nichts) und in ihrem semiotischen
Aspekt
(Zeichenlosigkeit
und Namenlosigkeit)
anklingen.
Aus
der weitver-
zweigten Tradition des Buddhismus nimmt Spencer Brown den zentralen Gedanken der ‚abhängigen Koproduktion’ (Pratityasamutpäada) auf und konzent-
% %
Vel. IV.A Appendizes.
„We have only made it representative of ‘not’ for the purpose of interpretation ...”, AUM 1,12. Vgl. Kommentar zum ;0. Kapitel”. Vgl. Vorstellung der internationalen Ausgabe von 1985 in LoF:1997, Vorwort von LoF:1994
sowie in Spencer Brown 1971 und vor allem 199.
38
Katrin Wille und Thomas Hölscher
riert sich dabei auf dessen methodische Möglichkeiten als eine Art von Relationalität.
Spencer Brown rückt die Laws of Form durch diese Bezüge auf ostasiatische Traditionen in Kontexte, die für die westliche mathematische, wie auch logische und philosophische Theoriebildung immer noch ungewöhnlich sind (trotz Aus-
nahmen wie Leibniz oder Smullyan). Diese Kontexte sind nicht nur durch Spra-
chen gekennzeichnet, die zum Teil grundsätzlich anders funktionieren als die
westlichen (das gilt vor allem für das Chinesische*’) und deren Traditionen ganz
andere Begriffsbildungen (falls sich davon sprechen lässt) entwickelt haben. In diesen Traditionen findet sich meist auch eine andere Vorstellung von Theorie, die Ethik, Ontologie, Logik, Epistemologie und Soteriologie” umfasst und nicht als ‚Disziplinen der Philosophie’ und als ,Theologie’ oder ‚Religion’* voneinander isoliert werden. Die theoretische Betrachtung der Wirklichkeit und die
Erkenntnis von ‚Objekten’ wird immer mit Selbsterkenntnis und Transformation seiner selbst in Zusammenhang gebracht. Spencer Brown führt die Zusammenhänge, die er zwischen den Laws of Form und den ostasiatischen Traditionen sieht, nicht genau aus, sondern beschränkt sich auf (zahlreiche) Andeutungen. Dadurch scheint er auf einen als geistesverwandt empfundenen Hintergrund hinzudeuten, auf dem entscheidende Gedanken der Laws of Form durchsichtiger werden könnten. Das spezifische Interesse Spencer Browns ist primär kognitiv, wie die Frage nach dem Entstehen von Unterscheidungen und die Frage nach Grenzen und Möglichkeiten der Sprache, auch einer religiös-spirituellen, zeigen. Nichts, Leere
Das erste Wort, mit dem die Laws of Form beginnen, ist das chinesische Wort
‚wu’ - Nichts, nicht, ohne. Dieses für den philosophischen und religiösen Daoismus zentrale Wort bildet nicht nur den Anfang der Laws of Form, sondern
wirkt auch in den Text hinein und wird von Spencer Brown in den verschiedenen Selbstkommentierungen mehr und mehr zum Thema gemacht. Während das Vorkommen von ‚wu’ zu Beginn der Laws of Form zuerst eher für den Anfang
ohne Namen zu stehen scheint”, treten die verschiedenen Bedeutungen von
‘7
48
®
50
Spencer Brown sagt selbst über die chinesische Sprache in seiner Empfehlung des Daodejing:
„[Die] chinesische Sprache [ist] so kraftvoll ..., dass jede ‚Übersetzung’ in eine westliche Sprache nur jeweils eine der vielen möglichen Interpretationen des Originals abdeckt. Chinesisch ist eine Bildersprache, sehr poetisch und mathematisch ...“, 1994a:104. ‚Lehre von der Befreiung vom Leiden’. Für den buddhistischen Kontext sind beide Ausdrücke problematisch, da der Buddhismus gerade keinen Gott, keine Offenbarung und keinen Glauben an beides kennt. Zentral ist dafür eine Form von Einsicht, die gleichermaßen als Wissen und als Erfahrung beschrieben werden kann. Vgl. dazu z.B. Elberfeld 2004:69ff. Vgl. den Kommentar zum 0. Kapitel’.
IL.A Kontexte der Laws of Form
39
‚Nichts’ mit der Frage nach dem , Woraus’ der ersten Unterscheidung mehr und mehr in den Vordergrund, die Spencer Brown vor allem in A Lion’s Teeth und dann auch in dem Vorwort zu den Laws of Form von 1994 nachdrücklich stellt. Die Spuren der Wirksamkeit der ostasiatischen Konzepte von ,wu’ (Nichts,
Leere, Losigkeit) erschlieBen sich leichter, wenn einige Bedeutungen von ,wu’
unterschieden werden.” Es seien vier verschiedene Bedeutungsrichtungen von-
einander abgesetzt, die sich aus einer Kombination von etymologischen Überlegungen und der Zusammenschau zentraler Verwendungen im Daodejing erge-
ben.
e #€,wu’ als Prozess des Entstehens und Vergehens Eine etymologische Möglichkeit ist es, das Schriftzeichen 無 ,wu auf eine Kombination der Zeichen ,Wald’ und ,Feuer’ zurückzuführen, ‚wu’ also bildlich als niedergebrannten Wald zu verstehen. „Als gedankliches Substrat des
Begriffs ,wu’ ist offenbar der Zustand des Noch-Nicht-Seins oder Nicht-MehrSeins wie auch der Prozess, durch welchen dieser Zustand hervorgerufen wurde,
zu verstehen.‘ Im
Daodejing
finden
sich
zwei
Varianten
von
„prozessuale[r]
(In-
ter)dependenz‘”’ zwischen Sein und Nichtsein. Dort geht es um ein Hervorge-
hen und Vergehen, um ein Ineinanderübergehen. Im zweiten Kapitel des Daodejing heißt es über den Zusammenhang zwischen ‚wu’ (nicht, Nichts) und ‚you’ (sein, haben): „Sein und Nichtsein erzeugen einander.“ Im 40. Kapitel des Daodejing
wird
die Beziehung
anders
Nichtsein.‘“ e #£,wu’ als geformte Leere
beschrieben:
„Das
Sein
entsteht
im
Im Daodejing kommt ,wu’ in zentraler Funktion im elften Kapitel vor, dort steht ,wu’ für den Leerraum z.B. bei der Radnabe, bei einem Gefäf und bei einem Haus, durch den all diese erst gebraucht werden können. Im elften Kapitel finden sich ,ww’ (nicht, Nichts) und ,you’ (sein, haben) in unmittelbarer Juxtaposition ‚wu you’. „Das Rad, das Gefäß und das Haus gewinnen ihre
Brauchbarkeit durch die Leerstellen in ihnen. Diese ‚Gegenstände’ sind eben nicht als bloße Gegenstände beschrieben, sondern als ‚funktionale Prozesse” “°° ”
2 2
#4
5 %
Die Basis dafür ist die Studie von Wohlfart 2001b.
Ein interessanter Versuch im Anschluss an Spencer Browns Appendix 4 über die natürlichen Zahlen mit verschiedenen Aspekten von Nichts im Bereich westlicher Mathematik umzugehen, findet sich bei Kauffman in seinem Versuch über ‚Zero numbers’: „I shall also discuss ‚zero numbers’, a concept grounded in ordinary numbers that opens up the powers of zero so that 0, 0x0, 0x0x0, ... are all distinct forms of the void.“ Kaufman 2000c: 83.
Schwarz, zitiert nach Wohlfart 2001b:66.
Wohlfart 2001b:63
Ubersetzt von Wilhelm, zitiert mch Wohlfart 2001b:62.
Übersetzt von Wilhelm, zitiert rmch Wohlfart 2001b:63. Möller, zitiert nach Wohlfart 2001b:64.
40
Katrin Wille und Thomas Hölscher
e #€,wu’ in der Zusammenstellung von Gegenläufigem In den Kapiteln 13, 38, 46 und 79 des Daodejing findet sich ,wu’ im Zusammenhang mit einer Zusammenstellung gegenläufiger Gegebenheiten zum Zwecke eines Vergleichs bzw. einer Valuierung, ‚haben Körper/Selbst — nicht
(haben) Körper/Selbst’ (13), ‚haben Tun — ohne Tun’ (38), ‚haben dao (Weg) 一 nicht haben dao (Weg) (46), ‚haben de (Tugend) — nicht haben de (Tugend)’ (79)
e #€,wu’ als Ritus, ‚Etwas ins Sein zu rufen’ Eine andere etymologische Möglichkeit ist es, das Schriftzeichen
無 ‚wu’
auf eine frühe Schreibweise zurückzuführen, die eher ‚tanzen? bedeutet und einer Form rituellen Tanzes in Verbindung steht. Diese Rituale „beziehen auf Zustände, die vor dem sichtbaren Erscheinen empirischer Dinge liegen die gleichzeitig eine mit magischer Bedeutung verknüpfte Voraussetzung
das Entstehen dieser Dinge bilden.‘“”°
mit sich und für
Die Wirksamkeit des ,wu’ bzw. der verschiedenen Bedeutungsebenen zeigt sich an verschiedenen Stellen in den Laws of Form. ,Leere’ und ,Nichts’ sind zum
Einen wichtig bei dem radikal durchgeführten Reduktionsprozess” von Existenz auf Wahrheit, Wahrheit auf Bezeichnung, Bezeichnung auf
Form und Form auf
Leere. In diesem Verfahren wirkt ‚wu’ als Prozess des Vergehens, um von einer
elementareren Basis her, quasi aus der Leere den Kalkül neu aufzubauen. (Hier
wirkt ,wu’ als Prozess des Entstehens — im Bild gesprochen: aus den Wurzeln
des abgebrannten oder abgerodeten Waldes.) ,Wu’ in dieser Bedeutung realisiert sich im Prozess des ‚unlearning’, des ‚Verlernens’
von gewohnten,
als
unhintergehbar ‚seiend’ angenommenen Unterscheidungen.” Die späteren Vorworte und vor allem A Lion’s Teeth von 1971 zeigen, dass Spencer Brown immer mehr Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet hat, wie die erste Unterscheidung aus Nichts entstehen kann und wie ,Nichts’ als wirk-
sames ,Nichts’, aus dem etwas folgen kann, gedacht werden kann.°'
*7
Nach Wohlfart 2001b:64f.
”
Die ,Logik’ dieses Prozesses einer radikalen Reduktion über eine Folge von Ebenen (levels) fand Spencer Brown auch in Rolts Dionysios-Buch, allerdings stammt die Verlängerung in das ‚void’, als das ‚unnamable Tao’, aus dem Daodejing. Spencer Brown 1971:124. Vgl. zum ‚unlearning’ AUM 1,10.
*8
이
Ommerbom, zitiert nach Wohifart 2001b:67.
„All I teach is the consequence of there being nothing. The perennial mistake of western phi-
losophers has been to suppose, with no justification whatever, that nothing cannot have any consequences.”, LoF:ix sowie: „The idea that the creation must be a consequence of ‘something’ is moronic. No thing can have any consequence whatever...If there were originally something, it would poison the whole creative process. Only nothing is unstable enough to give origin to endless concatenations of different appearances.” LoF:ix/Anm 5.
IT.A Kontexte der Laws of Form
41
Die Bedeutungsebene von ,wu’ als geformte Leere wirkt in die Wahl der Grundstrukturen hinein, wenn Spencer Brown im zweiten Kapitel den ,marked state’ und den ,unmarked state’ als die beiden Grundzustände wählt und dem
leeren Raum eine Funktion im Kalkül zuschreibt. Die dritte Bedeutungsebene von ,wu’ in der Zusammenstellung von Gegen-
läufigem wirkt hinein in die Verfahrensweise Spencer Browns, im Kalkiil die beiden gegenläufigen Operationsrichtungen zu betrachten, wie im sechsten Kapitel.
Abhängige oder konditionierte Koproduktion Spencer Brown kontextualisiert die Laws of Form in den späteren Vorworten und Einleitungen immer deutlicher in den Denkrahmen buddhistischer Philosophie"^. Im Vordergrund steht der zentrale Gedanke der ,konditionierten Koproduktion’”. Den Sinn der Pratityasamutpada™ (sanskrit), also der ,konditionierten Koproduktion’ oder des ,Entstehens in gegenseitiger Abhängigkeit’, soll
nach vielen Überlieferungen Buddha kurz nach seinem Erwachen erfasst haben.
In praktisch allen buddhistischen Traditionen wird es zur Analyse der Entste-
hung und zur Übung der Aufhebung von Leid verwendet. Üblich geworden ist eine Kausalkette von zwölf Gliedern, die in Abhängigkeit voneinander stehen
und Leid verursachen.‘
Spencer Brown konzentriert sich dagegen auf die methodischen Möglichkeiten eines bestimmten Typs von Relationalität, die auch mit dem Gedanken der ‚konditionierten Koproduktion’ verbunden werden können. An dem Gedanken
des abhängigen oder konditionierten Entstehens aller Aspekte eines Systems, sei es eines mathematischen Systems, seien es Alltagsüberzeugungen über die Welt und sei es unsere Stellung darin, lassen sich verschiedene Strukturmomente
unterscheiden, die Spencer Brown als intentionsverwandt mit dem Vorgehen in 2 6°
%
2
Dieser ,Denkrahmen’ ist keinesfalls einheitlich, sondern hoch komplex und vielfältig. ZB. „The universe is simply what would appear if it could. Its laws are the laws of the possible,
called by Sakyamuni the links of conditioned coproduction, called by me the calculus of indications.”, LoF:viii: Oder auch: „Kanon Null. Koproduktion: Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind, in der Form, identisch, gleich. ... /WjJenn eine Unterscheidung ,in’ nichts getroffen werden könnte, dann [würde] das Ganze der konditionierten Koproduktion, deren Operation unentrinnbar ist und vollständig sichtbar, unvermeidlich stattfinden..., und das erkennbare Universum unvermeidlich erscheinen..., ganz genau gemäß den Gesetzen ‚seiner’ Form.“ in der Vorstellung der internationalen Ausgabe Spencer Brown 1997: ix-x. Zur Etymologie vgl. die Rückführung auf den ursprünglichen Pali-Ausdruck: ,Paticca Samuppäda’ bei Macy 1991: ‚Uppäda’ bedeutet ‚Entstehen’, ‚sam’ bedeutet ‚mit, zusammen’, ,Paticca’ bedeutet ,Bezogen-Sein-auf, Begründet-Sein-von’. In der englischen Literatur sind für ,Pratityasamutpada’ die beiden Übersetzungen: ,dependent co-origination’ (Streng 1967) und ‚conditioned co-production’ (Conze 1962) geläufig. Waldenfels (1976) findet die Umschreibung ‚reine Relationalität’, ‚das reine Existieren aus/in Beziehung’.
Vgl. Elberfeld 2004:65-74.
42
Katrin Wille und Thomas Hölscher
den Laws of Form erkannt und deshalb explizit aufgenommen hat. In der Art, wie Spencer Brown diesen Gedanken des abhängigen oder konditionierten Entstehens aufnimmt, kann er folgendermaßen profiliert werden: 1) Einheiten entstehen nie isoliert, sondern mindestens als triadische Struk-
tur. Daraus ergibt sich, dass ein möglicher Anfang für eine Theorieentwicklung in einer triadischen Struktur und nicht in einer daraus abstrahierten Einheit liegt. Am Anfang steht bei Spencer Brown die triadische Struktur Unterscheidung. Dazu heißt es in dem Vorwort von 1994: „Any indication implies duality, we cannot produce a thing without coproducing what it is not, and every duality implies triplicity: what a thing is, what it isn’t, and the boundary between
them
“6
2) In der Form der Unterscheidung sind unendlich viele Möglichkeiten angelegt, komplexe Ausdrücke zu bilden. Spencer Brown verweist auf den Zusammenhang zwischen der buddhistischen Idee der konditionierten Koproduktion und dem, was im Indikationenkalkül die Erweiterung der Referenz (‚Expansion of Reference’, Kanon 5 im dritten Kapitel) genannt wird. Dort heißt es: „Thus,
in general, let any form of reference be divisible without limit.“ °’ Beide Ideen
zeigen, wie aus Einfachem beliebige Komplexitäten generiert, aber auch wieder reduziert werden können. 3) Es ist ein üblicher, aber inadäquater Umgang, einzelne Elemente aus den Bezügen zu den anderen Elementen und also aus der sie ermöglichenden Struk-
tur herauszulösen und die Elemente als voneinander getrennte aufzufassen.
Außerhalb der konditioniert koproduzierten Struktur ‚gibt’ es nichts, und da
auch diese Struktur sich nicht wie ein einzelnes Element benennen lässt, ‚gibt’ es nichts. Dazu Spencer Brown: „None of these exists in reality, or separately from the others. In reality there never was, never could be, and never will be anything at all.” In diesen Zusammenhang gehört Spencer Browns Verwendung des Möglichkeitsbegriffs. Mit ‚Möglichkeit’ ist keine Vorstufe von Existenz gemeint, sondern die Weise, wie die Struktur konditionierter Koproduktion angemessen zu bestimmen ist. Die Rede von ‚Existenz’ dagegen geht von dem
Bestehen von Trennungen aus und ist damit als verkürzendes Modell zu kritisie-
ren. ‚Möglichkeit’ und ‚Existenz’ erscheinen so als zwei Betrachtungsweisen
von Wirklichkeit. Die Untrennbarkeit von Betrachtungsweise und Wirklichkeit
%
6°
®
An dieser Stelle geht es weiter in Bezug auf das erste Kapitel der Laws of Form: „Thus, as
explained in the Chapter 1 of the Laws, you cannot indicate anything without defining two states, and you cannot define two states without creating three elements.”, LoF:ix. All dies versteht Spencer Brown als Neufassung des Buddha zugeschriebenen Wortes: „Existence is duality: nonexistence is nonduality.” (ebd.). Vgl. zu der triadischen Struktur auch schon Spencer Brown 1971:125-126.
Spencer Brown 1995:151. Vgl. zu Kanon 5 LoF: 10 sowie den Kommentar zum dritten Kapitel. LoF:ix
II.A Kontexte der Laws of Form
43
nimmt Spencer Brown in seiner Idee der ,triple identity’ im Wechselspiel von ‚reality, appearance and awareness’ auf.” 4) Ein wichtiges Strukturmoment im Gedanken der konditionierten Koproduktion betrifft die Art der Beziehung zwischen den Aspekten des entstandenen
Strukturgefüges (hier z.B. des triadischen). Die Aspekte oder Elemente entstehen simultan durch einander ohne weitere Ordnungsbeziehungen wie Reihen-
folge oder Rangfolge. Spencer Brown arbeitet auch in seinem Indikationenkalkül nur mit der Beziehung der Unterschiedenheit (und nicht Getrenntheit) der Aspekte, die zusammen mit anderen Aspekten entstehen. Daftir muss von allen anderen Beziehungen wie Reihenfolge, Zweistelligkeit, Wertrangfolge abgese-
hen werden, da dies viel komplexere und nur fiir bestimmte Bereiche angemes-
sene Beziehungen sind.”
Im Denkrahmen der konditionierten Koproduktion, wie Spencer Brown sie aufnimmt, wird die Verwendung verschiedener grundlegender Konzepte, wie
sie z.B. in der Prädikatenlogik eingesetzt werden, problematisch, da sie in der
Theorieentwicklung, wie Spencer Brown sie versteht und durchführt, nicht vorausgesetzt oder gar nicht gebraucht werden können. Allen problematischen Konzepten ist gemeinsam, dass Elemente und ihr (triadisches) Strukturgefüge so
gedacht werden, dass sie voneinander trennbar sind (buddhistisch formuliert: ein Eigensein haben’') und erst nachträglich aufeinander bezogen werden. Dazu gehören neben dem schon genannten Konzept der ‚Existenz’ noch: ‚Individuen’ (isolierbare Elemente), ,Pradikation’ (wir schreiben einem isolierbaren Etwas
eine Eigenschaft zu), der Begriff ‚Referenz’ (wir beziehen einen isolierbaren Begriff auf ein isolierbares Objekt oder einen isolierbaren Satz auf eine isolier-
bare Tatsache), beziehbar).
‚(externe)
Relation’
(isolierbare
Elemente
sind
aufeinander
Im ersten und zweiten Kapitel der Laws of Form wird versucht, innerhalb der
Form Alternativen zu den Konzepten Individuum, Prädikation, Referenz und
(externer) Relation zu denken, die den Typ von Relationalität realisieren, der mit den vier Kriterien der ,konditionierten Koproduktion’ bestimmt ist.
%
70
71
Vel. LoF:vii sowie den Ansatz einer Beobachtungstheorie, in der die Laws of Form mit der
buddhistischen Madhyamika-Philosophie in einen Dialog gebracht werden: „Die Wirklichkeit wird im Bezug zur Beobachtung gesehen und kann auch nur so erkannt werden. ... [Wirklichkeit] wird genau dann [erfahren], wenn die Beobachtung der Wirklichkeit bis auf den Grund ihrer Konstitution durchschaut wird.“ Von Egidy 2003:9.
Vel. dazu in Anmerkung 1 in Only two can play this Game: „In a qualityless order, to make any
distinction at all is at once to construct all things in embryo. Thus the First Thing, and with it the First Space and the Fist Existence and the First Being, are all created explosively together.” Spencer Brown 1971:124. Sanskrit ‚svabhäva’.
Il.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of Form
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Die Laws of Form von George Spencer Brown sind ein kryptisches, schwer zu durchdringendes und noch viel schwerer zu fassendes Buch — zumindest auf die ersten zehn Blicke. Das liegt an Spencer Browns reduktionistischem Stil, an seiner vollkommen neuen und andersartigen Notation gegentiber anderen logi-
schen Kalkiilen und an seiner teilweise eigentiimlichen Verwendung der englischen Begriffe, bei der er großen Wert auf deren Etymologie legt, sowie an den
von ihm selbst vorgeschlagenen Deutungen und Anwendungen, die von philo-
sophischen Grundfragen bis zu elektromagnetischen Schalttafeln führen. Das
würde reichen, um das Buch als ‚wunderlich‘ abzutun und es nicht weiter zu beachten. Zudem verweist uns dieses Buch immer auch explizit auf uns selbst
als Lesende, Rezipierende und Nach-Vollziehende, so dass die Schwierigkeiten bei den Durchdringungsversuchen auch daran liegen könnten, dass wir versuchen, vollbeladen mit allerlei ‚Werkzeug‘ aus den Disziplinen Mathematik,
Philosophie und Logik dieses Buch zu verstehen. Spencer Brown selbst empfiehlt uns aber, diese ‚Werkzeuge‘ möglichst erst
einmal zu vergessen, sonst könne man sich den Kalkül nicht erschließen, sich
seiner Schönheit nicht nähern. Die genannte Empfehlung ist leichter ausgesprochen als in die Tat umgesetzt — denn schließlich sind es diese ‚Werkzeuge‘, anhand derer wir gelernt haben, die Welt oder zumindest unsere Forschungsge-
genstände zu erfassen. Einige der Fragen, die sich dem ,Forschungsreisenden‘ in die Laws of Form stellen, könnten möglicherweise so lauten: Lohnt sich das?
Was habe ich davon, alles (vieles) von dem, was ich gelernt habe, zunächst zu
vergessen? Wird es wirklich neue Einsichten geben, oder handelt es sich um
alten Wein in neuen Schläuchen? Wofür kann ich diese Einsichten, sofern ich sie gewinnen sollte, denn brauchen? Was interessieren mich ein weiterer ‚logi-
scher Kalkül‘, Schaltkreise oder die angekündigte Möglichkeit, eine elegante Lösung für Paradoxien zu finden? Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass solche Fragen am Anfang jeder Entdeckungsgeschichte der Laws of Form stehen — eine Ausnahme bilden die LeserInnen, die bereits auf den ersten Blick die ‚Schönheit‘ und ‚Einfach-
heit‘ zu entdecken vermögen, von denen auch Spencer Brown selbst spricht.
Auch wir haben uns im Laufe der Beschäftigung mit den Laws of Form diese Fragen immer wieder gestellt und hatten dennoch nie das Gefühl, etwas Über-
flüssiges oder gar Unsinniges zu tun. Im Gegenteil, die nicht — primär — inten-
46
Tatjana Schönwälder-Kuntze
dierten Effekte der langjährigen Beschäftigung lagen zum Beispiel darin, dass
die Aufforderung, bereits bewährte Denkwege und -muster wieder zu ‚vergessen‘ und sich andere, unbekannte vorführen zu lassen und nach zu vollziehen, auch in ganz anderen Themen und Lebensbereichen zum Verlassen erstarrter
Denk- und Rezeptionsmuster geführt hat. Auch die Einsicht, dass Exaktheit und Formalisierbarkeit nicht notwendig an das Vorhandensein von Entitäten gebunden ist, sondern auch komplexere Zusammenhänge und Prozesse die Grundlage
der Mathematik bzw. der Formalen Logik bilden könnten, hat so manchen 10sungsverstellenden Blick entschleiert. Schließlich zeigt auch die Rezeptionsgeschichte, dass die Kenntnis der Gesetze der Form nach Spencer Brown bereits in vielen wissenschaftlichen Disziplinen zu erstaunlichen
Perspektivwechseln geführt hat.’
Wir haben die Zweiteilung des in die Laws of Form einleitenden Kapitels in
diesem Buch gewählt, weil wir so einen ‚ersten Zugang’ aus zwei sehr verschiedenen Blickwinkeln ermöglichen können: Einmal ‚von außen‘, d.h. in seinem
historischen Zusammenhang und seinem systematischen Umfeld. Die zweite, gleichwertige Perspektive versucht die Laws of Form aus sich selbst heraus in
ihrem inneren Zusammenhang darzustellen. Diese verschiedenen, immer auch bedeutungsbestimmenden Perspektiven wirken sich natürlich auf den dargestell-
ten Inhalt aus, der so in zwei seiner zahlreichen Facetten präsentiert werden
kann.’
SchlieBlich sei noch eine Anmerkung zum Vorgehen in diesem Teil der Ein-
leitung hinzugefügt: Um nicht immer wieder und schon von vorneherein ausschließlich auf die Konnotationen der logischen Zweiwertigkeit aufmerksam zu machen, und weil dieser Zusammenhang bereits ausführlich im ersten Einlei-
tungsteil behandelt wurde, erlaube ich mir in diesem zweiten Teil bei der Nachzeichnung der Argumentation auf alle Begriffe zu verzichten, die auf bestimmte Werte (wahr/falsch; richtig/falsch) abzielen. Das Faktum, dass in den Laws of
Form von drei verschiedenen Zuständen — dem markierten, dem unmarkierten
und dem imaginären — die Rede ist, berechtigt meines Erachtens dazu, nicht unmittelbar davon auszugehen, es handle sich hier um einen /ogisch zweiwertigen Kalkül. Es wird sich zeigen, dass auch eine Rekonstruktion, die auf solche impliziten Be-Wertungen und damit Engführungen verzichtet, Zusammenhänge darstellen kann, die nichts mit diesem Teil klassischer Logik und Boolescher Algebra zu tun haben.
Vgl. IV. Anwendungen und Deutungen.
Eine weitere Facette läge z.B. in dem Vorschlag von Stephan Packard, der den Text als grundlegend semiotischen Text liest, der Aussagen Signifikat mache.
über den Unterschied von Signifikanten und
II.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of Form
47
Die Architektur der Laws of Form wird im Folgenden anhand der Leitfrage:
„Wie hängen die einzelnen Kapitel der Laws of Form zusammen?“ dargestellt. In einem ersten Schritt wird eine Deutung der Entwicklung des Buches gegeben, die einen Überblick über die Struktur des Werks vermittelt. In einem zweiten
Schritt werden die einzelnen Kapitel inhaltlich zusammengefasst sowie deren
Zusammenhang dargelegt. Einige Anmerkungen zur Genese der Begriffe ‚step‘
und ‚form‘ sowie zum Gleichheitszeichen beschliessen das einleitende Kapitel. l. Deutung der Entwicklung des Buches
Die Laws of Form sind in zwölf Kapitel mit je eigenen Überschriften und je
eigenen Anmerkungen (Notes), die am Ende des Haupttextes stehen, untergliedert. Das Augenmerk liegt im Folgenden auf dem Haupttext, d.h. dass die Appendizes hier nicht berücksichtigt werden. Die Reihenfolge der Kapitel ist meines Erachtens weder dadurch motiviert, dass das jeweils nächste aus dem vor-
hergehenden im logischen Sinne ableitbar wäre, noch entspricht sie einer Komposition mit Vor- und Rückgriffen. Vielmehr lässt sich zeigen, dass jedes Kapi-
tel als je Vorhergehendes die Nachfolgenden insofern vorbereitet, als zunächst prozessual ‚vollzogen wird‘, was anschliessend reflektiert und begrifflich gefasst wird und auch erst dann deskriptiv dargestellt werden kann. Die nachfolgenden Kapitel reflektieren, explizieren und formalisieren Teile der Prozesse,
die in den vorhergehenden Kapiteln durchgeführt werden. Aber sie schränken zugleich auch aufscheinende Möglichkeiten per Festlegung wieder ein. Ein Zusammenhang besteht also darin, bereits ‚Vollzogenem‘ eine Form zu
geben. Eine weitere Verbindung zwischen den Kapiteln ist darin zu sehen, dass nachfolgende Kapitel jeweils eine oder mehrere der potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten, die vorläufig angelegt worden sind, tatsächlich realisieren, und somit auch durchgehend Neues entstehen lassen.
Eine Besonderheit bilden das erste, das achte und das zwölfte Kapitel, weil sie
auf je spezifische Weise die Gesetze der Form ‚von außen’ in den Blick nehmen: Das erste Kapitel als Bereitstellung der Voraussetzungen und Deskription der Form schlechthin; das achte als verallgemeinerte Reflexion auf den Zusammenhang der vollständigen Darstellung der Form der ersten Unterscheidung (Primäre Arithmetik) einerseits und der in dieser Darstellung wiederum sichtbar gewordenen Zusammenhänge zwischen darstellenden Hinweisen (Primäre Algebra) andererseits. Das zwölfte Kapitel kann als (semiotische) Variation des zwei-
ten Kapitels gelesen werden und damit als andere Darstellung der Form der ersten Unterscheidung.
Die Abfolge innerhalb des ersten Kapitels spiegelt das beschriebene Vorgehen weiter Teile des Buches ‚in nuce‘ wider: Es beginnt mit der expliziten Voraus-Setzung zweier Ideen durch Spencer Brown, der ‚idea of distinction‘ und
der ‚idea of indication‘. Die erste der beiden Ideen wird anschließend definiert,
48
Tatjana Schönwälder-Kuntze
d.h. begrifflich festgelegt und anhand eines Beispiels erläutert. Es folgen zwei Axiome, die Gesetze formulieren, die für die Wiederholung der zweiten, bis dahin noch nicht definierten Voraussetzung — die Idee des Hinweises — gelten
sollen. Hier wird das Hinweisen gleichsam über seine Verwendung definiert, die
mit den Axiomen bzw. mit den Gesetzen erlaubt bzw. ermöglicht wird. Zugleich
wird im Text des ersten Kapitels deutlich, dass die Unterscheidung der beiden
Ideen ‚distinction‘ und ‚indication‘ einer bestimmten ausdifferenzierenden Per-
spektive geschuldet ist, dass sie also auch als zwei ,Eigenschaften’ eines einzi-
gen Aktes gedeutet werden könnten. Jeder Hinweis gebende Akt ist zugleich
eine Unterscheidung und jeder unterscheidende Akt ist auch ein Hinweis an und
auf sich selbst. Dieses Auffächern verschiedener Facetten eines Prozesses, mit der daraus entstehenden möglichen Unterscheidung verschiedener Aspekte eines Prozesses
einerseits und dem gleichzeitigen Blick auf die ‚Undifferenziertheit‘ anderer-
seits, ist ein wesentliches methodisches Moment der Laws of Form. Das Fort-
schreiten des Buches in den ersten Kapiteln lässt sich analog beschreiben: Erst wird ‚gemacht’, dann werden verschiedene Aspekte ge- und benannt und so auch als verschieden eingeführt. In der Weiterverwendung zeigt sich dann, dass die Verschiedenheit auf der basalen Ebene, auf der die Laws of Form spielen, noch gar keinen Sinn ergibt, und so werden die Differenzen zwischen den Aspekten teilweise wieder eingezogen. Auf der anderen Seite erweist es sich jedoch als sinnvoll, bestimmte Differenzen zu stabilisieren — je nachdem, wel-
chem Zweck sie dienen, was mit ihnen gezeigt werden soll. Auf diese Weise
wird deutlich, dass scheinbar neu Eingeführtes aus der stabilisierenden Verwen-
dung einer möglichen Differenzierung des schon Vorhandenen heraus entstanden ist. Das Darstellungsschema, dem das Buch folgt, lässt sich als variierende Wie-
derholung folgender Etappen beschreiben, wobei manche Etappen oft nur implizit mitzudenken sind:
(1) Positionierung oder Konstatierung einer Verschiedenheit beispielsweise durch die Verwendung unterschiedlicher Begriffe. (2 a) Gefolgt von einer Aufhebung der Differenz durch explizite Aufforde-
rungen, das Benannte (wieder) gleichzusetzen.
(2 b) Gefolgt von einer Explizierung der eingeführten Unterscheidung durch
eine Aufforderung, sie nach-zu-machen, schließend formalisiert wird.
oder durch eine Definition, die an-
(3 a) Im Anschluß daran ergehen explizite Aufforderungen an den Leser, das Vorgeführte gemäß aufgestellter Gesetze oder Regeln, d.h. auch in der formali-
sierten Form, zu verwenden.
(3 b) Formulierung von Regeln, bereits gemachte Unterscheidungen wieder
einzuziehen, Unterschiede wieder aufzuheben.
Il.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of
Form
49
(4) Implizite Aufforderung an den Exegeten: Schau, was alles entsteht oder
entstehen kann, wenn es zur Verwendung kommt und wie und was sich dabei verdndert und welche Unterschiede an welcher Stelle relevant sind.
(5) bzw. wieder (1) Auswahl, Benennung, Explizierung und Verwendung weiterer im jeweiligen Kontext relevanter Unterschiede.
Eine strenge Zuordnung der einzelnen Kapitel zu den verschiedenen Etappen ist aus folgenden Gründen nicht möglich: Umso weiter ‚hinten‘ im Buch das Kapi-
tel steht, umso komplexere Inhalte und
Formen werden durch einzelne Zeichen
dargestellt bei gleichzeitiger Spezialisierung auf ganz bestimmte, in den jeweiligen Kontexten relevante Aspekte. Parallel dazu werden aber auch immer mehr Differenzen als nicht (mehr) relevant wieder eingezogen. Es werden zunehmend
mehrere dieser Etappen von Teilen der Kapitelinhalte parallel durchlaufen. Die Zwischentitel in den Laws of Form haben beispielsweise die Funktion, den neuen Aspekt explizit zu nennen, auch wenn es in dem Kanon, der Regel oder dem Theorem um Eigenschaften geht, die schon länger bekannt oder auch schon anders aufgetaucht sind. 2. Inhaltliche Entwicklung bis zur Primären Algebra (Kapitel 1 — 5) Das erste Kapitel THE
FORM beginnt also mit der Setzung zweier Ideen: die Idee
der Unterscheidung und die Idee des Hinweisens. Weil jedem Hinweis notwendig eine Unterscheidung zu Grunde liegt und weil jede Unterscheidung durch ihre verschiedenen Aspekte die ‚äußere‘ Form jedes Unterschiedenen
bildet,
wird die Idee der Unterscheidung als die Form eingeführt. Daran schließt sich die einzige explizit auch so benannte Definition des Buches: „Definition: Distinction is perfect continence“ (LoF:1) an.
Es folgt ein Beispiel fiir eine Unterscheidung, woraus sich vier logisch gleichwertige Aspekte ableiten lassen, die für Spencer Brown zur Form der Unterscheidung gehôren: zwei Unterschiedene, die Grenze zwischen ihnen und ein Kontext, in dem die Unterscheidung einen Unterschied im Sinne Spencer Browns macht. SchlieBlich werden noch zwei Axiome bzw. Gesetze vorgestellt,
die festlegen, auf welche Weisen auf die durch die Unterscheidung hervorgebrachten, unterschiedenen Seiten hingewiesen werden kann: das Axiom 1. Law of calling und das Axiom 2. Law of crossing. Die beiden Axiome bestimmen, welche Gesetzmäßigkeiten für die wiederholte Verwendung der jeweiligen Hinweisart gelten sollen und ermôglichen durch ihre Verschiedenheit, auf die unterschiedenen Seiten der entstandenen Form hinzuweisen. Die beiden Voraussetzungen ‚Unterscheidung‘ und ‚Hinweis‘ tauchen demnach sofort als zu Definierendes (Definiendum) und als durch zwei verschiedene Verwendungsarten Expliziertes wieder auf. Während die Definition der Un-
terscheidung das enthält, was der Akt des Unterscheidens gleichsam analytisch
50
Tatjana Schönwälder-Kuntze
hervorbringt (die Aspekte der Unterscheidung), wird die Idee des Hinweises über Verwendungsgesetze expliziert. Im ersten Kapitel finden wir demnach
explizit Etappe (1) und (2 b) unseres Schemas wieder.’ Die Etappen (3) und (4) erscheinen erst im zweiten Kapitel: Die von Spencer Brown zur Niederschrift
des ersten Kapitels verwendeten oder gebrauchten Wörter und Begriffe, die im ersten Kapitel in Bezug auf die beiden vorausgesetzten Ideen explikativen bzw.
definierenden Charakter haben, werden im zweiten Kapitel selbst explizit ein-
geführt und definiert.
Das zweite Kapitel FORMS TAKEN OUT OF THE FORM beginnt mit der berühmt
gewordenen Aufforderung: „Draw a distinction.“ (LoF:3). Hier wird also die
Unterscheidung, die im ersten Kapitel lediglich deskriptiv vor- und dargestellt wurde, vorgeführt, indem dazu aufgefordert wird, eine Unterscheidung zu treffen, den Prozess nach-zu-machen. Daran anschließend werden einerseits relevante Begriffe des ersten Kapitels wie ‚content‘, ‚intent‘, ‚form‘, ‚name‘, ‚value‘ definiert, indem Entstandenes mit ihnen bezeichnet wird: «Mache dies und
nenne das Resultat Deiner Handlung dann so!». Andererseits werden auch neue Begriffe wie ‚expression‘, ‚equivalence‘, ‚equation‘ oder ‚relation‘ eingeführt,
die Eigenschaften des schon Verwendeten bezeichnen, also schon implizit ‚vorhanden waren‘. Der Leser lernt die Grundbegriffe im ‚learning by doing‘Verfahren, indem er das, was sie bezeichnen, macht, und dann dem (Nach-) Gemachten den bereit gestellten Namen gibt. Im zweiten Kapitel werden aber nicht nur die im ersten Kapitel verwendeten Begriffe in handelnder Weise vom Leser (re-)konstruiert, sondern Spencer Brown führt auch das formale Zeichen ein — den Haken | -, das als Markie-
rung einer Unterscheidung fungieren wird. Damit ist das Definiendum des ersten Kapitels nicht nur formuliert, sondern auch formalisiert: Der Haken als das
Zeichen, das zunächst auf die gesamte Form der Unterscheidung hinweist. Im nächsten Schritt wird dazu aufgefordert, eine andere Form entstehen zu lassen,
in der dann Kopien (Plural!) des Hakens als Namen auf einen Zustand hinweisen.
Durch
die
explizit
erlaubte
Möglichkeit,
Kopien
anzufertigen,
wird
zugleich die Möglichkeit für Gleichungen eröffnet. Denn jetzt sind bereits vielfältige Hakenkopien als hinweisender Name auf denselben Zustand oder die
gleiche Seite möglich. Hinweise, Namen, die auf dasselbe hinweisen, sind äquivalent.
Zur Formalisierung der beiden Axiome, und das heißt zur Ermöglichung von formalen Hinweisen auf beide entstandenen Seiten, ist es allerdings noch nötig, die Bedeutung der Hakenkopien zu erweitern — sofern und weil kein neues Zeichen für die zweite Seite in Anspruch genommen werden soll. So sind die Hakenkopien im Folgenden nicht mehr nur einfache Namen für einen Zustand, ?
Inwiefern auch (2 b) Teil des ersten Kapitels ist, wird im Kommentar gezeigt.
JI.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of
Form
51
sondern sie stehen auch für eine Anweisung (instruction) — dann heißen sie allerdings ,cross‘. Die Kopien des ersten Hakens stehen so fiir zwei Funktionen zugleich: sie können ein hinweisender ‚name‘ und ein zu einer Handlung aufforderndes ,cross‘ sein, sie sind mithin zugleich Operator und Operand. Damit sind alle Bedingungen erfüllt, um mit einem einzigen Zeichen die beiden Axiome zu formalisieren und zugleich Gleichungen ins Leben zu rufen. Im zweiten Kapitel finden sich dem Schema gemäß mindestens die ersten drei Etappen: Der Begriff ‚name‘ hat das Schema bis zu seiner formalisierten Darstellung durchlaufen, kann so im Folgenden ‚rein formal‘ verwendet werden
und hat durch die Bedeutungserweiterung der Hakenkopie und durch die Forma-
lisierung des zweiten Axioms zwei formale Erscheinungsformen: als einfaches
Zeichen und als Doppelcross — und eine Nicht-Erscheinungsform als leerer Ausdruck. Zudem sind andere Begriffe wie ‚value‘, ‚state‘, ‚content‘ etc. in den formalen Zeichen in ‚kondensierter‘ Weise aufgehoben.
Im dritten Kapitel THE CONCEPTION OF CALCULATION — wörtlich etwa ‚die Ersinnung oder die Konzeption der Berechnung‘ — werden die letzten Voraussetzungen für das folgende Kapitel, die Primäre Arithmetik, dargelegt: Wie kann oder soll ‚gerechnet‘ werden? Das Kapitel beginnt wieder mit der Aufforderung, etwas bereits Eingeführtes nach zu machen, das im zweiten Kapitel nur
postulierend eingeführt worden war: Es soll ein ‚cross‘ konstruiert, markiert,
benannt und angezeigt werden. Anschließend wird deutlich gemacht, was man
mit der Äquivalenz der formalisierten Namen, d.h. mit der Äquivalenz zweier Hinweise anfangen kann: Es wird dazu aufgefordert, die Hakenkopien durch äquivalente Hakenkopien (oder den leeren Ausdruck) zu ersetzen. Jede Handlung, die dieser Aufforderung folgt, erhält einen eigenen Namen:
‚steps‘ ist es nun möglich, gemäß den chungen jede beliebige Ansammlung einen einzigen, leeren Haken oder den kehrt lässt sich aus jedem einzelnen
‚step‘. Mit
zwei Axiomen und den Äquivalenzgleivon Hakenkopien durch Ersetzung auf leeren Ausdruck zu vereinfachen. UmgeHaken oder aus jedem leeren Ausdruck
durch mehrere Ersetzungsschritte eine komplexe Ansammlung
von Hakenko-
pien, ein ‚arrangement‘ machen, das dem Ausgangszeichen — der einzelnen Hakenkopie oder dem leeren Ausdruck — äquivalent bleibt. Die ,calculation‘ oder das Rechnen besteht nun genau in dieser Ersetzungsoder Austauschtätigkeit von formalen Hinweiszeichen durch andere äquivalente Hinweiszeichen. Rechnen ist also der Prozess regelhaften Hinzufügens und Reduzierens von Hakenkopien. Da es gemäß der ersten Unterscheidung und der (formalisierten) Axiome zwei verschiedene Klassen von Namen, Zeichen oder Hinweisen gibt, gibt es auch zwei verschiedene Zrsetzungsmuster, die Spencer
Brown die /nitialgleichungen der primären Arithmetik nennt: die ‚forms of step’, d.h. die Formen der Äquivalenz. Der daran anschließende ‚Dritte Kanon‘ formuliert explizit die Verfahrensweise der ‚primitive equations‘ des zweiten
52
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Kapitels, d.h. der beiden formalen Darstellungen der Axiome, indem dazu aufgefordert wird, die Ausdrücke durch äquivalente Ausdrücke zu ersetzen. Die beiden Axiome haben also an dieser Stelle auch das Schema einmal
durchlaufen: Im ersten Kapitel wurden sie eingeführt oder formuliert; im zweiten expliziert und formalisiert und im dritten schließlich so zur Anwendung
gebracht, dass die Möglichkeiten der Hinweisiteration, die sie formulieren, in ein allgemeines Ersetzungsschema transformiert werden.
Aus den beiden Äquivalenzgrundformen bzw. Initialgleichungen und der
Möglichkeit des (Teil-)Austausches durch ‚steps‘ wird im folgenden vierten Kapitel die Primäre Arithmetik entwickelt, in der alle Formen, d.h. Zusammenstellungen von Hakenkopien, die direkt und unmittelbar aus den beiden genannten Initialgleichungen gefolgert werden können, zusammen gefasst werden.
Das vierte Kapitel THE PRIMARY ARITHMETIC beginnt mit der Einführung eines neuen Begriffs: ‚theorem’. Theoreme sind — so die Beschreibung in den Laws of Form — unterschiedliche, aber allgemeine Muster, die durch formale Betrachtungen an den /nitialgleichungen erkannt werden können. Die Theoreme der Primären Arithmetik stellen verschiedene Zeicheneigenschaften vor, die den Zeichen einerseits im zweiten Kapitel ,zugeschrieben’ wurden und die andererseits erst durch ihre Verwendung im Austauschprozess entstehen. Im vierten Kapitel werden diese Theoreme nach ihrer Funktion klassifiziert.
So nennt Spencer Brown die ersten vier Theoreme ‚Repräsentationstheoreme’,
da sie den Gebrauch der Primären Arithmetik als System von Hinweisen auf die
unterschiedenen Seiten der ersten Unterscheidung rechtfertigen. Die Theoreme T1, T3 und T4 der Laws of Form explizieren und beweisen, dass jede beliebige endliche Anzahl von Hakenkopien als Ausdruck, d.h. als Hinweiszeichen verwendet werden kann, dass die Reduzierung auf ein ‚cross‘ einen bestimmten
Inhalt meint, und dass das Hinzufügen und das Reduzieren eindeutig ist. Diese drei Theoreme formulieren die Gültigkeit der Festlegungen des zweiten Kapitels, die im dritten Kapitel ausgeführt bzw. nachgemacht werden. Die restlichen
arithmetischen Theoreme explizieren hingegen Muster, die sich durch den gere-
gelten Austausch ergeben und eröffnen somit weitere Optionen. Hier geht es ganz explizit nicht (mehr) um die Aquivalenz von je zwei Hinweiszeichen auf die beiden Seiten der ersten Unterscheidung, sondern um die Möglichkeit, ganz
verschiedene Hinweiszeichen auf je eine der beiden Seiten mit ,steps’ zu generieren. Die Zeichenveränderungsanleitung unter Beibehaltung der Valenz, die im dritten Kapitel durch die explizite Einführung der ‚steps‘ ermöglicht wurde,
erhält in den ersten vier Theoremen der Primären Arithmetik ihre festlegende Formulierung. Die ,Prozesstheoreme‘ 5 bis 7 erläutern bestimmte Prozessvereinfachungen. Die Theoreme 8 und 9 heißen Anschlusstheoreme, weil sie von der Arithmetik
II.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of Form
53
in die Algebra tiberleiten und die Verwurzelung der Algebra in der Arithmetik bzw. Teile ihres Zusammenhanges aufzeigen. Das anschließende fünfte, sechste und siebte Kapitel der Laws of Form gehören
zur Primären Algebra, insofern im fünften Kapitel ihre Syntax, aus Resultaten
bzw. Folgerungen der Primären Arithmetik bestehend, festgelegt wird und insofern das sechste Kapitel verschiedene mögliche Folgerungen oder Ableitungen aus den Initialgleichungen gemäß den explizierten Substitutionsregeln vorführt
und das siebte Kapitel bereits wieder — ähnlich wie am Schluss des vierten Kapitels — den Blick von den reinen ,Transformations’ auf bestimmte allgemeine Muster richtet, die bei diesen algebraischen Umwandlungen sichtbar werden.
Das fünfte Kapitel A CALCULUS TAKEN OUT OF THE CALCULUS ist einerseits das Übergangskapitel von der Primären Arithmetik zur Primären Algebra, in dem das im vierten Kapitel vorgestellte, d.i. die Einführung von neuen Zeichen für Ausdrücke (variables), die Reduktion der Funktion der Hakenkopie auf die Darstellung von Verhältnissen von Variablen und die Bedeutungsverschiebung in Bezug auf die Äquivalenz, explizit genannt und festgelegt werden. Andererseits wird so aber auch die Syntax der primären Algebra formuliert und festgelegt.
Durch die Erweiterung der formalen Sprache um operative Variablen, ver-
liert die Hakenkopie (scheinbar) ihre Funktion als Operand, insofern sie in kom-
plexen Ausdrücken bzw. Gefügen nur noch als ‚cross‘ fungiert.” Als ‚cross’
oder Operator ist sie ein Zeichen für das Verhältnis zwischen Variablen, eine
Verknüpfungskonstante. Die implizit im Gleichheitszeichen vollzogene Bedeutungsverschiebung der Äquivalenz von bestimmten Werten/ Seiten/ Referenzen hin zu Verhältnissen von Variablen, die durch Operatoren verknüpft sind, wird in einer Substitutions- und einer Ersetzungsregel expliziert.
Damit sind alle Komponenten der Syntax der Primären Algebra aufgezählt:
Variablen, Verknüpfungskonstante (cross), Gleichheitszeichen sowie die alge-
braischen Regeln, nach denen ersetzt oder umgewandelt, d.h. wiederum: gerechnet werden darf. An dieser Stelle sei ein zusammenfassender Rückblick unter Verwendung des Schemas erlaubt: (1) Zunächst erfahren wir im ersten Kapitel, aus welchen
Komponenten die Form der Unterscheidung besteht, und wie auf ihre unterschiedenen Seiten hingewiesen werden kann. Anschließend werden wir aufge-
*
Scheinbar’ ist hier in Klammern gesetzt, weil auch in der Primären Algebra ein einzeln stehender Haken sowohl als ,cross’ als auch als ,name’ interpretiert werden kann, es sich also um keine semantische Veränderung handelt.
54
Tatjana Schönwälder-Kuntze
fordert, eine Unterscheidung zu treffen und die Hinweise auf ihre Seiten auf die angegebene Art darzustellen (2 b) und zu verwenden (3 b). Die Möglichkeit des
Austauschens bzw. der geregelten Generierung der je verschiedenen Hinweisformen für die zwei Seiten entspricht (3 b) des Schemas und zugleich wieder
Teil (1). Die Theoreme verdeutlichen ihrerseits bestimmte Resultate des Aus-
tauschprozesses und legen beispielsweise fest, was überhaupt als Hinweis gelten soll oder wie Austauschprozesse verkürzt werden dürfen. Die dabei zum Vorschein kommenden Äquivalenzen zwischen den Ausdrücken explizieren einer-
seits Zusammenhänge und sind andererseits eine Aufforderung, diese weiter zu verwenden und schließlich zu sehen, was dabei Neues entsteht (5) — so z.B. die
Einsicht, dass bestimmte Anordnungen von Ausdrücken mit anderen bestimm-
ten Ausdrücken immer äquivalent sind, unabhängig von den Werten ihrer (Teil)Ausdrücke.
Mit dem fünften Kapitel ist die Entwicklung der Primären Algebra aus der Primären Arithmetik abgeschlossen, und obwohl die Kapitel fünf bis zehn zur Primären Algebra gehören, beginnt hier etwas Neues: Nach der Darstellung der Genese der Primären Algebra kann sie die Primäre Arithmetik als Feld, in dem gearbeitet wird, ablösen, und wird dadurch auch selbst zum
Gegenstand der
Betrachtung. Es beginnt die algebraische Art des Austauschens oder Rechnens — das Folgern —, es werden ‚Muster‘ der Algebra expliziert und dann im siebten Kapitel Theoreme 2. Grades, d.h. Theoreme der Algebra aufgestellt. Im achten Kapitel werden diverse Aspekte des Verhältnisses der Primären Algebra zur
Primären Arithmetik expliziert. Das neunte und zehnte Kapitel formulieren
allgemeine Eigenschaften der Algebra: ihre Vollständigkeit und die Unabhän-
gigkeit ihrer Initiale. Damit wird die Verwendung, Explizierung, Formulierung und Betrachtung der Primären Algebra abgeschlossen.
3. Bemerkungen zur Primären Algebra und zum ‚Re-entry’ (Kapitel 6 — 12) Das sechste Kapitel THE PRIMARY ALGEBRA beginnt mit der Aufforderung, mit
der Musterunterscheidung fortzufahren. Diesmal handelt es sich jedoch um besondere — und nicht um allgemeine — Muster, die aufgefunden werden können
durch ‚sequentielle Manipulationen der Initialgleichungen‘ der Primären ra. Die hier gesuchten Muster sind nichts anderes als Folgerungen — sie ‚consequences‘ —, die sich daraus ergeben, dass die Basisgleichungen gebra entsprechend den Regeln und den bereits angeführten Theoremen
Algebheißen der Alumge-
wandelt, d.h. in äquivalente Formen durch Ersetzung von Teilausdrücken umgeformt werden. Dieses Umformen wird im Folgenden algebraisches Rechnen genannt.
II.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of Form
55
Im siebten Kapitel THEOREMS OF THE SECOND ORDER werden Einsichten in bzw.
allgemeine Muster algebraischer Rechnungen, d.h. Folgerungen expliziert. Die ersten drei Theoreme der 2. Ordnung stellen eine Art iteratives Erweiterungs-
muster für komplexe Ausdrücke oder Gefiige dar, das sich durch Austausch aus dem ersten algebraischen Initial und einiger ‚consequences‘ ergibt. Die noch fehlenden zwei Theoreme des siebten Kapitels haben eine entgegengesetzte
Intention, da sie die Möglichkeit der Reduktion komplexer Ausdrücke auf ein
allgemeines Schema explizieren.
Das achte Kapitel RE-UNITING THE TWO ORDERS hat einen Sonderstatus, insofern
in ihm zunächst aus einer externen Perspektive das Verhältnis zwischen einem variablen Ausdruck und seinem unter einem Haken stehenden sowie unter zwei Haken stehenden Pendant erörtert wird. Die Betrachtung dieses Verhältnisses nennt Spencer Brown ‚reflexion‘ und weist damit zugleich den Weg für eine Interpretation der ersten ‚consequence‘ aus dem sechsten Kapitel. Anschließend wird die Reflexionsbewegung, die von einem Ausdruck (,In-
halt‘) zu seinem Pendant unter einem Haken (,Abbild‘) und zurück geht, auf das
Verhältnis der Primären Algebra zur Primären Arithmetik übertragen. Hier werden beispielsweise ihre verschiedenen Rechenprozesse zueinander in Beziehung gesetzt oder ihr Verhältnis als das eines Abbildes (image) zu seinem Inhalt (content) beschrieben. Die ‚consequences‘ der Primären Algebra erscheinen hier als Theoreme der Primären Arithmetik und sind insofern algebraische Bilder mit arithmetischem Inhalt. Ebenso können die ,sturen‘ Austauschprozesse (demonstrations) der Primären Algebra als Beweise (proofs) der Theoreme der Primären Arithmetik aufgefasst werden, ‚je nachdem, auf welchen Standpunkt
man sich stellt‘. Im Anschluss daran wird diese Art des gedanklichen Wechsels zwischen verschiedenen Ebenen der Laws of Form - der Ebene der Prozesse und der Ebene ihrer reflexiven Beschreibung — wieder in die formale Darstellung rücktrans-
feriert und ein weiteres Prinzip entdeckt: das Transmissionsprinzip, das allge-
meine Muster der Wertübertragung oder der Wertverdeckung bei bestimmter
Variablenbelegung expliziert. Im achten Kapitel finden also Gedankenbewegungen auf und zwischen verschiedenen Ebenen statt, deren Transfermöglichkeit jedoch nicht begründet, sondern still vorausgesetzt und in der Durchführung bestätigt wird.
Die anschließenden zwei Kapitel erläutern zwei Zusammenhänge zwischen der Primären Arithmetik und der Primären Algebra: Das neunte Kapitel COMPLETENESS widmet sich der Vollständigkeit. Während in der formalen Logik mit der Vollständigkeit eines Kalküls die Tatsache gemeint ist, dass jeder
wahre Satz des Kalküls auch in ihm beweisbar ist (sofern man seine Syntax
56
Tatjana Schönwälder-Kuntze
erweitern darf), bedeutet Vollständigkeit hier, dass alle beweisbaren Theoreme
der Arithmetik als Folgerungen in der Algebra demonstrierbar sind. Das wird über einen Induktionsbeweis gezeigt. Das zehnte Kapitel INDEPENDENCE postuliert die Unabhängigkeit der beiden Initialgleichungen der Primären Algebra, d.h. dass sie nicht auseinander ableitbar sind. Mit dem elften Kapitel EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE beginnt verglichen mit der Primären Algebra etwas partiell Neues, das aber zugleich an die Primäre Arithmetik anknüpft und in einem gewissen Widerspruch zu ihr steht, insofern die Gleichungen hier einerseits wieder mit konkreten Werten belegt werden und andererseits die Anzahl der vollzogenen ‚steps‘ über eine bestimmbare, endliche Anzahl hinausgeht. Hier wird eine andere Art von Verallgemeinerung produktiv als in der Primären Algebra, ein weiterer Strang bzw. Ast expliziert, der aus den
Hinweismöglichkeiten auf die beiden Seiten der ersten Unterscheidung und dem
arithmetischen Stamm hervorgehen kann. Das elfte Kapitel ermöglicht es durch, mit und über das ,Re-entry‘ die Zweiwertigkeit zu verlassen: Es lässt einen dritten ‚imaginary value‘ zu, der auf einen ‚imaginary state‘ hinweist und der dadurch entsteht, dass nicht immer das
gleiche iteriert wird, sondern die Wiederholung abwechselnd auf eine der beiden
Seiten hinweist. Der Übergang von der einen zur anderen Seite und zurück ge-
neriert Zeit, die benötigt wird, um abwechselnd auf die beiden Seiten hinzuwei-
sen. So imaginieren wir Zeit, wenn wir zwei Unterschiedene in ihrer sie unterscheidenden Form nacheinander betrachten. Spencer Brown führt anhand von
drei ‚Re-entry’-Ausdrücken drei konkrete Anwendungen vor: Ausdrücke mit nur einem ungeradzahligen ‚Re-entry’ sind Oszillationsfunktionen; Ausdrücke
mit nur einem geradzahligen ‚Re-entry’ sind Gedächtnisfunktionen und Ausdrücke mit mehreren ‚Re-entries’ sind Modulationsfunktionen.
Das zwölfte und letzte Kapitel RE-ENTRY INTO THE FORM kann einerseits als Variation des zweiten Kapitels gelesen werden, weil dort unter Verwendung anderer Notationssysteme auf die zwei Seiten einer vollzogenen Unterscheidung bzw. auf sie selbst hingewiesen wird. Andererseits wird in den vorgeführten Experimenten eine (weitere) Eigenschaft jedes Zeichens explizit, die bereits in der Voraussetzung des ersten Kapitels steckt, dort aber noch nicht zum Tragen kommt: Jedes Zeichen weist nicht nur auf das Resultat einer beliebigen Unterscheidung hin, es ist auch an sich selbst immer das Resultat einer Unterschei-
dung. Schließlich erfahren wir im letzten Kapitel auch noch, dass wir selbst als
Beobachter ein Zeichen und damit eine Unterscheidung in unserer eigenen Form sind.
IL.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of
Form
57
An dieser Stelle endet der Überblick über die einzelnen Kapitel und es wird für die genaue Textexegese auf den Kommentar verwiesen. Ziel dieser Zusammenfassung war es, den Zusammenhang der Kapitel herauszustellen und damit einige Aspekte der Entwicklung der Laws of Form deutlich zu machen. Sie zeigt sich auch in der Bedeutungswandlung bestimmter Namen für Prozessresultate, die sich daraus ergibt, dass wir ‚Etwas‘ z.B. in verschiedenen Zusammenhängen oder auf verschiedenen Komplexitätsstufen betrachten können: „a word may have different, but related, meanings at different, but related, levels of consideration“ (LoF:91).
Im Folgenden werden die Bedeutungen zweier Begriffe und des Gleichheitszeichens vorgestellt, mit denen je andere Aspekte des Kalküls bezeichnet werden.
‚Step‘ kennzeichnet diverse Vorgänge der Austauschprozesse; das ‚Gleichheitszeichen‘ steht für verschiedene Arten von Äquivalenzen und drückt diverse Resultate der Austauschprozesse aus; und der Begriff ‚form‘ steht für einen der Grundgedanken der Laws of Form schlechthin. 4. Bemerkungen zum Begriff ‚step‘ Der Begriff ‚step‘ steht in den Zaws of Form als Name für Austausch- oder Rechenschritte, mit denen gleichwertige hinweisende Ausdrücke ersetzt werden
dürfen. Die Austauschschritte werden unter verschiedenen Perspektiven thematisiert: Was wird ausgetauscht? Was passiert bei wiederholten ‚steps‘? Ist die Richtung des Austausches relevant? Und: welcher Unterschied besteht zwischen arithmetischen und algebraischen ,steps‘?
Eingeführt wird der Begriff ‚step‘ im dritten Kapitel: Jede Hakenansammlung kann gemäß den arithmetischen Initialgleichungen durch eine äquivalente Hakenansammlung ausgetauscht werden. Weiterhin können mit ‚steps‘ Hakenkopien zu anderen gültig hinzugefügt oder auch weggestrichen werden. Keiner
dieser Schritte ändert etwas daran, worauf der Hinweis gerichtet ist, d.h. jeder Schritt verändert nur die Hinweisform, ohne dabei die Funktion, auf je eine
bestimmte Seite der ersten Unterscheidung hinzuweisen, zu beeinträchtigen. Für einen ‚step‘ gilt demnach, dass er nur die (äußere) Form des Hinweises verändert, nicht aber die Bedeutung des Hinweises, d.h. auf welchen Wert, welche Seite hingewiesen wird.
‚Steps‘ bezeichnen so erstens iterative Generierungsprozesse, die keine qualitative, keine inhaltliche, keine Wertveränderung mit sich bringen, sondern nur
an der Quantität in der Form etwas verändern. Sie sind Generatoren, mit denen unendlich viele Hinweisformen auf die beiden Seiten der ersten Unterscheidung hergestellt werden können. In diesem Sinne sind die ‚steps‘ vom gleichen Typ
wie das ‚calling‘ aus dem ersten Kapitel: Durch wiederholte ‚steps‘ verändert sich ebenso wenig an der spezifischen Referenz der jeweiligen Hinweisformen,
58
Tatjana Schönwälder-Kuntze
wie die Wiederholung des Namens etwas am ‚Worauf‘ des Namens ändert. ‚Steps‘ beschreiben demnach einen Prozess, mit dem keine Valenz- oder Quali-
tätsveränderung einhergeht. Das dritte Kapitel legt fest, dass sowohl die Reihenfolge und die Richtung als auch die Anzahl bei wiederholten ‚steps‘ irrelevant sind. Das arithmetische Rechnen besteht darin, durch ‚steps‘ die Ausdrücke unter Beibehaltung ihrer
Bedeutung beliebig zu erweitern bzw. zu vermehren oder zu reduzieren, gleich-
gültig,
wird.
in welcher
Die
(LoF:11),
Reihenfolge
arithmetischen
in denen
oder Richtung
Initialgleichungen
die allgemeinen
der Austausch
sind „forms
Reduzierungs-
und
vorgenommen
of step
allowed“
Erweiterungsmuster
formalisiert sind. Die ‚steps‘ der primären Algebra werden nicht explizit eingeführt, aber das formale Zeichen für ‚steps’ aus der Vorbereitung der Arithmetik wird zur Bezeichnung der Umwandlungsprozesse in den ‚consequences‘ weiterhin verwen-
det. In der Algebra verändert sich die Bedeutung der ‚steps‘ insofern, als sie
nicht mehr
die konkreten
Hinweisformen
austauschen,
sondern unbestimmte
algebraische Ausdrücke, d.h. die Relationen, Gefüge oder Verhältnisse der Variablen zueinander, die durch Manipulation im Rahmen der algebraischen Substitutions- und Ersetzungsregeln aus den Formen der Initialgleichungen entstanden sind. Da die Ausdrücke in den algebraischen Gleichungen auf keine bestimmte Seite referieren, drücken die Gleichungen nur noch die Äquivalenz von Gefügen im Allgemeinen aus. Damit werden mit den ‚steps‘ nur noch äquivalente Hinweise ausgetauscht, die aber — im Gegensatz zu den Haken - keiner
konkreten Seite mehr zugeordnet werden können. So erhalten sie zwar weiterhin die Valenz eines Ausdruckes, aber nicht mehr einen spezifischen Wert. Auch in der Algebra gilt, dass es auf die Anzahl der Veränderungsschritte nicht ankommt — solange aus der einen Relation in einer endlichen Anzahl von
Schritten die andere gefolgert werden kann. So besteht das algebraische Rechnen in regelhaften Veränderungen von äquivalenten Verhältnissen von Variab-
len und Operatoren, d.h. die algebraischen ‚steps‘ sind verschiedene, stetige und
regelhafte Umformungen der algebraischen Initialgleichungen und ihrer Folgerungen. Mit dem Fortschreiten des Kalküls werden immer mehr ‚steps‘ in einer einzigen Gleichung zusammengefasst, wie z.B. in den algebraischen ‚consequences‘ C1 bis C9. Durch den Nachweis, dass die beiden Terme der Gleichungen
äquivalent sind, können sie gegeneinander ausgetauscht werden, ohne sämtliche Austauschschritte sowohl auf jeder Seite für sich als auch von der einen zur anderen Seite der Gleichung nachvollziehen zu müssen. Damit wird eine Anzahl von ‚steps‘ in einem einzigen Austauschschritt kondensiert und dies wird mit den Gleichungen dargestellt. Zu beachten ist, dass es hier um die Anzahl der rechnerischen ‚steps‘ selbst geht, die einer Reduktion unterzogen werden. Damit
diese Reduzierung nicht zu Inkonsistenzen führt, wird festgelegt, dass die Re-
II.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of
Form
59
duktion immer zum gleichen Resultat führt: „in any calculation, we regard any number of steps, including zero, as a step.“ (LoF:37).
Bis zum elften Kapitel werden die ‚steps‘ in den arithmetischen Beweisen
bzw. in den algebraischen Folgerungen angewendet, spielen aber selbst keine
exponierte Rolle. Das ändert sich im elften Kapitel grundlegend, weil sie hier derart erweitert werden, dass der Nachvollzug nicht mehr möglich ist: Im elften Kapitel wird eine ‚step-sequence‘ generiert, in der ein algebraischer Ausdruck derart verändert wird, dass er die Form eines ‚Echelons‘ erhält, d.h. eine Form,
deren Teilausdruck wiederholt wird. Da diese Folgerungs- bzw. Umwandlungs-
schritte unendlich oft wiederholt werden können, lassen sich endlos viele ‚Echelons‘ generieren, die mit dem ursprünglichen Ausdruck äquivalent sind.
Das Neue
im elften Kapitel besteht nun darin, eine unendliche Anzahl
‚steps‘ — mithin keine ‚number of steps‘ — in einem Ausdruck zu kondensieren,
d.h. sich ein ‚Echelon’ mit endlos vielen gleichen Teilausdrücken vorzustellen. Von
einer notwendigen
Äquivalenz zwischen
dem
ursprünglichen
Ausdruck
und seinem unendlich oft iterierten ‚Bruder‘ kann dann jedoch nicht mehr die
Rede sein, da der Nachweis der Äquivalenz über die endliche, d.h. nachvoll-
ziehbare Anzahl der Veränderungsschritte zu laufen hat. Spencer Brown ermög-
licht dennoch durch den Kunstgriff des ‚Re-entry‘ den Nachweis der Äquiva-
lenz zwischen dem ursprünglichen Ausdruck und ‚seinem‘ Echelon. An den neu
entstandenen Gleichungen lässt sich durch Einsetzung zeigen, dass bei einer bestimmten Belegung der Variablen der Wert des ‚Echelon’ und seines Re-entry variiert, d.h. dass die Gleichung zwei verschiedene Lösungen hat bzw. dass mit
einer Gleichung zugleich auf beide Seiten hingewiesen wird, oder dass bei der Aufhebung der Beschränkung der Schritte auf eine endliche Anzahl auf eine andere Art quasi-algebraische Gleichungen, die zwei Lösungen haben, herge-
stellt werden können. Mit der unbestimmten Anzahl der Wiederholungen der ‚steps‘ geht aber die Eindeutigkeit der Gleichungen verloren. Die unendliche Iterierbarkeit der ‚steps‘ erlaubt es daher, ‚Gleichungen‘ zwischen hinweisenden Ausdrücken aufzustellen, die auf etwas anderes als eine der beiden Seiten refe-
rieren, nämlich auf die Oszillation von Hinweisen auf beide Seiten der ersten
Unterscheidung. Die reine Iteration oder die reine Wiederholung von ‚names‘, von Teilausdrücken oder von ‚steps‘ führt nicht zu qualitativen Veränderungen, solange sie im wörtlichen Sinne nachvollziehbar, also ‚step by step‘ durchführbar bleiben.
Wird aber der Raum des faktisch Schrittfolge vorgestellt, ‚imaginiert‘, zu einem ‚qualitativen Sprung‘, der besteht das Imaginäre der Form, die in den Blick nehmen zu können.
Möglichen verlassen und eine unendliche dann passiert etwas Neues, dann kommt es über das real Machbare hinausgeht: Darin erlösende Illusion, die ganze Form zugleich
60
Tatjana Schônwälder-Kuntze
5. Das Gleichheitszeichen
Das Gleichheitszeichen wird im zweiten Kapitel eingeführt als „sign = of equivalence be written between equivalent expressions.“ (LoF:5). Es besagt die Wertgleichheit zweier Ausdrücke. Bis zur Primären Algebra könnte man dieses Verhältnis oder die Relation der Gleichwertigkeit zweier Hinweiszeichen selbst
als Hinweis auf eine der beiden Seiten lesen, da es jede arithmetische Gleichung immer nur mit Hinweisen auf eine der beiden Seiten der ersten Unterscheidung
zu tun hat, mithin auf diese Weise selbst implizit Hinweis auf eine der beiden Seiten ist.
In der Primären Algebra verlieren Gleichungen dann diese implizite Hin-
weisfunktion, weil die Gleichheit, die sie beschreiben, von einer anderen Art ist.
Es geht nicht mehr um die je spezifische Seite der ersten Unterscheidung, auf die mit den Hinweiszeichen hingewiesen wird, sondern nur noch um das Verhältnis der Hinweiszeichen zueinander an sich. Dass von der Spezifität der Hinweiszeichen in der Algebra abgesehen werden kann, zeigt sich auch darin,
dass Variablen eingeführt werden können. So verschiebt sich der Fokus der
Aufmerksamkeit:
In der Arithmetik wurde
die Gleichheitsrelation eingeführt
über äquivalente Hinweisformen oder -zeichen, die in ihrer Gestalt verschieden, aber in ihrer Bedeutung bzw. Funktion gleich waren. In der Algebra ist nur noch die Äquivalenz-Relation an sich von Interesse: nicht was sie gleich setzt, sondern dass sie gleich setzt, wird thematisiert. Das Gleichheitszeichen in den algebraischen Gleichungen sagt demnach et-
was über die Aquivalenz der Verhältnisse: Rechts und links des Gleichheitszei-
chens stehen Gefüge, d.h. verschiedene komplexe Ausdrücke, in denen sich Hinweiszeichen — Variablen oder ,crosses‘ 一 zueinander befinden. Algebraisch
äquivalent sind sie, insofern der eine Ausdruck durch ‚steps‘ zum anderen Ausdruck gemacht werden kann, insofern sie durch Austausch ineinander überführbar sind. Sowohl die arithmetischen als auch die algebraischen Gleichungen stellen kondensierte Austauschprozesse dar, die werterhaltend sind und die notfalls
‚step by step‘ nachvollzogen werden könnten. Die Gleichungen ‚zweiten Gra-
des‘ im elften Kapitel hingegen verlieren auch diese Bestimmtheit, denn mit
ihnen ist die endliche Anzahl der Austauschschritte nicht mehr implizit mitgemeint. So ‚passiert‘ den Austauschschritten hier etwas ähnliches wie den Aus-
drücken, die durch Variablen ersetzt werden: Es wird nur noch dargestellt, dass ausgetauscht wurde, aber nicht mehr, wie oft; ebenso wie eine Variable nur noch darstellt, dass sie für einen Wert steht, aber nicht mehr für welchen. Das
Gleichheitszeichen wird also mit zunehmender Komplexität immer weniger
spezifisch, es weist immer weniger auf konkrete Äquivalenzen hin und immer mehr auf die Äquivalenz komplexer Strukturen oder Zusammenhänge.
Im zwölften Kapitel schließlich werden mit dem Gleichheitszeichen Konfu-
sionen angezeigt zwischen den Hinweiszeichen für oder auf eine vollzogene
IL.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of Form
61
Unterscheidung einerseits und einer vollzogenen Unterscheidung andererseits. So expliziert hier das Gleichheitszeichen die doppelte Eigenschaft jedes Zeichens, eine Unterscheidung zu sein und zugleich auf etwas Unterschiedenes in seiner Form hinzuweisen. 6. Die Bedeutung des Begriffes ,form‘ Die Form
einer Unterscheidung besteht aus den vier Aspekten, die simultan
entstehen, wenn eine Unterscheidung getroffen wird: Die Grenze, die unter-
schiedenen Seiten, der ‚Hintergrund‘ oder Kontext, vor dem unterschieden wird. Damit bildet die Form eine Einheit, die aus einer Differenz besteht: eine Form mit einem Inhalt, der von anderem unterschieden wurde. Die Betonung liegt hier aber nicht auf der Frage, inwiefern sich die zwei unterschiedenen Seiten unter-
scheiden, sondern darauf, dass es überhaupt eine Ungleichheit gibt. Durch die
Unterscheidung werden sie als verschieden voneinander zueinander in Beziehung gesetzt und bilden als solche eine Einheit. Damit gehört zur Form jedes ‚Inhalts‘ im weitesten Sinne immer auch das, was er nicht ist, die andere Seite seiner Form.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich der grundlegende Form-Begriff von
Spencer Brown
wesentlich
von anderen, philosophiegeschichtlichen
chen, in denen beispielsweise die
Gebräu-
Form dem Inhalt oder der Materie gegenüber-
gestellt wird. In diesen Fällen bezeichnet die Form nur die eine, unterschiedene Seite, nicht aber die simultan mitentstehenden anderen Aspekte.
Bei den ‚Formen, die aus der Form genommen werden‘ des zweiten Kapitels handelt es sich auch nicht um den gebräuchlichen Formbegriff, obwohl es hier
um Hinweis-Formen geht, die je nur auf eine der beiden Seiten referieren. Auch
die wiederholte Verwendung als ‚form of cancellation‘ für die erste Initialgleichung der Primären Arithmetik oder der ‚form of transposition‘ für die zweite Initialgleichung der Primären Algebra, oder die Rede von den ‚forms of step allowed‘ oder von den ‚forms of reference‘ bezeichnen immer Hinweis-Formen,
mit denen entweder auf die eine Seite oder auf die andere Seite der ersten Un-
terscheidung, nie aber auf beide Seiten zugleich hingewiesen werden kann. An sich selbst sind diese Hinweisformen oder Ausdrücke Formen im Spencer
Brownschen Sinne, was im ersten Theorem im vierten Kapitel, das den Namen ‚Form‘ trägt, ausdrücklich expliziert wird: Hinweise gelten als Ausdrücke, wenn sie in einer abgeschlossenen Form stehen, wenn sie gemeinsam eine Form im Sinne der Form der Unterscheidung bilden. Die Form als grundlegender Begriff bezeichnet also alle Aspekte einer Un-
terscheidung zusammen; die Gesetze der Form entstehen hingegen aus den verschiedenen Möglichkeiten auf zwei der Aspekte, d.h. auf die beiden entstan-
denen Seiten der Form hinzuweisen. Es handelt sich um allgemeine Gesetze, die für den Gebrauch von Hinweisformen auf die zwei Seiten einer Unterscheidung
gelten. Der Begriff ‚Gesetz‘ aus dem Titel, der im Haupttext im ersten Kapitel
62
Tatjana Schönwälder-Kuntze
bei der Formulierung der beiden Axiome wieder aufgenommen
wird, bezieht
sich auf den iterierten Gebrauch der zwei Hinweisarten. In der Arithmetik geht es um vielfältige Generierungsmöglichkeiten von äquivalenten Hinweisen auf je eine der beiden Seiten; in der Algebra um die Äquivalenz von Hinweisgefügen oder von Verhältnissen von Hinweismöglichkeiten auf beide Seiten, und mit
dem ‚Re-entry’ wird eine Hinweismöglichkeit auf die gesamte Form, d.h. auf
beide Seiten und ihre Unterschiedenheit zugleich, eingeführt.
Die oszillierende Gleichung, die durch das ‚Re-entry’ ermöglicht wird, stellt
formal die Form in ihrer differenzierten Einheit dar. Sie ist für Spencer Brown der Schlüssel zum Verständnis für Paradoxien. Aus dieser Perspektive könnte
gesagt werden, dass Paradoxien den Versuch kennzeichnen, zugleich auf die
beiden Seiten einer Unterscheidung hinzuweisen, was nur als Hinweis auf die Oszillation möglich ist, die das abwechselnde Nacheinander ausdrückt. So ent-
stehen Paradoxien, weil wir versuchen, das simultane Entstehen der Aspekte im Akt der Unterscheidung im Akt des Hinweisens zu kopieren — das geht aber nur,
indem wir oszillierend Zeit generieren. Zeit entsteht so nicht durch endlose Wiederholungen ein und desselben, sondern durch iterierte Abwechslung oder Veränderung. Paradoxien und ungeradzahlige ‚Re-entries’ wären in dieser Hin-
sicht Darstellungsformen der Zeit.
Mit dem in den Laws of Form dargelegten Kalkül wird explizit auf die beiden
Seiten der ersten Unterscheidung hingewiesen, und weil jeder Hinweis an sich selbst eine Unterscheidung ist, weist der Kalkül so auch auf seine eigene abstrakte Form hin, ist er eine Darstellung der Form der Unterscheidung jedes Hinweises schlechthin. Die kurzen Einblicke in den Bedeutungswandel einzelner Begriffe oder Namen
für Prozesse oder Prozessresultate, die in den Laws of
Form expliziert und ver-
wendet werden, beenden die Bemerkungen zur Architektur. Mit dem Schema
wird ein Leitfaden angeboten, der die Orientierung in dem zunächst vielleicht kryptisch anmutenden Buch erleichtern kann. Die Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel bieten eine — zugegebenermaßen interpretierende — Übersicht und sind ebenfalls als Orientierungshilfe gedacht. Die abschließende Skizzierung der drei Begriffe fungiert einerseits als Erklärung, andererseits jedoch auch als Hinweis auf die ‚architektonische Schönheit‘ und die Rekursivität der Laws
of Form, als Anstoß, sich weitere innere Bedeutungslinien und -zusammenhänge
klar zu machen.
Im Folgenden wird der Text der Zaws of Form Kapitel für Kapitel kommentiert. Wir empfehlen dazu den Text im Original mitzulesen.
III. Kommentar zu den Laws of Form
Nachdem die Laws of Form im letzten Teil in verschiedene Kontexte gestellt und in ihrem architektonischen Aufbau vorgestellt worden sind, werden in diesem Teil die zwölf Kapitel der Laws of Form kommentiert. Der Kommentar orientiert sich streng am Text und vollzieht damit die Entwicklung des Gedankengangs und des Kalküls Schritt für Schritt mit. Der Stil der Kommentierung ist den Erfordernissen der einzelnen Kapitel angemessen und daher nicht immer einheitlich. Wir haben vor allem in den
Kommentaren zu den ersten Kapiteln drei Ebenen unterschieden: (B) Hinweise zur Etymologie und zum Gebrauch wichtiger Begriffe. Es sol-
len die von Spencer Brown bewusst erinnerten lateinischen Wortwurzeln sowie Eigentümlichkeiten des Englischen offengelegt werden. Damit tritt manchmal
eine Bedeutungsvielfalt zu tage, der das gesprochene, zeitgenössische Englisch
zuweilen nicht (mehr) entspricht. (SK) und (AUM) Selbst-Kommentierungen und AUM-Konferenz. Die Bemerkungen Spencer Browns zu den Laws of Form außerhalb des Haupttextes werden einbezogen. Dazu gehören die verschiedenen Vorworte, Einleitungen und der Anmerkungsapparat, sowie die vier Transkripte der AUM-Konferenz von 1973.
(D Von diesen beiden Ebenen wird die Interpretation gestützt, die auch Vor-
und Rückgriffe beinhalten wird, sofern sie sich nicht vermeiden lassen.
Im Kommentar zum zweiten Kapitel ist vor allem auf den injunktiven Aspekt
Wert gelegt worden, weshalb hier eine andere Form der Darstellung gewählt
wurde. Auf die Appendizes wird im vierten Teil der vorliegenden Einführung eingegangen.
0. Kapitel: Womit der Anfang gemacht wird
Katrin Wille
Dem Haupttext der Laws of Form ist eine Reihe von Schriftzeichen vorangestellt. Den meisten westlichen LeserInnen tritt damit zu Beginn des Textes ein fremdes Schriftbild entgegen, unübersetzt und unkommentiert. Die dieser Sprache unkundigen LeserInnen werden im Dunkeln gelassen über Bedeutung, Sinn,
genauen Ort.' Es liegen vor allem drei Wege nahe, mit dieser Situation umzuge-
hen:
Ein erster Weg ist, die fremdartige Zeichenreihe ästhetisch als Kalligraphie
aufzufassen und nach kurzer Betrachtung in den ,eigentlichen‘ Text einzutreten. Ein zweiter Weg ist, sich auf der Suche nach Sinn, Art und dem genauen Ort des Textes ein paar Schritte weit in eine fremde Welt zu begeben. Ein dritter Weg
ist, sich zu fragen, wieso diese Zeichen unmittelbar vor dem ersten Kapitel ste-
hen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen threr Bedeutung, dem Ort, an dem sie stehen und dem Inhalt der Laws of Form?
Wir wollen den ersten Weg wiederum unseren LeserInnen überlassen und
die beiden anderen Wege nacheinander einschlagen. Der zweite Weg führt uns in die altchinesische Welt des Daodejing (Tao-Te-King). Der Satz und sein Kontext im , Daodejing‘ Die chinesische Zeichenreihe ist der dritte Vers aus dem ersten Kapitel des
Daodejing von Laozi (Lao-tse)’:
無
Wu
Nicht, Ohne, Nichts
名
ming
Name Bezeichnung
天
tian
Himmel
地
di
Erde
之
zhi
von des, deren
始
shi
Anfang
Am Ende des Vorworts von 1968 dankt Spencer Brown fur die Erlaubnis, einen Teil einer alten Faksimile-Kopie vom Daodejing photographiert haben zu dürfen, vgl. LoF:xviii. Wir erfahren also im Vorfeld, dass die Schriftzeichen aus dem Daodejing stammen, nicht aber den genauen Ort oder die Bedeutung.
Es werden die chinesischen Schriftzeichen, die Pinyin-Transkription und deutsche Uberset-
zungsmöglichkeiten angegeben.
III. Kommentar— 0. Kapitel: Womit der Anfang gemacht wird
65
Da das Chinesische eine isolierende und keine flektierende Sprache ist, gehört zu dem chinesischen Satz eine Ambiguität, die in den westlichen Sprachen
durch die Entscheidung für eine Wortart verloren geht.” Die Ambiguität hängt
an der grammatischen Rolle des ersten Wortes wu: nicht, ohne, Nichts. Möglichst wörtlich übersetzt lauten die beiden Varianten: (1) Ohne Name ist der Anfang des Himmels und der Erde.
(2) ‚Nichts‘ ist Name des Anfangs von Himmel und Erde.
In der Mehrzahl der englischen und deutschen Übersetzungen wird die erste
Variante gewählt, es findet sich aber auch eine ganze Zahl englischer, deutscher
und französischer Übersetzungen, die der zweiten Variante folgen.‘
In den beiden zentralen klassischen Kommentaren des philosophischen und des religiösen Daoismus, dem des Wang Bi und dem des Heshanggong, wird die Ambiguität dieser Stelle deutlich:
Wang Bi:
Heshanggong:
“All being originated from nonbeing. The time before physical forms and names appeared was the beginning of the myriad
things.”
“The nameless designates the Tao. Tao is without
form. Therefore it cannot be named.‘
Die Ambiguität richtet sich also auf die Art des Anfangs. Ist der Anfang ohne
Namen oder ist der Name des Anfangs ,Nichts’ oder, wie in manchen Ubersetzungen zusammengezogen wird, ist der Anfang Nichts? Oder ist der Anfang eben dieses Vexierbild?
Der Vers gehört zu einer Einheit von vier Versen, mit denen das erste Kapitel beginnt. Die vier Verse lauten in einer möglichen Übersetzung: 1 Der Weg, der wirklich Weg ist, ist ein anderer als der unwandelbare Weg.
2 Die Namen, die wirklich Namen sind, sind andere als unwandelbare Namen.’
3 Namenlos/Nichts ist der Anfang von Himmel und Erde.
4 Der Name ist die Mutter der zehntausend Dinge.’
Für diese und alle folgenden sinologischen Hinweise danken wir Rolf Elberfeld. Duyvendak mit Bezug auf Ma Hsü-lun, Chu, Thomas Cleary, Gu, Man-Ho-Kwok, Martin Pohner, Jay Ramsey, Kwok. Wang Pi 1979:1. Es ist vor allen Dingen Wang Bi, der durch seinen Kommentar dem Nichts im Daodejing eine herausgehobene philosophische Bedeutung gegeben hat, die dann für die Rezeption des Buddhismus bedeutsam geworden ist. Erkes 1950:13
Nach der französischen Übersetzung von Duyvendak: „La Voie vraiment Voie est autre qu’une
voie constante. Les Termes vraiment Termes sont autres que des termes constants. (Le terme Non-étre indique le commencement du ciel et de la terre; le terme Etre indique la mére des dix mille choses.).”, Duyvendak 1987:3.
Versuch nach den oben genannten Uberlegungen.
66
Katrin Wille
Der Satz vom Anfang bei Spencer Brown Richtet man nun die Aufmerksamkeit auf den Ort, an dem der chinesische Vers
in den Laws of Form auftaucht, dann zeigen sich einige Ubereinstimmungen zwischen Spencer Browns Umgang mit dem Vers und seinem Inhalt. Denn zum
einen wird ein Satz über den Anfang an den Anfang der Laws of Form gestellt. Zum anderen geschieht den meisten LeserInnen des englischen Textes der Laws of Form wohl das, worüber der Vers spricht: die chinesischen Zeichen am Anfang bleiben den meisten ein semantisches Nichts und ohne Namen, namenlos. Spencer Brown wählt aus dem ersten Kapitel des Daodejing diesen Vers und lässt die anderen ungenannt. In den drei nicht zitierten Versen ist vom Weg und vom Namen die Rede, nämlich zusammenfassend gesagt vom Verlaufscharakter des Weges und des Namens” und von dem, was aus dem Namen entstehen kann
(‚die zehntausend Dinge‘). Wir können mutmaßen, dass Spencer Brown hier
ungenannt lässt, was er in den Laws of Form auf seine Weise auszuführen gedenkt. Wir können erwarten, etwas über das Verhältnis von Nichts, Namenlo-
sigkeit und Namen, das angemessene Verständnis des Namens und die Entste-
hung von Komplexität aus dem Namen zu erfahren. Machen wir den Anfang mit
dem ersten Kapitel: THE
°
Vgl. Wohlfart 2001a:27-54.
FORM.
Das erste Kapitel: THE FORM
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille
1. Titel
Der Titel des ersten Kapitels lautet: The Form. Es geht um die Form schlecht-
hin, darum, wie sie entsteht, und was alles zu ihr gehört. Es werden also keine
bestimmten Formen und Formbildungsprozesse untersucht, sondern vielmehr
die Grundlagen fiir
Formbildungsprozesse verschiedenster Art. Die
Form wird
als Form der Unterscheidung bestimmt und es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie auf Aspekte/Teile dieser Form hingewiesen werden kann. 2. Voraussetzungen
Die Form der Unterscheidung als die Form zu nehmen, ist das Ergebnis der dreigliedrigen Voraussetzung, mit der das erste Kapitel beginnt: „We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an
indication without drawing a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form.”
(I) Als gegeben angenommen
werden die ,Idee der Unterscheidung’
und die
‚Idee des Hinweisens’. Die Art der Beziehung dieser beiden Ideen lässt zwei
Deutungen zu: Nach der ersten Deutung werden die beiden Ideen des Unter-
scheidens und des Hinweisens so miteinander verknüpft, dass die Möglichkeit, einen Hinweis zu geben, von dem Treffen einer Unterscheidung abhängig ist,
weil es sonst nichts gäbe, worauf hingewiesen werden könnte. Da also der Prozess des Hinweisens den Prozess des Unterscheidens erfordert, kann die Form der Unterscheidung zur Form schlechthin erhoben werden. Nach der zweiten
Deutung zeigt sich, dass die beiden Ideen des Unterscheidens und des Hinweisens ursprünglich zwei Momente eines einzigen Prozesses bezeichnen, die nicht separierbar sind, insofern jeder Hinweis immer zugleich und ‚an sich selbst’
auch eine Unterscheidung ist: als Hinweis unterscheidet er sich von anderem. Auch deshalb kann die Form der Unterscheidung als die Form gelten. Beide Deutungen tauchen im Aufbau der Laws of Form
auf, an manchen
Stellen ist die Differenzierung zwischen zwei Prozessen Unterscheidung und Hinweis relevant, an anderen gerade die Aufhebung dieser Differenzierung.” I
LoF:1. Solange kein erneuter Hinweis erfolgt, stehen die anschließenden Zitate ebd.
68
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille
Im weiteren Verlauf des ersten Kapitels werden die beiden Prozesse einzeln analysiert. Da die Form der Unterscheidung zur Form schlechthin erklärt wer-
den kann, wird zunächst der Prozess des Unterscheidens herausgenommen. Er
wird als das betrachtet, was Form(en) generiert. Dies bildet den Ausgangspunkt
für alle weiteren Überlegungen. Dann wird die Möglichkeit gezeigt, dass und
wie auf bestimmte Teile/Aspekte der Form durch verschiedene Prozesse Hinweise erfolgen können.
Die dreigliedrige Voraussetzung kann also wie ein Keim aufgefasst werden, in dem angelegt ist, was im Folgenden entwickelt wird. Das erste Kapitel ließe
sich so als ein Differenzierungsprozess auffassen, der an einem einzigen Akt:
Unterscheidendes Hinweisen oder hinweisendes Unterscheiden immer mehr Aspekte hervortreten lässt und in ein Verhältnis zueinander setzt. Dafür ist es
wichtig, die Begriffe ‚distinction‘, ‚indication‘ und ‚idea‘ näher zu betrachten. (B)
,distinction’. Der spezifische Gebrauch
von
,distinction’
wird deutlich,
wenn man den hier nicht verwendeten Begriff ‚difference’ dagegen hält. Während letzterer sowohl im Lateinischen (differentia) als auch im Englischen eher
für bereits bestehende, vorfindliche, existierende Unterschiede steht, wird ,distinction’ (distinctio) eher für eine unterscheidende Handlung gebraucht. So weist die englische Redewendung: ‚a distinction without a difference’ darauf hin, dass es eine unterscheidende Handlung geben kann, die auf keinem wirklichen Unterschied beruht. ,Distinction’ kann beides bedeuten: die Herstellung von Unterschiedenen und von Differenzen und die hergestellten Unterschiede, die Resultate von Unterscheidungen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass ,distinction’ hier verwendet wird, um primär auf den unterscheidenden Vollzug, den Unterscheidungsprozess selbst aufmerksam zu machen, der den Unterschied als ‚difference‘, als Resultat erzeugt. ‚indication’. Der Gebrauch von ‚indication’ kann an dieser Stelle durch seine beiden Bedeutungen motiviert werden, zum einen im Sinne von Zeichen (,sign’)
und zum anderen im Sinne von Wink (,suggestion’). Wenn ,indication’ als Zeichen für etwas verwendet wird, dann in dem Sinn, wie ein Signifikant auf ein Signifikat oder wie ein Wegweiser auf etwas hinweist. Wird ‚indication’ im 2
Dieses Vorgehen ist kennzeichnend für den Stil und den Inhalt der Zaws of Form. Es wird gezeigt, wie aus einem einzigen Prozess Differenzierungen generiert und wieder zurückgenommen werden können - je nach Standpunkt und Kontext. Für solche und andere methodologische Mehrdeutigkeiten verwenden wir hier und im Folgenden den Terminus ‚systematische Ambiguität‘. Damit sind intendierte Mehrdeutigkeiten gemeint, durch die verschiedene und zum Teil auch gegenläufige Bedeutungen in einem gemeinsamen Vorläufer verdichtet sind. So können an einigen Stellen gezielt verschiedene Möglichkeiten auftauchen, die an anderen Stellen bei Bedarf auseinander genommen werden können. Dieser Ausdruck stammt von Matthias Var-
ga von Kibed und spielt für unsere Deutung eine wichtige Rolle.
III. Kommentar — Das erste Kapitel: THE FORM
69
Sinne von ,suggestion’ gebraucht, dann ist es selbst eine Andeutung, ein Ankiindiger von etwas, wie etwa das Wetterleuchten von weitem ein Unwetter
ankündigt, weil es ein Ausdruck ist, der zum Ausgedrückten selbst gehört. Um beide Bedeutungen einzuschließen, scheint die deutsche Übersetzung ,Hinweis’ angemessener als die häufig verwendete Übersetzung ,Bezeichnung’, die den ersten Bedeutungsaspekt betont und den zweiten verloren gehen lässt.
‚idea’. Der spezifische Gebrauch des philosophiegeschichtlich aufgeladenen Begriffs ,idea’ an dieser Stelle lässt sich motivieren durch eine Überlegung, die Spencer Brown auf der AUM-Konferenz angestellt hat. (AUM) Der Beginn der Laws of Form ist das Ergebnis eines Reduktionsprozes-
ses auf das Denken von Unterscheidung ohne weitere Qualifikationen der Unterscheidung durch Größe, Gestalt, Abstand oder andere Qualitäten. Um diesen Beginn nachzuvollziehen, müssen wir also absehen von allen konkreten Be-
stimmungen, die wir immer schon mit Unterscheidungen verbinden. Anders
gesagt, wir müssen unsere Gewohnheiten der Qualifizierung verlernen und alles beiseite lassen, was nicht nur die ‚Idee’ der Unterscheidung ist (vgl. AUM 1,9). Das Ergebnis, die ‚Idee der Unterscheidung’, ist aber nicht wie eine mentale Entität zu verstehen, sondern wie eine zunächst nicht weiter qualifizierte Beziehung zwischen Unterschiedenen (vgl. AUM 4,1). (D Mit der Voraussetzung der ‚Idee der Unterscheidung’ wird dazu aufgefordert, sich auf den Nachvollzug des Prozesses ‚distinction’ einzulassen. Hier ist
der reine Prozess des Unterscheidens gemeint, ohne ihm schon bestimmte Qua-
litäten zuzuschreiben, sowie das, was dieser Prozess mit sich bringt: die ‚Form
der Unterscheidung’. Diese ist nicht wie eine abstrakte Entität zu verstehen, sondern eher wie der Generierungsprozess eines Beziehungsgefüges. Das bedeutet, dass an dieser Stelle nicht nur von allen standortbezogenen, besonderen Bedingungen dessen, der unterscheidet, sondern vom Beobachter überhaupt
abgesehen wird. 3. Definition
Nach der Aufzählung der Voraussetzungen wird der Prozess der Unterscheidung
erst genauer bestimmt, denn die anschließende Zwischenüberschrift lautet: De-
finition. Ihr folgt eine explizite Definition des Begriffes ,distinction’: Distinction is perfect continence.“
(B) ‚perfect‘. Das lateinische Verb ‚perficere’ hat mehrere Bedeutungsnuancen:
Neben ‚vollenden’, ‚beendigen’, ‚beschließen’, steht es für ‚verfertigen’, ‚ausführen’, ‚zustande bringen’, ,vollziehen’, aber auch für ‚ausarbeiten’ und ,ver-
70
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille
fassen’ bzw. ,durchsetzen’ und ,bewirken’. Als Adjektiv kommen noch die Bedeutungen ‚vollkommen‘ und ‚tüchtig‘ hinzu. Im Englischen steht es auch noch für ‚vollständig’, ‚exakt’ und ,akkurat’.
‚continence‘. Im englischen Sprachgebrauch kommt ‚continence‘ in zwei sehr
verschiedenen Bedeutungsfeldern vor. Zum einen steht es für die generelle Fä-
higkeit zur Selbstkontrolle, aber auch Selbstgenügsamkeit ohne spezifischen Bezug zu einem Etwas, dessen man sich enthielte, anders als das deutsche Wort
‚Enthaltsamkeit‘. Zum anderen kommt es in einem spezifischen Geometer- bzw. Ingenieursgebrauch vor und meint hier den räumlichen Zusammenhalt im Sinne
der Zentripetalkraft und im Sinne des Zusammenhalts fester Körper.’ Die erste
Verwendung entspricht exakt dem substantivischen Gebrauch im Lateinischen (continentia); betrachtet man allerdings das abgeleitete Adjektiv (continens),
kommen noch weitere Bedeutungen hinzu. Das wären ,angrenzend’, ‚anstoBend’ und ‚unmittelbar folgend’, aber auch ‚zusammenhängend’, ‚ununterbrochen’, ‚fortlaufend’, ‚anhaltend’. Das Verb (continere) hält aber auch die geo-
metrische Verwendung bereit im Sinne von ,zusammenhalten’ sowie ‚enthal-
ten’, ‚einen Inhalt bilden’, ‚einschließen’, ‚umfassen’, ‚in sich tragen’, ‚festhal-
ten’ und ,begrenzen’. Damit ist fast die gesamte Bedeutungsvielfalt, die in der Definition steckt und im folgenden Text ausführlicher erläutert wird, bereits angesprochen.
‚is’ bzw. ‚to be’ (SK) Spencer Brown betont in einer der verschiedenen Vorbemerkungen zum Haupttext der Laws of Form, dass bei der Verwendung von ‚sein‘ in Definitio-
nen keine Aussage darüber getroffen werden soll, was und wie etwas ist, sondern dass eine Regel in einem Spiel ausgedrückt werden soll. Das Vorkommen von ‚ist‘ oder ‚sein‘ in Definitionen kann als ‚lasst uns so tun, als ob’ verstanden
werden. Durch die Definition sind wir also aufgefordert, Unterscheidung zunächst in der vorgeschlagenen Weise aufzufassen.“
An dieser Stelle sei Stephan Packard für viele Hinweise auf den englischen Sprachgebrauch sowie auf etymologische Wurzeln herzlich gedankt. Vgl. Vorstellung der internationalen Ausgabe Spencer Brown 1997:X: „Es sollte beachtet werden, dass es in diesem Text nirgendwo einen einzigen Satz gibt, welcher besagt, was oder wie irgendetwas ist.” In der Anmerkung dazu heißt es: „Eine Definition, wie ‚Unterscheidung ist perfekte Be-Inhaltung’ sagt nicht, was sie ist, sondern weist den Leser an diesem Punkt nur an, wie er sie zu definieren hat. Später werden wir, wie wir sehen werden, diese Definition zum Teil aufheben oder auf andere Weise definieren... wenn sie eine Definition gemacht haben, alles, was sie taten war, die Regeln fürein Spiel ‚Lasst uns so tun, als ob’ festzulegen.“
III. Kommentar — Das erste Kapitel: THE FORM
71
(D Mögliche Übersetzungen könnten daher lauten: Unterscheidung ist vollkommene Enthaltsamkeit oder Unterscheidung ist vollzogener Zusammenhang. Die Definition scheint zunächst widersprüchlich: Unterscheidung ist ... Zusammenhang, da unter Unterscheidung etwas Trennendes, Scheidendes und unter Zusammenhang im Gegenteil etwas Verbindendes, Vereinendes verstanden wird. Setzen wir diese vorläufigen Übersetzungen ein, dann lautet die Definition: Trennung ist (sein Gegenteil) Verbindung.
Es ist also erläuterungsbedürftig, was hier wie enthalten ist, und wessen sich enthalten wird, worin der Zusammenhang besteht und was überhaupt zusam-
menhängt. Wenn ‚ist‘ für die Aufforderung steht: ‚Lasst uns so tun, als ob‘, werden die LeserInnen durch die Definition aufgefordert, so zu tun, als ob Unterscheidung vollzogener oder vollkommener Zusammenhang wäre, bzw. dazu,
Unterscheidung als Zusammenhang
aufzufassen. Betrachten wir also Unter-
scheidung als vollzogenen Zusammenhang, legen sich zunächst zwei Bedeutun-
gen nahe: Zusammenhang 1: Durch eine Unterscheidung wird etwas hervorgehoben oder zusammengehalten. Es wird ein Inhalt oder ein Bereich geschaffen, der zusammengehalten wird. Dies hat eine Entsprechung im Ingenieursgebrauch des
Begriffes ‚continence‘.°
Zusammenhang 2: Wird etwas hervorgehoben oder zusammengehalten, setzt es sich damit gleichzeitig ab. Ein innerer Zusammenhang bildet zugleich eine Grenze nach außen. Durch eine Unterscheidung bleibt etwas außen vor, wird
gewissermaßen ausgeschlossen. Gerade dadurch, dass das Ausgeschlossene von
etwas ausgeschlossen wird, hängt es mit dem hervorgehobenen Inhalt aber zu-
sammen, ohne dass dieser dadurch vollständig bestimmt wäre.’ Diese Bedeutung entspricht eher der Verwendung in Bezug auf den menschlichen Körper und seiner Selbstkontrolle bzw. Enthaltsamkeit.
Ein dritter Sinn von Zusammenhang erschließt sich, wenn die beiden ersten
Bedeutungen zusammengenommen und aufeinander bezogen werden:
Zusammenhang 3: Der zusammenhängende Inhalt (Zusammenhang
1) und
der Zusammenhang mit seinem Außen (Zusammenhang 2) bewirken gemein-
Vel. für andere Übersetzungen die etymologischen Überlegungen von Matthias Varga von
Kibéd und Rudolf Matzka in Varga/ Matzka 1993:60. Dieser Sinn von ‚continence’ wird besonders betont, wenn Spencer Brown in den Notes zum ersten Kapitel schreibt: „Although it says somewhat more, all that the reader needs to take with
him from Chapter 1 are the definition of distinction as a form of closure...”, LoF:77.
In der Tradition von Spinoza und Hegel könnten wir vorschnell dazu neigen, den Zusammenhang zwischen der einen und der anderen Seite als Negationsverhältnis zu betrachten: etwas ist etwas, weil es alles andere nicht ist. Spencer Brown versteht die Negation hingegen als Teil des komplexen Unterscheidungsspiels ‚Logik‘. Das Unterscheidungskalkül kann in die formale Logik übersetzt werden, das sagt aber nichts über das ‚Wesen‘ der Grenze als Negationsform. Insgesamt kritisiert er eine Überbetonung der Rolle der Negation in unseren üblichen Sprachspielen: „We take so seriously the notboundary.“ AUM 3,5.
72
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille
sam etwas Neues und damit einen weiteren Sinn von Zusammenhang, durch den
Inhalt und Außen überhaupt erst unterscheidbar sind. Hierfür kann an die Be-
deutung von ,perficere’, ,bewirken’ erinnert werden.
4. Die expliziten Aspekte der Form der Unterscheidung Im anschließenden Textstück werden die Definition und die verschiedenen mög-
lichen Bedeutungen von ,continence’ näher bestimmt. Dort sind verschiedene
Aspekte erwähnt, die mit einer Unterscheidung entstehen und zu ihrer Form
gehören. Diese Aspekte können auch als Komponenten einer komplexen zusammenhängenden Form verstanden werden, die der Prozess der Unterscheidung mit sich bringt.
„Ihat is to say, a distinction is drawn by arranging a boundary with separate sides so that a point on one side cannot reach the other side without crossing the boundary.”
(B) ,boundary‘. Im Englischen kann damit zum einen eine Linie gemeint sein, die ein Limit im Sinne einer unüberschreitbaren Grenze anzeigt oder markiert. Andererseits meint ,boundary‘ aber auch eine trennende, spaltende Linie zwischen Verschiedenem.
(I) Eine Unterscheidung im Sinne der Laws of
Form wird nur dann getroffen,
wenn durch das Errichten einer Grenze zwei getrennte Seiten entstehen, so dass ein Punkt auf einer Seite die andere Seite nicht erreichen kann, ohne die Grenze zu überschreiten. Was als eine Grenze gelten kann, wird durch die Punktmeta-
pher veranschaulicht. An der Grenze wird der Unterschied oder die Differenz zwischen zwei unterschiedenen Bereichen deutlich. Durch sie wird markiert, wo
der Übergang von einem Bereich, Zustand oder Inhalt zum anderen stattfindet; sie hält die zwei Unterschiedenen auseinander, über die hier nicht mehr gesagt
werden kann, als dass sie nicht identisch sind und nicht ineinander übergehen —
aber eine gemeinsame Grenze haben.’
In diesem Textstück treten also zunächst drei Aspekte einer Unterscheidung auf: (1) Das Unterschiedene, die eine Seite,
(2) das Übrige, die andere Seite,
(3) die Grenze zwischen den beiden Seiten.
Diese drei Aspekte der Unterscheidung haben keine logische oder gar zeitliche Reihenfolge, sondern stehen in einem Verhältnis der abhängigen Koproduktion
Dieser Grenzbegriff ist noch ganz unbestimmt: Etwas kann beispielsweise in Bezug auf seine äußere Form von etwas anderem unterschieden werden oder in Bezug auf seinen Wert oder in Bezug auf seine Eigenschaften etc.
111. Kommentar — Das erste Kapitel: THE FORM
73
oder Koerzeugung. Damit ist eine logische Gleichursprünglichkeit und auch Gleichwertigkeit der Aspekte gemeint, nicht aber ihre Funktionsgleichheit. (SK) Zu diesem Gedanken der Koerzeugung von Aspekten heißt es im Vorwort zur Auflage von 1994 in Bezug auf den Hinweis: „Any indication implies duality, we cannot produce a thing without coproducing what it is not, and every duality implies triplicity: what the thing is, what it isn’t, and the boundary between them. Thus, as explained in the Chapter 1 of the Laws, you cannot indicate anything without defining two states, and you cannot define two states without creating three elements. None of these exists in reality, or separately from the others.”
5. Das Beispiel oder der implizite Aspekt Im Beispiel taucht der vierte Aspekt der Form der Unterscheidung auf, der von anderer Qualität ist als die anderen drei bisher explizierten Aspekte. „For example, in aplane space a circle draws a distinction“.
(B) ‚example‘. Die lateinische Wurzel lautet ‚exemplum‘, was wiederum eine Ableitung von ‚exemlum‘, das Herausgenommene, ist. Hier wird also etwas herausgenommen. Im Sinne von Zusammenhang 1 ist das Beispiel an sich selbst eine Unterscheidung und weist auch als solche auf die Unterscheidung hin. (I) Spencer Brown lässt den vierten spiel auftauchen (in a plane space). xample’, kann man sehen, dass die kann, etwas heraus zu nehmen: Hier
Aspekt der Unterscheidung in einem BeiBetrachtet man die Etymologie von ,eFunktion eines Beispiels darin bestehen wird der implizite Kontext, der den Kreis
erst zu einer Unterscheidung macht, aus der Latenz gehoben, heraus genommen.
Eine Unterscheidung treffen bedeutet also vier Aspekte simultan hervorzubringen oder kozuproduzieren: zwei Seiten, eine Grenze zwischen ihnen und einen Kontext oder Raum, der die drei anderen Aspekte erst zu Aspekten der Unter-
scheidung macht. Der vierte Aspekt lautet demnach:
(4) der Kontext, der die beiden Seiten unterscheidbar bzw. zu verschiedenen macht.
Die ersten drei sind explizite Aspekte; der letzte, vierte Aspekt ist implizit
durch die anderen drei mitgegeben und bestimmt diese seinerseits erst zu As-
pekten der Unterscheidung.'” Denn jeder der vier Aspekte entsteht durch und 2 10
LoF:ix. Vgl. auch in der Vorstellung der internationalen Ausgabe: „Kanon Null. Koproduktion.“, Spencer Brown 1997: ix. Die Aufteilung der vier Aspekte in drei explizite und einen impliziten haben wir von Matthias Varga von Kibed übernommen.
74
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille
mit den anderen, keiner kann ohne die anderen entstehen und vollständig verstanden werden.
(AUM) Der implizite Charakter des vierten Aspektes kann durch eine Überle-
gung Spencer Browns aus den AUM-Transkripten erläutert werden: Wir neigen
dazu, zu denken und zu sagen, dass eine Unterscheidung, wie z.B. der geometri-
sche Kreis, in einem Raum stattfindet. Bei solcher Redeweise entsteht der Eindruck, als sei der Raum vor der Unterscheidung gegeben und könnte auch ohne die Unterscheidung weiter bestehen. Spencer Brown versucht die Beziehung zwischen Unterscheidung und Raum anders als üblich zu denken: der Raum ist nicht vor der ersten Unterscheidung da, er entsteht mit der ersten Unterscheidung (AUM 1,9).
In den Notes zu den Laws of Form weist Spencer Brown auf die Wichtigkeit des 4. Aspektes hin, denn nicht jeder Kontext generiert eine Unterscheidung im Sinne der hier vorgelegten Definition. So ist auch nicht jeder Kreis ein Beispiel für eine Unterscheidung. Wird beispielsweise ein Kreis auf einen Torus, einen dreidimensionalen Ring gezeichnet, gibt es die Möglichkeit, von der einen Seite auf die andere Seite zu kommen, ohne die Grenze, die durch den Kreis gezogen wird, zu überschreiten.''
(D Es ist nämlich auf einem Torus möglich, einen Strich von der ‚einen‘ Seite des Kreises — der scheinbaren ‚Grenze‘ — zur ‚anderen‘ zu zeichnen, ohne die Kreislinie zu berühren, indem man einfach ‚hintenherum‘ zeichnet.'” Hier läge
keine Unterscheidung vor, denn ein beweglicher Punkt könnte von der einen auf die andere Seite gelangen, ohne die Grenze zu überschreiten. Deshalb lassen sich auf einem Torus nicht zwei Seiten unterscheiden, es gibt keine echte Gren-
ze und damit keine Unterscheidung.
Damit ein Kreis eine Unterscheidung darstellt, muss er in geeigneten Kontexten, wie z.B. in einer Ebene gezogen werden. Die Ebene stellt also in diesem Beispiel den vierten ‚Aspekt‘ dar, ohne den mit dem Zeichnen eines Kreises keine Form der Unterscheidung hergestellt wird. Oder nochmals anders formu-
liert: wenn ein Kreis eine Unterscheidung im genannten Sinne sein soll, dann ist
ein Kontext notwendig, der die drei expliziten Aspekte der Form der Unterscheidung auch tatsächlich zwei Seiten und eine Grenze zwischen ihnen sein lässt.
Den impliziten Kontext, in diesem Fall die Ebene, eigens zu benennen, bedeutete streng genommen, eine neue Unterscheidung zu treffen, denn damit
würde dieser Kontext, die Ebene, zum Inhalt gemacht und gegenüber allen mög-
lichen anderen Kontexten herausgehoben. Durch die Benennung und d.h. Explizierung des Kontextes verschiebt sich die Zuordnung der Aspekte der Unter1] 12
LoF:79
Beispielsweise haben Donuts, die süßen amerikanischen Schmalzkringel, die Form eines Torus.
III. Kommentar — Das erste Kapitel: THE FORM
75
scheidung, die Ebene wird zum neuen ersten Aspekt. Mit dem Beispiel befinden
wir uns gewissermaßen schon im Übergang von einer Unterscheidung zu einer
anderen. Dem Beispiel kommt deshalb eine wichtige und gleichzeitig ‚grenzwertige‘ Rolle zu, denn es lässt einen impliziten Aspekt aufscheinen, der
bei genauerer Betrachtung seinen impliziten Charakter verliert. Deshalb bleibt
dieser Aspekt außerhalb des Beispiels implizit und bildet nur den Kontext, den Hintergrund, der in dem Prozess des Unterscheidens mit hervorgebracht wird.
Das Beispiel von dem Kreis in der Ebene zeigt eine Möglichkeit, den Aspekt der Grenze räumlich zu bestimmen. In anderen Bereichen hat aber der Aspekt ‚Grenze‘ einen anderen Charakter, denn die Abgeschlossenheit der beiden Sei-
ten voneinander bezieht sich häufig nicht auf eine räumliche Trennung. In der Biologie beispielsweise sprechen Humberto Maturana und Francisco Varela in Bezug auf autopoietische Organisationsformen von der Membran als
„häutchenähnliche[m] Rand ... . In bezug auf die Relationen von chemischen Transformationen haben wir hier eine ganz besondere Situation vor uns: Auf der einen Seite sehen wir ein dynamisches Netzwerk von Transformationen ..., das die Bedingung der Möglichkeit eines Randes ist. Auf der anderen Seite sehen wireinen Rand, der die Bedingung der Möglichkeit des Operierens eines Netzwerkes von Transformationen ist, welches das Netzwerk als Einheit erzeugt. ... Wohlgemerkt: Dies sind keine sequentiellen Prozesse, sondern zwei Aspekte eines einheitlichen Phänomens. Es ist nicht so, daß es zuerst einen Rand und dann eine Dynamik gibt und dann einen Rand und so weiter. Wir sprechen von einer Art Phänomen, bei der die Möglichkeit, Etwas von dem Ganzen zu unterscheiden ..., von der Ganzheitlichkeit der Prozesse abhängt, die dieses Etwas möglich machen. Unterbrechen wir ... das ... Netz, und wir werden nach einiger Zeit keine Einheit mehr haben, die wir als solche bezeichnen könnten.“'?
Der geschlossene Funktionszusammenhang ist damit ebenso eine Grenze im Spencer Brownschen Sinne, da der Zusammenhang, der die Grenze eine Grenze
sein lässt, also der Kontext, eben in deren Funktion besteht.'* Grenzen sind also in vielen Zusammenhängen ein Komplex von Kriterien, die erst gemeinsam die 13 14
Maturana/ Varela 1987:53f. Von Luhmann wird dies dann mit der Rede von der funktionalen Geschlossenheit von Organismen gegenüber ihrer Umwelt wieder auf genommen.
Über das Verhältnis von Maturanas und Spencer Browns Verständnis von Grenze ging es in
einem persönlichen Gespräch zwischen den Autorinnen und Humberto Maturana am 15.1.2002 in München. Maturana hatte in diesem Gespräch vehement bestritten, dass sein Verständnis von Grenze etwas mit dem Spencer Brownschen gemein habe, da sich eine funktionale Abgrenzung, wie sie in der Biologie vorkommt, gerade dadurch auszeichne, dass sie den ‚Teilchenaustausch‘ der einen Seite mit der anderen nicht nur ermögliche, sondern sogar notwendig mache, wie das Beispiel der Haut als Membran zeige. Wir hingegen versuchten für einen gemeinsamen Grenzbegriff zu argumentieren, der Membran und Kreis in der Ebene als Beispiele umfassen kann. Keiner der beiden Grenztypen darf unseres Erachtens verallgemeinert werden. Vielmehr gehört es zu dem allgemeinen Grenzbegriff, dass eine Grenze immer zugleich mitdefiniert, was für sie Abgeschlossenheit bzw. Undurchlässigkeit bedeutet und welche Art Inhalt sie dadurch abgrenzt bzw. hervorbringt oder ‚am Leben erhält‘.
76
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille
eine Seite zur einen, die andere Seite zur anderen machen, und damit entscheiden, was auf die eine Seite und was auf die andere gehört.
Bis hierhin ist die Darstellung abgeschlossen, wie die Form der Unterscheidung
hergestellt wird. Im nächsten Unterscheidung.
Schritt geht es um
das Aufrechterhalten einer
6. Aufrechterhalten der Form der Unterscheidung „Once a distinction is drawn, the spaces, states, or contents on each side of the boundary, being distinct, can be indicated.”
Ist einmal eine Unterscheidung getroffen, also die Form der Unterscheidung mit den vier Aspekten generiert, dann kann auf die beiden ersten Aspekte (die beiden unterschiedenen Seiten) hingewiesen werden. (B) ‚spaces‘, ‚states‘, ‚contents‘. Damit werden drei Möglichkeiten für verschiedene Bestimmungen der beiden Seiten einer Unterscheidung aufgezählt.
Durch sie werden verschiedene Kontexte impliziert: Räume, Zustände und In-
halte.
(AUM) Wird eine Unterscheidung getroffen, entstehen durch die zwei Seiten
Räume, Zustände oder Inhalte, ohne jede weitere Qualifizierung. Es gibt deshalb zunächst auch kein Innen oder Außen, dies suggeriert vielleicht das geometrische Beispiel vom Kreis, das nur eine mögliche Illustration der Unterscheidung ist, die zunächst einfach nur zwei verschiedene Zustände hat (AUM 1,13).
(B) ,can’. Spencer Brown wählt häufig den Modus der Möglichkeit und schreibt nicht ‚muss‘, ‚soll‘, oder ‚ist‘, sondern ‚kann‘. Darin spiegelt sich das Selbstverständnis des ganzes Werkes: „We represent what doesn’t really happen but
might happen, if it could.“ (AUM 1,12).
(D Die Prozesse, die zur Aufrechterhaltung der Form der Unterscheidung nötig
sind, werden im Modus der Möglichkeit formuliert. Der Prozess der Unterscheidung, der die Form der Unterscheidung mit den vier Aspekten generiert, war in der dreigliedrigen Voraussetzung zu Beginn als notwendiges Erfordernis
für den Prozess des Hinweisens genannt worden. Hier wird die anfängliche
Reihenfolge wieder aufgenommen: erst durch das Unterscheiden ist die Möglichkeit des Hinweisens geschaffen worden.
Es ist wichtig zu bemerken, dass ein Hinweis auf jede der beiden unterschie-
denen Seiten, seien es Räume, Zustände oder Inhalte, erfolgen kann. In Bezug
auf die Möglichkeit des Hinweisens sind die beiden Seiten symmetrisch.
111. Kommentar — Das erste Kapitel: THE FORM
77
Die Möglichkeit des Hinweisens auf die Resultate des Unterscheidungsprozesses erfordert weitere Bedingungen, die in den anschließenden Zeilen erörtert
werden:
„Ihere can be no distinction without motive, and there can be no motive unless contents are seen to differ in value.“ (Hvhb. T.S. und K.W.)
(I) Der Prozess, eine Unterscheidung zu treffen und das Resultat, diese (Form einer) Unterscheidung zu sein’? oder sie aufrechtzuerhalten, werden unterschieden. An dieser Stelle geht es um die Bedingungen des Aufrechterhaltens einer
Unterscheidung, die erfüllt sein müssen, damit auf die unterschiedenen Seiten hingewiesen werden kann. Dafür ist ein Motiv nötig, eine gerichtete Bewegung oder ein , Wofiir’, ein ‚Umzu’ der Unterscheidung, das aus der Unterscheidung ein stabiles Unterscheidungsergebnis macht. Ein Motiv entsteht da, wo Inhalte
‚als von verschiedenem Wert gesehen werden‘. Zwei Eigenheiten des Textes verdienen besondere Aufmerksamkeit:
Erstens ist zu bemerken, dass auf der Ebene der Wertigkeit, oder auch Nützlichkeit, Brauchbarkeit, Verwendbarkeit oder Funktion von Inhalten, und nicht mehr von Räumen oder Zuständen die Rede ist. Dort, wo verschiedene Seiten auf ihre Wert- oder Funktionsdifferenz hin betrachtet werden, handelt es sich
um Inhalte. Hätten die Inhalte den gleichen Wert oder die gleiche Funktion, würde die Unterscheidung zusammenfallen. Das ‚Umzu‘ macht auch die Unterscheidung insgesamt wertvoll, sie ist für etwas gut, sie hat einen Zweck. Zweitens ist wichtig, dass hier auf der Ebene der Wert- oder Funktionsver-
schiedenheit der angemessene Ort ist, den Begriff ‚Differenzen’'° zu verwenden.
Das Kriterium für das ‚Bestehen? verschiedener Inhalte, also für das Bestehen von ‚Differenzen’ ist eben eine Wert- oder Funktionsverschiedenheit. Erst auf der Ebene ‚motivierter Funktionsdifferenz’ als komplexe Bedingung für die Aufrechterhaltung einer Unterscheidung kann auf einen der beiden Werte hingewiesen werden.
7. Zwei Arten des Hinweisens und ihre Verwendung Es werden zwei Arten vorgestellt, mit denen ein Hinweis auf Werte erfolgen kann: Auf der einen Seite ist das über die Nennung eines Namens möglich, die mit dem Wert des Inhalts identifizierbar ist; auf der anderen Seite über die Absicht, die Grenze zwischen den beiden unterschiedenen Inhalten zu überschrei-
ten.
An dieser Stelle sei noch einmal an die oben zitierte Übersetzungsregel erinnert, Vorkommnisse von ‚sein‘ durch ‚Lasst uns so tun, als ob‘ zu substituieren. Vgl. zu dem Unterschied zwischen ‚distinction’ (Unterscheidung) und ,difference’ (Differenz) die o.g. Hinweise.
78
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille “If a content is of value, a name can be taken to indicate this value. Thus the calling of the name can be identified with the value of the content. ... Equally, if the content is of value, a motive or an intention or instruction to cross the boundary into the content can be taken to indicate this value.
Thus, also, the crossing of the boundary can be identified with the value of the content.”"”
(B) ‚identify’ heißt einerseits, ‚die Gleichheit ‚erkennen’ oder auch ,entdecken’. Andererseits
einer wird
Sache feststellen’, es aber auch als
‚gleichserzen’ verwendet, also in einem eher konstruktiven Sinne. Das englische
Verb ist aus den beiden lateinischen Wurzeln ,idem’ und ,fingere’ zusammengesetzt. ‚Idem’ heißt ‚derselbe’, der ,gleiche’ und ,fingere’ bedeutet neben ‚formen’, ,gestalten’, ‚darstellen’ und ‚sich vorstellen’, ‚sich denken’, ‚annehmen’ auch ‚erlügen’ oder ‚vorgeben’.
(D Die beiden Textstücke, in denen zwei Arten von Hinweisen vorgestellt werden, sind parallel angelegt. Beide Arten, der Hinweis durch die Nennung eines Namens und der Hinweis durch eine Absicht, die Grenze zu überschreiten, haben zur Voraussetzung, dass die unterschiedenen Inhalte von Wert sind. Dies wiederum erfordert die ganze Form der Unterscheidung und es ist zu sehen, dass
die Möglichkeit des Hinweisens den gesamten Prozess der Unterscheidung nötig
hat. Hingewiesen werden kann auf den Wert eines Inhalts, auf das, was ihn zu einem unterschiedenen Inhalt macht, nicht auf die Inhalte selbst oder die Seiten
der Unterscheidung. Bei der Formulierung ‚if a content is of value’ ist es wich-
tig, den Übergang von dem Sehen einer Wertdifferenz zwischen Inhalten (contents are seen to differ in value) zu ‚von-Wert-Sein’ (if a content is of value)
eines Inhaltes zu beachten. Durch die Übersetzungsregel, die Spencer Brown für
‚sein’ als ‚lasst-uns-so-tun-als-ob’ gegeben hat, wird der Zusammenhang zwischen ‚sehen von’ und ‚sein’ deutlich. Die erste Hinweisart ist wiederum zweigliedrig: Sie besteht darin, einen ‚Namen zu nehmen‘, mit dem auf den Wert eines Inhalts hingewiesen wird. Ein Name
kann gewählt werden, um als Hinweis auf den Wert eines Inhalts zu dienen. Davon unterschieden wird die Verwendung des Namens, die Operation des
‚calling’, also das Nennen des Namens. Erst die Verwendung des Namens realisiert tatsächlich die Möglichkeit des Hinweisens. Wenn nun ein Inhalt von Wert ist, kann mit einem Namen (, Wert’) darauf hingewiesen werden. Deshalb (thus) ist das Nennen des Namens ‚Wert’ mit dem Wert des Inhalts identifizierbar, d.h. die Identifikation zwischen der Verwendung des Namens ‚Wert‘ und dem Wert
des Inhalts ist méglich.'® Der Name steht auf dieser elementaren Ebene für das, '’
Das Zitat nach der Auslassung findet sich in den LoF:2. Die beiden Stellen werden hier zusammengezogen, da sie strukturell und gedanklich eine Einheit bilden. Das gleiche gilt auch für die anderen elementaren Begriffe wie ,Name‘ oder ‚Inhalt‘. ‚Name‘, ‚Inhalt‘ und , Wert’ bezeichnen auf dieser elementaren Ebene der Form dasselbe: das, was durch
III. Kommentar — Das erste Kapitel: THE FORM
79
was den Inhalt zusammen hält. Der Inhalt muss ein unterschiedener sein, sonst wäre er kein Inhalt, und dass er unterschieden ist, macht seinen Wert aus. Deshalb ist der Wert das, was den Inhalt zu einem solchen macht, so wie es oben als
Zusammenhang 1 erläutert worden ist. Auch die zweite Hinweisart ist zweigliedrig: Sie besteht einerseits in einem Motiv oder einer Intention oder einer Anweisung zur Grenzüberschreitung und andererseits in der Tätigkeit, die Grenze in den Inhalt hinein zu überschreiten. Welchen genauen Charakter die Absicht zur Grenzüberschreitung hat — sei sie ein mehr an Zwecken orientiertes Motiv oder eine mehr aus einer inneren Einstellung erfolgende Intention oder die Befolgung einer Anweisung — ist hier
nicht relevant.'” Von der Absicht zur Grenzüberschreitung ist die ausgeführte
Überschreitung selbst zu unterscheiden. Ebenso wie erst die Namensnennung den Hinweis realisiert, realisiert erst die Absichtsausführung, also die Grenzüberschreitung den Hinweis.
Die Absicht zur Grenzüberschreitung ‚überschreite die Grenze’ indiziert den Wert des Inhalts, insofern dieser Inhalt be-grenzt ist. Deshalb (thus) kann die
Grenzüberschreitung mit dem Wert des Inhalts identifiziert werden: denn die
Möglichkeit
der Grenzüberschreitung
macht
die Begrenzung
deutlich,
schließlich den Inhalt zum unterschiedenen, d.h. zum werthaften Inhalt macht.
die
Die Absicht zur Grenzüberschreitung zeigt also die reine Verschiedenheit
der beiden Inhalte an, d.h. dass der eine Inhalt vom anderen verschieden ist und
nicht inwiefern, so wie es oben als Zusammenhang 2 erläutert worden ist. Der Akt der Grenzüberschreitung ist mit dem Wert ‚be-grenzt‘, der der einzige offensichtliche Unterschied ist, den es bisher gibt, identifizierbar. Die Unterscheidung zwischen der Ebene dessen, auf das hingewiesen werden kann (Wert des Inhalts) und der Ebene dessen, durch das darauf hingewiesen
werden
kann
(,Name‘ oder ‚Absicht zur Grenzüberschreitung‘) und der Ebene der Verwendung oder Realisierung der Möglichkeit des Hinweisens (,calling’ oder ,cros-
das Treffen einer Unterscheidung entstanden ist. Die drei Begriffe stehen hier nicht für einen
spezifischen Unterschied, wie in der Alltagssprache. Wenn ‚Etwas‘ durch eine Unterscheidung zu einem /nhalt geworden ist, kann mit einem Namen ‚Inhalt‘ auf es hingewiesen werden. Im Akt des Nennens wird dann ‚Inhalt‘ mit Inhalt identifiziert. Ebenso ist etwas durch den Akt der Unterscheidung zu einem verschiedenen Wert geworden, der mit dem Namen , Wert’ bezeichnet
werden kann. Hier haben wir es also mit einem parallelen Vorgehen zu tun, wie oben mit den
19
Voraussetzungen: die Momente der beiden Seiten einer Form der Unterscheidung — Inhalt zu sein, Wert zu haben, einen Namen zu haben 一 werden von uns als verschiedene aufgefasst, obwohl sie auf dieser elementaren Ebene noch in eins fallen. Wir können auch dieses Vorgehen, bestimmte Differenzierungen aufzuheben oder bewusst zu verlernen, als Teil der Gesamtbewegung verstehen, einen gemeinsamen Typus von verschiedenen möglichen Prozessen des Hinweisens zu entwickeln. Für dieses Prozedere ist es gleichermaßen wichtig, zu zeigen, was für den gemeinsamen Typus relevant ist, wie auch zu zeigen, was dafür nicht relevant ist und ,verlernt’ werden muss.
80
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille
sing’) ist in den beiden parallel konstruierten Textpassagen gleichermaßen zu finden. Auf dieser Basis werden im nächsten Schritt jeweils Regeln genannt, die für die Iteration der beiden verschiedenen Möglichkeiten von Hinweisprozessen gelten. Damit wird auch der Modus gewechselt: Wir bewegen uns von der Beschreibung von Möglichkeiten auf die Ebene notwendiger Regelsetzung/-befolgung. Erst durch die Iteration macht es überhaupt Sinn, von Gesetzen im Sinne von Gesetzmäßigkeiten zu sprechen. Wenn die beiden Hinweise wiederholt verwendet werden, dann gelten die folgenden zwei Axiome, die Gesetze für die Wie-
derholung der Hinweisprozesse angeben. Sie werden unter den Titeln ,Axiom 1.
The law of calling’ und ‚Axiom 2. The law of crossing’ vorgestellt.
8. Die beiden Axiome als Gesetze der Wiederholung von Hinweisen Mit den Axiomen werden einerseits elementare Einsichten über die iterative Verwendung der beiden Hinweisarten ‚calling a name’ und ‚crossing a boundary’ formuliert. Andererseits werden diese Einsichten als Gesetze bezeichnet, da sie gelten müssen, um die Form der Unterscheidung aufrecht zu erhalten. Dies ist nur dann gewährleistet, wenn klar und eindeutig formuliert wird, wie auf die eine und wie auf die verschiedene, andere der beiden Seiten der Unterscheidung hingewiesen werden kann.
In der Regel weisen wir auf zwei verschiedene Bereiche, Inhalte oder Werte mit zwei verschiedenen Namen hin, wir verwenden also die gleiche Hinweisart und machen den Unterschied durch eine Variation der Namen deutlich. Im ers-
ten Kapitel der Laws of Form werden nicht die Namen variiert, sondern es werden zwei verschiedene Hinweisarten verwendet, um auf die verschiedenen Seiten hinzuweisen. Dass mit diesen beiden verschiedenen Hinweisarten oder -
prozessen eindeutig auf je eine der beiden Seiten hingewiesen werden kann, wird deutlich, wenn sie wiederholt werden.” (SK) Axiome stehen nach Spencer Browns Verständnis außerhalb des Kalküls, da durch sie eine allgemeinere Einsicht ausgedrückt wird, deren Geltungsbe-
reich viel weiter ist als der des Kalküls. Axiome legen elementare Zusammenhänge offen, die in der natürlichen Sprache latent sind und deren Voraussetzung
20
So gibt es keine notwendige Reihenfolge der beiden Axiome. Beide Axiome betreffen die Wiederholung von Hinwasakten auf eine vollzogene und aufrechterhaltene Unterscheidung und sind voneinander unabhängig, so dass es gleichgültig ist, welches der beiden Axiome zuerst im Text erwähnt wird. Erst die Festlegung, welche Hinweisart für welche Seite der Unterscheidung verwendet werden soll, setzt die beiden Hinweisarten in ein Verhältnis zueinander: wenn für den Hinweis auf die eine Seite die ‚Namensnennung‘ verwendet wird, ergibt sich, dass für die andere Seite nurnoch die ‚Grenzüberschreitung‘ übrig bleibt.
II. Kommentar — Das erste Kapitel: THE FORM
81
in der allgemeinen Fähigkeit des Nachdenkens und Rechnens besteht.?' Axiome
werden verstanden, wenn ihre Relevanz und der Kontext, aus dem erhalten, eingesehen werden.
sie Sinn
„Axiom 1. The law of calling. The value of a call made again is the value of the call. That is to say, if a name is called and then is called again, the value indicated by the two calls taken together is the value indicated by one of them. That is to say, for any name, to recall is to call.”
(I) Bisher ist klar, dass mit der Namensnennung auf eine der beiden Seiten der
Unterscheidung hingewiesen werden kann — welche ist hier irrelevant, es gibt dafür auch noch gar kein Unterscheidungskriterium. Das gilt auch dann, wenn
der Hinweis durch erneutes ‚calling’ wiederholt wird. Das Gesetz über die Wiederholung garantiert, dass eine Wiederholung die Eindeutigkeit des Hinweises
nicht ändert. Es wird ausgeschlossen, dass durch die wiederholte Namensnen-
nung plötzlich auf die andere Seite der Unterscheidung hingewiesen wird. Mit dieser Einsicht in das Gesetz der Wiederholung im Falle des ‚calling’ wird der Definition der Unterscheidung Rechnung getragen. Die Gesetzmäßigkeit für die Wiederholung von Namensnennungen besteht genauer betrachtet darin, dass der Wert einer wiederholten Nennung der gleiche ist wie der Wert der Nennung, negativ formuliert: dass sich der Wert der Nen-
nung durch die Wiederholung nicht ändert. Mit dem Gesetz des Nennens wird also neben dem Wert des Inhalts auch vom Wert der Nennung eines Namens,
d.h. vom Wert des Hinweisaktes selbst gesprochen. Damit expliziert das Axiom, inwiefern die Namensnennung und der Wert des Inhalts identifiziert werden
können: in Bezug auf ihren Wert. In der zitierten Erläuterung zum ersten Axiom wird gezeigt, was die Wertgleichheit bei Wiederholung der Nennung für die Funktion des Hinweisens bedeutet. Dass der Wert einer wiederholten Nennung der Wert der Nennung ist,
heißt, dass der Wert, auf den durch die beiden Nennungen zusammengenommen
hingewiesen wird, gleich dem Wert ist, auf den nur durch eine (beliebig welche) Nennung hingewiesen wird. Die Wiederholung und die in ihr liegende Vervielfachung ändert, verdoppelt oder erweitert den Wert nicht. Für alle drei Möglichkeiten, auf den Wert des Inhalts hinzuweisen, die durch wiederholte Namensnennung entstehen, also die einfache Namensnennung, die
wiederholte Namensnennung und diese beiden zusammengenommen, gilt: Alle
weisen auf den gleichen Wert hin. ‚Inhalt‘, ‚Inhalt‘, ‚Inhalt‘ meint immer nur wieder den /nhalt. Zwischen den Namensnennungen besteht also kein Wertun-
21
Vgl. LoF:94ff.
82
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille
terschied und damit kein hier relevanter Unterschied.” Zusammenfassend gilt also fiir jeden Namen: ,to recall is to call’.
Das Wortspiel mit dem englischen Ausdruck ,recall’ als ‚wiedernennen’ und ‚erinnern’ betont, dass beliebiges Hin- und Hergehen zwischen ‚früheren’ und ‚späteren’ Wiederholungen möglich ist und keinen qualitativen Wertunterschied
macht. ‚Früher’ und ‚später? macht hier noch keinen Unterschied, die Möglich-
keit, Zeit in der Form zu generieren, ist noch nicht entwickelt. Der Hinweis auf den Wert eines Inhalts durch eine Namensnennung erfolgt demnach unabhängig davon, ob bereits vorher der gleiche Hinweis gegeben worden ist oder nicht. Genau wie mit der Namensnennung kann auch mit der Grenzüberschreitung auf
eine der beiden Seiten hingewiesen werden. Auch hier ist offen, auf welche der beiden Seiten. Mit der ersten Hinweisart ‚Namensnennung‘ kann auf einen der beiden Inhalte hingewiesen werden — also gilt es jetzt zu zeigen, wie mit der
anderen Hinweisart auf die (je) andere Seite hingewiesen werden kann. “Axiom 2. The law of crossing.
The value of a crossing made again is not the value of the crossing.
That is to say, if it is intended to cross a boundary and then it is intended to cross it again, the value indicated by the two intentions taken together is the value indicated by none of them. That is to say, for any boundary, to recross is not to cross.”
(I) Mit dem Gesetz für die Wiederholung des ,crossing’ wird zunächst einfach eine Differenz ausgedrückt: der Wert des wiederholten ,crossing’ ist nicht der des einfachen
‚crossing’. Eine Grenzüberschreitung kann von beiden
Seiten
einer Grenze aus vorgenommen werden. Die Grenze steht für einen Unterschied zwischen den beiden Seiten und die Grenzüberschreitung ist mit dem Wert des Inhalts, in den sie hinein geht, identifizierbar. Daraus folgt, dass die wiederholte
Überschreitung einen anderen Wert hat als die einfache Überschreitung.
Während das erste Axiom die Hinweisart thematisiert, mit der auch in der
Wiederholung immer nur auf eine Seite — gleichgültig welche — der Form der Unterscheidung hingewiesen werden kann, thematisiert das zweite Axiom eine Hinweisart, mit der durch die Wiederholung abwechselnd auf beide Seiten hin-
gewiesen werden kann: mit einer Überschreitung auf die eine Seite und mit
ihrer Wiederholung auf die (je) andere. Die Absicht zur Grenzüberschreitung gibt einen Hinweis auf eine (beliebige) Seite, die Absicht, die Grenzüberschrei-
tung zu wiederholen, weist somit auf die andere Seite hin. Damit ist hier die
22
(SK) Den hier entwickelten Differenztyp einer wertindifferenten Vermehrung nennt Spencer
Brown in den Notes zum fünften Kapitel „division“ (LoF:87). Damit ist die Möglichkeit beliebiger Vervielfältigung gemeint, die keine qualitative Verschiedenheit erzeugt. Dieser Differenz-
typ taucht wieder auf in den ‚steps‘ und in diversen Theoremen. Erst durch, im und mit dem ぞ
‚Re-entry’ im elften Kapitel erzeugt sie eine Qualitätsveränderung — und Zeit. Der Ausdruck ‚recross’ ist ein von Spencer Brown gebildeter Neologismus.
111. Kommentar — Das erste Kapitel: THE FORM
83
Möglichkeit eröffnet, die Absicht auf eine wiederholte Grenzüberschreitung als Hinweis auf die andere Seite der Unterscheidung zu verwenden, ohne eine wei-
tere Differenzierung vornehmen zu müssen.
Genauer betrachtet zeigt sich im Text, dass neben dem Wert des Inhalts auch vom Wert der Grenzüberschreitung selbst gesprochen wird. Hier wird analog zu oben deutlich, dass die Grenzüberschreitung selbst und der Wert des Inhalts in Bezug auf ihren Wert identifiziert werden können. In Bezug auf die Werte von Grenzüberschreitungen tut sich hier aber ein entscheidender Unterschied auf:
Die Wiederholung von Grenzüberschreitungen ist nicht werterhaltend, sondern
wertverändernd,
denn
der Wert
eines wiederholten Überschreitens
gleich dem Wert des Überschreitens.
ist nicht
In der zitierten Erläuterung zum zweiten Axiom wird gezeigt, was die Wertverschiedenheit bei Wiederholung des Überschreitens für die Funktion des Hinweisens bedeutet. Dabei wird wieder die Absicht zur Grenzüberschreitung
aufgenommen (Motiv, Intention, Anweisung), die eine Hinweisart für Werte darstellt. Es gilt folgender Zusammenhang: Wird eine Grenzüberschreitung beabsichtigt und wird beabsichtigt, die Grenze noch einmal zu überschreiten, dann weisen diese beiden Absichten zusammengenommen nicht auf einen der Werte hin, auf den die beiden Absichten für sich genommen hinweisen.
Für alle drei Möglichkeiten dieser Hinweisart, die durch die Wiederholung der beabsichtigten Grenzüberschreitung entstehen, also die beabsichtigte einfa-
che Grenzüberschreitung,
die beabsichtigte
wiederholte
Grenzüberschreitung
und diese beiden zusammengenommen, gilt: Keine weist auf den gleichen Wert
hin, auf den die anderen hinweisen. Durch die Wiederholung verändert sich der
Wert, auf den hingewiesen wird: Jede der Absichten ist ein Hinweis auf einen
anderen Wert. Zwischen den Varianten der intendierten Grenzüberschreitungen
besteht also ein Wertunterschied und damit ein hier relevanter Unterschied.”
Zusammenfassend gilt also für jede Grenze: ‚to recross is not to cross’. Wichtig ist zudem, dass die Rücküberschreitung nicht unabhängig von der Hinüberschreitung möglich ist — das ,recross‘ kann nicht als isolierter Prozess aufgefasst werden. Es besteht gleichsam ein innerer Zusammenhang zwischen
den wiederholten Hinweisen, der zweite weist auf etwas anderes als der erste hin, weil er der folgende ist, weil bereits eine Grenzüberschreitung vorherge-
gangen ist.
Diese Gesetzmäßigkeit für die Überschreitung gilt zunächst ganz unabhängig von der Richtung der Überschreitung. Berücksichtigen wir aber die Mög-
lichkeiten der Richtung der Überschreitung, dann ergibt sich folgendes Bild:
24
(SK) Den hier entwickelten Differenztyp einer wertveränderlichen Vervielfältigung durch
Wiederholung nennt Spencer Brown „severance or cleavage“ (LoF:87), d.h. Spaltung. Damit ist
eine qualitative Verschiedenheit gemeint, die bei der Wiederholung dieser Hinweisart zu tage
tritt.
84
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille
Wird die Uberschreitung einer Grenze in einen Inhalt hinein mit dem Wert des Inhalts identifiziert, wird ein je anderer Wert angezeigt, je nachdem, in welche
Richtung überschritten wird — jede Uberschreitung entspricht dem Wert des Inhalts, in den sie hineingeht. Deshalb ist der Wert der wiederholten Uber-
schreitung in verschiedene Richtungen nicht der Wert der Uberschreitung. Die genaue Textanalyse der Erläuterung des Axioms zeigt, dass die Differenz zwischen ‚crossing’ und ‚recross’ nicht nur die Möglichkeit eröffnet — und
hier in keiner Weise festlegt — das doppelte Überschreiten, also das ,recross’ mit dem Wert der anderen Seite zu identifizieren bzw. die Absicht zum ‚recross‘ als Hinweis auf die andere Seite zu verwenden. Es taucht auch noch eine weitere
Möglichkeit auf: Wenn beide Absichten, die Grenze einmal zu überschreiten
und die Grenze nochmal zu überschreiten ‚zusammen genommen werden‘, dann
weist dies auf einen Wert hin, der weder der Wert der Überschreitung noch der der Rücküberschreitung ist, sondern ein Wert, auf den durch keine von beiden
hingewiesen wird (the value indicated by none of them). An dieser Stelle bleibt offen, ob alle drei Optionen genutzt werden, oder ob sie auf zwei oder gar nur einen Wert verdichtet werden und auch, wie diese drei möglichen Werte bestimmt werden. Beide Axiome formulieren Gesetze, die für die Wiederholung von Hinweisen auf den/die Wert/e des Inhalts/der Inhalte der Unterscheidung gelten sollen, d.h.
sie sagen nur etwas aus über elementare Werte oder Inhalte ‚an-sich‘, die durch die Unterscheidung unterschieden wurden. Insbesondere besagen sie, dass diese Werte mit den entstandenen Inhalten identifiziert werden können, auf welche Weisen auf diese Inhalte bzw. Werte hingewiesen werden kann und dass für die Wiederholung der Hinweisakte verschiedene Gesetzmäßigkeiten gelten. Rück- und Ausblick:
Ein Hinweis erfordert einen unterscheidenden Prozess, der die Form einer Unterscheidung generiert. Die zwei Seiten, die Grenze und der implizite Kontext
werden beim Unterscheiden hergestellt. Es kann auf je eine der beiden unterschiedenen Seiten, d.h. auf zwei der vier Aspekte, hingewiesen werden, wenn die Unterscheidung als Resultat des Unterscheidungsprozesses durch ein Motiv aufrechterhalten wird und wenn die beiden Inhalte als von verschiedenem Wert
seiend gesehen werden. Das Motiv und der Wert sind so notwendige Bestandtei-
le des Hinweisprozesses, mit dem die Unterscheidung erhalten oder stabilisiert werden kann. Als Hinweise können Namen und Absichten zur Grenzüberschrei-
tung dienen. Die die Hinweise realisierenden Hinweisakte können auf verschiedene Weisen erfolgen: entweder durch Namensnennung oder durch Grenzüber-
schreitungen. Mit einer Grenzüberschreitung oder mit einer Namensnennung
kann immer nur auf eine der beiden Seiten hingewiesen werden; die wiederholte
Grenzüberschreitung weist ebenfalls immer nur auf die Seite hin, und zwar auf
III. Kommentar — Das erste Kapitel: THE FORM
85
diejenige, von der aus die einmalige Grenziiberschreitung vorgenommen wird.
Nimmt man nun einen Namen fir die eine Seite A, lasst sich durch doppeltes
Uberschreiten von der anderen Seite B aus auch auf diese andere Seite B selbst hinweisen. Anders gesagt: Nur wenn ein ,recross’ vollzogen wird, wird auf die Seite, von der ausgegangen worden ist, hingewiesen, ohne dafür einen zweiten Namen ins Spiel bringen oder eine weitere Unterscheidung einführen zu miissen. So zeigt sich, dass das unterschiedliche Referenzverhalten der beiden Hinweis-
prozesse — das erst in der Wiederholung deutlich wird — dazu verwendet werden kann, um auf die beiden Seiten einer Form der Unterscheidung hinzuweisen. Es ist also nicht ausreichend, nur zwei verschiedene Hinweisarten zu wählen, da
durch die einfache Verwendung der Hinweise nicht eindeutig auf die beiden verschiedenen Seiten hingewiesen wird, deshalb formulieren die Axiome Gesetze, die für die Wiederholung gelten. Sowohl der Name als auch die Grenzüberschreitung kénnen mit einem Wert identifiziert werden; nirgendwo steht, dass der Name mit der einen Seite und die Grenztiberschreitung mit der anderen Seite identifiziert wird. Erst durch die Wiederholung der zweiten Hinweisart
wird es möglich, auch auf die andere, unterschiedene Seite hinzuweisen, weil hier die beiden Hinweise — ,cross’ und ‚recross’ — aufeinander bezogen werden. Weil aber die erste Hinweisart und die zweite Hinweisart in der einfachen Verwendung auf den gleichen Inhalt referieren könnten, kann die einfache Nennung mit der einfachen Absicht identifiziert werden und es lassen sich so auch
die beiden Hinweisarten aufeinander beziehen. So zeigen die beiden Axiome,
dass mit den beiden verschiedenen Hinweisarten, sofern sie wiederholt werden, eindeutig, d.h. ohne Verwechslungsgefahr auf die beiden Seiten der Form der Unterscheidung hingewiesen werden kann. Dies trägt der Definition der Unter-
scheidung Rechnung und erhält die Form der Unterscheidung aufrecht. Wichtig ist zudem festzuhalten, dass es keine Bestimmung dafür gibt, welche Seite durch den Namen und welche Seite durch die Absicht zur (zweifa-
chen) Grenzüberschreitung bezeichnet wird. Auf beide Seiten einer Form der Unterscheidung könnte mit beiden Hinweisarten hingewiesen werden. Auf wel-
che der beiden Seiten durch Namensnennung oder Grenzüberschreitung hinge-
wiesen wird, ist allerdings offen.
Das zweite Kapitel wird mit der Aufforderung, eine Unterscheidung zu treffen, d.h. eine Form der Unterscheidung zu generieren, beginnen. Dies ist der Ort, an
dem im Text entschieden wird, welche Seite durch welche Hinweisart bezeichnet sein soll.
Im elften Kapitel wird der dritte, im ersten Kapitel nur angedeutete Wert vi-
rulent — er wird dort als ,imaginary value‘ wieder auftauchen. Bis dahin aller-
dings bestehen die Laws of Form in einer Explizierung und Verwendung der
86
Tatjana Schönwälder-Kuntze und Katrin Wille
beiden Wiederholungsgesetze; in einem Aufzeigen dessen, was man mit den Hinweisen auf die zwei unterschiedenen Seiten einer Form der Unterscheidung alles machen kann, was alles aus ihnen ableitbar sein kann.
Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM Katrin Wille und Thomas Holscher
Im Übergang vom ersten Kapitel ‚The Form’ zum zweiten Kapitel ‚Forms taken
out of the Form’ ändert sich der Modus der Darstellung. Im ersten Kapitel sind die Prozesse der Bildung und Aufrechterhaltung einer Unterscheidung beschrie-
ben worden, im zweiten Kapitel wird ein Konstruktionsprozess vollzogen, der die Voraussetzungen aus dem ersten Kapitel konstruktiv aufbaut, bestimmt und
in eine eigene formale Sprache umsetzt. Dieser Konstruktionsprozess bewegt sich systematisch an den Schnittstellen zwischen Semiotik, Pragmatik, Syntax und Semantik. Bei der Entwicklung einer der Form (aus dem ersten Kapitel) angemessenen Notation werden Zeichen eingeführt, dabei neue Möglichkeiten für die Bildung und Funktionsweise von Zeichen überhaupt eröffnet (Semiotik). Zeichen werden als Anweisungen zu Handlungen konzipiert (Pragmatik), Grundregeln für deren Verknüpfung abgeleitet (Syntax) und die Basis für die Zuordnung von Zeichen und Werten gelegt (Semantik). Der Aufbau der Syntax und Semantik des Indikationenkalküls ins-
gesamt greift über das zweite Kapitel hinaus und wird im dritten und vierten
Kapitel fortgesetzt. Spencer Brown setzt sich implizit und explizit von der üblichen Aussagenund Prädikatenlogik ab. Es ist aufschlussreich, diese impliziten kritischen Absetzungen an einigen Stellen des folgenden Kommentars zu explizieren, um die
charakteristische Transformation im Aufbau und in der konkreten Entwicklung der Laws of Form zu bemerken. Ein wichtiger Unterschied zur üblichen Logik ist die Betonung des konstruktiven Bildungs- und Aufbauprozesses der Grund-
lagen des Kalküls, den Spencer Brown im zweiten Kapitel kleinschrittig voll-
zieht. Weil dieser Bildungsprozess nur als wirklich vollzogener Bildungsprozess verständlich wird, ist er in einer Reihe von Anweisungen formuliert, die zur selbständigen Nachbildung auffordern.
Die Überschrift des zweiten Kapitels gibt dafür eine Richtung. Es wird die
Form konstruiert, um dann aus dieser
Form Formen zu entnehmen: Forms taken
out of the form. Wichtig ist zum einen das Verhältnis von Singular und Plural in
der Überschrift: aus der (einen) Form werden (mehrere) Formen möglich. Zum
anderen weist die Formulierung ‚taken out’ auf den Prozess des Nehmens oder Entnehmens der Mehreren aus der Einen hin.
Die Überschriften des ersten, zweiten und zwölften Kapitels: ‚The form’,
‚Forms taken out of the form’ und ‚Re-entry into the form’ stehen durch das Vorkommen des zentralen Ausdrucks ‚form’ in Beziehung zueinander. Diese
88
Katrin Wille und Thomas Hölscher
drei Kapitel bilden einen allgemeineren Rahmen fiir den Indikationenkalkil, der in den Kapiteln drei bis elf dargestellt wird. Aus der Zusammenstellung dieser drei Uberschriften lässt sich die Dynamik dieses Rahmens ersehen: von dem Ausgangspunkt der Form werden komplexere Formen aufgebaut (out of), die letzte Bewegung führt uns wieder zurück zum Ausgangspunkt (into). Die Ver-
wandtschaft der Uberschrift des zweiten Kapitels ,Forms taken out of the form’
mit der Uberschrift des fiinften Kapitels ,A calculus taken out of the calculus’ akzentuiert das zweite Kapitel als Ubergang von der Form an der Basis zum
Aufbau eines Kalküls, wie das fünfte Kapitel den Ubergang von einem Kalkül
(der Primären Arithmetik) zum nächsten (der Primären Algebra) markiert. Im Text des zweiten Kapitels finden sich zwanzig Zwischeniiberschriften, die hier wie zwanzig Schritte aufgefasst werden sollen, zu deren Nach- und
Mitvollzug wir aufgefordert werden.
1. Schritt: Konstruktion (Construction) Draw a distinction - im ersten Schritt wird die Anweisung formuliert, eine Un-
terscheidung zu treffen. Die elementare mathematische Form ist nach Spencer Brown nicht die der Beschreibung eines Theorieaufbaus, sondern die der Anlei-
tung zu einem Theorieaufbau und dessen Verwendung. Theorie (und für Spencer Brown vor allem mathematische Theorie) zu betreiben heißt, eine Reihe von Anweisungen zu geben, durch die die Theorie erschaffen wird. Wichtig dabei ist
die Modalitat der Anweisung als Aufforderung zu einer Handlung, nicht so sehr
die genaue Reihenfolge der verschiedenen Anweisungen, die kann variiert werden. Hier fordert Spencer Brown sogar zu selbständigen Handlungen auf, indem
er in den Notes zum zweiten Kapitel den/die Leserin dazu ermuntert, eigene Wanderungen durch den Text zu unternehmen und eigene Illustrationen zu
finden, mögen sie nun mit dem Text übereinstimmen oder auch nicht.’
Hier haben wir es mit einer Konstruktionsanweisung zu tun, durch die etwas
erzeugt werden soll.” Damit wirklich eine Unterscheidung getroffen wird, müs'
?
Vgl. die Notes zum zweiten Kapitel, LoF:79.
Spencer Brown nennt diesen Typ von Injunktion ,command’, durch den etwas ins Sein gerufen, also erschaffen wird. Die Injunktion Triff eine Unterscheidung soll an dieser Stelle wie ein gemeinsamer Vorläufer von einer aktiven Form wie z.B. Finde eine Unterscheidung oder Definiere eine Unterscheidung und einer passiven Form wie Lass eine Unterscheidung getroffen sein verstanden werden. Es geht also an dieser Stelle um eine Art von Konstruktion, die nicht in das Unterscheidungsspiel zwischen aktiver Kreation auf der einen Seite und passiver Rezeption auf der anderen Seite gehört, sondern dieser Unterscheidung gewissermaßen noch vorangeht Daraus entwickeln sich im Laufe des Prozesses erst andere Typen von Injunktionen, die hier noch kondensiert sind. Genau wie das Gegensatzpaar ‚aktiv’ und ‚passiv’ sollen auch andere Gegensatzpaare ‚unterschritten’ werden. Dies gilt an dieser Stelle sogar selbst für den Gegensatz von Aufforderung und Beschreibung. Dazu heißt es in den Notes zum zweiten Kapitel: „ ... that the ideas of description, indication, name and instruction can amount to the same thing.“ LoF:81 ff.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
89
sen zwei Seiten durch eine Grenze so unterschieden sein, dass die eine Seite von der anderen aus nur erreicht werden kann, wenn die Grenze zwischen ihnen
überschritten wird.” Um nun die Konstruktionsanweisung Triff eine Unterscheidung umzusetzen, muss irgendeine Art von Illustration der Unterscheidung gewählt werden, irgendein Material oder Kontext, in dem eine Unterscheidung,
die die Bedingungen erfüllt, geschaffen wird. Dazu gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Eine nennt Spencer Brown in seinem Beispiel im ersten Kapitel,
nämlich den Kreis in einem ebenen Raum. Konkret könnten Blatt und Bleistift
oder Sandfläche und Finger* gewählt werden, um in einer ebenen Fläche einen
Kreis oder ein Rechteck oder irgendeine andere geometrische Figur zu zeichnen, die geschlossen ist, also zwei Seiten klar und ohne Lücke voneinander unter-
scheidet. Nicht jedes Material und jeder Kontext eignen sich für die Illustration
einer Unterscheidung, Kreise in einem dreidimensionalen Raum auf der Ober-
fläche eines Ringes oder Torus erfüllen die Bedingungen einer Unterscheidung z.B. nicht.’ Es sei dem/der LeserIn empfohlen, sich ein leeres Blatt und einen Bleistift
zur Hand zu nehmen und die Konstruktionsanweisung auf eine der vielen mög-
lichen Arten zu befolgen: Triff eine Unterscheidung!
2. Schritt: Inhalt (Content)
Durch das Treffen einer Unterscheidung ist ein Gefüge entstanden, das aus verschiedenen Aspekten besteht. Die englische Zwischenüberschrift ‚content’
erinnert dabei sowohl an die Entstehung von Inhalten (content = Inhalt) als auch an die Erfüllung der im ersten Kapitel aufgestellten Bedingungen (content = befriedigt, zufrieden).
In diesem zweiten Schritt sollen den Aspekten der Unterscheidung Benennungen gegeben werden, damit sie als Referenzpunkte dienen können.° Benannt werden soll der im ersten Schritt vollzogene Prozess der Unterscheidung selbst, er soll die erste Unterscheidung genannt werden. Der Raum, in dem die Unterscheidung getroffen worden ist, also z.B. das Blatt Papier oder die Sandfläche
‘
Vgl. den Kommentar zum ersten Kapitel.
Vagl. die Notes zum zweiten Kapitel LoF:79.
Es sei zugleich auf die Notwendigkeit und die Grenzen von Illustrationen hingewiesen. Illustration ist zum einen nämlich die notwendige Realisicrung von Anweisungen. Andererseits können Illustrationen nicht immer die gegenseitige Abhängigkeit der Aspekte der Form ausdrücken,
denn der Raum als ein Aspekt der Form entsteht erst zusammen mit der Unterscheidung und ist
nicht, wie z.B. ein Blatt Papier, schon vorher unabhängig von der Unterscheidung da. Neben dem Typ von Injunktion, durch den etwas ins Sein gerufen, also erschaffen wird und den Spencer Brown Command nennt, entsteht hier ein zweiter Typ von Injunktion, der zum Vergeben von Benennungen auffordert, die als Referenzpunkte für das Folgende verwendet werden können. Dieser Typ von Injunktion äußert sich im Text in der Form: ‚call-so-and-so-such-andsuch’, vgl. Notes zum zweiten Kapitel LoF:80.
90
Katrin Wille und Thomas Hölscher
oder was auch immer zur Illustration der Unterscheidung gewählt worden ist,
soll durch die Unterscheidung gespaltener Raum genannt werden. Die Teile des Raums, die durch Spaltung gestaltet worden sind, sollen Seiten der Unterschei-
dung genannt werden, oder alternativ durch die Unterscheidung unterschiedene Räume, Zustände oder Inhalte. Spencer Brown wählt hier mit Bedacht die For-
mulierung ,Spaltung’ (cleavage), um eine Unterscheidung von Zuständen (oder
Räumen oder Inhalten) auf verschiedenen Ebenen auszudrücken.’ Diese Anweisung, Benennungen zu vergeben, kann zum Beispiel durch die Beschriftung der im ersten Schritt geschaffenen Skizze illustriert werden. Diese Skizze kann insgesamt erste Unterscheidung genannt und so betitelt werden.
Der Raum, in dem die Unterscheidung getroffen ist, heißt gespaltener Raum. Die Teile, die durch die geschlossene Grenze (wie z.B. bei den geometrischen Figuren ,Kreis’ oder ‚Viereck’) entstehen, können mit Benennungen versehen werden, wie Seiten, Räume, Zustände, Inhalte. Durch die Angabe verschiedener Wörter Seiten, Räume, Zustände, Inhalte wird deutlich, dass wir hier noch auf der sehr elementaren Ebene sind, auf der
verschiedene mögliche Qualifizierungen kondensiert, wo solche Reihungen im Text auftauchen, wird an erinnert: Verlerne die verschiedenen Qualitäten und plexen Unterscheidungen und Ausdifferenzierungen
verdichtet sind. Immer da, die implizite Anweisung Kategorien und die komund geh zurück zu den
einfachen Bestimmungen, die allen möglichen Qualitäten und Kategorien gemeinsam sind! 3. Schritt: Gebrauchszweck (Intent)
Mit dem nächsten Schritt beginnt eine Reihe von Anweisungen für den Prozess
der Zeichenbildung. Es soll irgendeine Markierung, ein ‚token’ oder ein Zeichen
mit der Unterscheidung oder mit irgendeinem Bezug auf die Unterscheidung als
Signal gewählt werden. Ein Zeichen, eine Markierung oder ein ‚token’ werden dann als Signal aufgefasst, wenn das Zeichen (die Markierung, das ‚token’) eine bestimmte Funktion der Informationsvermittlung bekommt, die auf Verabredung beruht.
Es kann also zur Illustration dieser Anweisung irgendeine beliebige optischem oder akustischem Zeichen als Signal mit der oder mit Bezug geschaffene Unterscheidung herangezogen oder erfunden werden. Auch wieder die implizite Anweisung gegeben, Gewohnheiten über das, was
Art von auf die hier ist als Sig-
nal verwendet werden kann, zu verlernen. Das Zeichen braucht nicht einem bekannten Zeichensystem zu entstammen, sondern kann irgendetwas sein, das
die Funktion eines Signals in Bezug auf die Unterscheidung erhalten soll.
’
Für die Unterscheidung von Zuständen auf der gleichen Ebene führt Spencer Brown in den Notes zum vierten Kapitel die Formulierung ,division’ ein, vgl. Kommentar zum vierten Kapitel sowie LoF:87.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
91
Das Signal erhält seine Funktion, Information zu vermitteln, durch seinen Gebrauch. Dieser soll der Gebrauchszweck (intent) des Signals genannt werden,
das Signal erweist sich so als Trager eines Gebrauchszwecks (intent), durch das
zu Handlungen aufgefordert wird. Der Zeichenbildungsprozess, der in den folgenden Schritten fortgesetzt wird, hat also eine pragmatische Basis.
4. Schritt: Erster Canon. Die Konvention der Intention (First Canon. Convention of Intention)
Der Gebrauchszweck eines Signals ist nicht beliebig. Es wird dazu aufgefordert, den Gebrauchszweck eines Signals auf den Gebrauch, der ihm erlaubt ist, beschränkt sein zu lassen.
Mit der in diesem Schritt ,Kanon’ genannten Anweisung wird auf alle bishe-
rigen und alle folgenden Anweisungen Bezug genommen. Diese Art von Anweisung steht auBerhalb des Systems, das erschaffen wird und formuliert eine
allgemeine Vorschrift.” Diese soll ,convention of intention’ genannt werden.
Allgemeiner ist damit die Vorschrift gemeint, dass das, was nicht erlaubt ist,
verboten ist. Der Gebrauchszweck eines Signals ist damit nicht nur mit seinem
Gebrauch gleichzusetzen, sondern schärfer ist sein Gebrauchszweck auch auf
den zugelassenen Gebrauch beschränkt. Über das hinaus, was mit einem Signal
gemacht werden soll, darf es keine Verwendung haben. Verwendungen, die vielleicht in anderen Kontexten und Systemen gewohnt und üblich sein mögen, sind nicht in den Kontext hier zu übertragen, wenn diese Verwendung nicht explizit erlaubt worden ist. Auch in den Transkripten zur AUM-Konferenz heißt
es dazu: Es darf nur verwendet werden, was eingeführt worden ist." Dieser
Kanon ist damit eine Art ,Metaanweisung’, die bei jedem konkreten Schritt mit zu beachten und zu befolgen ist. In diesem Kanon wird explizit aufgenommen, was im zweiten und dritten Schritt als implizite Anweisung zum Verlernen von gewohnten Komplexitaten ®
°
0
Zu dem Bedeutungsfeld des Ausdrucks ‚intent’ gehört nicht nur Zweck (eines Gegenstandes), sondern auch Absicht (einer Person) oder als Adjektiv beabsichtigend, begierig (etwas bestimmtes zu tun). Hier fällt die Bedeutungsverwandtschaft, aber auch der Unterschied zu dem viel verwendeten Ausdruck intention (vgl. im ersten Kapitel und auch im nächsten Schritt dieses Kapitels) auf. Spencer Brown bezieht sich an vielen Stellen explizit und an vielen Stellen eher implizit auf Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus. Ab Satz 2.1 entwickelt Wittgenstein dort die sogenannte Bildtheorie und analysiert zu Beginn die semiotischen Bedingungen von Sprache. Ein wichtiges Moment dieser Analyse ist der Gebrauch von Zeichen. Dazu heißt es z.B. in den Sätzen 3.326 und 3.327: „Um das Symbol am Zeichen zuerkennen, muß man auf seinen sinnvollen Gebrauch achten.“ und „Das Zeichen bestimmt erst mit seiner logisch-syntaktischen Verwendung zusammen eine logische Form.“ Vvgl. dazu die Notes zum zweiten Kapitel: „A canon is an order, or set of orders, to permit or allow, but not to construct or create.“ LoF:80.
Vel. AUM 1,8 und 3,6.
92
Katrin Wille und Thomas Hölscher
und Kategorien erwähnt worden ist. Diese Aufforderung zum Verlernen schlägt
sich bei Spencer Brown stilistisch immer wieder in der Reihung von Wörtern nieder, durch die eben ausgedriickt werden soll, dass hier der Unterschied zwi-
schen diesen Ausdriicken zu ,unterschreiten’ oder zu ,verlernen’ ist. Nur ein strenges Einhalten dieser Anweisung ermöglicht auch den theoretischen Reduktionsprozess der Laws of Form insgesamt, den Spencer Brown in den Transkripten zur AUM-Konferenz als ,journey backwards’ und als ‚taking farther and
farther back to the simplest ground’ bestimmt.''
Wenden wir diese Anweisung gleich an und fragen, was uns bisher erlaubt worden ist: Bisher haben wir die Konstruktion einer Unterscheidung, die Benennung des Konstruktionsprozesses (als ,erste Unterscheidung’) und der er-
schaffenen Aspekte der Unterscheidung (als ,gespaltener Raum’ und ,Seiten’),
sowie ein beliebiges Zeichen, das als Signal mit einer oder mit Bezug auf eine
Unterscheidung verwendet werden kann und in diesem Gebrauch seinen Gebrauchszweck hat, eingeführt. All dies darf nicht verwendet werden, um etwas über verschiedene Qualitäten oder Wertigkeiten der Seiten zu sagen, nicht dazu, spezielle Zeichen vor anderen als mehr oder weniger geeignet auszuzeichnen. All dies widerspräche der ,Metaanweisung’. Es ist eine gute Ubung, sich die Metaanweisung immer wieder dadurch zu illustrieren, dass man zusammenfasst, was bisher eingeführt worden ist, welcher Gebrauch erlaubt ist und welcher nicht. Mit einem etwas anderen Akzent könnte die ,convention of intention’ auch
als Transparenz- und Exaktheitsprinzip für die Entwicklung von (wissenschaft-
lichen) Systemen selber verstanden werden. In der Entwicklung eines mathematischen Systems wie hier des Indikationenkalküls z.B. soll es keine verdeckten Konventionen geben.'” Vielmehr soll alles offen und explizit eingeführt sein
(und nur die Alltagsfähigkeiten, die Sprache zu verstehen und zählen zu können,
werden vorausgesetzt, keinerlei Sprach- oder Zahlentheorie). Aber genau in diesem Transparenz- und Exaktheitsprinzip liegt auch die Schwierigkeit von Mathematik, denn man muss in der Lage sein, nur das zu lesen und aufzunehmen, was gesagt wird und dies mit keinen weiteren Annahmen zu vermischen.’ 5. Schritt: Wissen (Knowledge)
Im fünften Schritt wird die Anweisung gegeben, eine Markierung mit einem
bestimmten Gebrauch einzuführen. Durch die Markierung | der Unterscheidung (mark of distinction) soll ein durch die Unterscheidung unterschiedener
N
2 ”
Vel. AUM 19.
Vel, AUM 3,6.
Vgl. dazu AUM 3,6-7 und die Notes zum zweiten Kapitel LoF:81.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
93
Zustand’? markiert werden. Der Gebrauchszweck der Markierung liegt darin,
den Zustand (vom anderen) zu unterscheiden und wieder zu erkennen.'” Dieser
Zustand soll markierter Zustand genannt werden. Auf dem von uns als LeserInnen angefertigten Skizzenblatt können wir die
gewählte Markierung
| neben die Skizze schreiben. Dadurch soll einer der
möglichen Zustände der Unterscheidung von dem anderen unterschieden und markiert werden — welcher, ist hier offen gelassen.
Der durch die Markierung unterschiedene Zustand hat keine weiteren Qualitäten, als dass er durch die Markierung der Unterscheidung (mark of distinction) unterschieden und durch die Markierung wieder erkannt werden soll. Die unter-
schiedenen Zustände sind unterschieden, aber durch keinerlei Charakteristika, die ihnen inhärent wären, unterscheidbar. Solche Charakteristika gibt es nicht (convention of intention! Mehr können wir nicht über ihn sagen!). Die Unter-
scheidbarkeit wird geschaffen, indem einer der durch die Markierung unter-
schiedenen Zustände ‚markierter Zustand’ genannt wird. Durch diese Benennung ist ein Referenzpunkt geschaffen, der wieder erkannt und wieder verwen-
det werden kann. Die Markierung wird von Anfang an nicht als Repräsentation von Zuständen eingeführt, sondern als Möglichkeit der Unterscheidung und
Wiederverwendung. Damit gehört sie selber zur Form, die im nächsten Schritt
als das, was alle bisherigen Aspekte umfasst, eingeführt wird. 6. Schritt:
Form (Form)
Der durch die Unterscheidung gespaltene Raum zusammen mit dem gesamten Inhalt des Raumes soll die Form der Unterscheidung genannt werden. Und die Form der ersten Unterscheidung soll die Form genannt werden.
Mit der Ebene der Form (der ersten Unterscheidung) ist die Ebene gemeint, auf der von allen räumlichen Qualitäten wie Größe, Gestalt, Abstand und allen zeitlichen Qualitäten wie vorher, nachher und allen anderen Qualitäten wie Farbe oder Wertigkeit abgesehen worden ist. Bei der ersten Unterscheidung soll nur Differenz gedacht werden, Differenz zweier Zustände in einem durch die Unterscheidung gespaltenen Raum. Es ist keine bestimmte und auch nicht die eine Ur-Unterscheidung, es ist keinerlei ,Was’ einer Unterscheidung, sondern
leeres ,Dass’ einer Unterscheidung gemeint. Unterscheidbar werden diese unter-
schiedenen Zustände eben nicht aus sich heraus, sondern durch die Möglichkeit
der Markierung.
4 5
Hier wird aus den möglichen Bestimmungen der Raumteile, die durch die Unterscheidung
geschaffen werden, die Bezeichnung Zustand und nicht Seite, Inhalt, Raum gewählt. Zu dem breiten Bedeutungsfeld von ‚knowing’ und ‚to be known by’ gehört neben ,wissen’, ,erkennen’, ‚erfahren’, ,verstehen’, ‚bekannt sein durch’ auch ‚einen vom anderen unterscheiden’ und ‚wieder erkennen’.
94
Katrin Wille und Thomas Hölscher
Die Differenz zwischen den Zuständen, die Zustände und der durch die Unterscheidung gespaltene Raum entstehen gleichzeitig und in Abhängigkeit von-
einander. Von einem Zustand oder einem Raum unabhängig von oder vor der Unterscheidung kann nicht gesprochen werden, schärfer sogar: es kann keinen
Zustand und keinen Raum vor, auBerhalb oder nach der ersten Unterscheidung geben.'° Was entsteht, wenn etwas entstehen kann, ist die Form. Alles, was im Folgenden entwickelt werden kann, ist in der Form kondensiert, verdichtet. Diese Zusammenführung kann in der Skizze durch einen Obertitel illustriert werden: Die Form. 7. Schritt: Name (Name) Auf der Basis der Form und der Môglichkeit, einen unterschiedenen Zustand zu
markieren, kann nun die Entwicklung einer der
Form angemessenen Notation
und damit der Sprache des Kalküls vorgenommen werden. Die Méglichkeit von
Zeichen liegt in der Vervielfaltigung, der Replikation der Form, zuerst muss eine von der Form unterschiedene Form geschaffen werden.
Diese Anweisung könnte z.B. so illustriert werden, dass ein neues Stück Papier oder ein weiteres Areal Sand dazu genommen wird. Durch die Erschaffung einer unterschiedenen Form wird aber keine zweite Form hergestellt, denn es geht bei diesem Vorgang nicht um numerische Unter-
scheidungen, sondern vielmehr um eine semiotische Differenz zwischen der Form der ersten Unterscheidung und der aus ihr entnommenen Form fiir die
Zeichenbildung. Die Markierung der Unterscheidung (mark of distinction), |, soll aus der Form (also z.B. dem bisherigen Stiick Papier, auf das sie notiert
worden
ist) in die andere Form kopiert werden. Erst durch diese Kopie, die
Replikation der Markierung in einer anderen Form ist die Möglichkeit eines
Zeichens realisiert. Die kopierte Markierung ist zugleich Unterscheidung der Zustände, ermöglicht die Wiedererkennung und Wiederverwendung wie auch
die Vervielfältigung von Markierungen. Die kopierte Markierung soll, als Refe-
renzpunkt für das Folgende, Zeichen (token) der Markierung genannt werden.
Jedes Zeichen (token) der Markierung soll als Name des markierten Zustandes
genannt bzw. gebraucht werden.'®
Durch die nächste Konstruktionsanweisung wird der Gebrauch des Namens
bestimmt, der Name soll auf den Zustand hinweisen (indicate). Hier wird deut-
lich, wie die semiotischen Protostrukturen der Form aufgenommen und zu einer Zeichenverwendung ausgearbeitet werden. Aus der Markierung wird in der 0 17 18
AUM 1,9: „The first state or space is measured by a distinction between states. There is no state for a distinction to be made in. If a distinction could be made, then it would create a space.” Vgl. die Notes zum zweiten Kapitel, LoF:79. Es ist wichtig, zwischen dem Benennen von Aspekten, durch das Referenzpunkte erschaffen werden, und dem Gebrauch von Namen, durch den auf Zustände hingewiesen wird, zu unterscheiden.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
Replikation (Kopie) der Name. Das Zeichen
95
| kann also als Name für den
markierten Zustand verwendet werden. Die Hinweisfunktion (indication) des Namens ist aber genau wie bei der Markierung nicht als Repräsentation des Zustandes durch den Namen verstanden. Zum Hinweis auf einen Zustand durch den Namen gehört seine Unterscheidung, Wiedererkennung und Wiederverwendung. Der Leitbegriff des Indikationenkalküls, Indikation oder Hinweis ruht
in der pragmatischen Dimension der Form.
Die graphische Gestalt des Zeichens
| hat auch die Funktion eines ‚icons’,
eines Bildes der Unterscheidung von Zuständen im Raum. Die ikonische Funktion wird zum einen daran deutlich, dass Spencer Brown in den Notes immer wieder an eine alternative Notation mit Kreisen im Raum erinnert, und zum
anderen durch die Möglichkeit, die gewählte graphische Gestalt
|zu einem
Rechteck, zu einer vollständig begrenzten Figur im Raum, die nach Definition
einen Unterschied in der Ebene macht, zu erweitern: L] einer der
Form.
.? Die Entwicklung
Form angemessenen Notation ist ein zentraler Punkt in den Laws of
Die Angemessenheit zeigt sich darin, dass die Notation die formalen
Eigenschaften selbst aufweist, für die sie stehen soll.”°
Zu einem Zeichen gehört etwas, auf das es hinweist (indicate). Das, worauf es hinweist, muss aber nicht von ihm unterschieden sein, es steht also die Möglichkeit offen, dass ein Zeichen auf sich selbst hinweist. Ein ikonisches Zeichen, das das, worauf es hinweisen soll, selber ist (wie der Kreis eine Unterscheidung), erhält seine Funktion, Zeichen für zu sein, vor allem durch den Kontext
der Verwendung zusammen mit anderen ,token’.”'
Das Vokabular der formalen Sprache besteht bisher aus dem Symbol |
das als Name, kann.
®
2) 21
der auf den markierten Zustand hinweist,
verwendet werden
,
Vel. ähnlich Engstrom 1999:37 „So we need a symbol that creates a new space. A box is a
natural enough symbol of a distinction, and creates a new space inside itself; but a circle or any closed curve will do.” Engstroms Ziel ist es, nachzuzeichnen, dass die Notation Spencer Browns nicht wie üblicherweise arbiträr, sondern durch pre-notationelle Ebenen fundiert ist. In Engstrom 2001:29ff. unterscheidet er zwischen üblicher fypographischer Notation, die in linear geordneter Sequenz notiert und von links nach rechts gelesen wird, und graphischer Notation, die wie Graphen und Diagramme zweidimensional notiert wird und keine bestimmte Reihenfolge hat, so dass die lineare Ordnung verloren gehen kann. Peirce und Spencer Brown entwickeln
eine graphische Notation mit verblüffend vielen Ähnlichkeiten.
Es ist ein zentrales Anliegen, eine Notation mit der angemessenen ‚logischen Mannigfaltigkeit’ (Wittgenstein, Tractatus 4.04) zu entwickeln. Vel. dazuz.B. Kauffman 2001b:92: „The circle refers to itself, but that self is a Sign in a context of Signs, and so the circle can refer to other Signs individually indistinct from itself and yet distinguished from the original circle by the context of this community of Signs.”
96
Katrin Wille und Thomas Hölscher
8. Schritt: Zusammenstellung (Arrangement)
Der nächste Schritt in der Entwicklung der formalen Sprache ist die Anweisung dazu, wie Zeichenzusammenstellungen gebildet werden kénnen. Jede Ansamm-
lung von Zeichen (token), die als zu einer Form gehörig betrachtet werden, bilden das, was nach Spencer Brown ein ,arrangement’, eine Zusammenstellung genannt werden soll.
Die Bildung eines ,arrangement’ kann durch eine beliebige Folge von Zeichen ( |), die zusammengehoren sollen, auf einem Blatt Papier illustriert wer-
den.
9. Schritt: Ausdruck (Expression) Aus Zusammenstellungen von Zeichen werden ‚expressions’, wenn die Zusam-
menstellung als Indikator, Hinweis auf etwas verwendet wird. ‚Arrangements’ bilden das bloße Zeichenmaterial, ‚expressions’ dagegen sind Zeichen, die ge-
braucht werden sollen und durch die ein Hinweis gemacht werden kann.”
Wir können die Anweisung, einen Ausdruck (expression) zu bilden, in unserer Skizze z.B. dadurch illustrieren, dass wir die Zusammenstellung von Zeichen aus dem achten Schritt als Hinweis auf einen Zustand verwenden.” 10. Schritt: Wert (Value) Um den Leitbegriff des Indikationenkalküls, /ndikation bzw. Hinweis, weiter zu entwickeln, soll der Zustand, auf den durch einen Ausdruck (expression) hinge-
wiesen wird, der Wert des Ausdrucks genannt werden.” Dem Ausdruck soll also
ein Wert zugeordnet werden, der mit dem Zustand, auf den hingewiesen wird, identifiziert wird. An dieser Stelle geht es noch nicht um die Art und Anzahl der Zustände und damit auch noch nicht um die Qualität und Anzahl der Werte. Bisher ist ein unterscheidbarer Zustand, nämlich der markierte Zustand eingeführt und damit auch ein Wert. Ob und wenn ja welche anderen Zustände und Werte ‚aus der Form entnommen’ werden können, ist an dieser Stelle noch offen. 22 #
#
Wittgenstein nennt diesen Unterschied im Tractatus den zwischen Zeichen und Symbol, z.B. in
Satz 3.326: „Um das Symbol am Zeichen zu erkennen, muß man auf den sinnvollen Gebrauch achten.“ Ein Vergleich wären hier Sätze, die in kommunikativen Situationen gebraucht werden. Im Aufbau der Syntax der Aussagenlogik würde hier von ,Formeln’ gesprochen. Während es allerdings in der Syntax der Aussagenlogik induktive Definitionen und Bildungsregeln braucht, um aus einem Ausdruck eine Formel zu machen, ist hier nur die Verwendung der Zeichenansammlung als hinweisende ‚expression’ nötig.
Der Begriff Wert kommt zum ersten Mal im ersten Kapitel vor, vgl. den Kommentar zum ersten
Kapitel. Es ist weder dort noch hier ein ethischer, ästhetischer oder ökonomischer Wert gemeint.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
97
Mit der Anweisung, den Zustand, auf den ein Ausdruck hinweist, seinen Wert zu nennen, wird die Basis für die Semantik des Indikationenkalkils gelegt,
bei der es um die Zuordnung von Werten zu Ausdriicken (expressions) geht.”
Dieser Schritt kann in der Skizze so illustriert werden, dass dem Ausdruck (ex-
pression) in der Vorstellung ein Wert zugeordnet wird, ähnlich wie einem komplexen Funktionsausdruck x ein Wert y zugeordnet wird. Und bei dieser Illustration in der Vorstellung geht es darum, dass ein Wert zugeordnet wird, nicht was fiir ein Wert das ist.
11. Schritt: Aquivalenz (Equivalence) Zwischen Ausdrücken (expressions) kénnen über ihre Werte Beziehungen hergestellt werden. Haben Ausdrücke (expressions) denselben Wert, sollen sie
äquivalent, also eben von gleichem Wert genannt werden. Um Wertgleichheit
zwischen Ausdriicken (expressions) auszudrücken, soll ein Zeichen für diese
Aquivalenz, namlich das Zeichen ,=’, zwischen die beiden wertgleichen Ausdriicke geschrieben werden. Damit sind die syntaktischen und semantischen Voraussetzungen geschaffen, um das erste Axiom aus dem ersten Kapitel in die bisher entwickelte formale Sprache zu übersetzen. Im ersten Axiom wurde die Ununterschiedenheit zwi-
schen der wiederholten und der einmaligen Verwendung eines Namens ausgesprochen. Die einmalige Verwendung eines Namens (der auf einen Zustand hinweist und einen Wert hat) auf der einen Seite (der rechten Seite der Aquiva-
lenzbeziehung, formal ausgedrückt: |) und die wiederholte Verwendung dieses
Namens auf der anderen Seite (der linken Seite der Äquivalenzbeziehung, formal ausgedrückt:
| | ) bilden zwei verschiedene Ausdrücke (expressions), die
den gleichen Wert haben. Also gilt formal ausgedrückt:
| |=
|. Mit dem Zei-
chen ,=’ wird eine semantische Behauptung über die beiden Ausdrücke, also über ihre Wertgleichheit gemacht und es wird nicht (syntaktisch) zur Herstel-
lung eines neuen Ausdrucks (expression) verwendet.
Diese Äquivalenzbeziehung soll die
Form der Kondensation (form of con-
densation)“ genannt werden. Kondensation, Verdichtung steht hier für die Möglichkeit, eine wiederholte Namensverwendung,
also einen komplexeren Aus-
druck (expression) und eine einfache Namensnennung, also einen einfachen ”Spencer Browns Wertbegriff ist ein anderer als der der Wahrheitswerte ,wahr’ und ,falsch’, die in der Semantik der (mathematischen) Logik verwendet werden. Durch die Identifikation von Wert mit dem Zustand, auf den ein Ausdruck hinweist, realisiert Spencer Brown einen weiteren Schritt in der Kette von konzeptuellen Reduktionen, die er in den Notes zum elften Kapitel so beschreibt: „[W]e must abandon existence to truth, truth to indication, indication to form, and form to void.“, LoF:101. Möglicherweise sollen in der ‚form of condensation’ und auch in der im zwölften Schritt entwickelten ‚form of cancellation’ die Funktion von Axiomen und die Funktion von Schlussregeln zusammengefasst sen, die bei sonst üblichem axiomatischem Aufbau unterschieden werden.
98
Katrin Wille und
Thomas Hölscher
Ausdruck (expression) vermittels ihrer Werte gleich zu setzen. Außerdem deutet die Bezeichnung Kondensation an, wie diese Form im weiteren Aufbau verwendet werden kann, nämlich auch zur Substitution zwecks Kondensation von Aus-
drücken (expressions).?’ Die
Form der Kondensation kann als die erste Regel in
dem ‚Spiel mit Hinweisen’, dem Indikationenkalkül, gelten. Es wird hier schon
deutlich, dass es in diesem ‚Spiel? um Äquivalenzbeziehungen geht. 12. Schritt: Aufforderung (Instruction)
Der zwölfte Schritt ist ein Komplex aus verschiedenen Anweisungen, die die formale Sprache wesentlich ergänzen. Um
die erste Anweisung ausführen zu
können, ist es wichtig, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass zur Form der Unterscheidung die Teile oder Zustände (Plural!) gehören, die durch die Unterschei-
dung unterschieden werden. Einer der unterschiedenen Zustände wurde durch
die Markierung | markiert und markierter Zustand genannt. Es erfolgt nun die Anweisung, den Zustand, der nicht mit der Markierung markiert worden ist, den unmarkierten Zustand zu nennen. Damit sind beide Zustände durch verschiede-
ne Benennungen voneinander unterscheidbar, der eine Zustand heißt der markierte Zustand, der andere heißt der unmarkierte.”” Mit der nächsten Anweisung wird der Gebrauch des Zeichens der Markie-
rung (token of the mark) erweitert: Jedes Zeichen der Markierung (token of the mark) soll so gesehen werden, dass es den Raum, in den es hinein kopiert ist, spaltet. Jedes Zeichen der Markierung | soll selber eine Unterscheidung in
seiner eigenen Form sein. Damit ist das Zeichen der Markierung zum einen
Name des markierten Zustandes (nach Schritt sieben) und zum anderen eine
Unterscheidung in seiner eigenen Form. Durch jedes ‚token’ - als Unterschei-
dung betrachtet - wird eine ‚eigene Form’ aufgespannt, wird ein Raum gespalten
und werden Zustände (Inhalte, Seiten) unterschieden.
Die konkave Seite des Zeichens | soll seine Innenseite oder Innen genannt
werden. Durch diese Anweisung, eine weitere Benennung einzuführen, wird ein 27
%
Der Terminus ,condensation’ ist zentral für die Laws of Form: In der Formulierung ‚form of
condensation’ als terminus technicus und als Prozess der Verdichtung, durch den ein Zeichen größere Wirksamkeit (power) erhält, da viele Bedeutungsebenen ,hineingefaltet’ werden. Zu letzterem heißt es in den Notes zum zweiten Kapitel: „We may also refer to it ... as a place where ideas condense in one symbol. It is this condensation which gives the symbol its power ... which is achieved by condensing as much as is needed into as little as is needed.” LoF:81.
Engstrom zeigt, dass Peirce in seinen ,existential graphs’ auch mit geschlossenen Formen und
mit notationellen Leerstellen arbeitet, vgl. Engstrom 2001:43. Anders als Spencer Brown ist Peirce von der Frage geleitet, welche räumliche Darstellung für die logische Beziehung der Implikation angemessen ist, vgl. Engstrom 2001:46f. Spencer Brown arbeitet dagegen nur mit Gleichungen, nicht mit Implikationsverhältnissen Ein wichtiger Grund dafür liegt darin, dass das Implikationsverhältnis eine bestimmte Richtung hat, während Gleichungen beide Richtungen erlauben, vgl. Engstrom 2001:52.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
99
neuer Referenzpunkt innerhalb der Form des Zeichens (token) als Unterscheidung selbst geschaffen. Mit der nächsten Anweisung wird der Gebrauch des Zeichens (token) noch einmal erweitert: Jedes Zeichen (token) soll als Aufforderung (instruction) auf-
gefasst werden, die Grenze der ersten Unterscheidung zu überschreiten. Die erste Unterscheidung ist die, deren Aspekte ein gespaltener Raum und Teile, Seiten oder Zustände sind, die durch eine Grenze voneinander unterschieden sind, so dass man nur von einer Seite auf die andere Seite gelangen kann, wenn die Grenze überschritten wird. Mit dieser Aufforderung, die Grenze zu über-
schreiten, haben wir es im zweiten Kapitel mit einem neuen Typ von Anweisung zu tun, durch den eine Operation mit einer Richtung von einem Zustand zu
einem anderen Zustand ausgeführt werden soll.”
Der erste Typ waren Konstruktionsanweisungen, durch die werden, der zweite Typ Anweisungen, um durch Benennungen für das Folgende zu schaffen, der dritte Typ Kanones, durch die gen gegeben werden. Dieser hier eingeführte vierte Typ von
Formen erzeugt Referenzpunkte MetaanweisunAufforderungen
oder Instruktionen fordert innerhalb der formalen Sprache (des Kalküls) zu Operationen auf, bei denen die Richtung eine entscheidende Rolle spielt (dies gilt für den Typ zwei dagegen nicht). Die Aufforderung (instruction) ist also
dann vollständig und ausführbar, wenn die Richtung angegeben wird, von wo und wohin die Bewegung gehen soll. Um also überhaupt die Größe ‚Richtung’ einführen zu können, braucht es mindestens einen Bezugspunkt im Raum, von dem aus eine Richtung eingeschlagen werden kann. Der Referenzpunkt, von
dem aus der Prozess des Überschreitens beginnt, soll die oben benannte Innen-
seite sein. Der Prozess soll damit von dem Zustand ausgehen, auf den auf der Innenseite des Zeichens (token) - als Unterscheidung gedacht - hingewiesen
wird. Von dort soll die Überschreitung zu dem Zustand gehen, auf den durch das Zeichen (token) hingewiesen wird.
Wird das Zeichen (token) als eine Aufforderung zum Überschreiten genom-
men, wird es also als Operator verstanden, dann sind in den Gebrauchsregeln für diesen Crossing-Operator sein Gebrauch als Name (für den markierten Zustand) und sein Gebrauch als Unterscheidung kondensiert. Der Zustand, von dem der Prozess des Überschreitens beginnt, also der auf der Innenseite indizierte Zu-
stand, zeigt sich durch den Gebrauch des Zeichens (token) als Unterscheidung.
Der Zustand, in den der Prozess des Überschreitens hineingeht, also der Zu-
stand, auf den durch das Zeichen (token) hingewiesen wird, zeigt sich durch den Gebrauch als Name.
Die Koinzidenz oder Kondensation von Operation des Überschreitens, Unterscheidung und Name wird in diesem zwölften Schritt systematisch vollzogen.
29
Vgl. die Notes zum zweiten Kapitel, LoF:80.
100
Katrin Wille und Thomas Hôlscher
Das Zeichen |
ist also systematisch mehrdeutig?” zwischen drei verschiedenen
Gebrauchsweisen und Deutungen. Es stellt sich die
Frage nach dem Wozu dieser
Kondensation, die das Verständnis davon, wie das Zeichen | verstanden wer-
den soll, erheblich zu erschweren scheint. Warum, so ließe sich fragen, wird nicht auch auf der Zeichenebene zwischen den drei Funktionen differenziert, indem die Verschiedenheit durch Indizes oder neue Zeichen angezeigt wird? Ein
Grund liegt darin: Würden diese Bedeutungsschichten des Zeichens | derart
auseinander genommen, würde der innere Zusammenhang zwischen ihnen ver-
loren gehen und nicht mehr deutlich sein, wie diese Aspekte in Abhängigkeit
voneinander entstehen und sich gegenseitig stützen. ‚Unterscheidung’, ‚crossing’ und ‚calling’ sind Prozesse, die durch einander entstehen und nur in Bezug aufeinander möglich sind. Eine Aufgliederung in verschiedene Zeichen für die
Unterscheidung, für die Operation des ‚crossing’ und für die Verwendung des
Namens beim ‚calling’ würde suggerieren, dass dies selbständige Aspekte sind,
die erst nachträglich aufeinander zu beziehen und deren Beziehungen also wieder neu aufzubauen sind. Die methodologische Entscheidung, alle drei in einem Zeichen zu kondensieren, gibt den konstitutiven Beziehungen zwischen ihnen den Vorrang. Zusammengenommen heißt dies, dass das Zeichen für einen Zustand zugleich das Treffen einer Unterscheidung ist, die zugleich die Aufforderung ist, die Grenze von innen her zu überschreiten zu dem Zustand, für den das Zeichen eben steht.’' Es wird deutlich, wie hier selbst wieder eine Kreisbewegung vollzogen wird, die dahin zurückführt, wo begonnen worden ist, durch die das, mit dem begonnen worden ist, seinerseits aber wieder ermöglicht ist.“^ ”
Familienahnlich zur Idee der systematischen Ambiguität (vgl. dazu den Kommentar zum ersten Kapitel) spricht Kauffman 2001b:82ff. von ‚portmanteau signs’ und von ‚pivot duality’. Unter einem ‚portmanteau sign’ versteht er ein Zeichen, das eine Kombination von verschiedenen Bedeutungen ist, so dass diese in dem Zeichen zusammengesetzt oder kondensiert werden. Unter ‚pivot duality’ versteht er ein Zeichen, dass in mehr als einer Weise interpretiert werden kann;
diese Multiplizitat der Interpretation führt zu einem Drehpunkt zwischen den verschiedenen
*! 32
Kontexten, der auf eine tiefere gemeinsame Ebene hinweist. Beide Formen sind nach Kauffman zentral für Zeichen und vor allem für formale Zeichen. Dagegen steht der Wunsch, Zeichen so zu bilden, dass jedes Zeichen eine einzige ihm zugewiesene Bedeutung hat. Dies ist nach Kauffman nicht möglich und verstößt gegen die Idee von Sprache. Kauffman will in einer Analyse der Notationen von Peirce, Nicod und Spencer Brown zeigen, dass die formale Operation der Implikation nicht einfach ist und so nicht als Ausgangspunkt genommen werden kann. Deshalb ist dafür auch ein Zeichen adäquat, das selbst ein komplexes Zeichen ist, zusammengesetzt aus anderen logischen Zeichen also ein ‚portmanteau sign’.
Oder auch so herum: dass das Treffen einer Unterscheidung zugleich die Aufforderung ist, die Grenze von innen zu überschreiten hin zu dem Zustand, auf den das Zeichen der Unterscheidung zugleich hinweist, den markierten Zustand. An dieser Kreisbewegung mit drei Prozessen wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen ‚Sache’ und ‚Zeichen für die Sache’ keine absolute ist, sondern immer wieder neu erschaffen und überschritten wird. Die semiotische Differenz ist also keine, die immer und selbstverständlich gilt.
111. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
101
Es ist wichtig, auch hier die Metaanweisung aus dem vierten Schritt (convention of intention) zu beachten. Für die Operation des ,crossing’ ist ein Aus-
gangspunkt bestimmt, das Innen, und eine Richtung, also über die Grenze hin zu
dem Zustand, auf den durch das Zeichen hingewiesen wird. Auf dem Hinter-
grund unserer begrifflichen Gewohnheiten
ist die Versuchung groß, komple-
mentär zu der Innenseite eine Außenseite zu bilden und das ‚crossing’ von dem
Innen in das Außen gehen zu lassen. Da es aber keine Anweisung zur Bildung
des komplementären Begriffes ‚Außen’ gibt, ist dies hier auch nicht erlaubt. In den Transkripten zur AUM-Konferenz heißt es dazu, dass es bei der ersten Unterscheidung kein Außen und kein Innen gibt, da seien die graphischen Illustrationen irreführend. Die Qualifizierung als ,AuBen’ und ‚Innen’ hängt nämlich davon ab, wo man sich als BetrachterIn befindet, dies ist aber für die erste Un-
terscheidung noch nicht relevant.”
Nachdem die kondensierte Komplexität des Zeichens | entwickelt worden ist, schließt die nächste Anweisung dort an, wo dieser zwölfte Schritt begonnen
hat: Ein Raum ohne Zeichen soll auf den unmarkierten Zustand hinweisen. So,
wie das Zeichen der Markierung auf den markierten Zustand hinweist, weist der nicht markierte Raum auf den unmarkierten Zustand hin. Das klingt konsequent und symmetrisch. Es besteht aber ein wichtiger Unterschied zwischen dem
Zeichen der Markierung und dem nicht markierten Raum. Nur das Zeichen der Markierung kann als Name (im Sinne des siebten Schritts) verwendet werden, nicht aber der Raum ohne Zeichen. In den Transkripten zur AUM-Konferenz betont Spencer Brown diesen Punkt: „We did away with the second name. This
is essential. It’s the fear of doing away with the second name, that has left logic
so complicated. If you don’t do away with the second name, you can’t make the magic reduction.” Dem Anspruch der größtmöglichen Reduktion und Einfachheit gemäß reicht es, bei der ersten Unterscheidung eine Seite zu markieren. Wo die Markierung gefunden wird, wird auf die markierte Seite hingewiesen. Wo
keine Markierung gefunden wird, weist dies auf die andere Seite hin, die nicht
markiert worden ist.”
9
”
”
Vgl. AUM 1,13. Der Grund dafür, dass in der Literatur üblicherweise von der Innenseite und von der Außenseite gesprochen wird, liegt wohl darin, dass Spencer Brown in den Notes zu dem zweiten Kapitel eine andere Art der Ableitung für die beiden einfachen Gleichungen gibt. Diese illustriert er mit Kreisen und verwendet die Rede von der /nnen- und Außenseite der Kreise. Vgl. die Notes zum zweiten Kapitel LoF:82-83 sowie z.B. Simon 1999:59: „Grundlage einer jeden Bezeichnung ist eine Unterscheidung zwischen innen und außen, die der Beobachter vornimmt.“ Es ist bei Spencer Brown im Aufbau des Kalküls weder von der Unterscheidung zwischen innen und außen, noch von dem Beobachter die Rede. Auf die Komplementarität zwischen Innen- und Außenseite greift auch Kauffman in seiner eindrucksvollen Rekonstruktion des Indikationenkalküls zurück. Vgl. z.B. Kauffman 1998a. AUM 1,12
Vgl. AUM 1,13. Der Raum ohne Markierung könnte als ,Quasi-Indikator’ bezeichnet werden.
102
Katrin Wille und Thomas Hölscher
Dies ist die einfachste Art, zwei Zustände zu bestimmen und nur einen Namen zu brauchen, um auf jeden der Zustände hinweisen zu können, einmal, indem der Name verwendet wird, und zum anderen, indem er nicht verwendet
wird. Und die Nicht-Verwendung des Namens ist selbst kein Name.” Die Mög-
lichkeit, einen Hinweis zu machen, besteht nicht nur durch einen Namen oder
durch die Operation des ,crossing’ (wie auch im ersten Kapitel ausgeführt), sondern auch durch einen Raum ohne Zeichen.
Was sich ergibt, wenn die Operation des Überschreitens wiederholt wird, ist
im 2. Axiom des ersten Kapitels ausgedrückt und kann mit den geschaffenen
syntaktischen Mitteln so formalisiert werden: I= .Die Operation des ,crossing’ geht, wie ausgeführt, von dem Zustand, auf den auf der Innenseite des Zeichens hingewiesen wird, über die Grenze in den Zustand, auf den durch das
Zeichen hingewiesen wird. Wird die Operation wiederholt und die Grenze von
dem einen Zustand, auf den durch das Zeichen hingewiesen wird, also dem markierten Zustand, wieder zuriick überschritten in den anderen Zustand, auf den auf der Innenseite hingewiesen wird, kommen wir zu dem Zustand zuriick, von dem wir ausgegangen sind, und das ist der unmarkierte. Das, was für den Ausgangspunkt des Uberschreitens offen als ,der Zustand, auf den auf der Innenseite des Zeichens hingewiesen wird’ vorgestellt werden sollte, erweist sich
in der Wiederholung und im Zusammennehmen der beiden Uberschreitungen
(bzw. wie es in Axiom 2 heißt, der beiden Absichten zu Uberschreitungen) als der unmarkierte Zustand. Es ist allerdings nicht erlaubt (nach dem vierten Schritt) zu sagen, dass die Innenseite des Zeichens fur den unmarkierten Zu-
stand stehe. Nicht die Innenseite ist als Name eingefiihrt worden, sondern nur
das Zeichen der Markierung (token of the mark). Erst mit der Wiederholung des
Uberschreitens wird der Ausgangspunkt des ersten Uberschreitens als unmarkierter Zustand zugänglich. In den Notes betont Spencer Brown, dass mit jeder Aufforderung (instruction), und das heißt mit jeder Aufforderung, die Grenze zu überschreiten, der Zustand gewechselt wird.?’ Auf das Überschreiten in den markierten Zustand
hinein folgt das wiederholte Überschreiten mit der umgekehrten Ausrichtung in
den anderen Zustand hinein, also hier den unmarkierten Zustand. Die wiederholte Überschreitung der Grenze wird durch zwei ineinander geschriebene Zeichen in der formalen Sprache ausgedrückt. Die doppelte Überschreitung, die zum unmarkierten Zustand führt, kann als wertgleich angesehen werden (,=’ nach dem elften Schritt) zu dem Wert, der durch nichts (von alldem) angezeigt wird. Wie im elften Schritt handelt es sich hier um die Äquiva-
% 37
Vgl. dazu sehr deutlich Kauffman 1981:254: „There are no blank symbols; there is only the
empty space of the plane ... . But a blank is not a symbol, it is just a place where no symbol has been drawn.“ Vgl. die Notes zum zweiten Kapitel, LoF:80.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
1602 von zwei verschiedenen Ausdrücken, | und haben.
Spencer Brown nennt diese Äquivalenz die
103
, die den gleichen Wert
Form der Aufhebung (form of
cancellation). Wird die Überschreitung wiederholt und werden die beiden Über-
schreitungen zusammengenommen, dann wird das Zeichen der Markierung aufgehoben, gelöscht, und es entsteht ein Raum ohne Zeichen, der auf den unmarkierten Zustand hinweist. Die Form der Aufhebung kann als die zweite Regel in dem ‚Spiel mit Hinweisen’, dem Indikationenkalkül, gelten.
13. Schritt: Gleichung (Equation) Es legt sich eine Reihe von Möglichkeiten nahe, an den wichtigen zwölften Schritt anzuschließen. Eine Möglichkeit wäre, die eingeführten Formen, die ‚form of condensation’ und die ‚form of cancellation’ und die in ihnen verwen-
deten Ausdrücke näher zu bestimmen. Eine andere Möglichkeit liegt darin, die systematische Mehrdeutigkeit des Zeichens (token) als Name, Unterscheidung und Instruktion aufzunehmen. In den Schritten 13-15 wählt Spencer Brown die erste Möglichkeit, in Schritt 16 wird die zweite aufgegriffen. Im elften und zwölften Schritt wurden Äquivalenzen zwischen wertgleichen
Ausdrücken vorgestellt. Es soll nun der Hinweis auf äquivalente Ausdrücke eine Gleichung genannt werden. Spencer Brown unterscheidet damit zwischen Äqui-
valenzen und Gleichungen. Äquivalenzen sind Wertgleichheiten von Ausdrücken, Gleichungen sind Hinweise auf diese, also gewissermaßen ‚Sätze’ über äquivalente Ausdrücke. Die Funktion von Gleichungen bleibt an dieser Stelle
beschränkt auf den Hinweis auf die Äquivalenz von Ausdrücken. Es ist hier
noch nicht die Erlaubnis
gegeben, Gleichungen
wie in der Gleichungslehre
üblich durch Aquivalenzumformungen zu vereinfachen und dadurch eine Lösungsmenge der Gleichung zu bestimmen. Diese Erlaubnis muss explizit gege-
ben werden und dies wird kleinschrittig im dritten Kapitel entwickelt.” 14. Schritt: Einfache Gleichung (Primitive equation)
Unter den Möglichkeiten für Gleichungen wird in diesem Schritt ein bestimmter
Typ von Gleichungen hervorgehoben, die einfachen oder primitiven Gleichungen (primitive equation). Darunter sollen die Form der Kondensation (form of *8
In den Erläuterungen zu dem frühen Buch über Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft macht
Spencer Brown sich Gedanken über Gleichungen: „[It] prompts me to consider in what way ma-
thematical propositions are elucidatory. What use is it to say that one expression is equal to another different-looking expression? I think the answer lies in their different forms stressing different aspects of what we want to consider.... In other words, the different ways of saying the same thing emphazise different aspects of it. When we use a mathematical formula containing the equality sign, we do so in order to couple together certain ideas we wish to emphazise on either side of it.” Spencer Brown 1957:141.
104
Katrin Wille und Thomas Hölscher
condensation) und die Form der Aufhebung (form of cancellation) fallen. AuBer
diesen beiden soll es keine weiteren einfachen bzw. primitiven Gleichungen geben. Die Bezeichnung der beiden Gleichungen als ,primitiv’ erinnert an ,primitive Symbole’, die in der Logik oft als Zeichen bestimmt werden, deren Bedeutung als bekannt vorausgesetzt wird. Zu Spencer Browns Verwendung von ‚primitiv’ gehören unbedingt die Bedeutungsschichten ,elementar’ und ‚übli-
chen Differenzierungen voraus liegend’”. Damit ist aber entgegen üblicher
Verwendungen nicht gemeint, dass das als ,primitiv’ oder ,elementar’ Qualifizierte einfach gegeben oder vorausgesetzt wird. ,Elementar’ oder ‚primitiv’ ist das, was aus der Idee der Unterscheidung ohne weitere Qualifizierung abgeleitet werden und als Grundlage für andere Verwendungen dienen kann. Mit den beiden einfachen bzw. primitiven Gleichungen werden demgemäß Hinweise auf äquivalente Ausdrücke gegeben, die im Folgenden als bekannt
vorausgesetzt werden und auf denen die weitere Entwicklung (von Differenzierungen) aufbauen kann. 15. Schritt: Einfacher Ausdruck (Simple expression)
Die drei verschiedenen Formen von Zusammenstellungen (arrangements), die ın den beiden einfachen bzw. primitiven Gleichungen vorkommen, sollen, wie im
neunten Schritt festgelegt, Ausdrücke heißen, also: | 1, ㅣ , | und dazu noch die Abwesenheit von Form . Jeder Ausdruck, der aus einem leeren Zeichen besteht, also aus |, soll einfach genannt werden. Jeder Ausdruck, der aus einem leeren Raum besteht, also aus , soll einfach genannt werden. Nur diese
beiden Ausdrücke sollen einfache Ausdrücke heißen.”
Durch diese Bestimmung der beiden einfachen Ausdrücke als ‚leeres Zeichen’ und ‚leerer Raum’ wird eine terminologische Parallelität zwischen den beiden hergestellt, die den weiteren Aufbau eines zweiwertigen Systems (bis zum zehnten Kapitel) ermöglicht. Die beiden einfachen Ausdrücke weisen auf die beiden Zustände, Werte hin, mit denen gearbeitet wird. Es ist wichtig zu
beachten, dass diese Parallelität der beiden Werte hier geschaffen und bewusst eingeführt wird und nicht die Voraussetzung ist, auf der das System beruht. Im
zwölften Schritt wurde deutlich, dass die Beziehung der beiden einfachen Hinweise auf die beiden Zustände, den markierten und den unmarkierten, keine von zwei Namen ist, seien es einfach zwei verschiedene Namen a und b oder ein
Name a und sein komplementärer Name -a. Hier wird vielmehr, wie dargestellt, die einfachste
Form gewählt, in der nur ein Name verwendet wird, um auf zwei
Zustände hinzuweisen, eben durch die Verwendung und die Nicht-Verwendung ” ”
Vgl. diese Verwendung z.B. in den Notes zum zweiten Kapitel, LoF:84. Streng genommen sind die beiden einfachen Ausdrücke vor diesem 15. Schritt noch gar nicht
eingeführt; als Ausdrücke explizit eingeführt sind im achten und neunten Schritt nur (mehrere) ‚token’ in Beziehung aufeinander.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
105
des Namens. Der Hinweis auf den unmarkierten Zustand ohne Verwendung einer Markierung, also eines Zeichens und damit eines Namens, nutzt die einfachste Differenz von Präsenz und Absenz, metaphysisch aufgeladen formuliert von Sein und Nichts. Es liegt aber alles daran, wie diese Differenz, wie dieser Differenzmodus bestimmt wird. Dabei wird die Präsenz, ,das Sein’, als Zeichen, als Markierung verstanden, die Absenz, ,das Nichts’, als Nicht-Vorhandensein
einer Markierung. Damit wird die Absenz nicht zu einer Art ‚negativer Präsenz’,
die komplementär zu der Präsenz bestimmt werden kann. Absenz, das Nicht-
Vorhandensein, kann als Hinweis fungieren, nicht aber als Name. Im Anschluss an diesen Schritt legt sich die Frage nahe, wie auf der Basis der einfachen Ausdrücke andere Ausdrücke, möglicherweise komplexe Ausdrü-
cke, gebildet werden können.”
16. Schritt: Operation (Operation) In diesem Schritt wird inhaltlich zum zwölften Schritt zurückgegangen und es wird an die intendierte, systematische Mehrdeutigkeit des Zeichens | (token)
angeknüpft. Es werden zwei der Gebrauchsweisen des Zeichens (token) explizit
zusammengeführt: der Gebrauch als Name und der Gebrauch als Aufforderung
(instruction) gemäß
Vereinbarung.
Durch beide Gebrauchsweisen
kann auf
einen Zustand hingewiesen werden. Im siebten Schritt wurde deutlich, dass ein
Name auf einen Zustand hinweisen kann. Und genauso kann dies, wie im zwölf-
ten Schritt vorbereitet, die Aufforderung, die Grenze zu überschreiten. Diese hat eine Richtung, nämlich die Grenze hin zu dem Zustand, auf den durch das Zeichen hingewiesen wird, zu überschreiten. So kann hier der Schritt gemacht wer-
den, dass auch durch die Verwendung des Zeichens als Aufforderung, die Gren-
ze zu überschreiten, auf einen Zustand hingewiesen werden kann. Dies ist in der Vereinbarung im zwölften Schritt vorbereitet und wird hier explizit erlaubt. Daraus folgt, dass jedes Zeichen als Aufforderung (instruction) zur Durchführung (operation) einer Absicht zur Grenzüberschreitung aufgefasst werden kann. Dem Zeichen (token) kann so verstanden der Name ,iiberschreite’ (cross) gegeben werden, um darauf hinzuweisen, worin die Absicht besteht. Dadurch werden die Vorbereitungen aus Axiom 2 des ersten Kapitels aufgenommen, wo die Absicht (intention), die Grenze zu überschreiten, schon als
Hinweis auf den Wert des Inhalts bestimmt wird. Dies ist die Basis für die Formulierung von Axiom 2, welches wiederum die Grundlage für die ‚form of condensation’ aus dem zwölften Schritt bietet.
*
In anderen formalen Systemen würden die einfachen Ausdrücke die Funktion von ‚atomaren
Formeln’ haben, auf deren Basis dann rekursive (Bildungs-)Regeln für wohlgeformte Ausdrücke entwickelt würden. Im weiteren Aufbau des Indikationenkalküls werden sich Unterschiede
und Ähnlichkeiten zu diesem Verfahren zeigen.
106
Katrin Wille und Thomas Hölscher
An dieser Stelle werden die Namensfunktion und die Anweisungsfunktion zu einer Operation systematisch miteinander verschränkt. In dem Zeichen | ist
beides verdichtet, kondensiert. Der Name ist selbst nichts als die Anweisung, in den markierten Zustand hinein zu überschreiten, die Anweisung zu überschrei-
ten ist selbst nichts als der Name für den markierten Zustand.“ Dadurch werden
zwei Typen von Injunktionen, die zunächst unterschieden worden sind, eng auf einander bezogen, so dass sie nur in Abhängigkeit voneinander möglich sind, nämlich der zweite Typ, durch Benennungen Referenzpunkte zu schaffen und der vierte Typ, Instruktionen in eine vereinbarte Richtung auszuführen.” Einer der im 15. Schritt gebildeten einfachen Ausdrücke, das leere Zeichen,
ist gleichzeitig (der einzige) Operator: ‚cross’. Mit diesem 16. Schritt wird der
einzige Operator erzeugt, der zur Sprache des mathematischen Systems des Indikationenkalküls gehört. Die Besonderheit gegenüber anderen formalen Sprachen liegt allerdings nicht nur darin, dass es nur einen Operator gibt, durch
den Sheffer-Strich und den Peirce-Pfeil ist schon anderweitig nachgewiesen,
dass sich ein vollständiges formales System auf nur einem Operator aufbauen
lässt. Besonders ist, dass Operand und Operator gezielt und in allen Kontexten
zusammenfallen“ und dadurch eine selbstreferentielle Struktur haben.” Das
‚cross’ ist ein Ausdruck, auf den eine Operation angewandt werden kann, und Aufforderung zu einer Operation zugleich. Es wird im Aufbau des Kalküls gezeigt, dass dies keinerlei Verwirrung stiftet und genauso leistungsstark ist wie
übliche formale Systeme, die hier eine strikte Unterscheidung von Operator(en) und Operanden fordern. 17. Schritt: Relation (Relation)
Es ist noch offen, wie das einzige Symbol bzw. der einzige Name, der wie ausgeführt verschiedene Gebrauchsweisen vereinigt, mit Kopien seiner selbst in Beziehung treten kann, also wie die Zusammenstellung (arrangement) von Zei-
chen und komplexe Ausdrücke gebildet werden dürfen. Was, so ist hier die
2
Vgl. „Name and act have condensed. The name is nothing but the act of crossing from the
*
Dies drückt Spencer Brown auch in den Notes zum zweiten Kapitel aus, wenn Namen „in
?
Nehmen wir noch die dritte Funktion des Zeichens hinzu, selbst eine Unterscheidung (in seiner
absence of name.” Kauffman 1998a:65.
relation with the operation of instructions“ eingeführt werden, LoF:80. “Kauffman zeigt z.B. wie üblich es in der mathematischen Praxis ist, Zeichen in verschiedenen Kontexten mal als Operand und mal als Operator zu verwenden. Es hängt dabei immer vom Standpunkt ab, was der Akteur ist und was dasjenige ist, auf das operiert wird, vgl. Kauffman 1981:253. Im Unterschied dazu haben Zeichen bei Spencer Brown in allen Kontexten beide Funktionen.
eigenen Form) zu sein, dann ist das Zeichen selbst das, worauf es hinweist und weist somit auf sich selbst hin. „Hence, the mark is its own name. We have found a sign that stands for itself.“ Kauffman 1998c:64.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
107
Frage, die nicht explizit beantwortet ist, sind (syntaktische) Regeln fiir ,wohlgeformte’ Ausdriicke? Zur Beantwortung dieser Frage nimmt Spencer Brown eine
Entscheidung zur Bestimmung der Form aus der Definition im ersten Kapitel
auf: Distinction is perfect continence. Die Art und Weise, wie ,crosses’ in Beziehung treten können, wird von dieser Definition abgeleitet. Die einzige Bezie-
hung, die zwischen ‚crosses’ zugelassen ist, ist ,continence’, Enthaltensein. Ein ‚cross’ soll das enthalten, was auf seiner Innenseite ist und das nicht enthalten, was nicht auf seiner Innenseite ist. Weitere Relationen zwischen ‚crosses’ sind nicht eingeführt, ‚nebeneinander’, ‚untereinander’ oder auch ‚einander überlap-
pend’ gelten z.B. nicht als Relationen zwischen ‚crosses’.* Durch die ‚form of condensation’ und die ‚form of cancellation’ wird ja auch gerade gezeigt, dass die Vervielfältigung von ‚crosses’ (ob nebeneinander, untereinander ist eine
reine Konvention der Schreibweise) keinen Unterschied erzeugt, wohl aber die
Schreibung ineinander (als Ausdruck der Relation ‚continence’). In den nächsten Schritten wird diese einzige Art der Relation zwischen in-
einander stehenden Vorkommnissen des einzigen Symbols weiter entwickelt, so dass deutlich wird, was eigentlich ein wohlgeformter Ausdruck ist. An dieser Stelle im Prozess beginnt die Beschäftigung mit der Anordnung
der ,crosses’. Wie sollen eine Zusammenstellung (arrangement) und ein Ausdruck (expression) geschrieben werden? Der Raum, der durch die Art der An-
ordnung der ‚crosses’ aufgespannt wird und entsteht, wird betrachtet und mit ihm die Frage, was für ein Raum sich bei dieser Notation ergibt. Der Raum, der
sich bei dieser Notation ergibt, ist einer, bei dem nur die räumliche Beziehung
enthalten — nicht enthalten gelten soll. Der Raum, der hier entsteht, ist ein Raum ohne die Unterscheidungen rechts und links, oben und unten, nebeneinander und entfernt voneinander. Das einzige, was einen Unterschied macht, ist die Beziehung des Enthaltenseins. Ob in einem ,arrangement’ die verschiedenen ,crosses’, die entweder andere enthalten oder nicht enthalten, in einer Reihe neben-
einander stehen oder nicht, ist gleichgültig und eine reine drucktechnische Fra-
ge. Diese Notation ist also nicht linear und nicht an die übliche Schreibung in der Linie gebunden. Ein wohlgeformter Ausdruck kann also sowohl in einer
Zeile geschrieben werden | 1 | ㅣ |
一
一 一
17
|, aber auch so:
그
Zwischen beiden Ausdriicken besteht kein relevanter Unterschied. Es gelten bei
dieser Notation also nicht die Einschränkungen, die bei sonstigen linear ge%
Hierin liegt einer der zentralen Unterschiede zu den Venn-Diagrammen, an die man sich bei der ikonischen Notation Spencer Browns, die auch mit geschlossenen Formen wie Kreisen oder Boxen dargestellt werden kann, erinnert fühlen könnte, vgl. II.A Kontexte der Laws of Form.
108
Katrin Wille und Thomas Hölscher
schriebenen formalen Sprachen bestehen. Da es keinen Unterschied macht, ob
die ,crosses’ untereinander, übereinander, weit voneinander entfernt und nah
beieinander geschrieben werden, ist diese Notation auch reihenfolgeunabhängig.
Nehmen wir die erste Version von oben, so macht es keinen Unterschied, ob die
Reihenfolge der ‚crosses’ so
net ist.
| I I I | | oderso
I
| | | |
angeord-
Die einzige Relation des Enthaltenseins ist auch nicht eingeschränkt auf die
Beziehung zwischen zwei ‚crosses’, Enthaltensein ist keine binäre Relation und hat keine Stelligkeit. Es können beliebig viele ‚crosses’ in anderen ‚crosses’ enthalten sein, z.B =]
Diese Notation kommt also mit der Relation ,continence’ aus, durch die eine
klare Zusammenfassung gegeben wird, durch die keine gesonderten Klammersymbole, wie bei ein- oder zweistelligen Relationen nôtig, gebraucht werden. Der Vergleich dieser Notation mit der in der Aussagenlogik tiblichen z.B. zeigt, dass die eingeschränkte Stelligkeit und die Reihenfolgeabhängigkeit Eigenschaften der linearen Notation sind, also Eigenschaften der Zeichen und des durch und mit ihnen entstehenden Raums.*’ Diese werden dann durch die zusätzliche Einführung von Klammersymbolen und die Einführung des Kommuta-
tivgesetzes fiir Konjunktion und Adjunktion teilweise wieder aufgehoben. All dieser formale Aufwand, um Wirkungen der gewählten Notation auszugleichen,
kann bei einer Notation wie der hier entwickelten wegfallen. 18. Schritt: Tiefe (Depth) Die
Relation
,continence’
hat verschiedene
Tiefen,
denn
es gibt keine Be-
schränkung auf Quantität und Ebenenvielfalt der ‚crosses’. Ein Ausdruck kann aus mehrfach gestaffelten Räumen bestehen, deren Tiefe mit Zahlenindizes
unterschieden werden kann. In einer Zusammenstellung (arrangement) a, die in einem Raum s steht, soll die Anzahl der ‚crosses’, die überschritten werden müssen, um einen Raum s, von s aus zu erreichen, die Tiefe von s, in Bezug auf s genannt werden.
ss *
Spencer Brown wirft der üblichen mathematischen Notation vor, die Freiheit der zusätzlichen Dimension zu verfehlen, die sich ergibt, wenn wir von der gesprochenen zur geschriebenen Sprache wechseln. Die Fixierung des Skopus von Junktoren wie ‚und’ und ‚oder’ ist wichtig für die gesprochene Sprache, nicht aber für die geschriebene, die zwei Dimensionen zur Verfügung hat, die diese Einschränkung des Skopus auf zwei überflüssig macht. Vgl. die Notes zum zweiten Kapitel, LoF: 88-89, 92 sowie Spencer Brown 1997:xv.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
109
Der Raum, der durch die größte Anzahl von Uberschreitungen nach innen erreicht wird, soll der tiefste Raum in der Zusammenstellung a genannt werden.
Der Raum, der ohne jede Überschreitung erreicht wird, soll der flachste Raum in a genannt werden. Also ist der flachste Raum sp gleich dem Raum, in dem die
Zusammenstellung steht, es gilt somit:
So = S = flachster Raum
国
So
S, — tiefster Raum
Jedes ,cross’, das in irgendeinem Raum beliebiger Tiefe unter einem ,cross’ c steht, soll in diesem enthalten genannt werden. In der folgenden Skizze sind die
beiden inneren ,crosses’ in dem äußeren ,cross’ c enthalten.
=
C
Jedes ,cross’, das im flachsten Raum von c steht, soll unter diesem stehend oder von diesem bedeckt genannt werden. In der folgenden Skizze ist das im ,cross’ c enthaltene ,cross’ von diesem bedeckt.
u
Die Relation des Enthaltenseins wird hier in den ihr eigenen Beziehungsmög-
lichkeiten
entwickelt.
Anordnungen
im
Unterscheidungsmuster
enthalten
nicht-enthalten haben einen flachsten Raum, einen tiefsten Raum und je nach Ausdruck verschiedene mögliche Tiefen. Die Anordnungseigenschaft der Tiefe ermöglicht die Bildung von wohlgeformten komplexen Zusammenstellungen (arrangements) und Ausdrücken (expressions). Welche Transformationsregeln
-
für komplexe Ausdrücke verschiedener Tiefe gelten, durch die in einer endlichen Sequenz von Schritten ein eindeutiger Wert errechnet werden kann, wird im dritten und vierten Kapitel (Beweis zu Theorem 3) gezeigt. 19. Schritt: Ungeschriebenes ,cross’ (Unwritten cross)
Eine Zusammenstellung (arrangement) war im achten Schritt bestimmt als eine Anzahl von Zeichen, die in Bezug auf einander betrachtet werden oder anders gesagt, die als in derselben Form angesehen werden. Diese Zusammengehürigkeit von Zeichen oder ‚crosses’ zu einer Zusammenstellung wird durch ein un-
geschriebenes ‚cross’ (unwritten cross) vorgestellt. Es soll angenommen wer-
den, dass jeder flachste Raum So, also der Raum, in dem die Zusammenstellung steht, von einem ungeschriebenen ,cross’ umgeben ist. Die ,crosses’, die unter einem ,cross’ c stehen, die also in s, stehen, wenn c in so steht, sei es geschrieben oder nicht geschrieben, sollen die ,crosses’, die
von dem flachsten Raum in c durchdrungen werden, genannt werden. Zu der Anordnungseigenschaft der Tiefe gehört also auch noch das Umgebensein jedes Ausdrucks durch ein ungeschriebenes ,cross’ und die Möglich-
keit, dass ‚crosses’ durch sie umgebende Räume durchdrungen werden. Dadurch wird die Zusammengehörigkeit von ,crosses’ in einer gemeinsamen Tiefe mög-
110
Katrin Wille und Thomas Hölscher
lich (deren Reihenfolge zum Beispiel vertauscht werden kann, ohne dass das
einen Unterschied machen wiirde).
20. Schritt: Durchdringender Raum (Pervasive Space) Die Anordnungseigenschaft des Durchdrungenwerdens von ,crosses’ durch Räume bezieht sich aber nicht nur auf einen zusammengehörigen Ausschnitt,
sondern auch auf ganze Zusammenstellungen (arrangements). Jedes ‚arrange-
ment’ soll von seinem flachsten Raum s, durchdrungen sein. Der Raum s, der
ein ‚arrangement’ a durchdringt, egal, ob noch andere ‚arrangements’ als a von dem Raum durchdrungen werden, soll der durchdringende Raum von a genannt werden. Vermittels der Durchdringung der Zusammenstellungen durch den Raum, in dem sie stehen und den sie erzeugen, wird später die Möglichkeit eröffnet, in dem Raum Transformationen vorzunehmen, zu erweitern, zu verdichten, den Wert zu ermitteln®® und vom tiefsten in den flachsten Raum hinein Signale zu
senden“. Mit diesem zwanzigsten Schritt endet der schrittweise Aufbau des
zweiten Kapitels.
21. Schritt: Rückblick — Eine der Form der Unterscheidung angemessene
Notation
In der im zweiten Kapitel vorgelegten Entwicklung einer der Form der Unterscheidung angemessenen Notation berühren sich Semiotik, Pragmatik, Syntax und Semantik. Die semiotischen Entscheidungen haben direkte pragmatische, syntaktische (und Punkte zusammen:
-
-
#% ®
semantische)
Konsequenzen.
Tragen
wir
die
wichtigsten
Es gibt in der formalen Sprache keine unabhängigen identifizierbaren
Elemente, sondern die Form als komplexes Gebilde, aus der Operand und Operator gleichzeitig und in Abhängigkeit voneinander entstehen.
Das Zeichen (token) | ist systematisch mehrdeutig zwischen Name,
Unterscheidung und Instruktion.
Durch den Prozess der Kondensation ist die größtmögliche Verdichtung von Zeichen erreicht, durch die die gegenseitige Abhängigkeit verschiedener Gebrauchsweisen deutlich wird.
Das Zeichen ist nicht rein arbiträr, sondern eine ikonische Repräsenta-
tion der Unterscheidung (die es selbst ist).
Vgl. z.B. Theorem 2 im vierten Kapitel. Dazu z.B. in der ‚rule of dominance’ im vierten, achten und elften Kapitel.
III. Kommentar — Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
-
-
111
Das Nicht-Vorhandensein eines Zeichens (der leere Raum) fungiert als Hinweis (nicht als Name) auf den zweiten Zustand, d.h. es braucht zur Arbeit mit zwei Zuständen (zwei Werten) nicht mehr als einen Namen.
Zwischen den Zeichen gibt es eine Art von Relation. Darin zeigen sich für die Gebrauchsweise des Zeichens als Operator die Eigenschaften der Reihenfolgeunabhängigkeit und Nichtstelligkeit.
Wie dürfen wir die Notation verwenden? Wie wird mit Hilfe dieser Notation der Indikationenkalkül aufgebaut? — Lesen wir dazu — nach einer kleinen Schleife im 22. Schritt — weiter im dritten bis elften Kapitel. 22. Schritt: Variationen
Spencer Brown fordert die LeserInnen in den Notes zum zweiten Kapitel dazu auf, die Anweisungen des zweiten Kapitels zu variieren und eigene und andere Wege und Illustrationen auszuprobieren als die vorgeschlagenen.” Zwei Varia-
tionen deutet Spencer Brown selber an. In den Notes zum zweiten Kapitel schlägt Spencer Brown
eine andere,
weniger elegante, aber möglicherweise
zugänglichere Ableitung der beiden einfachen (primitiven) Gleichungen vor.
Weniger elegant daran ist, dass in zweierlei Hinsicht gegen die Metaanweisung, die convention of intention, verstoßen wird. Es wird nämlich mit Substitu-
tion und mit der Unterscheidung zwischen innen und außen gearbeitet, die beide
in der strengen Entwicklung noch nicht eingeführt sind, mit denen wir aber durch alltagssprachliche Verwendungen vertraut sind. Spencer Brown skizziert zwei Wege. Den ersten gibt er für eine andere Ableitung der zweiten Gleichung an: Es sei ein Zeichen ,m’ verwendet, um auf den markierten Zustand hinzuweisen, die Absenz eines Zeichens soll wie oben auch auf den unmarkierten Zustand hinweisen. Ein Kreis um einen der beiden Indikatoren, also m oder die
Absenz eines Zeichens, soll auf den jeweils anderen Wert als den innerhalb des
Kreises hinweisen, der dann außerhalb des Kreises geschrieben werden soll.
Substitution des Zeichens m durch den Kreis ergibt dann die zweite einfache
(primitive) Gleichung."
Für den zweiten Weg, die alternative Ableitung der ersten einfachen (primi-
tiven) Gleichung, wird die Innen-Außen-Unterscheidung verwendet und sonst keine weitere Unterscheidung von Raumverhältnissen. Um das zu garantieren,
sei ein blindes Tier nur mit dieser Unterscheidungsfähigkeit vorgestellt. Wenn
nur dieses Unterscheidungsmuster zur Verfügung steht, dann kann nicht zwischen verschiedenen Anzahlen von innen unterschieden werden, wie es uns ?
>!
Es heißt dort: „It is not necessary for the reader to confine his illustrations to the commands in the text. He may wander at will, inventing his own illustrations, either consistent or inconsistent with the textual commands.“ LoF:79.
Vel. Notes zum zweiten Kapitel, LoF: 82f. und die Variationen des zwölften Kapitels.
112
Katrin Wille und Thomas Hölscher
erscheinen mag, wenn wir zwei Kreise nebeneinander sehen. Das Tier kennt nur zwei Zustände, innen und außen. So können zwei Kreise nicht von einem unterschieden werden und es gilt die erste einfache (primitive) Gleichung.
Die zweite Variation deutet Spencer Brown in der Vorstellung der internationalen Ausgabe an. Dort heißt es, dass der gesamte Text der Laws of Form auf ein Prinzip reduziert werden könnte, nämlich:
„Kanon Null. Koproduktion. Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind, in der Form, identisch gleich.“ Dazu erläutert Spencer Brown, dass die Unterscheidung als Grenze das Ding als
auch das, was es nicht ist, erzeuge.^^
Der Hinweis, der dadurch gegeben wird, geht dahin, den Aufbau der Zaws of Form über die gegenseitige Abhängigkeit und die gleichzeitige Entstehung von Etwas und dem, was es nicht ist, zu entwickeln. Ein solches Vorgehen baut auf
das auf, was Spencer Brown die Operation der konditionierten Koproduktion nennt und auf die Umdeutung von ,nichts’. Daher kommen die vielen Bezüge
auf ostasiatisches Denken.”
”
^
Vgl. Vorstellung der internationalen Ausgabe, Spencer Brown 1997:ix.
Vgl. II.A Kontexte der Laws of Form.
Das dritte Kapitel: THE CONCEPTION OF CALCULATION
Tatjana Schönwälder-Kuntze
1. Titel
(B) ‚conception‘. Das lateinische ,concipere‘ weist folgende Bedeutungen auf: ‚Zusammenfassen‘ im Sinne von ‚in eine Formel fassen‘ oder aussprechen‘ bzw. ,ansagen‘. Zudem kann es aufnehmen‘, ‚empfangen‘, ‚erkennen‘,begreifen‘ oder ‚sich vorstellen‘ heißen. Im Englischen hat es auch die Bedeutung ‚ersinnen‘ und ‚entwerfen‘. ‚calculation‘ meint sowohl die Tätigkeit des Rechnens selbst als auch das Resultat dieser Tätigkeit im Sinne einer abgeschlossenen Kalkulation.
Der Titel des dritten Kapitels weist auf eine neue Tätigkeit hin, die in diesem Kapitel vorbereitet wird: es geht um das Entwerfen des Berechnens. Dieser Entwurf besteht in einer Explikation des Prozesses, der notwendig ist, um mit
den beiden Gleichungen des zweiten Kapitels, die die Hinweismöglichkeiten auf
die zwei Seiten der Form der Unterscheidung des ersten Kapitels formal darstellen, rechnen zu können.
2. Inhalt
Das Hauptthema des dritten Kapitels ist die Tätigkeit, die beim Rechnen vollzo-
gen wird: Der Prozess des Austauschens (von äquivalenten Hinweisformen), der zusammen mit festgelegten Regeln den grundlegenden, operativen Aspekt der
Berechnung bildet — die zweite Komponente des Rechnens bilden die dafür verwendbaren und dabei neu entstehenden Operanden. Die Regeln für den Aus-
tausch und wie durch das Austauschen von Hinweisen neue Hinweiszeichen
generiert werden dürfen, wird in den vier Kanones dieses Kapitels festgelegt. 3. Die Schritte des Austauschens
Die Äquivalenz von ‚einfachen Ausdrücken‘, die als Hinweis auf eine der beiden Seiten der Form der Unterscheidung dienen, eröffnet die Möglichkeit für
den Austausch
von ‚arrangements’ mit äquivalenten
‚arrangements’.
Jeder
Austausch soll, ein Schritt, ‚a step‘ (LoF:8), genannt werden. Die ‚steps‘ werden unter zweierlei Perspektiven betrachtet: nach der Art (kind) des Ausdrucks, der
114
Tatjana Schünwälder-Kuntze
ausgetauscht wird und der so die Art des Austauschs selbst bestimmt! und nach der Richtung, in der der Austausch vorgenommen wird. Die erste Perspektive betrachtet den ‚step‘ als Austauschprozess, in dem äquivalente ‚arrangements’ ersetzt werden. Hier liegt die Betonung auf dem, was ausgetauscht wird. Die zweite Perspektive legt hingegen die Betonung auf den Austauschprozess selbst, insofern dieser eine Richtung haben kann. Durch einen Austausch wird eine Reihenfolge hergestellt zwischen dem
(dann) Ausgetauschten und dem Auszutauschenden, die als Darstellung auf
einem Blatt Papier deutlich als Richtung gesehen werden kann. Je nachdem, welcher Ausdruck ausgetauscht wird, wird die Reihenfolge bzw. die Richtung
verändert. Auf einem Blatt Papier soll „a barb in the sign indicate the direction
of the change“ (LoF:8). Beim Lesen so eines Austauschs vollziehen wir die Richtungsänderung wahrhaft mit, indem wir die Augen einmal von links nach rechts bewegen und einmal von rechts nach links.
‚Step‘ bezeichnet also den Austausch von wertgleichen Objekten oder Ope-
randen in verschiedenen Richtungen, mithin den Prozess, äquivalente Ausdrü-
cke oder ‚arrangements’ in einer von zwei Richtungen auszutauschen.
4. Die Kanones des Austauschens
Der dritte Kanon „Convention of substitution“ (LoF:8) expliziert, verallgemeinert und erweitert die Festlegung des zweiten Kapitels in Bezug auf äquivalente
‚arrangements’: sie dürfen gegeneinander ausgetauscht werden. Diese Art von Austausch ist keine neue Art, denn sie wiederholt nur die Festlegungen des ersten und zweiten Kapitels in Bezug auf äquivalente Hinweise. Aber mit der Konvention wird sein Anwendungsbereich verallgemeinert bzw. erweitert, weil jetzt die Ersetzung in jedem Ausdruck erlaubt wird. Der vierte Kanon ,,Hypothesis of simplification“ (LoF:9) formuliert die Annahme oder Hypothese, dass der Wert eines ‚arrangements’ dem Wert eines einfachen Ausdrucks entspricht, durch den es ersetzt werden kann. Dadurch, dass es zwei verschiedene Arten von ‚steps‘ gibt — je nachdem, welchen Wert
die ausgetauschten chungswege
Objekte
anzeigen 一
sind auch
möglich, abhängig davon, mit welchem
verschiedene
‚arrangement’
Vereinfader Aus-
tausch beginnt, und davon, durch welchen gleichwertigen, einfachen oder simplen Ausdruck in einem ‚arrangement’ ausgetauscht wird. (SK) Notes, Chapter 3: „The hypothesis of simplification is the first overt con-
vention that is put to use before it has been justified.“ (LoF:84).
'
Die ‚Art‘ eines ‚steps‘ wird danach bestimmt, ob durch ihn Ausdrücke ausgetauscht werden, die nach dem ersten odernach dem zweiten Axiom gebildet werden, vgl. LoF:9.
III. Kommentar — Das dritte Kapitel: THE CONCEPTION OF CALCULATION
115
Dass über die verschiedenen Wege der Vereinfachung das gleiche ,arrangement’ immer — letztlich — gegen den gleichen simplen Ausdruck ausgetauscht wird, wird erst im vierten Kapitel unter Theorem 3 bewiesen. Auch die Formulierung ,,/n any expression, let any arrangement be changed ...“ (LoF:8) des
dritten Kanon und das Beispiel des vierten Kanon sind Vorgriffe auf die arithmetischen Möglichkeiten der beliebigen Erweiterung von ,arrangements’ in und zu einem Ausdruck, die dann in Theorem | festgelegt werden. 5. Die Kanones der austauschbaren Hinweise oder Referenzen
Der zweite und der fünfte Kanon werden hier zusammengefasst erläutert, weil sie beide vom Umgang mit Referenzen handeln. Der zweite Kanon, der am Anfang des dritten Kapitels steht, heißt „Contraction of reference“ (LoF:8); der fünfte Kanon in der Mitte desselben Kapitels trägt den Titel „Expansion of reference“ (LoF:10). (B) ‚reference‘. Das englische ‚reference‘ kann im Deutschen für eine Empfehlung, ein Zeugnis, eine Verweisung, eine Anspielung, den Akt der Bezugnahme selbst, aber auch für eine Beziehung, eine Auskunft oder für einen Auskunftge-
ber stehen. Zusätzlich meint ‚reference‘ auch dasjenige, worauf Bezug genom-
men wird, das Relatum. Das lateinische ‚referre‘ trägt noch weitere Bedeutungen wie ‚überliefern‘, ‚berichten‘, aber auch ‚abliefern‘ oder ‚unter etwas rechnen’. ‚contraction‘ heißt ‚Zusammenziehung‘; in Bezug auf grammatische Phänomene bedeutet es auch ‚Kurzform‘. expansion‘ meint die ‚Ausdehnung‘ im aktiven wie im passiven Sinne, d.h. ‚sich aktiv ausbreiten‘ oder auch ‚Weite‘ oder ‚Räumlichkeit‘. Das lateinische
‚expandere‘ meint neben ‚ausbreiten‘ auch ‚klar darlegen‘ und ‚verkünden‘.
(T) Die Übersetzung des Titels des zweiten Kanon könnte also etwa ‚Kurzform
der Verweisung‘ lauten. Er legt fest, dass die vier verschiedenen Aufforderungen, ein ‚cross‘ zu konstruieren, es mit einem ,c‘ zu markieren, ,c‘ seinen Namen sein zu lassen und dieses ,c‘ auf das ‚cross‘ hinweisen zu lassen, in einer einzigen Aufforderung kondensiert werden sollen: „Take any cross c.“ (LoF:8). Dieses Zusammenziehen verschiedener Aufforderungen wird dahingehend verallgemeinert, dass alle Aufforderungen, etwas zu tun, soweit zusammenge-
fasst werden sollen, dass es weiterhin möglich bleibt, sie nach zu vollziehen. Es
geht also um den Austausch von vielen Hinweisen gegen eine Kurzform, die ein
zusammengezogener Hinweis ist, mit dem zu einem mehrteiligen Vollzug aufgefordert wird.
Der fünfte Kanon, dessen Titel zunächst ganz analog ‚Ausdehnung der Verweisung‘ lauten könnte, meint aber die Möglichkeiten, durch den Austausch in
116
Tatjana Schénwalder-Kuntze
arrangements’ immer neue Hinweise in Form von Ausdrücken herzustellen.
Die neu entstehenden Ausdrücke bleiben aber eindeutige Hinweise, die immer nur auf eine der beiden Seiten hinweisen — seien sie als ,mark‘ oder als ,cross‘ aufgefasst, d.h. als Name fiir den ,markierten Zustand‘ oder als Aufforderung, die Grenze in den markierten Zustand hinein zu überschreiten. Die Möglichkeit, eine Kurzform als Referenz auf bestimmte Anweisungen zu schaffen, und die Möglichkeit, den Referenzcharakter auf viele Hinweiszeichen ausdehnen zu können, sind aber nicht einfach Umkehrprozesse: Im ersten Fall werden verschiedene Aufforderungen derart zusammengezogen, dass in der Kurzform diese Verschiedenen in ihrer Bestimmtheit aufbewahrt bleiben. Im
Falle der Generierung weiterer Hinweise wird die Referenz ausgedehnt, weil es zwar immer mehr, aber qualitativ gleichwertige Hinweise geben kann. Die beiden Kanones und der Begriff ‚reference‘ beziehen sich demnach auf zwei ver-
schiedene Objekte: auf Aufforderungen, etwas zu tun, und auf Hinweise auf
einen der beiden Werte. D.h. ‚reference‘ wird in zwei Bedeutungen verwendet: einmal
wird mit einem
Hinweis
auf verschiedene
Handlungsaufforderungen
zugleich hingewiesen; und einmal wird mit vielen Hinweisen auf denselben Wert hingewiesen.
6. Vier Referenzformen auf zwei Werte
Die ‚form of condensation‘ und die ‚form of cancellation‘ sind bereits als For-
malisierung der Axiome aus dem zweiten Kapitel bekannt. Die beide zusam-
menfassende „form of reference‘ (LoF:10) wird durch zwei neu hinzukommende erweitert, die sich aus der Möglichkeit der Richtung(sumkehr) der Austauschschritte ergeben: Zur Formalisierung des ersten Axioms kommt als Um-
kehrung die „form of confirmation“ (LoF:10) hinzu. D.h., dass sowohl die austauschbaren ‚einfachen Ausdrücke‘ (simple expressions) als auch die beiden
Austausch-Formen als Hinweis auf den markierten Raum werden unter ‚number‘ zusammengefasst.
dienen können. Sie
Mit ‚number‘ werden diejenigen Hinweise bezeichnet, deren Wiederholung
nur immer wieder den gleichen Wert bezeichnet. Die Anzahl der Hinweisformen
verändert sich zwar, aber das bedeutet nicht, dass deswegen ein anderer Wert bezeichnet würde — so wie etwa jede beliebige Anzahl von Synonymen dennoch immer nur ein und dasselbe bezeichnet.
Zur anderen Referenzform, die das zweite Axiom formalisiert, kommt als Umkehrung die „form of compensation“ (LoF:10) hinzu. Beide betreffen die anderen Hinweise, die sich auf den ‚unmarkierten Raum‘ beziehen. Sie werden mit ‚order‘ bezeichnet. (B) ‚order‘ heißt ‚Ordnung‘, ‚Anordnung‘, aber auch ‚Reihenfolge‘ und ‚Befehl‘, ‚Regel‘ oder ‚Vorschrift‘.
III. Kommentar — Das dritte Kapitel: THE CONCEPTION OF CALCULATION
117
(D Mit ‚order‘ werden diejenigen Hinweise bezeichnet, mit denen im Wiederholungsakt auf etwas anderes hingewiesen wird als durch den der Wiederholung
vorhergehenden Akt, also auf die zweite Seite des Unterscheidungsprozesses: Das einfache ‚cross‘ kann sowohl als Name für eine Seite als auch als Aufforde-
rung zur Grenzüberschreitung gedeutet werden; das Doppelcross ist der Hinweis auf die wiederholte Grenzüberschreitung und damit auf die andere, nicht mar-
kierte oder nicht benannte Seite. Dafür bedarf es aber einer Reihenfolge der Grenzüberschreitungen: hinein in den (benannten oder markierten) Inhalt und wieder hinaus. Dann ‚bezeichnet‘ die zweifache Überschreitung den unmarkierten Zustand. Wegen der impliziten, aber notwendigen Reihenfolge wird die zweite Art von Hinweisformen ‚order‘ genannt.
7. Austausch von Formen als Rechnen und als Gleichung „Call calculation a procedure by which, as a consequence of steps, a form is changed for another, and call a system of constructions and conventions which
allows calculation a calculus.“ (LoF:11). Der geregelte Austausch von Formen — seien es simple Formen oder Referenzformen — heißt ‚a calculation‘; und ein System, das so einen Austausch erlaubt, wird ein Kalkül (calculus) genannt. (B) Mit ‚calculus‘ wird im Englischen auch der zweiteilige Ast der Mathematik bezeichnet, der es mit variablen Quantitäten zu tun hat: die differenziale und die
integrale Algebra, d.i. die Analysis.
Mit dem Abschnitt ,calculus‘ ist das eigentliche Thema des dritten Kapitels beendet: das Austauschen von äquivalenten ‚arrangements’ in je einer von zwei
möglichen Richtungen ist die prozessuale Tätigkeit, die Rechnen heißt.
Im folgenden Abschnitt ‚Initial‘ werden dann die Basisgleichungen aus dem zweiten Kapitel und das geregelte Austauschen zusammengeführt, indem die vier verschiedenen Referenzformen, die sich aus den verschiedenen Austauschmöglichkeiten eines ‚steps‘ ergeben haben (zwei Werte / zwei Richtungen), als Formen definiert werden, die in einem gegebenen „set of equations“ (LoF:11)
gesehen werden können. D.h., die bereits im zweiten Kapitel entwickelten Refe-
renzformen bestimmen, welche Art Austausch erlaubt ist — der Austausch nicht äquivalenter ‚arrangements’ ist nicht erlaubt. Die Referenzformen bzw. Gleichungen, die verwendet werden, um die erlaubten Austauschformen zu bestim-
men, werden /nitialgleichungen des Kalküls genannt. Der Kalkül, der aus den beiden primitiven Basisgleichungen durch den gere-
gelten Austausch ihrer Operanden entsteht, soll Kalkül der Hinweise heißen; die
unmittelbaren Ableitungen aus diesen Initialgleichungen bilden die Primäre Arithmetik der Laws of Form.
118
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Riick- und Ausblick:
Das dritte Kapitel steuert die zweite notwendige Grundkomponente zum Rech-
nen bei: den Prozess des Austauschens. Rechnen besteht so aus zwei Teilen: aus dem, womit gerechnet wird und aus dem, wie gerechnet werden darf. Spencer
Brown leitet das ,wie‘ aus den formalisierten Axiomen als Hinweisformen ab,
indem er die Aquivalenz zweier ,arrangements’ als Möglichkeit, sie gegenein-
ander auszutauschen, deutet. Die Initialgleichungen haben daher einen erweiterten Charakter gegenüber den Referenzformen: sie ‚beinhalten‘ je zwei Referenz-
formen und drücken damit die Jrrelevanz der Reihenfolge des Austausches aus.”
Das Gleichheitszeichen in den Initialgleichungen hat somit eine weitere Funktion hinzugewonnen: es zeigt nicht nur die Wertgleichheit seiner beiden Seiten an — unabhängig vom je spezifischen Wert 一 sondern in ihm sind auch die erlaubten Austauschprozesse ‚zusammengezogen‘ — damit stellt es selbst einen Anwendungsfall des zweiten Kanons dar. Der erlaubte Austauschprozess, der in diesem Kapitel vorgestellt wird, ist zudem eine Explikation der beiden Axiome. Diese bestimmen, welche Regeln gelten sollen, wenn Hinweisarten iteriert, d.h. wiederholt werden.
Durch die
Werterhaltung trotz Wiederholung im ‚law of calling‘ wird die Möglichkeit geschaffen, zwei oder mehrere Hinweise an sich selbst als äquivalent zu betrachten, weil sie die gleiche Bedeutung haben. Wenn zwei Hinweise aber auf ein und dasselbe hinweisen bzw. die gleiche Bedeutung haben, dann können sie beide gleichermaßen verwendet werden — und sind daher austauschbar. In Bezug auf das erste Axiom scheint das auf den ersten Blick trivial, insofern graphisch wie sprachlich identische Zeichen oder Namen in der Regel auch dieselbe Bedeutung aufweisen. Es gibt jedoch ausreichend Beispiele, bei denen
aus der graphisch fixierten Wiederholung des Zeichens eine andere Bedeutung
erwächst: So ist ,11‘ keineswegs dasselbe wie ‚1‘ — was sich durch die phoneti-
sche Unterscheidung auch zeigt.” Die Formalisierung des ersten Axioms in der
‚form of condensation‘ formuliert demnach, dass durch die Wiederholung oder das ‚recall‘ ein äquivalentes Hinweiszeichen generiert wird.* Die Wiederholung wird so als innerer, aber irrelevanter Zusammenhang z wischen den beiden
gleichwertigen Namen formalisiert. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, sie ge-
geneinander auszutauschen. Das zweite Axiom hingegen legt für die zweite Hinweisart fest, dass mit der ‚Wiederholung‘ des Hinweises keine Werterhaltung einhergeht, sondern dass das zweite ‚crossing‘ eine andere Bedeutung haben soll als das erste, auch weil
?
Vgl. LoF:12.
*
Das hieße für o.g. Beispiel, dass die Wiederholung formal wie folgt wiedergegeben werden müsste: ,1‘ ,1‘ oder auch 1,1. In jedem Fall müsste die Notation deutlich machen, dass es sich um die Wiederholung des Hinweises handelt und damit die Bezeichnung eines anderen Wertes ausgeschlossen ist.
”
Ich danke Stephan Packard für das Beispiel.
III. Kommentar — Das dritte Kapitel: THE CONCEPTION OF CALCULATION
119
es auf einen anderen Zustand hinweist. Im Gegensatz zum ersten Axiom besteht also kein irrelevanter Zusammenhang zwischen den beiden Hinweisen, d.1. crossings‘. Die Formalisierung des zweiten Axioms in der ‚form of cancellati-
on‘ formuliert aber — ebenfalls im Gegensatz zum ersten — nicht den durch Wiederholung hergestellten inneren Zusammenhang zwischen den beiden ,crossings‘, sondern hier wird formal dargestellt, dass mit dem Doppelcross auf etwas anderes hingewiesen wird; dass das Doppelcross als Hinweis an sich selbst einen anderen Wert hat, mit einem anderen Ausdruck äquivalent ist.” Da dieses
andere aber nur die Seite in einer Form der Unterscheidung sein kann, von der zunächst ausgegangen wurde, von der aus die erste Überschreitung vorgenom-
men wurde, weisen Doppelcross oder ‚void‘ immer auf die Seite hin, auf die die
erste oder einfache Überschreitung nicht hinweist.
Das arithmetische Rechnen besteht so in der Erlaubnis, Hinweiszeichen, die auf das gleiche hinweisen (Namen und einfache Überschreitungen oder Doppel-
überschreitungen und ‚kein Zeichen‘) und die deshalb auch äquivalent sind, untereinander auszutauschen. Die Initialgleichungen drücken aus, welche Hinweiszeichen durch die Axiome als äquivalent bestimmt wurden.
”
Zur Erinnerung: Zu den ‚simple expressions‘ zählt auch „the one absence of form“, LoF:6.
Das vierte Kapitel: THE PRIMARY ARITHMETIC
Tatjana Schönwälder-Kuntze
1. Titel
(B) ‚primary‘ bezeichnet im Englischen einen Vorrang in verschiedenen Hin-
sichten: zeitlich, strukturell oder auf Entwicklung bezogen. So ist mit dem ,primary meaning of a word‘ seine erste und ursprüngliche Bedeutung — nicht seine häufigste 一 gemeint. Die drei Grundfarben, rot, gelb und blau, heißen ‚primary
colours‘.
‚arithmetic‘ ist die Rechenkunst, sie bezeichnet die Wissenschaft der Zahlen und das Arbeiten mit Zahlen. Das lateinische ‚arithmetica‘ ist aus dem griechischen &pôuntwé übernommen und heißt dort auch Reihe(nfolge). So kön-
nen anstelle der Zahlen auch Nummern gemeint sein, die bloß eine Anzahl von Gleichwertigem meinen und nicht je verschiedene Werte, wie die Zahlen.
(I) Mit dem gewählten Namen Primäre Arithmetik für den ersten Kalkül wird sowohl auf seine eigene Entwicklung hingewiesen, als auch darauf, dass dieser Kalkül die ursprünglichste Bedeutung des Begriffes ‚Arithmetik‘ zum Ausdruck zu bringen vermag: Durch ‚Berechnung‘ kann eine Anzahl oder Quantität quali-
tativ gleichwertiger Hinweisformen generiert werden, so dass es hier nicht um die Generierung von Zahlen geht — wie das erste Theorem dieses Kapitels zeigt.
2. Inhalt
Die Grundkomponenten der Primären Arithmetik sind in den letzten Kapiteln
vorgestellt worden: das, womit gerechnet werden darf, die Operanden, und die Art und Weise, wie gerechnet werden darf, der geregelte Austauschprozess. Die
Initialgleichungen 11:
| | = |
der beiden Komponenten formal dar.
undI2: | =
stellen den Zusammenhang
Die Operanden der Basisgleichungen stehen in der Primären Arithmetik für
konkrete Werte, so dass die austauschbaren ‚arrangements’ in den Gleichungen
nach wie vor auf eine der beiden Seiten der ersten Unterscheidung hinweisen. Die Berechnungen der Primären Arithmetik bestehen in den durch die Kanones
erlaubten, unmittelbar ableitbaren, d.h. durch Austausch generierten, erweiterten oder verringerten Ausdrücken ihrer /nitial- bzw. Basisgleichungen.
III. Kommentar — Das vierte Kapitel: THE PRIMARY ARITHMETIC
121
Diese Berechnungen vorzuführen oder darzustellen ist aber nicht das Anliegen des vierten Kapitels; vielmehr werden allgemeine Muster herausgestellt, die als Theoreme formuliert werden. Diese Muster betreffen bestimmte Eigenschaften der/des formalen Zeichen(s), insofern sie Hinweiszeichen im Austauschprozess und Operand sowie Resultat des Austauschprozesses sind, insofern also mit Zeichen und an ihnen ein Austausch vollzogen wird, d.h. mit ihnen gerechnet wird.
3. Eigenschaften der Zeichen als Theoreme Das vierte Kapitel distinguish general considerations of Muster, die durch
beginnt mit folgender Aufforderung: „We shall proceed to patterns, called theorems, which can be seen through formal these initials.“ (LoF:12). Theoreme bezeichnen allgemeine formale Betrachtungen an den Initialgleichungen erkannt
werden können. Hier werden latente Eigenschaften der verwendeten Zeichen in Gleichungen explizit formuliert, insofern die Zeichen als Ausdrücke einmal die
Funktion haben, auf die Seiten einer Form der Unterscheidung hinzuweisen;
insofern sie zum zweiten Operanden des Austauschprozesses sind; und insofern sie drittens Resultate von Austauschprozessen sind. Theoreme werden also nicht aus den Axiomen abgeleitet, sondern sie formulieren, was mit den Zeichen in einem Rechenprozess passiert, was sich an ihnen zeigt, wenn mit ihnen Austauschschritte vollzogen werden. Da die beiden Initialgleichungen die erlaubten Rechenprozesse darstellen — Austausch der Zeichen oder Ausdrücke unter Beibehaltung des Wertes, auf den sie hinweisen, den sie haben — sprechen Theoreme allgemeine Muster aus, die ‚an den Initialgleichungen‘ erkannt werden können. Sie sind allgemeine Muster der verwendeten Zeichen im Austauschprozess, weil sie jeden erlaubten Rechenprozess immer begleiten: denn ohne Zeichen könnte gar kein Rechnen statt finden. Die Theoreme
gehören also zu einem metasprachlichen Diskurs über die verwendeten Zeichen in einem Rechenprozess und somit nicht zum Rechnen selbst. 4, Die Klassifikation der Theoreme!
Die neun Theoreme der Primären Arithmetik werden nach ihrer Funktion klassifiziert: So heißen die ersten vier Theoreme Repräsentationstheoreme, da sie den Gebrauch der Primären Arithmetik als System von Hinweisen
auf die unter-
schiedenen Seiten der ersten Unterscheidung rechtfertigen und festlegen.
Die Theoreme 5 bis 7, die Prozessualen Theoreme, bestätigen einerseits die
Regeln des Austauschprozesses, die sich durch das Gleichheitszeichen zusammengefasst darstellen lassen. Andererseits werden die Eigenschaften der Zeichen oder Ausdrücke hervorgehoben, die aus ihrem Operandendasein folgen. Vgl. den Abschnitt ‚A classification of theorems’ am Ende des vierten Kapitels, LoF:24.
122
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Mit den Repräsentations- und den Prozesstheoremen wird expliziert und ex post bewiesen, was im ersten, zweiten und dritten Kapitel gemacht oder vorgeführt
wurde. Das ist zum einen die Verwendung von verschiedenen als Hinweise auf die zwei Seiten der ersten Unterscheidung und ren die Möglichkeiten, die durch die Austauschbarkeit solcher sie dquivalent sind, geboten werden. Die Theoreme 8 und 9 heißen Anschlusstheoreme, weil sie
Hinweisformen sind zum andeFormen, sofern
das Spezifikum
der Algebra, mit Variablen rechnen zu können, aus den Anordnungsmustern
arithmetischer Ausdrücke, die durch Rechenprozesse generiert werden, vorbe-
reiten. Sie leiten damit von der Arithmetik in die Algebra über und bezeugen das stetige Hervorgehen der Algebra aus der Arithmetik. 5. Die Repräsentationstheoreme
Mit den ersten zwei Repräsentationstheoremen werden zwei grundsätzliche,
allgemeine Eigenschaften der verwendeten formalen Zeichen, also des Hakens?
und der aus ihm generierbaren Ausdrücke, expliziert und nachgewiesen: welche Hakenanordnungen überhaupt als Ausdruck oder Hinweis gelten, und worauf ein einzelner Haken hinweist. Die Theoreme 3 und 4 explizieren und beweisen hingegen zwei spezifische Eigenschaften, die erst durch die Verwendung im Austauschprozess virulent werden, d.i. die Möglichkeit der Vereinfachung eines Ausdruckes — bis sein spezifischer Wert sichtbar wird — sowie die Werterhaltung im Austauschprozess. Die ,Eigenschaften‘, die die Theoreme formulieren und die bewiesen werden, sind solche, die den Zeichen dadurch zukommen, dass sie so verwendet werden, wie es im zweiten Kapitel bestimmt worden ist. Dort wird diese Verwendung aber lediglich eingeführt, wahrend sie hier als konsistent bewiesen und
allgemein erlaubt wird.
» theorem 1. Form“ (LoF:12) formuliert, dass jede beliebige endliche Anzahl von ‚crosses‘ als ein Ausdruck gelten kann.
In diesem Theorem wird expliziert, was mit einem Ausdruck passiert, wenn von
einem simplen Ausdruck ausgehend gerechnet wird, d.h. wenn durch den Austausch gleichwertiger ,arrangements’ neue Ausdrucksformen generiert werden.
Der Ausdruck verändert seine äußere Form. Jede solchermaßen veränderte
Form eines Ausdrucks darf dann als Ausdruck verwendet werden. So wird hier theoremhaft erlaubt, wozu im zweiten Kapitel unter ‚arrangement‘ in Bezug auf
‚token‘ und unter ‚Relation‘ in Bezug auf ‚crosses‘ aufgefordert wurde: die
2
Wenn im Folgenden statt der in den Laws of Form verwendeten Bezeichnung ‚mark‘ oder ‚cross‘ von ‚Haken‘ die Rede ist, dann um darauf hinzuweisen, dass die Eigenschaften, die in den Theoremen formuliert werden, für beide Verwendungsweisen des Hakens gelten.
III. Kommentar — Das vierte Kapitel: THE PRIMARY ARITHMETIC
123
Zusammenstellung von Zeichen als einen zusammenhängenden Ausdruck, als eine Form zu betrachten.
In der Formulierung ,,7he form of any finite cardinal number of crosses ...“ (ebd.
Hvhb. T.S.) steckt der Hinweis, dass mit ,Anthmetik‘ hier nicht das Rechnen mit Zahlen, sondern mit einer Anzahi von Hinweisen gemeint ist, die aber zu-
sammengenommen alle auf den selben Wert hinweisen. Beispielsweise unterscheidet sich der erste Baum in einer Straße von dem dritten Baum nicht in Bezug auf sein Baum-sein, sondern nur in der Reihenfolge. Diese wird hier aber
nicht als relevanter Unterschied gesehen.’
( Der Name des Theorems Form ist damit motivierbar, dass jede Kombination des formalen Zeichens als eine Form, als zusammenhängend betrachtet werden
soll und damit, dass dies für die Hinweise auf beide Seiten der Form der ersten
Unterscheidung gilt. Schließlich ist hier auch der vierte, implizite Aspekt mit-
gemeint, insofern ein Ausdruck einer äußeren Begrenzung bedarf, durch die eine Ansammlung von Haken als ein Ausdruck definiert wird. Auf einem Wür-
fel müsste man beispielsweise noch deutlich machen, ob er auf jeder Seite be-
schriftet werden darf oder nicht.‘
Das Theorem macht also die vier Aspekte der Form der Unterscheidung an den
verwendeten Hinweiszeichen explizit: ihren inneren Zusammenhang, die beiden Seiten, auf die sie hinweisen können, und den notwendigen impliziten Kontext, durch den sie als ein Zeichen gesehen werden können. Auf diese Weise zeigt sich, dass die verwendeten Zeichen — als Ausdrücke — auch den Charakter einer Form der Unterscheidung haben. Der Beweis des ersten denkbare ,arrangement’ chen Ausdruck‘ durch riert werden. Bewiesen
Theorems verwendet das bisher explizit Erlaubte: jedes aus jeder Anzahl von ,crosses‘ kann aus einem ,einfa‚steps‘ unter Verwendung der Initialgleichungen genewird das über eine Vereinfachungsprozedur, d.h. unter
Zuhilfenahme der ‚hypothesis of simplification‘ aus dem dritten Kapitel: Wenn eine beliebige Zusammenstellung auf einen einfachen Ausdruck reduziert wer-
In der Mengentheorie werden Kardinalzahlen von Ordinalzahlen unterschieden: während Ordinalzahlen die genaue Anordnung oder Reihenfolge der Elemente in einer Menge angeben, geben Kardinalzahlen die Anzahl der Elemente einer Menge an. Der Unterschied zwischen beiden kommt allerdings erst im indefiniten Bereich zum Tragen, im definiten Bereich sind sie gleich. Kardinal- und Ordinalzahlen bezeichnen demnach verschiedene Ordnungsmuster, die zur Beschreibung von Mengeneigenschaften dienen. Ich danke Karl-Georg Niebergall für diesen Hinweis. (SK) In den Notes weist Spencer Brown darauf hin, dass das Theorem nicht wahr ist, wenn die Ausdrücke nicht auf einer flachen Oberfläche geschrieben stehen. Um es auf anderen Unterlagen wahr zu machen, müsste man expliziter sein, vgl. LoF:85.
124
Tatjana Schönwälder-Kuntze
den kann, dann kann auch eine beliebige Zusammenstellung aus einem einfachen Ausdruck generiert werden. Die Prozedur (procedure) der Vereinfachung wird dann in allgemeiner Form beschrieben: In einem beliebigen ,arrangement’ a sollen vom tiefsten Raum aus die ,initialen’ Austausch-Schritte zum Zwecke der Vereinfachung des Ausdrucks angewendet werden, bis die Prozedur zu einem einfachen Ausdruck
führt. Dies wird für alle môglichen Typen von Fallen durch Fallunterscheidung vorgeführt. Das folgende „Theorem 2. Content“ (LoF:13) formuliert eine weitere, bereits im
zweiten Kapitel unter ‚Operation‘ angesprochene ‚Eigenschaft‘ des Zeichens:
dass der Wert des Raumes oder der Form, in dem das ‚cross‘ steht, der markier-
te Zustand ist.”
(D) In diesem Theorem wird die Semantik des ‚cross‘ expliziert und damit werden die beiden Bedeutungen des einen formalen Zeichens zusammengeführt: als
Mark hat der Haken die Funktion, auf eine der beiden Seiten hinzuweisen —
ohne Festlegung auf welche.° Als ‚cross‘ hat der Haken die Bedeutung einer Aufforderung oder einer Absicht in diesen Ausdruck hinein die Grenze zu über-
schreiten. Das Theorem heißt /nhalt, weil hier das Muster herausgestellt wird, dass der Haken auch als ‚cross‘ die Funktion eines Namens hat, d.h. immer auf den Inhalt, in dem es steht, hinweist — bisher war das ‚cross‘ nur als Zeichen für
eine Aufforderung, d.h. als Operator und nicht als Operand bestimmt worden.
Die folgenden zwei Theoreme gelten den Eigenschaften des Rechenprozesses, die in der Vereinfachungshypothese des vierten Kanons vorgeschlagen wurden: der konsistenten Vereinfachung und Erweiterung. Aus den Notes geht hervor, dass die gewählte Reihenfolge, in der sie in den Laws of Form dargestellt werden, gleichgültig ist, weil sie ,symmetrical“ (LoF:86) sind, denn sie zeigen beide die Konsistenz des Kalküls, einmal im Sinne der Vereinfachung (Theorem
3) und zum anderen im Sinne des Aufbaus komplexer Ausdrücke aus einfachen (Theorem 4).
In „Theorem 3. Agreement“ (LoF:14) wird expliziert, dass der simplifizierende Austausch, d.h. der Prozess der Vereinfachung immer eindeutig ist, dass also die
Reduktion eines Ausgangsausdruckes immer zu ein und demselben simplen
>
Im zweiten Kapitel heißt es unter ‚Operation‘, dass ein Zustand sowohl mit einem namenhaften als auch mit einem aufforderungshaften ‚token‘ markiert werden kann. Hier wird gezeigt, dass
das auch gemacht werden darf.
Festgelegt wird im zweiten Kapitel nur, dass „a space with no token indicate[s] the unmarked state.“, LoF:5.
111. Kommentar — Das vierte Kapitel: THE PRIMARY ARITHMETIC
Ausdruck führt: entweder zum Ausdruck.
125
leeren Haken (empty token) oder zum leeren
(D Der Name des Theorems lautet ,agreement‘, denn es macht auf verschiedene
Ubereinstimmungen aufmerksam: Erstens die Ubereinstimmung der Werte,
aufgrund derer der Austausch stattfinden darf. Zweitens kommt man überein,
den Austausch so und nicht anders stattfinden zu lassen: Zusammenfassungen oder Reduzierungen müssen eindeutig sein, d.h. sie dürfen nur vorgenommen werden, wenn sie immer zum gleichen Resultat führen, wenn vor und nach der Reduzierung der gleiche Wert angezeigt wird. Das Allgemeine der Vereinfachung besteht sowohl darin, dass sie, je nach Ausgangs-,arrangement’, zu bei-
den simplen Ausdrücken führen kann als auch darin, dass beliebige Ausdrücke simplifizierbar sind.
„Iheorem 4. Distinction“ (LoF:18) formuliert gleich zwei Eigenschaften des Rechnens. Einerseits steckt im Titel eine Geltungsbedingung der Vereinfachung: Wenn die Simplifizierung für zwei Möglichkeiten auf einen Wert hinzuweisen gilt, muss auch garantiert werden, dass es nicht zu Verwechslungen kommt, d.h. dass die Unterscheidung auch erhalten bleibt, wenn die Hinweise zu Operanden in einem Austauschsystem werden. Es muss garantiert werden, dass durch den Austausch — egal in welche Richtung — keine Verwechslung der
zwei Seiten der ersten Unterscheidung zustande kommt.’
Andererseits wird hier die gegenläufige Richtung des Austausches hervorgehoben: die (Komplexitäts-)Erweiterung von Ausdrücken, als weitere Unterscheidungen innerhalb der ersten Unterscheidung, muss ebenfalls eindeutig sein.
Die ersten vier Theoreme der Laws of Form formulieren und weisen nach, dass
jede beliebige, endliche Anzahl des formalen Zeichens — des Hakens - als Ausdruck verwendet werden kann, dass sie eine Form bildet; dass ein ‚empty cross‘ auf den markierten Zustand hinweist und dass die Austauschprozesse eindeutig sind, d.h. nicht zu Konfusionen führen. Damit zeigen sie auf, dass mit den Ausdrücken, die durch die Austauschprozesse generiert werden können, auf die
beiden Seiten der ersten Unterscheidung vollständig und konsistent hingewiesen werden kann. Die erste Unterscheidung ist auf diese Weise repräsentierbar. Die folgenden drei Theoreme explizieren die Eigenschaften der Austauschprozesse, insofern äquivalente Hinweise ausgetauscht werden dürfen.
”
Vgl. Abschnitt „Consistency“, LoF:19.
126
Tatjana Schönwälder-Kuntze
6. Die Prozessualen Theoreme
Die Theoreme 5, 6 und 7 zeigen weitere Muster, die sich erst durch die Ver-
wendung von Zeichen im Austauschprozess ergeben. Der ambige Gebrauch des Gleichheitszeichens bringt sie zum Ausdruck, da zwei Ausdrücke sowohl in Bezug auf ihre äußere Form als auch in Bezug auf die Werte, auf die sie hin-
weisen, gleichgesetzt werden können. Das siebte Theorem fasst diese beiden Aspekte des Gleichheitszeichens als Folgerung zusammen.
In „Theorem 5. Identity” (LoF:20) wird gezeigt, dass ikonographisch identische Ausdrücke, d.h. dass sie die selbe äußere Form haben, den gleichen Wert anzei-
gen — im Gegensatz zum zweiten Kapitel, in dem Ausdrücke äquivalent genannt werden, die von identischem Wert sind.®
Der Beweis” des Theorems geht über die bislang explizierte Verwendung der
Äquivalenz, d.h. der Wertgleichheit hinaus: wenn ein Ausdruck ausgetauscht
wird, verändert er seine äußere Form, aber nicht seinen Wert. Durch einen Rich-
tungswechsel im Austauschprozess kann ein Ausdruck gleicher bzw. identischer Form generiert werden, der ebenfalls den gleichen Wert anzeigt. Das bedeutet, dass auch formgleiche bzw. identische Ausdrücke wertgleich sind. Diese Aquivalenz zweier identischer Ausdrücke ist eine Eigenschaft der Zeichen, die sich aus ihrer spezifischen Verwendung im erlaubten Rechenprozess erst ergibt.
(D) Mit diesem Theorem wird eine Eigenschaft des Gleichheitszeichens herausgestellt, die nicht selbstverständlich ist. Ein Beispiel aus der Linguistik soll das illustrieren: Während im zweiten Kapitel die Verwendung des Gleichheitszei-
chens durch den Wert bestimmt wird, denn es zeigt eine Aquivalenz an — so wie
der bezeichnete Gegenstand die Synonymie der beiden Namen ,Orange’ und ‚Apfelsine’ bestimmt'” —, wird in diesem Theorem hervorgehoben, dass durch den erweiternden oder simplifizierenden Austausch von Zeichen die Gleichheit auch in Bezug auf äußerlich identische Formen gilt. Damit wird eine Doppel-
deutigkeit als mögliche Eigenschaft identischer Formen ausgeschlossen. Zugleich bestätigt dieses Theorem auch die Irrelevanz einer wiederholten Namensnennung in Bezug auf den angezeigten Wert: Die wiederholte Verwen-
dung eines Namens, d.i. einer identischen äußeren Form, weist nur immer wie8
Vgl. Abschnitt „Equivalence“, LoF:5. In den Zaws of Form wird zwischen Beweisen (proofs) und anschaulichen oder nachahmbaren Darstellungen (demonstrations) unterschieden. Der Unterschied besteht darin, dass ‚proofs‘ eine Einsicht fordern, die nicht durch stures Nachmachen generierbar ist; sie haben etwas Heurekahaftes, und wer sie nicht sieht, dem kann in gewisser Weise auch nicht dabei geholfen werden, vgl. ausführlicher dazu den Kommentar zum sechsten Kapitel. Der Gegenbegriff ware Homonym: Hier ist die Gestalt gleich, aber der Inhalt bzw. der Sinn verschieden: Das Wort ‚Bank‘ hat die Bedeutung ‚Sitzgelegenheit‘ und ‚Geldinstitut‘.
III. Kommentar — Das vierte Kapitel: THE PRIMARY ARITHMETIC
127
der auf denselben Wert hin. Wobei zu beachten ist, dass mit ,eine identische
äußere
Form haben‘ eine identische Form gemeint ist. Die Identität bezieht sich
auf die Formgleichheit: ‚2° als Name wäre also identisch mit ‚2°; nicht aber mit ‚22‘, da hier eine andere Form, d.h. ein anderer Wert und damit ein anderer
Name im Spiel ist. Die Wiederholung bezieht sich auf den angezeigten Wert, nicht auf das Zeichen an sich: die Wiederholung von ‚2° wäre also schriftlich mit ‚2, 2° wiederzugeben, da jede ‚2° als ein Name wiederholt wird, während
‚22° ein anderer Name ist, der zufällig aus zwei gleichen graphischen Zeichen besteht. Kurz: Theorem 5 besagt, dass Formgleichheit Wertgleichheit bedeutet. „Iheorem 6. Value“ (LoF:20) expliziert und bestätigt hingegen, dass auch Aus-
drücke, die nur denselben Wert ausdrücken, identifizierbar sind, d.h. füreinander stehen können. Der Beweis verläuft wiederum über die Durchführung zweier Austauschprozesse, die beide zum selben simplen Ausdruck führen, der ja im-
mer nur einen Wert anzeigt. Da beide Ausdrücke diesen Wert repräsentieren,
können sie, obwohl sie verschiedene Formen haben, miteinander identifiziert
werden. Der Wert wird so als Identifikationskriterium bestätigt.
„Iheorem 7. Consequence“ (LoF:21) formuliert eine Folgerung aus den beiden
vorhergehenden Theoremen: wenn zwei Ausdrücke mit einem dritten, (mit sich)
identischen Ausdruck äquivalent sind, dann sind sie es auch untereinander.
(D Der Beweis zeigt, inwiefern hier nicht nur über Folgerungen gesprochen
wird — wie der Titel vermuten ließe —, sondern dass auch eine Folgerung formu-
liert ist: Wenn Ausdruck x mit Ausdruck v wertgleich ist (nach T6) und wenn Ausdruck y mit Ausdruck v wertgleich ist (nach T6), dann repräsentieren beide Ausdrücke v in beiden Prämissen den selben Wert (nach TS) und daraus folgt,
dass Ausdruck x mit Ausdruck y wertgleich ist (T7).
Die drei prozessualen Theoreme explizieren ebenso wie die ersten vier Theore-
me allgemeine Muster, also weitere Eigenschaften der Hinweiszeichen, insofern diese in einem Austauschprozess verwendet werden. Das betrifft erstens den Nachweis, dass aufgrund der Austauschregeln Formgleichheit bzw. /dentität auch Wertgleichheit bzw. Aquivalenz bedeutet; dass zweitens bei vorliegender
Wertgleichheit auch formverschiedene Ausdrücke identifizierbar sind; und dass drittens daraus das Transitivgesetz gefolgert werden kann. Das Transitivgesetz, das in Theorem 7 formuliert wird, ist daher eine durch den Austauschprozess erworbene Zeicheneigenschaft, die aus TS und T6 gefol-
gert werden kann: Die Äquivalenz zweier Ausdrücke mit einem dritten Aus-
druck zeigt nach T6, dass sie beide mit diesem dritten identifizierbar sind; da
der dritte Ausdruck in beiden Austauschprozessen formgleich, d.h. mit sich identisch ist, ist er auch mit sich wertgleich und daher sind es auch die beiden
128
Tatjana Schönwälder-Kuntze
anderen. Folgerichtig können also zwei formverschiedene Ausdrücke über die Wertgleichheit mit demselben dritten Ausdruck mittelbar identifiziert werden,
obwohl sie nicht direkt auseinander generiert werden.
In den folgenden zwei Anschlusstheoremen werden allgemeine Muster der durch Austauschprozesse generierten Ausdrücke, d.h. in den Rechenresultaten
vorgestellt.
7. Die Anschlusstheoreme
Die Theoreme 8 und 9 explizieren Eigenschaften oder Muster der beiden arith-
metischen Initialgleichungen, die sich nicht auf die verwendeten Zeichen als Hinweisformen und auch nicht als Operanden des Austauschprozesses beziehen, sondern auf Eigenschaften, die sie als Resultate eines Austauschprozesses ausweisen. Das achte Theorem thematisiert eine bestimmte Form oder eine Anordnung, die immer auf den ,unmarked state‘ hinweist. Das neunte Theorem expliziert keinen spezifischen Wert einer bestimmten Anordnung, sondern (nur noch) eine allgemeine Aquivalenz zweier Anordnungen — unabhängig davon, welchen gleichen Wert sie bei einer konkreten Belegung der Buchstaben repräsentieren
wiirden. Da beide Theoreme (Anordnungs-)Aguivalenzen explizieren, sind sie als Gleichungen darstellbar.
Die Allgemeinheit dieser beiden Muster liegt in der /rrelevanz der konkreten
Werte, die die (Teil-)Ausdrücke haben — weshalb diese (Teil-)Ausdrücke durch
Buchstaben dargestellt werden können. Relevant ist hingegen die spezifische Anordnung oder der innere Zusammenhang der Teilausdrücke in den hier vorgestellten Formen. „Iheorem 8. Invariance“ (LoF:22) besagt, daß die Anordnung der Ausdrücke p in der Form plp| in jedem Fall 8quivalent ist mit dem Hinweis auf eine bestimmte Seite, d.h. mit dem leeren Ausdruck, gleichgiiltig ob p ftir einen Ausdruck steht, der durch einen leeren Ausdruck, oder fiir einen, der durch ein ,empty cross‘ ersetzt werden kann. Das Muster, das durch die Gleichung ausgedrückt wird, besteht also darin, dass eine bestimmte Anordnung von Teilausdrü-
cken dazu führt, dass der gesamte Ausdruck äquivalent ist mit dem Hinweis auf
den unmarkierten Zustand.
(I) Durch den geregelten Austausch im Rechenprozess ergeben sich demnach Ordnungsmuster zwischen einzelnen Teilausdrücken eines Ausdrucks, durch die
der Wert des Teilausdrucks irrelevant wird. Die Variabilität der Teilausdrücke
ist somit eine Eigenschaft bestimmter Rechenresultate, die aus dem geregelten
Austausch äquivalenter Hinweiszeichen generiert werden. Theorem 8 formuliert ein Muster, das dem ‚leeren Ausdruck‘ äquivalent ist, das daher auch als Hin-
weis auf eine bestimmte Seite gewertet werden kann.
III. Kommentar — Das vierte Kapitel: THE PRIMARY ARITHMETIC
129
Der Name des Theorems läßt sich durch folgende Überlegungen motivieren: Wenn innerhalb eines Kontextes (s,) etwas (s,+2) von etwas (S,+,) unterschieden wird, obwohl beide ‚denselben Raum durchdringen‘, also Hinweis auf dieselbe Seite sind, dann — könnte man sagen — entspricht der Wert dieser Unterscheidung dem Wert des leeren Ausdrucks. Mit ‚invariance‘ wird hervorgehoben,
dass das Verhältnis, oder die Anordnung, oder der Zusammenhang auf der einen Seite der Gleichung invariant ist, weil er immer dem ‚leeren Ausdruck‘ äquivalent bleibt. Das gilt unabhängig von dem Wert des Ausdrucks, für den der Buchstabe verwendet wurde. Das Anordnungsmuster, das „Theorem 9. Variance“ (LoF:22) zeigt formal,
dass die Anordnung zweier variabler Ausdrücke mit einem dritten variablen Ausdruck mit einer anderen Anordnung äquivalent ist:
Es gibt also eine bestimmte Anordnung dreier Ausdrücke 0, q und r, bei denen der Wert der Anordnungen selbst, abhängig vom Wert der angeordneten (Teil-)
Ausdrücke, immer derselbe bleibt.
(D Der Name ‚Variance‘ läßt sich aus der Möglichkeit ableiten, dass beide Anordnungen entweder Hinweise auf die eine Seite oder auf die andere Seite der ersten Unterscheidung sein können — abhängig von der jeweiligen Teilbelegung ihrer Buchstaben. Invariant ist nur, dass beide Anordnungsmuster äquivalent
sind. Das wird durch die Gleichung dargestellt. 8. Die Dominanz des markierten Zustandes
Neben den neun Theoremen wird im vierten Kapitel der sechste Kanon formu-
liert, der Theorem 2 und 3 zusammenfasst: die ‚rule of dominance‘ (vgl. LoF:15). Diese besagt, dass der Wert eines Ausdrucks der markierte Zustand ist,
wenn wenigstens einer seiner Teilausdrücke, die im ‚shallowest space‘ stehen müssen, durch Austausch zu einem ‚empty cross‘ vereinfacht wird (T2 und T3). Die Dominanz ergibt sich aus Theorem 3, das die Eindeutigkeit der Simplifizierung festlegt: wenn (Teil-)Ausdrücke bei der Simplifizierung zum ‚leeren Aus-
druck‘ führen, der auf den unmarkierten Zustand hinweist und andere (Teil-)
Ausdrücke zum ‚empty cross‘ führen, das auf den markierten Zustand hinweist
(T2), dann soll das ‚cross‘ der dominante Hinweisgeber sein, d.h. der ganze
Ausdruck soll auf den markierten Zustand hinweisen. Im sechsten Kanon wird
diese Regel expliziert, und es wird festgelegt, dass somit der Wert des ganzen Ausdrucks der markierte Zustand ist.
130
Tatjana Schönwälder-Kuntze
9. Wertneutrale Buchstaben als Hinweiszeichen
In der Beweisführung des dritten und vierten Repräsentationstheorems sowie in
der formalen Darstellung der Prozessualen- und der Anschlusstheoreme werden Buchstaben verwendet. In den Repräsentationstheoremen stehen diese für konkrete Ausdrücke, die auf den markierten Zustand (m) und auf den unmarkierten
Zustand (0) hinweisen."
In den drei Prozessualen Theoremen haben die Buchstaben hingegen die Bedeutung von ‚Protovariablen‘, da sie zur Darstellung bestimmter Eigenschaften der verwendeten Zeichen oder Ausdrücke, wie z.B. Formgleichheit, dienen, die für die Hinweise auf beide Zustände oder Seiten der ersten Unterscheidung gelten. In den Anschlusstheoremen werden für die (Teil-)Ausdrücke Buchstaben verwendet, deren Konstellation mit anderen (Teil-)Ausdriicken als allgemeines Anordnungsmuster deutlich werden soll. Wenn Zeichen, die als Hinweis auf einen Wert ‚genommen werden‘, in ge-
regelten Austauschprozessen verwendet werden, dann erwerben sie bestimmte, allein dem Verwendungsprozess geschuldete Eigenschaften, die mit den konkre-
ten Werten, für die sie stehen, nichts mehr zu tun haben. Das Zeichen emanzi-
piert sich gleichsam wieder von der Identifikationsmöglichkeit mit dem Wert des Inhalts einer Seite einer Form der Unterscheidung durch seine Verwendung im Austauschprozess zum wertneutralen Ausdruck. Die Buchstaben können also
verwendet werden, weil die konkreten Werte, auf die die Ausdrücke hinweisen, für die Explizierung allgemeiner Zeicheneigenschaften in Rechenprozessen irrelevant geworden sind. Zwar stehen die Buchstaben für einen Wert, doch ist dieser variabel. Damit wird die Eigenschaft der Primären Algebra, mit Variablen zu rechnen, die für verschiedene konkrete Werte stehen können, aus der Betrachtung der Anordnung von (Teil-)Ausdrücken arithmetischer Rechenresultate gewonnen. Rück- und Ausblick:
Im vierten Kapitel werden die Eigenschaften der als Operanden verwendbaren Zeichen, die im zweiten Kapitel festgelegt wurden, als Theoreme formuliert und als allgemein gültig bewiesen. Dies geschieht unter drei verschiedenen Perspek-
tiven: Die Repräsentationstheoreme explizieren Zeicheneigenschaften und legen fest, dass die Formveränderung der Zeichen im Austauschprozess keine Wertveränderung bedeutet; die Prozessualen Theoreme heben Zeicheneigenschaften hervor, die durch ihre Verwendung im Austauschprozess sichtbar bzw. erwor-
ben werden, und die Anschlusstheoreme weisen auf Anordnungsmuster hin, durch die die konkreten Werte der Zeichen, die für Teilausdrücke stehen, irrelevant werden.
II
Vgl. LoF:14.
III. Kommentar — Das vierte Kapitel: THE PRIMARY ARITHMETIC
131
Zugleich zeigen die vier Repräsentationstheoreme, dass das ,cross‘ und das ‚void‘ zusammen mit dem geregelten Austauschprozess, d.h. die im zweiten und
dritten Kapitel vorgestellten Komponenten des arithmetischen Rechnens, ausreichend sind, um ein vollständiges und konsistentes System von Hinweisen auf
die beiden Seiten einer Unterscheidung zu generieren. Die drei Prozessualen
Theoreme
sind
zudem
Austauschprozessverkürzungstheoreme,
weil
sie den
Geltungsbereich der Äquivalenz zweier Ausdrücke sichtbar machen. So kann auch die Geltung des Transitivgesetzes gezeigt werden, das die Identifikation
zweier wertgleicher, aber formverschiedener Ausdrücke erlaubt. Schließlich bilden die Anschlusstheoreme durch den Nachweis, dass in bestimmten Kons-
tellationen oder Anordnungen davon abgesehen werden kann, für welche kon-
kreten Werte die operativen Zeichen stehen, den Übergang zur Primären Algebra. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass die Buchstaben in der Arithmetik (noch) für einen bestimmten Ausdruck, d.h. für die in T1-T7 festgelegten, durch Austausch generierbaren Formen stehen.
Die neun Theoreme der Primären Arithmetik lassen sich auch in Bezug auf
den Bedeutungswandel oder besser auf die Bedeutungserweiterung von Gleich-
heit betrachten: Mit den zwei Axiomen wird Gleichheit erstens als Identifikationsmöglichkeit zwischen den hinweisenden Prozessen (Namensnennung oder Grenzüberschreitung) und dem Wert des jeweiligen Inhalts eingeführt; im zweiten Kapitel wird ein Zeichen eingeführt, das zwischen dquivalenten, d.h. kon-
kreten Ausdrücken stehen soll: das Gleichheitszeichen. Diese Funktion,
Wert-
gleichheit anzuzeigen, behält das Gleichheitszeichen bis zum elften Kapitel bei.
Allerdings verändern sich die Terme oder Relata, deren Gleichwertigkeit es
anzeigt: Zunächst sind es Zeichen, die auf konkrete Werte hinweisen (T1 bis
T7) - diese können auch formgleich sein (T5) -, dann sind es Anordnungen von (Teil-)Ausdrücken, die einen bestimmten Wert haben (T8), und schließlich sind es Anordnungen von (Teil-)Ausdrücken, die mit anderen Anordnungen von (Teil-)Ausdrücken wertgleich sind, unabhängig davon, welchen Wert sie anzei-
gen.
Eine Gleichung zeigt also nicht mehr an, welche Zeichen gleichwertig sind, sondern nur noch, dass bestimmte Anordnungen oder Konstellationen in Ausdrücken wertgleich sind. Erst die Äquivalenz zweier Zeichengefüge macht den
Übergang zur Algebra perfekt, weil die Werte, für die die Buchstaben stehen,
nicht mehr bekannt sein müssen: Variablen können daher als von unbekanntem Wert eingeführt werden. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht dann nur
noch die Struktur, die innere Anordnung, die Relation, in der die Variablen zueinander stehen, und dass äquivalente Gebilde bzw. Formen — wiederum durch geregelten Austausch - generierbar sind. '^ 2
Zur Verwendung der Begriffe ‚Primäre Arithmetik‘ und ‚Primäre Algebra‘ vgl. Juan Caramuel: „so entstand also die Notwendigkeit, der gemeinen Arithmetik, die es mit bestimmten Zahlen zu tun hat, eine weitere Arithmetik hinzuzufügen, die es mit unbestimmten Zahlen zu tun hat.“
132
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Im folgenden fünften Kapitel werden u.a. die Zeicheneigenschaften, die sich an
den Resultaten der arithmetischen Austauschprozesse gezeigt haben, als seman-
tische und syntaktische Grundkomponenten der Primären Algebra explizit formuliert und festgelegt. Sowohl die spezifische Variabilität der algebraischen Operanden als auch die beiden algebraischen gleichheit verschiedener Anordnungsmuster arithmetischen Zeichenaustausch hervor und gesetzt. Die Grundkomponenten der Spencer
Initialgleichungen, die die Wertausdrücken, gehen so aus dem werden nicht einfach (voraus-) Brownschen Algebra lassen sich
gleichsam am arithmetischen Rechenprozess ablesen.
(Caramuel 1670/1977), zitiert nach Glasersfeld 1997:181. Glasersfeld nennt diese „zweite Arithmetik, die es mit Abstraktionen zu tun hat,“ (ebd.) Algebra. In den Laws of Form wird hingegen gezeigt, dass die algebraische Möglichkeit, Variablen zu verwenden, aus der rechnerischen Verwendung von Ausdrücken hervorgehen kann. Damit wird von den konkreten Werten nicht einfach durch Abstraktion abgesehen, sondern bestimmte Konstellationen zeigen, dass die konkreten Werte hier irrelevant (geworden) sind.
Das fünfte Kapitel:
A CALCULUS TAKEN OUT OF THE CALCULUS
Tatjana Schönwälder-Kuntze
1. Titel
Ein Kalkül ist ein System von Anweisungen/Konstruktionen und Übereinkünf-
ten, das geregelte Austauschprozesse von Hinweisformen, d.h. von Ausdrücken erlaubt. Der Kalkül, aus dem in diesem Kapitel ein weiterer Kalkül ,herausgenommen’ wird, ist die Primäre Arithmetik. Der neue, aus dem arithmetischen
Kalkül herausgenommene algebraische Kalkül meint ebenfalls ein Generierungssystem. Allerdings bezieht es sich nicht mehr auf die beiden Seiten der Form der Unterscheidung als Referenzpunkt, sondern auf die Resultate der Arithmetik. Der neue Kalkül wird ‚aus dem (alten) Kalkül herausgenommen‘, weil in ihm erstens der Austauschprozess aus der Arithmetik übernommen und als algebraisches Berechnen (um-)formuliert wird. Zweitens werden die beiden arithmetischen Gleichungen aus T8 und T9 aus ihrem Entstehungskontext he-
rausgenommen und zu den Initialgleichungen des neuen, algebraischen Systems gemacht. 2. Inhalt
Der Inhalt des fünften Kapitels besteht einerseits darin, aus den Resultaten des arithmetischen Rechnens die Ausdrücke, d.h. die Operanden, die in der Primären
Algebra verwendet werden sollen, zu explizieren und festzuschreiben. Dafür werden die verschiedenen Funktionen, die bislang mit Kopien oder ,token‘ des einen verwendeten Zeichens, also des Hakens, darstellbar waren, ausdifferenziert: die Operanden von unbekanntem Wert und der Operator werden graphisch unterschieden. Andererseits werden die Regeln des arithmetischen Austauschprozesses in algebraische Regeln umformuliert und so ihre Syntax festgelegt.
Schließlich werden die beiden Gleichungen aus den Theoremen 8 und 9 als Initialgleichungen des neuen Kalküls bestimmt. Das fünfte Kapitel beschreibt also die Transformation bestimmter Ergebnisse des arithmetischen Kalküls in die Ausgangskomponenten des algebraischen Kalküls.
3. Operanden als Variablen Durch das Entdecken der Äquivalenz zweier Zeichengefüge oder Anordnungen
(T9), deren Äquivalenz gerade darin besteht, unabhängig von den Werten der (Teil-)Ausdrücke zu sein, die durch den Austauschprozess eine spezifische An-
134
Tatjana Schônwälder-Kuntze
ordnung erfahren, wird die Möglichkeit eröffnet, auf die Operanden, d.h. die
Ausdrücke der Arithmetik durch ,,token of variable form“ (LoF:25) hinzuwei-
sen. In der Algebra können also zusätzlich zum Haken oder zu einem Ausdruck,
der aus einer finiten Anzahl von Haken besteht, Buchstaben von unbekanntem Wert zum Rechnen verwendet werden. Wobei ‚unbekannt‘ nur bedeutet, dass sie entweder den Wert des einen Inhalts oder den Wert des anderen Inhalts der Form der Unterscheidung anzeigen — weitere Werte sind bisher nicht erlaubt
worden. Die einzig verbleibende, wertbezogene Eigenschaft der Variablen be-
steht darin, dass sie einen Wert anzeigen, und dass identische Variablen, d.h.
formgleiche Token oder Buchstaben den gleichen Wert anzeigen (nach TS). Zudem gibt es nicht nur eine Form, die einen variablen Wert anzeigen kann, sondern alle Buchstaben können als Variable auftreten: deshalb sind die Variab-
len auch von variabler Form. Variablen sind also in zweifacher Hinsicht varia-
bel: in Bezug auf den Wert, den sie anzeigen, und in Bezug auf die Form (den Buchstaben), die sie annehmen.
4. Der Operator als Konstante
In einer algebraischen Gleichung haben der Haken oder mehrere Haken immer noch die Doppelfunktion, zugleich Operatoren und Operanden zu sein: im Ge-
gensatz zu den Variablen handelt es sich aber bei jedem Token des Hakens um eine „constant form“ (LoF:25). Es soll weiterhin ‚cross’ heißen und behält weiterhin die Funktion, Aufforderungen zur Grenzüberschreitung anzuzeigen. Haken haben in der Algebra vor allem die Funktion eines Anordnungs- oder Rela-
tionsanzeigers für das Gefüge. '
5. Initialgleichungen und Anordnungsäquivalenzen als Hinweisformen Die Gleichung, die Theorem 8 formal beschreibt, wird ‚aus ihrem
ungs-)Kontext genommen‘ und „form of position“ (LoF:25) genannt:
(Entsteh-
plpl
=
Das bedeutet erstens, dass sie ihrer arithmetischen Funktion entledigt wird, formale Darstellung einer sein, die einen bestimmten gebra sind die in der ‚form unbekanntem Wert und der Ihnen an.
bestimmten Anordnung von (Teil-)Ausdriicken zu oder bekannten Wert anzeigen. In der Primären Alof position‘ verwendeten Buchstaben Variablen von Haken zeigt die Relation oder das Gefüge zwischen
Dieses (Teil-)Ausdrucksgefüge ist weiterhin dem ‚void‘ äquivalent, es hat also noch die arithmetische Eigenschaft, als Gefüge bzw. Variablenanordnung einen bestimmten Wert anzuzeigen bzw. auf eine Seite hinzuweisen. Der Name
könnte motiviert werden mit dem Faktum, dass diese Anordnung der Setzung |
Man könnte Operator mit ‚Unterschied-Macher’ oder ,Unterscheider’ übersetzen. Dann 11606 sich formulieren, dass der Haken seine Bedeutung als Wertanzeiger verliert und lediglich seine Bedeutung als Unterscheider beibehält.
.
III. Kommentar — Das fünfte Kapitel:
A CALCULUS TAKEN OUT OF THE CALCULUS
135
eines Wertes entspricht und dass jeder leere Ausdruck so aufgefasst werden
kann, dass er ein Hinweis auf den unmarkierten Zustand ist und daher dieses
Variablengefüge dort hingesetzt werden kann. SchlieBlich lieBe sich auch sagen,
dass der Ausdruck auf der linken Seite zu jedem beliebigen Ausdruck einfach dazu gesetzt werden darf, ohne dass das Gleichungsgefüge aus dem Gleichgewicht gerät.
Für die Gleichung, die Theorem 9 formal beschreibt, gilt in Bezug auf die
verwendeten Zeichen das
gleiche. Sie wird in der Algebra ,,form of transpositi-
on“ (LoF:26) genannt: priqrl = plqlr
Sie unterscheidet sich von der ,form of position‘ dadurch, dass sie nicht auf
den Wert eines Variablengefüges hinweist, sondern darauf, dass zwei verschie-
dene Variablengefiige äquivalent sind, unabhängig davon, welchen konkreten Wert die Gefüge selbst anzeigen. Die ,form of transposition‘ ist damit nur noch
ein Hinweis darauf, dass eine Aquivalenz zwischen zwei Gefügen besteht, unabhängig davon, welcher Wert von ihnen angezeigt wird. Ihr Name könnte dadurch motiviert sein, dass er ein Hinweis auf die neu entstandene Möglichkeit ist, Variablengefüge zu übersetzen, d.h. nur die äußere Form, nicht aber den Bedeutungsinhalt zu verändern. Zugleich weist der Name auf eine Umsetzung hin — insofern diese Gleichung ein Hinweis auf eine Handlungsmöglichkeit ist, ein Hinweis darauf, was mit solchen Variablengefügen
gemacht werden kann: sie können durch einen Austauschprozess, der unabhängig ist von konkreten Werten, umgesetzt werden. So steht der Name auch für den algebraischen Rechenprozess schlechthin. Und schließlich kann der Name
auch anzeigen, dass die Variable r einfach innerhalb des Gefüges in der angegebenen Weise umgesetzt werden darf. 6.
Algebraische Rechenregeln als Extrakt der Verwendung des Gleichheitszeichens
Zur Festlegung des algebraischen Austauschs oder Rechnens werden zwei Re-
geln angegeben, die für Spencer Brown als „commonly accepted in the use of
the sign = “ (LoF:26) gelten. Zudem wird in den Notes (SK) darauf verwiesen,
dass „rules 1 and 2 ... say nothing that has not, in the text, already been said“
(LoF:87), so dass diese Regeln beanspruchen, keine neuen oder von außen hin-
zukommenden Ideen mit ein zu beziehen. Regel 1 betrifft die Möglichkeit, aus einem Gefüge durch Ersetzung äquiva-
lenter Variablen ein formgleiches und äquivalentes zweites Gefüge herzustellen. Regel 2 betrifft zwei Gefüge, die nicht formgleich, aber dafür wertgleich sind
und deren formgleiche Variablen gegen andere formgleiche Variablen ausgetauscht werden dürfen, ohne die Äquivalenz der Gefüge zu gefährden.
136
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Rule 1. Substitution
Wenn zwei Variablen äquivalent sind, d.h. nicht notwendig (form-)identisch,
aber wertgleich, dann diirfen sie gegeneinander ausgetauscht werden, dann kann
jedes Vorkommnis der Variable e durch die Variable f ersetzt werden. Wenn eine der beiden Variablen in einem Gefiige oder (algebraischem) Ausdruck steht und wenn sie durch die andere ersetzt wird, so dass ein form- bzw. strukturgleiches, aber variablenverschiedenes Gefiige gebildet wird, dann entsteht ein in Bezug auf die Anordnung der Variablen formidentischer Ausdruck, der mit dem ersten dquivalent ist.
Regel 1 besagt also, dass auch die beiden Gefiige, also der Ausdruck oder das Gefüge g und der aus g durch Substitution von Variablen entstandene zweite
Ausdruck bzw. das zweite Gefüge h äquivalent sind: Aus e = f folgt g =h, wobei e und f Variablen, und g und f Gefüge sind.”
Mit der Substitutionsregel wird die Möglichkeit geschaffen, durch den Austausch äquivalenter Variablen in einem Ausdruck ein formgleiches, aber vari-
ablenverschiedenes Gefüge herzustellen (constructed by substituting), das mit dem Ausgangsgefüge äquivalent ist. Zugleich expliziert sie eine stillschweigende algebraische Anwendungsregel des Gleichheitszeichens, die besagt, dass unabhängig von den Variablen ein Gefüge seinen Wert behält. Das heißt, die identische Anordnung der Variablen ist ausreichend für die Wertgleichheit zweier Gefüge; die Formgleichheit zweier Gefüge muss sich nicht auch auf die
Variablen erstrecken, soll Wertgleichheit angezeigt werden.’
Damit wird auch eine Verschiebung des Geltungsbereiches der Äquivalenz,
die durch das Gleichheitszeichen ausgedrückt wird, herausgestellt: Äquivalenz ist auch dann gegeben, wenn die Identität zweier Gefüge allein in der identi-
schen Anordnung der Konstanten oder ,crosses‘ besteht, unabhängig vom arithmetischen Wert der Variablen, wie in Theorem 8 nachgewiesen wurde, und unabhängig von der Form der Variablen, die durch die Verwendung von Buch-
staben ebenfalls variabel geworden ist. Deshalb sind äquivalente Variablen in
einem anordnungsidentischen substituierbar.
Gefüge
oder Ausdruck
ohne
Wertveränderung
Diese Regel wird nicht bewiesen, sondern unter Rekurs auf die arithmetische Substitutionsübereinkunft und die Repräsentationstheoreme begründet (vgl.
Wobei folglich natürlich jede Variable auch für ein ganzes Gefüge stehen kann. Die Substitutionsregel drückt den Sonderfall aus, dass alle Vorkommnisse eines Ausdrucks oder einer Variable e durch einen wertgleichen anderen Ausdruck f in formidentischen Gefügen ausgetauscht werden dürfen, und zwar, weil diese formidentischen Gefüge erst durch den Austausch der Variablen entstehen. Sie besagt also nichts über den Austausch wertverschiedener Variablen in formidentischen Gefügen.
III. Kommentar — Das fünfte Kapitel:
A CALCULUS TAKEN OUT OF THE CALCULUS
137
Justification“ LoF:26). Die Begründung der Substitutionsregel bezieht sich also auf die arithmetische Austauschbarkeit von wertgleichen ‚arrangements‘ in Ausdrücken einerseits und die Eindeutigkeit von Ausdrücken in Bezug auf den Wert, den sie repräsentieren, andererseits. Beide zusammen bilden sie die ,Geltungsbedingung‘ dieser Regel. Mit Regel 1 lassen sich also formgleiche Gefüge herstellen, die sich nur durch die äußere Form ihrer Variablen unterscheiden.
Rule 2. Replacement Wenn zwei Gefüge äquivalent sind (e = f) und wenn es ein oder mehrere v in der Gleichung e = f gibt, die durch den Ausdruck w ersetzt werden, dann bleibt die Wertgleichheit von e und f erhalten, auch wenn w nicht wertgleich mit v ist,
oder selbst unabhängig oder variabel (kann also auch
odkr
sein).
Wenn in dem Gefüge e die Variable v durch w ersetzt, so dass ein Gefüge ] entsteht, und wenn in dem äquivalenten Gefüge f jedes vorkommende v ebenfalls durch w ersetzt wird, so dass das Gefüge k entsteht, dann gilt j =k. Die Ersetzungsregel formuliert die Möglichkeit, Variablen auch in nichtidenti-
schen, aber wertgleichen Ausdrücken oder Anordnungsgefügen durch arithmeti-
sche Zeichen oder algebraische Variablen ersetzen zu können. Damit zeigt das
Gleichheitszeichen die Wertgleichheit zweier Gefüge auch dann noch ar, wenn
gar keine konkreten Werte mehr im Spiel sind. Auch diese Regel wird nicht bewiesen, sondern unter Rekurs auf die An-
schlusstheoreme begründet.” In T8 und in T9 ist nachgewiesen worden, dass die Aquivalenz unabhängig von der Belegung der Buchstaben besteht — hier wird
expliziert, dass das auch für Variablen von unbekanntem Wert gilt, die das gan-
ze Gefüge in arithmetischer Hinsicht unenthüllt lassen: „we can find equivalent expressions, not identical, which ... are not wholly revealed.“ (LoF:26). Das einzige, was das Gleichheitszeichen so noch ausdrückt, ist, dass auch Ausdrücke, die mit unbekannten Variablen gebildet werden, mit anderen ebensowenig
vollständig enthüllten Ausdrücken wertgleich sind — aber mehr nicht.
Die beiden algebraischen Regeln bestimmen den Austausch von variablen
und nicht-variablen Ausdrücken in algebraischen Gefügen, so dass das algebrai-
>
Im Text heißt es: Die arithmetische Substitutionsübereinkunft werde hier nur wieder (ein-)gesetzt, allerdings zusammen mit einer Folgerung, einem Schluss (,inference‘, nicht ,consequence‘), der aus den Repräsentationstheoremen gezogen werden kann. Die Substitutionsübereinkunft (LoF:8) besagt, dass wertgleiche Arrangements in Ausdrücken ausgetauscht werden dürfen. Repräsentationstheoreme heißen die Theoreme 1 mit 4, die nachweisen, dass für alle erlaubten Zeichen die Eindeutigkeit ihres Hinweischarakters, d.h. auf welche der beiden Seiten der ersten Unterscheidung sie hinweisen, gegeben ist.
Anschlusstheoreme heißen die Theoreme 8 und 9, in denen bereits (arithmetische) Buchstaben
verwendet werden, weil sie die Äquivalenz zweier Gefüge unabhängig von den konkreten Werten, die sie anzeigen, herausstellen.
138
Tatjana Schönwälder-Kuntze
sche Rechnen, d.h. die geregelte Transformation von algebraischen Ausdriicken in andere algebraische Ausdriicke, beginnen kann.
Unter ,, Indexing“ (LoF:27) erfolgt noch eine Regel, die etwas über die Verwen-
dung der Zeichen festlegt, mit denen das Buch geschrieben ist. Es geht also nicht direkt um die Inhalte der Laws of Form, sondern um die Erlaubnis, einen
abkürzenden Darstellungsmodus zu verwenden — und damit wird das bislang
Vorgetragene rekursiv auch auf die Darstellung selbst angewendet: ,consequences‘ dürfen mit ,C‘ abgekürzt werden, die ,initials‘ der Arithmetik mit ‚I‘, die der Algebra mit ,J‘, ‚rules‘ mit ,R‘ und ,theorems‘ mit ,T‘. Sie alle können mit
einer Nummer
versehen werden, die auf die Reihenfolge ihres Auftauchens
hinweist. AuBerdem sind diese abkiirzenden Namen im Folgenden immer ein Hinweis auf das, wofür sie stehen. Anders soll das mit dem Buchstaben ,E° für
equations‘ gehandhabt werden: er meint in jedem Kapitel andere Gleichungen, ist also nicht immer ein Hinweis auf den gleichen Inhalt und hat daher als einziger den Zeichencharakter einer algebraischen Variable. 7. Das Verhältnis der beiden Kalküle
Das fünfte Kapitel hat die Funktion, die Operatoren und die Syntax der Primären Algebra vorzustellen und das bedeutet, die Regeln für den Austausch, d.h. für den Rechenprozess festzulegen — die beiden Initialgleichungen der Primären
Algebra stellen den Zusammenhang
dar.
der drei Komponenten
zusammengefasst
Während die Operanden — seien es Buchstaben, Haken oder der ‚void‘ — der
Primären Arithmetik immer bestimmte Werte anzeigen, zeigen die Buchstaben der Primären Algebra lediglich an, dass sie für einen Wert stehen, aber nicht
mehr für welchen. Mit der Einführung der Variablen haben die (Teil-)Ausdrticke die arithmetische Eigenschaft verloren, auf bestimmte Werte zu referieren.° Es können nur noch Aussagen darüber gemacht werden, welchen Wert bestimmte ganze Gefüge haben (aus T8) und inwiefern verschiedene Anordnungen oder Verhältnisse wertvariabler Zeichen zu anderen solchen Verhältnissen äquivalent sind (T9).
Die arithmetische Konzeption der Berechnung als System zur Generierung formverschiedener, aber wertgleicher Ausdrücke, wird in der Algebra beibehalten, da auch hier formverschiedene, aber wertgleiche Ausdriicke durch Substitution bzw. Ersetzung der Variablen generiert werden. Der Unterschied besteht 6
(SK) In der Einführung zur ersten Ausgabe schreibt Spencer Brown: „A point of interest ... is the development of the idea of a variable solely from that of the operative constant. This comes from the fact, that the algebra represents our ability to consider the form of an arithmetical equation irrespective of the appearance, or otherwise, of this constant in certain specified
places.“, LoF:xxii.
III. Kommentar — Das fünfte Kapitel:
A CALCULUS TAKEN OUT OF THE CALCULUS
139
darin, dass die durch den Rechenprozess entstehenden arithmetischen Ausdriicke auf eine Seite der ersten Unterscheidung hinweisen; während das algebrai-
sche Rechnen nur noch in dem Hinweis auf die Aquivalenz zwischen zwei ver-
schiedenen algebraischen Ausdriicken, d.h. Variablengefügen besteht. Dieser Hinweis besteht in den algebraischen Gleichungen, die ihrerseits Folgerungen aus Austauschprozessen sind.
Die Wertdifferenz der beiden Seiten der ersten Unterscheidung wird in der
Primären Algebra irrelevant — es geht nur noch um die Gleichwertigkeit ver-
schiedener Anordnungsmuster, d.h. um die Darstellung der Äquivalenz von Ausdrücken, die sich in ihrer nichtidentischen Form wegen ihren Variablen und/oder ihrer Gefügeanordnung voneinander unterscheiden. Mit dem Übergang
zur Algebra findet also in Bezug auf die konkreten Werte eine Loslösung von der Form der ersten Unterscheidung statt.
Die Primäre Algebra soll als „calculus for the primary arithmetic“ (LoF:26) betrachtet werden, weil sie etwas aussagt über die Gleichwertigkeit formver-
schiedener Ausdrücke, die in der Primären Arithmetik generiert werden können. Damit ist sie selbst ein System, das auf bestimmte Eigenschaften der Primären
Arithmetik hinweist: Während beispielsweise in der Primären Arithmetik das
Gleichheitszeichen verwendet wird, um auf die Äquivalenz zweier Ausdrücke
hinzuweisen, expliziert und formuliert die Primäre Algebra, was diese Verwendung selbst bedeutet, auf welche Zusammenhänge sie ihrerseits hinweist.
Die Möglichkeit, die Grundkomponenten der Algebra, d.i. ihre Operanden als Variablen — in zweifacher Hinsicht -, ihren Operator als Zusammenhangsoder Gefügedarsteller und ihre Austauschregeln aus der Primären Arithmetik hervorgehen zu lassen, zeigt ihrerseits den inneren Zusammenhang zwischen beiden Kalkülen. Manche der im arithmetischen Austausch entstehenden Muster
werden zur Grundlage der Algebra gemacht, indem sie expliziert und bezeichnet
werden und so einer weiteren Verwendung zur Verfügung stehen. Ausblick:
Das folgende sechste Kapitel stellt algebraische Gleichungen vor, die wiederum
Resultate geregelter algebraischer Austauschprozesse sind. Aus algebraischen Ausdrücken, d.h. Variablengefügen, können durch Austausch oder Ersetzung ihrer (Teil-)Ausdriicke und
unter
Verwendung
der beiden Initialgleichungen
andere, neue Ausdrücke gefolgert werden, die mit den Ausgangsausdrücken
äquivalent sind — weshalb ihr Zusammenhang als Gleichung, d.h. als Aquivalenz dargestellt werden kann.
Das sechste Kapitel: THE PRIMARY ALGEBRA
Tatjana Schönwälder-Kuntze
1. Titel
(B) ‚primary‘ (vgl. die etymologischen Hinweise im Kommentar zum vierten Kapitel).
‚algebra‘ heißt der Zweig der Mathematik, in dem arithmetische Operationen und formale Manipulationen statt auf einzelne Quantitäten auf abstrakte Symbole angewendet werden. Sie bezeichnet die Lehre von den Beziehungen
zwischen mathematischen Größen und den Regeln, denen sie unterliegen, und
ist das Gebiet der Mathematik, das sich mit der Lösung von Gleichungen und
Gleichungssystemen befasst. Der Name selbst stammt aus dem Titel eines arabi-
schen Lehrbuches aus dem 9. Jhdt.'
Mit dem gewählten Namen Primäre Algebra für den zweiten, aus der Primären Arithmetik ‚genommenen‘ Kalkül wird sowohl auf ihre eigene Entwicklung hingewiesen, als auch darauf, dass dieser Kalkül eine der ursprünglichen Bedeutungen des Begriffes ‚Algebra‘ zum Ausdruck zu bringen vermag, wenn auch nicht historisch, so doch genealogisch gesehen.’
Vgl. ‚Algebra‘ in: Brockhaus sowie in: Encyclopaedia Britannica, zit. am 15.08.2008, Encyclopædia Britannica Premium Service (http://www.britannica.com/eb/article?eu=120643). Dass diese allgemein gehaltene Definition möglicherweise Mathematiker nicht bedenkenlos akzeptieren werden, ist vor dem Hintergrund ihrer Spezialdisziplin vollkommen einsichtig. Die oben genannte Definition erhebt aber auch nicht diesen Anspruch. Eine exakte Begriffsbestimmung forderte zudem die Auseinandersetzung mit einem historisch bedingten Bedeutungswandel, wie der Eintrag in der Encyclopaedia Britannica zeigt: „The notion that there exists such a distinct subdiscipline of mathematics, as well as the term algebra to denote it, resulted from a slow historical development.“ (Ich danke Stephan Packard für seine Recherche.) Vergleicht man den Entwicklungsprozess der Algebra in den Laws of Form beispielsweise mit einem Lemma in einem beliebigen Lexikon, wird der Unterschied der Herkunftsdeutung deutlich. „Der Prozeß, der von der verbalen Form der Aufgabenstellung zur symbolischen algebraischen Schreibweise (Variablen, Platzhalter) führte, war erst am Ende des 17. J. beendet, obgleich bereits in der indischen Mathematik abstrakte Zeichen bekannt waren.“ dtv Brockhaus Bd.1:111 ‚Algebra‘. Während normalerweise ein Abstraktionsprozess vom konkreten Sachverhalt zur abstrakten Darstellung ihren Entstehungsprozess begründet, ein Prozess also, der nicht genuin mathematisch ist, wird die Algebra in den Laws of Form aus den Eigenschaften der verwendeten Zeichen im Rechenprozess selbst generiert. (SK) In den Notes ist von „revelation and incorporation of its own origin“ (LoF:87) die Rede.
III. Kommentar — Das sechste Kapitel: THE PRIMARY ALGEBRA
141
2. Inhalt
Das sechste Kapitel beginnt — wie das vierte — mit der Vorstellung der beiden, nun algebraischen Basisgleichungen und der Aufforderung, mit der Musterunterscheidung fortzufahren. Die beiden Muster der Anschlusstheoreme im vierten Kapitel sind als Explikation latenter Eigenschaften der verwendeten Zeichen vorgestellt worden, insofern diese Resultate von Austauschprozessen sind. Theorem 8 weist als Gleichung darauf hin, dass ein bestimmtes Gefüge, unabhängig
von der Variablenbelegung, immer dem ‚void‘ äquivalent ist. Theorem 9 weist als Gleichung darauf hin, dass es bestimmte Formen von Ausdrücken bzw. deren Anordnungen gibt, die mit anderen äquivalent sind — ebenfalls unabhängig von der Variablenbelegung. Die beiden Gleichungen werden als Initialgleichun-
gen der Primären Algebra verwendet.
Die Muster, die in diesem Kapitel unterschieden werden, ergeben sich aus ‚sequentiellen Manipulationen‘ der Initialgleichungen. Sie werden ‚consequen-
ces‘ genannt und sind Gleichungen, die eine Fo/gerung aus zwei Umwandlungswegen im algebraischen Austauschprozess darstellen. Gefolgert wird die Aguivalenz zweier formverschiedener, aber eben durch geregelten Austausch als äquivalent dargestellt tel besteht vollzogen
nachgewiesener Gefüge. Diese Äquivalenzen werden als Gleichung — ebenso wie bei den Theoremen 8 und 9. Das neue in diesem Kapidarin, dass nicht mehr alle algebraischen Austauschprozesse nachwerden müssen, sondern dass gefolgert werden darf, und das bedeu-
tet: Prozesse dürfen übersprungen bzw. in wenige Schritte kondensiert werden. Dabei wird eine Eigenschaft des Austauschprozesses sichtbar: die Irrelevanz der
Richtung, in der der Austausch vorgenommen wird, und damit die Aquivalenz
richtungsverschiedener ‚steps‘. Zuletzt erfolgt eine weitere allgemeine Einteilung von Ausdrücken in solche, die den markierten Zustand, solche, die den unmarkierten Zustand und solche, die, je nach Belegung, entweder den einen oder den anderen Zustand anzeigen.
3. Die Initialgleichungen der Algebra Die beiden Initialgleichungen der Algebra entsprechen der Formalisierung der arithmetischen Theoreme 8 und 9. Beide werden im fünften Kapitel ‚aus ihrem
(Entstehungs-)Kontext genommen‘ und erhalten die Namen
‚form of position‘
und ‚form of transposition‘. Als Initialgleichungen der Algebra heißen sie nur noch „Initial 1. Position“ und „Initial 2. Transposition“ (LoF:28).
J1: pldl =
und
J2:prigrl
= plqlr
Mit der ersten Initialgleichung wird es möglich, an beliebigen leeren Stellen in einem Ausdruck bzw. Gefüge den Ausdruck der linken Seite der Gleichung J1 einzusetzen; diese Eintauschrichtung heißt „put in“ (ebd.). Die Gegenrichtung, also das Herausnehmen dieses oder strukturidentischer Gefüge wird „take out“
(ebd.), also ‚herausnehmen‘ genannt.
142
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Die Richtungen des Austausches in der zweiten Initialgleichung heißen von links nach rechts gelesen ‚sammeln‘ (collect) und in der anderen Richtung ,verteilen‘ (distribute). Diese Gleichung stellt eine Art Distributivmuster dar, da hier
eine zweimal vorkommende Variable aus der gleichen Tiefe ‚ausgeklammert‘
bzw. umgekehrt ‚verteilt‘ werden darf.’
(SK) In den Notes wird darauf hingewiesen, dass Peirce der algebraischen Gleichung, die Initial 1 darstellt, den Namen ,erasure‘, d.h. ‚Ausradierer‘ gegeben
habe. Mit ‚position‘ verweist Spencer Brown auf die ebenso erlaubte Gegenrich-
tung der ‚Setzung‘.
4. Konsequenzen und ihre Namen „We shall proceed to distinguish particular patterns, called consequences, which can be found in sequential manipulations of these initials.“ (LoF:28). (B) ‚consequence‘ kann neben der Bedeutung ‚Ergebnis oder Effekt von etwas‘ im Englischen auch synonym für ‚importance‘, d.h. ‚Wichtigkeit? verwendet werden. Das lateinische ‚consequens‘ meint eine Folge oder Folgerung, aber das dazugehörige Deponens ,consequeri‘ hat auch die Bedeutung von ‚gleichkommen‘, ‚vollständig erfassen‘ oder ‚ausdrücken‘. ‚sequential‘ heißt ‚folgend‘ in zeitlicher oder räumlicher Hinsicht, aber auch im Sinne eines Resultates. Das zugrundeliegende lateinische Deponens ‚sequeri’ bezieht sich einerseits enger auf das Subjekt, denn es bedeutet ursprünglich ‚mit den Augen folgen‘, ‚begleiten‘, ‚verfolgen‘. Andererseits kann es auch ‚sich (von selbst) einstellen‘ heißen. ‚manipulation‘ meint ‚operieren‘, ‚mit Geschicklichkeit oder Fertigkeit mit etwas umgehen‘, aber auch ‚führen‘ oder ‚leiten‘ und ‚kontrollieren‘. Die latei-
nische Wurzel ‚manipulus‘ heißt vor allem ‚dicht‘ im Sinne von ‚gedrängt‘ und kommt ursprünglich von ‚in einer Hand (,manus’) zusammen fassen‘.
(I) Die hier Konsequenzen genannten Muster bezeichnen eine Folgerung, die eine nachvollziehbare Verdichtung der Austauschschritte, der Austauschwege
und der Austauschrichtung darstellen. Unter Verwendung der beiden Initialgleichungen wird in zwei Gefügen derart ausgetauscht, dass sie beide einem dritten,
identischen Ausdruck äquivalent werden und folglich auch miteinander gleichgesetzt werden dürfen. In den so entstehenden Gleichungen sind sowohl die
beiden Rechenwege
oder Austauschprozesse in den beiden Termen der Glei-
chung als auch die Folgerung nach T7, sie gleichsetzen zu dürfen, enthalten.
Die ‚consequences‘ genannten Gleichungen stellen diese verschiedenen Prozesse — Austausch und Folgerung — wiederum abgekürzt dar. 3 Vgl. hierzu die wörtliche Beschreibung von Theorem 9, LoF:22.
III. Kommentar — Das sechste Kapitel: THE PRIMARY ALGEBRA
143
Die ausführliche Vorführung der beiden Austauschwege, die die erste ‚consequence‘ ermöglicht, zeigt, dass beide algebraischen Initiale verwendet werden, dass die Resultate mehrmaliger Ersetzungen auf beiden Wegen irgendwann zu einer identischen Form führen und dass daraus nach T7 gefolgert werden
kann, dass die beiden Terme, Ausdrücke bzw. Gefüge der Gleichung äquivalent sind.’ Diese Interpretation der ,consequences‘ wird auch dadurch gestützt, dass Theorem 7, in dem zwei Rechenwege in einer Gleichung verkürzt darstellbar werden und das eine Art Transitivgesetz formuliert, im vierten Kapitel der Laws of Form ‚consequence‘ genannt wird. (SK) In den Notes wird darauf hingewiesen, dass die Benennung der ‚consequences‘ eine angemessene Beschreibung des benannten Prozesses sein soll, so
wie er in der Algebra erscheint, ohne seinem arithmetischen Ursprung Gewalt
an zu tun (vgl. LoF:87f.). Zudem steckt in den Gleichungen die Erlaubnis weiterer, neuer Austauschmöglichkeiten der beiden Terme, die rechts und links des Gleichheitszeichens stehen, die, je nachdem in welcher Richtung man sie vornimmt, jeweils ver-
schieden gekennzeichnet und benannt werden: „When the step allowed by this equation is taken from the former to the latter expression, it is called ..., and when taken in reverse it is called ...“ (LoF:91 hier beispielhaft für C9). Algebraische Gleichungen, d.h. hier ‚consequences‘, die bereits von anderen Mathe-
matikern aufgestellt wurden, bezeichnen mit ihrem Namen — so Spencer Brown — meist nur eine Austauschrichtung, während die Benennung beider Austauschrichtungen in den hier vorgestellten Folgerungen beiden Richtungen gerecht werden will (vgl. LoF:90).
Die folgenden Gleichungen weisen also nicht nur auf verschiedene Austauschwege hin, die unter Verwendung der beiden Initiale und der algebraischen Rechenregeln vorgenommen werden können, sondern es werden auch zwei Rechenarten — Austausch und Folgerung, d.h. die Verkürzung mehrerer Austauschprozesse — in ihnen zusammen gefasst. Die Benennung der ‚consequences‘ hat die Funktion, auf deren Herkunft zu
verweisen, d.h. sie beziehen sich auf verschiedene Verkürzungsaspekte, die in
den Gleichungen implizit mit ausgedrückt werden. Manche Namen bezeichnen „a part of the consequence“ (LoF:35), andere „may include reflexions“ (LoF:36), und wieder andere , may indicate a crosstransposed form“ (ebd.).
Nach „We first find ... by J1“ (LoF:28) wird erst gezeigt, wie von dem Initial ausgehend durch Ersetzung der linke Term der Konsequenz errechnet wird. Anschließend wird von J2 ausgegangen unter „We next find ...“ (LoF:29). Ab „We then find ...“ (ebd.) wird gezeigt, dass das gewonnene Resultat des Austauschprozesses, der von J2 ausgegangen war, mit dem Resultat des ersten Prozesses äquivalent ist, usw.
144
Tatjana Schönwälder-Kuntze
5. Neun algebraische Folgerungen »Consequence 1. Reflexion“ (LoF:28):
al=
a
In Cl werden beide Austauschrichtungen ‚reflektieren‘ genannt, was sie zur
Ausnahme macht. Das deutet bereits an, dass ‚reflexion‘ in den Laws of Form
ein unterschiedsloses Hin- und Her meint und nicht etwa den philosophischen
Begriff der (Selbst-)Reflexion oder ähnliches.
(B) ‚Reflexion‘ heißt ‚Widerschein‘ und ‚Spiegelbild‘, aber auch ‚Überlegung‘, ‚Gedanke‘ und ‚to reflect‘ ‚zurückwerfen‘, ‚zum Ausdruck bringen‘; im lateinischen ,reflectere‘ ist auch ‚zurückbeugen‘, ‚drehen‘, ‚wenden‘, ‚abwenden‘ und ‚zurückdenken‘ gemeint.
(I) Das Doppelcross steht als formales Zeichen für die zusammen genommene, zweifache Absicht zur Grenzüberschreitung. Gleichgültig wofür die Variable steht — von der Seite, die sie bezeichnet, wird die zweifache Grenzüberschrei-
tung wieder zu ihr zurückführen, da es nur diese zwei Seiten gibt. So ist der Wert, den die Variable anzeigt, und der Wert, den sie zusammen mit dem Doppelcross anzeigt, derselbe. In „Consequence 2. Generation“ (LoF:32):
abl
= alb
wird ein Generierungsmuster sichtbar: Eine außerhalb eines ‚cross‘, d.h. in der Tiefe so stehende Variable kann nochmals in dem ‚cross’ stehen; sie kann also ohne Wertveranderung (nochmals) ,generiert’ werden. Von links nach rechts gelesen ,degeneriert das Gefüge, weil die Anzahl der Vorkommnisse der Variable abnimmt; von rechts nach links findet eine ‚Regenerierung‘ statt. Als Differenz zu Cl sei noch erwähnt, dass in C2 nur noch die Initialglei-
chungen manipuliert werden, während die beiden Regeln und damit auch T7 nur noch implizit durch die Verwendung von Cl zur Anwendung kommen, so dass es sich bei der Gleichung nur noch um eine Austauschschritte zusammenfassen-
de Folgerung handelt — das gilt für alle anschliessenden Folgerungen.
(SK) In den Notes wird auf Proklos (410-485), einen der letzten athenischen
Neuplatoniker, verwiesen. Es sei interessant zu sehen, dass die Transformatio-
nen dieser Folgerung unmittelbare Bilder dessen seien, was Proklos ,xp60û0c‘ in englischer Übersetzung ‚procession‘ und ‚eniotpoprj‘, d.h. ‚reversion‘ genannt habe (vgl. LoF:90). (D Die ‚demonstration‘ zeigt, dass nur noch ausgetauscht wird — es handelt sich also um eine allgemeine, algebraische Generierungsgleichung. Der Verweis auf
Proklos impliziert auch einen Verweis auf den Begriff ‚Emanation‘, der in sei>
Vgl. hierzu auch den Kommentar zum achten Kapitel.
III. Kommentar — Das sechste Kapitel: THE PRIMARY ALGEBRA
145
ner dialektischen Bewegung von Proklos herausgearbeitet wurde. Die dialektische Bewegung ergibt sich im Nachvollzug des Entstandenen und in der Rück-
führung auf seine Herkunft. Ein Gegenbegriff zu Emanation wäre die Evolution, die einen qualitativen Veränderungsprozess meint, während mit einem Emanati-
onsprozess zwar die Entwicklung ganz verschiedener Erscheinungsmöglichkeiten gemeint ist, die aber alle nur Ausdruck einer einzigen Qualität — eines Wer-
tes — sind.
„Consequence 3. Integration“ (LoF:32):
la=
|
zeigt die Möglichkeit, neben einem einzelnen ‚empty cross‘ eine Variable setzen
oder wegnehmen zu können. Von links nach rechts gelesen reduziert der Austausch; von rechts nach links gelesen vermehrt er das Gefüge um eine Variable. Da der Wert der Gefüge nicht von ihrer Belegung abhängig ist und sie immer auf den ‚marked state’ hinweisen, zählen sie zu den ‚integral expressions‘.
(D In C3 wird gezeigt, dass die arithmetische Regel des dominanten Ausdrucks
auch in der Algebra, d.h. für Variablen gilt: das ‚cross‘ integriert als Hinweis
mögliche andere Hinweise: wenn die Variable auch für ein ‚cross‘ steht, erge-
ben beide zusammen nach Il wieder ein ‚cross‘; steht sie für ein ‚void‘, bleibt das ‚cross‘, was es ist. „Consequence 4. Occultation“ (LoF:33): stellt eine Folgerung als ‚Verdunklung‘ rechts nach links ‚enthüllt‘ werden, dass entwickelt werden kann, in dessen Form Von rechts nach links gelesen, wird die ‚verborgen‘.
albla = a vor: Durch den Austausch kann von aus jeder Variable ein ganzes Gefüge noch weitere Variablen auftauchen. mögliche Komplexität einer Variable
(SK) Spencer Brown zieht dem Whiteheadschen Begriff ‚absorption‘ sein ‚occultation‘ vor: „The occulting part of the expression is not so much absorbed in
the remainder as eclipsed by it.“ (LoF:90).
»Consequence 5. Iteration“ (LoF:33): a = aa
zeigt, dass fiir die Variablen als Hinweise das gleiche Gesetz gilt wie fiir die Namen: die Wiederholung eines Namens ändert nichts am Wert, den er anzeigt. Damit zeigt C5 auch, dass Variablen Namen sind, wenn auch für einen unbestimmten Inhalt: sie sind Namen fiir Hinweise, die einen Wert haben oder an-
zeigen, sie bezeichnen, dass etwas einen Wert hat.
(B) Von links nach rechts gelesen heißt der Austausch ‚iterate‘, also ‚immer wieder sagen‘ oder ‚unermüdlich wiederholen‘; von rechts nach links gelesen ‚reiterate‘, also ebenfalls ‚wiederholen‘. Man könnte sagen, dass die ‚iterate‘-
146
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Richtung einfach zum wiederholten Male darauf hinweist, dass die Wiederholung eines Namens nichts an dem Inhalt, den er benennt, ändert, während die
umgekehrte Richtung dasselbe für die Wiederholung von Variablen ausdrückt.
Damit gehört diese ‚consequence‘ zu denjenigen, in deren Namen eine Reflexion steckt. „Consequence 6. Extension“ (LoF:33):
alblalbl
=a
ist wie C4 eine Folgerung, die zeigt, dass Variablen ganze Gefüge sein können,
d.h. dass für sie ganze Gefüge eingesetzt bzw. dass Variablen in ganze Gefüge umgeformt werden können. Von links nach rechts gelesen heißt der Austauschschritt ‚contract‘, er zieht also etwas zusammen; von rechts nach links ‚expand‘, d.h. ‚auseinanderziehen‘.
„Consequence 7. Echelon“ (LoF:34): alb | = acl bic! zeigt, dass ein ,gemischtes‘ Gefüge, d.h. ein Gefüge, dass sowohl , divisions‘ als auch ‚severances‘ enthält, auch zu einem geordneten Echelon, das nur noch ‚divisions‘ enthält, gemacht werden kann. Von links nach rechts gelesen, wird
das Echelon unterbrochen; von rechts nach links gelesen, wird es gemacht oder hervorgebracht. Durch den Namen von C7 wird also nur ein Teil der ‚consequence‘ benannt: die linke Seite.
(B) ‚Echelon‘ wird im Englischen eine Staffel(aufstellung) genannt. (I) Es geht hier um die Möglichkeit, eine geordnete Menge, ein geordnetes Hinter-, Neben- oder Nacheinander herzustellen, in dem so viele ‚Tiefen‘ hergestellt werden, wie verschiedene Variablen vorhanden sind. Andererseits kann aber
auch die Tiefe eines Ausdrucks oder Gefüges um eine Tiefe reduziert, d.h. um ein ‚cross‘ verringert werden.
„Consequence 8. Modified transposition“ (LoF:34):
albrlcrl
= alblcl 하대
ist, wie der Name sagt, eine Modifizierung der zweiten Initialgleichung. Die
Austauschrichtungen erhalten dieselben Namen wie in J2, d.h. von links nach rechts gelesen heißen sie ‚collect‘ und umgekehrt , distribute‘. (D) Im Unterschied zu J2 handelt es sich um eine größere Anzahl von Variablen und um eine Erweiterung der Versetzungsmöglichkeit: es kann nicht nur eine Variable aus einem Gefüge ‚ausgeklammert’ werden, sondern auch ein Teilgefüge.
Die letzte „Consequence 9. Crosstransposition“ (LoF:35):
bIrlalrIxIylyIrl
= blabl rxyl
III. Kommentar — Das sechste Kapitel: THE PRIMARY ALGEBRA
147
ist eine weitere Variation des zweiten Initials, und zwar in einer wiederum ande-
ren Form von Zusammenziehung distributiver Ersetzungs- bzw. Auflésungsschritte in einer algebraischen Gleichung. Von links nach rechts gelesen heißt der Austausch ,crosstranspose‘ oder ‚collect‘, von rechts nach links ebenfalls ‚crosstranspose‘ oder , distribute‘.
In den vorgestellten algebraischen Folgerungen werden verschiedene Austauschschritte, -wege und -richtungen zusammen gefasst in Gleichungen dargestellt. Die ,consequences‘ sind Muster, die sich aus der Verwendung der beiden
Initialgleichungen sowie der erlaubten Austauschschritte ergeben. Dass in den Folgerungen C2 bis C9 bereits andere, vorher vorgestellte Folgerungen benutzt werden, ist eine weitere Verkiirzung von Rechenschritten und -wegen. Dennoch
lieBen sich alle diese Folgerungen in ihren einzelnen Austauschschritten rekonstruieren, und durch die Belegung der Variablen ließe sich ihre arithmetische Gültigkeit aufzeigen.
Die Folgerungen der Algebra sagen demnach auch etwas über die Arithmetik: über Zusammenhänge in der Arithmetik, die für die Hinweisformen auf beide Seiten gelten. Sie entsprechen damit insofern den Theoremen der Arithmetik, als sie allgemeine Verkürzungsmuster der arithmetischen Rechenprozesse darstellen.
6. Äquivalenz sämtlicher Austauschschritte Mit den ‚consequences‘ ist eine weitere Komplexitätsstufe erreicht, es werden immer mehr Austauschschritte in einer einzigen Gleichung ‚zusammen gezogen‘ dargestellt, d.h. neben den in den Regeln festgelegten Austauschmöglich-
keiten von Variablen auch die in den Folgerungen sichtbar gemachte Aus-
tauschmöglichkeit von Gefügen: „We shed the labour of calculation by taking a
number of steps as one step.“ (LoF:36). Erlaubt ist das gemäß dem zweiten
Kanon: „contraction of reference“ (LoF:8), der die Benennung verschiedener Ausführungsanweisungen in einem einzigen Hinweis möglich macht, solange sie noch nachvollziehbar sind. Obwohl es sich einerseits um verschiedene Austauschschritte handelt, weil
der durch eine Folgerung erlaubte Austausch etwas anderes austauscht als Variablen — z.B. ganze Gefüge -, ist die Rede von einer Anzahl gleicher ‚steps‘
erstens angemessen, weil die Folgerungen selbst bereits eine Zusammenziehung äquivalenter Schritte darstellen. Zweitens sind die ‚steps‘ zwar verschieden in Bezug auf die Richtung, in der sie vollzogen werden; aber diese Verschiedenheit wird im — arithmetischen — Gleichheitszeichen zusammengezogen und damit auch im algebraischen Gleichheitszeichen kondensiert dargestellt. Betrachtet man die Austauschschritte an sich selbst, d.h. in Bezug auf ihren Wert, lässt sich sagen, dass jeder Schritt als Schritt in die gleiche Richtung den
gleichen Wert hat, sonst könnte nicht ihre Aquivalenz betrachtet werden: „thus if
148
Tatjana Schönwälder-Kuntze
we consider the equivalence of steps“ (LoF:36). Zwei Zeichen, die auf einen
äquivalenten Wert hinweisen, dürfen in einem Zeichen zusammengenommen
geschrieben werden (nach Kanon 2). Ebenso können zwei entgegengesetzte Austauschschritte so betrachtet werden, als wären sie nicht vollzogen worden.
Durch das Zusammenziehen äquivalenter Schritte zu einem Schritt kann es aber zu einer Inkonsistenz kommen, je nachdem, welche Schritte zusammen
gefasst werden,
d.h. mit welchem
zusammenfassenden
Austausch
begonnen
wird (vgl. LoF:36f). Deshalb folgt, dass in jeder Berechnung jede Anzahl von
Austauschschritten, „including zero“ (LoF:37), als Schritt betrachtet wird. Da das Zeichen für ‚steps‘ ein Name für einen Austauschschritt ist, der am Wert des Ausdrucks oder des Gefüges nichts ändert, kann auch ein dem ersten Schritt vorhergehender ‚nullter‘ Schritt theoretisch als Schritt betrachtet werden: die bloße Anzahl der Schritte ändert nichts, denn durch sie verändert sich der Wert des Gefüges oder Ausdrucks, (in dem) den sie austauschen nicht - sie sind also, wie alle Namen, beliebig oft verwendbar oder aufrufbar, ohne deshalb eine Wertveränderung zu indizieren.
7. Klassifikation der Folgerungen Die algebraische Betrachtung der Primären Arithmetik führt zu einer weiteren Klassifikation bzw. Unterscheidung von Ausdrücken: Ausdrücke des markierten
Zustandes heißen integral (m), weil sie ein ganzer, vollständiger und wesentlicher Hinweis sind — das trifft auf beide Seiten von C3 zu. Ausdrücke des unmarkierten Zustandes heißen hingegen disintegral (n) — das gilt für beide Seiten von J1. Diejenigen Ausdrücke, deren Wert von ihrer Variablenbelegung abhängig ist, sollen ‚consequencial expressions‘ genannt werden. Dazu zählen J2, Cl,
C2, C4, C5, C6, C8, C9. Ausblick:
Im siebten Kapitel werden vier algebraische Folgerungen verallgemeinert und
können daher als Theoreme formuliert werden. Sie beschreiben Eigenschaften des algebraischen Rechnens bzw. Austausches. Im achten Kapitel werden die Primäre Arithmetik als vollständiges Hinweissystem auf die zwei Seiten der ersten Unterscheidung und die Primäre Algebra als Hinweissystem auf die Hinweisformen, -arten und -prozesse der Primären Arithmetik unter verschiedenen Perspektiven in ihrem Zusammenhang betrachtet.
Das siebte Kapitel: THEOREMS OF THE SECOND ORDER
Tatjana Schönwälder-Kuntze
1. Titel
Der Titel bezieht sich auf eine zweite Art von Theoremen, auf a/gebraische Theoreme. Die algebraischen Theoreme explizieren die Einsicht, dass in bestimmten algebraischen Gefiigen bestimmte Teilausdriicke unbegrenzt erweiter-
bar bzw. Variablen und Operatoren auf hôchstens zwei reduzierbar sind. Das
Prädikat ‚order‘ bezeichnet in den Laws of Form die Notwendigkeit einer Reihenfolge: Während die arithmetischen Theoreme erster Ordnung bestimmte Eigenschaften der Hinweisformen bzw. -zeichen explizieren, die diesen dadurch
zukommen, dass sie Operanden in einem Austauschprozess sind, weisen die Theoreme zweiter Ordnung bereits reflexiv auf die Erweiterbarkeit bestimmter Austauschprozesse hin und damit auch auf die Erweiterbarkeit der Initialgleichung J2.
Da mit den algebraischen Gleichungen immer Gesetzmäßigkeiten ausge-
driickt werden, die nicht nur fiir beide Arten von Hinweisformen — inklusive der beiden arithmetischen Initialgleichungen — gelten, sondern auch und vor allem
fiir die Rechenprozesse selbst, in denen zunehmend von konkreten Werten und
Hinweisformen abgesehen werden kann, ergibt sich gleichsam eine natiirliche
Reihenfolge in der Explikation. So könnte auch gesagt werden, dass die Theo-
reme erster Ordnung, d.h. die der Primären Arithmetik, bestimmte Muster, die sich im geregelten Austausch von Hinweisen an den Hinweisen ergeben, explizit machen, während die Theoreme zweiter Ordnung allgemeine Muster betref-
fen, die Eigenschaften der Austauschprozesse selbst sowie der im algebraischen
Austausch verwendeten algebraischen Zeichen darstellen. 2. Inhalt
Der Inhalt des siebten Kapitels besteht in der Formulierung sechs algebraischer Theoreme, wobei die Theoreme 10 bis 12 bestimmte Eigenschaften derjenigen
Gleichungen verallgemeinern, die Variationen der distributiven ‚form of transposition‘ darstellen: die Initialgleichung J2 und die beiden Folgerungen C8
und C9. Die Verallgemeinerung besteht darin, ihren Geltungsbereich zu erweitern, d.h. die erlaubten Umsetzungsmôglichkeiten auf formverschiedene Gefüge auszudehnen. Theorem 13 expliziert eine Eigenschaft der generierenden Folge-
rung C2, und die Theoreme 14 und 15 formulieren zwei Muster in Bezug auf die
150
Tatjana Schénwalder-Kuntze
verwendeten algebraischen formvariablen Operanden bzw. den formkonstanten Operator.
Die Theoreme
10-13 tragen keine eigenen Namen, weil sie keine neuen
Muster offen legen, sondern nur verallgemeinernde Erweiterungen bzw. Zu-
sammenziehungen an bereits aufgedeckten Mustern darstellen. Deshalb können die Namen der erweiterten Gleichungen auf diese Theoreme übertragen werden (vgl. LoF:40).
3. Drei distributive Theoreme
Die folgenden drei Theoreme verallgemeinern bestimmte Aspekte der ‚conse-
quences‘ und dehnen so den Geltungs- bzw. Anwendungsbereich der dargestellten Aquivalenzen aus. So wird in „Theorem 10“: albl..lr = arlbrl... (LoF:38) expliziert, dass die Umsetzungsmöglichkeit einer Variable, die mit der Initialgleichung J2 ausgedrückt wird, nicht nur für zwei Teilgefüge bzw. Teilräume gilt, sondern für jede Anzahl von Teilgefügen oder -räumen mit der gleichen Tiefe s,. in einem Raum der Tiefe s..ı.
Mit „Theorem 11“: albrlcrl.…|
=
alblcl...lalrll (LoF:39) wird gezeigt, dass
die Verallgemeinerung in T 10 auch für C 8 gilt, d.h. dass auch die ‚modifizierte Umsetzung‘ für jede Anzahl von Teilräumen mit der Tiefe Snr2 möglich ist. Das gleiche gilt für „Theorem 12“:
bite]
= Tab.
(ebd.) nur in Bezug auf C 9, also auf die ,kreuzweise Umsetzung‘ von Teilaus-
drücken.
Für alle drei Theoreme gilt gleichermaßen, dass die Anzahl formverschiedener Variablen, die nicht versetzt werden, parallel zur Anzahl der neuen (Teil-)
Räume oder Teilgefüge steigt, in denen diese Variablen stehen.
In den formalen Darstellungsformen der Theoreme werden somit verschiedene Austauschschritte und -wege in verschiedene Richtungen zusammengezogen dargelegt:
(1) Erstens implizieren die Gleichungen die Generierung weiterer Teilausdrücke oder Räume in einem Gefüge, d.h. die Vermehrung von algebraischen
‚crosses‘, inklusive algebraischer Variablen, die zwar von unbekanntem Wert sind, aber immer auf einen der beiden arithmetischen Werte verweisen, d.h.
durch einen Haken oder einen leeren Ausdruck ersetzt werden können. (2) Zweitens verweisen die Gleichungen auf die Versetzungsmöglichkeit von Variablen, die sich ursprünglich an einem Resultat des arithmetischen Austau-
sches gezeigt hat, d.i. in T9. Der zweifache Austausch erzeugt äquivalente, aber formverschiedene Ausdrücke.
III. Kommentar — Das siebte Kapitel: THEOREMS OF THE SECOND ORDER
15]
(3) Durch die Aquivalenz der beiden Gefüge wird die Versetzungsmöglich-
keit der Variablen sichtbar und so auch der Austausch der Gefüge selbst mög-
lich. Als Initial J2 der Primären Algebra wird T9 zur Austauschbasis algebraischen Rechnens, dessen Resultate in den ‚consequences‘ dargestellt werden. (4) In diesen Gleichungen stecken bereits wieder verschiedene Rechenschrit-
te und -wege, da sie Resultate einer Folgerung sind. Die zwei weiteren gefolgerten Versetzungsvariationen C8 und C9 bilden
schließlich zusammen mit J2 die Basis für die Erweiterung der Distributionsbzw. Kollektivierungs- oder Einklammerungs- bzw. Ausklammerungsmöglichkeiten von Variablen in solchen Gefügen.
(SK) In den Notes zum vierten Kapitel wird darauf hingewiesen, dass sich an T9 die unterschiedliche Bedeutung der Begriffe ‚division‘ auf der einen Seite und ‚cleavage‘ oder ‚severance‘ auf der anderen Seite zeige (vgl. LoF:87). Während eine Teilung im Sinne einer ‚division‘ eine quantitative Veränderung meint, die z.B. der wiederholten Namensnennung entspricht oder der ‚number‘, d.h. eine Anzahl vieler Gleichartiger meint, ist mit ‚cleavage‘ eine Unterscheidung im Sinne der ersten Unterscheidung, d.h. eine qualitative Spaltung gemeint. (D An den drei distributiven algebraischen Theoremen, die alle eine verallgemeinerte Variation des neunten arithmetischen Theorems darstellen, zeigt sich zunächst, dass die Anzahl der (Teil-)Räume mit der Tiefe Sa in einem Raum mit der Tiefe s,., irrelevant ist für den Wert, auf den das Gefüge hinweist. Die Division eines Gefügeraumes, der die Tiefe Snri hat, kann so unbegrenzt fortgesetzt werden, ohne dass sich etwas am Wert des gesamten Gefüges veränderte. Die Division eines Raumes entspricht somit nur der Erweiterung möglicher
Teilausdrücke und damit einer einfachen arithmetischen Zeichengenerierung innerhalb eines algebraischen Gefüges, und das unabhängig von der Belegung
der Variable, die in dem Raum steht. Für Gefüge, die in der gleichen Tiefe stehen, gilt, dass sie nur quantitative
Teilungen des Raumes darstellen und keine qualitativen — deshalb gilt für sie das gleiche Gesetz wie für die Namen: Ihre Wiederholung ändert nichts daran, worauf sie ein Hinweis sind und somit verändert sich auch der Wert des Ausdrucks bei beliebiger Wiederholung nicht. Die Theoreme
10-12 sind neben dem distributiven Austauschmuster,
das sie
explizieren und verallgemeinern, auch ein impliziter Hinweis auf sämtliche Austauschvorgänge, die zu ihnen geführt haben. In dieser Hinsicht sind sie zusammenziehende und -gezogene Prozessreferenzen. Das gilt in gleichem Maße für die folgenden drei Theoreme zweiter Ordnung, auch wenn sie andere Teilaspekte des algebraischen Rechenprozesses und seiner Möglichkeiten explizieren.
152
Tatjana Schônwälder-Kuntze
4. Das algebraische Generierungstheorem
。Theorem 13“:
~clblalg
=
—clblal ge
(LoF:39) verallgemeinert
C2, d.h. die Generierungsmöglichkeit identischer Variablen in einem Gefüge. Es besagt, dass die Generierung einer Variable, d.h. ihre Wiederholung in dem ‚cross’, neben dem sie bereits steht, nicht nur für das nächste links stehende ,cross’ gilt, sondern für alle ‚crosses‘ jeder Tiefe, sofern diese nicht geringer ist als die Tiefe, in der die Variable zunächst auftaucht. Eine identische Variable kann also beliebig tief in einem Gefüge reproduziert werden, und wie der Beweis zeigt, auch beliebig oft, d.h. sie könnte theoretisch in allen oder auch nur in einigen Tiefen generiert werden.
Die drei distributiven Theoreme und das algebraische Generierungstheorem sind Theoreme, die den Geltungsbereich einer ‚consequence‘ verallgemeinern, indem sie ihn erweitern oder ausdehnen im Sinne des fünften Kanon:
‚Expansion of
reference‘. Die folgenden zwei Theoreme formulieren hingegen Eigenschaften, die von der Art sind, wie sie im zweiten Kanon angesprochen wird, denn es geht um eine ‚contraction of reference‘. 5. Zwei kanonische Theoreme
Die folgenden zwei Theoreme haben die Besonderheit, zugleich Kanones zu formulieren. Ein Kanon legt bestimmte Bedeutungen und Verwendungsregeln
fest, wie beispielsweise der erste Kanon festlegt, dass alles, was nicht explizit
erlaubt wird, verboten bleibt. Oder wie der dritte das Zusammenziehen von Anweisungen in einer einzigen Anweisung erlaubt; oder wie der fünfte Kanon
die mögliche Ausdehnung von Referenzen durch Division gestattet. Kanones
formulieren gleichsam ‚von außen‘ bestimmte Prozessmöglichkeiten und erlau-
ben damit die Verwendung dieser Möglichkeiten: „A canon bears the distinction of being outside (i.e. describing). ... A canon is an order ... to commit or allow, but not to construct or create.“ (LoF:89). Die folgenden Theoreme T14 und T15
sind Kanones, weil sie eine latente Möglichkeit des Austauschprozesses explizieren und zugleich eine neue Art von Austausch erlauben.
„Iheorem 14. Canon with respect to the constant“ (LoF:40) expliziert, dass von jedem Ausdruck oder jedem Gefüge — mit einer beliebigen Anzahl von Konstanten, also ,crosses‘ — ein Ausdruck oder ein Gefüge mit einer max. Tiefe Sn+2
abgeleitet werden kann. Dass bei der Ableitung Gefüge mit einer max. Tiefe von zwei ,crosses‘ entstehen, heißt, dass entweder eins, zwei oder kein ‚cross‘
übrig bleiben. In der Arithmetik ist erlaubt worden, den Hinweis ‚cross‘ geregelt zu erweitern und beliebig tief verschachtelte Ausdrücke zu bauen. Jetzt wird die Umkehrung der Expansionsregel als algebraisches Theorem formuliert. Da die Vertie-
III. Kommentar — Das siebte Kapitel: THEOREMS OF THE SECOND ORDER
153
fung eines Ausdrucks urspriinglich tiber das arithmetische Vervielfaltigen von
Ausdrücken möglich ist — mit I2 —, muss natürlich auch die Reduzierung der Tiefe, also die Umkehrung dieses Austausches möglich sein — wenn auch der
Beweis in der Algebra über die Möglichkeit zur Tiefenreduzierung, die in C7
gezeigt wird, gehen muss.
„Iheorem 15. Canon with respect to a variable“ (LoF:41) expliziert eine Möglichkeit der Reduktion für die Anzahl von Variablen: Aus jedem Ausdruck oder
Gefüge — mit beliebig vielen Variablen — kann ein Ausdruck abgeleitet werden, in dem von jeder Variablenform max. zwei vorkommen.
Die Theoreme 14 und 15 explizieren eine allgemeine Eigenschaft von algebrai-
schen Ausdrücken oder Gefügen: Zu jedem Ausdruck gibt es einen äquivalenten Ausdruck, bei dem sowohl die Anzahl identischer Variablen als auch die Tiefe
des Gefüges auf zwei reduziert werden kann.' Im Umkehrschluss explizieren die beiden Theoreme, dass jedes algebraische ‚cross‘ und ‚Doppelcross‘ in einem Gefüge immer auch einen Hinweis auf jede äquivalente Anzahl von ‚crosses‘ darstellt, und dass jede zweimal vorkommende Variable potentiell für jede Anzahl identischer Variablen stehen könnte — was aber an dieser Stelle implizit bleibt. Rück- und Ausblick:
Mit diesem siebten Kapitel ist die Genese der Primären Algebra in den Zaws of Form abgeschlossen: Es wurden verschiedene, mögliche und d.h. generierbare und darstellbare Zusammenhänge zwischen einzelnen Ausdrücken vorgeführt und ihr Hervorgehen aus der primären Arithmetik gezeigt. Das folgende achte
Kapitel beschreibt den Zusammenhang der beiden Kalküle nicht in Bezug auf ihren inneren, genealogischen Zusammenhang, sondern aus einer (Außen-) Perspektive, die sie auch als zwei Seiten einer Unterscheidung erscheinen lässt.
'
Diese äquivalenten Ausdrücke werden im neunten Kapitel (LoF:51) ihre ‚kanonische Form‘ genannt — so lässt sich der Name der Theoreme noch auf eine zweite Weise motivieren.
Das achte Kapitel: RE-UNITING THE TWO ORDERS Tatjana Schönwälder-Kuntze
1. Titel
Mit dem Titel ,Wiedervereinigung der zwei Ordnungen‘ wird zum einen auf einen wiedervereinigenden Akt hingewiesen und zum anderen auf dasjenige, das wieder vereinigt werden soll. ,Order‘ ist im dritten Kapitel als gemeinsame Bezeichnung für die Hinweisarten bestimmt worden, mit denen durch eine Wiederholung des Hinweises auf die andere, zweite Seite hingewiesen werden kann,
wodurch die Reihenfolge der abgegebenen Hinweise relevant wird. In diesem Kapitel sind mit ‚order‘ Eigenschaften
verschiedener Austauschprozesse
ge-
meint, die in den Laws of Form nur nacheinander entdeckt und expliziert werden konnten, und die hier wieder zusammen in den Blick genommen werden.
Dabei handelt es sich um Prozesse, die in der Primären Arithmetik stattfinden;
um Prozesse, die sowohl als Rechenvorgänge der Primären Arithmetik als auch
der Primären Algebra gesehen werden können und um Prozesse, die ausschließlich in der Primären Algebra vorkommen. Die Eigenschaften oder Muster dieser Prozesse werden wieder vereinigt, indem beide Kalküle zusammen betrachtet werden und nicht etwa, indem die
Grenze zwischen ihnen aufgehoben würde. ‚Wiedervereinigung‘ meint Grenz-
überschreitung, meint die Betrachtung der gemeinsamen Grenze, der „shared boundary“ (LoF:94), meint eine (gedankliche) Hin- und Herbewegung zwischen
zwei Unterschiedenen, durch die aber gerade die beiden Kalkülen gemeinsamen
Elemente oder Strukturen sichtbar gemacht werden können. 2. Inhalt
Der erste Abschnitt des achten Kapitels ist der wiedervereinigenden Hin- und Herbewegung gewidmet, die Reflexion zwischen einem Inhalt und (s)einem Bild genannt wird. Es wird expliziert, was wir (gedanklich) tun, wenn wir Gemeinsamkeiten in Unterschiedenem suchen, wenn wir wiedervereinigen. Mit dem zweiten Abschnitt ‚Anzeigender Raum‘ wird die ‚Reichweite‘ des
Wertes eines Ausdrucks bestimmt und die Position des Bewertenden in Bezug auf den Ausdruck. Zudem wird hier ein Beispiel für ein wiedervereinigendes
Tun gegeben: einen Ausdruck zu bewerten bedeutet immer auch einen algebraischen Ausdruck (wieder) arithmetisch zu betrachten. Anschließend werden für
Eigenschaften, die Ausdrücken in beiden Kalkülen zukommen, das Relevanz-
II. Kommentar — Das achte Kapitel: RE-UNITING THE TWO ORDERS
155
prinzip als Kanon formuliert sowie beiden Kalkülen gemeinsame Prozesse vorgestellt, die, je nach Kalkül, eine andere Funktion einnehmen und daher auch
einen anderen Namen tragen: Theoreme und Folgerungen sowie Beweise und ‚demonstrations‘.
Das abschließende Brückentheorem formuliert eine weitere Eigenschaft al-
gebraischer Gleichungen. Das in einem Kanon formulierte Transmissionsprinzip, das bereits die aus der Bewertung resultierende Übertragung eines Wertes in den Raum hinein, in dem der Ausdruck steht, verwendet, weist schließlich vorbereitend auf das elfte Kapitel und damit auf das ,Re-entry‘ als weitere, andere
Ordnung hin.
3. ‚Inhalt‘, ‚Bild‘ und ,Reflexion' Das achte Kapitel beginnt mit einer Zwischenüberschrift, die aus den drei Namen ‚content‘, ‚image‘ und ‚reflexion‘ besteht. Diese werden folgendermaßen
formalisiert: Für jeden Ausdruck e soll e Inhalt, el Abbild und ellReflexion genannt werden. Der darauf folgende Textabschnitt bestimmt, in welchem Ver-
hältnis die drei Begriffe zueinander stehen und was mit ihnen gemeint ist.
Mit ‚Inhalt‘ ist hier derjenige Raum gemeint, in dem der Ausdruck e steht — und
nicht der Raum, der von dem Ausdruck e umfasst wird. Der Raum, in dem ein Ausdruck steht, wird durch den Ausdruck markiert. Dieser Raum, in dem der Ausdruck als Markierung steht, wird also nicht durch den Ausdruck begrenzt,
gebildet, gestaltet oder geformt (shaping), sondern der Ausdruck markiert den
Rauminhalt, macht ihn zu einem Raum, der eine Markierung enthält. Um den Inhalt selbst abzubilden, bedarf es einer anderen, seinen Raum limitierenden Grenze, die den Inhalt als diesen markierten Rauminhalt abbildet. Das ‚Abbild‘ eines Inhaltes besteht demnach aus dem (s)eine Markierung umgebenden Raum und einer Grenze, die diesen Inhalts-Raum abschließt, als die „boundary sur-
rounding it and shaping another form.“ (LoF:42).
(I) Welche Art von Begrenzung hier gemeint ist, ist aus dem Text nicht ersicht-
lich. Da wir uns nach wir vor auf der basalen Ebene der ersten Unterscheidung befinden, meint die Grenze, mit der der Rauminhalt abgebildet werden kann, jede Art von Grenze: eine gedankliche Grenze, die beispielsweise einen Geltungsbereich von einem anderen unterscheidet, eine lokale Grenze, eine funkti-
onale Grenze etc. Festgelegt wird hier nur, dass das Abbild eines Inhalts nicht nur aus dem Inhalt, sondern eben auch aus der den Inhalt abgrenzenden Grenze besteht. Und festgelegt wird auch, dass es sich um die Grenze zwischen einem
Inhalt und seinem Abbild handelt.
(B) ‚Image‘ heißt ‚Bild‘, ‚Standbild‘, ‚Ebenbild‘, ‚Abbild‘, aber auch , Vorstel-
lung‘. Als Verb kann es zudem als ‚widerspiegeln‘ oder ‚anschaulich schildern‘
156
Tatjana Schönwälder-Kuntze
verwendet werden. Das lateinische ‚imago‘ bedeutet noch ‚Schatten‘, ‚Schemen‘, ‚Iraumbild‘, ‚Metapher‘ und ,Gleichnis‘; aber auch ‚Trugbild‘ und ,Erscheinung‘ sowie ‚Vorstellung‘, ‚Gedanke‘ und ‚Einbildung‘. (I) Betrachtet man die Bedeutungen des verwendeten Begriffes, dann scheint es sich weniger um eine ‚äußere Begrenzung‘ des Inhalts zu handeln und auch
nicht um eine formgebende Bestimmung, sondern vielmehr um das Hervorhe-
ben dessen, was den Inhalt zum Inhalt macht: der Ausdruck macht den Inhalt eben zum markierten Raum, und die Grenze hebt hervor, welcher Raum so markiert worden ist. Eine Rekapitulation der unterschiedlichen Verwendungen des Begriffes ‚Inhalt‘ in den Laws of Form zeigt zwei Bedeutungen: Mit ‚Inhalt‘ (content) werden im ersten Kapitel zunächst einfach die beiden Seiten bezeichnet, denen als
unterschiedene Inhalte verschiedene Werte zugesprochen werden, auf die dann durch Namen oder die (zweifache) Absicht zur Grenzüberschreitung hingewiesen werden kann. Im zweiten Kapitel wird ‚Inhalt‘ sowohl für die zwei Seiten der ersten Unterscheidung verwendet als auch für beide zusammen, denn unter
‚Form‘ taucht ‚Inhalt‘ wieder mit dem Prädikat ‚entire‘ versehen auf (vgl. LoF:4). Hier meint ‚Inhalt‘ beide unterschiedenen Inhalte zusammen, weil sie
als die zwei Seiten einer Form gedacht werden, d.h. zusammen unter einem
‚unwritten cross‘ stehen. Mit ‚Inhalt‘ werden also zwei verschiedene Arten von
Inhalten bezeichnet: nur die Inhalte der jeweiligen Seiten oder aber beide zusammen genommen als gesamter, aber in sich unterschiedener Inhalt der Form der Unterscheidung.
Ein ‚Inhalt‘ und sein ‚Abbild‘ könnten also als die zwei unterschiedenen Seiten einer Unterscheidung gedacht werden, die zusammen ihre Form bilden. Allerdings sei davor gewarnt, sich das nur räumlich vorzustellen, wie in dem
Kreisbeispiel, in dem sich der eine Inhalt vom anderen dadurch unterscheidet,
dass der eine Inhalt von der Grenze umschlossen wird und der andere den durch den Kreis markierten — in diesem Falle einen ,bekreisten‘ — Raum darstellt. Ein
Inhaltsraum kann auch eine funktionale Grenze haben, und die Abbildung dieses Raumes bestünde dann gerade darin, diese den Inhalt zu einem Inhalt machende Funktion anzugeben — wie beispielsweise das Abbild ‚menschlicher Kreislauf“
den Inhalt nach seiner Funktion begrenzt und nicht nach räumlichen Kriterien. Die Form der Unterscheidung, die aus Inhalt und Abbild geschaffen wird, be-
stünde hier darin, bestimmte Zusammenhänge im menschlichen Körper zusam-
menzufassen und diese als ‚Kreislauf‘ abzubilden.
Wenn wir noch mal das Beispiel aus dem ersten Kapitel nehmen, dann heißt
das, dass der Inhalt des Kreises erst als Kreisinhalt sichtbar wird, wenn wir auf die ihn umgebende Grenze, die seine Form ‚shaped‘, schauen. Eine Markierung
im Kreis weist auf den Inhalt des Kreises, also auf das Innere hin. Der Inhalt
eines Kreises ist also der Raum, in dem die Markierung steht; das Abbild dieses
III. Kommentar — Das achte Kapitel: RE-UNITING THE TWO ORDERS
157
Inhalts ist ein Kreis, der zugleich die abstrakte Beschreibung oder Struktur darstellt, die einen Inhalt einen Kreis sein lässt.
(B) Zu ‚Reflexion‘ vgl. die etymologischen Hinweise im Kommentar zum sechsten Kapitel. Weil — nach Cl - die Reflexion und ihr Inhalt äquivalent sind, ist „the act of
reflexion ... a return from an image to its content or from a content to its image.“ (ebd. Hvhb. T.S.). Reflexion ist demnach nicht die einfache Bewegung
von einem Inhalt zu seinem Abbild oder umgekehrt, sondern mit Reflexion ist bereits die Wiederholung, die Rückkehr gemeint, also eine sukzessive Bewegung in beide Richtungen, ein Hin und Her, gleichgültig von wo aus der Anfang genommen wird. In der Grafik (LoF:42) fordern die ‚crosses‘ zwischen den Begriffen ‚Inhalt‘ und ‚Abbild‘ dazu auf, die Grenze einmal in die Richtung des Abbildes und dann
wieder in die Richtung des Inhalts zu überschreiten. Die Grafik stellt aber keine
immer anderen, neuen Inhalte und Abbilder dar, sondern versucht, die gedankliche Bewegung zwischen einem Inhalt und seinem Abbild einzufangen. Die hier Sukzession genannte Bewegung bezeichnet also keine Erweiterung und keinen
unaufhaltsamen Reflexionsfortschritt, sondern mit ihr ist die reflektierende Hin-
und Herbewegung gemeint, die bei der Betrachtung eines Inhaltes und seines Abbildes stattfindet. Der Reflexionsakt nimmt also einen Inhalt und sein Abbild zugleich in den Blick, d.h. der Inhalt der einen Seite (und zugleich der ganze Inhalt) wird in seiner Form beschrieben: ,,Thus in describing a form we find a
succession“ (ebd.). Wichtig ist festzuhalten, dass mit Reflexion hier kein Fortschritt ad infinitum
gemeint ist, sondern die Bewegung von einem Inhalt zu seinem Abbild in einer Form der Unterscheidung. Reflexion meint eine zweifache Grenzüberschrei-
tung, die wieder dahin zurückführt, woher sie gekommen ist, die von einem Ausdruck (in seinem Inhaltsraum) aus seine ihn umgebende Grenze überschreitet und wieder zurücküberschreitet.
Die hier vorgestellte Verwendung des Reflexionsbegriffes unterscheidet sich wesentlich von den meisten Verwendungen in der Philosophiegeschichte: Dort wird unter Reflexion meistens die — mit Hegel ‚schlecht unendlich‘ genannte — sich selbst zum Objekt machende Reflexion im Selbsterkenntnisakt verstanden, der unter einer erkenntnistheoretischen Fragestellung zur Erzeugung eines unendlichen Regresses im Denken führen kann: Welches Bewusstsein erkennt? — Dasjenige, das in einem weiteren Reflexionsakt erkannt werden kann. Und welches Bewusstsein erkennt dann dieses? etc. Die potentiell in der Reflexionsbewegung enthaltene Unendlichkeit kann sich aber auf die Wiederholungsmöglichket der Hin- und Herbewegung zwischen zwei Inhalten (Inhalt und sein Abbild) beziehen — wie in den Laws of Form - oder eben auf unendlich generierbare, neue Inhalte, die durch die Thematisierung des impliziten Kontextes immer neue Formen entstehen lassen. Diese Art unendlichen Pro- oder Regresses im Denken meint Spencer Browns Reflexion nicht.
158
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Dargestellt oder abgebildet wird diese grenziiberschreitende, raumverlassende Bewegung durch ein ‚cross‘ über dem Ausdruck. Der so entstandene neue Ausdruck ist gleichzeitig ein Abbild des ganzen Raumes, in dem der Ausdruck steht. Die Rücküberschreitung wird dargestellt durch ein Doppelcross über dem
Ausdruck — der so neu entstandene Ausdruck zeigt den ursprünglichen Ausdruck, seinen Inhalt, sein Abbild und seine Reflexion an. Die doppelte Grenzüberschreitung stellt C1 in der Algebra formal dar: Ein reflektierter Ausdruck verweist auf den gleichen Inhalt wie der Ausdruck selbst, d.h. dass ein ‚token’ unter einem Doppelcross sowohl an sich selbst auf einen unterschiedenen Inhalt einer Form der Unterscheidung hinweist als auch auf die Reflexionsbewegung
zwischen ihren beiden Seiten — beide Ausdrücke weisen auf ein und denselben Wert, aber nicht auf denselben Inhalt hin. So zeigt sich, dass das achte Kapitel ebenso wie Cl eine Variation bzw. eine Anwendung des zweiten Axioms ist.
Der folgende Abschnitt in den Zaws of
Form benennt einen besonderen Raum:
Der Inhalt, der von dem Ausdruck e angezeigt wird, ist ein Raum der Tiefe So,
oder anders formuliert: ein Raum der Tiefe so ist der e durchdringende Raum.’ Während
im vorhergehenden Abschnitt das Verhältnis von einem markierten
Inhalt und seinem Abbild expliziert wurde, geht es im folgenden Abschnitt
darum zu bestimmen, dass der Wert ‚markiert‘, der mit der Markierung verliehen wird, sich auf den Raum überträgt, in dem der Ausdruck steht. 4. Der anzeigende Raum Im Text heißt es: Wenn 50 der durchdringende Raum des Ausdrucks e ist, dann ist der Wert von e sein Wert bezogen auf oder für So 一 ‚the value 01 is its value to so‘. Wenn der Ausdruck e der einzige Ausdruck in so ist, dann (über)nimmt So den Wert von e und wirkönnen 50 den e anzeigenden Raum nennen (vgl. LoF:42).
Indem wir e bewerten, imaginieren wir uns — oder stellen wir uns — uns
selbst zusammen mit e in s, vor und somit umgeben von dem ungeschriebenen ‚cross‘, das die Grenze zu (einem Raum der Tiefe) s.; ist.
(I) Der anzeigende Raum eines Ausdrucks e ist der den Ausdruck e durchdringende Raum und d.h., so ist sein Inhalt oder der Raum, in dem e steht. Der Wert von So ist derselbe, wie der Wert des Ausdruckes e, wenn er der einzige Ausdruck im Raum ist, da dieser ja auf den Wert des Inhalts hinweist. Ein Inhalt ‚erhält‘ so den gleichen Wert wie der Ausdruck, der in ihm steht. Der zitierte
2
‚Pervasive space‘ wird im zweiten Kapitel (LoF:7) der Raum genannt, der so und alle tieferen Räume beinhaltet, also der Raum, in dem das Arrangement bzw. der Ausdruck steht. Vgl. den Kommentar zum zweiten Kapitel.
III. Kommentar — Das achte Kapitel: RE-UNITING THE TWO ORDERS
159
Satz hat zwei Teile, die als Implikation formuliert sind: ,indem wir das erste tun,
passiert unmittelbar das zweite‘:
‚Indem wir e bewerten ...‘ heißt, indem wir den Wert von e auf So übertragen
und so seinen Raum so den Wert von e haben und anzeigen lassen, ,... imaginie-
ren wir uns oder stellen wir uns uns selbst zusammen mit e in So vor“ heißt, dass
wir keine Unterscheidung treffen zwischen uns und dem Ausdruck e.
Im zweiten Kapitel wird mit dem Buchstaben s der Raum benannt, in dem ein Ausdruck steht. Die Tiefe eines Ausdrucks wird durch einen Index angezeigt und meint die Anzahl der ‚crosses‘, die überschritten werden müssen, um von seinem innersten Raum zu dem Raum zu gelangen, in dem der Ausdruck steht.’ Der Index -1 kann also nicht den Raum meinen, in dem der Ausdruck steht, denn dieser trägt den Index 0. Also ist mit s., der Raum gemeint, der jenseits des Raumes steht, in dem der Ausdruck — und wir selbst — stehen. Wenn es nun im Text heißt, dass wir uns uns mit dem Ausdruck in Sp vorstellen, dann bedeutet das, dass wir keinen Unterschied herstellen zwischen uns und
dem Ausdruck, dass wir hier keine Unterscheidung treffen. Selbst auf diese imaginierte Weise ins Spiel kommen, heißt also keinesfalls, uns selbst als Beobachtende oder als Reflektierende in einem eigenen, unterschiedenen Raum oder Ort oder ähnlichem zu betrachten.“
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der erste Textabschnitt allgemein das
Verhältnis eines Inhalts zu seinem Abbild als Grenze zwischen ihnen, in ihrer (beider) Form vorstellt. Reflexion ist hier die Bezeichnung für den grenzüber-
schreitenden (gedanklichen) Akt in beide Richtungen, mit dem die Form in den
Blick genommen werden kann. Der zweite Textabschnitt behandelt die ‚Reichweite‘ eines Wertes, den ein Ausdruck hat: Diese soll auch dem Raum, in dem er steht, seinen Wert verleihen, und das bedeutet, dass sein Raum auf den Inhalt beschränkt ist und nicht das Abbild umfasst — diese Festlegung wird später für das Transmissionsprinzip gebraucht. Im zweiten Abschnitt wird aber auch deut-
lich, dass wir als Betrachtende keineswegs in einem Abbildverhältnis zu den
Vgl. LoF:7 sowie den Kommentar zum zweiten Kapitel. Diese Implikation könnte im Kontext der Laws of Form interpretiert werden als ‚Indem wir dem
algebraischen Ausdruck e den einen oder den anderen arithmetischen, konkreten Wert zuordnen oder zuschreiben, versetzen wir uns in den arithmetischen Regelraum‘. Die gedankliche Bewegung, die wir vollziehen, wenn wir einen algebraischen Ausdruck arithmetisch bewerten, entspricht einer Überschreitung der Grenze zwischen der Primären Algebra und der Primären Arithmetik, da die konkreten arithmetischen Werte für die Austauschprozesse, die die Algebra ausmachen, nicht (mehr) relevant sind. Wir verlassen also mit dem Akt der Bewertung den algebraischen ‚Raum‘ und bewegen uns gedanklich (wieder) im arıthmetischen ‚Raum‘ der konkreten Werte. Wenn wir in einer zurückkehrenden Bewegung den Ausdruck e wieder von unbekanntem Wert sein ließen, d.h. ihn wieder als algebraischen Ausdruck betrachteten, verließen wir den arithmetischen Raum gedanklich wieder und bewegten uns erneut im algebraischen Raum.
160
Tatjana Schénwalder-Kuntze
Inhalten stehen, die wir betrachten, sondern dass wir zwischen uns und dem
Inhalt keine Grenze ziehen. Die Begriffe ,Inhalt‘ und ,Abbild‘ werden stattdessen im unmittelbar folgenden Textverlauf des achten Kapitels explizit auf verschiedene Teile oder Prozesse der Primären Arithmetik und der Primären Al-
gebra angewendet — und nicht etwa auf das Verhältnis zwischen uns und dem Kalkül. Die Rede von ,,the calculus of indications“ (LoF:43) meint hier beide
Kalkiile zusammen. Zuvor wird noch das Relevanzprinzip formuliert. 5. Das Relevanzprinzip
Der siebte Kanon erlaubt, dass auf Eigenschaften, die allen Hinweisen gemein-
sam sind, nicht eigens hingewiesen werden muss. Als Beispiele werden das
jeden
Ausdruck
oder jeden
,anzeigenden
Raum‘
So umgebende,
‚unwritten
cross‘ und der rezessive Wert genannt, der in jedem Ausdruck immer hinzugefügt werden kônnte, ohne etwas am Wert des Ausdrucks zu verändern. 6. ‚Inhalte’und ,Abbilder’ in der Primären Arithmetik, in der Primären Algebra und in beiden zusammen
Die Begriffe ‚Inhalt‘ und ‚Abbild‘ werden mit folgenden Prozessarten hung gesetzt: „In the form of any calculus, we find the consequences tent and the theorems in its image.“ (LoF:43). Als Beispiel wird eine sche ‚consequence‘ herangezogen, die auch ‚demonstriert‘, d.h. durch
Ersetzungsschritte nach Il und I2 vorgeführt wird.”
in Beziein its conarithmetiregelhafte
Diese Folgerung ist aber zugleich ein konkreter Fall des ein allgemeines
Muster formulierenden Theorems T2, welches besagt, dass jeder Raum, in dem
ein ‚empty cross‘ steht, den markierten Zustand anzeigt. So kann man sagen,
dass T2 das Abbild dieser arithmetischen Folgerung ist, insofern T2 eine Regel, eine Struktur ausspricht, unter die diese Folgerung fällt. Ein abstraktes arithmetisches Theorem lässt sich also auch als konkrete arithmetische Folgerung lesen und vice versa: „T2 is a statement that all expressions of a certain kind, which it
de-scribes without enumeration ... indicate the marked state. Its proof may be regarded as a simultaneous demonstration ... of all the ...expressions it describes.” (LoF:43). Das Theorem findet sich als allgemeine, für alle Folgerungen geltende Struktur im Abbild; die möglichen konkreten Folgerungen finden sich im Inhalt, oder besser, sie sind der Inhalt dieses Abbildes.’ Dieser Zusam>
‚Consequence‘ erscheint hier zum ersten Mal als Bezeichnung für eine arithmetische Gleichung — das ist deswegen möglich, weil ja auch in der Arithmetik mehrere und verschiedene Austauschschritte zusammengezogen werden können. Dieser verkürzende Prozess wird dann in der Algebra in Anlehnung an T7 ,Folgerung genannt.
Da auf der linken Seite der Gleichung gleich zwei ‚empty crosses‘ stehen, könnte aufgrund des
Theorems auf ein ,CrOSS geschlossen werden.
Während der Inhalt das konkrete Ereignis meint, also beispielsweise den konkreten Vollzug
einer ‚demonstration‘, findet sich im Abbild nur die Struktur. Ähnlich wie eine Funktion in der
III. Kommentar — Das achte Kapitel: RE-UNITING THE TWO ORDERS
161
menhang gilt also auch für Beweise und Vorführungen. Wahrend in einer ,de-
monstration’ stur bestimmte Austauschschritte nacheinander vorgeführt und jeder einzelne Schritt nachvollzogen werden muss, ist ein ,proof von anderer Qualität: Er ist eine verallgemeinerte Darstellung bestimmter Austauschwege und -schritte.
Dieses Abbildungsverhältnis ist aber auch kennzeichnend für das Verhältnis
von Arithmetik und Algebra
im Allgemeinen.
Eine algebraische
Gleichung
weist beispielsweise auf die Äquivalenz zweier Gefüge hin, unabhängig von den konkreten Ausdrücken bzw. Werten, für die die Variablen stehen könnten. Das
bedeutet, dass so eine Gleichung sowohl auf die Vielzahl der Hinweisformen, als auch auf die Vielzahl der Austauschprozesse dieser Hinweisformen hinweist.
Sie drückt einen strukturellen Zusammenhang aus, der für eine Vielzahl von äquivalenten Gleichungen gilt, in denen aber verschiedene Hinweisformen statt
der Variablen oder andere Variablen rechts und links des Gleichheitszeichens stehen könnten. Das Muster, das die algebraische Gleichung darstellt, ist also eine allgemeine Struktur, ein für alle Arten von Hinweiszeichen geltender Zu-
sammenhang.°
Ein ähnlicher Unterschied besteht beispielsweise beim Lesen einer Landkarte: Solange wir nur die Karte und die einzelnen Entfernungen etc. in den Blick nehmen, befinden wir uns analog auf der Ebene der Primären Algebra. Schauen wir aber die Legende an und ‚füllen‘ die einzelnen Ausdrücke, d.h. hier Symbole, mit konkreten Inhalten, dann bewegen wir uns gedanklich auf eine andere Ebene, analog der Ebene der Primären Arithmetik. Der ‚Inhalt‘ einer Landkarte
bestünde im Sinne Spencer Browns in den Werten bzw. in den Bedeutungen der einzelnen Symbole; das ‚Abbild‘ dieses Inhalts besteht in der Anordnung der Ausdrücke bzw. Symbole auf der Landkarte, auf dem Stück Papier. Mit ihrer
Anordnungsstruktur weist die Karte genau genommen nicht auf die Bedeutun-
gen der einzelnen Symbole hin (dafür reicht die Legende), sondern nur auf de-
ren Verhältnis zueinander, auf deren Zusammenhang — und genau darin besteht der Inhalt der Primären Algebra, die über Verhältnisse, genauer über Äquiva-
lenzverhältnisse von Ausdrücken spricht.
Gleichungen bilden daher — unabhängig von den einsetzbaren Werten der Ausdrücke oder Gefüge auf beiden Seiten der Gleichung — Verhältnisse von
Ausdrücken ab. Die algebraischen ‚consequences‘ stellen also ebenfalls ‚nackte‘
Analysis nur den Zusammenhang zwischen den möglichen einsetzbaren Werten angibt. Hier
wäre das Einsetzen konkreter Werte und damit die Möglichkeit, Graphen zu zeichnen, der In-
halt, während beispielsweise die Polinomfunktion f(x) = ax’ + bx + cx + d lediglich wie ein
Abbild den strukturellen Zusammenhang angibt. (AUM) „The algebra is about the variables, or is is a science of the relationships of the variables stants they might stand for. Nevertheless, the arithmetic this is an algebra of, if you were to these formulae still will hold.“; AUM 2,3f.
the science of the relationships of variables. It when you don't know or don't care what conconstants aren't irrelevant, because whatever substitute constants for this variables, ... then
162
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Strukturen oder eben Zusammenhänge zwischen Hinweisformen dar, die auch
dann
bestehen,
wenn
die konkreten
arithmetischen
Bedeutungen
unbekannt
sind. Eine algebraische ‚consequence‘ bildet so die Struktur vieler möglicher arithmetischer Gleichungen ab, und ist so ein Abbild dieses arithmetischen In-
halts ebenso wie die arithmetischen Theoreme:
„Since the initial steps in the algebra were taken to represent theorems about the arithmetic, it depends on our point of view whether we regard an equation with variables as expressing a consequence in the algebra or atheorem about the arithmetic.“ (LoF:44)
Es lassen sich aber auch andere ‚Teile‘ der Primären Algebra nicht nur im algebraischen Raum auffinden, sondern auch als ‚Teile‘ der Arithmetik. Dies ent-
spricht dem
beschriebenen
‚Ebenensprung‘
beim Kartenlesen:
Die Primäre
Arithmetik kann als ‚Inhalt‘, die Primäre Algebra als ‚Abbild‘ dieses Inhalts betrachtet werden, insofern das Verhältnis zwischen den Variablen immer auch das Verhältnis zwischen konkreten Werten abbildet. Im Haupttext und in den Notes wird darauf aufmerksam gemacht, dass diese Beziehung (relationship) auch für weitere ‚Teile‘ der beiden Kalküle gilt (vgl. LoF:93f.):
Inhalt (‚content‘)
Axiome
Arithmetische Folgerungen Theoreme 1. Ordnung Algebraische Folgerungen
Vorführung (‚demonstration‘)
Abbild (‚image‘)
: :
Arithmetische Initialgleichungen’
Arithmetische Theoreme 1.Ordnung Algebraische Folgerungen Algebraische Theoreme 2. Ordnung Beweis (‚proof‘)
(SK) Ein Theorem oder ein Beweis im ‚Abbild‘ einer Folgerung oder einer ‚demonstration‘, die den ‚Inhalt‘ des Abbildes bildet, spricht ein Muster aus, das sich ‚von außen‘, aus einer Draufsicht erkennen lässt: ‚In a proof we are dealing in terms which are outside of the calculus“ (LoF:93). Diese Muster können nur aus einer Metaperspektive gewonnen werden, nicht aber durch stures Nachmachen oder Verharren in der jeweiligen Ebene, in der Ausführung des jeweiligen Prozessablaufes oder Vollzuges. Die strukturellen ‚Abbilder‘ dieser Prozesse können dann entdeckt werden, wenn die Prozesse als Prozesse betrachtet werden und nicht mehr selbst vollzogen werden. Sie gehören also zur
Metasprache über einen Inhalt und nicht zur Objektsprache in einem Inhalt.
°
Zwar wird in den Notes die Beziehung umgekehrt angesetzt, also ‚initial equation‘ verhalte sich zu ‚axiom‘ genauso wie ‚demonstration‘ zu ‚proof‘ (vgl. LoF:94), aber hierbei muss es sich um eine Verwechslung handeln, da es ein Abbild nur von einem Inhalt geben kann und nicht umgekehrt. Die arithmetischen Initiale sind Abbilder der Axiome, weil sie strukturelle Muster hervorheben, die sich aus den Axiomen ergeben. Diese bestehen darin, dass durch Wiederholung eine Hinweisvermehrung stattfindet, mit der je auf den gleichen Inhalt hingewiesen werden kann.
III. Kommentar — Das achte Kapitel: RE-UNITING THE TWO ORDERS
163
(I) Die reflektierende Betrachtung auf jeden der Kalkiile als einzelnen und auf
beide Kalküle zusammen macht bestimmte Zusammenhänge zwischen den beiden (Teil-)Kalkülen bzw. zwischen Teilen der (Teil-)Kalküle selbst deutlich. Unser Gebrauch der Begriffe oder besser der Namen für die dargestellten Verhältnisse ist zudem ein Hinweis darauf, wo wir uns gerade gedanklich bewegen.
Denken wir beispielsweise ‚algebraisch‘, werden wir eine ‚consequence‘ mit
einer ‚demonstration‘ vorführen; befinden wir uns gerade gedanklich im arithmetischen Raum, werden wir versuchen, ein Theorem zu formulieren und einen Beweis dafür zu finden: ,, ... theorems are more or less simple statements about the ground on which we have chosen to stand.“ (ebd.).
Beispielhaft wird anschließend statt der ‚demonstration‘, dass eine algebraische Gleichung gilt, ein arithmetischer Beweis vorgeführt: „instead of demonstrating
in algebra the equation ... we can prove it by arithmetic“ (LoF:44). Der Beweis
zeigt, dass es ausreicht, eine Variable arithmetisch durchzuspielen, um zu be-
weisen, dass die Gleichung gültig ist. „In these proofs we evidently supposed
the
irrelevance
of variables
other
than
the
one
we
fixed
arithmetically.“
(LoF:47). Das folgende Brückentheorem beweist, dass die anderen beiden Variablen ignoriert werden diirfen. 7. Das Brückentheorem und das Transmissionsprinzip
Das Brückentheorem 1. Teil
Der Vergleich der beiden Arten, mit denen die Giltigkeit einer Gleichung nachgewiesen werden kann — einmal konkret in der Arithmetik und einmal allgemein in der Algebra 一 führt zur Formulierung von „Theorem 16. The bridge”
(LoF:47). Es besagt, dass algebraische Ausdrücke, deren Aquivalenz für die
mögliche
Belegung
einer Variablen
nachgewiesen
ist, überhaupt äquivalent
Theorem
16 zeigt, dass algebraische Gleichungen, deren Äquivalenz bisher
sind.'° Oder anders formuliert, dass es ausreicht, die Aquivalenz zweier Gefüge oder Ausdrücke für die arithmetische Belegung einer Variablen zu zeigen, auch wenn mehrere Variablen in ihnen vorkommen. gefolgert werden musste, unter Verwendung der beiden Initiale J1 und J2 sowie der beiden algebraischen Austausch- bzw. Ersetzungsregeln auf eine andere Weise als äquivalent ausgewiesen werden können: indem eine ihrer Variablen arithmetisch (re)evaluiert wird und so ihre Äquivalenz gezeigt werden kann. Dafür muss aber das Verhältnis der Werte der Variablen untereinander betrachtet und eine Entscheidung getroffen werden, wie sich die verschiedenen Werte, '©
Dieser Zusammenhang soll für alle Algebren gelten, vgl. LoF:47.
164
Tatjana Schünwälder-Kuntze
die die Variablen in einem Gefüge oder Ausdruck annehmen können, auf den Wert des ganzen Gefüges oder Ausdruckes auswirkt. Das Brückentheorem 2. Teil oder: Der achte Kanon. Das Transmissionsprinzip
Vor dem Beweis des Theorems werden ein paar ‚Überlegungen‘ (,considerati-
ons‘) angestellt, die zunächst nur den Wert des (unmittelbaren) Raumes betref-
fen, in dem eine Variable v steht (vgl. LoF:47): Hat der Rest der Variablen im
Gefüge den Wert n, also den rezessiven Wert, dann nimmt der Ausdruck oder der Raum s, den Wert von v an: einmal n und einmal m, je nachdem, womit wir ihn belegen. Die abwechselnde Belegung wird ,oscillation of v‘ genannt und die Übertragung des Wertes der Variable auf das Gefüge oder durch den Raum s,
hindurch ‚transmission‘. Überträgt sich der Wert einer Variable auf den Raum,
in dem sie steht, soll der Raum s, ‚transparent‘ heißen. Hat aber nur eine der
restlichen Variablen in dem Ausdruck den Wert m, d.h. ist diese andere Variable dominant und es wird nichts übertragen, dann heißt der Raum s, ,opak‘, und er
behält den Wert der dominanten Variable bei.
Im darauf folgenden Textabschnitt (LoF:48) wird diese Übertragung des
Wertes einer Variable auf den Raum oder den Inhalt, in dem sie steht, auf den
ganzen Ausdruck oder das gesamte Gefüge, in dem sie steht, transferiert. Die von der abwechselnden Belegung von v und von den Werten der übrigen Variablen abhängige Transparenz oder Opazität im Raum s, überträgt sich auf weitere Räume im Ausdruck oder Gefüge — wenn diese einen rezessiven Wert haben; oder sie wird absorbiert von den Werten anderer Variablen in anderen Räumen
des Gefüges. Wird die Übertragung komplett absorbiert, soll der Ausdruck — der Verband des gesamten Raumes 一 ,Opak heißen; unter jeder anderen Bedingung ‚transparent‘. Kurz: Die Belegung der Variable überträgt sich — je nachdem welche Werte die anderen Variablen annehmen — auf den ,anzeigenden Raum‘ oder nicht; und
der ‚anzeigende Raum‘ überträgt wiederum — je nach den Werten der anderen ‚anzeigenden Räume‘ — seinen Wert weiter oder nicht. So kann ein ganzes Ge-
füge mal den einen oder mal den anderen Wert anzeigen, im Falle der Transpa-
renz des Gefüges, oder eben immer den gleichen Wert m, im Falle seiner Opazität.
Die Übertragungsgesetzmäßigkeit ergibt sich aus der möglichen Belegung
der Variablen und ihrer Anordnung sowie der Festlegung, dass ein Ausdruck — eine Variable — dem Raum, in dem er/sie steht, seinen/ihren Wert überträgt. Sie
wird im achten Kanon als Principle of transmission formuliert und lautet: „With regard to an oscillation in the value of a variable, the space outside the variable is either transparent or opaque.“ (LoF:48). Im Anschluss wird dann der Beweis zu Theorem 16 unter Zuhilfenahme des Transmissionsprinzips formuliert.
III. Kommentar — Das achte Kapitel: RE-UNITING THE TWO ORDERS
165
Das Theorem heißt auch deshalb ,Brückentheorem‘, weil es einen vertika-
len, der Genese geschuldeten Zusammenhang zwischen der Primären Arithmetik und der Primären Algebra formuliert. Riick- und Ausblick:
Das achte Kapitel macht eine Fülle von Zusammenhängen zwischen den einzel-
nen Austausch-, Rechen-, Arbeits- und / oder Denkprozessen, die seit dem ersten Kapitel geleistet wurden, explizit. Die Denkbewegung, die notwendig ist, um
solche Zusammenhänge zu entdecken, wird Reflexion genannt. Diese reflektierende Denkbewegung vereinigt zwei Ebenen, nämlich den Prozess als Inhalt und die Betrachtung sowie Strukturierung des Prozesses.
So meint Reflexion
kein endloses, lineares Fortschreiten, sondern eben eine gedankliche Hin- und Herbewegung zwischen einem konkreten Inhalt und seiner strukturalen Abbildung.
Die zu Formulierungen von Äquivalenz-Zusammenhängen geronnenen Pro-
zesse, die sich entweder im ‚Inhalt‘ oder im ‚Abbild‘ finden, können keinem der
beiden fest zugeordnet werden: Mal sind sie im ‚Inhalt‘, mal sind sie im ,Abbild‘, je nachdem, auf welcher Entwicklungsstufe der Laws of Form man sie gerade betrachtet. Durch das Einnehmen der reflexiven Perspektive werden aber
auch weitere, ‚Inhalt‘ und ‚Abbild‘ verbindende Strukturen aus der Latenz gehoben. Ein solcher Zusammenhang zeigt sich darin, dass die algebraischen ‚consequences‘ in der Algebra, d.h. im ‚Abbild‘ zugleich als Theoreme über den arithmetischen ‚Inhalt‘ formulierbar sind. Als Gleichungen lassen sie sich sowohl in der Algebra ‚demonstrieren‘, d.h. vorführen, als auch für die Arithmetik als allgemeines Muster beweisen. Der Titel des achten Kapitels Wiedervereinigung der zwei Ordnungen spielt
so auf eine Gleichheit in einer Verschiedenheit an, die der Entwicklung der
Laws of
Form und dem jeweiligen Standpunkt geschuldet ist. Es geht aber in
diesem Kapitel nicht nur um die Darstellung bestimmter gleichartiger Prozesse oder Strukturen in den beiden ‚Ordnungen‘, sondern auch um das Spiel mit dem gedanklichen Wechsel zwischen ihnen. Dieser reflektierende Wechsel, d.h. die Belegung der algebraischen Variablen mit den arithmetischen Ausgangswerten,
ist die Grundlage der Transmissions- sowie der Oszillationsvorstellung, die im
elften Kapitel in den Blick genommen
werden. Das Wesentliche des achten
Kapitels besteht demnach darin, diesen Wechsel zu vollziehen, beide Kalküle
zugleich in den Blick zu nehmen und zu sehen, was passiert, wenn wir solche
Grenzüberschreitungen gedanklich durchführen.
Die folgenden zwei Kapitel formulieren Aussagen über die Primäre Algebra als Kalkül: es geht um ihre Vollständigkeit und um die Unabhängigkeit ihrer beiden Initialgleichungen.
Das neunte Kapitel: COMPLETENESS
Katrin Wille
1. Inhalt
Wir haben im achten Kapitel gesehen, dass jede demonstrierbare Folgerung
(consequence) in der Algebra auf ein beweisbares Theorem tiber die Arithmetik
hinweisen muss. Die Ebene, die im achten Kapitel erreicht ist, zeigt den Zu-
sammenhang zwischen Primärer Arithmetik und Primärer Algebra: jede Gleichung mit Buchstaben als Platzhalter für Werte kann je nach Standpunkt als
Konsequenz der Algebra oder als Theorem tiber die Arithmetik aufgefasst werden. Dadurch wird deutlich, dass die Konsequenzen der Algebra die Eigenschaf-
ten der Arithmetik repräsentieren, die durch Gleichungen ausgedriickt werden können. Dieser Zusammenhang zwischen den beiden Kalkülen erschließt sich nur von einer Metaebene aus, nicht innerhalb der Primären Arithmetik und auch
nicht innerhalb der Primären Algebra. Zur Metaebene, von der aus beide Kalküle in ihrem Zusammenhang betrachtet werden können, gehören das achte Kapitel wie auch das neunte und zehnte Kapitel. Bisher offen geblieben ist die Frage,
ob die Algebra die Eigenschaften der Arithmetik vollständig oder nur teilweise
repräsentiert. Es ist nämlich noch nicht gezeigt, dass tatsächlich jedes Theorem
über die Arithmetik in der Algebra demonstriert werden kann.' Es steht also
noch aus, die Vollständigkeit der Repräsentation der Eigenschaften der Arithme-
tik in der Algebra zu zeigen.” 2. Vollständigkeit
Die vollständige Repräsentation des einen Kalküls durch den anderen kann nicht
innerhalb einer der Kalküle gezeigt werden und damit nicht als eine Konsequenz demonstriert werden. Es braucht also ein Theorem, von dem ja gesagt worden
ist, dass es im Unterschied zu den Konsequenzen außerhalb des Kalküls steht In der Sprache der formalen Logik ist die Demonstration einer Konsequenz als syntaktische Herleitung und der Beweis eines Theorems als semantische logische Folgerung zu verstehen. Wenn nun mit dem achten Kapitel gezeigt wird, dass jede demonstrierbare Gleichung auch als Theorem bewiesen werden können muss, dann ist damit in der Sprache der formalen Logik die semantische Korrektheit des Verfahrens gezeigt, jeder hergeleitete Satz muss auch logisch folgen. In der Sprache der formalen Logik gesprochen muss hier also noch gezeigt werden, dass all das, was logisch folgt, auch herleitbar ist.
III. Kommentar — Das neunte Kapitel: COMPLETENESS
167
und in der Metasprache und nicht in der Sprache des Kalküls selber formuliert ist. Es kann aber kein Theorem über die Arithmetik und auch kein Theorem über die Algebra gewählt werden. Vielmehr braucht es eine andere Art Theo-
rem, mit dem etwas über den Zusammenhang beider Kalküle gesagt werden kann, also ein gemischtes Theorem.’ Theorem 17, das im neunten Kapitel bewiesen wird, wird gemischtes Theorem genannt, das nicht die Vollständigkeit des Indikationenkalküls als Ganzen zeigt, sondern die Vollständigkeit der Repräsentation der arithmetischen Eigenschaften im algebraischen Kalkül.
Im Indikationenkalkül finden sich zwei Repräsentationsverhältnisse, zum ei-
nen die arithmetische Repräsentation der Form der Unterscheidung, zum anderen die algebraische Repräsentation der Arithmetik. In den Repräsentationstheo-
remen im vierten Kapitel wird gezeigt, dass und wie die Eigenschaften der Form arithmetisch repräsentiert werden können. In diesen Theoremen wird für dieses elementare Repräsentationsverhältnis zugleich bewiesen, dass es konsistent ist, dass also durch keine arithmetische Operation aus einem Ausdruck e sowohl der einfache Ausdruck des leeren ,cross’ |(mit dem Wert m) als auch der einfache Ausdruck des leeren Raums (mit dem Wert n) hergeleitet werden kann.
Dieser Nachweis wird für beide mögliche Richtungen von Schritten (steps), in Theorem 3 für die Richtung der Vereinfachung und in Theorem 4 für die andere Richtung des Aufbaus von komplexen Ausdrücken, und damit vollständig gege-
ben. Mit diesem Nachweis ist aber zugleich die Vollständigkeit der Repräsenta-
tion der Form durch die Arithmetik bewiesen.’ Denn die Eigenschaft der Form besteht gerade darin, einen Unterschied zwischen zwei Zuständen zu machen, die nicht ineinander übergehen können, ohne eine Grenze zu überschreiten, die also durch keinen im Kalkül erlaubten Schritt vermischt werden. Das ist die elementarste Eigenschaft allen Nachdenkens und Rechnens überhaupt. Mit der Möglichkeit des Unterscheidens haben wir gewissermaßen den Punkt erreicht, hinter den nicht mehr zurück gegangen werden kann, der selbst auch nicht begründet werden kann, also den „harten Felsen, an dem der Spaten sich zurück
biegt.‘
Für die Repräsentation der Form in der Arithmetik fallen wie erinnert Voll-
ständigkeit und Konsistenz zusammen, erst bei der Repräsentation der Eigenschaften der Arithmetik in der Algebra bedarf es eines eigenen Beweises der
Vollständigkeit, der in diesem Kapitel geliefert wird. Ob die algebraische Re-
präsentation der Arithmetik allerdings konsistent ist, ob also keine ‚demonstra-
tion’ der Algebra sowohl die Äquivalenz zwischen zwei Gleichungen zeigt als auch nicht zeigt, bleibt offen. Es wird im achten Kapitel und in Theorem 16, dem ersten der beiden gemischten Theoreme, zwar nachgewiesen, dass und wie
>
4
>
Im Index of Forms, LoF:138-141, werden Theorem 16 aus dem achten Kapitel und Theorem 17 als mixed theorems’ klassifiziert.
Vgl. LoF:18f
Vgl. Wittgenstein Philosophische Untersuchungen $ 217.
168
Katrin Wille
die Aquivalenz von Gleichungen sich auch im Fall von mehreren Variablen
durchhält, die nur für eine Variable arithmetisch und algebraisch gezeigt worden ist. Fiir solche Falle wird also Inkonsistenz ausgeschlossen. Es wird aber kein allgemeiner Konsistenzbeweis der Primären Algebra geliefert. Spencer Brown betont in den Notes zum neunten Kapitel, dass die Idee der Vollständigkeit sich nicht auf einen Kalkül als ganzen beziehen kann, sondern
nur auf seine Repräsentation durch einen anderen. Kann die Sprache der algebraischen ,demonstration’ (und damit der strukturellen Gleichheiten) auch all
das ausdrücken, was die Sprache des arithmetischen Beweisens (und damit der
Wertgleichheit) ausdrücken kann? Die Vollständigkeit der algebraischen Repräsentation wird als die einfachste Art von Vollständigkeit verstanden.° In den
Notes grenzt Spencer Brown dagegen komplexere Formen ab, die sich auf die Repräsentation der Arithmetik natürlicher Zahlen beziehen, in der Addition und
Multiplikation elementare Operationen sind. Hier gilt, wie Gödel gezeigt hat, dass keine Algebra konstruiert werden kann, in der alle arithmetischen Bezie-
hungen beweisbar (demonstrable) sind. Die Zahlenarithmetik ist also ein reicherer Grund mit einem weiteren Geltungsbereich als die dazu gehörige Algebra, die einiges von diesem ,Mehr’ an arithmetischen Wahrheiten nicht beweisen
kann.’
3. Induktionsbeweis
In Theorem 17 wird also bewiesen, dass eine Gleichung a = ß, die als Theorem
über die Primäre Arithmetik bewiesen werden kann, als ,consequence’ über alle a, B in der Primären Algebra demonstriert (hergeleitet) werden kann. Der Be-
weis wird über Induktion geführt. Die Form eines Induktionsbeweises wird hier
und an keiner anderen Stelle beschrieben oder gerechtfertigt. Zusammen mit der
Vorgehensweise der Fallunterscheidung, die häufig für die Beweise im vierten Kapitel verwendet wird, scheint die Induktion aus Spencer Browns Sicht zu den natürlichen Fähigkeiten des Rechnens und Nachdenkens zu gehören, auf deren Basis Beweise von Theoremen durchgeführt werden (im Unterschied zu den Demonstrationen von ‚consequences’, in denen nur auf abgeleitete Regeln zu-
rückgegriffen werden darf).*
Da hier durch Induktion ein gemischtes Theorem bewiesen werden soll, steht zu erwarten, dass in dem Beweisverfahren abgeleitete ‚consequences’
°
In der Sprache der formalen Logik ist mit Vollständigkeit hier ‚semantische Adäquatheit’ gemeint. Der Herleitungsbegriff heißt eben dann semantisch adäquat oder vollständig, wenn alles, was logisch folgt, auch herleitbar ist, vgl. Link/ Niebergall 2003:119. Davon zu unterscheiden ist ein viel strengerer Sinn von Vollständigkeit als maximale Konsistenz, der besagt, dass jeder beliebige (formulierbare) Satz oder sein Gegnteil in einer Theorie beweisbar sind. Vgl. LoF:96. Vgl. die Notes zum achten Kapitel.
III. Kommentar — Das neunte Kapitel: COMPLETENESS
169
(algebraisches Prozedere) und die Substitution von Variablen durch konstante Werte (arithmetisches Prozedere) verwendet werden.
Der Aufbau des Induktionsbeweises weicht vom mathematisch üblichen Standardaufbau Induktionsanfang — Induktionsschritt ab. Spencer Brown be-
ginnt vielmehr mit der Induktionsvoraussetzung, dass alle Fälle von 0 = B mit weniger als einer bestimmten positiven Zahl n an verschiedenen Variablen algebraisch demonstrierbar sind. Gilt dies, dann auch der Induktionsschritt, dass
jeder Fall von a = B mit n verschiedenen Variablen algebraisch demonstrierbar ist. Wird die Induktionsvoraussetzung von einem bestimmten positiven Wert von n erfüllt, dann gilt auch der Induktionsschritt.
Das Beweisverfahren setzt also mit der Induktionsvoraussetzung ein: Die Demonstrierbarkeit (Herleitbarkeit) von a = ß für alle äquivalenten a, |) mit weniger als n verschiedenen Variablen sei angenommen. Induktionsschritt: Es sei ein Ausdruck von äquivalenten a, B mit n verschiedenen Variablen gegeben. Werden zunächst beide Ausdrücke a, B auf ihre kanonische Form in Bezug
auf die Variablen reduziert, so erhalten wir a’ und B’ bzw. die Gleichungen El
und E2. Die beiden kanonischen Formen sind in Theorem
14 und 15 vorge-
stellt.” Theorem 14 bezieht sich auf die beliebige Tiefe von Ausdrücken und
Theorem 15 auf die beliebig vielen Variablen von Ausdrücken. Das hier im
Induktionsbeweis verwendete Theorem 15 besagt, dass aus jedem beliebigen Ausdruck mit beliebig vielen Vorkommnissen von Variablen ein äquivalenter Ausdruck abgeleitet werden kann, der für eine Variable v nicht mehr als 2 Vorkommnisse aufweist. Da T14 und T15 algebraische Theoreme sind, vollzieht
sich diese Reduktion auf a’ und ß’ (bzw. El und E2) algebraisch.
Um nun aber zu zeigen, dass auch die Aquivalenz von a’ und ß’ algebraisch
demonstriert werden kann, schaffen wir per Substitution von Variablen durch
konstante Werte zwei Gleichungen (E3 und EA) mit n-1 verschiedenen Variablen, die (laut Induktionsvoraussetzung) demonstrierbar sind. Die Gültigkeit des Induktionsschrittes können wir zeigen, indem wir von der Gleichung El die
Gleichung E2 unter Verwendung von E3 und EA herleiten und damit die Äqui-
valenz von El (a’) und E2 (B’) demonstrieren. Damit ist die Gültigkeit des In-
duktionsschrittes bewiesen, denn a = ß ist für n Variablen demonstrierbar unter der Voraussetzung, dass es für weniger als n Variablen demonstrierbar ist.
Um die Erfüllung der Induktionsvoraussetzung zu zeigen, muss ein positiver Wert von n angegeben werden, für den die Demonstrierbarkeit (Herleitbarkeit)
von a = ß für alle äquivalenten a, B mit weniger als n verschiedenen Variablen (n-x) gilt. Wird für n 1 eingesetzt, dann kommt in der Gleichung a = B nach Induktionsvoraussetzung (n-x) keine Variable vor. Dann sind a und |) aber Ausdrücke der Primären Arithmetik. Die Demonstrierbarkeit von Gleichungen der °
Vgl. den Kommentar zum siebten Kapitel. Diese ,canonical forms’ des Indikationenkalküls sind vergleichbar mit der Idee der Normalformen im Aussagenkalkül.
170
Katrin Wille
Primären Arithmetik in der Primären Arithmetik ist dort in den Theoremen 1-4
bewiesen. Fiir die Demonstrierbarkeit von Gleichungen ohne Variablen in der Algebra bleibt zu zeigen, dass die algebraischen ,consequences’ C3 und CI bei
entsprechenden Belegungen in die arithmetischen Initialgleichungen überführt
und damit in der Algebra demonstriert werden können. Damit ist die Induktionsvoraussetzung erfüllbar, wie für den Fall n = 1 gezeigt.
Nur dieser Fall n = 1 ist für die vollständige Repräsentation der Eigenschaften der Arithmetik in der Algebra (als Kalkül für die Arithmetik'”) relevant, da
in der Arithmetik ja keine Variablen vorkommen. Der Kern des Beweisverfahrens liegt deshalb darin, dass die beiden ,consequences’ C1 und C3 bei der Belegung von a mit dem Wert des ‚unmarked state’ in C1 und der Belegung von a mit dem Wert des ‚marked state’ in C3 direkt zu den beiden arithmetischen Initialgleichungen führen. Damit sind die beiden arithmetischen Initialgleichun-
gen und alle anderen arithmetischen Gleichungen in der Algebra demonstrier-
bar.
10
Es ist wichtig zu beachten, dass die Primäre Algebra als ,calculus for the primary arithmetic’ bestimmt ist und damit ohne die Beziehung auf die Primäre Arithmetik gar nicht zu verstehen ware. Eine solche Bezogenheit der Algebra auf eine Arithmetik gilt gerade nicht für die Boolesche Algebren, die keine Arithmetik haben (was Spencer Brown eben als Mangel dersdben auffasst und mit dem Indikationenkalkül beheben will).
Das zehnte Kapitel: INDEPENDENCE Katrin Wille
1. Inhalt
Was ist in der Bewegung des Reflektierens über das Verhältnis von Primärer
Arithmetik und Primärer Algebra noch offen? Im achten Kapitel wurde die Ubersetzbarkeit der beiden Kalküle ineinander gezeigt, im neunten Kapitel die
Vollständigkeit dieser Ubersetzbarkeit. Im zehnten Kapitel wird die Aufmerk-
samkeit auf eine Eigenschaft des algebraischen Kalküls selbst gerichtet, auf die gegenseitige Unabhängigkeit der beiden algebraischen Initialgleichungen. Diese wird in Theorem 18, das als algebraisches Metatheorem bezeichnet werden kann, bewiesen.
2. Die Initialgleichungen der Algebra Die beiden Initialgleichungen der Algebra J1 Position und J2 Transposition und die beiden Umformungsregeln Substitution und Replacement bilden die Basis
des algebraischen Kalküls.' Auf dieser Grundlage können ‚consequences’ de-
monstriert werden, nur unter Zuhilfenahme der Umformungsregeln und beider Initialgleichungen sowie der schon demonstrierten ‚consequences’. Die Bedin-
gungen, die die Initialgleichungen erfüllen müssen, bestehen darin, dass sie gültige Prinzipien darstellen, also unter allen möglichen Variablenbelegungen äquivalente Ausdrücke sind. Dies ist schon in der Primären Arithmetik geschehen, dort sind die arithmetischen Vorläufer der beiden Initialgleichungen als
Theoreme bewiesen worden. In formalen Systemen, deren Aufbau wie hier auf Elementargleichungen (1nitials) oder im üblichen axiomatischen Aufbau auf ‚ersten Sätzen’, eben Axio-
men beruht, wird eine zahlenmäßige Begrenzung dieser Initialgleichungen oder Axiome angestrebt, durch die die Verwendungsweisen der Grundsymbole des
Kalküls angegeben werden. In den arithmetischen Initialgleichungen wurden die beiden grundlegenden Verwendungsweisen der ‚crosses’ festgelegt, die Verwendung mehrerer ‚crosses’ nebeneinander und die Verwendung mehrerer
‚crosses’ ineinander. In den Initialgleichungen der Algebra kommt die Verwendung von Variablen dazu, und es werden in den beiden Initialgleichungen die I
In axiomatisch aufgebauten formalen Systemen der Logik und Mathematik würde das, was hier ‚Initialgleichung’ genannt wird, ‚Axiom’ heißen. Und die Funktion der Umformungsregeln des Indikationenkalküls würde dort die elementare Schlussregel des Modus Ponens erfüllen.
172
Katrin Wille
Möglichkeit der Elimination (J1) und die Möglichkeit des Versetzens oder , Transplantierens’ von einer Variablen in einem Ausdruck (J2) gegeben. Als algebraische Initialgleichungen können alle Gleichungen verwendet werden, die drei Bedingungen erfüllen: sie müssen gültig sein (1), sie müssen
zusammen mit den Umformungsregeln genügen, um alle gültigen ‚consequences’ herleiten zu können (2), und sie müssen unabhängig voneinander sein (3). Die dritte Bedingung ist dann erfüllt, wenn keine der Initialgleichungen aus der oder den anderen hergeleitet werden kann. Welche von all den Gleichungen, die diese drei Bedingungen erfüllen, als Initialgleichungen gewählt werden, obliegt pragmatischen Gründen der einfacheren Demonstrierbarkeit von ‚consequen-
ces’. In den Notes zum sechsten Kapitel heißt es, dass auch die beiden Gleichungen C5 und C6 als Initialgleichungen hätten gewählt werden können, dass
einige Herleitungen dann aber viel schwieriger und ausführlicher hätten durch-
geführt werden müssen.” Spencer Brown nimmt in den Notes zum sechsten Kapitel auf den Versuch Huntingtons’ Bezug, die Standardaxiome der Booleschen Algebra auf ein spezielles Axiom zu reduzieren zusammen mit den Axi-
omen, durch die die Kommutativität und Assoziativität der Operation ,+’, die
Zweistelligkeit der Operation ,+’ und die Einstelligkeit der Operation ,~’ geregelt werden. Spencer Brown kritisiert dabei zum einen die viel zu komplizierte
und geradezu hindernde Syntax der Booleschen Algebra, in deren Rahmen Huntington weiter arbeitet. Dadurch, dass in der Booleschen Syntax die Reihenfolge von Zeichen und auch die Stelligkeit der Operatoren als Eigenschaften der Syntax aufgenommen werden, wird den kontingenten Eigenschaften der üblichen zweidimensionalen Schreibfläche, auf der durch lineare Lesart Reihenfolge und Stelligkeit erzeugt wird, logische Relevanz zugebilligt. Dies kann durch die von Spencer Brown im zweiten Kapitel entwickelte Syntax umgangen werden. Dort
wird die nicht-lineare Lesart von Zeichen auf einer ebenen Fläche eingeführt, durch die weder die Reihenfolge der Zeichen noch die Stelligkeit der Operato-
ren als einschränkende Annahmen den Zeichengebrauch behindern. Die zweite Kritik an Huntington zielt dahin, dass bei den von ihm vorgeschlagenen Axio-
men die Funktionen des Eliminierens und Transplantierens, die bei den Initialgleichungen J1 und J2 getrennt gehalten werden, vermischt werden. Die Vermischung führt zur Verkomplizierung der Herleitungsprozesse, die Sonderung
dagegen zur Vereinfachung derselben.‘ In der Einleitung zur internationalen Ausgabe stellt Spencer Brown eine Gleichung vor, die als einzige Initialgleichung der Algebra verwendet werden könnte. Dort sind die Funktionen der Elimination und der Transplantation (oder
des Verdichtens, wie es in der Einleitung genannt wird) kombiniert. Deshalb gilt
2
”
4
Vel. Notes zum sechsten Kapitel LoF:88f
Huntington 1933:280ff.
Huntington 1933:89. Kauffman zeigt, dass auch die Gleichungen J1 und C2 als Initialgleichun-
gen verwendet werden könnten, vgl. Kauffman 2001b:90.
111. Kommentar — Das zehnte Kapitel: INDEPENDENCE
173
gegen diese Initialgleichung der gleiche Einwand wie gegen das eine spezielle Axiom für die Boolesche Algebra von Huntington, nämlich der Aufwand an
Arbeit bei den Herleitungen.* 3. Unabhängigkeit
Die dritte Bedingung für Initialgleichungen, ihre gegenseitige Unabhängigkeit, wird in dem algebraischen Theorem 18 bewiesen. Die Unabhängigkeit der algebraischen Initialgleichungen J1 und J2 ist dann erfüllt, wenn keine der beiden Gleichungen aus der anderen hergeleitet werden kann. Würde nur Jl als Initialgleichung genommen, könnte J2 nicht als ,consequence’ gefunden werden, und umgekehrt. Es wird im folgenden Beweis direkt gezeigt, dass dies nicht möglich ist. Dadurch wird die Unabhängigkeit der Initialgleichungen und
gleichzeitig die Unvollstandigkeit des Kalküls mit nur einer der beiden Initialgleichungen bewiesen. In dem Beweis der Unabhängigkeit wird auf die ver-
schiedenen Funktionen der beiden Initialgleichungen rekurriert, die Funktion der Elimination und, in die andere Richtung gedacht, der Einfügung, bei J1 und
die Funktion der Transplantation (oder des Verdichtens) einer Variablen in einem Ausdruck im Falle von J2. Im Beweis wird gezeigt, dass keine der beiden
Gleichungen die spezifische Funktion der anderen erfüllen kann und deshalb die jeweils andere niemals von der einen hergeleitet werden könnte. Gabe es nur J] als Initialgleichung und damit als erlaubte Transformation, dann könnte ein Ausdruck der Form plpl zwar in Ausdrücke eingeftigt oder eliminiert werden, es wäre aber nicht gewährleistet, dass eine Variable r von einem Raum im Ausdruck in einen anderen verschoben werden kann, denn r muss nicht von der Form pip! sein. J2 kann also nicht von J1 hergeleitet werden. Gabe es anders herum nur J2 als Initialgleichung und damit als erlaubte Transformation, dann wäre es nicht möglich, eine bestimmte Variable zu eliminieren, sondern nur möglich, Variablen zu verschieben. J1 kann so nicht aus J2 hergeleitet werden. Damit ist bewiesen, dass die beiden algebraischen Initialgleichungen J1 und J2 die Bedingung der Unabhängigkeit erfüllen. Mit dem zehnten Kapitel ist die Darstellung des algebraischen Kalküls, seiner Metatheoreme und seiner Basis im arithmetischen Kalkül abgeschlossen. Damit ist das System der Gleichungen ersten Grades vollständig entwickelt. Es könnte nun gezeigt werden, wie dieser Kalkül für die formale Logik oder die Theorie
der natürlichen Zahlen interpretiert werden kann. Dies geschieht in den Appen-
dizes 2 und 4°. Im Haupttext der Laws of Form wird ein anderer Weg einge-
schlagen: von dem zweiten Grades. *
System der Gleichungen ersten Grades zu Gleichungen
Vgl. LoF:xiv. Appendix 4 ist eine Ergänzung in der internationalen Ausgabe von 1997.
Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE Katrin Wille
1. Der bisherige Rahmen Eine entscheidende Regel, die in der Arithmetik und Algebra befolgt wurde, ist die, dass alle gegebenen Ausdriicke endlich sein sollten. Die Endlichkeit von Ausdrücken bezieht sich auf die endliche Anzahl von ,crosses’ und auf die end-
liche Anzahl von Umformungsschritten. Diese in Theorem 1 ausgedrückte und
in den bisherigen Kanones zugrunde gelegte Regel ist die Bedingung dafiir, dass der Wert von Ausdrücken bestimmt werden kann. Dies geschieht durch die
Umformung eines Ausdrucks in einen äquivalenten Ausdruck in endlich vielen
Schritten. Diese Implikation der endlich vielen Schritte in Theorem 1 kann als Kanon 9 (also eine Art Metaanweisung) formuliert werden: Die Regel der ,demonstration’ besagt, dass jede Demonstration auf einer endlichen Zahl von Schritten beruht. Dies gilt für alle arithmetischen Demonstrationen, also das ,Rechnen’ mit Ansammlungen von ,crosses’ ohne Variablen. Dort sind die arithmetischen
Schritte, durch die ein beliebiger Ausdruck zu einem der beiden einfachen Aus-
drücke umgeformt wird, zählbar und damit endlich. Dabei kommt es nicht da-
rauf an, ob verschiedene Zählvorgänge im Ergebnis übereinstimmen, sondern
darauf, dass zumindest einer dieser Zählvorgänge endlich ist.' Für alle algebrai-
schen Demonstrationen, also die Herleitung von ‚consequences’ aus den alge-
braischen Initialgleichungen können die algebraischen Schritte gezählt werden.
2. Überschreitung des bisherigen Rahmens Innerhalb der in der Algebra erlaubten Operationen kann durch eine Sequenz
von bestimmten algebraischen Schritten ein Ausdruck erzeugt werden, der den bisher gesteckten Rahmen überschreitet. Das Konstruktionsprinzip dieses Ausdrucks besteht darin, den Ausgangsausdruck nach dem gleichen Muster zu verlängern. Eine Sequenz von fünf algebraischen Schritten (C5, Cl, J2, C4, Cl)
führt zu dem verlängerten Ausdruck, die Wiederholung der Sequenz zu dem um
wieder dasselbe Muster verlängerten Ausdruck (vgl. LoF:55).
Es gibt keine
Grenze für die Verlängerung dieses Ausdrucks in der Form eines Echelons
'
Vel. den Kommentar zum sechsten Kapitel sowie LoF:36.
III. Kommentar — Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE
175
(Staffelung von a’s und b’s): jede neu erzeugte Lange des Echelons kann mit
dem Ausgangsausdruck gleichgesetzt werden.’
Der nächste entscheidende Schritt besteht darin, sich vorzustellen, wenn es möglich ist (let us imagine, if we can), dass der Prozess dieser Schrittsequenz
end- oder zeitlos (timelessly) weiterläuft. Im Raum würde das ein Echelon
(Staffelung) von a’s und b’s ohne Grenze ergeben, von der Form ...al bla | bl| Diese Form tiberschreitet die Regel der endlichen Schritte, denn sie kann nicht in einer endlichen Anzahl von Schritten erreicht werden.
Da die Bestimmung des Wertes eines Ausdrucks an die Regel der endlichen Demonstrierbarkeit gebunden ist, kann über den Wert eines Echelons ohne Grenzen
keine Aussage
gemacht werden.
Das,
was
für endliche Ausdrücke
gelten muss, dass jede im Kalkül erlaubte Umformung eines Ausdruckes zu
einem äquivalenten, also wertgleichen Ausdruck führt, muss bei dieser neuen Form von Ausdruck nicht notwendigerweise gelten. Es besteht aber die Müg-
lichkeit, die verschiedenen Fälle von Wertbelegungen durchzuspielen und ihr Verhalten mit dem endlicher Ausdriicke zu vergleichen.
3. ,Re-entry’ Betrachten wir den neu entstandenen Ausdruck näher, dann kénnen drei besondere Kennzeichen unterschieden werden: 1) Der Ausdruck entsteht durch eine klar bestimmte Folge von Schritten,
2)
3)
es gibt also eine klare Konstruktionsanweisung. Dieser Prozess der Konstruktion soll kontinuierlich fortgesetzt werden, zu der Konstruktionsanweisung kommt gewissermaßen die Anweisung, dass der Konstruktionsprozess end- oder zeitlos (timelessly) durchge-
führt werden soll. Ein Blick auf den so generierten Ausdruck zeigt, dass der Ausdruck nach dem Muster der Sich-selbst-Gleichheit erweitert wird. Der Ausdruck kann so betrachtet werden, als würde er in seinen eigenen inneren Raum in jeder geradzahligen Tiefe wieder eintreten.
Zentral ist, dass die
Form dieses Ausdrucks als eine ‚Re-entry’-Figur betrachtet
werden kann. Diese Sicht erlaubt es, dies in folgender Gleichung E1 deutlicher in eine formale Sprache zu bringen und die die Fortsetzung der Schrittfolge ausdrückenden drei Punkte ‚...’ zu ersetzen:
f= .„alblalbl ?
= falb
Der Begriff ‚Echelon’ wird im sechsten Kapitel als Name für C7 verwendet. Bei der Verwendung an dieser Stelle wird aber nicht C7 aufgerufen, ,Echelon’ steht hier allgemeiner für einen Ausdruck, bei dem sich ein Staffelungsmuster erkennen lässt.
176
Katrin Wille
Die Abkürzung für den Gesamtausdruck ,f tritt in seinen eigenen inneren
Raum in geradzahliger Tiefe wieder ein. Diese Ersetzung der drei Punkte ,...’ durch f macht deutlich, dass ein Verwendungsunterschied zwischen den drei
Punkten hier und den drei Punkten innerhalb des bisherigen Rahmens des Kalküls besteht. In den algebraischen Erweiterungstheoremen in Kapitel sieben ist
die Erweiterung des Geltungsbereichs von bestimmten Regeln auf beliebig komplexe Ausdrücke bewiesen. In den Theoremen 10 bis 13 wird die Möglichkeit der Skopuserweiterung der zweiten Initialgleichung und der ‚consequences’ C2, C8 und C9 nachgewiesen. Das Transpositionsmuster kann also auf beliebig komplexe Ausdrücke ausgedehnt werden. Die drei Punkte ,...” wurden dort dafür verwendet, diese beliebige Komplexität auszudrücken, die zwar beliebig
groß, aber endlich sein muss. Auf diese beliebig komplexen, aber endlichen
Ausdrücke können dann die verschiedenen Varianten von Transpositionsregeln angewandt werden. Es gilt im Folgenden, die Äquivalenz zwischen dem Ausdruck albl , von
dem ausgegangen worden ist, und dem Ausdruck fal bl| , der durch den formalen Ausdruck des ‚Re-entry’ gewonnen worden ist, zu prüfen. In der Gleichung El: ‘fa lbl = f werden die beiden Variablen a und b in allen vier mögli-
chen Kombinationen mit den beiden Werten ,marked’ (m) und ,unmarked’ (n)
belegt, um den jeweiligen Wert des Ausdrucks durch die ‚rule of dominance”* zu bestimmen. Dies ergibt für drei der vier möglichen Belegungen einen eindeutigen Wert für f, im Fall der Belegung a = m, b = m ergibt sich n, im Fall von a =m,b=n ergibt sich m, im Fall von a = n, b = m ergibt sich n. Nur in dem Fall, in dem a = n, b = n hängt der Wert des Gesamtausdrucks von der Belegung von f (auf der linken Seite von El) ab. Dieser vierte Fall ist also trotz Belegung der Variablen a und b unterdeterminiert. Wird f mit m (bei a = n, b = n) belegt, ist der Wert des Ausdrucks m, wird f mit n (bei a = n, b = n) belegt, ist der Wert
des Ausdrucks n. Die Gleichung El hat also abhängig von der Belegung von f
zwei Lösungen. Betrachten wir den ganzen bisherigen Weg, dann ist augenfällig, dass ausgehend von einem Ausdruck e (hier ab ) durch eine unbegrenzte Anzahl von
Schritten (die Wiederholung der Sequenz von fiinf Schritten) ein Ausdruck e’
( ‘fa lbl ) entstehen kann, der nicht äquivalent zu e ist. Denn da der Wert von e
durch die Belegung von a und b bestimmt werden kann, der Wert von e’ aber von der Belegung von f abhängig ist, kann es bei der Belegung a=n, b=n zu der
Situation kommen, dass e = n = e’ = n (im Falle von f = n), aber eben auch zu der Situation, dass e = n und e’ = m (im Falle von 1 = m), also zu e # e’, einer ungültigen Gleichung mit zwei nicht äquivalenten Ausdrücken. Dies überschrei-
tet den Rahmen der Theoreme der Repräsentation (T1-T4) aus dem vierten Kapitel, durch die gesichert wird, dass der Wert jedes Ausdrucks eindeutig be*
Vgl. den Kommentar zum vierten Kapitel sowie LoF:15.
III. Kommentar — Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE
177
stimmbar ist und dass durch die im Kalkül erlaubten Operationen keine Inkonsistenz der Art m = n auftauchen kann. Mit dieser Gleichung El ist gezeigt, wie mit algebraischen Mitteln eine Gleichung erzeugt werden kann, die mit den bisher zur Verfügung stehenden
Mitteln nicht gelöst, und das heißt hier: in ihrem Wert nicht eindeutig bestimmt
werden kann. Spencer Brown sagt in den Notes zum elften Kapitel, dass in jedem Kalkül, der sich auf Gleichungen und Sätze ersten Grades (ohne ‚Reentry’) beschränkt, Sätze gebildet werden können, die zwar mit den Mitteln des
Kalküls erzeugt worden sind, beschränkt auf die Mittel des Kalküls aber nicht
entschieden werden können.‘
Er zeigt dies für die algebraische Gleichung x? + ax + r = 0, die aufgelöst nach x einen Ausdruck ergibt, der sich kontinuierlich durch sich selbst in sich selbst fortsetzen lässt. In die Variable x auf der rechten Seite der Gleichung: x = -a + -b/x lässt sich der ganze Ausdruck beliebig oft wieder einsetzen. Diese sich in sich selbst wieder einsetzende Figur kann ‚kontinuierlich’ oder auch ,subversiv’, nach ‚unten wendend’ genannt werden.”
4. Der neue Rahmen: Gleichungen zweiten Grades Mit der Form von Gleichung El ist ein neuer Rahmen geschaffen, in dem wich-
tige Regeln des alten Rahmens nicht mehr gelten, eben die Repräsentationstheo-
reme und damit die eindeutige Determiniertheit des Wertes von Ausdrücken und
die Konsistenz in dem Sinne, der jedes Vorkommen von m = n ausschließt. Die
Ausdrücke der Gleichung El sind durch einen Grad von Unbestimmtheit ge-
kennzeichnet, der sich von dem Typ von Unbestimmtheit, der die Primäre Algebra ausmacht,
wesentlich
unterscheidet.
In der Primären
Algebra
werden
unabhängige Variable verwendet. Jede Belegung der unabhängigen Variablen in einem Ausdruck bestimmt den Gesamtwert des Ausdrucks aber eindeutig. Und genau dies ist bei dem Grad von Unbestimmtheit der Gleichung El nicht der Fall. Die Belegung der unabhängigen Variablen a und b bestimmen den Wert des Ausdrucks nicht in jedem Fall eindeutig. Wir haben es bei diesem Grad von Unbestimmtheit wie in El mit Gleichungen zweiten Grades zu tun, die im Titel
des elften Kapitels angekündigt sind.°
*
>
°
Vgl. die Notes zum elften Kapitel LoF:99 sowie von der Struktur her ähnlich den ersten Gödelschen Unvollständigkeitssatz, der besagt, dass es in der Arithmetik Sätze gibt, die im Peanoschen Axiomensystem weder beweisbar noch widerlegbar sind. Es gibt einen wahren arithmetischen Satz, der nicht beweisbar, nicht widerlegbar, also unentscheidbar ist. Dies zeigt, dass die Begriffe der Wahrheit und der Beweisbarkeit auseinander fallen. Es gibt ,mehr arithmetische Wahrheiten als beweisbare Sätze. Vgl genauer Link Niebergall:124ff.
Vel. die Notes zum elften Kapitel sowie LoF:98f.
Noch in der Auflage der Laws of Form von 1979 (die in der Druckgeschichte 8. Auflage, hier bei E.P. Dutton Paperback, New York) findet sich ein genauerer Hinweis zur Klassifikation von
178
Katrin Wille
In diesem neuen Rahmen können Ausdrücke mit dem gleichen Grad an Un-
bestimmtheit gleichgesetzt werden (Gleichungen zweiten Grades), nicht aber
solche mit verschiedenem Grad. Eine ganze Reihe von Regeln aus der Primären Algebra gelten aber im neuen Rahmen der Gleichungen zweiten (und hôheren) Grades weiter. Es gelten
weiterhin die beiden Initialgleichungen der Algebra J1 und J2, durch die die Umformung von Ausdrücken durch Elimination und Transposition von Variablen erlaubt wird. Damit kann der in Kapitel sechs dargelegte Prozess der De-
monstration auch für die Gleichungen zweiten (und höheren) Grades durchgeführt werden. Im Rahmen der Gleichungen zweiten Grades ist es aber wegen der
Rahmenerweiterung in Richtung Unendlichkeit nicht möglich, eine Demonstration mit Hilfe der Arithmetik zu bestätigen, nach dem im achten Kapitel dargestellten Verfahren von ‚content’ und ,image’. Wir können also in dem neuen
Rahmen der Gleichungen zweiten Grades durch die Überschreitung der durch
die arıthmetischen Regeln gesetzten Grenzen nicht mehr vollständig wissen, wo wir uns in der Form befinden, auf der einen Seite, im ‚marked state’, oder auf der anderen Seite, im ‚unmarked state’. Die Regeln, die dem neuen Rahmen
angepasst zur Orientierung dienen können, sind die ‚rule of demonstration’ und
die ‚rule of dominance’. Durch die ‚rule of demonstration’ wird der Prozess der Demonstration als einer von endlichen Schritten charakterisiert. Für die Gleichungen zweiten Grades gehören dazu die algebraischen Schritte und auch der neue Typ von Schritt, das ‚Re-entry’, aber eben nicht mehr die arithmetischen Schritte. Durch die ‚rule of dominance’, einem einfachen Evaluierungsverfahren von Ausdrücken, können wie oben die verschiedenen Werte bestimmt werden, die ein Ausdruck (in verschiedenen Zuständen) annehmen kann.
5. ‚Imaginary state’ Zu dem neuen Rahmen der Gleichungen zweiten Grades gehört eine neue Art von Schritt, eben das ‚Re-entry’, der Wiedereintritt eines Ausdrucks
in den
eigenen inneren Raum. Einmal entwickelt kann der Schritt auch in anderen Ausdrücken als dem Echelon mit den beiden Variablen a und b wie in El verwendet werden. Werden zwei verschiedene Gleichungen mit dem ‚Re-entry’ ohne weitere Variablen gebildet, zeigt sich, dass zwei Typen von ‚Re-entry’ unterschieden werden müssen. Die eine Gleichung E2 besteht aus einem Ausdruck mit einem ‚Re-entry’ in geradzahliger Tiefe: E22
h = 해
, die andere
Gleichungen verschiedenen Grades: Gleichungen ohne ,Re-entry’ und damit ohne unlôsbare Unbestimmtheit heißen Gleichungen ersten Grades, Gleichungen mit einem ,Re-entry’ sollen Gleichungen 2. Grades genannt werden, und so weiter. Dieser Satz ist in der Auflage von 1994 gestrichen (die in der Druckgeschichte 9. Auflage, bei Cognizer Co., Portland, Ohio). Der Hinweis findet sich auch in der internationalen Ausgabe von 1997 (die in der Druckgeschichte 10. Auflage, bei Bohmeier, Lübeck) nicht mehr.
III. Kommentar - Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE
179
Gleichung, E3 dagegen besteht aus einem Ausdruck mit einem ,Re-entry’ in
ungeradzahliger Tiefe: E3 f; = fl . Dass die ,Re-entry’-Schritte nicht in arithmetische Schritte übersetzt werden können, zeigt folgende Überlegung:
Die drei Kennzeichen des ‚Re-entry’ waren ja, dass es eine klare Konstrukti-
onsanweisung gibt (1), die kontinuierlich fortgesetzt en soll (2), für f, besteht diese in der Iteration von | , das kann durch Il ausgedrückt werden.
Für f; besteht diese in der Iteration von
|
, das kann genauso ausgedrückt
werden. Beide Ausdrücke sind so zu betrachten, dass sie in ihren eigenen inneren Raum wieder eintreten (3). Demnach sind beide Gleichungen E2 und E3 mit dem selben Ausdruck gleichzusetzen und somit auch miteinander も = 13. Betrachten wir jede der beiden Gleichungen E2 und E3 für sich und überlegen, welche Werte die jeweilige Gleichung bei der arithmetischen Belegung von f, auf der rechten Seite von E2 mit m oder n und von f; auf der rechten Seite von E3 mit m oder n annehmen kann, dann wird ein entscheidender Unterschied deutlich. E2 kann zwei Lösungen haben, je nach Belegung von 12, bei m hat der
ganze Ausdruck den Wert m und bei n hat der ganze Ausdruck den Wert n. E2
gleicht von der Form El bei der Belegung a = n und b = n und kann als selbstbestätigende Gleichung gelten.’ Dagegen zeigt sich bei E3 ein widersprüchliches Ergebnis. Bei der Belegung von f; mit m ergibt sich: m = n, bei der Bele-
gung von 13 mit n ergibt sich: n = m, E3 kann als selbst-verneinende Gleichung
gelten.’ Es kann also nicht sein, dass die beiden Gleichungen E2 und E3 miteinander gleichzusetzen sind. Der Versuch der Übersetzung der ,Re-entry’-
Gleichungen in arithmetische Schritte führt also auf zwei Widersprüche: a) E2=E3 und auch E2 7 E3. b)
Fir E3:m=n.
Hieran wird noch einmal schärfer deutlich, dass ,Re-entry’-Schritte nicht in arithmetische Schritte übersetzt werden können und die Verbindung zu den Regeln der Arithmetik aufgehoben oder ‚subversiv untergraben’ ist. Im Falle des geradzahligen ,Re-entry’ wie in E2 ist die Verbindung untergraben, weil es
zwei Lösungen gibt. Im Falle des ungeradzahligen ‚Re-entry’ wie in E3 ist die Verbindung zu den Regeln der Arithmetik ‚untergraben’, weil die Gleichung mit
den bisherigen zur Verfügung stehenden Mitteln keine Lösung haben kann. Denn | und repräsentieren die einzigen Zustände der Form, die bisher
betrachtet worden sind. Für Lösungen von Gleichungen mit ungeradzahligem
‚Re-entry’ wie E3 müssen die möglichen Zustände der Form und damit die
”
8
Vgl. Introduction, LoF:xxiv. In der Sprache der formalen Logik würde man E2 als Tautologie
betrachten, die egal bei welcher Belegung ihrer Variablen immer wahr ist. Wittgenstein nennt Tautologien im Tractatus deshalb sinnlos, sie können nicht wahr oder falsch sein und transportieren deshalb keinen Sinn. Vgl. z.B. 4.461.
Vgl. Introduction, LoF:xxiv. In der Sprache der formalen Logik würde man E3 (m = n) als
Kontradiktion betrachten, in konditionaler m’ als Paradoxie.
Formulierung ‚wenn m, dann n’ oder ‚wenn n, dann
180
Katrin Wille
bisherigen Mittel um einen dritten Zustand, den imaginären Zustand (imaginary state) erweitert werden.
Im Vorwort zur ersten amerikanischen Ausgabe motiviert Spencer Brown die Bezeichnung des dritten Zustandes als ‚imaginären Zustand’. Damit soll eine
Analogie zu der imaginären Zahl 7 und zu ihrer Funktion in der Gleichungstheo-
rie deutlich werden, die eine Übertragung der Idee der imaginären Zahlen in die erweiterte Algebra erlaubt. Imaginäre (oder komplexe) Zahlen mussten einge-
führt werden, weil unter der Voraussetzung, dass Zahlen nur positiv, negativ oder Null sein konnten, Gleichungen von der Form x? + 1 = 0 nicht zu lösen waren. Solche Gleichungen werden erst lösbar durch die Einführung einer vier-
ten Klasse von Zahlen, eben der imaginären + i, wobei i im Fall der obigen
Gleichung eine neue Art von Einheit ist, die aus der Quadratwurzel von -1 be-
steht.”
Was aber soll unter dem imaginären Zustand verstanden werden? Was ist mit dem widersprüchlichen Ausdruck m = n anzufangen? Ist der imaginäre Zustand dann als weder m noch n zu verstehen oder als sowohl m als auch n, so wie+i? 6. Zeit
Um den dritten Zustand, den ,imaginary state’, als einen Zustand der Form verstehen zu können, müssen wir den Zustand als einen in der Zeit und nicht im Raum betrachten, ohne allerdings den Raum, in dem wir uns schon befinden, zu
verlassen. Was kann damit gemeint sein, wie können wir uns das genauer vorstellen? Eine Möglichkeit, sich den imaginären Zustand als einen in der Zeit, aber im
Raum befindlich zu imaginieren, besteht darin, sich die Übertragung der Ände-
rung des Wertes durch den Raum, in dem der Wert repräsentiert ist, als eine vorzustellen, die Zeit braucht, um einen Weg zurückzulegen. Die Transmission
oder die Übertragung von Werten ist hier ein Prozess in der Zeit, in der sich ein Wertwechsel vollziehen kann. Einen Vorläufer für diesen zeitlich gedeuteten
Transmissionsbegriff finden wir im achten Kapitel im ‚principle of transmissi-
on’, wo die räumlich gedeutete Verwendung der Transmission von Werten in einem Ausdruck geklärt wird. Nimmt nämlich eine Variable mal diesen, mal
jenen Wert an (oszilliert er also zwischen m und n) und ist der Raum außerhalb ?
Vgl.Preface to the First American Edition, LoF:xivf. „What we do in Chapter 11 is extend the concept to Boolean algebras, which means that a valid argument may contain not just three classes of statement, but four: true, false, meaningless, and imaginary. The implications of this, in the fields of logic, philosophy, mathematics, and even physics, are profound.” LoF:xv. Für den Indikationenkalkül bedeutet das die Möglichkeit von drei Werten, ‚marked’, ‚unmarked’ und ‚imaginary’. Die Erweiterung durch die imaginären Werte soll auch eine Lösung für die selbst-referentiellen Paradoxa in der Logik, die durch die Typentheorie vermieden werden sollen, bereitstellen.
III. Kommentar — Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE
18]
der Variablen entweder transparent oder opak, dann kann die Transmission entweder durch den transparenten Raum fortgesetzt werden, oder sie wird durch
den opaken Raum absorbiert.!°
Fiir die zeitliche Deutung des Transmissionsbegriffs kann das Bild, das bisher zur Illustration der Unterscheidung genutzt wurde, nämlich der Kreis in der Ebene, durch einen Tunnel unter der Oberfläche erweitert werden, durch den sich die Transmission der Werte vollziehen kann. Dadurch wird die Unterschei-
dung zerstört, denn durch den Tunnel gibt es eine Möglichkeit, von der einen Seite auf die andere zu gelangen, ohne die Grenze zu überschreiten. Der imaginäre Zustand ist damit wie eine zeitliche Bewegung von dem einen Zustand der
Form durch den Tunnel in den anderen Zustand der Form vorzustellen, wie ein Hin und Her zwischen zwei Zuständen, das eben Zeit braucht bzw. Zeit eigentlich erst generiert. Der imaginäre Zustand ist ein Wertwechsel auf einer Zeitach-
se. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt t; kann mit Hilfe des ‚principle of dominance’ ein Wert des Ausdrucks bestimmt werden. Für den Zeitpunkt t;,, wird dann im nächsten Anwendungsschritt des ‚principle of dominance’ ein anderer Wert des
Ausdrucks bestimmt, denn für Ausdrücke mit einem ungeradzahligen ‚Re-entry’ gilt eben der Wertwechsel auf der Zeitachse. Den Prozess der Transmission von
Zuständen (durch den Tunnel) auf der Zeitachse veranschaulicht eine Abbildung
der verschiedenen Intervalle dieser Transmission."
Damit ist der dritte Zustand oder dritte Wert bestimmt, der die Form nicht
verlässt, sondern auf ihr aufruht und in ihr (oder besser unter ihr) Bewegung erlaubt und sie damit wesentlich erweitert. Hier ist eingelöst, was im ersten
Kapitel in der Erläuterung zu Axiom 2 als Möglichkeit offen gelassen wurde: der Wert, der sich durch das Zusammennehmen der Absichten des Uberschreitens in einen Inhalt (crossing) und des wiederholten (Rtick-)Uberschreitens in
den anderen Inhalt ergibt, ist nicht der Wert des einen Inhalts (also der ‚marked
state’) und auch nicht der Wert des anderen Inhalts (also der ‚unmarked state’) — keiner von beidem (none of them). Soweit das erste Kapitel.'* Hier in der Rahmenerweiterung der Gleichungen zweiten Grades kann diese Leerstelle gefüllt werden: es ist weder der ‚marked state’, noch der ‚unmarked state’, sondern es ist der imaginäre Wert der zeitlichen Bewegung. Die Gleichung E3:
, =
全
sagt den Wiedereintritt von f, in seinen eigenen
anzeigenden Raum (indicative space’’) aus und zeigt damit f; als einen Teil seiner selbst an. Würde die Gleichung E3 in gewöhnlicher arithmetischer Weise gelöst, ergäbe sich die Kontradiktion m = n oder n = m. Durch die Einführung 1°
''
Vgl. den Kommentar zum achten Kapitel sowie LoF:47f.
Vel. LoF:60, Figure 1.
Vgl. den Kommentar zum ersten Kantel sowie LoF:2. Vgl. den Kommentar zum achten Kapitel.
182
Katrin Wille
eines zeitlichen Prozesses des Wert- bzw. Zustandswechsels wird daraus die Grundfigur der zeitlichen Bewegung in der Form. Es lässt sich in beide Rich-
tungen formulieren: Die Kontradiktion wird durch die Einführung von Zeit gelést, aber auch: die Kontradiktion generiert Zeit. Damit wird eine formale Struktur rehabilitiert und verwendbar, die in anderen Kalkiilen ausgeschlossen
werden musste.'*
In den AUM-Transkripten macht Spencer Brown allerdings sehr deutlich, dass
mit dem imaginären Zustand und damit mit der Oszillation der Werte zwischen m und n Zeit nicht als Lösung für eine unlösbare Gleichung von außen einge-
führt wird, sondern dass mit dem oszillierenden Verhalten Zeit simultan ent-
steht. Mit der Unterscheidung wird Raum simultan generiert, der nicht schon vorher da ist, sondern der mit der Unterscheidung entsteht und auch nicht mehr Eigenschaften hat als diese. Es entsteht also gewissermaßen ein ,erster’ Raum,”
noch ohne Qualitäten wie Abstand, Größe, Gestalt, Reihenfolge, oben-unten,
vorne-hinten, rechts-links. Zu diesem ersten Raum gehören nur Zusammenhalt
(continence) und die Möglichkeiten, die Grenze hinein oder wiederholt (hineinhinaus) zu überschreiten. Analog zum ‚ersten Raum’ entsteht ‚erste Zeit’ zusammen mit der Oszillation zwischen zwei Zuständen, die nicht schon vorher da ist, sondern mit der Oszillation entsteht und auch nicht mehr Eigenschaften hat als diese. ‚Erste? Zeit ist Oszillation, noch ohne die Qualität der Dauer. Oszilla-
tion wird als Prozess der Wertveränderung beschrieben: „Supposing it is the marked state, then it puts the marked state back into itself, and the marked state within a cross produces the unmarked state outside ... So this rubs itself out and so you get the unmarked state fed back in, and so out comes the marked state again.”'° Ist einmal dies in sich selbst wieder eintretende ‚cross’ geschaffen,
läuft es wie das Maschinenwerk einer Uhr ‚von selbst’ weiter.'’ Dieser Prozess
hat aber keine Ausdehnung in der Zeit, sondern ist als ein ‚simultanes’ „if it is, it
isn’t — if it isn’t, it is.‘“'° zu verstehen.
Die Grundstruktur von Zeit ist das, was sein kann, wenn Oszillation sein kann und die Grundstruktur von Raum ist das, was sein kann, wenn Unterschei-
”
Spencer Brown meint vor allem die Typentheorie Bertrand Russells, vgl. dazu Introduction LoF:xxv.
Vel. AUM 1,9.
6° Vgl. AUM 1,7. "인. AUM 1,9. 8 Vel. AUM 1,8 (Abschnitt Flackern (Fluttering)), sowie AUM 4,3. Spencer Brown spricht hier von einer ‚Mathematik der Vibration’: „As we know, the mathematics of vibrations is always the equations with the imaginary value — if it is, it isn’t, if it isn’t, it is.” An anderer Stelle heißt es ähnlich: „When you first construct time, all that you are defining is a state, that, if it is one state, it is another. Just like a clock, if it is tick, therefore it is tock. But this time is the most primitive of all times, because the intervals are neither short nor long; they have no duration.” AUM 1,9.
III. Kommentar - Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE
183
dung zwischen Zuständen sein kann. In den Laws of Form wird gezeigt, wie Unterscheidung und Oszillation sein kénnen, nirgendwo wird behauptet, dass sie sind. Die Laws of Form befinden sich beztiglich Existenzbehauptungen an
einem Indifferenzpunkt.“
Komplexere Räume (mit Abständen, Reihenfolgen usw.) und komplexere
Zeiten (deren Dauer gemessen werden kann) entstehen durch den mehrfachen Wiedereintritt in sich selbst, durch das ‚sich in sich selbst zurückleitende oder
sich selbst nährende cross’. Komplexität entsteht nach Spencer Brown also aus
negativen und positiven Feedbackprozessen”', Prozessen, die Qualitäten in sich vereinen, die der semantische Raum von ,feeding back’ eröffnet: rückkoppeln, zurückleiten, sich nähren, unterhalten.
7. Dynamiken der Struktur des ‚Re-entry’ Die Einführung der Zeit bedeutet einen neuen großen Einschnitt in dem Gedan-
kengang der Laws of Form. Der erste große Einschnitt bestand in der Einfüh-
rung der Unendlichkeit, durch den die Möglichkeit ganz neuer Formen, eben der (zunächst geradzahligen) ,Re-entries’, aufgetaucht ist. Mit der Einführung der
Zeit wird deutlich, dass die ungeradzahligen ‚Re-entries’ wie in der Gleichung E3 nicht mehr als formale Muster zu lesen sind, sondern als Dynamiken. Die Gleichung E3: = f;l zeigt eine Bewegung von Wertveränderungen an. Gleichungen zweiten Grades sind zu lesen als Transmissionsdynamiken der Übertragung von Werten von der linken Seite auf die rechte Seite der Gleichung und zurück. Das ,cross’ ist in diesem Rahmen als Inversionsoperator zu verstehen, als Aufforderung, den jeweiligen Wert umzukehren. Gleichungen sind nicht
mehr nur Äquivalenzmuster wie in der Primären Algebra. Die Transmission von Werten von der einen auf die andere Seite, die Produktion eines anderen Wertes durch die invertierende Kraft des ‚cross’, die Zurückleitung des neuen invertierten Wertes in sich selbst usw. usw. brauchen Zeit. Um diese zeitlichen Prozesse beschreiben zu können, erweitert Spencer
Brown an dieser Stelle die Sprache des Kalküls. Außerdem erweitert er die
Notation um das Zeichen し | , das ein ‚Re-entry’ anzeigen soll. Dazu werden verschiedene graphische Darstellungen von Transmissionsvorgängen bei ‚Reentries’ vorgestellt, nämlich Tunnel, quadratische Wellenzüge und Netzwerke.” Zunächst werden die Termini ‚Frequenz’, ‚Geschwindigkeit’ und ‚Funktion’
eingeführt. Stellen wir uns dafür das Bild des Kreises in einer Ebene noch ein”
2 21
22
Vgl. AUM 1,9ff. sowie AUM 43.
Vol. AUM 1,9. Spencer Brown ordnet negatives Feedback den ,ungeradzahligen Re-entries’ zu und positives Feedback den ‚geradzahligen Re-entries’, vgl. AUM 1,8.
Dadurch werden auch pragmatisch Möglichkeiten einer schaltalgebraischen Interpretation des
erweiterten Kalküls skizziert, in der die Struktur des ‚Re-entry’ die Basis für zentrale Leistungen verschiedener Zählfurktionen darstellen soll, vgl. II.A Kontexte der Laws of Form.
184
Katrin Wille
mal vor und unter der Oberfläche einen Tunnel, durch den das Kreisinnere mit der umgebenden Ebene verbunden ist. Die Funktion des Tunnels besteht darin,
durch eine Grenze voneinander unterschiedene Gebiete miteinander zu verbinden. Wenn wir uns die Geschwindigkeit, mit der die Repräsentation des Wertes
durch den Raum wandert, konstant vorstellen, dann ist die Frequenz der Oszillation” des Wertes durch die Lange des Tunnels bestimmt. Die Transmission des
Wertes geschieht durch die Überschreitung der Grenzen in der Ebene” und die
‚Unterschreitung’ der Grenzen durch den Tunnel. Die Länge des Tunnels ist durch die Häufigkeit der ‚crosses’ und die Tiefe des Raumes bestimmt, die durch den Tunnel
‚unterwandert’
werden. Wenn
wir die Länge des Tunnels
konstant halten, dann ist die Frequenz der Oszillation des Wertes durch die Geschwindigkeit der Transmission bestimmt. Länge des Tunnels und Transmis-
sionsgeschwindigkeit sind also hier Variablen, die die Frequenz der Transmission des Wertes beeinflussen. Wird der Transmission eine Geschwindigkeit zugeordnet, dann muss ihr auch eine Richtung gegeben werden, so dass gerichtete Geschwindigkeit (velocity) entsteht. So wird gewährleistet, dass der Transmissionsprozess vom Zeitpunkt t; z.B. zum Zeitpunkt tl verläuft und nicht z.B. wieder zurück zum Zeitpunkt ti. Die Möglichkeit eines rückläufigen Übertragungsprozesses und damit eines Richtungswechsels müßte durch ein eigenes ‚Re-entry’ erst geschaffen werden. In dem erweiterten Rahmen der Gleichungen zweiten Grades sollen Ausdrücke
mit der Variable v Funktionen von v genannt werden. Die (algebraische) Bezeichnung als Ausdruck mit Variablen oder die (erweitert algebraische) Be-
zeichnung als Funktion einer Variablen hängt von dem Standpunkt der Betrach-
tung ab. Mit der Terminologie der Funktionen wird also ein Vokabular für einen dritten Blickpunkt auf die Form entwickelt, neben dem arithmetischen (Ausdrücke mit bestimmtem Wert) und dem algebraischen (Ausdrücke mit Variablen,
also mit unbekanntem Wert) der der erweiterten Algebra (Funktionen mit Variablen). Unter einer Funktion kann eine Operation / verstanden werden, die gewisse Elemente quasi als Input annimmt und in Abhängigkeit davon gewisse (andere) Elemente als Output produziert. Diese Inputs werden üblicherweise
Argumente, die Outputs (Funktions-)werte genannt.”
Betrachten wir nun die beiden Formen von ‚Re-entry’, den ungeradzahligen
‚Re-entry’ der Gleichung E3: f; = fl und den geradzahligen ,Re-entry’ der Gleichung E2: f, = fill als Funktionen, dann ergibt sich fiir den ungeradzahligen
23
Den Begriff der Oszillation kennen wir aus dem achten Kapitel als abwechselnde Belegung der
24
Vgl. den Kommentar zum achten Kapitel ,principle of transmission’.
>
Variable v in Theorem 16, vgl. den Kommentar zum achten Kapitel.
Vpgl.z.B. Link 2001:37.
III. Kommentar — Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE
185
Re-entry’ eine Oszillatorfunktion und fiir den geradzahligen ,Re-entry’ eine Gedächtnisfunktion. 8. Oszillation: Zeitverläufe und Zeitsprünge bei ungeradzahligen ‚Re-entries’ Es werden zwei graphische Umsetzungen fiir die Transmissionsbewegung bei
ungeradzahligen ,Re-entries’ entwickelt. Die eine Umsetzung kann die Zeitver-
läufe zeigen, die andere die Zeitspriinge.
Um die Zeitverläufe der Transmission des markierten Zustandes von einer Seite zur anderen für die einfachste Gleichung eines ungeradzahligen ,Re-entry’ E3 zu veranschaulichen, wählt Spencer Brown die graphische Darstellung eines Kreises in der Ebene, wodurch wie bekannt zwei Seiten entstehen. Der eine Kreis setzt das ‚cross’ auf der rechten Seite der Gleichung um. Das Kreisinnere steht für das im ,cross’ enthaltene 1 auf der rechten Seite der Gleichung, das
Kreisäußere für das f auf der linken Seite der Gleichung. Die Graphik wird in die dritte Dimension
erweitert, indem die beiden Seiten durch einen Tunnel
miteinander verbunden werden. Dieser Tunnel illustriert den Wiedereintritt des Ausdrucks auf der linken Seite der Gleichung in sich selbst auf der rechten Seite
der Gleichung. In der Abbildung 1” wird ein ganzer Zyklus eines Transmissionsverlaufs in sechs Schritten gezeigt, bei dem auch die Übertragungsübergänge
sichtbar werden. Es wird von dem Kreisäußeren zuerst das Signal des markierten Zustandes übertragen, der Wert der Gleichung sei also zuerst der markierte
Zustand (t,). Dieses Signal wird durch den Tunnel in das Kreisinnere übertra-
gen, der Wert der Gleichung auf der linken Seite der Gleichung wird also auch auf die rechte Seite übertragen (t,). Durch die Kreislinie wird die Übertragung invertiert, es wird also der unmarkierte Zustand produziert, der markierte Zustand zusammen mit dem ,cross’ hebt sich selbst auf und es entsteht der unmar-
kierte Zustand (t;). Das Kreisäußere nimmt dadurch den Wert des unmarkierten
Zustandes an, d.h. also der Ausdruck nimmt den Wert des unmarkierten Zustan-
des an, auf der linken Seite der Gleichung hat f den Wert n (t,). Von dem Kreis-
äußeren wird nun das Signal des unmarkierten Zustandes übertragen, der Wert
der Gleichung auf der linken Seite der Gleichung wird auch auf die rechte Seite
übertragen (ts). Durch die Kreislinie wird die Übertragung wieder invertiert, es wird also der markierte Zustand produziert, der unmarkierte Zustand zusammen
mit dem ,cross’ wird zum markierten Zustand (ts). Damit ist der erste Ubertra-
gungszyklus abgeschlossen und die Schrittfolge von ti bis ts kann unendlich iteriert werden. Um dagegen die Zeitsprünge der Transmission des markierten Zustandes von einer Seite zur anderen für eben diese einfachste Gleichung eines ungeradzahligen ,Re-entry’ E3 zu veranschaulichen, wählt Spencer Brown eine andere
graphische Darstellung, nämlich die eines quadratischen Wellenzuges. Dies ist
%
Vgl. LoF:60.
186
Katrin Wille
eine Aufeinanderfolge von rechteckigen Wellen in einer bestimmten Frequenz, wobei die Täler den unmarkierten Zustand und die Berge den markierten Zu-
stand repräsentieren.” Da jeder Impuls, markiert oder unmarkiert, durch das
‚cross’ invertiert wird (wenn f m ist, dann wird es n und wenn es n ist, wird es
m), kann E3 als Oszillationsfunktion bestimmt und durch einen Wellenzug angezeigt werden. Diese Oszillationsfunktion kann zu der Tunnelgraphik in Beziehung gesetzt werden, denn sie bildet eine bestimmte Frequenz der Wert-
veränderung an einem Punkt p in der Ebene ab. Dort oszilliert der Wert von ‚marked’ zu ,unmarked’ zu ,marked’ usw. in einer von Tunnellänge und
Transmissionsgeschwindigkeit abhängigen Frequenz.
Die Oszillationsfunktion kann zu einer kontinuierlichen Funktion transformiert werden, indem der Wellenzug und seine Inversion überlagert werden. In der graphischen Darstellung des Tunnels könnte diese Transformation so arrangiert werden, dass ein Punkt p in zwei aufeinander folgenden Räumen vorkommt, zum einen innerhalb des Kreises, zum anderen in einer Außenschicht, die von einem ‚unwritten cross’ umgeben ist.“ Der Impuls ,markiert’, der vom Kreisäu-
Bern ins Kreisinnere geleitet wird, wird durch die Kreislinie invertiert und durch die Weiterleitung in den flacheren Raum durch den markierten Wert von p überlagert. Für den Fall, dass aus dem Kreisäußeren der Impuls ,unmarkiert’ ins
Kreisinnere geleitet wird, gilt, dass die Inversion durch die Kreislinie den Wert
jmarkiert' produziert und damit den Wert von p im nächst flacheren Raum über-
lagert. Diese graphische Konstellation können wir auch in die Sprache der Gleichungen übertragen. Wir können die Gleichungen E3 und C5 verwenden, um
aus CS durch Substitution von f durch fl (mitE3)f= Glenn
flf zuerhalten. Diese
hat necem Fall den Wert markiert, wir können also schreiben: = flf. Durch diese Transformation kann aus dem imaginären Wert (in Bezug auf
die Form) ein realer Wert (in Bezug auf die
Form) werden.
9. Gedächtnisfunktion
Die beiden graphischen Repräsentationen, die verschiedene Aspekte (eben Zeit-
verläufe und Zeitsprünge) der Gleichung E3 mit ungeradzahligem ‚Re-entry’
vorgestellt haben, der Tunnel und der quadratische Wellenzug, können auch für
die Gleichung mit geradzahligem ‚Re-entry’ El (und den Grenzfall E2) ver-
wendet werden. Hier zeigt allerdings die Tunnelgraphik die Zeitsprünge: zu der ”
8
Vgl. LoF:60 unten.
Hier wird implizit das ‚unwritten cross’ aus dem zweiten Kapitel aufgerufen: Punkt p findet sich
sowohl im Kreisinneren wie auch im darauf folgenden flachsten Raum. Dieser muss von einem ‚unwritten cross’ umgeben vorgestellt werden, denn das eigentliche Kreisäußere gehört nicht zum Ausdruck der linken Seite der Gleichung.
III. Kommentar — Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE
Gleichung El: f=
‘fa lbl
187
gehört die Gestalt von zwei ineinander liegenden
Kreisen. Innerhalb des inneren Kreises liegt a, innerhalb des äußeren Kreises
liegt b. Da f zum einen der Gesamtausdruck (auf der linken Seite der Gleichung)
und zum anderen der innerste Teilausdruck (auf der rechten Seite der GleiChung, im Kreisinnern neben a) ist, wird die Kreisfläche des inneren Kreises mit
dem Äußeren beider Kreise verbunden (vgl. Abbildung 2).” Hier gehen die Impulse von den Belegungen der beiden Variablen a und b aus, der Wert, den
der Innenkreis in Abhängigkeit von a annimmt, wird (über den Tunnel) an das
Kreisäußere transmittiert und bestimmt somit den Gesamtausdruck.” Für den
Fall, dass beide Variablen a und b den Wert n (unmarkiert) annehmen, soll die Erinnerungsfunktion einsetzen. Es soll die Erinnerung gespeichert sein, welche der beiden Variablen a oder b zuletzt den Wert markiert angenommen hat.“ Wenn dies für a gilt, dann ist der ganze Ausdruck f markiert, wenn dies für b
gilt, dann ist der Ausdruck unmarkiert. Die effektive Transmission soll dabei auf
die Richtung von außen nach innen beschränkt sein.”
Die graphische Darstellung des Wellenzuges, hier vereinfacht für ein endli-
ches (viergliedriges) Echelon nach dem Typ von El vorgeführt, wird verwendet, um die Zeitverläufe der Erinnerungsfunktion von El zu illustrieren (vgl. Abbil-
dungen 3 und 4).** Die Repräsentation durch den Tunnel dient hier als verkürzte
Darstellung, die Repräsentation durch den Wellenzug kann die Transmissionswelle der partiellen Erinnerung entfalten. Werden a und b auf n gesetzt, alterniert der Wellenzug beginnend mit einem Tal (a = n) zu einem Berg (n wird
durch Inversion zu m), wieder zu einem Tal (m wird durch erneute Inversion zu n) usw. bis der Wert des Gesamtausdrucks f = n entstanden ist. Wird nun a auf m gesetzt, bedeutet das die Inversion des gesamten Ausdrucks. Fällt a dann wieder auf n zurück, wirkt dies zunächst nur im innersten Raum, denn nur der innerste Raum wird nicht von woanders her mit einem Impuls m versorgt. Das Abfallen von a auf n bewirkt nur eine einzelne Welle, die sich mit Verzögerung bis an den Ausgang fortsetzt und diesen irgendwann invertiert.”* Der Wellenzug ? *!
Vgl. LoF:61. Vgl. dazu die Wertetabelle für die Gleichung El, LoF:56.
Für eine technische Umsetzung kann dies als logischer Speicherbaustein verstanden werden, der einen Zustand für eine gewisse Zeit speichern und wieder zur Verfügung stellen kann, vgl. dazu
z.B. Seifart 1998:153. Mann 1993:106f. zeigt die Übereinstimmung von El mit einem einfa-
^
”
chen, asynchronen ‚RS-Flip-Flop’, das aus zwei kreuzgekoppelten NOR-Gattern aufgebaut ist.
Vgl. LoF:62. In den Notes zum elften Kapitel heißt es, dass jede geradzahlig ‚subvertierte’
Gleichung auch geradzahlig in-formiert genannt werden könne. Sie kann als Subversion (UnterWendung) der Oberfläche oder als In-formation (Formgebung innerhalb, eigene Form innerhalb seiner selbst) gesehen werden. Diese Struktur kann als Vorläufer für kompliziertere Formen von Gedächtnis verwendet werden, vgl. LoF:100.
LoF:63f.
장인.
dazu und zum folgenden Punkt Mann 1993:112. Spencer Brown betont in den Notes zum
elften Kapitel den Unterschied zwischen diesen quadratischen Wellenzügen eines Echelons und
188
Katrin Wille
zeigt, dass diese Funktion ein ,begrenztes’ Gedächtnis hat, bei dem Umschalten
von a auf m wird der Wellenzug sofort invertiert, bei dem Zurücksetzen von a wieder auf n wirkt sich diese Anderung nicht sofort auf f aus, sondern erst, wenn das dabei entstehende Wellental das Ende des Zuges erreicht hat. Im Falle der eigentlichen Funktion von El, dem unendlichen Echelon, wiirde das Wel-
lental das Ende des Zuges nie erreichen, der Wert von f bliebe also erhalten. 10. Erweiterung der Notation: Marker als Netzwerke
Nachdem die beiden einfachen Funktionen ungeradzahliger und geradzahliger
‚Re-entries’ formal durch das Wiedervorkommen von f auf beiden Seiten ausgedriickt und durch zwei graphische Repräsentationen, die durch Tunnel und die durch Wellenziige, umgesetzt worden sind, ist nun eine Notationserweiterung
für komplexere Funktionen nôtig. Die Notation für ein ,Re-entry’ muss zwei
Bedingungen erfüllen: erstens muss deutlich werden, wo der Wiedereintritt stattfindet, zweitens muss klar sein, welcher Teil des Ausdrucks wieder eintre-
ten soll. Beides wird durch eine direkte Verbindungslinie mit einem um eine Spitze erweiterten ,cross’ geleistet. El kann also in neuer Notation folgender-
maßen geschrieben werden: ialb| . Beide Zeichen, die keine Buchstaben sind,
werden im Folgenden ,marker’ genannt, denn im Zusammenwirken mit dem ‚Re-entry’ verliert das ‚cross’ zwischen a und b seine Funktion, eine Grenze zu
sein. Vielmehr repräsentieren beide Zeichen eine gemeinsame Grenze. Im Falle
von Ausdrücken mit ‚Re-entry’ ist also ein ‚cross’ ein ,marker’, ein ,marker’ muss aber nicht unbedingt ein ‚cross’ sein.
Durch diese graphische (und nicht mehr typographisch-lineare) Notation
wird
deutlich,
dass
‚Re-entry’-Ausdrücke
als Netzwerke
aufgefasst
werden
können. In einem Netzwerk stehen alle Elemente miteinander in Beziehung,
jedes Element kann von anderen Information bekommen. Die durch ,crosses’ unterschiedenen Bereiche werden also miteinander vernetzt, aus ‚crosses’ werden Elemente eines Netzwerks, Marker. Dieser Charakter von Netzwerken wird
in einer neuen graphischen Repräsentation von Modulationsfunktionen augenfällig. 11. Modulationsfunktion
Funktionen zweiten Grades, also solche mit einem
‚Re-entry’, sind entweder
Oszillationsfunktionen (ungeradzahlig) oder Gedächtnisfunktionen (geradzah-
lig). Spencer Brown nimmt hier wieder einen Erweiterungsschritt vor hin zu Gleichungen höheren Grades, also mit mehr als zwei ,Re-entries’, die für Funkdem physikalischen Wellenzug, der von einem mgeregten Teilchen emittiert wird. Die im elften Kapitel verwendeten Wellenzüge seien zum einen quadratisch und zum anderen ohne Energie und könnten als vereinfachte Vorläufer physikalischer Wellenzüge verstanden werden. Diese könnten erst durch die Entwicklung weiterer Unterscheidungen erreicht werden, vgl. LoF:101.
III. Kommentar — Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE
189
tionen stehen, die zählen können. Dies ist der letzte Erweiterungsschritt, der in den Laws of Form vorgenommen wird und Spencer Brown gibt auch nur einige Hinweise in diese Richtung. Die Funktion des Zählens soll als Regelung (Modulation) einer Wellenstruktur umgesetzt werden. Gewählt wird die einfachste Regelung, die Eingangsfrequenz soll halbiert werden, es wird also die Zählfunktion ‚Division durch 2’ in
einer Wellenstruktur mit acht Markern ausgedrückt.”” Die Gleichung E4” steht
für diese Zählfunktion mit acht Markern, von denen vier für ‚Re-entries’ stehen, die in einen flacheren Raum wieder eintreten, einer für ein ‚Re-entry’, das in einen tieferen Raum wieder eintritt, einer für ein ‚Re-entry’ mit mehr als einem Wiedereintritt und zwei für ‚crosses’ ohne ‚Re-entry’. Das ganze ist eine Modulationsfunktion, durch die die Eingangsfrequenz halbiert werden kann. Da die Funktionen mit ‚Re-entry’ eigentlich eine dreidimensionale Darstel-
lung brauchen, die Gleichung druck bringen sein, alles was
entwickelt Spencer Brown eine graphische Repräsentation für E4, die die rückgekoppelten Informationsflüsse besser zum Auskann. Marker sollen durch einen vertikalen Strich repräsentiert unter den Markern steht, soll mit Leitungen auf der linken Seite
mit den vertikalen Strichen verbunden werden.
Je flacher die Räume,
weiter rechts stehen die vertikalen Striche. Die Gleichung E4 phische Repräsentation gebracht und an jeder Umschaltstelle ker wird deutlich, wie sich dort die Frequenz ändert, bis mit nal die Frequenzhalbierung erreicht ist. Werden nicht nur wie verwendet, sondern auch imaginäre Werte erlaubt, dann kann
Wellenstruktur mit nur sechs Markern erreicht werden.”
desto
wird in diese gradurch einen Mardem Ausgangssigin E4 reale Werte eine etwas andere
Spencer Brown bricht die Erweiterungsschritte des elften Kapitels an dieser Stelle ab. Das elfte Kapitel setzt in besonderer Weise die Erlaubnis um, die im Kanon 5 explizit ausgesprochen worden ist: ‚expansion of reference’: „Thus, in general, let any form of reference be divisible without limit.“ Dieser Prozess
könnte ohne Beschränkung fortgesetzt werden, es könnten z.B. kompliziertere ~
인. zu verschiedenen Vananten von Frequenzteilern Seifart 1998:206ff.
7
Vel. die Abbildungen der Gleichung E4 (LoF:67) und die Variante mit imaginären Werten (LoF:68). Diese Abbildungen können als mathematische Abstraktion von digitalen Netzwerken, die aus NOR-Gattern bestehen, aufgefasst werden, vgl. dazu Kauffman 1978:179 und zur genaueren Beschreibung und Variation des Verhaltens der Modulationsfunktion 8.8.0.: 183. Spencer Brown führt in den Notes zum elften Kapitel aus, dass die beiden letzten Schaltkreise des elften Kapitels Erfindungen von ihm und seinem Bruder für British Railways sind. Damit sei zum ersten Mal ein Gerät konstruiert worden, das gänzlich mittels ‚Logik’ zähle, ohne Kondensatoren zu benötigen. Außerdem sei damit der erste Gebrauch imaginärer Werte für reale Antworten in einem Schaltkreis vorgelegt, vgl. LoF:99. In der Einleitung zur deutschen Ausgabe werden diese Ausdrücke ‚Reduktoren’ genannt, vgl. Spencer Brown 1997:xiv.
Vgl. LoF:66.
”
Vgl. den Kommentar zum dritten Kapitel sowie LoF: 10.
190
Katrin Wille
Modulationsfunktionen entwickelt werden. Dabei besteht die Gefahr, das ei-
gentliche Anliegen dieses Buches zu vergessen, nämlich die Form einer einzigen Konstruktion zu bedenken, eben die der ersten Unterscheidung. Alles, was in diesem Buch geschehen ist, sind Betrachtungen von möglichen Erschei-
nungsweisen der ersten Unterscheidung. Bevor das Buch zu einem Ende kommt, gilt es im zwölften und letzten Kapitel, sich auf die Vereinbarung zu-
rückzuwenden, mit der das Buch im ersten Kapitel begonnen hat. 12. Zusammenfassung und Familienähnlichkeiten
Das elfte Kapitel ist das Kapitel der Erweiterungen, der Erweiterung des Rahmens der Primären Arithmetik, der Erweiterung der Notation und der Erlaubnis
zu vielen weiteren Erweiterungen. Dabei ist nicht zu vergessen, und da beugt sich das Buch zu seinem Anfang zurück, dass all diese Erweiterungen Erschei-
nungen der ersten Unterscheidung sind, verschiedene Blickwinkel und Möglichkeiten unseres Geistes, die Konstruktion der ersten Unterscheidung auszuführen, zu betrachten und darzustellen. Das elfte Kapitel ist das explorativste, experimentellste aber auch am we-
nigsten fertig gestellte Kapitel des gesamten Buches.” Es werden eine ganze Reihe von Strukturen explizit oder implizit ins Spiel gebracht, die mit dem ‚Reentry’ in Verbindung stehen, sich aber nicht genau mit ihm decken. Es sollen in diesem letzten Abschnitt zum elften Kapitel zum einen die Idee des ‚Re-entry’
bei Spencer Brown zusammengefasst und zum anderen einige Familienähnlichkeiten aufgezeigt werden.
Das ‚Re-entry’ hat einen doppelten Charakter, es ist Struktur und Dynamik
zugleich. Deshalb sind auch verschiedene Notationen nötig, die einmal mehr den strukturellen, dann wieder mehr den dynamischen Charakter zum Ausdruck
bringen. Kennzeichen dieser Struktur/Dynamik des ‚Re-entry’ sind: e
e
Ein ‚Re-entry’ kann durch eine klare algebraische Konstruktionsanweisung erzeugt werden. Diese Anweisung soll end- oder zeitlos (timelessly) fortge-
setzt werden.
Wird ein Fortsetzungsmuster“ deutlich, kann der Prozess der Iteration die-
ses Musters in einem speziellen Zeichen kondensiert werden. Im Falle von Ausdrücken zweiten Grades mit nur einem ‚Re-entry’ sind diese speziellen
%
In den Transkripten der AUM-Konferenz gibt es eine Äußerung über die Unsicherheit, das elfte
”
Dadurch konvergieren Invarianz und kontinuierlicher Prozess.
Kapitel in das Buch aufzunehmen oder nicht: „And I wasn’t quite sure whether to put it in at this point — because the book had to be finished. I wasn’t quite sure whether to put in, with this chapter, this beautiful breaking up of the truth where you get the rainbow, which turns into the Fibonacci series. You break up white light and you get the colors. You break up truth and you get the Fibonacci. [sic!]” (AUM 2,11) (Fibonacci-Folge: Folge der Zahlen 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, ... , wobei jedes Glied gleich der Summe der beiden vorangehenden Glieder ist, allgemein: a „+1 = a. + An
Mit 31 = a = 1)
III. Kommentar - Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE
Zeichen die gleichen wie chungen El, E2, E3). Mit das Fortsetzungsmuster an ausdruck eintritt. Im Falle e e
19]
die fiir den Gesamtausdruck (wie bei den Gleidiesem speziellen Zeichen wird angezeigt, dass dieser Stelle wieder und wieder in den Gesamtvon Ausdrücken zweiten Grades ist dieses Fort-
setzungsmuster der Gesamtausdruck selbst.
Dadurch werden die Grenzen zwischen den verschiedenen Elementen des
Ausdrucks (partiell) aufgehoben und das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis erlaubt die Transmission von Information.
Zeit und logische Struktur werden in der Struktur/Dynamik des ,Re-entry’
konstitutiv
zusammengebunden.
Die
zeitlichen
Verzögerungen
bei
den
Transmissionsvorgängen und das logische Verhalten werden nicht vonein-
e
ander getrennt.
Es gibt drei Grundtypen von ‚Re-entry’-Ausdrücken: o
o o
Ausdrücke mit nur einem ungeradzahligen ‚Re-entry’. Das sind Oszillationsfunktionen.
Ausdrücke mit nur einem geradzahligen ‚Re-entry’. Das sind Gedächt-
nisfunktionen. Ausdrücke mit mehreren nen.
,Re-entries’. Das sind Modulationsfunktio-
Familienähnlichkeiten der Struktur/Dynamik turen und Dynamiken werden durch Spencer und in anderen Texten implizit oder explizit entry’ Spencer Browns ist voll von Ansätzen,
des ‚Re-entry’ mit anderen StrukBrown im Text der Laws of Form genannt. Die Literatur zum ‚Redas ‚Re-entry’ mit verschiedenen
anderen Strukturen zu identifizieren, damit aber auch zu vereinnahmen und zu
verkürzen. Es ist bei allen Interpretationen und Anwendungen wichtig zu sehen, dass das ,Re-entry’ eine komplexe Struktur/Dynamik mit verschiedenen Grund-
typen ist, die nicht zu einem ‚Re-entry’-Singular verkürzt werden dürfen, wenn
man sich auf die Ideen der Laws of Form beziehen will. Im Folgenden seien
einige familienähnliche Strukturen aufgeführt, mit denen es Überlappungen, aber nicht immer volle Übereinstimmung gibt:
Selbstreferenz: Kennzeichnend für die Struktur der Selbstbezeichnung ist, dass das, was bezeichnet, das ist, was bezeichnet wird. Bei einem selbstreferentiellen Satz gibt es einen Teilausdruck, der den ganzen Satz bezeichnet. Die Gemeinsamkeit mit
der Struktur/Dynamik von ‚Re-entry’-Ausdrücken zweiten Grades liegt darin, dass ein Teilausdruck (auf der rechten Seite der Gleichung) für die ganze Gleichung steht.
192
Katrin Wille
Rekursion:
Rekursive Verfahren sind dadurch gekennzeichnet, dass sie immer wieder auf sich selbst angewandt werden, bis eine gesuchte Größe erreicht ist. Das geradzahlige ‚Re-entry’ in der Gleichung El kommt durch eine rekursive Vorschrift zustande, der allerdings kein Ende gesetzt ist. Wenn wir in dem Ausdruck 1+1/( ) an die Stelle der Klammer immer wieder den ganzen Ausdruck einset-
zen, dann erhalten wir z.B. eine Variante der Fibonacci-Reihe, die Spencer
Brown in den AUM-Transkripten mit dem elften Kapitel in Beziehung setzt.* Geometrische Rekursion führt zur Entwicklung von Fraktalen, wie der Koch-
Kurve.”
Selbst-Ahnlichkeit: Die Struktur/Dynamik des geradzahligen
,Re-entry’ hat mit der Struktur der
Selbst-Ahnlichkeit gemeinsam, dass in einem solchen Ausdruck eine Kopie
seiner
selbst
innerhalb
seiner
selbst
vorkommt.
Die
Struktur
der
Selbst-
Ahnlichkeit bedeutet auch einen besonderen Fall der Teil-Ganzes-Beziehung: Das Ganze ist Ganzes und gleichzeitig Teil seiner selbst.
Feedback:
Feedback wird meist als Prozess verstanden, in dem der Output eines Kreislaufes den Input verändert. Häufig erweist sich diese Trennung zwischen Input und
Output als künstlich, da ,Input’ und ,Output’ simultan und in Abhängigkeit voneinander entstehen. Beide Varianten können auf die Struktur/Dynamik des ‚Re-entry’ bezogen werden. Die Modulationsfunktion eines ‚Re-entry’ achten
Grades wie im elften Kapitel der Laws of
Form hat einen bestimmten Frequenz-
input, der vom Output durch den achten Marker verändert wird. Die Oszillati-
onsfunktion ist ein Beispiel für die simultane Entstehung von ‚Input’ und ‚Out-
put’.
Zirkularität:
Die Struktur/Dynamik von allen Typen von ‚Re-entries’ ist zirkulär. In einem oder mehreren Kreisläufen kann die transmittierte Information an eine Stelle zurückfließen, von der sie ausgegangen war.
‘! “
Vgl. Kauffman 1987b:62 sowie AUM 2,10.
Vgl. Kauffmans kurze Skizze der Fraktalidee nach Mandelbrot als ein geometrisches ‚Reentry’, 1987b:63.
III. Kommentar — Das elfte Kapitel: EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE
193
Imaginäres:
Die imaginäre Zahl i, die Wurzel aus Minus 1, hat eine reale und notwendige Funktion in der üblichen Mathematik und kann geometrisch als ,realer’ Vorgang interpretiert werden. Dadurch können Gleichungen gelöst werden, die sonst nicht direkt gelöst werden könnten. Diese Funktion hat auch der imaginäre Wert des ungeradzahligen ‚Re-entry’ zweiten Grades der Gleichung E3. Der imaginäre Wert bekommt eine reale Funktion in Kalkulationsvorgängen, die
sonst nicht ausgeführt werden können. In der Interpretation als oszillierender
Wellenzug wird eine ‚reale’ Deutung möglich.” Paradoxie:
In einem schwachen Sinne wird dann von einer Paradoxie gesprochen, wenn
etwas gegen die Überzeugungen des common sense geht (para doxa) und trotzdem wahr ist. Paradoxien bewegen sich also im Paradigma der Wahrheit, aus dem Spencer Brown mit den Laws of Form erklärtermaßen austreten will. In
einem stärkeren Sinne wird bei Selbst-Widersprüchlichkeit von Paradoxien gesprochen. Dies trifft für das ungeradzahlige ‚Re-entry’ in der Gleichung E3 zu — aber eben nur, solange die Konsistenzforderung der Primären Arithmetik gilt.
?
Kauffman zeigt, dass die imaginären Werte und die imaginären Zahlen die gleichen Eigenschaf-
ten haben, vgl. Kauffmann 1987b:69.
Das zwölfte Kapitel: RE-ENTRY INTO THE FORM
Tatjana Schönwälder-Kuntze
1. Titel
Der Titel des zwölften Kapitels bezeichnet eine andere Art des Wieder-Eintritts
in die Form (der Unterscheidung) als das spezifische ‚Re-entry‘ im elften Kapi-
tel, das sich dort auf Gleichungen mit unendlich tiefen Ausdrücken bezieht. Der hier vorgestellte Wieder-Eintritt in die
die
Form thematisiert Arten und Weisen, wie
Form betrachtet bzw. dargestellt werden kann. Das ist auf ‚unendlich vielen
verschiedenen Wegen‘ möglich — der vorgestellte Kalkül ist nur einer davon. Die Experimente des zwölften Kapitels und die Notes zu diesem Kapitel deuten andere Wege an. Jede der die entstandene Form darstellenden wie betrachten-
den Weisen stellt als Darstellung oder Betrachtung aber auch einen WiederEintritt in die Form dar, wie gezeigt wird. Der Wieder-Eintritt in die Form wird also in diesem Kapitel auf verschiedene Weise dargestellt und vollzogen. 2. Inhalt Der Inhalt des zwölften Kapitels besteht darin zu zeigen, dass jede Darstellung
der Form oder alle Hinweise
auf die (Seiten der) Form
der Unterscheidung
zugleich einen Wiedereintritt in die Form bedeuten. Das ‚Re-entry‘ meint hier
einen „return for a last look at the agreement with which the account was opened“ (LoF:68), d.h. ein Zurück zu der Vereinbarung, mit der das — nun verfasste und gelesene — Buch begonnen hat, zum Ausgangspunkt der Laws of Form. Diesen Ausgangspunkt bilden die beiden Voraussetzungen des ersten Kapitels — die ‚Idee des Hinweisens‘ und die ‚Idee der Unterscheidung‘ 一 die im Folgenden als Eigenschaften jedes Zeichens schlechthin ausgewiesen und so ex post ‚als Gegebene‘ gerechtfertigt werden können. Das letzte Kapitel der Laws of Form beginnt zunächst mit allgemeinen Bemerkungen über die Möglichkeiten der Betrachtung und Darstellung der Form. Anschließend werden unter Verwendung einer anderen Notation, d.h. einer
anderen Darstellungsform, vier Experimente gemacht. Am Schluss dieses Kapitels und damit auch am Ende des Haupttextes steht eine spezifische Evaluierung eines ‚mark‘, die in den Notes aufgegriffen und vertieft wird: Wir selbst als ‚observer‘ werden dort zum unterscheidenden Zeichen einer Seite in einer
der Unterscheidung.
Form
III. Kommentar — Das zwölfte Kapitel: RE-ENTRY INTO THE FORM
195
3. Betrachtungen der Form: Motivation, Konfusion und zweierlei Referenzen Motivation:
Das zwölfte Kapitel beginnt mit folgenden Sätzen: „The conception of the form
lies in the desire to distinguish. Granted this desire, we cannot escape the form, although we can see it any way we please.“ (LoF:69).
(B) ,conception‘ vgl. die etymologischen Hinweise im Kommentar zum dritten
Kapitel.
‚distinguish‘ ist im Englischen nur das Verb zu ,distinction‘. Sowohl das engli-
sche ‚distinguish‘ als auch das lateinische ,distinguere’ haben neben ,unterscheiden‘ und ‚trennen‘ auch noch die Bedeutungen ‚verschieden färben‘, ,verzieren‘ und ‚ausschmücken‘. Als Adjektiv ‚distinctus‘ heißt es auch ‚streng gegliedert‘, ‚klar‘, ‚bestimmt‘ und ‚wohlgeordnet‘. Auch das Nomen ,distincti-
on‘ kann im Englischen in dieser Bedeutungsvielfalt verwendet werden, d.h. im Sinne von ‚Zierde‘, ‚Schmuck‘ oder auch ‚Färbung‘, aber auch ‚Bestimmtheit‘, ‚Wohlgeordnetheit‘ und ‚Klarheit‘.
Zunächst wird (uns) also gesagt, dass das Zusammenfassen, Erkennen, Begreifen oder auch Vorstellen und Entwerfen der Form (conception of the form) auf dem Wunsch oder dem Begehren zu unterscheiden, klar zu trennen bzw. verschieden zu färben beruht. Das heißt nicht, dass hier eine weitere Bedingung für das Unterscheiden eingeführt wird, sondern dass eine Folge, die sich aus dem Wunsch zu unterscheiden, zu ordnen oder zu verzieren ergibt, im Erkennen der
Form liegt. Wird dieser Wunsch erst einmal zugestanden, könne der Form nicht mehr entkommen werden, auch wenn wir die Form auf jede Weise betrachten können, die uns gefällt. Weiter heißt es, dass der in den Laws of Form dargestellte Kalkül nur eine
Art und Weise darstellt, die Form zu betrachten: durch die Form lässt sich der Kalkül der Hinweisformen sehen und umgekehrt lässt sich die Form sehen, die im Kalkül zu sehen ist, auch ohne die helfende oder störende Vermittlung oder Einmischung (intervention) durch Gesetze, Initialgleichungen, Theoreme oder Folgerungen etc., d.h. ohne den Kalkül. (D Die Darstellung des Indikationenkalküls mit seinen deskriptiven wie zum Nachmachen auffordernden Kapiteln kann unter zwei Perspektiven betrachtet
werden: einmal als Darstellung der Form der Unterscheidung überhaupt und
einmal als Hinweissystem auf die Form der Unterscheidung. Eine Art, die Form zu sehen oder zu erkennen, besteht in der Berechnung (calculus) verschiedener Hinweis(formen), die dazu dienen, auf die Form der Unterscheidung hinzuwei-
sen. Damit ist auch jede Anwendung oder Übersetzung bspw. (in) die formale
196
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Logik eine Art, auf die Form der Unterscheidung hinzuweisen. Andere Hin-
weisarten werden durch die vier Experimente des zwölften Kapitels präsentiert,
die so eine Darstellungs- und Betrachtungsvariation vorstellen.
Konfusion: In den Experimenten erhält das Gleichheitszeichen eine andere Bedeutung als in den Kapiteln zwei bis elf, die bereits im ersten Kapitel durch die Möglichkeit der Identifizierung von ‚value of the content‘, ‚name‘ und ‚value of the call‘ angelegt ist. Mit der Verwendung des Gleichheitszeichens im Kalkül, d.h. im
zweiten bis elften Kapitel, wird die Aquivalenz zweier Hinweise, Ausdrücke oder auch Zeichen dargestellt, die wertgleich sind, weil sie auf den gleichen
Zustand hinweisen, sei er ‚markiert‘ oder ‚unmarkiert‘. Die Identifikationsmög-
lichkeit im ersten Kapitel lässt sich durch eine ‚Eigenschaft‘ jedes Zeichens begründen: Jedes Zeichen oder jeder Name ist an sich selbst eine Unterschei-
dung und weist somit auch auf sich als solche hin. Um diese Konfusion geht es
in den vier Experimenten dieses Kapitels. Sie wird mit dem Gleichheitszeichen, das hier für ‚is confused with‘ steht, angezeigt. ' Das Gleichheitszeichen steht hier also nicht nur für die Äquivalenz zweier (verschiedener) Zeichen oder Ausdrücke, sondern es wird in den Experimenten
für den Austausch einer Notation gegen eine andere verwendet — Buchstaben gegen geometrische Gebilde und vice versa. Durch diesen Austausch kommt es aber auch zu einer Ebenen- oder Typvertauschung oder -verwechslung zwischen einer faktischen Unterscheidung einerseits und einem Hinweis auf sie andererseits. Die Vorführung dieser durch den Notationswechsel entstehenden Konfusi-
on zeigt die doppelte Eigenschaft jedes Zeichens, die darin besteht, dass jedes
Zeichen einerseits an sich selbst eine vollzogene, faktische Unterscheidung ist
und andererseits auch auf eine vollzogene Unterscheidung hinweist.
Dass diese beiden Eigenschaften jedem Zeichen (Unterscheidung zu sein und auf Unterschiedenes hin zu weisen) inhärent sind, und dass sie somit in
jedem Zeichen kondensiert sind, wird durch die Experimente des zwölften Kapi-
tels anhand eines Beispiels gezeigt. Auf diese Weise rechtfertigen die Experimente nochmals den Gebrauch der Zeichen für den ‚calculus of indications‘, der im zweiten Kapitel vorgestellt wird, und beleuchten die Voraussetzungen des
ersten Kapitels unter einer anderen Perspektive. Ein Hinweis erfordert nicht nur eine vollzogene Unterscheidung, auf deren Seiten etc. er hinweisen kann, sondern er ist zugleich eine Unterscheidung in seiner eigenen Form. |
Die Wendung ‚be confused‘ kommt im Haupttext im Zusammenhang mit dem vierten arithmetischen Theorem vor. Dort wird die Konsistenz des arithmetischen Hinweissystems daran geknüpft, dass es beim geregelten Austausch von äquivalenten Hinweiszeichen nicht zu einer Verwechslung der Werte kommen darf, d.h. dass jedes Hinweiszeichen immer nur auf eine der
beiden Seiten hinweisen darf, vgl. den Kommentar zum vierten Kaptel.
III]. Kommentar — Das zwölfte Kapitel: RE-ENTRY INTO THE FORM
197
Vor der Durchführung der Experimente erfolgt noch ein letzter Einschub, der sich auf die Referenzen bezieht, die beiden Seiten einer Unterscheidung inhärent sind. Obwohl dies einer der letzten Hinweise der Laws of Form ist, birgt er einige Brisanz in Bezug auf bestimmte Deutungen des ganzen Buches, die er zu
stützen bzw. zu provozieren scheint: Es geht um den Beobachter oder Betrachter (observer), der häufig zum — scheinbar — wesentlichen und vor allem relevanten Bestandteil jeder Form der Unterscheidung erklärt wird.? Referenzen: (B) ‚reference‘ (vgl. die etymologischen Hinweise im Kommentar zum 3. Kapitel.).
Wegen der angesprochenen Brisanz wird das Textstück im Einzelnen wiedergegeben: „We may also note that the sides of each distinction experimentally drawn have two kinds of reference.” (LoF:69, Hvhb. T.S.)
(D Eine ,versuchsweise‘ getroffene Unterscheidung ist als Resultat einer konkreten, vollzogenen Unterscheidung eine weder mit spezifischen Konnotationen
der Welterfahrung noch mit der Komplexität der Welt aufgeladene Unterschei-
dung, weil sie getroffen wird, um die lernen.
Form der Unterscheidung (er)kennen zu
„The first, or explicit, reference is to the value of a side, according to how it is marked.“ (ebd.)
(I) Die explizite Referenz ist diejenige, die die Seiten als markierte oder unmar-
kierte zeigt, also ein Ausdruck mit oder ohne Zeichen. Auch der leere Ausdruck, das ‚void‘, wäre eine explizite Referenz auf die unmarkierte Seite, so wie ein Zeichen die Referenz auf die Seite ist, die sie zur markierten macht.
„Ihe second, or implicit, reference is to an outside observer. That is to say, the outside is the side from which a distinction is supposed to be seen.“ (ebd. Hvhb. T.S.)
(SK) In den Notes wird anhand eines Beispiels deutlich, dass der Standpunkt des
Betrachters notwendig ist, um einem Ausdruck oder Zeichen seinen Hinweis-
charakter zu verleihen. Das gilt z.B. dann, wenn die Grenzen eines Ausdrucks
bzw. eines Zeichens, das ja etwas Bestimmtes bedeuten soll, sich nicht ,von selbst‘ ergeben, wie das beispielsweise bei einem Blatt Papier der Fall ist, und
sie stattdessen nicht eindeutig bestimmbar sind — wie auf einem Würfel oder
einer Kugel.’
2 ;
Vel. IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie. Vgl. den Kommentar zum vierten Kapitel.
198
Tatjana Schönwälder-Kuntze „We must also indicate where the observer is supposed to be standing in relation to the expres-
sion. ... to make an expression meaningful, we must add to it an indicator to present a place from which the observer is invited to regard it.“ (LoF:103, Hvhb. T.S.).
(D) In dem vorliegenden Kommentar wird dieser Text nicht so interpretiert, dass
der Beobachter am Anfang jeder Unterscheidung stiinde und so die ontologische conditio sine qua non für alle Unterscheidungen überhaupt darstellte. Stattdessen werden das Textstiick und mit ihm die Laws of Form so gelesen, dass ein Hinweis auf etwas, d.h. die explizite Referenz, nur dann tatsächlich eine Referenz darstellt, wenn seine bzw. ihre Intention tibermittelt wird. Das bedeutet,
dass sie ihren hinweisenden Charakter nur dann vollständig zum Tragen bringen
kann, wenn derjenige, der sie betrachtet, sie auch zu erkennen vermag. Der (andere) Betrachter muss den Hinweis verstehen können, und deshalb sollte seine Position in die Konstruktion des hinweisenden Ausdrucks mit einbezogen
werden, indem sie angegeben wird. Die Position des Betrachters ist mithin not-
wendiger Bestandteil dafür, ein Zeichen auch zu einem bestimmten Ausdruck werden lassen zu können. Es geht also um eine angemessene Form der Darstellung, die dann angemessen ist, wenn der Ausdruck oder das Zeichen seinen
Inhalt zu vermitteln vermag.” Im Sinne Spencer Browns ist also auch der Unterscheider in den Laws of
Form und derjenige, der die Form durch den Kalkül sieht, nur ein Nach-Macher, ein Prozess-Erinnerer daran, wie
Soweit scheint also in Bezug auf die Form der Unterscheidung kein konstruktivistischer, alles
bestimmender oder erfindender Beobachter angesprochen — eine Figur, der diese Funktion zukäme, findet sich höchstens im vorführenden, auffordernden, benennenden, austauschenden ‚Prozessvollzieher‘ oder ‚Prozessvorführer‘. In unserem Falle wäre das George Spencer Brown, der uns ‚einlädt‘, die Haken oder das ‚void‘ auf einem flachen Raum als Darstellungsform für Ausdrücke anzusehen, mit denen auf die Seiten einer Unterscheidung hingewiesen werden kann. So weist er uns in dieser Hinsicht einen bestimmten Standpunkt zu, von dem aus sich nachvollziehen und nachdenken lässt, was er uns über die verschiedenen Arten von Zeichensystemen (seine Notation, das Alphabet zur Vermittlung der englischen Sprache, etc.), die das Buch ausmachen, vermitteln will. Es ließe sich einwenden, dass diese Interpretation das konstruktivistische Moment nur verschiebt, nämlich vom Beobachter zum Unterscheider. Der Unterscheider, der im Kalkül Entscheidungen trifft, d.h. sich für die Markierung der einen oder anderen Seite entscheidet, in Form von Kanones Erlaubnisse formuliert, Anweisungen gibt, die Leser aufmerksam macht etc., hat jedoch dennoch keinen Einfluss auf das, was sich entwickelt. Zwar liegt es an ihm als Darstellendem, das zu Sehende auch sichtbar zu machen, und an den Beobachtenden, es zu sehen, aber es liegt beispielsweise nicht an ihm oder an ihnen, dass hinweisende Ausdrücke diese oder jene Eigenschaften entwickeln, wenn sie in einem Austauschprozess verwendet werden. Auch ist das Aufdecken von Zusammenhängen ein kreativer Akt, in dem aber nur aufgedeckt werden kann, was auch aufdeckbar ist. Das bedeutet, dass zwar eine Richtung vorgegeben sein kann, dass Zusammenhänge aus dem Verborgenen geholt werden, die ein/e andere/r vielleicht nicht gesehen hätte, dass manchmal die Reihenfolge der Explikation arbiträr ist (wie mit T3 und T4), kurz: dass das Wie der Darstellung der Entwicklung beeinflussbar ist — nicht aber das, was dargestellt wird, nämlich das, was sich aus dem Wunsch zu unterscheiden entwickelt bzw. entwickeln kann.
III. Kommentar — Das zwölfte Kapitel: RE-ENTRY INTO THE FORM
199
„we manage to maintain a universe in any form at all, and our understanding of such a universe comes not from discovering its present appearance, but in remembering what we originally did to bring it about. In this way the calculus itself can be realized as a direct recollection. ... “ (LoF:104).
Der basale, ursprüngliche Akt des Unterscheidens ist ein das Hinweisen und die Wahrnehmung der Welt begleitender, weil konstitutiver Akt. So könnte man sagen, dass es zum reinen Akt der Konstruktion durch das Treffen von Unter-
scheidungen keine Alternativen gibt, und dass mit ihm und durch ihn zusammen
mit den konkreten, bedeutungsgebenden Akten die Mannigfaltigkeit der Welt entsteht — und natürlich auch über die verschiedenen Möglichkeiten oder Formen der Darstellung, d.h. Sprachen, Zeichen, Symbole und Ausdrücke im weitesten Sinne, mit denen auf die Resultate von Unterscheidungen hingewiesen
wird.”
Der Standpunkt des ,observer‘ ist also wichtig, damit das Zeichen auch im
intendierten Sinne bedeutend sein kann, damit es mitteilen kann, was es mitteilen soll, damit es das anzeigt, auf das hinweist, auf das es hinweisen soll. Erinnert man nochmals das oben zitierte Textstück, sieht man, dass es über die Refe-
renzen der Seiten spricht und nicht etwa über Referenzen des Beobachters, d.h. die Bezugnahme geht von der Seite oder ihrem Wert zum Betrachter und nicht umgekehrt.
Die allem Unterschiedenem inhärente universelle wie einfache Struktur der im Akt der Unterscheidung entstandenen Form bildet aber den /rhalt der Laws of Form — und diese wird keineswegs als variabel verstanden, und daher ist der Betrachter hier nur als dem angemessenen, hinweisenden, expliziten Ausdruck korrespondierendes implizites Relatum zum ‚Inhalt‘ zu verstehen. 4. Darstellung der Form: Darstellung(sgesetze) der Hinweisformen Mit den vier Experimenten
werden
also weitere,
andere
Möglichkeiten
des
Form-Sehens oder Form-Erkennens einerseits und möglicher Hinweiszeichen
auf sie andererseits veranschaulicht: „The experiments below illustrate one of
the indefinite number of possible ways of doing this.“ (LoF:69).° Auch diesen
verschiedenen Betrachtungen der Form liegt als Motivation der ,Wunsch zu unterscheiden‘ zugrunde. Wichtig ist hier — um es nochmals zu betonen -, dass >
„Returning, briefly, to the idea of existential precursors, we see that if we accept their form as
endogenous to the less primitive structure identified, in present-day science, with reality, we cannot escape the inference that what is commonly now regarded as real consists, in its very presence, merely of tokens or expressions. And since tokens or expressions are concidered to be of some (other) substratum, so the universe itself, as we know it, may be considered to be an expression of a reality other than itself.“, LoF:104. Zu den philosophischen Implikationen bzw. Fragen, die so eine Konzeption aufwirft, vgl. 1V.C Philosophie. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Experimente mögliche andere zweite Kapitel ab der Einführung der Zeichen, d.h. ab dem Abschnitt ‚Knowledge‘ darstellen. Vgl. LoF:4 sowie den Kommentar zum zweiten Kapitel.
200
Tatjana Schönwälder-Kuntze
sich zwar der Kalkül von anderen Weisen, die Form zu sehen oder zu erkennen, äuBerlich unterscheidet, dass das aber nicht bedeutet, dass im Kern etwas ande-
res gesehen wird. Die Art der Vermittlung oder der hinweisenden Zeichen mag differieren, der übermittelte Inhalt als abstrakte Unterscheidungsform, auf die hingewiesen wird und die zugleich Bedingung des Hinweisens schlechthin ist,
bleibt jedoch derselbe.’
Jedes der vier Experimente beginnt mit dem Treffen einer Unterscheidung in Form eines Kreises. Dieser Kreis hat fünf Funktionen: Erstens ist er (ein Beispiel für) eine Unterscheidung und zweitens weist er auf (s)eine (Form der)
Unterscheidung hin. Drittens bildet er - so gesehen — eine Seite dieser
Form und
lich folgt aus den letzten beiden Funktionen zusammengenommen,
dass der
weist auch zugleich viertens auf diese Seite/diesen Inhalt hin. Fünftens schließ-
Kreis auch ein Hinweis auf sein Außen, auf die Seite ist, die er nicht direkt markiert. In den Experimenten wird mit diesen verschiedenen Funktionen oder
‚Eigenschaften‘ eines Zeichens oder Ausdrucks gespielt. Wichtig ist, dass die Kreise und die Markierung m, je nachdem, wo sie stehen, von einem ‚anzeigenden Raum‘
der
oder einem ungeschriebenen ‚cross‘ umgeben sind oder eben von
Form des Kreises, die das Resultat eines Unterscheidungsaktes ist.
Erstes Experiment
Das erste Experiment zeigt, dass es nicht notwendig ist, zusätzlich auf das ‚AuBen‘ von etwas hinzuweisen, weil jedes Unterscheidungsresultat immer die doppelte Funktion hat, es selbst zu sein und indirekt auf sein ‚Außen‘ hinzuweisen. Kreis, entsteht als das Resultat einer Unterscheidung und erzeugt seine Form der Unterscheidung. Sein ‚Außen‘ wird bezeichnet mit einem ‚mark‘. Die Konfusion ersetzt das ‚mark‘ durch ein anderes Zeichen: einen ‚Kreis‘ — der nur
zur Verdeutlichung des Unterschiedes im Folgenden den Index 2 erhält. Dieser Kreis, hat im Experiment die Funktion, auf das ‚Außen‘ des Kreises, hinzuwei-
sen. Ohne den Index ist kein Unterschied erkennbar zwischen Kreis, und dem Kreis, als Bezeichnung für das ‚Außen‘ von Kreis).
Es liegt also ein Gebilde vor, das in sich zwei Funktionen kondensiert: es ist das, dessen ‚Außen‘ es zugleich bezeichnet. Nimmt man den Kreis, als Namen,
dann bezeichnet man mit ihm seine Außenseite in (s)einer Form der Unterscheidung; nimmt man ihn als Kreis,, ist er einfach er selbst in seiner Form der Unterscheidung. Der Unterschied zwischen etwas und der Bezeichnung seines Außen ist daher ein überflüssiger: Wenn ich etwas habe, bezeichnet dieses etwas immer zugleich auch sein Außen; es ist zugleich es selbst und weist auf sein ‚Außen‘, d.h. auf seine Form der Unterscheidung hin. Die Verwendung eines 7
Vel. den Kommentar zum zweiten Kapitel, in dem auf die Variationsmöglichkeit der Darstel-
lungsform hingewiesen wird.
III. Kommentar — Das zwölfte Kapitel: RE-ENTRY INTO THE FORM
201
zweiten Zeichens erscheint also nur dann als notwendig, wenn etwas nicht in
seiner Form gesehen wird und das heißt, wenn der hinweisende Charakter auf das ‚Außen‘ nicht gesehen oder unterschlagen wird. Das erste Experiment stellt auch einen ‚Kondensationsvorgang‘ dar, der aber etwas anderes kondensiert als das erste Axiom, das im Law of calling beschrieben wird. Dort wird die Wiederholung der Namensnennung, d.h. der Zeichenverwendung zu einem Wert zusammengefasst, und hier die Unterscheidung zwischen eine Seite einer Unterscheidung sein und auf seine/ihre andere Seite hinweisen aufgehoben. Während das erste Axiom die Unterscheidung zwischen zwei gleichartigen Hinweisen aufhebt, wird hier die künstliche Unterscheidung zwischen zwei simultan entstehenden ‚Eigenschaften‘ jedes Zeichens erst vorgeführt, um dann wieder aufgehoben zu werden. Zweites Experiment
Das zweite Experiment thematisiert, dass durch eine Markierung dem Markierten zugleich ein Wert verliehen wird: der Wert, markiert zu sein. Wenn aber
eine Seite den Wert ‚markiert‘ erhält, dann erhält automatisch die andere Seite den Wert ‚unmarkiert‘. Kreis, entsteht als das Resultat einer Unterscheidung und erzeugt seine Form der Unterscheidung. Sein ‚Innen‘ wird bezeichnet mit einem ‚mark‘, das ‚Außen’ bleibt unmarkiert. Jedes Zeichen verleiht ja dem, worauf es hinweist, den Wert, dass auf es hingewiesen wird, mithin den Wert ‚markiert zu sein‘. Hier markiert das Zeichen das ‚Innen’ und deshalb erhält das ,Innen’ den Wert Bezeichnetes zu sein. Indem das ‚Innen’ ‚markiert’, ,bezeichnet’ oder als ‚bezeichnetes’ bewertet wird, erhält das ‚Außen’ auf indirektem Wege den Wert ‚unmarkiert’, ‚unbezeichnet’. Hier zeigt sich deutlich, dass es einen Unterschied
gibt zwischen ‚keine Markierung erhalten’ und ‚die Markierung, d.h. den Wert
‚unmarkiert’ zu erhalten. Letztere Evaluierung ergibt sich erst, indem eine Seite markiert wird, d.h. das Markieren der einen Seite macht die andere erst zu einer Seite, die dadurch den Wert ‚unmarkiert’ erhält. Die Konfusion ersetzt das ‚mark‘ wieder durch ein anderes Zeichen: einen weiteren Kreis,. Dieser Kreis, hat im Experiment die Funktion, das ‚Innen‘ des Kreises, zu markieren, d.h. er verleiht dem ‚Innen‘ des Kreises, den Wert ‚mar-
kiert‘ — damit ist Kreis, in diesem Experiment kein Hinweis auf Kreis,, sondern
ein Wertverleiher: Dein ‚Innen‘ sei markiert durch mich, d.h. es habe den Wert ‚markiert‘. Indem Kreis, das ‚Innen‘ von Kreis, zur markierten Seite macht, ist der Doppelkreis zugleich ein Hinweis auf den Wert des ‚Außen‘ als ‚unmarkiert‘. Es liegt also wiederum ein Gebilde vor, das in sich zwei Funktionen kondensiert: es zeigt, dass sein ‚Innen‘ den Wert ‚markiert‘ hat, und weist so auf
den Wert ‚unmarkiert‘ seines ‚Außen‘ hin 一 ebenso wie das Doppelcross auf den Wert des unmarkierten Zustandes hinweist.
202
Tatjana Schénwalder-Kuntze
Das zweite Experiment stellt einen , Aufhebungsvorgang dar, in dem etwas anderes aufgehoben wird als im zweiten Axiom, das im Law of crossing be-
schrieben wird. Dort weist die Absicht zur einfachen Grenzüberschreitung auf
eine Seite hin und die Wiederholung der Absicht zur Grenzüberschreitung hebt diesen ersten Hinweis wieder auf 一 im doppelten Sinne des Wortes ‚konservieren‘ und ,negieren‘ —, weil durch sie auf die andere Seite hingewiesen
wird. Hier werden hingegen verschiedene Funktionen eines Zeichens kondensiert: Indem ein Zeichen (das sowieso eine Unterscheidung in seiner eigenen
Form ist) seinen Raum oder Inhalt bzw. seine Seite der Form der Unterscheidung bezeichnet, markiert es diese Seite und verleiht ihr so den Wert ‚markiert‘.
Damit weist es zugleich auf den Wert der anderen Seite als ‚unmarkiert‘ hin.
Während das zweite Axiom die Richtungsverschiedenheit zweier Hinweise
in sich aufhebt, wird hier eine weitere künstliche Unterscheidung zwischen ein
Zeichen (für eine Unterscheidung) sein und durch den Markierungsvorgang zugleich dem Raum, in dem das Zeichen steht, den Wert ‚markiert‘ verleihen,
aufgehoben.°
Die ersten beiden Experimente zeigen andere simultan entstehende Aspekte eines Hinweises als die, die im ersten Kapitel explizit thematisiert werden:
Nicht die
Form der Unterscheidung ist hier Gegenstand der Betrachtung, son-
dern die verschiedenen Funktionen oder Wirkungen, die so ein Zeichen — man
könnte sagen, «sobald es einmal in der Welt aufgetaucht ist» — mit sich bringt. Jedes Zeichen ist (s)eine (eigene Form der) Unterscheidung. Als Zeichen weist
es zugleich auf einen unterschiedenen Inhalt, (s)ein Außen und auf sich als Unterscheidung hin. Aber als ein ‚in der Welt aufgetauchtes‘, existentes Zeichen
weist es nicht nur auf (irgend)etwas hin, sondern es befindet sich auch in einem Raum (in (s)einer Form der Unterscheidung), dem es den Wert ‚in Dir steht ein Zeichen‘ verleiht, d.h. den Wert ‚markiert‘.
Ein Zeichen lässt sich somit in seinen verschiedenen Eigenschaften oder Funktionen betrachten: als Unterscheidung, als Hinweis, als Markierung und
als Wertverleiher oder -zuweiser. Mit seinem Auftauchen finden folgende vier Prozesse zugleich statt: (1) es trifft eine Unterscheidung; (2) es weist auf sein Außen und seine mit hervorgebrachte Form der Unterscheidung hin; (3) es bezeichnet eine Seite seiner Form, die so zur bezeichneten Seite wird, und (4) es verleiht dieser Seite den Wert ‚markiert‘, so dass die andere Seite automatisch
den Wert ‚unmarkiert‘ erhält. Die ersten beiden Aspekte werden im ersten Axiom relevant, die letzten zwei im zweiten Axiom.
(SK) Bezogen auf die beiden Konfusionsaktionen im dritten Experiment heißt es in den Notes:
„Note that both of these ways of simplification are different from the methods of cancellation and condensation adopted for the calculus, although arising from, and thus not inconsistent with, them.“, LoF:104.
III. Kommentar — Das zwölfte Kapitel: RE-ENTRY INTO THE FORM
203
Drittes Experiment
Das dritte Experiment ist „an alternative way ... of using the principle of relevance” (LoF:103) aus dem achten Kapitel, das besagt, dass auf Eigenschaften, die allen Hinweisen oder Ausdrücken gemeinsam sind, nicht eigens hingewiesen werden muss, wie etwa auf das ungeschriebene ,cross’ oder den rezessiven Wert. Der andere Weg, dieses Prinzip zu benutzen, besteht darin, eine gemein-
same Eigenschaft herauszustellen und so den Unterschied in Bezug auf diese
Eigenschaft aufzuheben. Im Experiment werden dazu (1) nacheinander beide Seiten des Kreises mit einem ,mark’ bezeichnet, dadurch markiert und zugleich als ,markiert’ evaluiert, so dass (2) gilt: „they cannot, in respect of value, be
distinguished.” (LoF:73).
Die Konfusion ersetzt das mark‘ wieder durch ein anderes Zeichen: Einen weiteren Kreis,, der ebenfalls sowohl das ‚Innen‘ als auch das ‚Außen‘ des Kreises, bezeichnet, markiert und evaluiert: „Now, because of identical mar-
kings, the original circle cannot distinguish different values.“ (ebd.). Kreis, unterscheidet auf diese Weise nichts Verschiedenes voneinander — denn der Wertun-
terschied bestünde darin, ‚markiert‘ oder ‚unmarkiert‘ zu sein — und ist deshalb
keine Unterscheidung und weist auch auf keine hin.”
Wenn Kreis, keine relevante Unterscheidung ist (bezeichnet, markiert, evaluiert), ist er so etwas wie ein Allen zukommendes Merkmal, das überall weggelöscht werden kann. Er ist eben als eine Unterscheidung seiend eine Eigen-
schaft, die jedem Zeichen zukommt — deshalb kann er ohne Verlust oder Gewinn aus dem Raum, in dem er steht, gelöscht werden. Anschließend wird gezeigt, dass die Auslöschungspraxis von nicht unterscheidungsrelevanten Merkmalen mit den Ergebnissen der ersten beiden Experimente kompatibel ist. Viertes Experiment Das vierte Experiment fasst wie das dritte die ersten beiden Experimente zu-
sammen, aber in einer anderen Hinsicht: Wenn eine Unterscheidung getroffen wird, deren Seiten beide unmarkiert bleiben, führt das nicht etwa zum gleichen Ergebnis wie im dritten Experiment, sondern dazu, das Resultat einer Unter-
scheidung in seiner möglichen Bedeutungsvielfalt zu betrachten — was aber im vierten Experiment nur angedeutet wird. Ein Kreis ist ein Kreis, er weist als Unterscheidung immer auch indirekt auf sein ‚Außen‘ hin; ein Kreis ist also
auch ein Hinweis, der deshalb auch als Markierung seines ‚Außen‘ gesehen und durch ein anderes ‚mark‘ m ersetzt werden kann (Umkehrung des ersten Expe-
riments).
°
Zur Erinnerung sei auf das erste Kapitel hingewiesen: ,, ... there can be no distinction without motive, and there can be no motive unless contents are seen to differ in value“, LoF:1.
204
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Die Experimente zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: Ein in einem flachen Raum gezogener Kreis trifft eine Unterscheidung. Als solcher ist er (1) eine Unterscheidung, weist er (2) indirekt auf das ‚Außen‘ seiner Form der Un-
terscheidung hin und ist so auch ein Hinweis auf seine ganze Form. Wird eine
seiner Seiten mit einem ‚mark‘ (3) markiert, verleiht die Markierung dieser Seite (4) den Wert ‚markiert‘ und damit der anderen Seite den Wert ‚unmar-
kiert‘. All diese ‚Funktionen‘ stecken in jedem hinweisenden Zeichen, das immer auch an sich selbst eine Unterscheidung ist, und das immer zugleich auch ein Hinweis auf seine Form der Unterscheidung ist und damit ein WiederEintritt in die Form, weil es auf sich selbst und den Rest „des Universums“
zugleich hinweist. Die vier Experimente führen das vor. 5. Abschließende Folgerungen und Deutungen
Der Haupttext endet mit ein paar Folgerungen, die den ‚observer‘ und nochmals die Experimente in diesem Buch betreffen: Ein ,observer‘ ist auch ein ‚mark‘, insofern er den Raum, den er besetzt, unterscheidet, d.h. insofern er in der
Form
der Unterscheidung einer Seite den Wert ‚markiert‘ gibt. Zudem sollen die Kreise in den Experimenten als Formen betrachtet werden und ihre Umfänge als Grenzen zwischen den Räumen dieser Formen (das haben wir getan). Schließlich wird expliziert, dass in dieser Konzeption eine in einem beliebigen Raum getroffene Unterscheidung ein ‚mark‘ ist, das den Raum unterscheidet und ihn so zu einer Form der Unterscheidung macht; und dass jedes ‚mark‘ in einem Raum eine Unterscheidung kiert‘. Der Schlussakkord des the mark, and the observer cal.“ (LoF:76). Dass sie in
trifft, weil es den Raum als unterschiedenen ,mar-
Buches lautet: „We see now that the first distinction, are not only interchangeable, but, in the form, identider Form identisch sind, heißt, dass sie alle drei ‚das
Sein eines Unterschiedenen haben‘ und so zugleich auf ihr jeweiliges ‚Außen‘
hinweisen, mithin Hinweise auf ihre Form der Unterscheidung sind. Wir als Betrachter sind also erstens immer auch selbst eine Unterscheidung (in unserer eigenen Form) und zweitens sind wir Hinweise auf eine Unterscheidung, wenn
wir uns als markierende Zeichen betrachten: so weisen wir auf die Unterscheidung Betrachter/Betrachtetes hin, indem wir uns als Betrachter vom Betrachte-
ten betrachtend unterscheiden."°
Die oben angesprochene Vereinbarung, auf die im zwölften Kapitel nochmals ein Blick geworfen wird, erscheint so als die im ersten Kapitel formulierte Voraussetzung: „We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction.“ (LoF:1). Dass wir keinen Hinweis geben können, ohne vorher eine Unterschei10
Zum Beispiel des Physikers, der sich einerseits selbst betrachtet, indem er die Welt betrachtet, und der sich andererseits aus dieser Betrachtung ausschließt, vgl. IV.C Philosophie.
III. Kommentar — Das zwölfte Kapitel: RE-ENTRY INTO THE FORM
205
dung zu treffen, liegt somit auch daran, dass jeder Hinweis an sich selbst eine Unterscheidung ist. Damit wird die Voraussetzung des ersten Kapitels zur scheinbaren Voraussetzung: ein Hinweis ist immer auch an sich selbst eine vollzogene Unterscheidung und deshalb kann kein Hinweis gegeben werden,
ohne eine Unterscheidung zu vollziehen. Die Form jedes Hinweises ist somit die Form der Unterscheidung! Weil jeder Hinweis eine Unterscheidung in seiner eigenen Form ist, ist seine Verwendung als Hinweis auf eine Seite der Form der Unterscheidung zugleich ein Wieder-Eintritt in die Form.
IV. Anwendungen und Deutungen
Dieser vierte Teil ist verschiedenen Deutungen bzw. Verwendungen der Laws of Form gewidmet, die teilweise weit tiber das hinausgehen, was dort geschrieben
steht. Auf der einen Seite gibt es von Spencer Brown vorgeschlagene Anwen-
dungsmoglichkeiten, die er beispielsweise in den Notes oft nur andeutet oder in den Appendizes näher ausführt.' Auf der anderen Seite finden sich in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Anwendungen des Kalküls — oder besser einiger seiner grundlegenden Ideen. Bevor mit der Vorstellung der verschiede-
nen Deutungen und Verwendungen begonnen wird, ist es wichtig, Folgendes zu vergegenwärtigen: (1) Erstens gibt es mehrere, verschiedene Ebenen oder Perspektiven, auf die
sich ein(e) InterpretIn der Laws of Form beziehen kann, die aber zunächst einer strikten Trennung bedürfen, weil sie Verschiedenes implizieren. Eine Ebene besteht darin, das, was in den Laws of Form gemacht wird, d.h. den Prozessab-
lauf zu verstehen und nach-zu-vollziehen. Eine andere besteht darin, den /nhalt, der dort prozesshaft dargestellt wird, der in und durch diesen Prozess entsteht, zu verstehen. Eine weitere, die ersten beiden reflektierende Ebene besteht aber auch darin zu sehen, dass im Anfang der Prozess und der Inhalt zugleich, simul-
tan entstehen oder koproduziert werden — Varela drückt diese ‚Ko-Emergenz‘
sehr treffend aus: „Gehen und Weg entstehen gemeinsam‘, d.h. Prozess (Unterscheidung) und Inhalt (Zeichen) als Resultat entstehen gemeinsam. (2) Daraus ergeben sich zweitens unterschiedliche Anknüpfungspunkte, auf die man sich wiederum in vielfältiger Weise beziehen kann. Eine Möglichkeit besteht im Feststellen einer strukturellen Parallelität, durch die der Kalkül die Funktion erhält, alle möglichen Arten von (autopoietischen) Systemen formal zu bestätigen bzw. darzustellen. Oder er wird wegen seines Umgangs mit Selbstre-
ferenz für konstruktivistische Epistemologien oder psychotherapeutische Me-
thoden zur Begründung
bestimmter lösungsorientierter Strategien verwendet.
Eine weitere Möglichkeit besteht in Bewertungen der Seiten der Unterschei-
dung, indem die beiden allein durch das Zeichen unterscheidbaren Zustände
‚markiert‘/,‚unmarkiert‘
|
^
ganz
bestimmte
Bedeutungen
erhalten:
Beobach-
Das wären z.B. die Interpretation des Kalküls für die formale Aussagenlogik (Appendix 2) oder auch die mögliche Lösung des VierFarben-Theorems (Appendix 4) etc.
Varela 1997:67
208
IV. Anwendungen und Deutungen
ter/Beobachtetes; System/Umwelt; teur/Konstruiertes u.ä. Dadurch wird aber der Rahmen
Frau/Mann;
Patient/Familie;
Konstruk-
des Indikationenkalküls, die erste Unter-
scheidung, verlassen. Deshalb plädieren wir dafür, sehr genau zu unterscheiden, für welche Überlegungen der Kalkül wirklich direkt verwendet werden kann
und wo er eher als Anregung fiir die Analyse von Unterscheidungsprozessen dient, die nur für bestimmte Bereiche gültig sind.
Die folgenden sechs Beiträge wollen einen kurzen Über- und Einblick über
einige der wissenschaftlichen Anwendungs- bzw. Deutungsfelder geben, wobei es sich nur um knappe Hinweise handeln kann und nicht um eine umfassende Auseinandersetzung mit den dargestellten Positionen. Auch erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder wollen mit unserer Einschätzung den bzw. die LeserIn von einer eigenen Position entbinden. Das Erstaunliche und Zeigenswerte ist jedoch, dass Spencer Browns Laws of Form in ganz verschiedenen Disziplinen, aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus dankbar aufgenommen wurden. Das lässt die Spekulation zu, dass in diesem Buch etwas vorgetragen
wird, das ein allgemeines ‚prozessuales Wesen‘ des Welterfahrens und -erfassens beschreibt, das aufgrund seiner basalen Einfachheit für viele ausdifferenzierte(re) Wissenschaften zugänglich, zutreffend und verwendbar ist. Der erste Beitrag ‚Appendizes‘ stellt vor, welche Anwendungen und Interpretationen Spencer Brown selbst für seinen Indikationenkalkül vorschlägt. In dem zweiten Beitrag „Mathematik, Logik, Naturwissenschaft‘ werden weiterfüh-
rende Ansätze sowie kritische Distanzierungen vorgestellt. Der dritte Beitrag
‚Philosophie‘ hat die direkte Aufnahme der Ideen Spencer Browns durch konstruktivistische Theorien zum Thema. Darüber hinaus werden strukturelle Parallelen zu anderen, auch in einem konstruktivistischen Sinne verstehbaren Philo-
sophien aufgezeigt, zu deren Instrumentarium aber die Laws of Form nicht gehören. Der vierte Beitrag ‚Niklas Luhmanns Systemtheorie‘ wird und soll keinen
Überblick geben über die immense Rezeption in dieser Disziplin, die v.a. durch
Niklas Luhmann
initiiert worden
ist, sondern versucht in kritischer Absicht
gewisse Vagheiten dieser Interpretationslinie aufzuzeigen. Der fünfte Beitrag ist eine Anwendung der exegetisch-interpretatorischen Ergebnisse aus dem zweiten
Teil für formtheoretische Betrachtungen der Geschlechterunterscheidung. Dies geschieht einerseits in kritischer Auseinandersetzung mit der vorliegenden Ana-
lyse der Geschlechterunterscheidung durch Niklas Luhmann, andererseits kon-
struktiv durch den Entwurf eines unterscheidungstheoretischen Rahmens. Schließlich werden mit dem sechsten Beitrag ‚Praxis der Unterscheidung’ zent-
rale Aspekte einer Praxis der Unterscheidung aus den Laws of Form heraus profiliert und knapp einige Hinweise auf Anwendungen in der Psychologie, Psychotherapie und Beratung gegeben.
209
Vor allem die letzten vier Beiträge sollen auch als Grenzbestimmung der In-
terpretierbarkeit der Laws of Form dienen und damit ihren Geltungsbereich
abstecken, d.h. kennzeichnen, wo sie zur Legitimation bestimmter (wissenschaftlicher) Sichtweisen auf die Welt herangezogen werden und wo sie als
Anregung und methodische Vorlage dienen können.
IV.A Appendizes zu den Laws of Form
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Die bislang erschienenen neun Appendizes zu den Laws of Form sind von Spencer Brown selbst vorgeschlagene Anwendungen oder Interpretationen seines Kalküls: Die ersten zwei Proofs of Sheffer’s Postulate und The calculus interpreted for Logic gehören in den Bereich der formalen Logik, der dritte Bertrand Russell and the Laws of Form besteht aus Erinnerungen an seine Begegnungen
mit Bertrand Russell, der vierte An Algebra for the natural numbers ist der Ge-
nerierung der natürlichen Zahlen gewidmet, der fünfte Two proofs of the four-
colour map theorem stellt eine Lösung des Vier-Farben-Theorems vor, der
sechste Appendix Last Word ist eine abschließende Betrachtung zu Fragen der
Existenz schlechthin, der siebte The prime limit theorem, achte Primes between squares und neunte Appendix A proof of Riemann's hypothesis via Denjoy’s equivalent theorem stellen einen Beweis der Riemannschen Hypothese vor. ' Im Folgenden werden nur die Anwendungen des Kalküls für Fragen der forma-
len Logik, mithin die ersten beiden Appendizes vorgestellt, da diese einem brei-
teren Kreis von LeserInnen ein Begriff sein sollten.” Zum vierten und fünften Appendix werden hingegen lediglich einige Hinweise zu weiterführender Lite-
ratur gegeben,’ da es sich um sehr spezielle mathematische Liebhaber-Probleme handelt; die zwei in Prosa gehaltenen Appendizes seien zur Urteilsbildung dem bzw. der LeserIn selbst überlassen und auf die letzten zwei Appendizes gibt es bislang keine Reaktionen aus der mathematischen Fachwelt, weil sie erst vor wenigen Wochen erschienen sind. Bevor Spencer Browns Transfer seines Kalküls in den Bereich der formalen Logik betrachtet wird — bzw. seinem Anspruch gemäß der Transfer der formalen
’
Appendix 1 und 2 sind bereits in der ersten Auflage erschienen; Appendix 3, 4, 5 und 6 sind erst der deutschen Ausgabe von 1997 zugefügt worden. Die letzten drei Appendizes erscheinen zum Zeitpunkt der Drucklegung der vorliegenden Auflage im Herbst 2008 zum ersten Mal in einer Printversion. Alle Appendizes sind in der neuen englischen Ausgabe, Spencer-Brown, George (2008): Laws of Form. Heidelberg: Bohmeier, enthalten. Zum Vergleich der verschiedenen Methoden bzw. Schritte, mit denen üblicherweise ein Kalkül aufgebaut wird und die Spencer Brown verwendet vgl. II.A Kontexte der Laws of Form sowie IV.B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft. An dieser Stelle sei nochmals Karl-Georg Niebergall ganz herzlich für die vielen Hinweise und Anregungen gedankt. Zu Appendix 4 ist Kauffman 1995b und zu Appendix 5 Kauffman 1986 einschlägig.
212
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Logik in seinen Kalkül -, ist es angebracht, Folgendes festzustellen: Eine Interpretation kann verschiedene Fehlerquellen in verschiedener Hinsicht bergen: (1) kann der Ausgangskalkül der Anwendung nicht angemessen sein — d.h. er kann nicht leisten, was die Anwendung erforderte; (2) kann die Anwendung dem Kalkül nicht angemessen sein — d.h. die Anwendung ist gar nicht kompatibel mit dem Ausgangskalkül und (3) können, gesetzt erstens und zweitens treffen
nicht zu, bei der Übersetzung Fehler passieren.
Ein abschließendes Urteil darüber, ob mit dem Spencer Brownschen Kalkül
formallogisch das geleistet werden kann, was in den Appendizes behauptet wird, wird im Folgenden nicht getroffen; statt dessen wird vorgestellt, was in
den Appendizes versucht wird und worum es Spencer Brown jeweils geht, d.h.
worin seine Intention besteht.‘
Spencer Browns Vorgehensweise Die Anwendungen,
die in den ersten beiden Appendizes
vorgestellt werden,
gehorchen einer Reihenfolge, die von einer einfachen Übersetzung aus einer formalen Sprache in eine andere formale Sprache hin zu sehr komplexen Problemstellungen verläuft. Die Shefferschen Postulate (Appendix 1) sind Gleichungen, die üblicherweise in der Sprache der Booleschen Algebra formuliert werden. Sie werden im Appendix bewiesen, indem sie in die Sprache der Primären Algebra aus den Laws of Form übersetzt werden. Die Anwendungen im zweiten Appendix sind anderer Natur, da hier /nter-
pretationen vorgenommen werden, die über eine einfache syntaktische Überset-
zung oder Transkription hinausgehen. Hier werden semantische Belegungen der
verwendeten Variablen vorgenommen,
und folglich werden auch, analog zur
Primären Algebra, Gleichungen selbst semantisch interpretierbar. In Appendix 2 versucht Spencer Brown zudem, komplexe Fragestellungen der formalen Logik
mithilfe seines Kalküls zu beantworten, indem er Zusammenhänge werden lässt, die üblicherweise in der Latenz verborgen blieben.
sichtbar
Logische Präliminarien Um zu verstehen, worum es Spencer Brown in Appendix 1 Proofs of Sheffer’s Postulates und in Appendix 2 The calculus interpreted for Logic überhaupt
geht, ist es sinnvoll, ein paar kurze, sehr allgemein gehaltene Präliminarien zur
Aussagenlogik voraus zu schicken.”
Die Aussagenlogik hat es ganz allgemein gesprochen mit Aussagen und deren Wahrheitsgehalt zu tun. Klassischerweise ist eine einzelne Aussage entwe4 >
Es sei den geneigten LeserInnen überlassen, die Frage nach den korrekten Ausführungen wie die nach der Möglichkeit selbst zu stellen und durch eigene Versuche nachzuprüfen. Vel. hierzu beispielsweise Stegmüller/ Varga v. Kibéd 1984:49-72, v. Kutschera/ Breitkopf 1985°:17-39, Link/ Niebergall 2003:107-109.
IV.A Appendizes zu den Laws of Form
213
der ‚wahr‘ oder ‚falsch‘. Aussagen können durch Wörter wie ‚nicht‘, ‚und‘, ‚oder‘, ‚wenn, dann‘, ‚genau dann, wenn‘ miteinander verknüpft werden und es kann nach dem Wahrheitsgehalt dieser so entstandenen Verknüpfungen gefragt werden.
In der Aussagenlogik werden nun formale Sprachen eingeführt, deren Syn-
tax darin besteht, Aussagen und die Verknüpfungen durch Zeichen zu repräsen-
tieren; dabei werden in der Regel kleine Buchstaben für die elementaren Aussagen und besondere Zeichen für die Verknüpfungen verwendet, die Junktoren oder auch Operatoren genannt werden. Die Belegung der elementaren Aussagen mit den Werten ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ wird semantische Belegung genannt. Ob eine Aussage, die mit einem Junktor und/oder anderen Aussagen verknüpft wird, den Wert ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ erhält, lässt sich in den Wahrheitswerttabellen der einzelnen Junktoren ablesen. Die Junktoren weisen also den mit ihnen
und durch sie verknüpften Aussagen — je nach semantischer Belegung — Wahr-
heitswerte zu. Erhält beispielsweise die Aussage ,p‘ den Wahrheitswert ‚wahr‘, dann erhält die Aussage ‚nicht p‘ den Wahrheitswert ‚falsch‘, weil der Junktor
‚nicht‘ in einem zweiwertigen logischen System den Wahrheitswert vertauscht.
Ein anderes Beispiel wäre eine Konjunktion, also eine ‚und‘-Verknüpfung, die nur dann den Wert ‚wahr‘ erhält, wenn beide Aussagen auch mit ‚wahr‘ belegt sind. In allen anderen Fällen — einer ‚wahr‘, der andere ‚falsch‘, oder beide ‚falsch‘ — erhält die Konjunktion den Wert ‚falsch‘. Auf dieser aussagenlogischen Ebene setzen die ersten beiden Appendizes der Laws of Form ein: Der erste hat mit Gleichungen zu tun, in denen der sogenannte Sheffer-Strich° vorkommt; der zweite Appendix zeigt mögliche Verwen-
dungen des Spencer Brownschen Kalküls in der formalen Logik.
Appendix 1: Sheffers Postulate Um die Übersetzung der Shefferschen Postulate, die als Gleichungen formuliert sind, in die Primäre Algebra zu ermöglichen, interpretiert Spencer Brown den Kalkül implizit aussagenlogisch. Das formale Zeichen für den Sheffer-Strich ist
|‘; mit ihm wird die zweistellige Verknüpfung ‚nicht und‘ formal dargestellt.’
Die logische Verknüpfung nicht (a und b), formal alb, transkribiert Spencer Brown mit abl, d.h. er deutet in diesem Appendix den Haken als ‚nicht‘ und
Der Sheffer-Strich ist ein funktional vollständiger Junktor. Ein zweistelliger Junktor ist genau dann funktional vollständig, wenn alle birären Booleschen Funktionen mit ihm definiert werden können. Boolesche Funktionen ordnen Aussagen eindeutig Wahrheitswerte zu, d.h. ‚wahr’ oder ‚falsch’. Elementare Boolesche Funktionen entsprechen den verschiedenen Junktoren der Aussagenlogik. In mathematischen Formelsammlungen wird er auch NAND (für ‚not and‘) genannt. Umgangssprachlich wird er auch mit ‚nicht oder nicht‘ wiedergegeben, vgl. Varga/ Stegmüller 1984:72.
214
Tatjana Schönwälder-Kuntze
zwei
nebeneinander
stehende
Variablen
als Konjunktion
bzw.
als
,und--
Verkniipfung (vgl. LoF:107). Der ‚Beweis‘ für die Gültigkeit der Shefferschen Postulate (vgl. LoF:107f.) wird erbracht, indem diese erstens in die Notation der Primären Algebra übersetzt werden und anschlieBend diese Ubersetzungen solange regelgerecht durch äquivalente algebraische Formen ersetzt werden, bis sie die Form einer Initi-
algleichung oder ‚consequence‘ annehmen, deren Gültigkeit im Kalkül bereits nachgewiesen ist. Ist das gezeigt, kann die Gültigkeit der Shefferschen Glei-
chungen als bewiesen behauptet werden. Die Gültigkeit der Postulate wird also nachgewiesen, indem die Gültigkeit der Übersetzungen im Kalkül der Laws of Form gezeigt wird. Dass die Gleichungen aus der einen Sprache in die andere übersetzt werden können, d.h. dass beide Gleichungssysteme äquivalent sind, wird vorausgesetzt.
Im folgenden Appendix 2 wird hingegen bereits mit semantischen Belegungen, d.h. mit Interpretationen gearbeitet. Hier werden Anwendungen auf verschiedenen Ebenen oder Komplexitätsstufen der formalen Logik vorgeführt.
Appendix 2: Logische Interpretationen’ Spencer Brown schlägt mit dem zweiten Appendix eine Interpretation seines ‚calculus of indications‘ vor, den er zusammenfassend wie folgt beschreibt: „Ihe calculus of indications consists of a set of ways of indicating one or the other of the two states distinguished by the first dinstinction, so we shall be able to find an application of it to the indicative forms of any clear distinction of this kind. It must, for example, apply to cases where doors can be open or shut, or where switches can be on or off, or where lines can be clear or blocked. It will also apply to a language structure in which sentences can be true or false.“ (LoF:112).
Hinzu kommen überhaupt:
noch einige Vorbemerkungen zum Status einer Interpretation
„In interpreting a calculus, what we do is match the values or states or elements allowed in the calculus to a similar set of values or states or elements in what is to become its interpretation. ... Even so, although there must be an interpretation of it, in any case of a calculus of more than one value, the calculus and its interpretation are distinct. The fact of their distinction is made plain by the plurality of ways in which a given interpretation can be applied.“ (LoF:112f., Hvhb. T.S.).
Eine Interpretation ist eine Anwendung, und was für die Anwendung gilt, muss nicht für den ursprünglichen Kalkül gelten, da Anwendung und Kalkül nicht äquivalent sein müssen. Viel eher lässt sich das Verhältnis als Implikation be-
®
Vel. Varga/ Matzka 1993:80-82.
IV.A Appendizes zu den Laws of Form
215
schreiben oder als ,Einbettung‘: die Anwendung muss aus dem Kalkül folgen
können, aber der Kalkül nicht aus der Anwendung. Einen formalen Kalkül zu interpretieren bedeutet demnach, ihm eine bestimmte Bedeutung zu geben; oder
auch, dass der Kalkül diese Anwendung ermöglicht, aber nicht, dass er die Anwendung ist. Es ist wichtig, diesen Punkt besonders hervor zu heben, weil der ‚calculus of indications‘ weder ein aussagen-, noch ein klassen- noch ein prädikatenlogischer Kalkül ist; er wird lediglich als solcher interpretiert, so dass er möglicherweise zu verschiedenen logischen Fragestellungen interessante Lösungsvorschläge bzw. -wege oder auch -perspektiven bereit zu stellen vermag. Unterschiede
Spencer Brown macht auf diverse Unterschiede zwischen dem Kalkül der Laws
of Form und der formalen Logik aufmerksam.” Im zweiten Appendix hebt er vor
allem folgende Unterschiede hervor:
(1) Einen Unterschied zwischen der aussagenlogischen Deutung und dem Kalkül sieht er beispielsweise darin, dass erstere aus „forms of interpretation“ (LoF:112) besteht, im Gegensatz zu der „form of indication from which they arise“ (ebd.), die in den Laws of Form beschrieben wird. Der Kalkül der Laws of
Form generiert äquivalente Hinweiszeichen auf die unterschiedenen Seiten einer
Form der Unterscheidung, deren Relationen und Austauschmöglichkeiten; die zweiwertige Aussagenlogik und die 2-elementige Boolesche Algebra sind für Spencer Brown bereits eine Interpretation dieses Systems von Hinweisen auf
zwei unterschiedene Seiten — deshalb ‚taucht die Aussagenlogik aus der Form
des Hinweisens auf“. (2) Einen weiteren Unterschied sieht er in ihrer verschiedenen Struktur, d.h.
in der Art ihres Aufbaus: Die klassische formale Logik stellt für Spencer Brown einen anderen Typ von Logik dar als sein Kalkül, weil sie eine „implicational
logic“ (LoF:118) ist im Gegensatz zu seiner „equivalence logic. The difference
is in the kind of step used.“ (ebd.). Spencer Browns Kalkül wird über die Generierung, Betrachtung und Beschreibung dquivalenter Hinweisformen hergestellt;
die algebraischen ‚consequences‘ beispielsweise sind Folgerungen, die sich aus
den erlaubten, teilweise selbst schon wieder zusammen gefassten Ersetzungs-
schritten von äquivalenten Hinweisen auf eine der beiden Seiten der ersten Un-
terscheidung ergeben. Folgerungen im Kalkül der Laws of
Form bestehen also
immer nur darin, äquivalente Ausdrücke gegeneinander auszutauschen — des-
halb sind die beiden ursprünglichen Terme, aus denen je der gleiche, neue dritte ‚entstehen‘ oder gefolgert werden kann, auch untereinander äquivalent.'”
? 10
Vgl. II.A Kontexte der Laws of Form sowie IV.B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft. Das besagt 7 im vierten Kapitel.
216
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Wenn hingegen in der formalen Logik zwei Konditionale der Form a —
b
und d 一 b gegeben sind, dann bedeutet das noch lange nicht, dass a = d.'' Aus
dem Implikat lassen sich also keine ‚Rückschlüsse‘ auf das Antezedens ziehen;
die erste Prämisse wird in diesem Fall (modus ponens) abgetrennt, d.h. dass sie
für weitere Schritte irrelevant ist. Bei einem logischen Konditional kann demnach, wenn es, wie im Beispiel, mehrere Antezedens gibt, aus denen das gleiche
Implikat folgt, weder gesagt werden, aus welchem es folgt, noch dass die beiden äquivalent sind.
Der Unterschied besteht also einerseits darin, welche Ersetzungen vorgenommen werden und andererseits, an welchem ‚Ort‘ etwas abgetrennt wird: „In
one case expressions are detached at the point of implication, in the other they are detached at the point of equivalence.“ (LoF:118). (3) Der offensichtlichste Unterschied besteht natürlich in der Notation, durch
die ein erhebliches formales Einsparungspotential realisiert werden kann, weil
beispielsweise
durch
die 2-Dimensionalität
des Hakens
auf Klammern
oder
topologische Anweisungen verzichtet werden kann.'* Ob allerdings auch auf zusätzliche Zeichen für die Quantifizierung verzichtet werden kann, wie es in dem Appendix versucht wird, bleibt fraglich. Möglicherweise ist die Notation
nicht ausreichend, um prädikatenlogische Operatoren wie den Alloperator und den Existenzoperator und deren Derivate hinreichend genau zu ersetzen. Intentionen
Der Zweck des zweiten Appendix besteht darin zu zeigen, dass mit den Ersetzungsmustern für äquivalente Ausdrücke, die in dem Kalkül der Laws of Form dargestellt werden, logische Probleme anders betrachtet und schneller gelöst
werden können; d.h. dass der Kalkül trotz oder gerade wegen seines anderen Aufbaus verwendbar ist, um logische Fragestellungen zu beantworten. Mit an-
deren Worten besteht der Gewinn darin, auch aufgrund der geradezu spartanisch
reduzierten Notation zur Verkürzung und Aufdeckung von Lösungswegen für
Problemstellungen der Formalen Logik beitragen zu können.'” Spencer Brown
hebt „two sources of power“ (LoF:114) hervor, die beide dem ‚standard senten1
12 13
Wenn es regnet, ist die Straße nass und wenn die Straßenreinigung vorbei kommt, ist die Straße nass. Aus diesen beiden Sätzen lässt sich mitnichten folgern, dass ‚es regnet‘ und ‚die Straßenreinigung kommt vorbei‘ äquivalente Aussagen wären, obwohl in beiden Fällen das Implikat lautet: ‚die Straße ist nass‘. Vgl. den Kommentar zum zweiten Kæitel. Es sei daran erinnert, dass die Möglichkeit der reduzierten Notation, d.h. die Verwendung des Hakens sowohl als Zeichen für den Wahrheitswert, als auch als einstelliger Operator (‚nicht‘) sowie als zweistelliger Operator (‚oder‘) möglich ist, weil in den Laws of Form die Primäre Algebra aus der Betrachtung der Äquivalenzrelationen der Primären Arithmetik hervorgeht und diese nur darstellt. Zu Möglichkeiten der Verkürzung von Schreibweisen durch die besondere
Mehrdimensionalität des Hakens, vgl. den Kommentar zum zweiten Kapitel.
IV.A Appendizes zu den Laws of Form
217
tional calculus‘ nicht zugänglich seien: „They are ... the condensation of a number of representative forms into one form, and the ability to proceed ... beyond logic through the primary arithmetic.“ (ebd.) Deutung und Beispiele Im ersten Beispiel, das fiir die Reduktion oder Verdichtung der Formen der Darstellung angeführt wird, wird dann allerdings nicht die Notation verwendet, mit der der Kalkiil in den Laws of Form beschrieben wird, sondern eine alterna-
tive Notation, die im Haupttext in den Experimenten des zwölften Kapitels und
in den Notes bereits zur Erklärung des zweiten Kapitels verwendet wird: die
Kreisnotation.“
Die Verkürzung besteht hier für Spencer Brown darin, dass mit einem einzigen Ausdruck die logischen Aquivalente der ,und‘-Verknüpfung dargestellt
werden. Sie miissen also nicht auseinander abgeleitet bzw. berechnet und ihre
logische Aquivalenz muss auch nicht tiber Wahrheitstafeln bewiesen werden,
sondern es ist ausreichend, den einen Ausdruck lesen zu können, um die ver-
schiedenen Darstellungsformen der Aussagenlogik darin zu sehen: „Thus, by the mere principle of avoiding an unnecessary prolixity in the representative form, we make the process of calculation considerably less troublesome.“ (LoF:115).
(2) Für die anderen Anwendungen in Appendix 2 benutzt Spencer Brown die
im Kalkül verwendete Notation. Der Haken bzw. das ‚empty cross‘ sowie der leere Ausdruck werden als Wahrheitswerte gedeutet: Der Haken stehe für
‚wahr‘, der leere Ausdruck für ‚falsch‘.'” In Verbindung mit Variablen, die in
oder unter einem Haken stehen, bedeutet der Haken ‚nicht‘. Zwei nebeneinander stehende Variablen sollen als ‚oder‘-Verknüpfung gelesen werden — entge-
gen der Lesart im ersten Appendix! Weil ‚oder‘ und ‚nicht‘ (zusammen) funktional vollständige Junktoren sind, lassen sich mit dieser Interpretation des Hakens und des Nebeneinanderstehens alle Junktoren der Aussagenlogik darstellen.
Eine ‚und‘-Verknüpfung ist logisch äquivalent mit der Verknüpfung ‚nicht
(nicht a) oder (nicht b)‘, formal: a À b - (— av-b). Deshalb wird a A b in der Spencer Brownschen Notation al bl geschrieben.
14
15
Ob allerdings diese Verkürzung so überzeugend ist, sei dahingestellt: eın geübter Logiker sieht in der Form 一 (一 av-b) auch sofort die logische Konjugation und deren andere vielfältige Darstellungsmöglichkeiten, so dass man auch hier sagen könnte, alle diese Schreibweisen seien in der einen enthalten. Die Interpretation des ‚unmarked state‘ bzw. des ‚empty cross‘ als logisches ‚wahr‘ als auch die Interpretation des ‚marked state‘ bzw. des ‚blank space‘ als logisches ‚falsch‘ ist eine mögliche
Interpretation — die genau so gut hätte umgekehrt erfolgen können, vgl. LoF:113f.
218
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Dasselbe gilt analog
für das Konditional:
Brownscher Notation っ lb
a -> b = -a v b; in Spencer
(3) Prozess- und Darstellungsvereinfachungen
ergeben sich fiir Spencer
Brown aber nicht nur aus der Notation, sondern auch aus dem Zusammenhang zwischen Primärer Arithmetik und Primärer Algebra. Der springende Punkt
besteht hier darin, dass die Ausdrücke der Algebra immer noch ihre arithmetische Wurzel gleichsam mit sich herum tragen, d.h., dass sie entweder arithme-
tisch auflésbar sind, indem sie durch endlich viele Austauschschritte (steps) in einen Haken oder den leeren Ausdruck umgewandelt werden. Diejenigen Ausdrücke, die nicht auf eine ‚simple expression‘ reduziert werden können, heißen kontingent, da ihr Hinweischarakter von der Belegung der in ihnen enthaltenen Variablen abhängt. ‚Arithmetisch auflösbar‘ meint demnach, bei jedem algebraischen Ausdruck feststellen zu können, ob er bei jeder semantischen Interpretation der Variablen immer auf den ,unmarked state‘, oder immer auf den
‚marked state‘ hinweist'’, oder ob er je nach der semantischen Interpretation der
Variablen einmal auf den einen und einmal auf den anderen Zustand hinweist.
Dass ganze Ausdrücke oder Gefüge einen bestimmten arithmetischen Wert annehmen können, der sich wiederum auf weitere komplexere Gefüge, in denen
diese Ausdrücke stehen, übertragen kann oder nicht, ist das Thema des Brückentheorems 16 aus dem achten Kapitel der Laws of Form. Diese ‚arithmetischen Eigenschaften‘ algebraischer Ausdrücke macht sich Spencer Brown in den folgenden Beispielen zu Nutze. Für den Nachweis, ob aussagenlogische Verknüpfungen gültig, d.h. tautologisch, ungültig, d.h. kontradiktorisch, oder kontingent sind, greift Spencer
Brown auf die soeben erläuterte Klassifizierung algebraischer Ausdrücke bzw. ‚consequences‘ aus dem sechsten Kapitel zurück, die darin besteht, diese ‚integ-
ral‘ — sie weisen auf den ‚marked state‘ hin —, ‚disintegral‘ — sie weisen auf den
‚unmarked state‘ hin 一 oder ,consequential‘ — sie sind kontingent — zu nennen.”
Durch die Interpretation des Hakens als ‚wahr‘ kann auf diese Weise ein Aus-
druck, der auf einen Haken reduzierbar ist, als Tautologie erkannt werden. Analog sind Ausdrücke, die zum leeren Ausdruck führen, Kontradiktionen und solche, die in die Kategorie der kontingenten Ausdrücke gehören, sind abhängig
von der Variablenbelegung (vgl. LoF:116f.). Den Gewinn sieht Spencer Brown
darin, dass das ,Ausrechnen‘ der Wahrheit oder Falschheit eines Ausdrucks tatsächlich erheblich weniger aufwändig ist, als etwa aussagenlogische Beweis-
16
Vol. die Übersetzung, LoF:114. So ein Ausdruck wäre beispielsweise das Gefüge in der Gleichung, die T8 formal darstellt.
Vgl. den Kommentar zum sechsten Kapitel. Ausdrücke, die immer auf den markierten Zustand hinweisen, heißen dort integral; Ausdrücke, die immer auf den unmarkierten Zustand hinweisen, heißen disintegral, und Ausdrücke, deren Wert von ihrer Variablenbelegung abhängig ist, heißen ‚consequential‘.
IV.A Appendizes zu den Laws of Form
219
verfahren, die beispielsweise tiber den Vergleich der Wahrheitswerttabellen laufen. Als Beispiel für so eine Aufwandsreduktion wählt Spencer Brown ein ,Dilemma‘ — besser wäre, von einer Kontradiktion zu sprechen —, das von Maurant
formuliert wurde und für das er nachweist, dass es sich gar nicht um eine
Kontradiktion, sondern lediglich um eine kontingente Form handelt.
Die Transkription wird verständlich, wenn man die o.g. Ubersetzungsregel
nochmals erinnert: a A b ist logisch äquivalent mit 一 (一 a v -b). In aussagenlo-
gischer Notation hatte das ,Dilemma‘, wenn alle Konjugationen mit den Junktoren für ‚nicht‘ und ‚oder‘ dargestellt werden, folgende Form: 一 一 (一 (一 S V 一 C) V 一 (一 e V C) V —(c V 一 C)) V — (s V 6).
Ubersetzt man das in die Spencer Brownsche Notation, erhält man die Figur
auf Seite 118 oben, die nochmals durch die Anwendung von J1 und C1 vereinfacht werden kann, und gelangt so zu dem Ergebnis, dass es sich nicht um eine Kontradiktion handelt, sondern um einen kontingenten Ausdruck, in der die Frage nach der Inflation, so, wie das Problem formuliert ist, ganz irrelevant zu sein scheint: übersetzt man els zurück, dann erhält man -e v s, was logisch äquivalent ist mit e 一 s. Umgangssprachlich lautet das Ergebnis also: In der dargestellten Konstellation folgt aus einer gesunden Wirtschaft auf jeden Fall eine expandierende Wirtschaft.
(4) Des weiteren versucht Spencer Brown noch den Kalkül für Syllogismen, d.h.
logische Schlussfiguren zu interpretieren.7’ Durch Umformungen in logisch 19
20
„Wenn wir eine gesunde Wirtschaft haben wollen, dürfen wir keine Inflation der Währung zulassen. Wenn wir aber eine expandierende Wirtschaft haben wollen, müssen wir eine Inflation der Währung vorantreiben. Entweder wir lassen eine Inflation der Währung zu oder wir lassen keine Inflation zu. Daher sollten wir weder eine gesunde noch eine expandierende Wirtschaft
haben.“, LoF:117, Ubers. T.S.
Spencer Brown lässt s für ‚wir haben eine gesunde Wirtschaft‘ steherr c für ‚wir sorgen für eine
Inflation‘ und e für ‚wir haben eine expandierende Wirtschaft‘. Wenn man nun die einzelnen
Sätze in Konditionale umformuliert, und die wenn-Sätze als Aussagen interpretiert, die alle zugleich gelten sdlen, dann kann man die Konditionale durch den Junktor für ‚und‘ aneinanderreihen und erhält so zunächst folgende Form: (s>-c)A(e>c)A(cv-c)>(-sA-e). Nach de Morgan ist das logisch äquivalent mit: (—msv-cA(evecA(cv-chv-(sve) 一 (一 (一 (一 SYv ココ 2)
= C)
マー
(—e
(一 (一 (一 (-SV-c)v-
v c)) A (c V = c)) (-evc)))v-
ソー (sve)
>
(Cv-Ac))v-(sve)>
ココ ( (AS v-c) v -(-e vc) V —(c V —0c)) v = (5 ve). Spencer Brown greift an dieser Stelle — sicherlich zur Verwunderung der Zunft der Logiker 一 auf die „traditional logic of classes“ (LoF:119) zurück, um eine prädikatenlogische Fragestellung zu erörtern, die thn schließlich zu Fragen nach der realen Existenz oder Nicht-Existenz von Argumenten bringt, also zur Quantorenlogik, die Existenzaussagen macht. Der klassenlogische Einschub lässt sich so motivieren, dass die Behauptung einer Klassenzugehörigkeit eines Ele-
220
Tatjana Schönwälder-Kuntze
äquivalente Formen lässt sich der klassische Syllogismus Barbara (wenn alle A auch B sind, und wenn alle B auch C, dann sind alle A auch C) in Spencer
Brownscher Notation darstellen.
Formal in der Aussagenlogik fomuliert und so, dass die Transkription in die
Spencer Brownsche Notation einsichtig wird: (a -> b À b > 0) -> (a 一 0) was logisch äquivalent ist mit 一 一 ((-a v b) v -(-b v c)) V sav c und dem Gefüge
oder der Figur F1 entspricht (vgl. LoF:120).
Durch Vereinfachung des äquivalenten (Spencer Brownschen) Ausdrucks anhand der ,consequences‘ der Primären Algebra zeigt sich, dass es sich um
eine ,integrale‘ Form handelt, d.h. um eine Tautologie, die immer wahr ist, egal welche semantische Belegung die Variablen erhalten, und damit ist die Gültigkeit des Syllogismus gezeigt. Damit sei aber auch gezeigt, dass Schlussschemata, die ja immer tautologisch sind, mit den algebraischen Figuren aus den Laws of Form darstellbar und durch die Möglichkeit, sie auf ihre ‚arithmetische Be-
deutung‘ zu reduzieren, auch als logisch gültig beweisbar sind.
(5) Schließlich geht Spencer Brown noch einen Schritt weiter: Er versucht auch zu zeigen, dass es für alle Syllogismen eine gemeinsame ,kondensierte‘ Form gibt: „The consequences of the arithmetical availability are sweeping. All forms of primitive implication become redundant, since both, they and their derivations are easily constructed from, or tested by reduction to, a single cross.“ (LoF:117).
Zunächst formuliert er ein Interpretationstheorem, mit dem das Auflösungsprocedere verkürzt werden kann: das ‚interpretative theorem 1° lautet: „lf the primary algebra is interpretated so that integral expressions are true, and if each of a number of class-inclusion premisses is sententially transcribed in it, and if variables representing the same sentence at odd and even levels are cancelled, what remains, when retranscribed, is the logical conclusion.“ (LoF: 123).
Logisch anspruchsvoller wird es im weiteren Verlauf der Argumentation (vgl. LoF:124-132), denn hier wird anhand eines weiteren Beispiels festgestellt, dass dieses interpretative Theorem 1 auch Schlüsse als logisch gültig erscheinen
22
mentes logisch äquivalent ist zur Zuschreibung eines bestimmten Prädikates in einem Allsatz: dass alle Elemente a der Klasse K die Eigenschaft b haben, kann auch aussagenlogisch als Konditional formuliert werden: wenn a, dann (haben sie die Eigenschaft) b. Dieses Konditional kann wiederum in der Quantorenlogik als Allsatz formuliert werden: Fir alle a gilt, dass sie die Eigenschaft b haben. Auf diese Weise ist es möglich, die Zusammenhänge der verschiedenen formallogischen Spielarten aufzuzeigen — allerdings gilt das nur, solange es um Allsätze und wahre Aussagen geht, d.h. gerade dort, wo es ,logisch interessant“ wiirde, scheint die Notation nicht mehr ausreichend. Dieses Theorem wird zur Vereinfachung der letzten Sorites von Lewis Caroll verwendet und
auch hier zeigt sich die Verkürzung der Berechnung bis zum endgültigen Schluss.
IV.A Appendizes zu den Laws of Form
221
lässt, die offensichtlich nicht logisch gültig sind.” Spencer Brown fragt, wie das
möglich ist und stellt fest, dass dieser auftretende Widerspruch etwas mit der „form of interpretation“ (LoF:127) zu tun hat und nicht etwa in den algebrai-
schen Formen selbst zu finden ist. Also sucht er nach dem für den Widerspruch
verantwortlichen /nterpretations- und nicht etwa nach einem strukturellen Fehler.
Dieser besteht für ihn darin, dass prädikatenlogische oder mathematische
Formen üblicherweise nichts über die tatsächliche Existenz ihrer Argumente
aussagen, sondern nur über die möglichen und gültigen Zusammenhänge zwischen ihnen: Für alle a gilt, dass sie b sind. Ob a existiert, wird damit nicht
behauptet, sondern nur, dass wenn a existiert, dass es dann b ist. Die Existenz eines a ist nicht notwendig, um etwas darüber auszusagen, was gelten würde,
wenn a existierte; das gilt für jede logische Implikation: wenn a der Fall ist, dann folgt daraus, dass auch b der Fall ist.
Die Übersetzung der prädikatenlogischen Syllogismen in aussagenlogische Formen hat diese ja als Konditionale interpretiert, deren einzelne Prämissen als Konjunktionen miteinander verknüpft werden. Der widersprüchliche Syllogismus ergibt sich — so Spencer Brown 一 wenn so ein (All-)Satz, der eigentlich nur die Gültigkeit der Folgerung behaupten darf, und keinesfalls, dass das Implikat a auch tatsächlich existiert, negiert wird. Im Falle der Negation werde nämlich die tatsächliche Existenz wenigstens eines Gegenbeispiels behauptet: es gibt wenigstens ein a, das nicht b ist. Und genau damit haben wir es — nach Spencer Brown — in dem widersprüchlichen Syllogismus zu tun, insofern hier implizit der Allsatz negiert wird: nicht alle a sind b, sondern nur einige.
So verlasse die formale Logik gleichsam ihren Geltungsbereich: Sie spricht
nicht mehr über die Beziehungen, die zwischen einem Element und ‚seinem‘ Prädikat oder seiner Klassenzugehörigkeit bestehen — völlig unabhängig von der Frage nach ihrer tatsächlichen Existenz —, sondern sie behauptet plötzlich die
faktische Existenz eines Elementes, für das die behauptete Implikation nicht gilt.
Damit ist für Spencer Brown der erste Schritt zur Lösung des Widerspruchs,
dass mit der primären Algebra offensichtlich ungültige Syllogismen als gültig dargestellt werden, getan. Er besteht darin, die in der Negation des Konditionals
implizit gesetzte Existenzbehauptung auszuschließen: „In this alternative we have a means of confining all interpretations to a non-existential import“ bzw. „making explicit the requirement that no statement is to be taken existentially.“ (LoF:128).
Das bedeutet faktisch, ‚einige a sind b umzuformulieren in ,es ist nicht der
Fall, dass kein a ein b ist‘; formal: — (b 23
— - a). Beide Formulierungen sind
Einige a sind 6 und einige 6 sind c lässt nicht unbedingt den Schluss zu, dass einige a auch 0
sind — obwohl das die Transkription für ‚wahr‘ erklärt, vgl. LoF:126.
222
Tatjana Schünwälder-Kuntze
logisch 4quivalent und daher ist diese Umformulierung legitim - und nicht nur
legitim, sondern nach Spencer Brown auch präziser, weil auf diese Weise die versteckte Existenzaussage, die in dem kleinen Wort ‚einige‘ enthalten ist, da hier implizit der Allsatz negiert wird, nicht mehr formuliert wird. Mit anderen Worten: es ist eine Formulierung gefunden worden, die die umgangssprachlich „inconsequential relation ... between a form and its content, occasioned by the
partly accidental fact that the existence of particular content can serve to negate
a general form“ (LoF:129) vermeidet. Die allgemeine Form eines Allsatzes oder des Konditionals sagt eben nichts über die Existenz ihrer Argumente. Deshalb
lautet die erste Regel: „never to make an existential interpretation unless the argument demands it. ... Existential interpretations, where they are necessary at
all, can be confined to entering and leaving the problem, and need never occur
in the course of solving it.“ (LoF:131). D.h., dass die Frage nach der Gültigkeit
einer Schlussregel vollkommen abzutrennen ist von der Frage nach der Existenz
der Argumente und dass deshalb der gültige falsche Syllogismus nur dann falsch
wird, wenn man durch die Negation eine implizite Existenzaussage hinein interpretiert.
Schließlich kehrt die Argumentation wieder zum Syllogismus Barbara zurück,
und weil es in der Primären Algebra unerheblich ist, in welcher Reihenfolge die Ausdrücke eines Gefüges nebeneinander stehen, können die einzelnen Teilaus-
drücke umgruppiert werden. Dabei zeigt sich, dass die Syllogismen Barbara,
Bocardo - ‚alle a sind b ...‘ sowie ‚einige a sind b ...‘ — und Baroco eine gemeinsame Form haben, d.h. logische und algebraische Äquivalente sind, sofern die Existenzaussage vermieden wird. Das Interpretative Theorem 2 formuliert dann die notwendige Einschränkung
der Interpretation oder Deutung des Kalküls der Laws of Form für die Logik
folgendermaßen: „An existential inference is valid only in as far as its algebraic
structure can be seen as a universal inference.“ (LoF:132). Die Anleitung zur Vermeidung versteckter Existenzaussagen in Syllogismen besteht also darin, sie derart zu formulieren, dass ihre algebraische Form mit den Formen von Syllogismen, die auf Allsätzen beruhen bzw. als Konditional formulierbar sind, als äquivalent erwiesen werden kann, sie „must therefore represent, at this level, an identical form of argument.“ (LoF:132).
IV.B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft Thomas Holscher und Katrin Wille
Die Laws of Form haben in der Mathematik und in der Logik relativ geringe Resonanz hervorgerufen. Die intensivere Rezeption hat in der Kybernetik statt-
gefunden und ist von dort in andere Bereiche gewandert, in denen Dialoge mit
der Kybernetik stattgefunden haben. Wir stellen in diesem Kapitel vor allem drei theoretische AuseinandersetZungen mit dem formalen Anspruch der Laws of Form dar, den des Biologen Francisco Varela, den des Mathematikers Louis H. Kauffman und den des Logi-
kers Matthias Varga v. Kibéd. Wenn sich auch mittlerweile eine ganze Reihe
von Ansätzen in Mathematik, Logik, Naturwissenschaft und Technik finden, in
denen die Laws of Form erwähnt werden’, beschränken wir uns in der Darstellung allerdings auf die, die ihren theoretischen Grundansatz (auch) in der Arbeit mit den Laws of Form entwickelt haben. Das Folgende will einen Einblick in den Charakter dieser drei ,theoretischen Dialoge’ mit den Laws of Form geben. 1. Francisco Varelas Deutung Im Folgenden wird die Entwicklung von Francisco Varelas Spencer Brown-
Interpretation skizziert, die im Wesentlichen ein Ringen um ein angemessenes Verständnis der Struktur des ,Re-entry’ ist. Die Entwürfe und Selbstkritiken Varelas sind auch deshalb interessant, weil sie zeigen, dass die Figur des ,Re-
entry’ aus dem elften Kapitel der Laws of Form mehr eine Aufgabe als eine |
Hingewiesen sei auf das jüngste Buch von David Corfield Towards a Philosophy of Real Ma-
thematics, dessen Passagen zu den Laws of Form den Anstoss fir eine neue Rezeption Spencer Browns in der Mathematik geben könnten, vgl. Corfield 2003:53f., 256, 270. Die ‚Kategorientheorie’ ist eine moderne mathematische Disziplin, die die Mengentheorie als Basis ablösen möchte und darin, sowie in ihrer Tendenz auf eine ‚Durch-Injunktivisierung’ der Mathematik den Laws of Form, ohne von ihnen Kenntnis zu haben, sehr nahe kommt. Vgl. Dath 2003a, Kleinert 2002. Im Bereich der ‚computational physics’ ist der Ansatz von Stephen Wolfram
bemerkenswert, vgl. Wolfram 2002a. Er führt die Idee der zellulären Automaten bis an eine
Grenze. Wolfram spricht vom „Aufbau der komplexesten Phänomene der Natur aus einfachsten Computerkurzprogrammen“, Wolfram 2002b: V2/9; die Laws of Form werden erwähnt in Wolfram 2002a:1173,1175. Und schliesslich versucht Holger Lyre, die Naturgesetze auf ‚Unterscheidbarkeit und Zeit als neue apriorische Grundformen’ zurückzuführen. In entsprechenden informationstheoretischen Analysen bezieht er sich ausdrücklich auf die Laws of Form, vgl. Lyre 1988, 1999, 2002.
224
Thomas Hölscher und Katrin Wille
Lösung ist. Varela beschreibt das ,Re-entry’ als eine Struktur, die in eine reiche
und folgenreiche Richtung deutet, formal aber nicht ausreichend entwickelt ist. Die Spuren, die Spencer Brown mit dem ‚Re-entry’ gelegt hat, sind interpretati-
onsbedürftig und es gilt klarer zu sagen, was mit dem ‚Re-entry’ gemeint ist. In den Arbeiten Varelas werden die verschiedenen Ansätze sichtbar, mit der Aufgabe einer formalen Präzisierung und Klärung umzugehen. Kennzeichnend ist die Suche nach anderen theoretischen Ansätzen, die mit dem Indikationenkalkül
Spencer Browns zusammen gelesen als Schlüssel für die Struktur des ‚Re-entry’ gelten können. Varelas Motiv für die intensive Beschäftigung mit dem Indikationenkalkül liegt in seinem biologischen Forschungsschwerpunkt, der darin besteht, die selbstproduzierende Dynamik von lebenden Systemen zu analysieren. Die Dy-
namik der Selbstproduktion baut auf einer selbstreferentiellen Struktur auf, in der der Unterschied zwischen dem Handelnden oder Operierenden und dem, worauf gehandelt oder operiert wird, in sich zusammen fällt. Darin liegt der Kern der Autonomie oder der Schließung (closure) von lebenden Systemen. Varela wählt als formales und damit auch allgemeines Fundament seiner biologischen Theorie lebender Systeme den Indikationenkalkül von Spencer Brown, denn in der Idee der Gleichungen höheren Grades (mit ‚Re-entry’) findet Varela zentrale Hinweise auf einen einheitlichen Formalismus der Selbstreferenz, also eine Struktur, die den verschiedensten Vorkommnissen von selbstreferentiellen
Verhältnissen gemeinsam ist.’
Varelas Auseinandersetzung mit dem Indikationenkalkül Spencer Browns
wird hier in fünf Schritten entlang an fünf Texten skizziert. 1. Schritt: In dem Text A Calculus for Self-Reference’ legt Varela eine Er-
weiterung des Indikationenkalküls Spencer Browns um einen dritten Zustand
vor. Varela vertritt die These, dass der Übergang von den Gleichungen ersten Grades zu den Gleichungen höheren Grades im elften Kapitel der Laws of Form
widersprüchlich ist. Er zeigt, dass die Gleichung E3 f= fl mit dem ersten alge-
braischen Initial J1 kollidiert und dass der imaginäre Wert deshalb nicht genug im Kalkül gegründet ist. Unter Verwendung der algebraischen Initiale und der algebraischen ‚consequences’ ergibt sich folgender Widerspruch: Es gelten die
Gleichungen E3 und J1. Mit Hilfe von C5 gilt: f = ff, unter Verwendung von E3 ergibt sich f= fIf. Daraus folgt mit C1 f= fIfl . Den ganzen Ausdruck auf der rechten Seite der Gleichung unter dem äußersten ‚cross’ ersetzt Varela mit Hilfe von J1 durch den leeren Ausdruck, dann ergibt sich f= |. Setzen wir dies wieder in E3 ein, ergibt sich der Widerspruch: | = |
? ’
Die Übersetzung einer Theorie in eine formale Sprache zeigt nach Varela deutlicher ihre Nütz-
lichkeit und ihre Grenzen und ist vor allem im Entwicklungsprozess einer Theorie eine Hilfe
beim Aufdecken von Unschärfen, vgl. Varela 1979b:106. Varela 1975
IV.B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft
225
Um einen Indikationenkalkül zu erhalten, der voll kompatibel mit den Glei-
chungen höheren Grades ist, legt Varela den ‚Extended Calculus of Indications’ vor. Die wesentlichen Änderungen gegenüber dem Indikationenkalkül Spencer Browns sind die Einführung eines dritten Wertes (der autonome Zustand) und der Wegfall des ersten algebraischen Initials J1 zusammen mit allen ‚conse-
quences’, in denen J1 verwendet wurde. (In der Interpretation für die Logik ist
J1 das tertium non datur, das für einen dreiwertigen Aufbau natürlich nicht gelten kann). Das Zeichen für den dritten Wert (self-cross L_] ) hat in dem erwei-
terten Kalkül einmal die Funktion eines Zustandes und zum anderen die Funkti-
on einer Operation des Wiedereintritts in den eigenen Raum. In dieser doppelten
Funktion besteht die Verbindung zwischen der Arithmetik und den ,Re-entry’-
Ausdrücken. In dem erweiterten Kalkül werden Selbstreferenz, Zeit und ‚Re-
entry’ als drei Aspekte desselben dritten Wertes gesehen, der autonom aus der
Form der Unterscheidung entsteht. Damit ist eine formale und gemeinsame Struktur für Formen von zirkulärem Schließen in lebendigen Systemen, von
Selbst-Bewusstsein und von Paradoxien und Antinomien gegeben, die die Funktion haben, eine Rahmenerweiterung zu schaffen, durch die übliche Gegensätze
zusammengeführt werden können.“
2. Schritt: Varela interpretiert seinen erweiterten Indikationenkalkül in dem kurzen aufbauenden Text The Extended Calculus of Indications interpreted as a
three valued logic als dreiwertige Logik und definiert die logischen Junktoren
mit Hilfe dreiwertiger Wahrheitstafeln. Die drei Werte werden als Interpretationen von hinweisenden Ausdrücken verstanden, die für generellere Formen stehen sollen als die üblichen Wahrheitswerte. Darin liegt der Unterschied zu ande-
ren dreiwertigen Logiken, zu denen im formalen Aufbau allerdings im wesentli-
chen eine Isomorphie besteht.‘
3. Schritt: Eine Reihe der Fragen, die sich kritisch an den Erweiterungsver-
such Varelas richten lassen, nimmt er selbst in einem Text zusammen mit Jo-
seph Goguen auf. Zum einen beurteilt er dort die Einführung eines dritten Wer-
tes kritisch, durch den verschiedene ,Re-entry’-Formen vereinheitlicht würden,
so dass ihre Differenz nicht mehr sichtbar ist.’ Zum anderen würden durch die
u JO
る
Aufgabe von dem ersten Initial der Primären Algebra wichtige Intuitionen wegfallen und den Fundamenten der Indikation (indicational grounds) dadurch GeVgl. dazu auch IV.C Philosophie. Varela 1979a Vgl. Schwartz 1980. Durch die Einführung eines dritten Wertes verschwinden viele Dimensionen,
die im elften
Kapitel der Laws of Form bewusst eröffnet werden, nämlich die Dimension der Zeit und damit
der Dynamik in der erweiterter Algebra. maßen nachträglich Auseinandersetzung zeitliche Perspektive
Form, der Unendlichkeit, des Ebenenunterschiedes zwischen Primärer und Diese Dimensionen deutet Varela in seinem erweiterten Kalkül gewisserals ,Aspekte’ des autonomen Zustandes. Kauffman will dagegen in seiner mit Spencer Browns elftem Kapitel und Varelas erweitertem Kalkül die als Ausgangspunkt nehmen und interpretiert Varelas Erweiterungen in ei-
ner Spencer Brown nahen graphischen Netzwerknotation, vgl. Kauffman 1978:179, 184ff.
226
Thomas Hölscher und Katrin Wille
walt angetan. Die andere Strategie, die in diesem Text vorgeschlagen und durchgeführt wird, besteht darin, die Struktur der ‚Re-entry’-Ausdrücke und vor
allem ihren Charakter von Unendlichkeit sorgfältiger zu examinieren, anstatt in
der arithmetischen Basis einen neuen Wert einzuführen. Dazu wird eine Idee von Dana Scott aufgenommen, Unendlichkeit über die Idee der Approximation und des Grenzwertes einzuführen. Unendlichkeit soll sich in dem neuen Entwurf
in einem ,Feld’ von Hinweisen reflektieren, einer unendlichen Serie von gegenseitigen Wechselbeziehungen. Denn immer dann, wenn eine Menge von Elementen betrachtet wird, die wechselseitig interagieren, entstehen (emerge) neue Eigenschaften, die nicht mit isolierten Komponenten beschrieben werden kön-
nen. In einer Arithmetik der Schließung (arithmetic of closure) werden in dem
Gebiet, in dem selbstreferentielle Formen zugelassen werden, unendlich viele arithmetische Werte erzeugt, darunter auch der autonome Wert. Diese Formen
werden unterschieden nach relativen Graden von Determination oder Approxi-
mation.
4. Schritt: In dem Text Form dynamics’ nimmt er zusammen mit Louis
Kauffman die Spur einer Erweiterung des Kalküls wieder auf, aber so, dass den
Defiziten des ersten Erweiterungsversuches Rechnung getragen wird. Diesmal ist die Struktur einer Wellenform das leitende Paradigma, es soll eine ‚waveform arithmetic’ entwickelt werden. Analog zu der Welle/PartikelUnterscheidung der Quantenphysik wird das ‚Re-entry’ einmal räumlich als Muster oder Form gedeutet, die identisch mit einem Teil ihrer selbst ist. In der anderen Deutung oder Betrachtung wird das ‚Re-entry’ zeitlich als eine Vorschrift für eine rekursive Tätigkeit verstanden, also als eine rekursive Dynamik.
(In dem Titel des Textes Form dynamics sind beide Betrachtungsweisen vereint.) Auch in diesem neuen Entwurf wird der Widerspruch zwischen Gleichungen höheren Grades und dem arithmetischen Fundament gesehen, aber anders
gelöst. Die besonderen Kennzeichen dieser Strategie bestehen darin, dass das
Zeichen
| auch als Inversion mit einem halbperiodischen Wechsel (zwecks
Entwicklung
von
Wellenformen)
interpretiert
wird.
Außerdem
wird
eine
Brownsche Algebra (Brownian Algebra) aufgebaut, die von anderen Initialen ausgeht” als die Primäre Algebra und daraus zum Teil neue ‚consequences’
ableitet. Auch hier wird J1, das erste Initial der Primären Algebra, nicht verwendet. Der Zweck der Brownschen Algebra besteht darin, Wellenformen durch
algebraische Sequenzen zu repräsentieren. 5. Schritt: Varela führt all die theoretischen Bemühungen um die Struktur
des ‚Re-entry’ als formale Basis seiner Theorie lebender Systeme in seiner Monographie Principles of Biological Autonomy'” zusammen. An zentraler Stelle wird die doppelte Betrachtungsweise des ‚Re-entry’ als Form und als zeitlicher 8 ? 10
Kauffman/ Varela 1980 Nämlich C4 Occultation und J2 Transposition. Varela 19796
IV.B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft
227
Prozess aufgenommen. Fiir die Idee der Autopoiesis braucht es beide Betrach-
tungsweisen, da ein lebender Organismus beides ist, der, der produziert und der, der produziert ist. Es braucht die Invarianz einer Einheit und die unendliche
Rekursion, die dieser Einheit unterliegt. Als formale Basis wird hierfir als erste Möglichkeit die Idee der Erweiterung des Indikationenkalküls Spencer Browns
um einen dritten autonomen Wert wiederholt. Als zweite Möglichkeit wird die
Erweiterung über eine Wellenform zusammen mit der Grenzwertbildung leicht verändert vorgestellt.
2. Louis H. Kauffmans Deutung
Louis H. Kauffman ist einer der wichtigsten und kreativsten Interpreten Spencer
Browns. Die frühen Auseinandersetzungen mit den imaginären Werten, die gemeinsame Arbeit mit Varela und die Deutung der Entstehung von natürlichen
Zahlen in einem der Appendizes von Spencer Brown sowie eine kontinuierliche Reihe späterer Arbeiten zeigen sein intensives Interesse an den Laws of Form. Charakteristisch für den Mathematiker Kauffman ist sein mathematischer Zugang zu den Laws of Form. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er experimentell und in grosser Freiheit mit ihnen umgeht. In einem ‚kalkulierenden’ Spiel mit gleichungsmässigen Ersetzungen und Umformungen behandelt er das
Set von Grundbestimmungen der Laws of Form in freier Kombination. Er erlaubt sich, Spencer Browns eigene Gestalt der Laws of Form, gestützt vor allem auf die ersten beiden Kapitel, auf ihren Grundimpuls, ihre Grundidee zu bringen, und sie dann in anderer Weise wieder aufzubauen. Diese Freiheit zur mög-
lichen Alternative und Neukonstruktion bedeutet bei Kauffman jedoch keinerlei Willkür, sondern, im Gegenteil, umso größere ‚Treue’ und Nähe. Sein Ansatzpunkt, aus dem er die Laws of Form ihrerseits neu konstruiert, ist eine Einsicht in die Verschränkung von Einfachheit und Komplexität bereits in
der ‚first distinction’ bzw. der ‚form of distinction’ bzw. schliesslich dem ‚void’ oder ‚nothingness’. Diese Verschränkung sieht er mit der Einheit von Aufbau und Abbau als dem zentralen Merkmal der Laws of Form zusammen. In den
Laws of Form findet sich das beispielsweise im fünften Kanon , in dem es um
expansion” und ,contraction of reference’ geht als die zugleich ,kreative’ und
‚zerstörerische’'* Funktion der Grundgleichungen. Diesen gilt im Weiteren dann
auch Kauffmans besonderes Augenmerk. Das Ziel der Logik und auch Mathematik seit der Antike ist es, einen Be-
reich klar umrissener, scharf individuierter Objekte zu konstituieren, d.h. die überall vorkommenden Unklarheiten, Diffusitäten, Ambivalenzen und Ambigui-
täten zu ‚disambiguieren’. Kauffmans Grundidee ist nun, diesen synkretistischen, ‚nicht-disambiguierten’, konfundierten und auch ‚kondensierten’ Bereich I! 2
Vgl. den Kommentar zum dritten Kapitel. Vel. Kauffman 1994:22.
228
Thomas Hölscher und Katrin Wille
als eine produktive Quelle für Logik, Mathematik, formale Systeme, für alle rationalen Prozesse zu betrachten und fruchtbar zu machen. Das nennt er, in
einem archaischen Sinn des Wortes, ‚Virtual Logic’. Die , Virtualitat’ der Logik meint all das, was der üblichen Logik und Mathematik vorgelagert und als ,energizing’, ‚empowering’, als ‚support base’ wirksam ist: „That which empo-
wers reason is not necessarily itself reasonable or logical.‘
Sein Projekt ‚Virtual Logic’, das er seit 1996 in laufenden Kolumnen durchführte, verfolgt diese Grundidee in einer Vielzahl von Bereichen der modernen
Logik, Mathematik und formalen Systemen, immer mit direktem Bezug zu den
Laws of
Form oder in lockeren Anknüpfungen. Dabei geht es auch um Grenzbe-
reiche'*, Überschreitungen und den Übergang von einer Welt der Ideen in die andere, die sich aus dem Charakter der ‚Virtual Logic’ als Möglichkeitenfeld,
als gemeinsamer Vorform von Verschiedenstem ergeben. Das schlägt sich in
Kauffmans Konzeption von ‚Pivot’-Zeichen'” nieder: Zeichen oder Konstrukte,
die selber Drehscheiben zwischen Heterogenem sind und daher als Katalysato-
ren wirken können.
Kauffman zeigt, dass Spencer Browns ,distinction’ bzw. ‚form of distinction’ die Grundoperation einer ‚Virtual Logic’ ist, indem sie eine Unterscheidung
macht, eine Grenze zieht, die dennoch keine klar distinkten, scharf individuier-
ten Objekte mit ihren beiden Seiten oder Zuständen generiert, wie es in der gewöhnlichen Logik und Mathematik der Fall ist. Sie ist keineswegs im landläu-
figen Sinn einfach. Ihre Einfachheit ist hochkondensiert, ein Bereich verdichteter Möglichkeiten.
Direkt zum ,calculus of indications‘'° demonstriert Kauffman zweierlei: (1)
die Entfaltung, den Aufbau einer minimalen komplexen formalen Sprache aus
der ‚distinction’, die in der Lage ist, die darin impliziten Komplexitäten darstellbar zu machen, und (2) den geregelten Wiederabbau dieser Sprache zurück bis zur ‚distinction’ bzw. ‚form’ und hinab bis zum ‚void’. Den zweiten Prozess
nennt er ‚descent’ (into the form, into nothingness), und er führt ihn in einer Schrittfolge von ‚simplifications’ durch. Damit ist die Einheit von Einfachheit
und Komplexität, von Aufbau und Abbau für die Laws of Form mit einfachsten
Mitteln demonstriert. Aus dieser Perspektive, geleitet von seinem Interesse an
Komplexen verschränkter Verschiedenheiten, an Kondensierungsbereichen als Basis gelingt ihm eine aufschlussreiche neue Sicht-Variante auf die Grundele-
mente der Laws of Form.
Kauffman betont, dass verschiedene Realisierungen dessen, was z.B. die beiden Axiome meinen, sich ganz natürlich aus dem hohen Grad ihrer Verdich3
4 5» '©
Kauffman 1997a:1. Zu den Besonderheiten einer ‚Virtual Logic’ vgl. auch Kauffman 1999a:95,
2001c:78, 1999c:77, 2000d:8.
Virtual logic lives in the boundary between syntax and semantics“, Kauffman 1996:293 lautet eine weitere wichtige Bestimmung.
Vgl. Kauffman 2001b:84. Vgl. Kauffman 1998a,b;c.
IV.B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft
229
tung ergeben. Zu seiner Erläuterung der Grundgleichungen” geht er von einem wichtigen kondensierten Bereich aus, dem von ,naming’ und ‚instruction’ zum
‚cross’. Dieser wird zwar ,erst im zweiten Kapitel und dort erst mit dem 12. und 16. Schritt eingeführt. Aber Kauffman rückt dies in die Perspektive einer Manifestation der beiden Axiome, die er ebenfalls mit Spencer Brown, als in ein
einziges Gesetz konfundierbar bzw. kondensierbar ansieht.'* Es handelt sich um
das ,Axiom of idemposition’, welches lautet: „Common boundaries cancel (und entsprechend Kanon 5 gilt auch der inverse Prozess). So vermag er die beiden Grundgleichungen einheitlich zu erklären. Wichtig für den Ansatz ist die Betonung des Zusammenfallens von Operator und Operand und, wie gezeigt, von Akt der Unterscheidung (Aufforderung, von innen
nach außen zu überschreiten) und Name für die (Außenseite der) Unterschei-
dung in der Notation Spencer Browns. Diese Doppeldeutigkeit, die an manchen Stellen gezielt auseinander tritt und dann gezielt wieder zusammengenommen wird, prägt auch die Interpretation Kauffmans von den beiden Gleichungen:
Bei der ‚form of condensation’ kommt es darauf an, dass realisiert wird, dass
zwei Dinge identisch in der Form sind. Die beiden Markierungen können nämlich verschieden einmal als Unterscheidung und als Name für die Außenseite
der Unterscheidung gesehen werden. Dann zeigt selbst ihre eigene Außenseite indiziert. Das erste to cross’ aufgefasst werden, das zweite als ‚name das gleiche, nämlich konfundiert bzw. kondensiert Gleichung zum Ausdruck.
sich, dass die Unterscheidung Zeichen kann als ‚instruction of the outside’.Und dass dies ist, bringt die rechte Seite der
Bei der ‚form of cancellation’: Die äußere Markierung wird interpretiert als
eine Anweisung zur Überschreitung, ausgehend von dem Zustand, der innerhalb der Markierung indiziert wird. Hier bedeuten die Markierungen das gleiche wie
in der ‚form of cancellation’, jedoch mit dem Ergebnis ihrer gegenseitigen Auflösung. Der Operator (die äußere Markierung) operiert auf sich selbst und hebt
sich so selbst auf. Er geht in seinem ‚crossing’ vom markierten Zustand aus und endet im unmarkierten, welcher durch den leeren Raum indiziert wird. Soweit 7
19
Vgl. auch Kauffman/ Varela 1986:174.
Ziel und dahinter liegende tiefere Konzeption für diese Wahl erhellen aus den folgenden Zitaten: „Name and act have condensed“ — „The brackets now hold the double function of noun and verb, name and operator ... Action and name fit together“ — „It is the cognizer (the cognizer is a verb AND a noun) who empowers and energizes reason”. Kauffman 1998a:65, 1998b:76, 1998b, 82. Der ,cognizer’ im letzten Zitat weist aif Kauffmans Konzeption von der Position des observer’. Die Selbstreferenz des observer bzw. die Einheit aus observer/observed stellt für ihn die tiefste Ebene oder Quelle dessen dar, was er ‚virtual logic’ nennt. Spencer Brown 1997:152f.,184. Zur Darstellung des Axioms bedient sich Spencer Brown im Appendix 5 über das Vier-Farben-Theorem kleiner Rechtecke als Markierungszeichen (diese sind ohnehin als Abkürzungen von ersteren gemeint): zwei nebeneinander geschriebene ‚Kästchen’ verschmelzen zu einem, wenn ihre Grenzlinien sich berühren und gelöscht werden, während zwei ineinander geschriebene Kästchen sich beide vollständig auflösen.
230
Thomas Hölscher und Katrin Wille
zu Kauffmans
‚synthetischer’ Sicht der Laws of Form, in Anwendung
seines
Konzepts einer ‚Virtual Logic’ auf diese selbst. Um sein Vorgehen unter Handhabung einfachster Mittel in actu zu demonst-
rieren, sei der ‚descent’, welcher oben allgemein im Rahmen der ‚Virtual Logic’ charakterisiert wurde, konkret vorgeführt. Kauffman wählt, der traditionellen Schreibweise nahe, als Zeichen Klammern in linearer Abfolge.
1. Schritt: Es wird mit einer Unterscheidung begonnen, die durch geschweifte Klammern { } ausgedrückt wird, und dazu eine übliche Konvention im Umgang mit Unterscheidungen aufgenommen, um innen und außen zu differenzieren, angezeigt durch I (inside) und O (outside). Dazu wird ein Operator eingeführt, der die Überschreitung von einer Seite zu der anderen anzeigt, Symbol dafür sind eckige Klammern < >. Damit können Gleichungen gebildet werden, wie z.B. =O, die besagt: ‚wenn du von der Innenseite überschreitest, dann
bist du Außen’. Damit stehen folgende Zeichen zur Verfügung: Namen für In-
nen und Außen, Operator, Zeichen für die Unterscheidung. Dieses relativ kom-
plexe formale Inventar schafft eine komplizierte Beschreibungssprache. In den nächsten Schritten soll diese Komplexität dekonstruiert, das heißt formal vereinfacht werden, bis Beschreibung und Beschriebenes koinzidieren.
2. Schritt: Identifiziere Innen mit der Abwesenheit eines Namens, Innen sei
also unmarkiert. Außen dagegen hat einen Namen, ist markiert durch O. Dies
genügt, damit die beiden Seiten unterschieden sind. Es gibt also nur noch die
Zeichen , { }, und O, die Gleichung von oben vereinfacht sich zu:
=O
und besagt nun, dass von dem unmarkierten Zustand zu dem markierten O gekreuzt werden soll. Bei diesem ersten Vereinfachungsschritt kann also ein Name weggenommen werden. 3. Schritt: Dies ermöglicht einen weiteren Vereinfachungsschritt: wir können auch den zweiten Namen weglassen, es reicht das leere Operator-Symbol, das
den markierten Zustand anzeigt und zur Überschreitung in den markierten Zu-
stand auffordert. Dies erbringt eine und Operation, der Name ist nichts senz des Namens aus. Wir haben nur noch die beiden Zeichen , {
bemerkenswerte Koinzidenz zwischen Name als der Akt des Überschreitens von der Abnach diesem zweiten Vereinfachungsschritt }.
4. Schritt: Genauer betrachtet erweist es sich, dass die eckigen Klammern selber auch eine Unterscheidung darstellen, also braucht es nur noch das Zei-
chen: < >. Der Name ist das benannte Ding, Beschreibung und Beschriebenes koinzidieren.
5. Schritt: Was ist aber eigentlich dies Unterscheiden, wie kommt es dazu?
Wenn die Leere zum Thema gemacht wird, dann entsteht Form. Die Form entsteht, wenn wir Nichts rahmen: , The Form we take to exist arises from framing
nothing.“ 2
Kauffman 1998b:77 und 2004:100
IV.B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft
231
Mit Unterscheidungen wurde in binären logischen Systemen schon lange ge-
arbeitet, Spencer Brown setzt aber fundamentaler an und fragt, wie die Einheiten, mit denen in der Mathematik gearbeitet wird, geschaffen werden, zum Beispiel bei der Konstruktion der natürlichen Zahlen ausgehend von der leeren Menge durch die Operation der Zusammenfassung. Fragen wir uns, was die leere Menge
ist, dann entsteht sie dadurch, dass nichts eingerahmt wird. Die
Klammern, die den Rahmen darstellen, indizieren eine Unterscheidung. Deshalb
kann der ,descent’ bzw. ‚ascent’, von denen Kauffman in Bezug auf die Laws of
Form spricht, nicht ganz gleichgesetzt werden mit der Zahlenbildung aus der
leeren Menge.?!
3. Matthias Varga von Kibeds Deutung (1) Der in Wirklichkeit prozessuale, sozusagen ‚injunktive’ Charakter von Para-
doxien war es auch u.a., was den Paradoxientheoretiker Varga v. Kibed zu Spencer Brown gebracht hat. Seit den 80er Jahren widmet er sich der Fortset-
zung und Erweiterung des Projekts seines Lehrers Ulrich Blau”, die Paradoxientheorie mit neuesten logischen Forschungen zusammen zu bringen. Eine gewisse Stagnation hatte nämlich auch die Beschäftigung mit Paradoxien in anderen, anwendungsbezogenen Bereichen nicht so effektiv werden lassen wie sie es hätte sein können, in solchen Disziplinen wie Luhmanns Systemtheorie
oder auch diversen Therapie- und Beratungsformen, welche mit oder ohne Anknüpfung an die Laws of Form im grossen und ganzen auf dem Stand der Russellschen Typentheorie verharren. Ein Ziel Varga v. Kibeds ist es, diese Praxislücke zu schließen und das produktive Potential der modernen logischen und philosophischen Paradoxientheorie fruchtbar zu machen.
Wollte man, skizzenhaft und partiell, eine Landkarte des Terrains von Varga
v. Kibéds weitgefächertem
‚Spencer Brown-Projekt’ versuchen, wäre dies eine
erste wichtige Markierung. Weitere Orientierungspunkte sind die folgenden:
(2) An den Laws of Form fasziniert ihn, obwohl Spencer Brown sich dort noch ersichtlich an Russells Typentheorie abarbeitet, das ‚Re-entry’-Kapitel, das
ein unausgeschöpftes Instrumentarium zur komplexeren Durchleuchtung und Verwendung von Paradoxien bereithält. Vor allem aber die ,proto-’ oder ‚prälogische’ Grundlegung im ersten und zweiten Kapitel hat sein verstärktes und anhaltendes Interesse gefunden. Seine Arbeit ist von einem vollen Ernstnehmen
2!
Bei Kauffman/ Varela 1980:172 heisst es dazu: „Our aims are more fundamental ... we would
give attention to the construction of the empty set itself.” Auf die Paradoxten als einen weiteren wichtigen Gegenstandsbereich von ‚Virtual Logic’ sei nur mit folgenden Zitaten verwiesen: “In
a sense the best compliment you can pay to a paradox is not to ‘solve’ it, but to use its form of
reason to make progress in a non-paradoxical context. This is the virtual logic of the paradox.” und „Behind every paradox, there is a rich vein of virtual logic.“ Kauffman 1999c:77 und 1996:294.
22 Vgl. Blau 1990, 2004.
232
Thomas Hölscher und Katrin Wille
dieser ‚Prä-Ebene’ geprägt. Er möchte sie zu einer neuen Grundlegung der mo-
dernen Logik nutzen und bemüht sich umgekehrt, alle nur erdenklichen theoretischen Mittel zu ihrem ausreichenden Verständnis zu mobilisieren. Dazu gehört es, die besondere Stärke der Notation in den Laws of Form herauszustreichen, die vor allem in dem ,anadischen’ Operator und der ,topologischen Invarianz’
der Notation liegt.”
(3) Ein wichtiger Verbündeter
ist dabei
Wittgensteins
Tractatus
logico-
philosophicus, eine zweite tragende Säule in Varga v. Kibéds logischem und philosophischem Arsenal. Der Tractatus ist von Bedeutung, da man sagen kann, dass Wittgenstein hier selber den Übergang von einer ,protologischen’ zur logischen Ebene bewusst implizit mit dargestellt, sozusagen ,auskonstruiert’ hat. Das macht den Tractatus für einen Nachvollzug dessen, was eigentlich in den radikalen Vereinfachungs- und Kondensierungsprozessen zu Anfang der Laws of Form geschieht, so hilfreich. In dieser Sicht, in der Spencer Brown wiederum
seinerseits auf das Verständnis des Tractatus angewendet wird, stellt er so etwas wie ein logisches Modell des Übergangs vom Vorlogischen zum Logischen dar,
das Modell eines logischen ‚Übergangsritus’ sozusagen.
(4) Ein dritter Verbündeter in Varga v. Kibeds logisch-philosophischem
Verbundsystem zur Realisierung der Errungenschaften der Laws of Form ist der amerikanische Logiker, Mathematiker und Philosoph Charles S. Peirce. Dieser entwickelte eine mit Spencer Brown vergleichbare Unterscheidungstheorie der ‚Schnitte’, setzte sich in ähnlicher Intensität mit der Booleschen Algebra auseinander und stellt in seiner Theorie der Semiotik Hilfsmittel bereit zum besseren Verständnis der Tragweite der Notation und der Zeichenbildung und Verwen-
dung in den Laws of Form.”
(5) Das sogenannte ‚Tetralemma’ stellt eine weitere Orientierungsmarke auf dem hier skizzierten Landkarten-Fragment dar. Dies ist ein logischargumentatives Schema, das der indischen und buddhistischen Logik entstammt. Es wurde von Varga v. Kibed verfeinert für das Durchlaufen von verschiedenen Stufen und Rekursionen von Gegensatzbildungen, mit den entsprechenden Ty-
pen von Negation und den Artikulationen unterschiedlicher Kontextebenen und -formen. So stellt es auf einer vereinfachten Ebene einen ähnlichen Paradoxien-
und Ambiguitäten-Modulator dar wie der Tractatus. Es eignet sich mit seinen vier Positionen ausgezeichnet zu einer Modellierung der ‚form of distinction‘
mit ihren vier Aspekten, zuzüglich einer offenen fünften Position, die alles aufhebt bzw. re-kontextualisiert, worin sich die verschiedenen ‚Re-entry’-Prozesse
des elften Kapitels der Laws of Form darstellen lassen.”
Diese Landkarte erlaubt bei ausreichender Vernetzung ihrer Orte eine tiefergelegte Auffassung folgender Elemente: der Paradoxien, der Negationsvor-
23 vgl. Varga v.Kibéd 1989b:402. 1990b:29,33.
24
つ
Auch
Kauffman hat sich diesen Bezügen gewidmet, vgl. Kauffman:2001b.
Siehe für die praktische Seite IV.G Praxis der Unterscheidung.
IV.B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft
233
gänge, der Kontextbildungen und Kontextthematisierungen, der Zeichenbildung und Notation. Dadurch wird ein angemessenes Verständnis der Grundprozesse der Laws of
Form in grésserer Näherung versucht: eben dessen, was die radikal einfache Ebene des Protologischen eigentlich ausmacht. Nicht weniger geht es darum, wie der ,calculus of indications‘ sich zur modernen formalen Logik verhält: was
er zu einem vertieften Verständnis, ja zu ihrer Neukonstruktion beizutragen
vermag, aber auch wie eines von mehreren Defiziten behoben werden kônnte, nämlich der nicht gegliickte Versuch seines Anschlusses an die Prädikatenlogik
in Appendix 2.
Als Konsequenz ergibt sich ein Ansatz tiefergelegter Paradoxien, und dieser
führt zu einem negationsbasierten Modell der Grundunterscheidung in den Laws of Form. ,Tiefergelegt’ meint: aus dem Bereich der Logik mit ihren spezifischen Unterscheidungen hinaus auf die ,prä-logische Ebene’ mit ihren andersartigen Unterscheidungen. Diese Ebene ist zugleich vor-sprachlich. Das macht man sich oft nicht klar, da die Laws of Form, auch die ersten Kapitel, notgedrungen sprachlich kommuniziert werden. Varga v. Kibéds Zielrichtung lässt sich gut mit Spencer Browns eigenen Worten demonstrieren. Ein Teilnehmer der AUMConference hatte den Eindruck, bei so viel Rede von Widerspriichen und Paradoxien seien diese als ,the form of form’ anzusehen und das Buch miisse eher ,Laws of Contradiction’ heissen. Die Antwort Spencer Browns ist:
» Whenever we are speaking of contradiction, it is at such a more superficial level, because we are now already in language, and so on. Whereas in Laws of Form the form is operative at every
level. Whereas contradiction is only operative in something like our speaking.””°
So haben Paradoxie, Negation und die üblichen Operationen auf der Ebene der Form einen anderen Charakter als auf der Ebene der Sprache, die auch die der Logik ist. Daher kann man den ,mark of distinction’, also den Unterscheidungs-
operator, als Negationsoperator auffassen. Damit befindet man sich auf einer
anderen Ebene als mit Spencer Browns eigener Diskussion tiber die Ubertra-
gung des ,cross’ als ,not-operator’ auf die logische Ebene.”’ Dieser Negations-
operator generiert die ‚form of distinction‘ in allen ihren vier Aspekten über
unterschiedliche Negationsformen,
die er kondensiert enthält: eine ausschlie-
06006 bzw. grenzsetzende, eine einschließende sowie eine kontextrelevante.ぞ Das entspricht genau der zugleich trennenden und verbindenden Funktion der Grenze. Nicht mit einem Junktor haben wir es bei diesem Operator zu tun, son-
2° AUM 4,6 27 28
AUM 1,11., vgl. 1.A Kontexte der Laws of Form. Es handelt sich um die ‚präsupponierende’ und die ,dementierende’ Negation sowie die Kombinationen beider. Diese Theorie der multiplen Negation wurde von Ulrich Blau entwickelt. Blau
1990, 2004.
234
Thomas Hölscher und Katrin Wille
dern mit einer Form. Aus Varga v. Kibéds Perspektive fallen ‚Distinktor’” und ‚Negator’ zusammen: der ‚Spencer Brown-Operator’ ist die gemeinsame Form
aller Polaritätsverhältnisse.
Wobei
‚Polarität’ die Vorläuferform der üblichen
logischen Negation ist, welche ihrerseits, ebenso wie die Wahrheitswerte wahr und falsch, eine re-symmetrisierte Form von Polarität ist. Hier erweist sich für Varga v. Kibéd der grundlegend asymmetrische Charakter der ,distinction’.
Schauen wir auf Spencer Browns eigenes Beispiel: ,,... we cannot produce a
thing without coproducing what it is not, and every duality implies triplicity:
what the thing is, what it isn’t and the boundary between them.”
Hier zeigen
sich Negationsoperator, Polarität und Asymmetrie in Aktion. Was bei Spencer
Brown fehlt, der ‚implizite Kontext’, den hat Varga v. Kibéd in die Diskussion
eingeführt”, bei Spencer Brown erscheint er nur in der Gestalt des ,unwritten
cross‘, welches jeglichen ‚mark of distinction’ bzw. ‚cross’ In Varga v. Kibéds Modell artikuliert die kontextrelevante ziten Kontext, der als das, ‚worin es stattfindet’? zunächst und erst u.a. durch das ‚Re-entry‘ als Kontexterweiterung
unsichtbar umgibt.” Negation den impliunabgegrenzt bleibt, wie Rekontextuali-
sierung thematisierbar wird”, dadurch als solcher aber jeweils immer weiter
zurückweicht. Nur, indem man sämtliche logische Kategorien und Unterschiede mit Spencer Brown auf dieser ‚prä-logischen Ebene’ zu rekonstruieren versucht, kann es
nach Varga v. Kibed gelingen, eine ,Prozess-Logik’, die diesen Namen verdient,
zu entwickeln — und dies ist ein wichtiges Fernziel seiner Beschäftigung mit den Laws of Form.
29 30 1 32 33 34
Varga v. Kibéd kann hier die grosse Ähnlichkeit zu Wittgensteins ,N-Operator’ im Tractatus
zeigen. Varga v. Kibéd 1990b. Der Ausdruck findet sich bei Howe/ v. Foerster 1975:2. Spencer Brown 1994b:ix (Hvb.T.H.). Vgl. auch den Kommentar zum ersten Kapitel. Vgl. auch den Kommentar zum zweiten Kapitel. Hierbei muss das ‚Re-entry’ bzw. der ,Re-entry-mark’ ebenfalls mit seinem Kontext, also umgeben vom ,unwritten cross’ genommen werden, da es andernfalls zu Widersprüchen zu kommen scheint, die Varela in seinem Text A Calculus for Self-Reference in den Laws of Form nachzuweisen versucht. Gegen diese Kritik, die oft als Widerlegung der erweiterten Algebra aufgefasst wurde, argumentiert Varga v. Kibéd und entwickelt den Ansatz einer ‚Logik der Explizitmachung impliziter Kontexte’, vgl. Varga v. Kibed 1989b, 1990b, 1993. Es wäre aufschlussreich, Kauffmans Auseinandersetzung mit derselben Kritik von Varela, die in eine ande-
re Richtung zielt, hier zu vergleichen. Kauffman:2002ab, 2003b.
IV.C Philosophie
Tatjana Schönwälder-Kuntze
Der vorliegende Beitrag stellt bereits erfolgte und mögliche philosophische
Deutungen der in den Laws of Form dargelegten Ideen vor. Es werden drei unterschiedliche Verwendungen oder Adaptionen betrachtet, die an verschiede-
ne Aussagen der Laws of Form anknüpfen. Die erste Art von philosophisch
interessanter Deutung findet sich in den Selbstkommentierungen Spencer Browns — hier werden als Beispiele der Weltreisende und der Physiker aus den
Notes zu den Laws of Form vorgestellt. Die zweite Art besteht in der euphorisch zu nennenden Aufnahme durch konstruktivistisch denkende Wissenschaftler aus
verschiedenen Disziplinen. Eine dritte Art besteht schließlich darin, in (anderen) philosophischen Gedankengebäuden strukturelle und dynamische Parallelen in Bezug auf deren methodologisches Analysemuster herauszustellen, dem eine
ähnliche Idee von der vollständigen Form einer Unterscheidung in zentraler Weise zugrunde zu liegen scheint.
1. Zwei Beobachter: Der Weltreisende und der Physiker
Im Kommentar zum zwölften Kapitel ist der Beobachter nicht so stark konstruk-
tivistisch interpretiert worden, wie das häufig getan wird. Stattdessen wurde bereits im Kommentar eine Position vertreten, in der der die Entstehung des
Kalküls mitverfolgende Beobachter eine implizite Referenz darstellt, insofern er
einen relevanten Faktor ausmacht, wenn es um die angemessene Form der Darstellung geht. Diese Lesart wird auch gestützt durch die (gedankliche) Reise, zu
der uns Spencer Brown in den Notes einlädt.
Dort heißt es, dass wir uns vorstellen sollen, dass wir nicht — wie üblich — auf einer ebenen Fläche einen Hinweis notierten, sondern stattdessen die Erdoberfläche benutzten, um auf ihr hinweisende Zeichen niederzuschreiben. Anschließend sollen wir die Rolle wechseln, indem wir jetzt diejenigen spielen, die
die Zeichen zur Kenntnis nehmen. Dabei stellt sich Folgendes heraus: Je nach-
dem, wo wir uns im Verhältnis zum Geschriebenen befinden, sehen wir verschiedene Ausdrücke, deren Werte dann entsprechend der jeweiligen Belegung variieren, und damit verweisen sie auf Verschiedenes, bedeuten etwas anderes. Von London (a) aus scheint uns der Äquator die beiden Inseln Australien (b)
und Neuseeland (c) zu umfassen, da wir uns außerhalb des Äquators befinden. Vgl. LoF:102f.
236
Tatjana Schönwälder-Kuntze
In Südafrika angekommen, haben wir den Aquator überschritten und das bedeu-
tet, dass er aus unserer dortigen, von
‚unten‘ sehenden Perspektive London
umfasst. Australien und Neuseeland sehen wir allerdings so wie vorher — allerdings ohne den sie umfassenden Äquator. Wenn wir nach Australien weiter reisen, dann überschreiten wir die australische Grenze und das bedeutet, dass
sowohl das vom Äquator umgebene London als auch das von seiner Küstenlinie umgebene Neuseeland zusammen außerhalb der Küstenlinie Australiens gesehen werden — deshalb steht jetzt das ‚Australien anzeigende‘ (b) alleine. Wenn wir die neuseeländische Küste betreten, überschreiten wir wiederum eine Gren-
ze und sehen diese dann — von der anderen Seite aus — sowohl Australien als auch London umfassen: „These four expressions are distinct and not equivalent.“ (LoF:103).
Übersetzt man die Kreisnotation in die Notation des Kalküls, dann lässt sich
arithmetisch beweisen, dass die Ausdrücke nicht äquivalent sind: Setzt man beispielsweise b = | undc= , dann erhält man für die ersten beiden Standpunkte (London und Cape Town) a = alund damit eine ungültige Gleichung.
Durch die Veränderung der Beobachtungsperspektiven bzw. -standpunkte werden die einzelnen (Teil-)Ausdrücke in je andere Verhältnisse zueinander gesetzt; die grenzüberschreitende Reise versetzt sie in je ‚andere Tiefen‘. Um also über die Äquivalenz von Ausdrücken etwas aussagen zu können, muss eindeutig bestimmt werden, wie sie aufzufassen sind und das impliziert notwendig den beobachtenden Standpunkt des Lesers bzw. des Betrachters. Die Reisebeschrei-
bung zeigt mithin, dass die Bedeutung von Zeichen auch davon abhängig ist, aus
welcher Perspektive oder von welchem Standpunkt aus sie betrachtet werden,
und dass deshalb eine angemessene Zeichengebung den Standort des Beobachters miteinbeziehen muss, wenn Mißverständnisse und vor allem falsche Aquivalenzannahmen vermieden werden sollen. Das heißt aber keineswegs, dass der Reisende derjenige ist, der den Zeichen
‚frei‘ ihre Bedeutung gibt, noch dass sie ausschließlich von ihm und seinem Standpunkt abhängen — aber indem er sich in ein bestimmtes Verhältnis zu ihnen setzt, kann es zu einer Veränderung des Wertes der Verhältnisse der Zeichen untereinander kommen. Der Standpunkt dessen, der die Zeichen zur Kenntnis nimmt, hat somit eine unmittelbare Wirkung auf die Relation zwischen
ihnen und muss daher mit einbezogen werden.
Eine zweite Deutung des Beobachters findet sich ebenfalls in den Notes zum zwölften Kapitel. Hier tritt er in Gestalt eines Physikers auf, der auf der einen
Seite zugleich das ist, was er beobachtet: „Let us then consider ... the world as described by the physicist. ... Now the physicist himself, who describes all this, is, in his own account, himself constructed of it.“ (LoF:104f., Hvhb. T.S.-K.). Der Physiker entdeckt also in letzter Konsequenz, dass er selbst aus nichts ande-
rem besteht als aus dem, woraus die Welt zusammengesetzt ist. Auf der anderen
IV.C Philosophie
237
Seite besteht das Faszinosum jedoch darin, dass er Teil eines Selbstbeobachtungsszenarios der Welt als ganzer ist, die sich — mittels seiner — selbst beobachtet. Daraus folgt, dass es keine Perspektive gibt, aus der ‚sich’ die ganze Welt, die sich aus dem
Beobachter und dem
Beobachteten zusammensetzt, jemals
vollständig beobachten bzw. erkennen könnte: „Thus we cannot escape the fact
that the world we know is constructed in order (and thus in such a way as to be
able) to see itself. ... But in order to do so, evidently it must first cut itself up
into at least one state which sees, and at least one other state which is seen. In
this severed and mutilated condition, whatever it sees is only partially itself.“ (LoF:105).
Die Bedingung der Möglichkeit der Selbstbeobachtung liegt in einer Unter-
scheidung, die zugleich die vollständige Selbstbeobachtung unmöglich macht.’
Diese Eigenschaft, alles andere, nur nicht sich selbst beim Beobachten beobach-
ten zu können, ist einer der Anknüpfungspunkte konstruktivistischer Interpretationen. 2. Die ‚konstruktivistische‘ Perspektive Die hier vorgestellte Version des Konstruktivismus entstand aus einer Tradition,
deren Wurzeln im sogenannten ‚Wiener Kreis‘ liegen.” Aus diesem interdiszi-
plinär besetzten Kreis von Wissenschaftlern sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Theorien über die Möglichkeiten und Grenzen des Welterfassens, -erkennens und -verstehens hervorgegangen.
Eine gemeinsame
wissen-
schaftliche Grundannahme besteht in einer positivistischen Fundierung, aber auch Relativierung dessen, was Wahrheit ist — und das nicht zuletzt in Abgrenzung zu einer als stark spekulativ empfundenen und nicht wissenschaftlich nachprüfbaren Metaphysik, wie sie etwa im Denken Hegels und insbesondere Heideggers verortet wurde. Die Aufgabe der Philosophie besteht nach der Auffassung der ‚Positivisten’ darin, sprachkritisch über den Sinn und die Wahrheit von (naturwissenschaftlichen) Sätzen Aussagen zu machen und nicht mehr darin, Sätze über die Welt oder das Sein schlechthin zu formulieren. Die Er-
Clam führt gegen Luhmann an, dass aus der Tatsache, sein eigenes Sehen nicht sehen zu können, nicht notwendig folge, dass das Nicht-Sehen die Bedingung der Möglichkeit des Sehens ist, vgl. Clam 2002:107. Hier scheint aber das Argument verkürzt widergegeben, denn es ist nicht die Tatsache der unmöglichen Selbstbeobachtung beim Beobachten, die von Spencer
Brown als Möglichkeitsbedingung formuliert wird, sondern die zu treffende Unterscheidung
zwischen einem sehenden und einem gesehenen Teil. Wird diese Differenz als
Form der Unter-
scheidung im Sinne der Laws of Form rekonstruiert, dann ist die Selbstbeobachtung der beo-
3
bachtenden Seite per definitionem ausgeschlossen. Insofern kann dann davon gesprochen werden, dass das Nicht-Sehen die Bedingung der Möglichkeit des Sehens ist. Mitglieder des ‚Wiener Kreises’ waren u.a. Rudolf Carnap, Kurt Gödel, Olga Hahn-Neurath, Otto Neurath, Karl Popper, Moritz Schlick, Richard von Mises, Luwig Wittgenstein und Edgar Zilsel.
238
Tatjana Schönwälder-Kuntze
kenntnis wird somit zum einen auf das Erkennen objektiv gegebener Naturge-
setze beschränkt, zum anderen aber auch auf objektive Denkmuster und -strukturen und auf unsere Sprache hin relativiert. Wittgenstein steht hier am Beginn des , linguistic turn‘ in der Philosophie; in der Physik sind vor allem Schrödinger und Heisenberg zu nennen;
Piaget. *
in der Psychologie der Entwicklungspsychologe
Konstruktivistisch wird diese Perspektive, wenn man den Fokus auf den kon-
struktiven Zusammenhang von Denkmustern und erkannter Welt legt — wie
schon von Kant 1787 in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft formuliert: „weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Regeln ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a
priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach
denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig richten und mit ih-
nen übereinstimmen müssen.‘“. Das erkennende Subjekt wird demnach durch die unwillkürliche ,Anwendung’ seiner a priorischen Begriffe und Denkschema-
ta im Erkenntnisakt zum Konstrukteur dessen, was es erkennt.
Den neueren konstruktivistischen Theoretikern, die sich auf die Laws of Form beziehen, geht es allerdings weniger um die Identifikation konkreter a priorischer und ahistorischer Denkkategorien, wie das etwa bei Kant der Fall war, noch um konkrete naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sondern vielmehr
um den reziproken Zusammenhang zwischen beiden, d.h. um den wechselseiti-
gen Entstehungszusammenhang zwischen kategorialen Denkmustern auf der einen Seite und gewonnenen Erkenntnissen auf der anderen Seite. Die Rede von der ‚konstruktivistischen Perspektive‘ muss daher im vorliegenden Zusammen-
hang dahingehend eingeschränkt werden, dass hier nur wenige Vertreter einer wiederum in sich vielfältigen wissenschaftlichen Perspektive vorgestellt wer-
den, die seit ihrem (erneuten) Auftauchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Disziplinen Vertreter gefunden hat und die sich bis heute fortentwickelt. °
Diejenigen Wissenschaftler, die die Ideen der Laws of Form aufgenommen
haben, verstehen sie vor allem als philosophisch-logische Fundierung und Bestätigung ihrer eigenen theoretischen Ansätze. Insofern es sich immer auch um
kognitionstheoretische Ansätze handelt, dienen ihnen die Laws of Form auch in 4
>
Die diesen Ansätzen zugrundeliegende Perspektive auf das Wesen der Erkenntnis findet sich allerdings auch schon weit früher in Form elaborierter (Erkenntnis-)Theorien. Beispielhaft wären hier zu nennen: Giovanni Vico (1668-1744), George Berkeley (1684-1753), David Hume (1711-1776), Immanuel Kant (1724-1804).
Kant 1786:
BXVIIf.
Der Begriff ‚Konstruktivismus‘ ist in den 1920er Jahren in der russischen Architektur und Literatur geprägt worden, später von Paul Lorenzen als ‚konstruktivistische Logik‘ übernommen worden, die als Begründungslehre der Wissenschaften dienen sollte. Heute erstreckt er sich auf so unterschiedliche Ansätze wie etwa den Nelson Goodmanns oder Judith Butlers, wobei hier zwischen einem erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen und sozialem Konstruktivismus unterschieden werden muss.
IV.C Philosophie
239
einem wissenschaftstheoretischen Sinne als erkenntnistheoretische Grundlegung
ihrer eigenen Disziplinen, weshalb hier nicht in der Philosophie tätige, sondern
interdisziplinär arbeitende Wissenschaftler genannt werden: Heinz von Forster’, Ernst von Glasersfeld®, Paul Watzlawick’ und Francisco Varela.'° Neben der für alle Wissenschaften grundlegenden erkenntnistheoretischen Fragestellung, lässt sich das ausgeprägte Interesse an den Laws of Form vor allem dadurch erklären,
dass hier ein Differenzen erzeugender Entstehungsprozess angenommen wird,
dass Unterschiede damit nicht als gegeben, sondern als produziert gedacht werden und somit eine konstruktive Funktion erhalten, sowie dass Rekursivität und
auftauchende logische Paradoxien als potentiell produktiv aufgefasst werden —
um nur einige der Anknüpfungspunkte zu nennen.
Diese Fülle verschiedener Fragestellungen sehen sie in der Form der Unterscheidung und dem auf ihr aufbauenden Hinweiskalkül in komprimierter Form präsentiert: Neben dem logischen Kalkül findet sich die Idee einer ursprüngli-
chen Weltkonstruktion durch Unterscheidungen und durch die wiederum diffe-
rierende Bezeichnung dieses Unterschiedenen, mit der ihm zugleich Bedeutungen zugewiesen werden. Durch die Kalkülisierung lassen sich die verschiedenen Ankniipfungspunkte zudem in einen systematischen Zusammenhang bringen, so dass sie kreisförmig von einem zum anderen führen. So lässt sich in der Form der Unterscheidung ein dynamisches Konstruktionsmuster sehen, das aus einem Differenzierungsprozess entsteht, durch das zuallererst der erkennende Beob-
achter und sein erkanntes Beobachtetes als Erkenntnisrelation ,ko-produziert’ werden. Durch den darauf aufbauenden Hinweis-Kalkül bieten sie einen (er-
kenntnis-)theoretischen Ort fiir die Verwendung von Zeichen und Sprache, der wissenschaftstheoretisch interpretierbar ist, insofern erst im Erkenntnisprozess erzeugte Unterschiede benannt, d.h. auch wissenschaftlich diskursiviert werden. 7
8
”
Heinz von Förster (1911-2003) war ausgebildeter Diplomingenieur in technischer Physik, seit 1949 Prof. für Informatik an der Universitat Illinois in Urbana, seit 1958 Professor fur Biophysik und Physiologie sowie Grinder und Leiter des Biologischen Computer-Laboratoriums, eines interdisziplinären wie internationalen Forschungsinstituts für das Studium der Physiologie, Theorie, Technologie und Epistemologie kognitiver Prozesse. (Dieser und die folgenden Hinweise zu den Personen sind in verkürzter Form Watzlawick 1985 und 1992 entnommen). Emst von Glasersfeld (*1917) entwickelte Anfang 1970 die Zeichensprache , Yerkish‘ und mit Piero Pisani das Computersystem, das für Verstandigungsexperimente mit der Schimpansin Lana verwendet wurde. Seit 1978 ist er Professor für Kognitive Psychologie an der University of Georgia. Paul Watzlawick (1921-2007) hat Philosophie und Philologie studiert und anschlieBend eine Ausbildung zum Psychoanalytiker absolviert. Von 1957-1960 war er Professor für Psychotherapie in El Salvador, seit 1960 Forschungsbeauftragter am Mental Research Institute in Palo Al-
to, seit 1976 zudem Clinical Associate Professor in der Abteilung für Psychiatrie der Stanford University.
'0 Francisco J. Varela (1946-2001) studierte Medizin und Naturwissenschaften und kam 1968 mit einem Stipendium nach Harvard. Seither Lehrtätigkeit als Professor an Universitäten in Chile, Costa Rica, Colorado, New York und zuletzt in Pans.
240
Tatjana Schénwalder-Kuntze
Zugleich findet sich eine Idee von variabler, weil standortabhängiger Erkennt-
nis, die intersubjektiv, aber auch rekursiv aufgefasst werden kann.
Nimmt man beispielsweise die Frage nach den Erkenntnismöglichkeiten heraus, dann zeigt sich folgende Verschiebung in der Fragestellung: Wenn man Erkenntnis als eine Relation auffasst, die zwischen einem erkennenden Subjekt
und einem erkannten Objekt besteht, dann lautet eine klassische Bestimmung dieser Relation als ,wahr’, dass eine ,adaequatio rei et intellectus‘ vorliegen
muss. Daran schließt sich die (alte) erkenntnistheoretische Frage an, ob es eine ‚objektiv erkennbare Welt‘ gibt. Die Rede von einer ‚objektiv erkennbaren Welt’ kann dann entweder so verstanden werden, dass das Erkannte auch ohne die Erkennenden so, wie es erkannt wird, da ist, oder aber, dass alle Erkennen-
den prinzipiell das Gleiche erkennen, wenn sich auch nichts darüber aussagen
lässt, wie es ohne den erkennenden Vorgang, ‚an sich selbst’ ist. Das Prädikat ‚objektiv? bezieht sich mithin einmal auf das Erkannte und einmal auf die Art
und Weise des Erkennens. Eine andere Perspektive geht davon aus, dass alles, was wir als Welt erkennen, immer nur von jedem Einzelnen je verschieden erkannt wird und es daher weder eine objektiv erkennbare Welt noch objektiv erkennbare Erkenntnisformen gibt. Die konstruktivistische Antwort auf diese Frage sieht den Zusammenhang zwischen Erkanntem und Erkennendem gleichsam als ‚Form der Unterschei-
dung’, indem beide Seiten der Erkenntnisrelation zugleich und aufeinander bezogen entstehen, so dass die Frage nicht mehr lautet, ob sich die Erkenntnis nach den Gegenständen richtet oder umgekehrt, sondern, wie beide Seiten gemeinsam ,entstehen’: „Ich sage ..., daß die Zukunft der kognitiven Wissenschaften ... weder darin liegen wird, zu verstehen, wie wir die Repräsentation der Welt entwickeln, noch darin, die Welt, die wir wahrnehmen, für eine Art willkürlicher Kreation des Denkens zu halten. Statt dessen würde ich sagen ..., daß der Erkennende und das [Erkannte] ... in einem Zirkel der wechselseitigen KoSpezifizierung und des ko-abhängigen Entstehens gebunden sind. Dieses wegen jenem, jenes wegen diesem ... [sic.] ko-abhängiges Entstehen. Das bedeutet logischerweise: es gibt keinen Bezugspunkt, weder innen noch außen, d.h. es gibt keinen Bezugspunkt für ein Fundament. Also liegt der Mittelweg in der Mitte eines Zirkels.“!!
‚Erkenntnis‘ wird aus dieser Perspektive zu einem fortwährenden Herstellungsprozess, in dem sowohl die erkennende Seite als auch die erkannte Seite in wechselseitiger Abhängigkeit zugleich produziert werden. Watzlawick formuliert:
1
Varela 1997:58
IV.C Philosophie
24]
„Auch die Physiker betonen immer wieder, daß die Beobachtung in eine andere Wirklichkeit
führt. Es ist ja nicht nur so, wie Heisenberg sagte, daß die Beobachtung auf das Beobachtete einwirkt, sondern es ist auch so, daß das Beobachtete auf den Beobachter zurückwirkt.“'?
Ernst von Glasersfeld betont unsere kognitiven ‚Handlungen‘, mit denen und durch die wir die Welt so konstruieren, wie sie uns erscheint: „Der Ausdruck »die Welt, in der wir uns als Lebende vorfinden« ... leitet sich ... von der Idee
Piagets her, daß einige der Begriffe, die die Struktur unserer Erfahrungswelt
bestimmen, während unserer sensomotorischen Periode konstruiert werden, ... wenn wir noch weit davon entfernt sind, uns dessen bewußt zu sein, was wir da
aufbauen“!? bzw. worin der Grundakt des Aufbauens besteht: im Unterscheiden,
Bezeichnen und Benennen des Unterschiedenen. Eine erkenntnistheoretische These des Konstruktivismus lautet also: Der Be-
obachter konstruiert (s)eine Wirklichkeit; wenn damit auch weder gemeint ist, dass die Materialität schlechthin durch den Beobachtungsprozess erschaffen
würde, noch, dass die Konstruktionsformen dem Willen und Wollen des Einzelnen unterlägen, sondern nur, dass der Beobachter konstitutiv für die Wirklichkeit ist, weil er oder sie sie erkennend oder beobachtend in einen bestimmten,
aber durchaus individuell, sozial und historisch variablen Ordnungszusammenhang bringt. Dass diese These nicht explizit in den Laws of Form zu finden ist, ist bereits angesprochen worden, auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass Spencer Brown einer „Absage an die Annahme einer objektiven Wirklichkeit“'‘ möglicherweise zustimmen würde, wie folgendes Zitat deutlich macht: „And since tokens or expressions are considered to be of some (other) substratum, so
the universe itself, as we know it, may be considered to be an expression of a reality other than itself.“ (LoF:104). Auf das Wissen der Wissenschaften ange-
wendet, bedeutete das, dass ihre genuine Tätigkeit weniger ein Entdecken der als vielmehr ein Produzieren von Welt ist — mit all den daraus ableitbaren Kon-
sequenzen.'”
Dass mit einer solchen Idee von reziprok konstruierter Erkenntnis weite Teile des philosophischen Erkenntnis- und Selbstverständnisses impuldieren, zeigt sich spätestens dann, wenn die Erkenntnisrelation rekursiv zur Anwendung
kommt. In den Notes findet sich, wie bereits erwähnt, die These, dass der BeobI2_ 13
Watzlawick 1995:48. Dem Text geht das oben bereits angeführte Zitat von der Welt, die sich teilen muss, um sich sehen zu können, voran, vgl. LoF:105. Glasersfeld 1997:194. Anschließend zitiert er: „and our understanding of such a universe comes not from discovering its present appearance, but in remembering what we originally did to bring it about.“, LoF:104.
14 Watzlawick 1995:55 5
Zur möglichen Verschiebung des Selbstverständnisses der Wissenschaften im Wissensgenerkrungsprozess vgl. beispielhaft Varela 1997, der dort insbesondere auf die Kognitionswissenschaften eingeht.
242
Tatjana Schönwälder-Kuntze
achter (als Physiker) Teil einer Welt ist, die offenbar in der Lage ist, sich selbst zu beobachten, weil sie sich in einen beobachteten und einen beobachtenden Teil aufspaltet. Setzt man diese Spaltung als Möglichkeitsbedingung der Selbst-
beobachtung der Welt voraus, ist es dem sehenden Teil nicht möglich, die ganze Form dieser Unterscheidung in den Blick zu nehmen, da er eben nur ein Teil dieser Form ist, und ein Blick von der ‚anderen Seite’ auf ihn selbst nicht möglich ist. Diese Unmöglichkeit wird nun von Heinz von Förster auf die biologi-
sche Erkenntnis übertragen, dass der Beobachter oder der Sehende aufgrund der Anatomie des Auges einen sogenannten ‚blinden Fleck’ aufweist, den er selbst aber nicht sehen kann, sondern allerhöchstens im Selbstversuch auf vermittelte
Art und Weise als partielles Nicht-Sehen wahrnehmen kann. Heinz von Förster nennt dies einen Fall von ,autologischer Rückbezüglichkeit‘'°, die insofern eine Analogie zu den Laws of Form aufweist, als der ‚blinde Fleck’ notwendige und
damit anatomisch unvermeidbare Bedingung des Sehens schlechthin ist, ohne aber selbst gesehen werden zu können. Reformuliert man dieses Faktum als Paradoxie der Art, dass Sehen notwendig (partielles) Nicht-Sehen impliziert, dann lassen sich Parallelen zu den Rückbezüglichkeiten ziehen, die Spencer Brown im 11. Kapitel thematisiert und die unter bestimmten Umständen zum ‚Problem‘ der Paradoxie führen können." Aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive werden auftretende Paradoxien als Hinweise auf notwendige Korrekturen im theoretischen Setting ver-
standen, d.h sie erhalten eine positive Funktion im Wissensgenerierungsprozess. Für Watzlawick stellen Paradoxien daher kein zu vermeidendes Problem dar,
sondern sie sind ein „epistemologisches Warnlicht, das zu blinken beginnt, wenn ... eine Konstruktion nicht mehr paßt oder ... wenn sich herausstellt, was die Wirklichkeit nicht ist“'®. In der Mathematik, so Watzlawick, neige man dazu,
‚jene Gegebenheiten zu unterdrücken und für unzulässig zu erklären, deren
Annahmen das Denksystem ad absurdum führen würden.“'?
Für Varela sind solche zirkulären Erscheinungen, die „man üblicherweise
Teufelskreise (circuli vitiosi) [nannte], ...circuli virtuosi oder kreative Zirkel“, die u.a. in natürlichen Systemen für deren Autonomie sorgen, d.h. für deren 16
17
8° 9
Vel. v. Förster 1993:236.
Spencer Brown stellt in dem Vorwort zur ersten amerikanischen Ausgabe von 1972 selbst die Verbindung zu Paradoxien und der (scheinbaren) Notwendigkeit, sie zu vermeiden, bei Russell her, vgl. LoF:xiti. Eine notwendige Bedingung — und damit ein bestimmter Umstand — dafür, dass Selbstreferenz zu einer Paradoxie führt, ist die Negation der Selbstbeschreibung und eine zweiwertige Belegungsmôglichket, wie etwa in dem Satz: ‚Dieser Satz ist falsch’: belegt man den Satz mit dem Wahrheitswert ‚wahr’ wird er falsch und vice versa. Watzlawick 1985:231 Watzlawick 1985:233. Watzlawick bezieht sich auf den Beitrag des Mathematikers Gabriel Stolzenberg ‚Kann eine Untersuchung der Grundlagen der Mathematik uns etwas über das Denken verraten?‘ im selben Band.
20 Varela 1985:294
IV.C Philosophie
243
Selbstregelung oder -steuerung. Autonomie wird so ,,als Ausdruck einer bestimmten Art von Prozeß‘“' gesehen, der die Seinsweise unzähliger ‚Systeme‘
der natürlichen Welt darstellt, insofern die Welt als nicht von außen z.B. durch
Gott oder einen notwendigen historischen Ablauf determiniert gesehen wird. Erkenntnistheoretisch zieht Varela daraus den Schluss, dass die Frage nach dem Primat des Subjektiven oder des Objektiven falsch gestellt sei und stattdessen von einer ,,Perspektive der Partizipation und Interpretation, in der Subjekt und
Objekt untrennbar miteinander verbunden sind [, auszugehen sei]. Diese Inter-
dependenz wird dadurch deutlich, daß taminierten Darstellung des einen oder ser Perspektive, die zeige, dass unsere es lediglich gewisse Regelmäßigkeiten
ich nirgendwo mit einer reinen, unkondes anderen beginnen kann.““ Aus dieErfahrung eigentlich ‚grundlos‘ sei, dass und Interpretationen gäbe, die aus unse-
rer gemeinsamen Geschichte entstanden seien, folge, dass „Ethik — Toleranz und Pluralismus, Loslösung von unseren eigenen Wahrnehmungen und Werten,
um Rücksicht zu nehmen auf Wahrnehmungen anderer — schlechthin die Grund-
lage der Erkenntnis und zugleich ihr Endpunkt ist.“
Nach diesen kurzen Hinweisen auf die Verwendung der Laws of Form durch konstruktivistisch denkende Humanwissenschaftler, wird im Folgenden — wiederum nur kursorisch — durch punktuelle Vergleiche mit anderen philosophischen Theorien auf fundamentale Ähnlichkeiten bzw. auf grundlegende, analoge Denkformen aufmerksam gemacht, ohne deshalb auch nur andeuten zu wollen, dass sich die Laws of Form oder die jeweiligen theoretischen Gebäude durch die gefundenen Übereinstimmungen gegenseitig ‚beweisen? oder fundieren. Es soll lediglich gezeigt werden, dass der Umgang mit dem Differenzbegriff von Spencer Brown nicht einmalig und nicht erstmalig genannt werden kann, wenn auch
seine Formalisierung und der Grad an Abstraktheit in dieser spezifischen Weise meines Wissens nur in den Laws of Form zu finden ist. 3. Analoge Denkmuster in philosophischen Theorien der Moderne Wenn von Ähnlichkeiten zwischen theoretischen oder philosophischen Denkge-
bäuden die Rede ist, dann können diese ganz verschiedene Ebenen oder Aspekte einer Theorie betreffen. Es kann das Thema, die Methode, die Form, das Resultat, die Problemstellung, die erkenntnistheoretischen oder ontologischen Prämissen etc. ähnlich oder gleich sein, ohne dass dies notwendig Auswirkungen auf
die anderen Facetten der Theorie haben muss. Wenn also Ähnlichkeiten mit oder analoge Denkmuster in anderen philosophischen Theorien der Moderne
21 22 23
Varela 1985:296 Varela 1985:307f Varela 1985:308f.
244
Tatjana Schénwalder-Kuntze
gesucht werden sollen, kann sich die Ahnlichkeit auf sehr Unterschiedliches
beziehen. Spencer Brown selbst verweist auf den frühen Wittgenstein, wenn es ihm um
die Rolle der beschreibenden Sprache geht, d.h. um Sprache in threr anderes bezeichnenden Funktion und nicht um Sprache in ihrer injunktiven Aufforderungsfunktion: „Where Wittgenstein says ... whereof one cannot speak, thereof one must be silent he seems to be considering descriptive speech only““. Darüber hinaus lieBe sich beispielsweise das erste Axiom als Stabilisierung einer
Unterscheidung durch Wiederholung mit John Austins Sprechakttheorie in Verbindung setzen?” oder aber die Orientierung am Differenzbegriff statt am Identitätsbegriff mit Strömungen in der kontinentalen und insbesondere in der franzö-
sischen Philosophie des 20. Jahrhunderts vergleichen.”
Neben den zuletzt genannten partiellen oder äußerlichen Übereinstimmungen
mit anderen Denkgebäuden, finden sich auch strukturelle Analogien zu anderen
philosophischen Gebäuden, insofern die aus dem Akt der Unterscheidung resul-
tierende Form der Unterscheidung ebenfalls implizit gedacht worden zu sein scheint. Auf solche die zugrundeliegende Denkform betreffenden Ähnlichkeiten will dieser Abschnitt hinweisen. Dabei wird zum einen auf den 4 ん 7 der Unterscheidung, der zugleich eine Trennung wie auch eine Vereinigung des Unterschiedenen mit sich bringt, Bezug genommen und zum anderen auf die daraus resultierende Form mit ihren beiden Seiten. Diese Art von Akten und Resultaten finden wir beispielhaft in den Theoriegebäuden Georg Wilhelm Friedrich He-
gels und Jean-Paul Sartres. Beide stehen paradigmatisch für Philosophien, in denen ontologische Identitäten als Resultate von Differenzierungsprozessen interpretiert werden — wobei hier Differenzierung sowohl im Sinne von Ausdifferenzierung als auch im Sinne bloßer Veränderung verstanden werden muss. Das gilt auch und insbesondere für die Genese des Subjektes selbst sowie für die Weise
der Weltauffassung,
der Wissensgenerierung
und
seiner sprachlichen
Verfasstheit, für die die Unterscheidungsakte unseres Denkens von grundlegender Bedeutung sind. Hegel
Da es wahrlich zu weit führen würde, den Nachweis der genannten Parallelität am ganzen Hegelschen System vorzunehmen, wird im Folgenden allein die 24 25 ?°
LoF:77. Weitere Verweise finden sich z.B. LoF:viii, xxii. Zum Vergleich Wittgenstein-Spencer Brown siehe Varga v. Kibéd 1989. Vgl. hierzu beispielsweise v. Förster 1993:354 sowie Austin 1961/2002. Zur Wende in der franz. Philosophie vgl. Münster 1987, der von einer Abkehr von Hegels
Systemdenken insbesondere in Bezug auf die Geschichtsphilosophie spricht, in der „gegen die
Begriffe der Identität und der sich verwirklichenden Vernunft als Wahrheit jene der Differenz und der Wiederholung“ (Münster 1987:19) gesetzt werden.
IV.C Philosophie
245
sogenannte Differenzschriff’ von 1801 als Beleg herangezogen, in der es laut
Titel in der Hauptsache um den Unterschied zweier philosophischer Systeme geht. Darüber hinaus legt Hegel hier aber in komprimiertester Form seine Auffassung vom Unterschied und Zusammenhang von Identität und Differenz als absolute Identität dar und dass seinem Erachten nach neben dem das Denken bewegendem Prinzip der (dialektischen) Veränderung der Unterscheidungsakt
und seine Resultate der Stoff sind, aus dem das Denken, die Welt, die philoso-
phische Reflexion und das Absolute bestehen — deshalb kann diese frühe Schrift auch seine Methodenschrift genannt werden. Hegel beginnt mit einer Kritik am schlechten Zustand, in dem sich die zeitgenössische
Philosophie
seiner Ansicht nach befinde; beanstandet,
dass die
Philosophie nicht auf das Unterscheiden selbst Acht gebe, sondern nur noch die voneinander getrennten Resultate der Differenzierungsakte im Blick habe. Dadurch entstehe ein ‚verknöchertes, totes Denken‘, dass sich seiner eigenen, pro-
duktiven Tätigkeit nicht mehr bewusst sei. Hegel nennt diese Art des Denkens ‚Verstandesdenken’. Im Gegensatz dazu fordert er auf, vernünftig zu denken, was nichts anderes bedeutet, als auf die denkerische Tätigkeit des Unterscheidens selbst zu reflektieren. Nur auf diese Weise werde sich die Philosophie
darüber klar, dass Gegensätze bzw. Differenzen immer auch das Ergebnis von gedachten Unterscheidungen sind.
„Die Gegensätze, die sonst unter der Form von Geist und Materie, Seele und Leib, Glaube und Verstand, Freiheit und Notwendigkeit ... bedeutend waren und alle Gewichte menschlicher Interessen an sich anhängten, sind im Fortgang der Bildung in die Form der Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur [und] ... absoluter Subjektivität und Objektivität übergegangen. Solche festgewordenen Gegensätze aufzuheben, ist das einzige Interesse der Vernunft. Dies ... hat nicht den Sinn, ... sich gegen die Entgegensetzung und Beschränkung überhaupt (zu setzen), denn die notwendige Entzweiung ist ein Faktor des Lebens, das ewig entgegengesetzt sich bildet ... . Sondern die Vernunft setzt sich gegen das absolute Fixieren der Entzweiung durch den Verstand ... . Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie. Es ist ... unter der gegebenen Entzweiung der notwendige Versuch, die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben und der intellektuellen und reellen Welt als ein Weden, ihr Sein als Produkte, als ein Produzieren zu begreifen.” 8
Die verständige, d.h. vom Verstand geleitete, Reflexion hat bei Hegel also die Unterschiedenen, die Gegensätze, im Blick. Die vernünftige Reflexion sieht
hingegen auch das Differenzieren selbst, d.h. die Tätigkeit des Denkens als unterscheidendes Denken. Auf den unterscheidenden Akt zu reflektieren zeigt, dass erst durch diesen Akt Differenzen hergestellt, aber auch Zusammenhänge “ 28
Differenzschrift” meint üblicherweise Hegels Aufsatz ‚Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie‘ in: G.W.F. Hegel 1986/2: 8-138. Hegel 1801/1986:21f. Zur strukturellen Parallelitat von Denkfiguren in den Laws of Form und Hegels Wissenschaft der Logik, vg\.Wille 2003.
246
Tatjana Schönwälder-Kuntze
oder Verbindungen gebildet werden. Die andere Seite des Unterscheidungsaktes
ist also zugleich ein Verkniipfungsakt: Indem wir unterscheiden, stellen wir Identitäten her, und die volle Identität ist diejenige, die sich aus dem Differen-
Zierungsakt und über die so entstandenen Differenzen herstellt. Wollte man das
in Hegelsche Termini übersetzen, könnte man von der analytischen und der
synthetischen Seite des Unterscheidungsaktes sprechen, d.h. von der spekulativen Reflexion auf die Akte einerseits und auf die Resultate in ihrer Unterschei-
dungs/orm andererseits. Hegel wendet diese Art und Weise des Entstehens und sich Entwickelns auch auf die Genese des Bewusstseins an, wie seine Darstellung des sich zum bürgerlichen Subjekt entwickelnden Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes von 1806 zeigt.”” Die Anfänge des Bewusstseins werden dort von Hegel
als negierende Bewegung des reinen Seins beschrieben, das sich im ersten Kapitel — über ‚Sinnliche Gewissheit’? — durch eine Differenzierungsbewegung erst schrittweise als solches konstituiert und dabei zugleich aus dem reinen Sein etwas Bestimmtes, d.h. unterschiedene und unterscheidbare ,Diese’ und ‚Etwas’ macht. Diese Bewegung setzt sich in immer komplexer werdenden Selbst- und
Fremdbestimmungen fort und erhält ihre letzte Einheit im ‚absoluten Geist’, der bestimmt wird als Identität aus dem immer gleichbleibenden Differenzierungsund Veränderungsprozess auf der einen Seite und aus den ausdifferenzierten
Resultaten dieses Prozesses auf der anderen Seite — also als Identität aus Identität und Differenz. Aus einer ontologischen Perspektive könnte man Spencer Browns Form der Unterscheidung und das Hegelsche Absolute als gleiche Denkfiguren identifi-
zieren, da beide durch einen Differenzierungsprozess entstehen, der sie erst wesentlich als Einheit bestimmt. Erkenntnistheoretisch ergibt sich allerdings das Problem, dass dieser Zusammenhang einer weiteren Differenzierung bedarf, durch die er zuallererst erkannt werden kann — das wäre der Blick von Außen auf die Form. Da dies bei Spencer Brown eben nicht möglich ist, weil immer
nur die andere Seite gesehen werden kann, steht hier am ‚Ende’ eine Differenz,
die nicht mehr gedanklich als Identität eingeholt werden kann: der Akt des Un-
terscheidens wird als solcher gesetzt, ohne auf eine ihm zugrundliegende, tätige Identität zu verweisen. Das Absolute Hegels hingegen ist eine sich selbst entfaltende, sich ausdifferenzierende Einheit, deren ‚Resultat im Anfang ist’: „Die lebendige Substanz ... ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben dadurch die Entzweiung des Einfachen; oder die entgegengesetzte Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist: nur diese sich wiederherstel-
lende Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst — nicht eine ursprüngliche
Einheit als solche oder unmittelbare als solche — ist das Wahre. Es ist das Werden seiner selbst,
2%
G.W.F. Hegel 1986/3.
IV.C Philosophie
247
der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die
Ausführung und sein Ende wirklich ist.“”° Sartre
Bei Sartre ist es nicht möglich, sich auf eine exponierte Schrift zu beziehen, in der das Wesen
von Unterscheidungsakten vorgestellt würde. Ebenso wie im
Hegelschen System liegt diese Art Akt der gesamten Ontologie zugrunde, insofern das Konstitutionsprinzip des Bewusstseins in einem Trennungsakt vom
materialen ,An-sich-Sein‘ besteht, durch das es sich aber gerade unausweichlich an dieses fesselt, mit ihm verbunden wird. Die wesentliche Differenz zu Hegel ist freilich der Verzicht auf ein sich selbst entfaltendes Absolutes als Ausgangsund Zielpunkt der Theorie, das stattdessen als Phänomen moderner Subjektkonstitution rekonstruiert wird. Dennoch finden sich grundlegende Reminiszenzen an Hegels Philosophie:
Das Sein des Bewusstseins ist bei Sartre ein fortdauernder Unterscheidungsakt, das sich unaufhörlich vom gänzlich unbestimmten ‚An-sich-Sein’ durch einen
Nichtungsakt unterscheidet. Mit diesem negierenden Unterscheidungsprozess geht einerseits eine Selbststrukturierung des Bewusstseins einher, deren Gesamtheit Sartre ,Entwurf’ oder ‚Für-sich-Sein’ nennt, der andererseits das Ansich als bedeutungsvolle Welt erst simultan bestimmt. In den ,Metaphysischen Aperçus‘ am Ende von Das Sein und das Nichts zieht Sartre folgende Schlussfolgerungen, die eine gute Zusammenfassung bie-
ten:
„(N)ach den Beschreibungen des An-sich und des Für-sich erschien es uns schwierig, zwischen beiden eine Verbindung herzustellen, und wir fürchteten, in einen unüberwindlichen Dualismus zu geraten. ... Wir haben uns ... gefragt, ob die Entdeckung dieser beiden Seinstypen nicht auf einen Hiatus hinausliefe, der das Sein, als allen Existierenden zukommende allgemeine Kategorie, in zwei nicht kommunizierbare Regionen spalten ... müßte. Unsere Untersuchungen haben uns ermöglicht, die ... Frage zu beantworten: das Für-sich und das An-sich sind durch eine synthetische Verbindung vereinigt, die nichts anderes ist als das Für-sich selbst. ... das Für-sich erscheint als eine winzige Nichtung, die innerhalb des Seins ihren Ursprung hat; und diese Nichtung genügt, damit dem An-sich eine totale Umwälzung geschieht. Diese Umwälzung ist die Welt.“
Eine strukturelle Analogie zu den Laws of Form ließe sich auf wenigstens drei
Ebenen herstellen: Zum ersten kann das Ensemble Welt-Bewusstsein, oder in Sartres Terminologie: Welt und Für-sich-Sein, als Form der Unterscheidung
betrachtet werden, indem man das Für-sich-Sein und ‚die Welt’ als koproduzier-
te Seiten eines andauernden, Bewusstsein seienden und generierenden Unter-
scheidungsaktes interpretiert — in dieser Hinsicht weicht diese Auffassung nicht
30
31
G.W.F. Hegel 1986/3:23.
Sartre 1994:1055f. sowie Schonwalder-Kuntze 2001:49-62.
248
Tatjana Schönwälder-Kuntze
von der Hegels ab. Zum zweiten bildet die Entwurfsstruktur des Für-sich selbst
eine Form der Unterscheidung, insofern diese Struktur von Sartre als unaufhörlicher Prozess beschrieben wird, in dem sich das Bewusstsein von seiner Gegenwart dadurch trennt, dass es sich auf einen Wert hin entwirft, in der es sich
selbst sowohl als an-sich-seiend als auch als für-sich-seiend erscheint — die das Bewusstsein bedingende und hervorbringende Differenz erscheint so im Entwurf als dessen Motiv — wenn auch die Identität der beiden Seiten in der Sartreschen Konzeption nicht realisierbar ist, ohne die Unterscheidung selbst zu zer-
stören. Das würde bedeuten, das Bewusstsein in seiner Seinsweise zu vernichten, weshalb diese Art von Entwurf von Sartre als zum ‚Scheitern verurteilt’
beschrieben wird. Schließlich könnte man drittens den Reflexionsakt als Re-entry interpretieren, das dann paradox wird, wenn sich das Bewusstsein auf sich als An-sichSein bezieht, und nicht als (nichtender) Unterscheidungsakt und sich somit
selbst negiert. Diese Art von Reflexion nennt Sartre ‚unrein’, weil sie unaufrichtig und widersprüchlich ist — sie entspräche der Form, die durch den ungerad-
zahligen Wiedereintritt ständig ihren Eigenwert wechselt und auf diese Weise
Zeit erzeugt. Die reine oder authentische Reflexion hingegen ließe sich als geradzahliger Wiedereintritt lesen, bei dem sich das Bewusstsein auf sich selbst
als unterscheidenden Nichtungsakt bezieht und so mit sich als Unterscheidung
identisch bleibt — diese Art der Reflexion nennt Sartre ‚Authentizität. Durch die hier nur angedeutete Analogisierung ließen sich der Akt der Unterscheidung und die aus ihm resultierende Form der Unterscheidung und sogar das Re-entry als ontologische, genealogische und strukturelle Bewussteinsbeschreibungen lesen, deren genuine Denkweise auf diese Weise nicht bloß als
Unterscheidungspraxis erschiene, sondern deren Existenzweise als unaufhörlicher Unterscheidungsakt und deren Existenzform als Form der Unterscheidung
beschrieben werden könnte.
Dass Unterscheidungen ein Instrument philosophischer Weltbetrachtungen sind,
ist natürlich in gewisser Weise trivial, wenn man davon ausgeht, dass alles
Welterfassen mit Unterscheidungen einhergeht. Philosophien, die spezifische
Unterscheidungsakte und die aus ihnen resultierende Form reflektieren, sind schon seltener, auch wenn Unterscheidungen und Unterschiede gerade im 20.
Jahrhundert zu einem wichtigen Thema in der Philosophie geworden sind.” Der
32
Da diese Vielfalt und Fülle hier nicht vorgestellt werden kann, werden beispielhaft einige AutorInnen und ihre Werke angeführt: Martin Heidegger. Identität und Differenz (1957); Theodor Adorno. Negative Dialektik (1966); Derrida. La différance (1968); Jean-François Lyotard. Le Différend (1968); Lucy Irigaray. Le sex qui n’est pas un (1977). Eine gute Ubersicht gibt der Sammelband ,Philosophien der Differenz‘ von H. Kimmerle (2000). Eine sehr elaborierte Auseinandersetzung mit Luhmann und Heidegger bietet auch ‚Was heißt, sich an Differenz statt an
IV.C Philosophie
249
folgende letzte Abschnitt stellt Parallelen zu methodischen Untersuchungswei-
sen, wie der ,Dekonstruktion‘ oder der ‚Kritik‘, und zuletzt eine eigene Adapti-
on der Laws of Form vor.”
4. Methodologische Erwägungen: Theoriebildende Unterscheidungen und De-
Konstruktionen in praktischer Absicht
Im Laufe der Arbeit mit den Laws of Form war es immer wieder auffällig, wie sehr es zur Gewohnheit wird, die Form der Unterscheidung mitzudenken, gerade bei der Lektüre und Auseinandersetzung mit anderen Philosophien. Das bedeutet nicht, dass dabei ‚nur‘ die bereits angeführten Ähnlichkeiten präsent werden, sondern dass sich auch ein Interesse am Umgang der Philosophinnen mit Differenzen, d.h. an ihren Unterscheidungen überhaupt, ausbildet. Darunter soll im Folgenden zweierlei verstanden werden: Erstens der Vollzug des Unter-
scheidungsaktes bei der Theoriebildung und zweitens die daraus resultierende
Architektur der Theorien.
Die These lautet, dass das Treffen von Unterscheidungen ein gezieltes In-
strumentarium ist, um in befreiender Absicht den Geltungsbereich bestimmter (scheinbar) unbezweifelbarer Gesetzmäßigkeiten einzuschränken, d.h. um einen
neuen Bereich zu schaffen, in dem diese Gesetzmäßigkeiten keine weitere Gel-
tung haben sollen. Solche Unterscheidungen haben unmittelbar theoriebildende Effekte. Das soll in aller Kürze anhand von drei Beispielen gezeigt werden.
Dabei geht es weder darum, diese befreiende Absicht als einzige Motivation zu unterstellen, noch darum, andere Interpretationen in Bezug auf die Theoriebildungsstrategie als weniger plausibel oder gar falsch abzulehnen. Vielmehr geht es darum, eine weitere Perspektive auf Theorien vorzustellen, die Aufschluss geben kann über die Motivation architektonischer Eigenheiten, indem sie zeigt,
dass sich solche Absichten architektonisch widerspiegeln.
Als erstes Beispiel dient uns eine zusätzliche Unterunterscheidung auf der einen Seite innerhalb der ‚großen‘ Unterscheidung Descartes‘ zwischen ausgedehnter
und denkender Substanz: die Unterscheidung zwischen dem Verstand und dem Willen innerhalb der ‚res cogitans‘. Betrachtet man die cartesische Hinführung
zu dieser Unterscheidung aus der eben genannten Perspektive, kann man sagen,
dass sich Descartes durch diese Unterscheidung die Möglichkeit geschaffen hat, den Menschen einerseits der göttlichen Determination weiterhin unterstellt sein zu lassen (sowohl als Körper als auch als Erkennender), ihn aber andererseits
Identität zu orientieren?’ von J. Clam (2002) und eine Übersicht über die Hinwendung zur Dif-
33
ferenz in der französischen Philosophie bietet A. Münster (1987).
Vol. Schönwälder-Kuntze/ Wille 200Ba: 124f.
250
Tatjana Schönwälder-Kuntze
durch seinen unendlichen, ,gottgleichen’ Willen dieser Determination zu entziehen. Das Feld, das er sich so eröffnet, ist bekannt: Während alle wahre Wissenschaft auf die (Selbst-)Gewißheit des cogito und auf die göttliche Offenbarung gegründet ist, ist alle irrtümliche Erkenntnis dem Menschen allein zuzuschreiben. Dank seines unendlichen Willens fällt er auch dort Urteile, wo ihm der
Verstand gar keine Erkenntnis bieten kann — so dass Descartes ihn ‚im Irrtum frei‘ nennt. Der ‚Preis‘ dieser Freiheit liegt freilich darin, dass der Mensch ver-
antwortlich wird für sein falsches Denken und für sein Wollen. Dennoch wird er
so zu einem erkenntnisfähigen und moralisch verantwortlichen Subjekt, ohne
dass Descartes die Existenz Gottes oder dessen Allmacht theoretisch in Zweifel ziehen musste. „Gott darf aber in keiner Weise ... als der Urheber unserer Irrtümer angenommen werden, weil er uns keinen allwissenden Verstand gegeben hat; denn die Endlichkeit gehört zur Natur des erschaffenen Verstandes ... . Daß aber der Wille so außerordentlich weit sich erstreckt, entspricht auch seiner Natur, und es bildet die höchste Vollkommenheit im Menschen, daß er durch seinen Willen, d.h. frei handelt. Damit ist er gewissermaßen Urheber seiner Handlungen und kann ihretwegen gelobt werden . ... Aus dem selben Grund ist es mehr unsere Tat, daß wir das Wahre erfassen ..., wenn wir es erfassen, weil wir es mit Willen tun, als wenn wir es erfassen müßten 4
Der cartesische, in gewisser Weise politisch-pragmatische Trick — wenn man
das so sagen darf — besteht also darin, durch das Treffen einer neuen Unterscheidung einen neuen Geltungsbereich zu eröffnen, in dem Freiheit einen Ort
haben darf, weil sie dort weder der göttlichen Allmacht noch dem göttlichen Monopol auf Wahrheit widerspricht.
Unter dieser Perspektive betrachtet, erscheint philosophische Theoriebildung nicht (mehr) als Versuch, theoretisch abzubilden, was der Fall ist, sondern als
strategisch wohlbedachtes Kreieren neuer Sichtweisen, die vor allem in praktischer Hinsicht neue Spielräume und Denkweisen eröffnen. Zwar mag — um bei
Descartes zu bleiben — der Mensch nun verantwortlich sein für seine Irrtümer;
zugleich aber sind sie ihm allererst möglich, insofern er sie unabhängig von der göttlichen Allmacht machen kann. Als zweites Beispiel soll auf eine Unterscheidung hingewiesen werden, die maßgeblich zur Gender-Forschung beigetragen hat, weil sie diesen Forschungsbereich überhaupt erst als solchen hervorgebracht hat: die Unterscheidung zwi2
Descartes 1955: 12f; AT VIII, Erster Teil. Dieser cartesischen Unterscheidung innerhalb der res
cogitans folgt beispielsweise auch Kant, wenn er die theoretische reine Vernunft — Erkenntnis
des Erkenntnisvermögens und Bestimmung seiner Grenzen bzw. seines Geltungsbereiches — von der praktischen Vernunft unterscheidet, die den Bereich des Willens oder Wollens betrifft, für den wiederum die Unterscheidung zwischen reinem, kategorischem Wollen und situationsabhängigem, hypothetischem Wollen getroffen wird. Allerdings befreit Kant unser Wollen nicht aus der göttlichen Determmation, sondern aus der Naturkausalitat.
IV.C Philosophie
251
schen ‚sex‘ als körperlichem Geschlecht und ‚gender‘ als sozialem Geschlecht,
die mit Simone de Beauvoirs Le Deuxieme Sex von 1948 ihren Anfang genom-
men hat. Wiederum
ist eine theoriebildende Unterscheidung in pragmatischer
Weise vollzogen worden, die einen Ausweg aus einem determinierten Feld
ermöglicht. Denn es ging darum, die für Frauen gültigen, dogmatischen Gesetz-
lichkeiten abzuweisen, die damit begründet wurden und werden, dass sie durch ihre Körper und deren Funktionen determiniert und daher auch für eine bestimmte Rollenzuweisung prädestiniert seien. De Beauvoir reaktiviert noch einmal die fundamentale cartesische Trennung von res extensa als Körper und res cogitans als Geist und zeigt, dass der Geist unter der Hand in einen allgemein menschlichen und einen sozialisationsbedingt erworbenen, am körperlichen Geschlecht orientierten Teil unterschieden worden ist. Sie insistiert also zum einen auf der cartesischen Unterscheidung und nimmt für sich — und alle Frauen — in Anspruch, dass sie auch für sie gelte, dass also der Geist relativ unabhängig vom Körper gedacht werden kann. Zugleich deckt sie damit auf, dass die cartesische Unterscheidung unter der Perspektive der Geschlechtlichkeit offenbar keine Geltung hat, weil hier das geistige und gesellschaftliche Potential unmittelbar an die Körperlichkeit gebunden wird. In der Einleitung von Le Deuxieme Sex beschreibt de Beauvoir die Motivation und das Ziel ihrer Analyse: „Welche Umstände beschränken die Freiheit der
Frau, und kann sie sie überwinden? ... Wir werden zu zeigen versuchen, wie
sich die «weibliche Wirklichkeit» konstituiert hat‘, um dann den berühmt gewordenen Schluss zu ziehen: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft an-
nimmt.“* Die Unterscheidung von ‚sex’ und ‚gender’ steht in diesem Sinne
ganz in der cartesischen Befreiungstradition, durch die ein scheinbar determi-
nierter Bereich den dort geltenden Gesetzmäßigkeiten enthoben wird. Der Be-
freiung von der göttlichen Determination folgt mit de Beauvoir die Befreiung von der durch den Körper vermittelten Naturkausalität und damit die Befreiung
von den gesellschaftlichen Rollenzuweisungen, die diese durch den Rückgriff
auf den ‚natürlichen Körper’ legitimiert.
Das Treffen von Unterscheidungen bzw. das Insistieren auf getroffenen Unterscheidungen und ihre Anwendung auf bestimmte Bereiche erscheint so als Befreiungsinstrument in der Theoriebildung, das — auch aus pragmatischen Gründen — den Geltungsbereich bereits zugegebener oder postulierter Gesetzmäßigkeiten einschränkt und im Gegenzug neue Bereiche für andere Gesetzmäßigkeiten schafft. Der Akt der Unterscheidung zeigt sich so auch in der Theoriebildung in seiner produktiven und befreienden Funktion, auch wenn diese Unter35 6
de Beauvoir 1968:21f de Beauvoir 1968:265
252
Tatjana Schönwälder-Kuntze
scheidungen nach Spencer Brown das ,befreite‘ Terrain unweigerlich mit dem ‚Rest‘ in ein enges, oft übersehenes Verhältnis setzen. Kritisch und ganz im Sinne Hegels ist also anzumerken, dass einmal — aus strategisch-politischen oder pragmatischen Gründen — getroffene theoretische Unterscheidungen und die daraus resultierenden ‚Gegensätze’ unmittelbar beginnen, ein Eigenleben zu führen, das ihren Enstehungskontext vergessen und sie als unumstößliche Tatsachen erscheinen lässt. In diesem Sinne lassen sich die ‚kritischen‘ oder auch ‚dekonstruktiv‘ genannten
Analysen von Michel Foucault oder Judith Butler verstehen, die eine Rekonstruktion konkreter Unterscheidungsakte in der Diskursformation versuchen und nach den Bedingungen und ‚Gründen‘ für identitätsbildende Unterscheidungen,
aber auch nach dem Zweck stabilisierender Wiederholungen fragen.’’ Dabei
geht es neben der identitätsstiftenden Funktion von Unterscheidungen und deren
Aufrechterhaltung immer auch um die Frage nach der Markierung des Ausge-
schlossenen, des nicht-Identischen, Differenten, das als die ‚andere Seite’ gebil-
det wurde, und um die Grenze zwischen ihnen. In Bezug auf Foucault sei hier beispielhaft auf seine 1970 gehaltene Antrittsvorlesung am Collége de France
hingewiesen, stellt.
in der er den methodologischen Rahmen
seiner Forschung vor-
Als letztes Beispiel wird im Folgenden die De-Konstruktion der sex/genderDifferenz in Butlers Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity von 1990 skizziert, um deutlich zu machen, inwiefern auch hier die
Form der
Unterscheidung als Analysemodell zum Vorschein kommen kann. ^ Das betrifft
sowohl das Motiv bestimmter theoretischer Unterscheidungen, die Unterschei-
dung selbst als auch die Konsequenzen durch permanente Reformulierung.
ihrer diskursiven Aufrechterhaltung
Der theoretischen De-Konstruktion Butlers liegt eine politische Warnung fol-
gender Intention zugrunde: Vorsicht vor der Verwendung oder gar dem Glauben
an die Notwendigkeit einer essentiellen Kategorie ‚Frau‘ als naturalistische Basis für politische Zwecke und Erfolge. Das Argument lautet: Wenn der politische Feminismus auf eine ahistorische, metaphysische Identitätskategorie ‚Frau‘ 37 38
9
Die Formulierung einer systematischen Analysemethode, die die genannten Methoden mit Spencer Brown vereinigt, ist Teil der Habilitationsschrift der Autorin (2007), die den Titel Freiheit als Norm? Eine Untersuchung zur Theoriebildung in der Moderne trägt. Foucault unterscheidet dort zwischen einer genealogischen und einer kritischen Richtung, in der seine Analysen erfolgen: Der kritische Aspekt befasse sich mit den Ausschließungsfunktionen und -mechanismen, wie etwa die Grenzziehung zwischen Wahnsinn und Vernunft oder die diversen Systeme von Sprechverboten, vgl. Foucault 2003°:39. Der genealogische Aspekt habe es hingegen mit den Bedingungen etc. der faktisch entstandenen Diskurse zu tun, vgl. Foucault
2003°:41.
Vel. auch Schonwalder-Kuntze/ Wille 2003a.
IV.C Philosophie
253
zurückgreift, begeht er nicht nur einen theoretischen Fehler, insofern er die faktische Reihenfolge vertauscht — denn Identitätskategorien sind für Butler
nach Foucault ,Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen‘ und
keinesfalls platonische Ideen oder natiirliche Grundkonstanten —, sondern er handelt sich durch diesen Fehler auch noch Probleme ein, genauer unterminiert er seine eigenen Zielsetzungen.
Mit dem Begriff der ‚Repräsentation‘ — so Butler weiter — werden zwei Funktionen verbunden: Er sei ein operativer Term in einem politischen Prozess, mit dem versucht werde, die Frauen als politische Subjekte in’s Spiel zu brin-
gen. Dafür müssten Frauen zunächst zeigen, dass ‚Frau‘ auch ‚Subjekt‘ bedeutet — die Intention Simone de Beauvoirs 一 d.h. sich den herrschenden Konstituti-
onsregeln für die Erlangung eines politischen Mitspracherechtes unterwerfen.
„Möglicherweise wird dieses Subjekt, ebenso wie die Beschwörung eines zeitli-
chen »vor« dem Gesetz selbst als fiktive Grundlage für seinen eigenen Legitimationsanspruch geschaffen.‘“* Andererseits habe der Begriff ‚Repräsentation‘ eine normative Funktion in der Sprache, weil er das, was als ‚Frau‘ gelte, ausdrücken soll. Das erste Problem bestehe darin, dass mit so einer vorgängigen
Identitätskategorie immer auch der Anspruch der Repräsentation und zwar der vollständigen Repräsentation verbunden wird, d.h. die exakte Bestimmung der Extensionalität des Begriffes, die die Frage beantwortet, auf wen oder was die Eigenschaft ‚Frau‘ zutreffe. Dass diesem Anspruch keine Identitätskategorie gerecht werden könne, zeige die Debatte um die Bindestrich-Identitäten. Butler
kommt zu dem Schluss: „Indem der
Feminismus dem Anspruch der Repräsenta-
tionspolitik nachkommt, ein festes Subjekt zu artikulieren, sieht er sich selbst der Anklage einer groben Fehlrepräsentation ausgesetzt.‘ Das könne keine
Ablehnung der Repräsentationspolitik bedeuten, da diese die herrschende Form
ist, außerhalb deren es keine Position gibt. Nur „die kritische Genealogie ihrer
Legitimationspraktiken“ (ebd.) werde hier gefordert und diese zeige eben gerade, dass ahistorische Identitätskategorien als Bedingung der Möglichkeit für politische Repräsentation gefordert werden. Die Anschlussfragen lauten: Was ist das politische und was ist das theoretische Motiv? Im Anschluss stellt Butler die Unterscheidung sex/gender als Konstruktion
vor, in der ‚sex‘ als das „natürliche Geschlecht, als »vordiskursiv«, d.h. als der Kultur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche ... als das radikal
Nicht-konstruierte‘“* konstruiert wird und das möglicherweise, um jetzt dem
Körper die Funktion der unhinterfragbaren Essenz, eines unveränderlichen und
unveräußerlichen Wesens aufzubürden. Das bedeute aber nicht, diese Unterscheidung verschwinden zu lassen, sondern sie als theoretische Konstruktion zu
hinterfragen: „Die Produktion des Geschlechts als vordiskursive Gegebenheit 20
21 2
Butler 1991:17f
Butler 1991:20 Butler 1991:24
254
Tatjana Schönwälder-Kuntze
muß umgekehrt als Effekt jenes kulturellen Konstruktionsapparates verstanden
werden, den der Begriff gender bezeichnet.“ (ebd). Es geht also um die Aufdeckung einer diskursiven Unterscheidungspraxis, mit der bestimmte Gegenstände, in diesem Fall der menschliche Körper, als vollkommen außerhalb jeder Kultur stehende Gegenstände, behauptet werden. Die Aufrechterhaltung der sex/gender-Unterscheidung, die für de Beauvoir dem
Zweck der theoretischen Befreiung aus einer natürlichen, körperlichen Determi-
nation gedient hat, stellt für Butler einen Versuch dar, „die Dualität der Geschlechter in ein vordiskursives Feld abzuschieben“ (ebd.) und sie so unnahbar und nicht diskutierbar zu machen. Butler weist desweiteren darauf hin, dass die
unüberlegte Verwendung solcher Unterscheidungen und Kategorien politisch
und gesellschaftlich kontraproduktive Wirkungen erzeugen kann, und dass es deshalb wichtig sei, sich über die Effekte solcher Unterscheidungen Gedanken
zu machen und sie nicht ohne Rücksicht auf mögliche Implikationen aufrecht-
zuerhalten. Gegebenfalls sollten und können dann diese Unterscheidungen ver-
worfen werden, weil sie eine theoretische, philosophische Konstruktion sind.
„Sosehr auch die radikale Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht für
den Feminismus Beauvoirscher Prägung von zentraler Bedeutung war, ist sie doch in den letz-
ten Jahren kritisiert worden, weil sie das Natürliche zu dem herabstuft , was »vor« der Intelligibilität liegt und des Kennzeichens, wenn nicht der Verunstaltung durch das Soziale bedarf, um Bedeutung zu tragen, wißbar zu sein und Wert zu erlangen. ... Wenn die Unterscheidung ... mit einem Begriff des radikalen linguistischen Konstruktivismus verbunden wird, verschärft sich das Problem nur noch. ... Dieses biologische Geschlecht, von dem postuliert wird, es sei der Konstruktion vorgängig, wird jedoch aufgrund seines Postuliert-Seins zur Wirkung des glachen Postulierens, zur Konstruktion der Konstruktion. ... Die radikalkonstruktivistische Auffassung ... nimmt letztendlich das biologische Geschlecht als das Unkonstruierte an und räumt damit die Grenzen des linguistischen Konstruktivismus ein, indem sie unbeabsichtigt dasjenige umschreibt, was sich im Begriffsrahmen der Konstruktion nicht erklären läßt. Wenn andererseits das biologische Geschlecht eine künstliche Prämisse, eine Fiktion ist, dann ... [wird] der Sinn von Konstruktion der eines linguistischen Monismus, demzufolge alles nur Sprache ist. Was dann folgt, ist eine gereizte Debatte, die viele von uns schon nicht mehr hören können: Entweder wird 1. der Konstruktivismus auf eine Position des linguistischen Monismus verkürzt ... [und es] kommt die Frage: »Wenn alles Diskurs ist, wie steht es dann mit dem Körper?« Oder wenn 2. die Konstruktion bildlich auf ein soziales Handeln reduziert wird, das ein Subjekt vorauszusetzen scheint, hört man die Kritiker ... fragen »wenn das soziale Geschlecht etwas Konstruiertes ist, wer ist es dann der konstruiert?«; die einschlägigste Formulierung dieser Frage ist 3. freilich die folgende: »Wenn das Subjekt konstruiert ist, wer konstruiert dann das Subjekt« ... [Es werde] ein voluntaristisches Subjekt vorausgesetzt, das sein soziales Geschlecht durch instrumentelles Handeln zustande bringt. ... Von entscheidender Bedeutung ist demnach, daß die Konstruktion weder ein einzelner Akt noch ein kausaler Prozeß ist, der von einem Subjekt ausgeht und in einer Anzahl festgelegter Wirkungen endet.“
3
Butler 1997:25-32
IV.C Philosophie
255
Hier wird zugleich deutlich, dass die Form der Unterscheidung als Analyseschema auch im wissen(schaft)shistorischen Kontext eingesetzt werden könnte, indem Konstruktion und De-Konstruktion methodologisch als getroffene theoretische Unterscheidungen und das Aufdecken ihrer Form interpretiert werden könnten.
5. Schlussbemerkungen
Zusammenfassend
lässt
sich
aus
der
hier
angeführten
(sozial)konstrukti-
vistischen Perspektive folgende Schlussfolgerung ziehen: Das erste, was eine Erkenntnistheorie berücksichtigen sollte, ist, dass wir uns nicht als Anfang erkennen (können), sondern immer nur als Resultat, d.h. dass wir als Beobachten-
de oder Erkennende zwar - trivialerweise — den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt des philosophischen Nachdenkens bilden, dass das aber nicht bedeutet, dass wir deswegen auch den ontologischen Ausgangspunkt bilden. Was
die Welt und damit uns ‚im Innersten zusammenhält‘, hängt nicht davon ab, von wo aus wir unsere Erkenntnis beginnen. Ob wir ‚mit der Erkenntnis der Welt‘
beginnen, wie das der philosophische Realismus fordert, oder mit der Erkenntnis unseres Erkenntnisapparates, wie im philosophischen Idealismus, bleibt sich
letztlich gleich.“
Welche Bedeutung wir den durch Wiederholung stabilisierten Entitäten, d.h.
Resultaten dieses unterscheidenden Prozesses geben, hängt hingegen absolut
von uns ab — und damit liegt die Verantwortung für alles, was wir aus (scheinbar menschenunabhängig gegebenen) Differenzen ableiten, bei uns. Das bedeutet “4
Man könnte durchaus die Experimente des zwölften Kapitels mit der Figur des die Welt (und sich selbst) entdeckenden Physikers ‚evaluieren‘ und käme so zu dem Ergebnis, dass es vollkommen gleichgültig ist, ob ein realistischer oder ein idealistischer Standpunkt als epistemologischer Ausgangspunkt genommen wird. Erstes Experiment: Ein von seinem Objekt unterschiedener Beobachter ist von diesem nicht zu unterscheiden, wenn er sich als der Form nach gleich entdeckt. Das wäre der Physiker, der nur sich selbst als Welt und die Welt als sich selbst entdeckt. Das zweite Experiment beginnt mit dem Ergebnis des ersten, d.h. der Beobachter ist markierter Teil seiner Umwelt, aber das macht
aus ihnen ein unbeobachtbares Ganzes, da keine Differenz mehr zu sehen ist! Das dritte Expe-
riment zeigt einen Beobachter, der sich und seine Umwelt gleichermaßen markiert. Auch das führt dazu, dass die Differenz zwischen ihnen verschwindet. Das Fazit der ersten drei Experimente könnte lauten: Wie man es auch dreht und wendet, welchen Ausgangspunkt man auch wählt, die Unterscheidung zwischen Beobachter und Umwelt löst sich bei genauem Hinsehen auf, und daher folgt das vierte Experiment, in dem nur noch die Form der Unterscheidung dargestellt wird, d.h. gewissermaßen die Laws of Form. Das führt im Ergebnis zum Anfang des ersten Experiments. Zudem scheint das, was der Beobachter sieht, er selbst zu sein, und er muß nicht zwischen sich und der Umwelt unterscheiden, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Daraıs ließe sich folgern, dass die Unterscheidung zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten irrelevant ist, und daher könnte man das zwölfte Kapitel als Kapitel vor dem ersten deuten: die Form der Unterscheidung darf auch ohne epistemologisch notwendigen Beobachter betrachtet werden.
256
Tatjana Schönwälder-Kuntze
aber eben auch nicht, dass jedes Individuum gleichsam gottgleich die Welt fiir
sich von Neuem erschiife, weil wir es immer schon mit vorgefundenen, sozial produzierten und gefestigten Unterscheidungen und deren Bedeutungen zu tun
haben. Auf der anderen Seite gibt es Gestaltungsspielraum, gerade, wenn es um die Bedeutung von Differenziertem geht. Und gerade weil wir es immer mit anderen zu tun haben, die von einem anderen Standpunkt aus die Bedeutungen erfassen, ist es so wichtig, sich der konstitutiven Zusammenhänge
zwischen
‚Unterscheidungen treffen’ und ,Unterscheidungen aufrecht erhalten’, jeweiligen Standpunkt und der so generierten Bedeutung bewusst zu sein.
dem
Das scheint uns eine wesentliche Konsequenz der angeführten konstruktivis-
tischen Weltanschauungen und -erklärungen zu sein, für die Spencer Browns aus dem Differenzbegriff entwickelte Form der Unterscheidung ein schlichtes, aber grundlegend diesen Gedanken darstellendes Schema oder Modell bietet. In Bezug auf die Entscheidung, wie der Kalkül gedeutet werden kann, kommt wiederum uns eine bedeutende Rolle zu und das im wahrsten Sinne des Wortes,
aber in Bezug auf den in den Laws of Form dargestellten, ablaufenden Prozess sind wir als Beobachtende neutral. Freilich könnte die Form der Unterscheidung auch mit anderen Zeichen, einer anderen Notation dargestellt werden, aber
das ändert nichts am dargestellten Unterscheidungsprozess selbst. Die konstitu-
tiven Zusammenhänge bleiben auf dieser abstrakten Ebene unberührt: eine Unterscheidung zu treffen und aufrecht zu erhalten bedeutet, sie in der Unterscheidung aufrecht zu erhalten.
Form ihrer
Es geht also aus einer philosophischen Perspektive betrachtet darum zu sehen, dass die Idee der Form der Unterscheidung als Resultat eines Generierungspro-
zesses in ihrem Dass-Sein nicht veränderbar ist, was wiederum durch die These
der interdisziplinär arbeitenden Konstruktivisten bestätigt wird, die besagt, dass wir die Welt unterscheidend konstruieren. Das bedeutet, dass es zwar in Bezug
auf das, was der Kalkül sagt, keine Variationsmöglichkeiten gibt, wohl aber in Bezug auf die Form der Darstellung. Diese ist angemessen, wenn sie den Stand-
punkt des das Dargestellte betrachtenden Beobachters mit einbezieht, so dass der Sinn des Dargestellten nicht verfälscht wird. Jede Darstellung kreiert gewis-
sermaßen eine Welt, ist sie angemessen, kann sie auch aus einer anderen Per-
spektive verstanden werden. Die Form der Unterscheidung als der Inhalt der Laws of Form spielt auf einer anderen Ebene als ihre Darstellung und die Beobachtung der Darstellung. Während der Inhalt keinesfalls variabel ist, ist es die angemessene Darstellung sehr wohl — und diese muss auf den Standpunkt des Beobachters rekurrieren. Dass es sich bei diesem Inhalt um eine invariante ‚Wahrheit‘ handelt, ist wiederum nur aus der Anwendung heraus bestätigbar, weil sie immer nur im und als dieser Prozess selbst entsteht.
IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie Thomas Hölscher
From Simplicity to Complexity Santa Fe Institute, Logo! From Complexity to Simpliaty and Back Again nach George Spencer Brown
Im Folgenden geht es um die Schwierigkeiten mit einer theoretisch adäquaten
Wahrnehmung eines zu Luhmann so heterogenen Theoretikers wie Spencer Brown innerhalb des Koordinatensystems der Systemtheorie, aber auch um den gleichen Punkt im Unendlichen, dem beide auf gleichsam berührungslosen Parallelen zustreben.
Neben den Theoretikern (und Praktikern) der Kybernetik zweiter Ordnung wie
v. Foerster, Löfgren, Glanville und dem Philosophen Gotthard Günther ist es
George Spencer Brown mit seinen Laws of Form, dem Luhmann im Theoriedesign seiner Systemtheorie eine tragende Rolle eingeräumt hat. Er bedient sich der Laws of Form ausgiebig und an zentralen Theoriestellen, vor allem in sei-
nem ‚Methodentraktat‘ in ‚Die Wissenschaft der Gesellschaft'^. Eine besondere, ambivalente Attraktion scheint ihn mit diesem ihm im Prinzip so konträren
Mathematiker und Logiker zu verbinden: Hier die Suche nach möglichst einfa-
chen Ausgangsprämissen, aus denen höchst kontrolliert Schritt für Schritt die volle mögliche Komplexität entwickelt wird, dort der Einsatz mit einer hyperkomplexen (sozialen) Welt, unentrinnbar verstrickt in eine allgegenwärtige, fast
apriorisch zu nennende Paradoxalität 一 geradezu vom Status einer conditio humana —, in welche die besagten Theorien ein wenig Licht hinein werfen sollen. Dies scheint Luhmann bevorzugt Spencer Brown zuzutrauen, den er hin und
ND
=
wieder als den avanciertesten dieser Theoretiker auszeichnet.” Vielleicht ist es aber doch eine tragische Liebe gewesen. Man kann das, was Luhmann mit Spencer Brown macht, eine ‚Anwendung‘ nennen. Interessant wäre, ob es auch eine ‚Deutung‘ darstellt, nämlich in dem Sinn, in dem eine produktive Rezeption sich auf beide Teile, den Nehmenden, aber auch den Gebenden möglicherweise produktiv auswirkt. Eine solche Idee
3
Siehe aber Gell-Man in Anm. 55. Luhmann 1990; relevante Passagen finden sich auch in: Luhmann Luhman Pasero1988a. Vgl. Luhmann 1990:94.
1984, 1997, 2000, sowie in
258
Thomas Hölscher
wechselseitig wirksamer ‚Anwendung‘ vertritt z.B. Spencer Brown selber. Im Appendix 2 spricht er die Erwartung aus, „that the calculus will have a useful or
revealing application” (LoF 1994b:112), wobei sich das ‚revealing‘ ebenso auf den Anwendungsfall wie auf den Kalkül selber bezieht. Also darf gefragt wer-
den, wie verwendet, was profitiert Luhmann von Spencer Brown und wirkt seine Lesart produktiv auf das Verständnis der Laws of Form zurück?
Hier muss zunächst einmal festgestellt werden, dass es Luhmann um nichts anderes als seine Systemtheorie geht. Sie setzt er in einer Weise immer schon
voraus, dass alle fremden theoretischen Mittel nur Hilfsstatus haben können. Noch mehr: Da er seine Systemtheorie als einzigartige und ausschließlich adäquate Reflexion nicht nur der modernen Gesellschaft, sondern auch ihrer selbst
ansieht, findet sich ein Theorieentwurf wie der der Laws of Form, zumal ‚nur‘ mathematisch oder logisch”, fast schon automatisch, d.h. rein theorieimmanent,
relativiert, ja marginalisiert”. Es entsteht ein Konflikt der jeweiligen Eigenan-
sprüche. Trotzdem wollen wir im Folgenden immer auch Gesichtspunkte im Auge behalten, in denen der Eigenanspruch von Spencer Browns Kalkül nicht ohne weiteres den Monopolansprüchen der Systemtheorie subsumiert werden
kann, ja vielleicht sogar in gewissen Grundzügen ein produktives Gegenmodell abzugeben vermag.
Luhmann ist fasziniert von der spezifischen Kombination von Einfachheit und Komplexität, die die Laws of Form ausmachen, davon, dass sie ein Angebot enthalten, sowohl die einfachsten Grundelemente als auch die komplexen Formen zu modellieren, und dass der Kalkül beide Extrempositionen geregelt zu verbinden weiß. Denn Luhmann hat einen Bedarf an theoretischen Figuren des Komplexen wie des Einfachen, besser gesagt an grundbegrifflichen Konfigura-
tionen. Beides findet er schnell mit sicherem Blick in den Laws of Form, ohne dass ihn seine spezielle Bedürfnislage weiter nachforschen lässt, welchem mög-
licherweise andersartigen Grundmodell das Verhältnis von Komplexität und
Einfachheit bei Spencer Brown folgt.°
Seine Wahrnehmung (seine , Beobachtung‘) der Laws of Form ist hochselek-
tiv. Daher ist wohl zu erklären,
4 >
Die wichtigsten Bemerkungen zur Logik: Luhmann 1990:78, 88ff., 93, 99, 192, 311, 541 und zu
Mathematik bzw. zu Mathematikern: Luhmann 1990:74f. 84, 311ff., 541. Dieses Verfahren erinnert an die weithin übliche Selbstbegründung der Logik aus ihrer Selbstverabsolutierung (oder abgrenzenden Selbstsetzung).Wäre Spencer Brown dem gefolgt, wären die Laws of Form nicht möglich geworden. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie ‚hinter‘ die Logik zurück gehen und daraus eine zugleich auch für die Logik fruchtbare Perspektive entwickeln. Die nach wie vor großen Vorbehalte heutiger Logiker gegen die Zaws of Form hat hier
einen wichtigen Grund.
Kauffman hat dies inzwischen mit letzter Klarheit herausgearbettet; siehe weiter unten zu Kauffman (2004b).
IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie
259
- dass seine Rezeption sich ausschließlich auf die ersten bzw. die letzten beiden Kapitel beschränkt, d.h. die Theorieentfaltung ‚dazwischen‘, überhaupt die Tatsache, - dass es sich um einen hochriskanten Ansatz der ‚kontinuierlichen‘ Ver-
knüpfung des Einfachsten mit dem Komplexesten (auch umgekehrt) handelt, ignoriert, - und sowohl die Grundbegrifflichkeiten um ‚distinction‘ als auch die Einführung und das Phänomen des ‚Re-entry‘ in der erweiterten Algebra im elften Kapitel derartig eigenbedarfspezifisch fasst, dass der interne Sinn und Duktus der Laws of Form weitgehend überlagert und so unerkennbar werden.
Vielleicht (zumindest) ein Fall von produktivem Missverstehen?’ Möglicherweise liegt die Diskrepanz auch darin begründet, dass, in seinem vorwiegenden Interesse am ersten und elften Kapitel, Luhmann sich nicht ausreichend die Gesamtintention, den vollständigen Umfang und die Ambition von Spencer Browns Entwurf klar gemacht hat. Es handelt sich bei den Laws of
Form um eine zweifache Ergänzung der Booleschen Algebra, von der Spencer Brown seinen Ausgangspunkt nimmt: Einmal in Richtung der ihr zugrunde
liegenden der ‚form‘ bis zu den pansionen. Form sehr
Prinzipien, bis hin zum ,simplest ground‘ der ‚first distinction‘ bzw. oder sogar des ‚void‘; sodann in einer Bewegung ihrer Erweiterung ‚rekursiven Formen“ im elften Kapitel und in beliebige weitere ExMan muss sich klar machen, dass Spencer Brown mit seinen Laws of wohl der geeignete Ansprechpartner zur Modellierung von komple-
xen und hyperkomplexen Formen aller Art ist. Seine Absicht war keineswegs, ein bloßes logisches bzw. mathematisches Kalkül zu ersinnen, sondern vielmehr das Interface von Mathematik und Welt (d.h. die volle physikalische Wirklichkeit vieler möglicher Universen) zu erkunden. In seiner eigenen Beschreibung
der Laws of
Form in Only Two can play this game heißt es: „An account of the
emergence of physical archetypes, presented as a rigorous essay in mathemat-
ics“?. Ähnlich lautende Hinweise gibt es in den Laws of Form".
Der Gesamtentwicklung der Laws of Form entsprechend legt Spencer Brown
ein Abfolgeschema von ‚levels’, ‚departures’, ‚stages’ und ‚degrees’ zugrunde: ‚the void’ (0); ‚the form’ (1); ‚the axioms’ (2), mit der Funktionserklärung:
Ich artikuliere die Frage bewusst so, auch wenn ich weiss, dass Heinz v. Foerster der Ansicht ist, es gebe allenfalls Grade von (nützlichem oder weniger nützlichem) Missverstehen, sonst nichts. Spencer Brown 1997:xivf. Spencer Brown 1971:109
10 Vgl. Laws of Form 1994:xxv-xxvi, 100f, 104f.
260
Thomas Hölscher
‚which see!’ the form’; ‚the arithmetics’ (3): ‚which is seeing what becomes of
the axioms’; ‚the algebra’ (4): ,... the generalities of it’; ;equations’ (4a): ,...
while you are seeing you notice you have got equations’; und schlieBlich, auf level” oder ,departure’ (5) die erweiterte Algebra mit den Gleichungen zweiten
Grades und dem ersten ,Re-entry’. Während es sich zuvor um ‚levels of eterni-
ty’ handelt, also rein formale Bereiche, setzen mit dem ersten ,Re-entry’ Zeit und Materie ein und zwar in ihren einfachsten ‚precursor’-Formen, die sich,
nunmehr dem Gang iterierter ‚Re-entries’, d.h. Gleichungen höheren Grades als
Grad 2 folgend, über die Generierung von Information, Energie und Partikeln bis hin zu dem, was uns als Materie im Sinne von ‚being more and more solid,
.… durable’ erscheint.'?
Wichtig für unser Thema ist, dass Spencer Brown überzeugt war, den gesamten Prozess formal durchführen zu können, also nach seinen eigenen radi-
kal-occamistischen Kriterien einer formalen Mathematik. Dies ist definitiv für
das erste bis zehnte Kapitel geleistet (dadurch, dass er einen Vollständigkeitsbeweis für primäre Algebra und primäre Arithmetik angibt), für das elfte Kapi-
tel nur in Andeutungen'”. Für die höherstufigen Gleichungen bzw. ‚Re-entries‘
sieht Spencer Brown kein zusätzliches Problem — allein bei den Gleichungen fünften Grades ergibt sich eine ‚runaway‘-Situation, die formal ausdrücklich nicht mehr kontrollierbar erscheint. Die dadurch gekennzeichneten ,destabilisierten‘ Systemzustände höchster Komplexität sind genau diejenigen, die Luh-
mann beim Design seiner Systemtheorie im Blick hat.'*
Wenn dem so ist, dann ist Luhmanns Liebe zur Einfachheit im ersten Kapitel der Laws of Form in der Tat unglücklich. Unter Ausblendung der Eigendyna-
mik ”von Spencer Browns Theorieentwurf ist er geradezu zu ‚Missverständnis-
sen’ gezwungen, die entstehen, wenn zur Befriedigung eines Theoriebedarfs zur Modellierung von ,runaway system‘-Phänomenen quasi im direkten Durchgriff,
über alle die eben aufgezählten Zwischenstufen hinweg, auf das erste und zwei-
te Kapitel zugegriffen wird. Allzu unvermittelt prallen hier extrem unterschiedliche Ansprüche wie Grundhaltungen aufeinander. Eine nicht unerhebliche Ver-
biegung von Spencer Browns Grundbestimmungen ist die Folge eines solchen ‚crash‘.
Auch hier sind also bereits rudimentäre ‚Beobachtungsverhältnisse‘ angelegt.
Dieser Entwurf für eine Distinktionentheorie der mathematischen Naturwissenschaften wurde inzwischen von Edward Close (2000) aufgegriffen und in einem quanten- und relativitätstheoretischen Rahmen zu konkretisieren versucht. Vgl. den Kommentar zum elften Kapitel. Siehe auch den Hinweis von Baecker auf das ‚runaway system‘ Baecker/ Kluge 2003:77; siehe Anm. 48. Um nicht zu sagen des oder der ‚Eigenwerte‘ bzw. ‚Eigenzustände‘ im Sinne von v. Foersters
(zu diesem Begriff siehe weiter unten).
IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie
261
So fällt es schon bei der ersten Berührung mit Luhmanns Laws of Form-
Adaptationen ins Auge, dass er eine Fülle von Vorentscheidungen importiert,
bei einer Theorie, dem ,calculus of indications‘, deren Grundprinzip geradezu ist, auf so viele Vorentscheidungen wie möglich zu verzichten, indem sie in geregeltem methodischen Vollzug abgebaut bzw., wie Spencer Brown lieber sagt, ‚kondensiert‘ werden. Kondensierungen sind ein eigentümlicher Typ von
Abstraktion, der sich durch maximale Vereinfachung oder Reduktion bei maxi-
maler
erhaltener
Komplexität
auszeichnet."
Luhmann
betont
mehrfach
den
Charakter des ‚Re-entry‘ als Entparadoxierungsverfahren,'’ ohne sich ausreichend über die elementaren Entparadoxierungsmodelle klar zu werden, die es
Spencer Brown überhaupt erlaubt haben, einen solchen Entwurf wie die Laws of Form durchzuführen. Sie betreffen vor allem das ‚eine Ende‘ der Zaws of Form,
nämlich die anfänglichen Zonen von Komprimierung und Hyperkomprimierung, im Unterschied zu denen der Hyperkomplexitäten am ‚anderen Ende‘ und darüber hinaus. Es handelt sich um die einfachsten Instrumentarien der Logik
oder besser Mathematik (im Sinn von Spencer Browns ‚formaler Mathematik‘)
— so einfach wie z.B. das pure ‚usw.‘ als mögliches Generierungsprinzip der Cantorschen Hierarchien des Unendlichen —: nämlich im Grunde nur Kanon 1 mit der Vorschrift, nur das zu verwenden, was ausführlich (d.h. konstruktiv) eingeführt worden ist und mit dieser Vorschrift zu schauen, wo einen das hin-
führt, wendet man sie konsequent und radikal an. Man landet nämlich bei der ‚first distinction‘ als der bloßen Gegebenheit zweier unterschiedener und unter-
schiedlicher Zustände ‚without any quality whatever."
Das erlaubt es Spencer Brown, eine Menge all des Importgutes, das Luhmann bereits in die Bestimmung der Grundbegrifflichkeiten von ‚distinction‘,
indication‘, wie auch von ‚form‘ einbringt, hineinprojiziert, zu vermeiden — mit
den bekannten erheblichen Vereinfachungsgewinnen des Kalküls. Man kann kaum diesen möglichen Nutzen aus den Laws of Form — auch für
das Design
einer Hyperkomplextheorie
wie der Systemtheorie
Luhmanns
—
ziehen, über- und unterspült man bereits im Ansatz den simplizitätstheoreti-
schen Ausgangspunkt, den Spencer Brown — durchaus mit Bedacht und vollem Bewusstsein aller Konsequenzen und Voraussetzungen — angeblich ‚naiv‘ ge-
wählt hat. Wenn so ‚Beobachtung‘ als Grundkategorie'” vorausgesetzt bleibt, 1°
Auch Luhmann „confirmation“ 1990:108, 311f. eng verbunden:
17° 18
Luhmann 1990:95, 189f., 192, 223, 314, 380, 541. Vgl. II.A Kontexte und den Kommentar. Das Kapitel ‚Beobachtung‘ in Luhmann 1990:68-122, ist so dicht geschrieben, dass es nicht sinnvoll erscheint, auf einzelne Stellen gesondert zu verweisen. Ähnliches gilt für den allgegenwärtigen System-Begriff, wie beispielsweise Luhmann 1990:76.
is
übernimmt sporadisch diesen Begriff Spencer Browns mit dessen Gegenbegriff (LoF:10), ohne dessen Potential auch nur annähernd auszuschöpfen, Luhmann Für Spencer Brown ist er mit dem Wesentlichen der mathematischen Methode „...condensing as much as is needed into as little as is needed", ,,... mathematics
away of saying less and less about more and more“. LoF 1994:9, 81, xxix.
262
Thomas Hölscher
wie vor allem auch der ,System‘-Gedanke iiberhaupt, statt im Sinne von Kanon
1 abgeleitet wird (keine einfache Sache!) — dann hat man die zu modellieren-
den Komplexitäten und Paradoxienverhältnisse an einer so ‚frühen‘ Stelle eingebracht, dass sie nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg, im Sinne von mit Aussicht auf Vereinfachungsgewinn, bearbeitet werden können. Luhmann ist weiter fasziniert davon, wie Spencer Brown die Gesamtanlage seines Kalküls dazu verwendet, die im ersten Kapitel ausgeblendeten (wohlgemerkt: per mathematische Methodik!) Selbstreferenzen und Paradoxien erst im elften Kapitel und die Frage des Beobachters im zwölften Kapitel explizit werden zu lassen. Indem er aber von einem bloßen ‚vor sich herschieben‘ der Para-
doxien redet, wird er dem gesamten Verfahren Spencer Browns — das ein ebenso ingeniöses ist wie der Luhmannsche Umgang mit Kontingenzen, Komplexitäten, Paradoxien und Rekursivitätsordnungen mehrfacher Ordnung, nur in die
umgekehrte, die Vereinfachungsrichtung — nicht gerecht.”' Der ‚blinde Fleck‘ der Systemtheorie selber bei aller ihrer Mehrfachordnung von Beobachtung
(erster, zweiter, dritter ... Ordnung)” lässt ihn die Laws of Form und Spencer Brown weitgehend unterschätzen — d.h. aber nicht den vollständigen möglichen
Durchdringungsgewinn abschöpfen. Denn die Pointe in Spencer Browns Verfahren ist, dass er Paradoxien und Komplexitäten nicht weniger zu prozessieren vermag als die Systemtheorie, nur versteht er sie derart in ein andersartiges Spektrum zwischen einfach und kom-
plex (d.h. zwischen Anfang und Ende des Kalküls) zu positionieren, dass Vereinfachungschancen entstehen, statt einer unfreiwilligen zusätzlichen Produkti-
on von Überkomplexitäten, wie es mir bei Luhmanns Versuch der Aneignung der Laws of Form der Fall zu sein scheint. Es ist in der Tat so, dass bereits die ‚first distinction‘ und die mit ihr gegebe-
ne ‚form of distinction‘ als ein ,autopoietisches’ Minimalmodell aufgefasst werden können, ohne im geringsten von der ‚Nacktheit und Bloßheit‘ der ersten
Unterscheidung abrücken zu müssen — das hat nicht zuletzt Kauffman immer
wieder von Neuem demonstriert.”
Tritt man allerdings mit den Anforderungen oder Erwartungen eines ausgewachsenen autopoietischen Systems an die Logik bzw. Mathematik” des Unter-
schieds (im Singular, durchaus!) heran”, entfaltet sich quasi automatisch und
2!
や
Siehe aber Hinweis weiter unten zur Ableitung des Systembegriffs.
Vgl. Luhmann 1990:84, 94.
Vgl. zu einer eigenhändigen Zeichnung Luhmanns weiter unten Vgl. II.A Kontexte sowie IV.B Mathematik, Logik und Naturwissenschaft und den Kommentar zum zweiten Kapitel. Nicht so schnell lässt sich der Logiker, ganz sicher aber nicht der Mathematiker im Sinne Spencer Browns, schachmatt setzen wie Luhmann das glaubt!
Luhmann 1990:77, 80, 82f.
IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie
263
auch ein wenig zwanghaft sogleich die ganze Dynamik dieser hochbrisanten Prozesse — zum Nachteil eines klaren Blicks auf das, was hier bei Spencer
Brown vorliegt. Die ‚originäre® Mehrfachanwendung und Selbstanwendung von ,Unterschieden von Unterschieden‘, wie es Luhmann als Interpretament zur ‚first
distinction‘ praktiziert,”° ist mehr als eine Uberinterpretation. Es ist ein Zuschüt-
ten von Môglichkeiten, von Analysemitteln. In vielfacher, unkontrollierter Weise projiziert er Phänomene und Verhältnisse ‚späterer‘ Zustände in diesen (nur scheinbar ‚naiven‘, nur scheinbar bloß einem Beobachter erster Ordnung geschuldeten) Anfang hinein. Beginne ich mit einer Proliferation der Unterschiede statt ihrer Limitation, dann mache ich theoretisch alles theoretisch sonst Möglı-
che, vergewissere mich aber kaum in triftiger, vor allem aber erfolgsorientierter Weise der Mittel der Zaws of Form.
Das Gesagte lässt sich mutatis mutandis auf die Grundfigur des „Beobachtens“*’
übertragen. Auch
hier wird das, was als eine längere Strecke des Differen-
zenproduzierens zwischen den ersten beiden Kapiteln und dem zwölften Kapitel angelegt ist, zu umstandslos kurzgeschlossen. Natürlich kann gesagt werden, der Beobachter stecke in den ersten beiden Kapiteln mit drin, aber das zu bewerkstelligen und dann festzustellen, ist nicht die Kunst, viel mehr: ihn derart dort hineinzupraktizieren, dass er in einer — und zwar anderen als der Luhmannschen 一 Weise ,latent gehalten‘ oder „invisibilisiert‘““ wird, die ein Spiel mit intendiert verteilten Gewichten zwischen dem zwölften und dem ersten Kapitel er-
möglicht.”” Dieses Spiel lässt sich durchaus als ein Zirkularprozess, eine Rekursivität verstehen — und es wäre aufschlussreich, diese spezifische Art des Durch-
laufs, des ‚Prozessierens‘ bei Spencer Brown zu eruieren und mit den landläufi-
gen Vorstellungen der ‚2nd Order Cybernetics‘ zu konfrontieren. Aufmerksam gemacht sei auf ein weiteres Dispositiv der Entparadoxierung
im ersten Kapitel: Nämlich der ‚Trick‘, hier einen Vorläufer, ‚precursor’, als
Statthalter des ‚observer‘ aus dem zwölften Kapitel zu installieren: das ‚motive‘
(das sich konsequenterweise deshalb auch nur hier findet). All das ermöglicht eine beobachterfreie Formulierung der einfachsten Grundverhältnisse — die eben ohne dies nicht die ‚einfachst möglichen’ wären 一 und zwar ohne in die generelle Nichtbeachtung, Eliminierung des Beobachters in der ‚alteuropäischen‘ klassischen Logik, Epistemologie und Ontologie, von Luhmann zu Recht gegeiBelt, zurückzufallen.
?° Luhmann 1990:75, 79f., 84, 93f, 378f. 27 28
?
Dennoch sei auf einige Stellen verwiesen: Luhmann 1990:73, 74, 80, 82, 84, 91, passim. Zur Latenz weiter unten: ‚Invisibilisierung als Entparadoxierungsverfahren‘ findet sich in Luhmann 1990:174, 189, 312, 397, 528, 537.
Vai. IV.C Philosophie.
264
Thomas Hölscher
Die Idee eines ,Unbeobachtbaren‘, eine ,,Latenz“*° ist sicher etwas, was in die Nähe von Spencer Browns ,unmarked state‘ rückt (mehr aber noch in die
Nähe des ‚empty space‘- Quasiindikators”' oder des ,hide-and-seek‘ als unaufhebbares Grundverhältnis”?, und in letzter Instanz der ,konstitutiven‘ Funktion
des ‚void‘ und des ‚nothing‘ bei Spencer Brown, das, aufgrund seiner östlichen
Konnotationen, nicht verwechselt werden darf mit Luhmanns ablehnend gehan-
delter ‚alteuropäischer Sein/Nichtsein-Konstellation’”. Sie berührt zweifellos eine der tiefsten Intuitionen der Laws of
Form. Während das Spencer Brown-
Äquivalent des ,Unbeobachtbaren‘ jedoch unhintergehbar, unauflösbar bleibt (einen wesentlichen Zug der asymmetrischen Grundanlage der Laws of Form
verkörpernd), ist mir das sich letztlich der ‚blinde gen von Beobachtungen, barmachung der ,Latenz‘
bei der Systemtheorie nicht so ganz Fleck‘ nicht in der Stufung und Kette und ist eine derartige Beherrschbarnicht gerade eines der obersten Ziele
klar: verflüchtigt der Beobachtunund Kontrollierund der Stolz der
Systemtheorie? Sehr aufschlussreich ist hier eine von Niels Werber jüngst publizierte klei-
ne Zeichnung, auf der Luhmann eigenhändig sein Modell der Beobachtung von Beobachtern bildlich dargestellt hat. In einem gestrichelt nach auBen abgegrenzten leicht ovalen ,Spiel- oder Aktionsfeld’ sieht man eine kreisférmige Prozes-
sion von sechs sich rechts herum hintereinander bewegenden Beobachtern, die als kleine Scheinwerfer ,vorne’ mit tentakelartigen Sehstrahlen in die jeweilige
Blickrichtung versehen, schematisch skizziert sind (oder „Kaulquappen, Rake-
tenpiloten, Quallen, Mikroorganismen“ wie Werber spekuliert). Jeder sieht jeweils seinen Vordermann (von hinten) bis sich die Kette schließt. Nur einer von ihnen, bezeichnet mit NL, besitzt zwei zusätzliche viel längere Sehstrahlen, die es ihm ermöglichen, auch noch seitliche Blicke auf seine beiden übernächsten Vorgänger zu erhaschen. Eine Inschrift gibt zu verstehen (in drei Zeilen untereinander) „draw a distinction - beobachte Beobachter - Niklas Luhmann“. Die Zeichnung bestätigt, dass Luhmann Spencer Browns ,,distinction oder „draw a distinction“ mit einer Beobachterkette gleichsetzt. Diese ist hier offensichtlich mit der Grenze bzw. Grenzziehung identifiziert. Eine solche erscheint gar nicht mehr als solche. Beobachtung(en von Beobachtung) als Grenzzie-
hung? Erstaunlich ist, dass bei Luhmann die von ihm sicherlich intendierte Rekursivität der Beobachtung rein zirkulär bleibt — wie der sich in den eigenen
Schwanz beißende Hund (oder mehrere davon, sich gegenseitig jeweils in den
3° 31 32
33
34
33
[Luhmann 1990:85, 89ff., 92f., passim. Vgl. den Kommentar zum zweiten Kæitel. Vel. LoF:106.
Vgl. Luhmann 1990:88, 509.
Luhmann 2008. Die Zeichnung erschien zuerst 1990 in der brasilianischen Zeitschrift ‚Entao.
Jornal de Porte Alegre’, Anno I., No.4. Vgl. die „Editorische Notiz”.
IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie
265
Schwanz beißend). Bloße Zirkularität ist aber noch keine Iteration im mathema-
tisch-rekursiven Sinn (ebenso wenig wie sie für Selbstreferenz ausreichend ist). Stets geht es um Zuwächse, um Akkumulationen und nicht um Wiederholung des Immergleichen. An vielen Stellen hat Kauffman darauf hingewiesen (und Hegel sprach von ‚schlechter Unendlichkeit’). Als dritter Problempunkt (nach dem Vorgeschaltetsein von ‚Beobachtung‘ wie ‚System‘ und ,Autopoiesis‘ und der Unterschiede-Multiplikation) ergibt sich die etwas eigenwillige ‚Einheit‘ von ‚distinction‘ und ‚indication‘.’ Sie trifft nur zu, wenn man das in der Voraussetzung des ersten Kapitels spezifizierte Implikationsverhältnis von „cannot make a distinction without an indication“ (LoF:1)
umstandslos reversibel fasst. Der behauptete direkte, drastische ,Paradoxiencharakter dieser Einheit ist von den Laws of Form her nur über das Durchlaufen der Gesamtdynamik zwischen dem ersten und den letzten beiden Kapiteln zu verifizieren’. Im übrigen kann man sagen, dass die Vielzahl von ParadoxieVerhältnissen, welche die Beobachtung Luhmanns in den anfänglichen Unter-
scheidungsverhältnissen ausmacht und so Techniken der Entparadoxierung zuführen muss, in der Vier-Aspekte-Konzeption der ‚form of distinction‘, als
simultaner Ko-Produktion™, der Laws of
ten werden.
Form ganz unspektakulär latent gehal-
Es bietet sich an, das Vier-Aspekte-Modell unter Berücksichtigung der wichtigen Funktion des „motive“ aus Kapitel 1 zu einem Modell von fünf konstitutiven Aspekten der ‚form of distinction’ zu erweitern. In der wechselseitigen ‚Ko-
produktion’ dieser fünf Aspekte hätte man darüber hinaus das Modell eines einfachsten, allgemeinsten Systembegriffs. Dieser lässt sich demnach aus der ‚form of distinction’ ableiten; er muss nicht vorausgesetzt bleiben Zum ‚unmarked state‘ lässt sich noch ergänzen, dass er aus dem strengen
(minimal- oder ,,proto-autopoietischen“) Interaktiv- oder Koproduktionsgefüge
der beiden aufeinander bezogenen ,states’, wie übrigens auch der zugehörigen beiden Indikatoren”, schwerlich mit ‚der-unbeobachtbaren-Welt‘ schlechthin
gleichgesetzt werden kann.“ Das widerspricht auch dem unerlässlichen vierten
Aspekt der ‚form of distinction‘, nämlich dem ‚impliziten Kontext‘, der, repräsentiert im ‚unwritten cross‘, jeglichen direkten Welt-Durchgriff verhindert. Für
die Figur des — wechselnden — impliziten Kontextes gäbe es übrigens ein reiches
Anwendungsfeld in einer sozusagen genuinen Laws of
36
37 38 39 40
Vol, Luhmann 1990:79, 92, 95, 81f , 84, 95. Vgl. Vgl. Vgl. Vel.
Form-Systemtheorie.
den Kommentar zum zwölften Kapitel. dazu den Kommentar zum ersten Kapitel und II.A Kontexte. den Kommentar zum zweiten Kæitel. Luhmann 1990:92f., 93 (Anm.36) — und seinen ganz hohen Anspruch hier: Anm. 53
266
Thomas Hölscher
Die Idee der „Zwei-Seiten-Form“*' kommt der ‚form of distinction‘ in den Laws of Form am nächsten. Allerdings ist die stets mit der beobachtbaren Seite
mitgeführte ‚andere‘ Seite vielleicht ‚unbeobachtbar‘ im Sinne Luhmanns, sie
ist jedoch keineswegs unbezeichenbar — im Gegenteil: dass der ‚unmarked state‘
zwar eben ,unmarked’, aber sehr wohl indizierbar ist, und zwar, und das ist das Wichtigste, mittels eines ,no-token’, eines ,no-name’ (unter Verzicht auf einen zweiten Namen), eines ,empty space‘ als Quasi-Indikator, das macht das Besondere an Spencer Browns Konstruktion aus und zeigt anschaulich, wie verunklärend die verfrühte Interferenz mit der Beobachter-Idee wirkt.
Ahnlich wie Spencer Brown darauf abzielt, die ,Anfangsgriinde’ der Laws of Form beobachterfrei zu formulieren, so geschieht es mit der ,Zeit’. Hier ist nun
die Diskrepanz zu Luhmann einmal wie im Brennglas zu studieren. Luhmann, qua Systemtheorie als Theorie der Gesellschaft, fiihrt die Zeit nicht ein, sondern
bringt sie einfach mit. Die ‚Zeitdimension‘ gehört wie die ,Sach‘- und die ,,Sozialdimension““^ sozusagen zum fundamentum inconcussum seiner Theorie, an
der vieles, so die gesamte traditionelle Erkenntnistheorie, Ontologie etc., gemessen und verworfen wird. Deshalb ist er gezwungen, ganz friih schon, kaum dass
von den ersten Unterscheidungsverhältnissen die Rede ist, Zeitbedarf anzumelden“, an einer Stelle, wo sie für Spencer Brown noch lange nicht eingeführt,
d.h. ausdrücklich konstruiert ist — das geschieht erst mit dem Komplex Imaginä-
re Werte/Gleichungen zweiten Grades /erstes ‚Re-entry’ (d.h. in der „fifth de-
parture from the void“, wie zitiert). Zeit ist also generiert, im striktesten Sinne konstruiert bei Spencer Brown und keine quasi-apriorische Essenz, wie es fast zwangsläufig in einer sich selber apriorisierenden Systemtheorie der Fall ist. Das führt uns nun zum ‚anderen Ende‘ des Kalküls, zu den ,Re-entries‘ im
elften Kapitel. Diese sind bei Spencer Brown Generierungsmechanismen suk-
zessiver Wirklichkeitsfragmente durch iterierte Anwendung selbstreferentieller Prozesse.“* Dem entspricht die auffällige Ausdifferenzierung in vier unter-
schiedliche Formen, den Gleichungen E1-E4*. Mit diesem hier bereitliegenden
Instrumentarium ist noch kaum weiter gearbeitet worden — am wenigsten von
Luhmann. Ein Gegenbeispiel wäre hier Kauffman, der, weit über Varelas Versuche hinaus in Neuland vorstößt — in Richtung Knotentheorie, die er auf eine *1
Luhmann 1990:79f.
#
Vgl. Luhmann 1990:78f., 80, 91.
*2
#
»
Hier: Luhmann 1990:74, 89, passim.
Fast fraktalähnlich: gleichsam bis das Gesamthologramm erstellt ist. Die Ähnlichkeiten von Mandelbrods Fraktalgeometrie und der sie verwendenden Chaostheorie zu Spencer Browns Expansionsstufen von Laws of Form sind frappierend groß, vor allem wenn man in Betracht zieht, dass die Chaostheorie, wie v. Foerster selber nicht müde wurde, grimmig zu bemerken, ‚nichts anderes‘ ist als 2nd Order Cybernetics im modischen Gewand. Vgl. den Kommentar zum elften Kapitel.
IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie
267
vereinheitlichte Quanten-/Relativitätstheorie anwendet.” In seiner letzten gro-
Ben zusammenfassenden Arbeit zu den Laws of Form (Kauffman 2004b) hat Kauffman es in ingeniöser Weise verstanden, Anfang und Ende des Kalküls, d.h. das ,,minimal-autopoietische“ Modell von Kapitel 1/2 und die ‚ausgewachsenen’ autopoietischen Rekursionsstrukturen von Kapitel 11 sowohl angemessen zu unterscheiden, wie auch in produktive Beziehung zu setzen. Diese Arbeit stellt ein neues Referenz-Niveau der Beschäftigung mit den Laws of Form dar
und wirft ein neues scharfes Licht auf die ganze Spannweite von Spencer Browns Ideen.
Luhmann fasst das ,Re-entry‘ lediglich als Wiedereintritt der Unterschei-
dung in das von ihr Unterschiedene bzw. als Wiedereintritt der Form in die
Form — eine Theorieposition, die er für die Grundanlage seiner Systemtheorie dringend benötigt, wegen des Grundpostulats der „operative(n) Geschlossen-
heit‘. Diese Idee stammt aber eher von Bateson als von Spencer Brown. Sie entspricht Batesons Theorie vom Spiel als Hineinziehen von Rahmenbildungen
via spielerischen Umgang ins Spiel selber.“* Bei Spencer Brown ist stets nur die
Rede von einem ‚Re-entry into the Form‘, so der Titel des zwölften Kapitels der
Laws of Form, bzw. von „re-enter the form“ (LoF 1994b:104), da man nämlich zuvor aus ihr herausgetreten war — „left the central state of the form“ (ebd.). Es
handelt sich um die generelle Dynamik von Abbau und Aufbau im ,Theoriedesign‘ der Laws of Form, von Dekonstruktion und Konstruktion, wie es Kauffman überzeugend demonstriert.
Hier liegt vielmehr eine Überschneidung mit der Frage nach dem Beobachter
vor: In der Tat wird der Beobachter im zwölften Kapitel wieder in das erste Kapitel eingeführt, d.h. explizit gemacht, mit all den bereits erwähnten Modalitäten, nicht aber eine irgendwie geartete Unterscheidung. Da aber bei Luhmann, qua Voraussetzung, der Beobachter zentrales Distinktionsvehikel ist, scheinen hier die Unterschiede auch einmal zu verschwimmen. Dennoch bewegt man sich in diesem Bereich der iterierten ,Re-entries‘ immer mehr in der Nähe von den
Phänomenen, die Luhmanns theoretischen Ausgangsbedarf markieren. Auf der
Ebene des vierten ‚Re-entry’ (d.h. der Gleichungen fünften Grades”) stößt man auf das schon zitierte Phänomen des ‚runaway‘.
Spencer Brown selber spricht von den „rekursiven Ausdrücken im Kapitel
11°. Er nimmt eine Umbenennung vor und bezeichnet sie nunmehr als „Re-
duktoren“ (ebd.), um daran das Eingeständnis ihrer noch unbefriedigenden Durchführung im elften Kapitel zu knüpfen, zugleich mit der Feststellung einer besonderen, kaum gesehenen, geschweige denn gelösten Schwierigkeit, die 16 Vgl. Kauffman 19956, 2002. 47 Luhmann 1990:82ff 48 Anschaulich bei Baecker/ Kluge 2003:100; Bateson 1981. “Vel. AUM 4,7f. 50
Laws of Form, deutsche Ausgabe, 1997:xivf.
268
Thomas Hölscher
Funktionsweise dieser Reduktoren, gerade weil sie so einfach seien, zu durchschauen. Ich möchte die Vermutung vorbringen, dass es sich bei diesen Reduktoren bzw. bei den nach und für Spencer Brown noch ausstehenden Einfachsten von ihnen um genau das handelt, was bei Luhmann, im Rahmen seiner Theorie vielfach verschlungener Rekursivitäten, die ‚Eigenwerte‘ bzw. „Eigenzustän-
de“! sind. Diese Idee stammt von v. Foerster.”” Bei Luhmann hat sie einen
zentralen Status.” Stellen die ,Eigenwerte‘ (entsprechend den ,Attraktoren‘ der Chaostheorie) doch die rekursivitätstheoretisch produzierten und motivierten
Analoga für alle einfachen Grundelemente oder -verhältnisse dar, die immer neu zu gewinnenden Zonen von Stabilität in der ‚kochenden Materie‘ der system-
theoretischen Komplexitäten, Destabilisiertheiten und Paradoxien, die dennoch möglichen
gleichsam.
temporären
Sie
erfüllen
Identitäten,
die
auch
der ruhende
für Luhmann
Pol, das Auge
elementaren
des Zyklons
Einfachheits-
Bedürfnisse, bieten diese aber zugleich ‚vermittelt‘, ‚konstruiert‘ und nicht un-
mittelbar, quasi ‚gegeben‘ — weitgehend wie bei Spencer Brown, der daraus nur nahezu entgegen gesetzte Konsequenzen in der Durchführung, der Architektur seines ‚calculus of indications‘ zieht. Trotzdem stellt dies sicherlich einen Punkt
größter Nähe zwischen beiden, Spencer Brown und Luhmann, dar.”
Wie bieten sich beide nun der gegenseitigen Wahrnehmung ‚Beobachtung‘ dar? Spencer Brown empfiehlt Luhmann seine diversen Vereinfachungsmodelle, die
nicht so naiv sind, wie sie im Blick Luhmanns erscheinen. Vielmehr sind sie
zugleich elementar einfach und zugleich implizit minimal-autopoietische Dispositive, zugleich Einfachheits-Generatoren und Komplexitätserhalter, in einer ungewöhnlichen, neuartigen Kombination.” Er weist Luhmann des Weiteren
>! Luhmann 1990:82, 83f, 87, 95, 97, 99, 311ff, 541
52 53
54
55
In v. Foerster 2003 und 1985. Eine eigenständige Weiterführung bietet Kauffman 2003 und
2002. Luhmann sieht seine Systemtheorie selber, nicht nur gewisse von ihr gesuchte und eruierte
Verhältnisse in den Gesellschaftssystemen, als solch einen ‚Eigenwert‘ an: „It is my hypothesis that „systems theory“ belongs to that kind of „eigenvalues“ within modem intellectuality“ und als Erklarung:“... not least because this theory is able to reflect and to understand the condition of self-creation in the unmarked state of the non-observable world.“ Luhmann 1995. Definitives lässt sich nicht aussagen, da, wie er selber bemerkt, Spencer Brown nicht zur Ausarbeitung einer entsprechenden Theorie zum elften Kapitel gekommen ist. Jedoch werfen die Bemerkungen über die Fibonacci-Reihe als erwogener Alternative zu den ,Equations of the Second Degree’ (so der schlieBliche Gegenstand und Titel des elften Kapitels) ein weiteres Licht auf diese Ideen, vgl. AUM 2,10.
Dieses neuartige und ungewöhnliche Verständnis der Beziehung von Komplexität und Einfach-
heit erinnert frappierend an Formulierungen von Murray Gell-Man, dem Begründer des Santa
Fé Insititute — siehe oben das Motto — „Ich bin jedenfalls der Ansicht, dass wir das Eigentliche
unserer Arbeit verzerrt darstellen, wenn wir als unser Thema „Komplexität“ angeben, denn ein entscheidendes Merkmal des ganzen Unternehmens ist die Einfachheit der Grundregeln. Des-
IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie
269
auf seine Unterschätzung des radikalen Potentials von Mathematik und Logik
hin, speziell seiner formalen Mathematik. Sie verbindet mit groBer Leichtigkeit und Eleganz höchstmögliche Abstraktion mit Konkretisierungen, ein Verhältnis,
mit dem Luhmann nicht so glücklich operiert. Einerseits fordert er z.B. für den Beobachtungsbegriff weitestgehende Abstraktion und Formalität, um ihn sogleich und im selben Atemzug als empirisches Phänomen in Anspruch zu neh-
men.” Spencer Brown könnte Luhmann also nahe legen, seine feste Meinung von der Mathematik und Logik, wie sie in den Laws of Form praktiziert werden, diese nämlich als bloße systemtheoretisch relative bzw. implizite Figuren anzu-
sehen, sozusagen bestenfalls als Art „ancilla theologiae“”’, zu revidieren.
Als ein in-nuce-Beispiel für beides würde er zur Demonstration auf den Ge-
nerierungsprozess von Zeit verweisen: Die ‚first time‘ besteht aus einer puren
‚oscillation between the states of the first distinction‘. Es ist eine Zeit ohne jeg-
liche Qualifizierung von ‚duration‘. Messbar wird eine solche Zeit erst, wenn man sie zumindest einmal ‚put or feed it back into itself‘, und eine Zeit unserer gewohnten Zeittypik generiert sich durch mehrfaches Feedback in sich selber.” Eine derartige messtheoretische Darstellung stellt zweifellos ein einfachst mög-
liches autopoietisches System nach. Spencer Brown würde Luhmann auf die
Kraft der einfachen Modelle verweisen, die es insbesondere auch erlauben, eine Fülle beobachtungsproduzierter ‚Artefakte‘ zu bemerken und zu vermeiden —
ein nicht unerheblicher Beitrag zur Entkomplexisierung wie auch einer Entparadoxierung durch prophylaktische Paradoxienvermeidung.””
Luhmann könnte Spencer Brown hinweisen auf die Wichtigkeit der Erweiterungen der Algebra nicht nur auf Phänomene der Natur und Naturwissenschaften, sondern auf die Gesellschaftssysteme in ihrer in gewisser Weise stets auch die ersteren mit prägenden Funktion, sowie auf den darin liegenden wichtigen Anwendungsfall, der sich auch für den Kalkül als besonders ‚revealing‘ erweisen könnte. Und er könnte ihn ermutigen, die evidenten Lücken in seiner
Durchdringung der höheren Formen von Rekursivitäten zu schließen, einschließlich eines besonderen Augenmerks auf die hochrelevanten Rekursivfor-
men der ‚Eigenwerte‘. Das erweist sich aber in letzter Instanz als ein mathema-
>° ?7
8 59
halb formuliere ich es gerne so: Wir erforschen die Einfachheit, verschiedene Arten von Komplexität, komplexe Anpassungssysteme ...“ in: Brockman, John 1995:440; vgl. auch den näheren und weiteren Zusammenhang 440-1 sowie 440-454 sowie die sich anschließenden Kommentare bedeutender Naturwissenschaftler 454-463, z.B. Martin Rees: „Was Murray Gell-Man klar erkennt, ist der Kontrast zwischen der Einfachheit der Teilchenphysik und der Komplexität der Welt um uns herum. Diese beiden Phänomene erfordern ganz unterschiedliche Denkweisen...“ (ebd.: 459) — welche sodann in ein einheitliches Modell gebracht werden müssten. Zum Ganzen ausführlicher und grundlegend Gell-Man 1994.
Vgl. Luhmann 1990:73, 75; 95f, 313. Luhmann 1990:75, 74, passim
Vel. II.A Kontexte der Laws of Form sowie AUM 1,9. Hier haben wir erkenntlich die Luhmannsche Sprachregelung verlassen.
270
Thomas Hölscher
tisch-logisches Desiderat"” — und nicht allein als eins einer Systemtheorie der
Gesellschaftssysteme."
Sichtwechsel Die Prozesse, Verfahren, Mittel zur Findung/Generierung/Bewahrung möglichster
(„anfänglicher‘‘)
und
,beobachterfreier’
Einfachheit
in Form
der
‚first
distinction’, welche für die Laws of Form so charakteristisch sind — nämlich
Komplexitäts-Verzicht (an dieser Stelle), Kondensierung (als eine Form
Abstraktion),
Entparadoxierung
von
durch Komprimierung/Hyperkomprimierung,
Latentisierung, Invisibilisierung sowie Bildung autopoietischer bzw ,protoautopoietischer’ Minimalmodelle — diese Verfahren können in einem anderen
Licht als Verfahren der Fiktionalisierung angesehen werden. In den Laws of Form
ginge
es demnach
u.a. um
eine mathematisch-logische
Fiktion:
‚first
distinction’ und Kapitel 1 als retro-fiktionalisierte Elementar-Einfachheiten und
-Erstheiten. Die Zaws of
Form mithin selbst als fiktionaler Text. In dieser Per-
spektive rücken die Laws of Form in die Reihe der avanciertesten modernen/ postmodernen theoretischer Formen d.h. Transformierungen des Modells „Ur-
sprungsmythos“. Als signifikante Beispiele für Entwurf und Funktion derartiger hochtheoretisierter Formen von „Ursprungsmythos‘“ heutzutage sei verwiesen (1) auf das Konstrukt des ,,Urzustands“ und seine zentrale Bedeutung in John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ sowie (2) auf Richard Dawkins’ neuestes Buch „Ge-
schichten vom Ursprung des Lebens“ mit seiner Grundidee ‚am Anfang waren die Replikatoren’.
Autologie Michael Schiltz versucht die Komplexitätsproliferationen der Lumannschen Konzeption mithilfe der Kategorie der „Autologie“ d.h. der Selbstimplikation als verschärfter Form der Selbstreferenz noch zu überbieten.° Erklärtermassen an einer Affirmation des kühnsten Kerns von Luhmanns Gesellschaftstheorie,
6° 61
Vgl. IV.B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft und die Arbeiten von Blau 1990, 2008 die u.a.
in solch eine Richtung zielen. Noch einmal pointiert Luhmann diese Aufgabe gegen die logischen und die mathematischen Möglichkeiten als eine praktische - der Systemtheoretiker als ethisch-praktische Instanz! —, aber gerade auch hier von einem eingeschränkten Verständnis von Logik bzw. Mathematik geleitet.
In kihnem Bogenschlag zurück zu einer Passage aus Platons Theaetet formuliert er: „Zugleich
62
ist damit klargestellt, dass die Entparadoxierung kein logisches Verfahren sein kann. Sie erfordert, um nochmals auf den Theaetet zurückzugreifen, Kompensation von Schwäche durch Mut und durch Ergiebigkeitsvertrauen“ und schließt mit einer weiteren skeptischen Wendung: „Ob das System, wie die Mathematik, aus einer solchen Rekursivität stabile ‚Eigenzustände’ gewinnen kann, lässt sich nicht voraussehen. Das muß man halt ausprobieren‘ — der Systemtheoretiker als Bastler. Luhmann 1990:541, 488.
Vel. Schiltz 2007.
IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie
271
nämlich eben ihrer Selbstimplikation in ihrem eigenen Gegenstandsbereich und was daraus folgen mag,” interessiert, verliert er zwar nicht ganz die Differenz von Spencer Brown zu Luhmann aus der Sicht, vermag sie aber nicht produktiv zu gewichten. Denn die Laws of Form ist ihm nur ein Zulieferer an Autologie für die Zwecke der Luhmannschen Theoriekonstruktion. Weshalb er den produktiven, limitativen Gegenpart, ja Widerhalt, den Spencer Brown, mit mindestens dem gleichen Recht, spielen könnte, nicht in den Blick bekommt. So dass es zu einer schwindelerregenden Vervielfachung der Selbstreferenzfiguren und schleifen kommt, welche immer mehr das Prekäfre streifen.
Das spürt Schiltz zwar immer wieder einmal,™ geht aber darüber hinweg
statt dies selber ausreichend zum Thema zu machen, zu ,re-flektieren’ — was
auch die bei ihm mehr als einmal gestreifte Nähe von ‚Autologie’ zur schlichten petitio principi sowie die Nichtunterscheidung zum ,Autismus’ betrifft. Wie erklärt sich dieser Reflexionsstop, dies Stehenbleiben der ‚Autologie’? Ich sehe
zwei Gründe. Einmal verknüpft Schiltz mit seiner ‚autology’ ziemlich utopische
anti-ontologische Erwartungen. Die autologisch hochgetrimmte Selbstreferenz soll der ‚alteuropäischen’ Ontologie Luhmanns dicta folgend den letzten Rest geben. Und warum? Auf dass dann ‚Freiheit herrsche’?
Diese Utopie nun würde Luhmann selber wohl ziemlich sicher nicht teilen.
Besser im Rennen liegen hier neueste Neubewertungen von Ontologie, welche ihre Notwendigkeit gerade im Rahmen einer verallgemeinerten und gesteigerten Selbstreferentialität (aller unserer Lebens- und Denkverhältnisse) sehen. Fou-
cault hat es mit seiner Ontologie der Sprache als Basis ihrer Selbstreferentialität
und umgekehrt vorgemacht.‘ Ein so eminenter ,Denker’ (u.a.) wie Alain Badi-
ou hat es in „Das Sein und das Ereignis“ zu systematisieren versucht, und zwar durch eine hoch gewagte Verschränkung von — u.a. — Platon und Cantor (womit die eigenwillige mathematische — in seinem Sinn — Ontologie Spencer Browns und der Laws of Form erst noch zu konfrontieren wäre), und schließlich hatte
Gilles Deleuze die Problemstellung noch einmal verschärft durch sein spezifi-
sches Beharren auf der ‚Univozität des Seins’, und das unter ungeschmälert
modernen bzw. ‚postmodernen’ differenztheoretischen Voraussetzungen (ein weiteres Desiderat in Konfrontation mit Spencer Browns Ansatz). Und der andere Grund ist schlicht eine weitere gravierende Unterschätzung
der Einfachheitshinsicht, d.h. der Ökonomie, des radikalisierten ,Occam's razor’, der ‚Eigenwerte’, der Laws of Form — ein generelles Verkennen der not-
wendigen Verschränkung der beiden Pole Simplizität und Komplexität, wie es
63
63
6°
Vgl. Luhmanns Anspruch in seinen eigenen Worten in Anm. 53 “Whether this paradox -sc. of autology and contingency- has detrimental consequences is a question that must be left open here.” Schiltz 2007:24. Vgl. Mazumdar 2008.
Vgl. Badiou 2005.
272
Thomas Hölscher
das wissenschaftliche Forschungsprogramm Murray Gell-Mans ausmacht - und eben den mathematisch-logischen Entwurf und Wurf George Spencer Browns.
Man sieht, das Thema Spencer Brown und Luhmann und dariiber hinaus Spencer Brown und ‘complexity science’ ist noch offen - öffnet sich vielleicht gerade erst.
IV.E Form und Geschlechterunterscheidung Katrin Wille
In den Debatten tiber die Geschlechterunterscheidung stehen zwei Wege offen: Es kann der direkte Weg gegangen werden und der Akzent auf den ersten Teil des zusammengesetzten Wortes gerichtet werden (Geschlechterunterscheidung)
mit Studien z.B. darüber, wie die Geschlechterunterscheidung in verschiedenen gesellschaftlichen
Zusammenhängen
der Gegenwart
und Vergangenheit
ver-
wendet wird und wurde, wie die Geschlechterunterscheidung anders interpretiert und mit neuen Wirkungen eingesetzt werden oder sogar aufgehoben werden könnte. Demgegenüber bedeutet die Akzentverschiebung des zweiten Weges (Geschlechterunterscheidung) einen scheinbaren Umweg', nämlich zunächst nach bestimmten Formen und Strukturen von Unterscheidungen selbst zu fragen und den Prozess des Unterscheidens als solchen auf seine konstitutiven Momente hin zu durchleuchten. Dadurch kann deutlich werden, welche strukturellen Möglichkeiten für die Bildung von bestimmten Unterscheidungen zur Auswahl
stehen, welche davon allgemeiner und offener sind, welche spezieller und fest-
gelegter, welche zum Beispiel der Geschlechterunterscheidung bestimmte Bah-
nen vorzeichnen und andere versperren.
Im Folgenden soll der zweite Weg gegangen werden, für den auch Niklas Luhmann in seinem ganzen Werk und in Bezug auf die Geschlechterunterschei-
dung in dem Aufsatz Frauen, Männer und George Spencer Brown von 1988
plädiert. Es werden zwei Varianten des zweiten Weges voneinander abgegrenzt:
die eine ist die von Luhmann in dem genannten Text präsentierte und die andere gilt es in kritischer Abgrenzung von Luhmanns Variante knapp zu skizzieren.
Der Ausgangspunkt scheint der gleiche zu sein: Der Referenztext für die Analyse des Prozesses des Unterscheidens sind die Laws of Form von George Spencer Brown. Aber genau dieser gemeinsame Ausgangspunkt bildet auch schon einen Differenzpunkt, da die theoretische Ebene, auf der in den Zaws of Form die Form der Unterscheidung gewonnen wird, verschieden bestimmt wird und sich
dadurch voneinander abweichende Deutungen und Folgerungen ergeben. Der zentrale Einwand, der hier gegen Luhmanns Deutung erhoben wird, ist der, dass
zur theoretischen Ebene
der Form
der Unterscheidung (Singular!) keine A-
symmetrie — wie Luhmann dies für alle Unterscheidungen annimmt — der Seiten der Unterscheidung gehört, sondern er sich mit seinen Interpretationen auf der Vgl. ausführlicher über Motiv und sachliche Chancen des unterscheidungstheoretischen Umwegs, Wille 2007a.
274
Katrin Wille
theoretischen Ebene der Strukturen der Unterscheidung (Plural!) bewegt und somit die Ebene der Form mit der der Struktur konfundiert. 1. Klärung des theoretischen Rahmens: Uber Form und Strukturen Mit der Unterscheidung zwischen Form und Struktur oder genauer zwischen der Form der Unterscheidung (Singular!) und verschiedenen Strukturen der Unterscheidung (Plural!) soll fiir die Unterscheidung zwischen zwei Theorieebenen argumentiert werden. Damit wird zunächst der theoretische Rahmen reflektiert, innerhalb dessen die Thematisierung der Unterscheidung zwischen Frauen und Männern überhaupt angemessen und sinnvoll ist. Es wird sich zeigen, dass die Betrachtung der Geschlechterunterscheidung nicht auf der Theorieebene der Form der Unterscheidung verhandelbar ist, sondern auf die Ebene der Strukturen der Unterscheidung gehört. Will Luhmann die „Frauenforschung“ nun darüber aufklären, dass die „Logik“
der Unterscheidung
zwischen
Frauen
und
Männern in der Form der Unterscheidung, wie Spencer Brown sie entwickelt hat, liege, konfundiert Luhmann eben diese beiden Theorieebenen, die Spencer Brown scharf auseinander hält. Mit seinen Laws of Form will Spencer Brown einen Punkt der Einfachheit
erreichen, der erlaubt, die Form zu betrachten, aus der die Erfahrungen des
Common Sense wie auch die verschiedenen Wissenschaften hervorgehen.” Dies
ist nach Spencer Brown der Prozess des Unterscheidens als solcher, Form der Unterscheidung genannt. Um diese Ebene der Form der Unterscheidung überhaupt erfassen zu können, ist es zunächst nötig, einen theoretischen Weg des
Verlernens zurückzulegen. Dieser erfordert, von allen bestimmten Unterschei-
dungen abzusehen, sie aufzuheben oder einzuklammern. Mit der Form zu beginnen oder die „erste‘“ Unterscheidung zu treffen, heißt, das Hervorgehen des Prozesses des Unterscheidens selbst zu betrachten, ohne vorgegebene Unterscheidungen zu verwenden, die dem Prozess des Unterscheidens noch voraus liegen und ihn bedingen. Alles, was zu dem Prozess des Unterscheidens gehört, muss in ihm selbst auftauchen und in Abhängigkeit von dem Prozess mit entstehen. Mit der Form bzw. der ersten Unterscheidung ist ein philosophischer An-
spruch erhoben, der nicht dahin geht, ein ontologisch Erstes (wie klassisch einen
ersten Anfang, eine erste Ursache) auszumachen, sondern mit einer vollständig relationalen Gedankenbewegung zu beginnen, die durch nichts als sich selbst determiniert ist.
Es muss mit großem Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass alle weiteren Überlegungen, was die Form der Unterscheidung für diesen und jenen Zusammenhang, wie die Logik oder das System der natürlichen Zahlen oder die Schaltalgebra wie auch die Geschlechterunterscheidung oder die Sys-
tem/Umwelt Unterscheidung bedeutet, Interpretationen der Form sind, die auf ?
Vgl. II.A Kontexte der Laws of Form.
[V.E Form und Geschlechterunterscheidung
275
eine andere theoretische Ebene gehören. Da die Geschlechterunterscheidung aber kein geschlossenes System ist wie die formale Logik, bei der die Symbole
und die Beziehungen zwischen den Symbolen klar bestimmt sind, ist diese In-
terpretation noch zu erfinden. Mit jeder Interpretation verlassen wir notwendig
die Ebene der Form der Unterscheidung (Singular!) und wechseln auf die Ebene
der, wie ich es nennen will, Strukturen von Unterscheidungen (Plural!). Hier sind verschiedene Deutungen möglich, die gut gegeneinander abgewogen sein
wollen. Luhmanns Text weist in diese Richtung, ist aber wegen der Konfundierung der Ebene der Form und der Ebene der Interpretation bzw. der Strukturen auf seine Interpretationsvorschläge hin kritisch zu befragen. Die Geschlechterunterscheidung von der Ebene der Form her zu betrachten, birgt ohne Zweifel die Chance, den Verlernprozess auch in Bezug auf diese Unterscheidung zu nutzen und hinter alle konkreten Bestimmungen, Regeln, Qualifizierungen, Unterscheidungen bestimmter Art, Werte, Normen, Verbote
sowie selbstverständliche Voraussetzungen zurückzugehen bis zu dem einfachen Gedanken einer Unterscheidung zwischen Zuständen. Von dort aus kann das Tun erinnert werden, das nötig ist, um eine solche Unterscheidung wie die zwischen Frauen und Männern aufzubauen und es werden auf dem Weg des Aufbaus verschiedene Scheidewege sichtbar, Strukturen zu bilden. Also können aus der immer wieder neuen Beschäftigung mit der Ebene der Form neue Ideen für die Strukturbildung und vor allem Argumente gegen vorschnelle Festlegungen vermeintlicher notwendiger Strukturen gewonnen werden.
2. Die Struktur der Asymmetrie und ihre Kritik Da es bisher nur um die Unterscheidung von Theorieebenen ging, ist noch völlig offen geblieben, was die Form der Unterscheidung ausmacht und was mögliche Interpretationen sind. Meine These ist, dass Luhmanns Darstellung der Form der Unterscheidung auf die Theorieebene der Interpretation und damit der verschiedenen Strukturen gehört. Um dies deutlich zu machen, müssen Luhmanns /nterpretation und Spencer Browns Form der Unterscheidung an einigen entscheidenden Punkten in ein kritisches Verhältnis gesetzt werden.
Zunächst sei Luhmanns Interpretation der Form der Unterscheidung auf ihre interpretatorischen Richtungsentscheidungen hin befragt, um die Interpretation als Interpretation hinter dem Anspruch sichtbar werden zu lassen, die Form der Unterscheidung sei die eine singularische „Logik“ von Unterscheidungen, die den Umgang mit konkreten Unterscheidungen steuere. An die grundlegenden Thesen Luhmanns über das Verhältnis von Unterscheiden und Bezeichnen, die in dem Text über die Geschlechterunterscheidung und an vielen anderen Stellen in seinem Werk sehr knapp und dadurch gewissermaßen in einem hohen Tempo
vorgestellt werden, und an das von ihm entwickelte Interpretationsvokabular
werden Fragen gerichtet mit dem Ziel, die dahinter stehenden Entscheidungen
und nicht gewählten Alternativen wieder auftauchen zu lassen. Der Fokus liegt
276
Katrin Wille
auf den allerersten und grundlegenden Interpretationsentscheidungen, die die Konsequenz der asymmetrischen Struktur von Unterscheidungen verständlich machen. Andere Punkte, die sich anschließen, wie die (paradoxe) Zusammengehörigkeit von Unterscheiden und Bezeichnen und das ,,Re-entry“ können diesem Rahmen nur angedeutet werden.
in
Theoretischer Ausgangspunkt sind für Luhmann ganz allgemein Unterscheidungen, seinen Ansatz nennt er selbst differentialistisch. Denen eignet eine
bestimmte (aus der Lektüre der Laws of Form gewonnene) „Logik“, die mit der Verhältnisbestimmung von Unterscheiden und Bezeichnen einsetzt, welche ungefähr so zusammengefasst werden kann: Gegenstand der Analyse von Unterscheidungen ist zunächst die Operation des Unterscheidens, also das Vollziehen oder Gebrauchen einer Unterscheidung (a). Dabei werden zwei Seiten durch eine Grenze getrennt und gleichzeitig durch sie gegeben (b). Bei diesem Vollziehen oder Gebrauchen einer Unter-
scheidung sind zwei verschiedene Funktionen zusammengefasst, nämlich zum einen das Unterscheiden von zwei Seiten und das Bezeichnen von einer der beiden Seiten (c). Dadurch ist die
Form der Unterscheidung immer eine Zwei-
seitenform. Die andere, nicht bezeichnete Seite ist durch die Operation des Uberschreitens (crossing) zugänglich und das gilt durch die in der Ausgangsoperation bereits angelegte Asymmetrie (d). An diese hoch konzentrierten theoretischen Schritte seien eine Reihe von Fragen nach den Implikationen und Hintergründen der oben nummerierten Thesen gestellt und diskutiert: a) Was bedeutet es, mit der Operation des Unterscheidens zu beginnen und was
spricht dafür? Theoretische Ansätze, die Operationen oder Prozesse anstelle von
Begriffen über theoretische Entitäten, wie Gegenstände oder Unterschiede in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rücken, gehen davon aus, dass solche
theoretischen Entitäten durch Operationen generiert werden und die Begriffe der
Entitäten eben diese Operationen beinhalten.
Wenn wir mit Spencer Brown den Prozess des Unterscheidens nachvollziehen, zeigen sich in diesem Generierungsprozess eines Beziehungsgefüges verschiedene Momente, die sich nach und nach entfalten, wenn wir, wie uns die Definition (Distinction is perfect continence) auffordert, Unterscheidung als vollzogenen oder abgeschlossenen Zusammenhang denken. Dies bringt uns gleich in eine gedankliche Bewegung: Unter-scheidung, also eine Art von Tren-
nung soll selbst einen Zusammenhang’ vollziehen oder vollzogen oder abge-
Zusammenhang als Beziehung der abgeschlossenen Bereiche aufeinander. Mit dieser Bedeutungsebene von Zusammenhang ist gleich eine Perspektive gewonnen, die die Rede von Dichotomisierungen übersteigt und es wird ein Unterscheidungsbegriff mit beiden Aspekten Trennung und Verbindung vorgelegt.
JV.E Form und Geschlechterunterscheidung
277
schlossen haben. In der Wahl des Ausgangspunktes gehen Spencer Brown und
Luhmann d’accord, sie wählen beide den Prozess bzw. die Operation des Unterscheidens. Punkt a würde Spencer Brown also zustimmen.
b) Warum wird für den Prozess des Unterscheidens das Unterscheiden von zwei Seiten betont und nicht von drei, vier oder mehr Seiten? Klar ist, dass ,,Unterscheiden‘ mindestens eine zweistellige Operation ist. Es macht keinen Sinn zu
sagen: Ich unterscheide x, sondern die Operation ,,Unterscheiden“ ist nur dann
vollständig ausgeführt, wenn x mindestens von y unterschieden wird, aber eben durchaus auch von z usw. Luhmann motiviert seine Beschränkung auf Unter-
scheidungen zwischen nur zwei Seiten bzw. die Behauptung, dass „Unterschei-
dungen Zweieroppositionen, Duale sind“ durch einen pragmatischen Hinweis auf informationsverarbeitungstechnische Vorziige von binären Schematisierun-
gen, die nur in weitläufigen Untersuchungen geklärt werden könnten und hier als bekannt vorausgesetzt werden miissen.* Plausibilisierungen über die Nützlichkeit und den technischen Erfolg binärer Schematisierungen oder über alltagssprachliche Gewohnheiten, häufig zwei und nicht mehr Seiten zu unterscheiden (wie zum Beispiel gut/böse, richtig/falsch, oben/unten, wichtig/unwichtig u.v.m.) sind keine ausreichenden Argumente für die Entwicklung einer theoretischen Form zum Prozess des Unterscheidens als solchen. Luhmann orientiert sich an einem ohne Zweifel sehr elementaren Typ von Unterscheidung, nämlich der „Unterscheidung durch Negation“, wie ,Wahrheit/Un-wahrheit’, ‚Eigentum/Nicht-Eigentum’ oder noch allgemeiner: ‚Dies/Nicht-Dies, also alles Übrige’ oder ‚Dies/nichts Anderes’. Dieser Typ von
Unterscheidung ist geeignet, jeden Auswahlakt schlechthin in seiner grundlegenden Verfassung zu beschreiben und findet damit bei jedem kognitiven Akt, jeder Wahrnehmung, jeder Kommunikation Anwendung. Die Elementarität der Unterscheidung als „Unterscheidung durch Negation“ scheint ein starkes Argument für die Zweiseitigkeit der Form der Unterscheidung. Auf der theoretischen Ebene der Form nach Spencer Brown gehört aber selbst die Operation der Negation (als einstellige Negation von etwas) nicht zu dem Prozess des Unterschei-
dens, sondern ist als eine (wenn auch sehr elementare) /nterpretation zu verste-
hen.
In der Operation des Unterscheidens ergeben sich nach Spencer Brown genauer betrachtet zunächst Momente der Form der Unterscheidung, die voneinander abgeschlossenen Bereiche und ein Moment, das die Funktion hat, die Bereiche voneinander abzuschließen und damit aber auch aufeinander zu beziehen. Dieses Moment wird Grenze genannt. Zu der Möglichkeit der Grenze, ihre
Funktion als Grenze zu erfüllen, gehört ein Medium (Raum, Kontext), das die
Bedingungen dafür bereit stellt. Auf der Ebene der Form ist nicht explizit die Rede von zwei Seiten, obwohl dies durch die Formulierung ‚die eine und die
4
Luhmann 2003:44.
278
Katrin Wille
andere Seite’ und das Beispiel des Kreises im ersten Kapitel der Laws of Form, durch den zwei Seiten voneinander unterschieden werden, nahe gelegt ist. Die
Ebene der Form und auch die daraus zu entwickelnde Primäre Arithmetik sind
aber explizit nicht-numerische, sondern die numerische Arithmetik erst ermögli-
chende theoretische Schritte. Deshalb ist hier das Wichtigste, dass Seiten unter-
schieden werden, deren Verschiedenheit durch die Abgrenzung voneinander
erschaffen wird, und nicht wie viele Seiten. Spencer Brown wiirde Punkt b also schon aus diesem Grund nicht zustimmen. c) Was ist mit Bezeichnen gemeint? Und aus welchen Griinden wird nur eine der beiden Seiten bezeichnet? Unter Bezeichnen kann Verschiedenes verstanden werden: ,hervorheben’, ,mit einem Zeichen versehen’, ,benennen’, ,darauf hinweisen’, ,zum Gegenstand der Untersuchung machen’, ,die Aufmerksamkeit
darauf richten’ oder ,gebrauchen’. Die erste Bedeutung ,mit einem Zeichen versehen’
und
dadurch
,benennen’,
scheint durch
den
Rekurs
auf Spencer
Brown zunächst im Vordergrund zu sein. Bei der Luhmannschen Rede von
Bezeichnen schwingt sehr stark die Bedeutung von ,gebrauchen’, ‚verwenden’ mit. Hat man zwei Seiten durch eine Grenze voneinander unterschieden, soll
man nicht beide gleichzeitig gebrauchen können, sonst wäre die Unterscheidung sinnlos. In diesem Bedeutungshorizont erscheint die Luhmannsche Betonung,
dass nur eine von beiden Seiten bezeichnet werden kann, wie eine unterschei-
dungstheoretische Reformulierung des Nicht-Widerspruchsprinzipes: Für eine
Unterscheidung gilt, dass nicht beide Seiten zur gleichen Zeit für den gleichen
Zweck verwendet werden können. Wird die Bezeichnung System gebraucht, dann kann nicht zur gleichen Zeit für den gleichen Zweck die Bezeichnung
Umwelt gebraucht werden. Wenn zwei Seiten voneinander unterschieden sind,
dann können nicht beide Seiten im gleichen Sinne verwendet werden. Luhmann scheint so etwas im Sinn zu haben, wenn er Bezeichnen manchmal als ‚gebrauchen’ bestimmt und an einem Beispiel erläutert, dass man bei der Unterschei-
dung zwischen Männern und Frauen in einer Verwendungssituation fragen könnte: ‚Ist das ein Mann oder eine Frau?’ Eine Antwort, die die Unterschei-
dung wirklich verwendet, kann immer nur eine entweder-oder Antwort sein. Dieses Beispiel deutet darauf hin, dass nicht prinzipiell eine der beiden Seiten
nicht bezeichnet werden
kann,
sondern
dass in einer
Situation nicht beide
zugleich bezeichnet und d.h. gebraucht werden können. Damit hieße Bezeichnen so etwas, wie ‚eine der beiden Seiten aktualisieren’, ‚aktuell aufrufen’. Und
wenn eine Unterscheidung immer nur zwei Seiten haben kann, die in einem entweder-oder Verhältnis gebraucht werden können, dann gilt auch das Tertium
non datur (Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten). Luhmann führt zu diesem
Entweder-Oder an einer Stelle weiter aus: Würde man nun in einer Situation weder die eine, noch die andere Seite verwenden, also zum Beispiel auf die Frage „Ist das ein Mann oder eine Frau“ antworten: ein Mikrophon oder ein
IV.E Form und Geschlechterunterscheidung
279
Hermaphrodit, dann gebraucht man in beiden Fällen eine neue Unterscheidung,
die im letzteren Fall wie eine Mischung aus beiden Seiten klingt, wodurch aber eigentlich ein neuer Term gebildet wird, der wieder von anderem zu unterschei-
den ist.” Eine Verbindung der beiden Seiten, wie zum Beispiel in dem Ausdruck
‚Hermaphrodit’ bildet danach keine dritte Seite der Unterscheidung, sondern eröffnet vielmehr eine neue Unterscheidung, unterschieden wird auf der elemen-
taren Ebene zwischen ,Hermaphrodit/alles Übrige’.
Zu dem Prozess der Unterscheidung gehört nach Spencer Brown noch ein weiteres Moment, das dem Prozess als einer Art Bewegung, einer Operation im Unterschied zu einem gegebenen Unterschied Rechnung trägt. Spencer Brown spricht vom Motiv, also gewissermaßen dem, was bewegt und dem Prozess des Unterscheidens Anlass, Richtung und Wirksamkeit gibt. Dies ist aber nicht wie eine diffuse Kraft zu sehen, sondern entsteht aus dem ‚Sehen einer Wertverschiedenheit“ (are seen to differ in value) zwischen den beiden Seiten. Es ist bei
dieser Formulierung wichtig, nicht an Bewertungen im Sinne eines Besser/Schlechter, Mehr/Weniger und auch nicht an gegebene Werte zu denken. Vielmehr gehört zu einer Unterscheidung das Sehen einer Verschiedenheit zwischen den beiden Seiten, die sich auf Qualitäten, Funktionen oder Wirkungen der Seiten beziehen kann. Das Interesse an dieser Verschiedenheit macht diese Qualitäten, Funktionen oder Wirkungen zu „Werten“. Die Abgrenzung der Sei-
ten voneinander konstituiert diese Wertverschiedenheit der Seiten, die den Prozess des Unterscheidens selbst wieder nährt und ihn als Bewegung ermöglicht. Das Motiv geht dem Prozess der Unterscheidung nicht voraus, sondern ist ein ihm internes Moment, das gleichzeitig durch ihn erzeugt wird und ihn erst ermöglicht. Die beiden Momente Medium und Motiv machen den Prozess des
Unterscheidens zu einer zirkulären Gedankenbewegung.°
Um mit der Unterscheidung zu arbeiten, sie zu verwenden, sind Hinweise (indication) auf die Seiten der Unterscheidung, genauer betrachtet auf die Werte, die in dem Prozess des Unterscheidens in den Seiten verschieden gesehen
worden sind, nötig. Das Spektrum möglicher Hinweise ist auf der Ebene der Form bewusst offen gelassen und nicht durch Spezifikation eingeschränkt, es umfasst das Richten von Aufmerksamkeit auf etwas, das Ausdrücken von etwas
oder auch das sprachlich-symbolische Bezeichnen von etwas, also alle Akte von Wahrnehmung und Kommunikation. Die Seiten „als von verschiedenem Wert
sehen“ legt das Verständnis nahe, dass beiden Seiten ein je verschiedener Wert zugeordnet werden kann. Es ist aber durch die Formulierung die Möglichkeit
nicht ganz ausgeschlossen, dass nur einer Seite ein Wert zugeordnet wird. Dann
Vgl. Luhmann 2004?:74. Dies ist im Kommentar zum ersten Kapitel anders dargestellt, dort wurde das Moment des Motivs der komplexen Operation des Hinweisens zugeordnet. Der Text des ersten Kapitels der Laws of Form ist so hoch kondensiert, dass verschiedene Exegesezyklen verschiedene Lesarten hervorbringen, darin einem poetischen Text vergleichbar.
280
Katrin Wille
kann man die Seiten insofern als von verschiedenem Wert sehen, als dass der
einen ein Wert zukommt, der anderen nicht (wobei ganz offen gelassen ist, welche Seite als von Wert gesehen wird und welche nicht, das kann aus den Seiten selbst nicht hervorgehen). Diese Möglichkeit, die konstruiert anmuten könnte, sei hier offen gelassen, da Luhmann sie zu favorisieren scheint. Wir haben es hier mit einer typischen kondensierten und damit systematisch offenen Formulierung zu tun, mit der sich gerade nicht darauf festgelegt wird, dass nur auf den Wert einer Seite hingewiesen werden könne, da der anderen keiner zugeordnet sei. Mit so einer Aussage würde die Ebene der Form verlassen und
eine bestimmte Interpretation favorisiert. Spencer Brown würde also dem Punkt c, dass nur eine der beiden Seiten bezeichnet wird, nicht zustimmen.
d) Wie ist es zu verstehen, dass in der Ausgangsoperation, dem Unterscheiden von zwei Seiten und dem Bezeichnen von nur einer Seite Asymmetrie angelegt sei? Für die Ausgangsoperation gehören Unterscheidung und Bezeichnung not-
wendig zusammen, da sie sich gegenseitig Sinn verleihen: die Bezeichnung hat
nur im Rahmen einer Unterscheidung von zwei Seiten Sinn, während sich an-
dersherum der Sinn der Unterscheidung erst in der Bezeichnung erfüllt, die sie vorbereitet. Durch die Asymmetrie zwischen den beiden Seiten, die durch die Bezeichnung geschaffen wird, soll die eine bezeichnete Seite der Unterscheidung erst anschlussfähig für weitere Operationen werden.
Befragt man die bisherigen Ausführungen über mögliche Anhaltspunkte für
diese Asymmetrie der beiden Seiten der Unterscheidung, dann scheinen zwei
Voraussetzungen in Frage zu kommen: Zum einen könnte sich die Asymmetrie
aus der Wahl des Unterscheidungstyps „Unterscheidung durch Negation“ erge-
ben, bei der die beiden Seiten, gerade in der allgemeinsten Form ,Dies/NichtDies (also alles Ubrige) einen unterschiedlichen Grad an Bestimmtheit aufwei-
sen, der als Asymmetrie (der Bestimmtheit) zu charakterisieren wäre. Dieser Sinn von Asymmetrie der Bestimmtheit würde auch Luhmanns Rede von der
Innen- und der Außenseite der Unterscheidung rechtfertigen. Zum anderen scheint mit ,Asymmetrie’ einfach der implizit aufgerufene Satz des Widerspruchs artikuliert zu sein: Die beiden Seiten können nicht zur gleichen Zeit in der gleichen Hinsicht verwendet werden. Dies beides sind sehr verschiedene Sinne von Asymmetrie und in der Spencer Brown-Exegese zeigt sich, dass der
erste Sinn (Asymmetrie der Bestimmtheit) nicht auf die theoretische Ebene der
Form gehört und der zweite Sinn (Asymmetrie als Nicht-Widerspruch) in den Laws of Form erst in der Kalkülentwicklung im vierten Kapitel als viertes Theorem der Konsistenz (LoF:
18ff), das auch nur für die Primäre Arithmetik und
Primäre Algebra gilt, eingeführt wird. Durch diese beiden möglichen Sinne der Asymmetrie ist aber nicht ausgeschlossen, dass auf die beiden Seiten der Unterscheidung gleichermaßen in
verschiedenen Hinsichten hingewiesen werden kann, also (in der Sprache Luh-
IV.E Form und Geschlechterunterscheidung
281
manns) beide Seiten bezeichnet werden können — nicht gleichzeitig und nicht zu dem selben Zweck, hier gilt der Satz vom Widerspruch selbstredend fiir die Bezeichnung/Verwendung beider Seiten gleichermaßen, aber im gleichen Zusammenhang in verschiedenen Hinsichten. Was also kann mit Asymmetrie noch gemeint sein, wenn diese beiden Sinne, die sich bisher ergeben, die einseitige Verwendbarkeit der Zweiseitenformen nicht erklären können? Ein anderer Sinn von Asymmetrie ergibt sich aus den Erläuterungen, dass die Asymmetrie sich als leichte Präferenz für die eine Seite manifestieren kann. Dieser dritte Sinn von Asymmetrie (Asymmetrie der Präferenz) impliziert eine Art Skalierung von Werten. Dem, was präferiert wird, wird ein höherer Wert als dem anderen gegeben. Wie schwierig es bei bestimmten Unterscheidungsstrukturen ist, diese Asymmetrie der Präferenz zu verstehen, zeigt sich an den Bei-
spielen, die er — für das Asymmetrie-Modell werbend — gibt’: Welcher Seite der
Unterscheidung ,Subjekt/Objekt’ die Präferenz gegeben wird, ist für philosophi-
sche Ohren vollständig abhängig von der philosophischen Richtung. In einem idealistischen Kontext würde der Subjekt-Seite philosophische Präferenz gege-
ben, in einem realistischen Kontext der Objekt-Seite und es sind Kontexte
denkbar, in denen gar keine Präferenz gebildet wird. Ähnlich kontextabhängig ist eine Präferenzbildung für eine der beiden Seiten des zweiten Beispiels ‚Zei-
chen/Bezeichnetes’: Was soll man da präferieren? Die strukturalistischen Semiotiker mögen die Zeichen-Seite präferieren, der Common Sense die Seite des Bezeichneten. Und schließlich erinnert im dritten Beispiel das Paar ‚Herr/Knecht”
eben an eine (dialektische) Figur in der Phänomenologie
des
Geistes von Hegel, in der — wenn man so will — eine Präferenz gerade in die
andere umschlägt, bis sich beide zu einer neuen sozialen Interaktionsform wei-
terentwickeln. Ein vierter möglicher Sinn der Luhmannschen Asymmetrie (Asymmetrie der Notation) gehört zu den semiotischen Entscheidungen in den Laws of Form, nämlich einen Hinweis auf den marked state durch die Verwendung eines Na-
mens und einen Hinweis auf den unmarked state durch die Nicht-Verwendung
des (einzigen) Namens zu erlauben. Beide Arten von Hinweisen funktionieren
ohne
Zweifel
sehr verschieden
und
vor allem
der Hinweis
durch Nicht-
Verwendung des Namens (also gewissermaßen durch Nichts auf Nichts) ist für
unsere Tradition äußerst ungewöhnlich. Ein Hinweis durch Nicht-Verwendung,
der kein Name ist, reduziert die repräsentative, darstellende Funktion des Hin-
weises und betont die hervorbringende, performative Funktion, durch die der Hinweis
durch Nicht-Verwendung
sein Referenzobjekt (den unmarked
state)
Luhmann 2003:20. Vgl. zu einer unterscheidungstheoretischen Rekonstruktion der Hegelschen Philosophie, Wille 2007c.
282
Katrin Wille
erschafft.” Dies jedoch als Asymmetrie zu deuten, spricht eher für die eigene Unvertrautheit im Umgang mit Leerstellen und fiir die Gefangenheit in der Tradition der ,,Nihilophobie“!®, die das westliche Denken insgesamt kennzeichnet.
Gegen eine Beschreibung des Verhältnisses der beiden Hinweise als Asymmetrie steht auch, dass beide im Kalkül völlig parallel, man könnte sagen symmetrisch verwendet werden.
In Luhmanns Ausfihrungen tiber die Geschlechterunterscheidung werden zwei
Interpretationsschritte vorgenommen: zum einen die Interpretation der Form der Unterscheidung als asymmetrische Unterscheidungsstruktur und zum anderen
die Ubertragung dieser Struktur auf die Geschlechterunterscheidung. Die Legi-
timation und die Möglichkeiten des ersten Interpretationsschritts ergeben sich aus den Wirkungen, aus den soziologischen Ubertragungen und Anwendungen.
Es ist im nächsten Abschnitt zu fragen, ob die Ubertragung und Anwendung auf die Geschlechterunterscheidung dafiir geeignet ist.
3. Die Geschlechterunterscheidung als Interpretation der Interpretation Luhmann wählt für seine Interpretation der Form der Unterscheidung eine sehr elementare Unterscheidungsstruktur, eben die „Unterscheidung durch Negation“
(,Dies/Nicht-Dies - also alles Ubrige), und interpretiert diese als asymmetrische
Struktur. Vier Sinne von Asymmetrie, die im zweiten Abschnitt differenziert worden sind, scheinen dabei zusammengefasst: Die Asymmetrie der Bestimmtheit (1), die Asymmetrie als Nicht-Widerspruch (2), die Asymmetrie der Präfe-
renz (3), Asymmetrie der Notation (4). Wie soll diese Grundstruktur in einer
neuen Schleife fiir Unterscheidungen interpretiert werden, die gar nicht nach
dem Muster dieser Grundstruktur zu funktionieren scheinen, wie die Geschlechterunterscheidung zwischen Frauen und Männern? Bei dieser Unterscheidungsstruktur ist die eine Seite ja kaum als die Negation der anderen Seite zu verste-
hen, vielmehr sind beide Seiten gleichermaßen bestimmt und die Asymmetrie
der Bestimmtheit scheint hier nicht vorzuliegen. Der zweite Sinn von Asymmetrie ist als unterscheidungstheoretische Reformulierung des Satzes vom Wider-
spruch zu allgemein, als dass er als besonderes Strukturmerkmal gelten könnte
und der vierte Sinn von Asymmetrie ist zu spezifisch auf maximale semiotische Kondensierung gerichtet. Es bleibt also der dritte Sinn von Asymmetrie, eine
Vgl. eine gewisse Ähnlichkeit zur Doppelfunktion der Null im Zahlensystem, einerseits als
10
Zeichen für die Abwesenheit von Zeichen (und Dingen) und als Zeichen für eine wohl te Zahl. Diese wohl bestimmte Zahl steht aber nicht für eine Anzahl, sondern schafft renzobjekt durch ihre Funktion im Zahlensystem. Der Mathematiker Brian Rotman Doppelfunktion der Null als Zeichen und Metazeichen untersucht und versucht, das für die semiotische Schwierigkeit der Null zurückzugewinnen Vgl. Rotman 2000.
Vol. diese Wendung bei Lütkehaus 2003:29.
bestimmihr Refehat diese „Gespür“
IV.E Form und Geschlechterunterscheidung
283
leichte Präferenz für eine der beiden Seiten, die zwar revidierbar ist, die aber die
Anschlussfähigkeit der Unterscheidung garantieren soll. Luhmann scheint in seinen Ausführungen über die Geschlechterunterscheidung diesen Weg zu gehen und die Unterscheidung zwischen Frauen und Män-
nern als Interpretation der Grundstruktur zu fassen, zu der dann das Struktur-
merkmal der Asymmetrie der Präferenz notwendig gehört. Der Bezug auf die theoretische Ebene der Form der Unterscheidung lässt aber (noch mindestens)
eine andere Interpretation zu: Die Unterscheidung zwischen Frauen und Män-
nern ist nicht eine Interpretation der Grundstruktur „Unterscheidung durch Ne-
gation“, sondern eine Interpretation einer anderen Grundstruktur, die sich aus der Form der Unterscheidung genauso ableiten lässt, bei der zwei verschiedene Namen vergeben werden, die gleichermaßen bestimmt sind (,Dies/Das’). Für diese Grundstruktur ist Asymmetrie kein notwendiges Strukturmerkmal.
Innerhalb dieser Grundstrukturen eröffnet sich ein variabler Spielraum für die konkrete Umsetzung. Für die erste Grundstruktur bedeutet das, dass die Frage nach dem Wie der Asymmetrisierung im Kontext verschiedener Gesellschaftsstrukturen zur Differenzierung verschiedener Konkretisierungen führt.
Aus deren Fülle seien zwei konkretisierte Unterscheidungsstrukturen herausge-
griffen. Luhmann hat in seinen Ausführungen über die Geschlechterunterschei-
dung verschiedene solcher Asymmetrisierungsstrategien für die Vergangenheit und die Gegenwart konturiert und dabei einer ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Möglichkeit besteht darin, die Asymmetrie über eine Repräsentationsfunktion der einen Seite einzulösen. Die Seite der Männer wird von
der Seite der Frauen unterschieden, die (mehr als leichte) Präferenz gilt der Seite der Männer, da ihr die Repräsentation des Ganzen der Seinsordnung zugesprochen wird.'' Diese in der traditionellen Gesellschaftsordnung sehr wirksame
Struktur der Geschlechterunterscheidung löst die Asymmetrie der ersten Grundstruktur in Form einer hierarchischen Präferenzasymmetrie ein.
Eine andere Konkretisierungsmöglichkeit innerhalb der ersten Grundstruktur
findet sich in der Frauenbewegung
und Frauenforschung der 70er und 80er
Jahre implizit vielfach in der Suche nach der ganz eigenen und ganz anderen
Identität „der Frau“ oder einer spezifischen „women’s culture“. Die eine Seite
der Unterscheidung ist die der Frauen und die andere Seite der Unterscheidung
ist unbestimmt offen: alles Übrige, wozu auch Männer gehören. Um die Seite
der Frauen unabhängig von der Beziehung auf den traditionell vorgegebenen Gegenpol
der Männer zu bestimmen,
werden
die Grundstruktur der ,,Unter-
scheidung durch Negation“ und deren Asymmetrie der Bestimmtheit für die asymmetrische Bestimmung des Weiblichen verwendet. Verstärkt wird diese Asymmetrie zwischen den beiden Seiten durch den dritten Sinn von Asymmet-
rie, die Präferenz für die Seite des Weiblichen. 1 Luhmann 2003:23ff
284
Katrin Wille
Für die zweite Grundstruktur, die nicht an der „Unterscheidung durch Negation“ orientiert ist, sondern bei der zwei verschiedene Namen vergeben werden,
die gleichermaßen bestimmt sind (,Dies/Das’) und keine Bewertungsasymmetrie vorliegt, gibt es auch eine Reihe von Konkretisierungen, die in der komplex geführten Diskussion über die Geschlechterunterscheidung verwendet worden sind und werden. Auch hier seien einige ausgewählt. Die eine ist dadurch ge-
kennzeichnet, die verschieden bestimmten Seiten der Frauen und Männer in ein
komplementäres Verhältnis zu setzen. Dabei werden die Funktionsverschiedenheit und die notwendige Ergänzung betont, durch die die Gleichwertigkeit bei-
der Seiten begründet wird. Die andere Konkretisierung in der Tradition der Aufklärung legt den Akzent auf die Gleichheit der beiden Seiten in Bezug auf Vernünftigkeit, Würde und Rechte und nimmt das Vorliegen von zwei verschiedenen Seiten, der Seite der Frauen und der Männer, eher als eine faktische Ge-
gebenheit hin. Eine dritte mögliche Konkretisierung im Rahmen dieser Grundstruktur deutet Luhmann als binäre Codierung, die Unterscheidungsstruktur, die für die durch funktionale Differenzierung gekennzeichnete Gesellschaftsstruktur typisch geworden ist.'* Allerdings übernimmt die Geschlechterunterscheidung innerhalb der modernen Gesellschaftsstruktur funktionaler Differenzierung nur in einem einzigen Funktionsbereich die Rolle eines Codes, nämlich in der Familie. In allen anderen Funktionsbereichen fungiert die Geschlechterunterschei-
dung nicht mehr auf der Ebene von Codes. Der Frau/Mann-Code übernimmt innerhalb von Familien immer weniger inhaltliche Steuerungsaufgaben, und
wird, so könnte man vielleicht sagen, immer formaler, um so immer mehr Raum
zu lassen für die Individualisierung in der Handhabung dieses Codes. Individualisierung kann hier Vervielfältigung der Formen des Zusammenlebens heißen, bei der die Unterscheidung selbst in sich differenziert werden kann.
Dies hat innerhalb der selbstreflexiven Dynamik der Genderforschung'* zu
neuen Unterscheidungsstrukturen geführt, die hier als dritte und vierte Grundstruktur konturiert werden sollen. Die dritte Grundstruktur kennt mehr als zwei Seiten der Unterscheidung, es gehören also drei- oder mehrgliedrige Unter-
scheidungsstrukturen zu dieser Grundstruktur. Innerhalb dieser Grundstruktur gibt es eine ganze Reihe von Konkretisierungsmöglichkeiten, z.B. für eine dritte
Seite, die sich durch Oszillationsbiographien oder Hybridbildungen”’ ergibt, die 2
Luhmanns Versuch, in dieser Unterscheidungsstruktur immer noch einen Rest von Asymmetrisierung zu sehen, die zwar durch die „Erleichterung von Crossings erheblich abgeschwächt“ sei und bei der den beiden Werten (Wert und Gegenwert) fast das gleiche Gewicht gegeben werde,
scheint wie ein Bemühen, eine ganz andere Grundstruktur von Unterscheidungen auf die von
3 14
5
ihm als einzig möglich postulierte zu beziehen.
Vol. Luhmann 2003:51ff. Vgl. Schönwälder/ Wille 2003.
Mit Hybriden ist die Kombination von Attributen gemeint, die ursprünglich voneinander differenten Gegenstandsklassen bzw. Feldern angehörten, jedoch in dem Mischwesen dann nicht
IV.E Form und Geschlechterunterscheidung
285
sich eigene Szenen und Artikulationsmöglichkeiten geschaffen haben. Innerhalb der dritten Grundstruktur eröffnet sich der Spielraum für eine „Geschlechteral-
gebra höherer Ordnung“.
In der vierten Grundstruktur wird das Moment des Mediums in den Vordergrund gerückt und dadurch die ganze Unterscheidungsformation verändert. Die bisher isolierte Unterscheidung (in Form der ersten oder zweiten oder dritten Grundstruktur) wird mit anderen Unterscheidungen in Beziehung gesetzt, also
eingebunden in andere Differenzachsen und dadurch relativiert. Konkretisiert
wird dieser Grundtyp in der Genderforschung durch die systematische Verbin-
dung der Genderdifferenz mit anderen Differenzen wie „class“ und „race“.'°
Dadurch soll die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Gestaltungen sichtbar bleiben und in alle Bereiche der Genderdifferenz müssen weitere Differenzen eingetragen werden.
Mit diesen vier Grundstrukturen der Unterscheidung und ihren vielfältigen Konkretisierungsmöglichkeiten wurde und wird in Vergangenheit und Gegenwart der Lebenspraxis der Geschlechter und in der Frauen- und Genderforschung experimentiert. In der Lebenspraxis der Geschlechter sind die Strukturen und ihre Konkretisierungen in Mikropraktiken inkorporiert, einverleibt und
dadurch nebeneinander wirksam. In der Frauen- und Genderforschung wurden und werden die Strukturen und ihre Konkretisierungen zur kritischen Analyse
und zum Experimentieren mit neuen konstruktiven Strukturvorschlägen ver-
wendet. In einer unterscheidungstheoretischen Perspektive auf die Geschlechterunterscheidung und die Genderforschung ist es von großer Wichtigkeit, Uberblick über die verwendeten und möglichen Unterscheidungsstrukturen zu
schaffen. Damit ändert sich die Fragerichtung von: ‚Was wird unterschieden und warum?’ zu ‚Wie wird unterschieden, welche Struktur wird gewählt und welcher Zweck wird damit verfolgt?’ Dazu gehört es, Klarheit über den theoretischen Rahmen zu gewinnen, innerhalb dessen von der Geschlechterunterscheidung überhaupt die Rede sein kann, nämlich als Interpretation der Interpretation der Form der Unterscheidung. Der Spielraum der Varianten, der sich unter einem
unterscheidungstheoretischen Blick ergibt, konnte hier nur angedeutet werden. Aber schon die zusammengetragene Fülle der konkretisierten Unterscheidungs-
strukturen wirft die Frage auf, wann, wie und warum welche der nebeneinander
wirksamen konkretisierten Strukturen verwendet wird.
16
aufgehoben werden, vielmehrsimultan nebeneinander bestehen und in ihrer Heterogenität damit auch erhalten bleiben. Vgl. Krämer 2006. Vgl. dazu z.B. die Diskussionen in dem Sammelband „Achsen der Differenz“ hg.v. Knapp/ Wetterer 2003.
'7 Dazu genauer Wille 2007b.
IV.F Praxis der Unterscheidung Katrin Wille
Die Leistungskraft von bestimmten Begriffen und Modellen im Vergleich zu
anderen Begriffen und Modellen zeigt sich nicht nur in der Subtilität ihrer Entwicklung und argumentativen Begriindung, sondern auch in dem, was sie uns einerseits Zu sehen und zu verstehen und andererseits zu verdndern erlauben. Zu
einer vollständigen Theorie gehört, ihre Potentiale und Wirkungen für und auf
die praktischen Orientierungsfragen darzustellen. Die Laws of Form sind ein
Werk, in dem Theorie und Praxis eigentümlich kondensiert werden, trotz oder vielleicht gerade wegen ihres hohen Abstraktionsgrades. Die Form der Unterscheidung entfaltet theoretische und praktische Kraft. In den Laws of Form ist dieser Anspruch so ausgedrückt: „A mathematical text is thus not an end in itself, but a key to a world beyond the compass of ordinary description.“
Die theoretische Kraft zeigt sich z.B. in den Anregungen, die von den Laws
of Form für die philosophische Reflexion, für mathematische, logische und natur- und sozialwissenschaftliche Arbeit ausgehen. Die praktische Kraft zeigt sich z.B. daran, dass die Laws of Form in psychologischen, psychotherapeutischen und Beratungskontexten immer wieder als Möglichkeit zur theoretischen
Selbstverständigung und für praktische Vorgehensweisen verwendet werden.
In der Psychologie, der Lehre vom menschlichen Verhalten und Erleben,
können die Laws of Form z.B. nützlich sein, um die Grundkategorien psycholo-
gischer Beschreibung, Erklärung und Prognose zu reflektieren. In der Psychotherapie, als Begleitung von individuellen Transformationsprozessen verstanden, kann die Aufmerksamkeit auf die eigenen Unterscheidungsvollzüge und
ihre Modifikation zu einer veränderten verkörperten Praxis des Einzelnen füh-
ren. In der Beratung, als Begleitung von institutionellen Veränderungsprozessen, können Interaktionslogiken und Handlungsoptionen als Form von Unter-
scheidungen sichtbar und nutzbar werden. In diesem Beitrag soll die Dimension der Praxis der Unterscheidung in den Mittelpunkt gerückt werden. Zu Beginn werden zentrale Aspekte einer solchen Praxis der Unterscheidung aus den Laws of Form heraus profiliert. Im zweiten Schritt wird ein Schlaglicht auf die wohl historisch erste praktische Wirkung der
Ideen der Laws of Form im Werk des englischen Psychiaters Ronald Laing geworfen. Anschließend folgen einige knappe Hinweise auf Anwendungen der
Laws of Form vor allem in der Psychotherapie und Beratung. 1
LoF:xxix
288
Katrin Wille
1. Die Laws of Form als Praxis der Unterscheidung Durch ihre eigene praktische Kraft wird mit der Form der Unterscheidung die oft gezogene Grenze zwischen Mathematik/Logik/Philosophie und Psycholo-
gie/Psychotherapie/Beratung überschritten. Im Folgenden seien die praktischen Potentiale der Laws of Form, die in den verschiedenen Anwendungen mal mehr
mal
weniger
aufgenommen
werden,
in einen
Überblick
gebracht,
der neun
Punkte umfasst. (1) Spencer Brown wählt als Ausgangspunkt die Idee der Unterscheidung,
über die wir als kompetente Sprecher alle verfügen, da wir ständig unterscheiden. Die Idee der Unterscheidung als Ausgangspunkt und Grundbegriff zu be-
stimmen, geht mit der Behauptung einher, dass jeder Begriff und jeder Satz, jede Wahrnehmung und jede Erfahrung realisierte Formen der Unterscheidung sind. Aus dieser Perspektive gibt die Form der Unterscheidung allen Lebensbereichen ihre grundlegende Form. Mit der Form der Unterscheidung ist ein maximal elementarer und einfacher Rahmen gewählt, der den Vorteil hat, derart schwache Vorannahmen zu machen, dass möglichst wenig ‚theoretische Artefakte’ entstehen. Für jede Wissen-
schaft und auch für jedes praktische Arbeiten ist die Überprüfung der eigenen
theoretischen Modelle und der eigenen Vorannahmen auf mögliche theoretische Artefakte von zentraler Wichtigkeit. Allzu häufig werden Zusammenhänge in
der ,Wirklichkeit’ beschrieben und erklärt, die sich bei genauerer Betrachtung
mehr als Eigenschaften der theoretischen Modelle oder der eigenen Vorannahmen herausstellen, denn als Eigenschaften des zu Beschreibenden. Die Frage nach den Artefakten ist für die praktische Arbeit mit Menschen und Institutionen von besonderer Brisanz. Es besteht die Gefahr, dass durch Klassifikations-
systeme Probleme diagnostiziert werden, die aus der Sicht des Gegenübers gar nicht vorhanden sind und die durch therapeutische oder beraterische Intervention beim Gegenüber erst geschaffen werden. Je voraussetzungsschwächer der
theoretische Rahmen von TherapeutInnen und BeraterInnen ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass durch die Therapie oder die Beratung gar neue Probleme geschaffen werden. Spencer Brown selber hat dieses Problem theoretischer Artefakte in den Laws of Form vor allem für mathematische und logische Nota-
tionen intensiv reflektiert.’
(2) In engem Zusammenhang mit der Einfachheit der Form der Unterscheidung steht ihre Formalität. Die Aspekte der Form der Unterscheidung, die bei-
den Seiten (1,2), die Grenze (3), und der Kontext, der die beiden Seiten unterscheidbar macht (4) , haben keinerlei inhaltliche Bedeutung. Durch eine Bedeu-
tungszuweisung würde die
Form auf einen bestimmten Bereich bezogen, festge-
legt und in ihrer Anwendung auf ganz andere Bereiche möglicherweise verhinVgl. vor allem den Kommentar zum zweiten Kapitel und IV. Vgl. den Kommentar zum ersten Kantel.
A Appendizes.
IV.F Praxis der Unterscheidung
289
dert. Vielmehr ist das formale Gefüge der Aspekte offen für die Vielfalt der Anwendungen in konkreten Situationen, es determiniert die konkreten Phäno-
menbereiche und Situationen aber nicht. Dieses formale Gefüge wirkt nicht wie
ein (jedes Detail) determinierendes Programm, sondern wie ein Prozessschema, das einen Rahmen gibt und in jeder Anwendung ein neues und in der genauen
konkreten Gestalt überraschendes Ergebnis bringt.
Das Potential einer formalen Theorie liegt fiir die praktische Arbeit darin,
über eine Kommunikationsebene zu verfügen, die geteilt werden kann, auch wenn sich inhaltliche Differenzen ergeben oder so verschiedene Kontexte, dass
eine Verständigung auf inhaltlicher Ebene unmöglich scheint. Auf der Ebene
der Form kann es möglich werden, sich über verschiedenste Kulturen oder Meinungen hinweg zu treffen. (3) Die Ebene der Formalität und der Einfachheit ist eine, die immer wieder neu zu gewinnen und zu überprüfen ist. Um diese Ebene zu erreichen und immer wieder neu zu erreichen, sind Prozesse des Verlernens (unlearning) nötig,
die uns hinter unsere gewohnten Denkmuster, unsere üblichen Unterscheidungen und Bewertungen zurück gehen lassen. Spencer Brown betont die Wichtig-
keit dieses Verlernens für wirkliche Grundlagenarbeit immer wieder und deutet
dabei auch auf seine psychologischen Möglichkeiten hin. Diesen Prozess des Verlernens, den Spencer Brown uns und seinen mathematischen und logischen Kolleginnen abverlangt, will er bis zum Ende führen, bis zu dem Punkt, wo Formen überhaupt zu entstehen beginnen. Damit ist die Grenze zwischen Formentstehung und Auflösung der Form (in den späteren Einleitungen spricht er von
Nichts und Leere") erreicht. An einer Stelle in den AUM-Transkripten wird die Arbeit und die Anstrengung deutlich, die dieser Verlernprozess bedeutet: „One has to break every law, every rule, that we are taught in our upbringing. And
why it is so difficult to break them, is that there is no overt rule that you may not
do this, why it is so powerful is that the rule is covert.” Die Laws of Form sind damit eine geeignete Ubung für ein Verfahren, das in
der systemischen Psychotherapie und Beratung Musterunterbrechung genannt wird. Interventionen zur Musterunterbrechung werden da eingesetzt, wo sich Verhaltens- oder Interaktionsgewohnheiten gebildet haben, die kontraproduktve, einschränkende Wirkungen haben. Gelingende Musterunterbrechungen von elementaren Denkgewohnheiten nennt Gregory Bateson, ein entscheidender
Inspirator fiir die systemische Therapie und Beratung, in seiner Theorie des
Lernens höherer Ordnung den (seltenen) Übergang von Lernen II (Lerntransfer, Lernen der Kontexte des Lernens) zu Lernen III (Lernen der Kontexte der Kon-
texte des Lernens).° 4
^
6
Vgl. dazu I. Einleitung und II.A Kontexte zu den Laws of Form.
AUM 1,13
Vgl. Bateson 1981:389-396. Zu Batesons Rezeption von und Kritik an Spencer Browns Position im Anschluss an die AUM-Konferenz 1973 vgl. Harries-Jones 1995:207-209.
290
Katrin Wille
(4) Die Form der Unterscheidung rein als Form, ohne inhaltliche Bestimmungen zu denken, kann als Weg des Verlernens oder auch als Bewegung der Abstraktion bestimmt werden. Lässt man sich auf die Bewegung der Abstraktion mit der Form der Unterscheidung ein, dann zeigt sich eigentiimlicherweise, dass durch die Bewegung der Abstraktion Erfahrung berührt wird. In der Bewegung der Abstraktion kann die Erfahrung des Abstreifens, des Uberschreitens, der Eröffnung von Freiräumen gemacht werden. Häufig wird Abstraktion als etwas verstanden, das weit weg führt von jeder konkreten Erfahrung. Umgekehrt kon-
vergieren in dem Mitvollziehen der Laws of Form Wissen und Erfahrung viel eher als dass sie davon wegführen. (5) Die Dimension der Erfahrung ist zentral in Spencer Browns Verständnis
von Wissen. Wissen entsteht da, wo Prozesse selbst vollzogen werden und nicht da, wo jemandem etwas nur über etwas mitgeteilt wird. Deshalb besteht für
Spencer Brown der theoretische Grundakt in der /njunktion, im Ausführen von
Anweisungen zum Mitvollziehen von theoretischen Prozessschritten.’ Die Laws
of Form verstehen sich also mehr als Vehikel (Transportmittel) zu Wissen, in-
dem Anweisungen gegeben werden, wie Unterscheidungen hergestellt werden. Dies Vehikel soll für beide Richtungen verwendet werden, für den Aufbau von
Komplexitäten und auch für den Abbau derselben. Diese Spencer Brownsche Wissenstheorie in nuce ist wichtig für die Begleitung von individuellen und institutionellen Transformationsprozessen. Denn nur
wenn der jeweiligen Person oder dem jeweiligen System eigene Erfahrungen ermöglicht werden, Erfahrungen, in denen Lösungsschritte selbst entwickelt werden, kann neues Wissen entstehen und kann eigentliche Veränderung stattfinden. Denn keine Mitteilung von Information von außen, aus der Perspektive
der Beschreibung, führt zu neuem Wissen für das System. (6) Die Methode der Injunktion spiegelt die Prozessualität der Form der Un-
terscheidung. Es ‚gibt’ keine Unterscheidungen, keine Hinweise: Unterscheidungen werden generiert, aufrechterhalten, verwendet, aber auch verändert oder
aufgelöst. Spencer Brown drückt diesen prozessualen Ansatz der Laws of Form
z.B. so aus: „[Olur understanding of such a universe comes not from discovering its present appearance, but in remembering what we originally did to bring it
about.” Hierin liegt das konstruktive Moment der Laws of Form, das den Text
für einen Grundtext der konstruktivistischen Philosophie’ und auch der kon-
struktivistisch-systemischen Therapie und Beratung geeignet macht. Es ,gibt’
keine Neurosen und auch keine Krankheiten. Vielmehr werden ständig Unter-
scheidungshandlungen oder -prozesse ausgeführt, die Zustände wie z.B. sogenannte Neurosen generieren oder aufrechterhalten, aber eben auch verändern oder auflösen können. Der Blick wendet sich unter einer solchen Perspektive Vgl. dazu ausführlicher II. Kontexte der Laws of Form.
9
LoF:104. Vgl. auch den Kommentar zum ersten Kapitel.
Vgl. IV.C Philosophie.
IV.F Praxis der Unterscheidung
29]
auf die konkreten alltäglichen Unterscheidungshandlungen von Individuen oder von impliziten und expliziten Regeln in Institutionen, die Unterscheidungshandlungen steuern. (7) Durch diesen prozessualen Ansatz wird vor die Unterscheidung zwischen
einer subjektiven und einer objektiven Wirklichkeit zurückgegangen. Die Form der (ersten) Unterscheidung in den Laws of Form ist weder die Beschreibung einer strukturellen Wirklichkeit noch die Konstruktion eines Subjektes oder eines Beobachters. Vielmehr sind Unterscheidungsprozesse selbst im Blick, durch die (bestimmte) Unterscheidungen, wie die zwischen Subjekt und Welt,
erst ermöglicht werden.'” In der Form der Unterscheidung konvergieren die Ebene
des Strukturellen und die Ebene
des Individuellen.
Spencer Brown
schreibt dazu: „At this stage the universe cannot be distinguished from how we act upon it ...”.'" Auch wenn es in der Psychotherapie und Beratung meist um
konkrete Unterscheidungen geht, kann eine Erinnerung an die Form der (ersten) Unterscheidung den Blick immer wieder weiten von den zweifellos wichtigen individuellen Verantwortlichkeiten und Wirkungsmöglichkeiten, die sich aus dem konstruktiven Ansatz mit Nachdruck ergeben, zu Prozessen der Unterscheidung selbst, die zwischen ‚uns’ und ‚dem was ist’ angesiedelt sind.
(8) Die Laws of Form sind für eine Praxis der Unterscheidung aber nicht nur
wegen
ihrer großen
Einfachheit
und
Formalität
geeignet.
Ein
theoretischer
Rahmen hat erst dann theoretische und praktische Kraft, wenn sein Grad an Differenziertheit nicht zu hoch ist, weil die Anwendbarkeit sonst nur auf be-
stimmte Phänomenbereiche eingeschränkt auch nicht zu niedrig ist, weil sonst viele transparent gemacht werden können. Es Komplexität, das die Möglichkeit für die Bereiche eröffnet.
ist und für andere nicht zutrifft, aber Phänomenbereiche nicht erfasst und geht um das rechte Maß an innerer Anwendung auf die verschiedensten
Die Form der Unterscheidung aus den Laws of Form hat ein hohes Maß an
innerer Komplexität, die in der Einfachheit der Grundform kondensiert ist. Der
einfachste mögliche Ausgangspunkt ‚Unterscheidung’ ist in sich selbst komplex. Es seien drei wesentliche Momente zusammengefasst:
a) Es werden nie Einheiten für sich betrachtet, sondern immer die ganze Form von ,etwas’: zwei Seiten, die Grenze, der Kontext, in dem die Seiten
unterschieden werden können. b) Damit ist die konstitutive Beziehung von Ereignissen, Begriffen, Wahr-
nehmungen auf den Kontext und auf die Funktion in diesem Kontext in den Grundlagen verankert.
c) Zur Unterscheidung gehört eine systematische Ambivalenz, die sich da-
durch entfaltet, dass der Prozess des Trennens und der Prozess des Verbin-
dens zusammengehören und durch einander entstehen. Dies zeigt sich be-
10
Vgl. den Kommentar zum zwölften Kapitel. LoF:xxix
292
Katrin Wille
sonders in der doppelten Funktion der Grenze, die sowohl eine trennende als auch eine verbindende Funktion erfüllt. Die Einsicht in die Kontextrelativität von Wahrnehmungen, Handlungen, Begriffen gehört zum konstruktivistischen Arbeiten. Transformationsprozesse von Individuen oder Institutionen gelingen erst dann, wenn die Kontexte, in denen
Unterscheidungen überhaupt erst möglich sind, einbezogen und oftmals verschoben werden. Die Grundfigur der systematischen Ambivalenz von Unter-
scheidungen findet sich in der konstruktivistisch-systemischen Therapie in ihren problematischen (z.B. in Batesons ‚double bind’-Theorie) und in ihren kreativen (z.B. Gunther Schmidts ,Ambivalenzcoaching’) Möglichkeiten.
(9) In den Zaws of Form kommt aber noch eine entscheidende Komplexi-
tätssteigerung hinzu, die sich aus der Form der Unterscheidung aufbaut. Durch eine Folge von Schritten, die ohne Ende fortsetzbar ist, kann eine dynamische Form erzeugt werden, in der ein Ausdruck in sich selbst wieder eintritt, somit in
sich selbst vorkommt. Diese dynamische Form, ‚Re-entry’ genannt, ist mit vielen Umschreibungen zu fassen versucht worden, z.B. Selbstreferenz, Rückkopp-
lung, Fraktalität, Zirkularität, Paradox. Die dynamische Form des ‚Re-entry’ hat von all diesen Phänomenen etwas und ist doch durch keines von ihnen vollständig bestimmbar, denn das ‚Re-entry’ ist in den Laws of Form eine formale Figur im erweiterten Kalkil'*, die interpretiert und gedeutet werden kann, die aber durch die Interpretationen immer nur in Teilaspekten sichtbar wird. Keine Inter-
pretation kann eine formale Figur in dem ‚was sie ist’ zum Ausdruck bringen,
denn Interpretation, Deutung, Anwendung und Form bleiben immer auf verschiedenen Ebenen.
Der eine Grundtyp des ‚Re-entry’ (in der Gleichung El ausgedrückt'”) kann
als Entstehung eines sich-selbst-bestätigenden Kreislaufs gedeutet werden. Auf solchen sich-selbst-bestätigenden Kreisläufen liegt in der konstruktivistischsystemischen Psychotherapie und Beratung besondere Aufmerksamkeit. Durch Watzlawicks ‚self-fulfilling prophecies’ ist diese Struktur in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Ein anderer Grundtyp des ‚Re-entry’
(in der Gleichung E3
ausgedrückt)
kann als Möglichkeit der Rahmenerweiterung durch Widersprüche gedeutet
werden. Durch Unterscheidungen können Situationen entstehen, in denen eine Seite ‚in die andere kippt’, in manchen Fällen in sein Gegenteil und zurück. Dieses Hin- und Herkippen selbst kann zu einem neuen dritten Zustand gemacht werden, durch den der ursprüngliche Rahmen der Unterscheidung erweitert
wird. Solche Rahmenerweiterungen sind ein zentrales Mittel bei der Begleitung
2
13
Genauer gesagt gibt es drei verschiedene formale Grundtypen des ‚Re-entry’. Vgl. den Kommentar zum elften Kapitel.
Vgl. für diesen und den zweiten Grundtyp den Kommentar zum elften Kaptel.
IV.F Praxis der Unterscheidung
293
von Veränderungsprozessen, die Unterscheidungsprozesse zu erweitern und neu
zu betrachten erlauben.'*
2. Praxis als Knoten: Ronald Laing Nach den Angaben von Ronald Laing in dem Gesprächsband Mad to be normal kam Spencer Brown 1968/69 zu therapeutischen Sitzungen in Laings Praxis.
Spencer Brown gab ihm zum Ausgleich Stunden in Mathematik.'” Darin ging es
unter anderem um Zahlentheorie und um Spencer Browns eigenes System (den
Indikationenkalkül der Laws of Form). Spencer Brown wandte sein System aber auch auf Laings Themen an und legte eine Reihe von ,Knoten’ in zwischenmenschlichen Beziehungen offen, die er in die Operationen zerlegte, die darin enthalten sind. Laing schreibt, dass er selbst davon angeregt eine populäre Version einiger dieser Hintergründe in dem Buch The Politics of the Family darge-
stellt habe, damit eng verbunden sei das Buch Knots. Während The Politics of
the Family eine Sammlung von Vorträgen ist, hat Laing mit Knots eine literari-
sche Gestalt zwischen Erfahrung und Formalität gewählt, um Strukturen zwischenmenschlicher Beziehungen aufzuzeigen.
Ein Vergleich mit früheren Texten Laings, wie z.B. dem bekannten Text The Politics of Experience (dt. Phänomenologie der Erfahrung) von 1967 zeigt, welche zusätzlichen Figuren durch die Arbeit mit Spencer Brown zu dem An-
satz Laings hinzugekommen sind. Charakteristisch für The Politics of Experience ist die Betonung des Primats der Erfahrung: „Einzig Erfahrung ist evident.
Erfahrung ist die einzige Evidenz.“'® Außerdem liegt die Aufmerksamkeit auf Beziehungsgefügen und auf der Interdependenz, so dass das Untersuchungsob-
jekt in theoretischer und therapeutischer Arbeit immer ein soziales System sein muss und nicht ein extrapoliertes Individuum. Dazu kommt die von Sartre inspi-
rierte gedankliche Auseinandersetzung mit der Negation als wesentliches Mo-
ment von Beziehungen. An einigen Stellen wird die Suche nach angemessenen
Begriffen deutlich, die der Erfahrung nicht entgegenlaufen. In der Beschäftigung mit schizophrener Erfahrung wählt Laing die Beschreibungsform einer Reise in den inneren Raum, für die die Unterscheidung zwischen aktiv und passiv nicht mehr zutrifft, und die zu einem Gebiet im Inneren führt, das in der Moderne weitgehend unerforscht geblieben ist, so dass es kaum kompetente Begleiter gibt. Viele dieser Motive haben die Arbeit Spencer Browns beein14
?
Vgl. zu einer Pragmatik der Unterscheidung, Wille 2007b.
Mullan 1995:295-296. In seiner Autobiographie Weisheit, Wahnsinn, Torheit heißt es auch
dazu: „Erst als ich zwanzig Jahre später einen der größten Mathematiker der Welt, David George Spencer-Brown, kennenlernte, wurde mir klar, dass meine Fragen von damals [als Schüler der 5. Klasse im Mathematikunterricht] genau zu der Sorte von Fragen gehören, die wahrhaft mathematisch sind... Die Fähigkeit, das, was als selbstverständlich gilt, ehrlich nicht zu begreifen, ist der Anfang wissenschaftlicher oder philosophischer Klugheit.“, Laing 1987:79.
1° Laing 1969:12
294
Katrin Wille
flusst, umgekehrt können wir aber auch die Spuren Spencer Browns in Laings Werken von 1969 und 1970 entdecken. In Knots sind Strukturen menschlicher Interaktionen vorgeführt, die sich wie
ein Gewebe immer weiter verflechten, bis unentwirrbare Knoten entstehen. Die
Darstellung der ,Knotengeschehen’ zeigt die Operationen, die auf Operationen
angewendet werden, die in sich selbst wieder eintreten und unendlich oft wie-
derholt werden können. Einige dieser Textstücke wirken wie eine zugleich lite-
rarische und psychologische Umsetzung einer Dimension der Figur des ,Reentry’, nämlich der, die zu immer unentwirrbareren Verwirrungen zu führen
scheint. Z.B.:
Jill und Jack wollen beide gewollt werden. Jill will Jack, weil er gewollt werden will Jack will Jill, weil sie gewollt werden will. Jill will, dass Jack will * dass Jill will dass Jack will, dass sie will dafür dass er will, dass sie will, dass Jack will, dass Jill will dass Jack will dass Jill will, dass Jack will, dass sie will dafür dass er will dass sie will, dass Jack will*
* wiederhole sine fine!’ Im fünften Teil von Knots werden Themen aufgenommen, die an den thematischen Kontext der Laws of Form erinnern: Unterscheidungen als vom ,Geist’ erschaffen, Spiel mit der Unterscheidung zwischen Innen und Außen und Über-
schreitungen und Wiederüberschreitungen von Innen nach Außen und Außen nach Innen, der Zusammenhang zwischen Form und Formlosigkeit und Leere
und sogar an einer Stelle der Einsatz eines leeren Raums. Diese Themen, die in Knots literarisch umgesetzt sind, sind in dem Band The Politics of the Family in einem diskursiven Vortragsstil verarbeitet. Dort äußert
Laing den Anspruch, den Umriss einer noch nicht existierenden systematischen Theorie und Methodologie für (Familien-)Interaktionen zu liefern. Der Begriff
der Unterscheidung ist zum Grundbegriff geworden, wir lesen zum Beispiel in dem Kapitel ‚Operationen’: IT
Laing 1970:55
IV.F Praxis der Unterscheidung
295
„Wir konstruieren das Gegebene vermittels Unterscheidungen, und wir halten uns dabei an Regeln. ... Unsere Erfahrung ist ein Produkt, geformt nach einem Rezept, nach einem Set von Regeln, die bestimmen, was für Unterscheidungen wann, wo und worüber zu machen sind. Regeln
sind selbst Unterscheidungen in Aktion. ... Eine unserer fundamentalen Unterscheidungen ist
innerhalb-auBerhalb.““
Genauer als in den vorherigen Texten untersucht Laing die Operationen, durch die Unterscheidungen getroffen und aufrecht erhalten werden und analysiert die Teiloperationen, die als verschiedene in unseren Bewertungen und Zuschreibungen von psychischen Zuständen nicht mehr sichtbar sind. Sein besonderes
Interesse gilt den Prozessen, die dazu führen, dass Operationen als Operationen nicht mehr sichtbar sind, sondern wie Realitäten scheinen, die eben so sind, wie sie sind und einfach abgebildet, ,diagnostiziert’ werden können. Dagegen betont Laing (auch mit Verweis auf amerikanische Geistesverwandte wie Bateson, Watzlawick oder Haley) mit Vehemenz, dass jede Beschreibung, Zuschreibung
und Beobachtung eine Einwirkung auf das beschriebene System ist. An vielen Beispielen menschlicher Interaktionen legt er die Teiloperationen auseinander, die entweder intendierte Spiele aufheben (z.B. das Spiel: ‚Wir sind eine glückliche Familie’ und die innerfamiliären Operationen, die das absichern
sollen
und
dadurch
aber
gerade
aufheben'”)
Intendiertes geradezu heraufbeschwören.
oder anders
herum
Nicht-
3. Praxis als Einstellung: Paul Watzlawick Paul Watzlawicks Beitrag zur Entwicklung der konstruktivistisch-systemischen
Psychotherapie und Beratung ist vor allem durch seine einprägsamen Lehrgeschichten über sich selbst nährende psychologische Kreisläufe allgemein bekannt geworden. Die Geschichten zeigen alltagsnah, wie sich durch Voreinstellungen die eigenen Wahrnehmungen und die eigenen Handlungen so organisie-
ren, dass die Voreinstellung Wirklichkeit wird. Watzlawick beschreibt diese sich aufbauenden Prozesse in vielen Varianten wie der berühmten Geschichte
mit dem Hammer oder der Geschichte von einem, der, je mehr er sich vor mög-
lichem Unglück hütete, durch sich häufende als Unglück gedeutete Ereignisse immer mehr Grund fand, sich zu hüten. Aus der oben entwickelten Perspektive
der Praxis der Unterscheidung betrachtet, ist Watzlawick ein Meister im Finden
von Alltagssituationen, die in den Deutungsrahmen des ersten Grundtyps des ‚Re-entry’ passen: die Entstehung eines selbstbestätigenden Kreislaufs durch
eine Unterscheidung (wie die Voreinstellung, dass das Leben gefährlich sei und 18 19
Laing 1979:82f. Vgl. Laing 1979:89. Laing erzählt in dem Gesprächsband Mad to be Normal, dass Spencer Brown sein logisches System z.B. auf die Vignette (kleine Fallgeschichte) der ,glücklichen Familie’ anwandte und zeigte, wie sich dies aus seinem System heraus aufhebt. Vgl. Mullan 1995:296.
296
Katrin Wille
man sich hüten müsse), die in sich selbst wieder und wieder eintritt (indem alle
Wahrnehmungen und Handlungen sich nach dem Muster dieser Unterscheidung,
also dieser Voreinstellung verhalten und verändern). Diese Dynamik kann erwiinschte oder unerwiinschte Effekte haben. Im Falle der unerwiinschten Effekte liegt die Lésung nach Watzlawick in einer Rahmenerweiterung der üblichen Entweder-Oder-Logik um einen dritten Wert. Genau hierfür verweist Watzlawick auf die Laws of Form, die mit dem ,Re-entry’ und dem imaginären Wert
neue theoretische und praktische Möglichkeiten eröffnet haben.” Aus der Perspektive der Praxis der Unterscheidung kann also die Deutung des zweiten
Grundtyps des ‚Re-entry’ eine Lösung für unerwünschte Effekte der Deutung des ersten Grundtyps darstellen.
4. Praxis als syntaktische Konstellation: Matthias Varga von Kibéd Die beiden ersten oben entwickelten Praxismomente der Laws of Form, die Einfachheit jenseits von Artefakten und die Formalität, sind charakteristisch für die praktische Arbeit von Matthias Varga von Kibed. Beides zeigt sich beson-
ders in der Arbeit mit einfachen Prozessschemata, wie z.B. dem ‚Tetralemma’. Dadurch können die Seiten von Unterscheidungen (welcher Art auch immer) in eine Konstellation gebracht werden, die die Beziehungsqualitäten der Seiten
zueinander wahrnehmbar macht. Häufig wird dabei bewusst von inhaltlicher, semantischer Information über die Bedeutung der beiden Seiten der Unterschei-
dung abgesehen, um die transformative Kraft der syntaktischen Ebene, der rei-
nen Beziehung zwischen den beiden Seiten zur Wirkung zu bringen. Die Arbeit
mit Inhalten (Semantik) verleitet dazu, die Aufmerksamkeit auf die Einzelmo-
mente zu richten und so ihre Form als Unterscheidung aus dem Blick zu verlieren. Die Konzentration auf die Syntax befreit die Aufmerksamkeit
von den
Einzelmomenten für die Beziehungen zwischen den Aspekten einer Unterscheidung. Der Ebene der Beziehungen wird durch das Verfahren des Konstellierens
(in der zusammen mit Insa Sparrer entwickelten ‚Systemischen Strukturaufstellungsarbeit’) ein besonders intensiver Wirkungsraum gegeben. Das Prozessschema des ‚Tetralemma’ sieht zudem verschiedene Rahmenerweiterungen für Unterscheidungen vor, die als Konkretisierungen und Verfeinerungen der Deutung des zweiten Grundtyps des ‚Re-entry’ aufgefasst werden
können.?'
5. Praxis als klinische Epistemologie: Fritz Simon Fritz Simon betont die Interdependenz zwischen theoretischen Modellen oder Erklärungsmustern auf der einen Seite und den Arten oder Möglichkeiten thera20 21
Vgl. Watzlawick 1985:231ff. sowie für die Lehrgeschichten Watzlawick 1994:37ff., 1988b:19. Vgl. Sparrer/ Varga 2003.
IV.F Praxis der Unterscheidung
297
peutischer oder beraterischer Intervention auf der anderen Seite, die er in vielfaltigen Analysen scharf herausarbeitet. In seiner ,klinischen Epistemologie’ entwickelt er aus einer Interpretation der Laws of Form zusammen mit system-
theoretischen Deutungen ein theoretisches, epistemisches Modell zusammen mit dessen klinischem Handlungsspielraum. Dabei liegt besonderes Gewicht auf den beiden Praxismomenten der Laws of Form, die oben als Prozessualität der Form der Unterscheidung und als angemessene Komplexität der Form bestimmt wor-
den sind. Denn diese ermöglichen die Analyse der generierenden Mechanismen
von Phänomenen. Zudem zeigt die Beschreibung der Beobachtungs- und Differenzschemata, wie theoretische und praktische Situationen entstehen, wie sie
aufrechterhalten werden und was ihre ,eingebauten’ Beschränkungen und ihre Möglichkeiten
sind. Die
Prozesse
des Aufrechterhaltens
vollziehen
sich als
selbstbestatigende Schleifen (hier greift Simon auf die Theorie der operationellen SchlieBung von Maturana/Varela zurück). Die therapeutischen oder beraterischen Interventionsmöglichkeiten (gesetzt
den Fall, dass es von einer Person oder von einer Institution einen Verände-
rungsauftrag gibt) liegen darin, diese sich selbst bestätigenden Schleifen durch
‚seltsame’, ,selbstverneinende’ oder ,paradoxe’ Schleifen zu stören, um verän-
derte Unterscheidungen generieren zu können. Therapeutische oder beraterische
Störung ermöglicht — aus der Perspektive der Praxis der Unterscheidung gespro-
chen 一 einen Übergang von einem ‚Re-entry’ des ersten Grundtyps über ein
‚Re-entry’ des zweiten Grundtyps zu neuen Unterscheidungen.”
6. Praxis als soziales Spiel mit der Form: Dirk Baecker Praxis heißt in der Arbeit von Dirk Baecker vor allem soziale Praxis und ist motiviert durch die Suche nach Entsprechungen zwischen Formen aus dem Kalkül der Zaws of Form und verschiedenen Spielarten sozialer Praxis, wie zum Beispiel der sozialen Praxis des Spiels oder der sozialen Praxis des Unterneh-
mens. Diese und andere soziale Praktiken analysiert Baecker als ‚Kopplungen’
von Operationen des Einschlusses von Handlungen, die durch den Ausschluss anderer Handlungen ermöglicht werden. Aus der Perspektive der Differenz der Unterscheidung verwendet Baecker die Momente der Komplexität der Form und hier vor allem die systematische Ambivalenz der Unterscheidung für die Analyse und Gestaltung sozialer Praktiken. In systemtheoretischer Interpretationstradition wird die Komplexität der Form erheblich angereichert durch die Unterscheidung von zwei Ebenen, die Ebene der Bezeichnung der Innenseite der Unterscheidung durch das und mit dem jeweiligen System (wie einem Unternehmen) und die Ebene der Bezeichnung der Außenseite durch eine/n Beobach16070. Über die Ebene der Beobachtung wird der Wiedereinschluss des Ausgeschlossenen möglich (die systemtheoretische Deutung des ‚Re-entry’), der not-
22
Vgl. Simon 1999 und 1993.
298
Katrin Wille
wendig und unmöglich zugleich scheint. Hier setzt für Baecker Unternehmens-
beratung ein.”
7. Praxis als Verkörperung: Francisco Varela Francisco Varela hat seine ‚praktische Wende’ wohl nicht mehr ausdrücklich im
Dialog mit den Laws of
Form vollzogen, zumindest finden sich in seinen Texten
zur ,Pragmatik menschlicher Wandlung’ so gut wie keine Bezüge auf Spencer
Brown. Aus der oben entwickelten Perspektive der Praxis der Unterscheidung
stimmen Varelas Arbeiten zum Mittleren Weg der Erkenntnis, zum Ethischen
Können und zur Entwicklung von Achtsamkeit (On Becoming Aware) mit entscheidenden Momenten der Praxis der Unterscheidung zusammen, wie dem des Verlernens von üblichen Unterscheidungsmustern durch eine Bewegung der Entleerung von Absichten und von der Idee des Selbst. Ziel ist kein Wissen über irgendetwas, sondern eine Art Einswerden des Wissens mit Erfahrung: Wissen
als Erfahrung. Varela beschreibt Wege der Übung für das Verlernen einer Un-
terscheidung, die die westliche Kultur in ihren Fundamenten prägt: die zwischen Körper und Geist. Nur dort, wo Wissen zu verkörpertem Können und zu leibli-
chem Handeln wird, kann Transformation stattfinden.“
8. Praxis als Übung Die Schlaglichter, die in diesem Kapitel auf verschiedene Anwendungen und Deutungen der Laws of Form Spencer Browns geworfen wurden, zeigen, dass die Laws of Form das, worüber sie sprechen, auch umzusetzen scheinen: sie wirken auf verschiedenste Interpretinnen wie eine Aufforderung, Themen und Phänomene ihrer Fachbereiche als Formen der Unterscheidung zu betrachten. In jedem der oben entwickelten neun Punkte einer Praxis der Unterscheidung (die sich entlang am Kommentar zu den Zaws of Form noch erheblich vermehren ließen) stecken Aufforderungen, das Sehen durch die Form der Unterscheidung zu üben. Dies gilt schon allein deshalb, weil die Form der Unterscheidung
ein Prozessgefüge ist, das jenseits der aktiven Verwendung, jenseits der Übung
keinen Bestand hat. Der Ausdruck Übung ist deshalb gewählt, weil in der Bedeutung von Übung zweierlei zusammengefasst ist: Üben meint zum einen
ausüben, vollziehen, in actu erleben, zum anderen verstehen wir unter Üben das
systematische Wiederholen, Trainieren und Sich-zu-eigen-machen. Kantisch gesprochen handelt es sich dabei um die Schulung der Urteilskraft zur erfolgreichen Anwendung der Theorie auf die Praxis.
23
24
Vgl. Baecker 1993c und 1999.
Vgl. Varela 1994 und 1995 und Depraz/ Varela/ Vermersch 2003.
IV.F Praxis der Unterscheidung
299
Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, diese Aufforderungen in eigenen U-
bungen umzusetzen — der/die LeserIn sei durch die Laws of Form aufgefordert, ihre theoretischen und praktischen Fragen in ihrer eigenen Form zu betrachten.
V. Literaturverzeichnis
Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektk. FaM: Suhrkamp Arsenijevic, Milos (1986): Prostor Vreme Zenon. Beograd/Zagreb: Biblioteke Filozofske Studije (Space Time Zeno. Analytical table of contents:463-89) Arsenijevic, Milos (1992): Eine aristotelische Logik der Intervalle, die Cantorsche Logik der Punkte und die physikalischen und kinematischen Prädikate IAI. Philosophia naturalis 29/2.161180/181-209 Atmanspacher, Harald/ Ruhnau, Eva (1997): Time, Temporality, Now. Experiencing Time and Concepts of Time m an Interdisciplinary Perspective. Berlin/Heidelberg: Springer Austin, John L. (1961/2002). Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam Badiou, Alain (2005): Das Sein und das Ereignis. Berlin: Diaphanes Badiou, Alain (2008): Wittgensteins Antiphilosophie. Berlin: Diaphanes Baecker, Dirk (Hrsg.) (1993a): Kalkül der Form. FaM: Suhrkamp Baecker, Dirk (Hrsg.) (1993b): Probleme der Form. FaM: Suhrkamp Baecker, Dirk (1993c): Das Spiel mit der Form. In: Baecker (1993b):148-158 Baecker, Dirk (1999): Die Form des Unternehmens FaM: Suhrkamp Baecker, Dirk (2002): Wozu Systeme? Berlin: Kulturvedag Kadmos Baecker, Dirk (2004): Wozu Soziologie? Berlin: Kulturvedag Kadmos Baecker, Dirk (2005): Form und Formen der Kommunikation. FaM: Suhrkamp Baecker, Dirk (Hrsg.) (2005): Schlüsselwerke der Systemtheorie. Wiesbaden: VS Verlag Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. FaM: Suhrkamp Baecker, Dirk (2008): Nie wieder Vernunft: Kleinere Beiträge zur Sozialkunde. Heidelberg: CarlAuer-Systeme Baecker, Dirk/ Kluge, Alexander (2003): Vom Nutzen ungelöster Probleme. Berlin: Merve Banaschewski, Bernhard (1977): On Spencer Brown’s Laws of Form. In: Notre Dame Journal of Formal Logic 18.507-509 Baraldi, Claudio/ Corsi, Giancarlo/ Esposito, Elena (1999): GLU Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. FaM: Suhrkamp Barney, Walter (1973): Who is G. Spencer Brown and where is that marvelous music coming from? In: Pacific Sun. September.6-12 Bateson, Gergory (1981): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. FaM: Suhrkamp Bateson, Gergory (1982): Geist und Natur. Eine notwendige Emheit. FaM: Suhrkamp Bateson, Gergory (1991): A sacred Unity. Further steps to an Ecology of Mind. San Francisco: Harper Collins Bateson, Gergory/ Bateson, Mary Catherine (1993): Wo Engel zögern. Unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen. FaM: Suhrkamp Beauvoir, Simone de (1968): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek: Rowohlt Beck, Andreas (2007): The Liar Lies and Snow Is White. A consistent theory of truth for semantically closed formal languages (A new solution to the Liar paradox). PhD thesis: http://www. informatik.uni-bremen.de/~till/Beck/
302
Thomas Hölscher
Beer, Stafford (1969): Maths Created. In: Nature 223. September 27.1392-1393 Blau, Ulrich (1990): Zur natürlichen Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien. In: Synthesis Philosophica 10.593-616 Blau, Ulrich (2004): Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien. Mskr. LMU München (erscheint) Blau, Ulrich (2008): Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren Boodberg, Peter A. (1957): Philological Notes on Chapter One of the Lao Tzu. In: Harvard Journal of Asiatic Studies 20.508-518 Boole, George (1854): An Investigation of the Laws of Thought. (Reprint 1951) London: Walton and Maberley Bortoft, Henri (1995): Goethes naturwissenschaftliche Methode. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben Bortoft, Henri (1996): The Wholeness of Nature. Goethe’s Way toward a Science of conscious participation in Nature. Hudson, NY: Lindisfarne Press Brady, Geraldine (2000): From Peirce to Skolem. A Neglected Chapter in the History of Logic. Amsterdam (u.a.): Elsevier Brandl Johannes/ Haller, Rudolf (Hrsg) (1989): Wittgenstein — eine Neubewertung. Akten des 14. Internationalen Wittgenstein-Symposiums in Kirchberg 1989.28-34 Brandom, Robert (2002a): The Significance of Complex Numbers for Frege’s Philosophy of Mathematics. In: Ders. (2002b):277-297 Brandom, Robert (2002b): Tales of the Mighty Dead. Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality. Cambridge/Ma.: Harvard Univ. Press Brandom, Robert (2008): Between Saying und Domg. Towards an Analytic Pragmatism, New York: Oxford University Press
Bricken, William (2002, updated 2004): The Advantages of Boundary Logic - A Common Sense
Approach, 6 Seiten: http://www. boundarymath. org/papers/BLogic-simplified. pdf Bricken, William (2006): The Mathematics of Boundaries: A Beginning / Syntactic Varieties in Boundary Logic. In: Barker-Plummer, Dave et al. (Eds.): Diagrams 2006, LNAI 4045, Berlin/Heidelberg: Springer:70-72/73-87 Brockman, John (1996): Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft. München: btb (Goldmann) Brücher, Gertrud (2002): Frieden als Form. Zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus. Opladen: Leske + Budrich Butler, Judith (1993/1997): Körper von Gewicht. FaM: Suhrkamp Calvino, Italo (1989): Ein Zeichen im Raum. In: Cosmicomics. München/Wien: Hanser:227-239 Chapple, Christopher (Hrsg.) (1985): Religious Experience and Scientific Paradigms. Proceedings of the 1982 IASWR Conference. New York: Stony Brook. Institute for Advanced Study of World Religions Clam, Jean (2000): System’s Sole Constituent, the Operation: Clarifying a Central Concept of Luhmannian Theory. In: Acta Sociologica2000.63-79 Clam, Jean (2002): Was heißt, sich an Differenz statt an Identität orientieren? Zur Deontologisierung in Philosophie und Sozialwissenschaften. Konstanz: UVK Close, Edward R. (2000): Transcendental Physics. San José/New York u.a.: toExcel Conway, John Horton (1976): On Numbers and Games. London: Academic Press Conze, Edward (1962): Buddhist Thought in India. Three Phases of Buddhist Philosophy. London: University of Michigan Press
Literaturverzeichnis
303
Corfield, David (2003): Towards a Philosophy of Real Mathematics. Cambridge: Cambridge University Press Cull, Paul/ Frank, William (1979): Flaws of Form. In: International Journal of General Systems §.201-211 Dath, Dietmar (2002a): Das Rechenzentrum der Avantgarde. Die Literaten- und Mathematikergruppen Alamo, Oulipo und Bourbaki sind Quellen dichterischer Kalküle. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung /89.56 Dath, Dietmar (2002b): Der Verschollene. Alexander Grotendieck, einer der bedeutendsten modernen Mathematiker, lebt seit 1975 fern der Welt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 97.54 Dath, Dietmar (2002c): Ob Sonne oder Regen, er war gewiß dagegen. Polemiker aus mathematischem Gewissen: René Thom. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 261.40-42 Dath, Dietmar (2003a): Aber was tut Gott? Wie aus sprachphilosophischer Entrüstung der Ansatz zu einem neuen Verständnis der Welt entsprungen ist: Die mathematische Kategorientheorie lehrt das Machen, nicht die Sachen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung /272.41-43 Dath, Dietmar (2003b): Eine Begegnung am Rand von John H. Conways Welt der surrealen Zahlen: Spiel mir das Links vom Rechts. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung /164.40 Dath, Dietmar (2003c): David Corfield revolutioniert die Philosophie der Mathematik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung /256.L12 Dath, Dietmar (2003d): Höhenrausch. Die Mathematik des XX. Jahrhunderts in zwanzig Gehirnen. FaM: Eichborn-Verlag Dawkins, Richard (2008): Geschichten vom Ursprung des Lebens. Eine Zeitreise auf Darwins Spuren. Berlin: Ullstein Deleuze, Gilles (1988): Spinoza. Praktische Philosophie. Berlin: Merve Deleuze, Gilles (2007): Differenz und Wiederholung. München: Fink
Depraz, Natalie/ Marquet, Jean-Francois (Hrsg.) (2000): La gnose, une question philosophique.
Paris: Ed. du Cerf Depraz, Natalie/ Varela, Francisco/ Vermersch, Pierre (2003): On Becoming Aware: A pragmatics of experiencing. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins B.V. Derrida, Jaques (1967): La différance. Paris: Gallimard Descartes, René (1955): Die Prinzipien der Philosophie. Hamburg: Meiner Dewey, John (2002): Logik. Die Theorie der Forschung. FaM: Suhrkamp Dupuy, Jean-Pierre/ Varela, Francisco (1991): Kreative Zirkelschlüsse: Zum Verständnis der Ursprünge. In: Watzlawick et al. (Hrsg.) (1991):247-275 Duyvendak, Jan-Julius-Lodewyk (1987): Tao Te King — Le livre de la Voie et de la Vertue. Paris: Maisonneuve Edmonds, James D. Jr. (1978): Hypercomplex Number Approach to the Laws of Form and Logic. In: Speculations in Science and Technology 1-3.245-251 Egidy, Holm v. (2004): Beobachtung der Wirklichkeit. Differenztheorie und die zwei Wahrheiten in der buddhistischen Madhyamika-Philosophie. Heidelberg: CarkAuer Systeme Elberfeld, Rolf (2004): Phanomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, Stuttgart: Fromman-Holzboog Emlein, Günther (1999): Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen. In: SEMA 1.54-65 Emrich, Johannes (2004): Die Logik des Unendlichen. Rechtfertigungsversuche des tertium non datur in der Theorie des mathematischen Kontinuums. Berlin: Logos Engstrom, Jack (1994): Natural Numbers and Finite Sets derived form G. Spencer-Brown's Laws of Form. Unpublished Master’s Thesis. Maharishi University of Management. Fairfield/lowa Engstrom, Jack (1999): G. Spencer-Brown’s Laws of Form as a revolutionary, unifying notation. In: Semiotica 125.1-3.33-45
304
Thomas Hölscher
Engstrom, Jack (2001): C.S. Peirce's Precursors to Laws of Form. In: Cybernetics and Human Knowing 8.1-2.25-66 Erkes, Eduard (1950): Ho-Shang-Kung’s Commentary on Lao-Tse. Ascona: Artibus Asiae Fischer, Eugen/ Vossenkuhl, Wilhelm (Hrsg.) (2003): Die Fragen der Philosophie. Eine Einführung in Disziplmen und Epochen. München: C.H Beck Foerster, Heinz v. (1969): Die Gesetze der Form (Rezension). In: Baecker (1993a).- Engl. The Whole Earth Catalog, Spring 1969.14 (auch in Lilly (1976)) Foerster, Heinz v. (1981): Observing Systems. Seaside, Cal.: Intersystems Publ. Foerster, Heinz v. (1985): Sicht und Einsicht: Versuche zu emer operativen Erkenntnistheorie (dt
Übersetzung von Foerster 1981). Braunschweig: Vieweg
Foerster, Heinz v. (1993): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke.
FaM: Suhrkamp
Foerster, Heinz v. (1997): Abbau und Aufbau. In: Simon (1997):32-51 Foerster, Heinz v. (2003a): Understanding understanding. Essays on cybernetics and cognition. New York: Springer Foerster, Heinz v. (2003b): For Niklas Luhmann: How Recursive is Communication?. In: Ders. (2003a):305-324 Foerster, Heinz v./ Bricker, Monika (2002): Teil der Welt. Heidelberg: CarkAuer-Systeme Gardner, Martin (1969): Mathematical Games. In: Scientific American 200.2.110-114 Gell-Man, Murray (1994): Das Quark und der Jaguar. Vom Einfachen zum Komplexen - Die Suche nach einer neuen Erklärung der Welt. München: Piper Glanville, Ranulph (1988): Objekte. Berlin: Merve Glanville, Ranulph/ Varela, Francisco (1981): Your Inside is out and your outside is in. In: G.E. Lasker (Hrsg.) International Congress on Applied Systems Research and Cybernetics 6.638-64 1 Glasersfeld, Ernst v. (1997): Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. FaM: Suhrkamp Glymour, Clark (1992): Thinking Things Through. An Introduction to Philosophical Issues and Achievements. Cambridge/MA: MIT Press Gould, William E. (1977): Review of Laws of Form. In: Journal of Symbolic Logic 42.317-318 Gumbrecht, Hans Ulrich/ Pfeiffer, Ludwig K. (Hrsg.) (1988): Materialitat der Kommunikation. FaM: Suhrkamp Ginzel, Stephan (2005): "Wir nehmen die Form der Unterscheidung fir die Form." Eine umfassende Einführung in die legendären "Laws of Form" George Spencer-Browns. Literaturkritik.de "Nr.5, Mai 2005” Philosophie Hagen, Wolfgang (Hrsg.) (2004): „Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann?“ Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann. Berlin: Kulturverlag Kadmos Halmos, Paul R. (1972): Naive Mengenlehre. Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht
Halmos, Paul R. and Givant, S.R. (1998): Logic as Algebra. New York: Mathematical Association
of America Harries-Jones, Peter (1995): A Recursive Vision. Ecological Understanding and Gregory Bateson. Toronto: Univ. of Toronto Press Hegel, Georg W. F. (1986/2): Jenaer Schriften 1801-1807. Werke 2. FaM: Suhrkamp Hegel, Georg W.F. (1986/3). Phänomenologie des Geistes. Werke 3. FaM: Suhrkamp Heidegger, Martin (1957): Identit& und Differenz. Stuttgart: Klett-Kotta Hennig, Boris (2000): Luhmann und die Formale Mathematik. In: Merz-Benz, Peter-Ulrich/ Wagner, Gerhard (Hrsg.) (2000):157-198 Herbst, David (1993): What happens when we make a distinction. An elementary introduction to cogenetic logic. In: Cybernetics and Human Knowing 2.1.29-38 Heylighen, Frances (1989a) (Hrsg.): Self-Steering and cognition in complex Systems. New York: Gordon and Breach
Literaturverzeichnis
305
Heylighen, Frances (1989b): Autonomy and Cognition as the Maintenance and Processing of Distinctions. In: Heylighen 1990:89-106 Heylighen, Frances (1989c): Causality as Distinction Conservation. In: Cybernetics and Systems 20.361-384 Heylighen, Frances (1990): Representation and Change. Gent: Communication & Cognition Heylighen, Frances (1990a): Non-Rational Cognitive Processes as Changes of Distinction. In: Communication & Cognition 23.2-3.165-181 Heylighen, Frances (1997): Distinction. Vgl.: http://pespme1.vub.ac.be/DISTINCT. html Hintikka, Jaako (2004): Analyses of Aristotle. Doordrecht: Kluwer Hoering, W. (1957): Frege und die Schaltalgebra. In: Archiv für math. Logik und Grundlagenforschung 3.1-2.124-126 Höffe, Ottfried (Hrsg.) (2006): John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Reihe "Klassiker auslegen". Berlin: Akademieverlag Horl, Erich (2005): Die heiligen Kanäle. Über die archaische Illusion der Kommunikation. ZürichBerlin: Diaphanes Howe, Richard Herbert/ Foerster v. Heinz (1975): Introductory comments to Francisco Varela’s Calculus for Self-Reference. In: International Journal of General Systems 2.1-3 Hoy, Waren (Hrsg.) (1999): Realitätstypen. Freiburg/München: Alber Huntington, Edward V. (1904): Sets of independent Postulates for the Algebra of Logic. In: Transaction ofthe American Mathematical Society 5.288-309 Huntington, Edward V. (1913): A Set of five independent Postulates for Boolean Algebras, with Application to logical Constants. In: Transaction of the American Mathematical Society 14.481488 Huntington, Edward V. (1933): Boolean Algebra. A Correction. In: Transaction of the American Mathematical Society 35.557-58,971 Irigaray, Lucy (1977): Le sex qui n’est pas un. Paris: Minuit James, Jeffrey M. (1993): A Calculus of Number Based on Spatial Forms (Master of Science in Engineering, University of Washington) Jaquette, Dale (2002): On Boole. Belmont/CA: Wadsworth Jaquette, Dale (Hrsg.) (2002): A Companion to Philosophical Logic. Malden/Mass.: Blackwell Jullien, François (2000a): Strategien des Sinns in China und Griechenland. Wien: Passagen-Verlag Jullien, François (2000b): Das grosse Bild hat keine Form, oder: Wie das Unsagbare andeuten. In: Jullien (2000a):273-301 Junge, Kay (1993): Medien als Selbstreferenzunterbrecher. In: Baecker, Dirk (Hrsg.) (1993a):112151 Kaehr, Rudolf (1980): Neue Tendenzen in der KI-Forschung: Metakritische Untersuchungen über den Stellenwert der Logik in der neueren Künstlichen-Intelligenz-Forschung. Berlin: Stiftung Warentest Kaehr, Rudolf (1993): Disseminatorik: Zur Logik der „Second Order Cybernetics“. Von den „Gesetzen der Form“ zur Logik der Reflexionsform. In: Baecker, Dirk (Hrsg.) (1993a):152-196 Kalinke, Viktor (Hrsg.) (2000): Studien zu Laozi Daodejing. Bd. 1: Eine Wiedergabe seines Deutungsspektrums, Text und Übersetzung nebst Zeichenlexikon und Konkordanz; Bd. 2: Eine Erkundung seines Deutungsspektrums. Anmerkungen und Kommentare nach Kapiteln geordnet. Leipzig: Edition Erata Kant, Immanuel (1781/1787). Kritik der reinen Vernunft. Akademie-Ausgabe Bde. IV und III Berlin: Akademie der Wissenschaften Kauffman, Louis H. (1977): Reviews of the Laws of Form. In: Mathematical Reviews 54.701-702 Kauffman, Louis H. (1978): Network Synthesis and Varela’s Calculus. In: International Journal of General Systems 4.179-187
306
Thomas Hölscher
Kauffman, Louis H. (1981): Letter to the Editor. In: International Journal of General Systems 7.253256 Kauffman, Louis H. (1985a): On the Form of Self-Reference. In: Banathy (Hrsg.): Systems Inquiring: Theory, Philosophy, Methodology, 1: Seaside, Cal.: Intersystems Publ 206-210 Kauffman, Louis H. (1985b): Sign and Space. In: Chapple (Hrsg.) (1985):118-164 Kauffman, Louis H. (1986): Map Reformulation London/Zürich: princelet Kauffman, Louis H. (1987a): Imaginary Values in Mathematical Logic. In: Proceedings of the Seventeenth international Conference on Multiple Valued Logic. Boston MA. IEEE Computer Society Press:282-289
Kauffman, Louis H. (1987b): Self-reference and recursive forms. In: Journal of Social and Biologi-
cal Structure 10.53-72 Kauffman, Louis H. (1991): On the Cybernetics of Fixed Points. In: Cybemetics and Human Knowing 8.1-2.133-40 Kauffman, Louis H. (1994): Ways of the Game - Play and Position Play. In: Cybernetics and Human Knowing 2.3.17-34 Kauffman, Louis H. (1995a): Appendix 1-4. In: Singer, Milton (Hrsg.) (1995): A Tale of Two Amateurs Who Crossed Cultural Frontiers with Boole’s ,Symbolical Algebra’. Semiotica 105.12.145-167 Kauffman, Louis H. (1995b): Arithmetic in the Form. In: Cybemetics and Systems. An International Journal 26. 1-57 Kauffman, Louis H. (1995c): Knoten. Diagramme, Zustandsmodelle, Polynomvarianten. Heidel-
berg/ Berlin/Oxford: Spektrum Akademischer Verlag
Kauffman, Louis H. (1996): Virtual Logic. In: Systems Research 13.3.293-310 Kauffman, Louis H. (1997a): Virtual Logic — Fixed Points and Paradoxes. In: Cybernetics and Human Knowing 4.1 (Internetausgabe. 1-4)
Kauffman, Louis H. (1997b): Virtual Logic 一 Boolean Algebra, Computer Proofs and Human
Proofs. In: Cybernetics and Human Knowing 42-3 (Internetausgabe. 1-6) Kauffman, Louis H. (1997c): Virtual Logic - The Gremlin and the Self. In: Cybernetics and Human Knowing 4.4 (Internetausgabe. 1-9) Kauffman, Louis H. (1998a): Virtual Logic — The Calculus of Indication. In: Cybernetics and Human Knowing, 5.1.63-68 Kauffman, Louis H. (1998b): Virtual Logic — Self-Reference and the Calculus of Indications. In: Cybernetics and Human Knowing 5.2.75-82 Kauffman, Louis H. (1998c): Virtual Logic — Symbolic Logic and The Calculus of Indications. In: Cybernetics and Human Knowing 5.3.63-70 Kauffman, Louis H. (1998d): Virtual Logic — The Smullyan Machine. In: Cybernetics and Human Knowing 5.4.71-80 Kauffman, Louis H. (1999a): Virtual Logic — The Flagg Resolution. In: Cybernetics and Human Knowing 6.1.87-96 Kauffman, Louis H. (1999b): Virtual Logic: The Matrix. In: Cybernetics and Human Knowing 6.3 (Internetausgabe.1-6) Kauffman, Louis H. (1999c): Virtual Logic - The MetaGame Paradox. In: Cybernetics and Human Knowing 6.4.73-79 Kauffman, Louis H. (2000a): Box Algebra, Boundary Arithmetics, Logic and Laws of Form. In: www2.math.uic.edu/-kauffman/Arithmetic.htm. Kauffman, Louis H. (2000b): Virtual Logic — Formal Arithmetic. In: Cybernetics and Human Knowing 7.4.91-95 Kauffman, Louis H. (2000c): Virtual Logic — Infinitesimals and Zero Numbers. In: Cybernetics and Human Knowing 7.1.83-90
Literaturverzeichnis
307
Kauffman, Louis H. (20000): What is a Number? In: www.math.uic.edu/~kauffman/NUM. html Kauffman, Louis H. (2001a): On the Cybernetics of Fixed Points. In: Cybernetics and Human Knowing 8.1-2.133-140 Kauffman, Louis H. (2001b): The Mathematics of Charles Sanders Peirce. In: Cybernetics and Human Knowing 8.1-2.79-110 Kauffman, Louis H. (2001c): Virtual Logic — Reasoning and Playing with Imaginary Boolean Values. In: Cybernetics and Human Knowing 8.77-85 Kauffman, Louis H. (2001d): Virtual Logic — The Key to Frege. In: Cybernetics and Human Knowing 8.4.75-86 Kauffman, Louis H. (2002a): Laws of Form and Form Dynamics. In: Cybernetics and Human Knowing 9.2.49-63 Kauffman, Louis H. (2002b): Time, Imaginary Value, Paradox, Sign and Space. In: AIP Conference Proceedings 627.1.146-159 Kauffman, Louis H. (2003a): Virtual Logic - Thoughts about Set Theory. In: Cybernetics and Human Knowing 10.2.89-98 Kauffman, Louis H. (2003b): Eigenforms — Objects as Tokens for Eigenbehaviors. In: Cybernetics and Human Knowing 10.3-4.73-89 Kauffman, Louis H. (2004a): Virtual Logic — Fragments of the Void — Selecta In: Cybernetics and Human Knowing 11.1.99-107 Kauffman, Louis H. (2004b): Laws of Form - An Exploration in Mathematics and Foundations. Rough Draft (165 Seiten). http://www.math.uic.edu/~kaufiman/Laws.pdf Kauffman, Louis H. (2004c): We Take the Form of Distinction for the Form, Dec 30, 2004. Review of Laws of Form: Amazon.com
Kauffman,
Louis
H.
(2006):
Re:
G.
Spencer-Brown
RH
"proof":
follow-up,
6
Sep
2006:http://sci.tech-archive.net/Archive/sci.math.research/2006-09/msg0003 1 .htm Kauffman, Louis H./ Varela, Francisco (1980): Form Dynamics. In: Journal of Social and Biological Structure 3.171-206 Kauffman, Louis H./ Brier, Soren (eds. (2001): Sonderheft ‘Peirce and Spencer-Brown: History and Synergetics in Cybersemiotics'. In: Cybernetics & Human Knowing 8.1-2. Kauffmann, Louis H./ Sabelli, Hector (2002): Mathematical Bios: Creative Organisation Beyond Chaos. In: Kybernetes. The International Journal of Systems and Cybernetics, Vol. 31, Issue
9/10, 1418-28 und http://www.math.uic.edu/~kaufiman/BIOS. pdf Keeney, Bradford (1985): Asthetik des Wandels. Hamburg: Isko
Keys, James (1970): 23 Degrees of Paradise. Cambridge: Cat Books Keys, James (1971): Only two can play this game. New York: Julian Press. Kimmerle, Heinz (2000): Philosophien der Differenz. Eine Einführung. Würzburg: Königshausen & Neumann Kleinert, Ernst (2002): Beiträge zu einer Philosophie der Mathematik. Leipzig: Leipziger Univ.Verl.
Knapp, Gudrun-Axeli/ Wetterer, Angelika (Hrsg.) (2003): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheo-
rie und feministische Kritik IT, Münster: Westfälisches Dampfboot Kohout, Ladislav J./ Pinkava, Vaclav (1980): The Algebraic Structure of the Spencer Brown and Varela Calculi. In: International Joumal of General Systems 6.155-171
Krämer, Sybille (1988): Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem
Abriß. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Krämer, Sybille (1998): Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form? In: Rechtshistorisches Journal 17.558-573
Krämer, Sybille (2006): Leerstellen-Produktivität: Über die mathematische Null und den zentralper-
spektivischen Fluchtpunkt. Ein Beitrag zu Konvergenzen zwischen Wissenschaft und Kunst in
308
Thomas Hölscher
der frühen Neuzeit. In: Schramm, Helmar/ Schwarte, Ludger/ Lazardzig, Jan (Hrsg.): Instrumente in Wissenschaft und Kunst. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, Berlin/New York: de Gruyter: 502-526 Kull, Andreas (1997): Self-Reference and Time According to Spencer-Brown. In: Atmanspacher et al. (1997):71-80 Kutschera, Franz v./ Breitkopf, Alfred (1985): Einführung in die moderne Logik. Freiburg, München: Karl Alber Laing, Ronald (1967): The Politics of Experience. The Bird of Paradise. New York: Pantheon Books Laing, Ronald (1969): Phänomenologie der Erfahrung. FaM: Suhrkamp Laing, Ronald (1972): Knoten. engl. 1970. Reinbek: Rowohlt Laing, Ronald (1979): Die Politk der Familie. engl. 1969. Reinbek: Rowohlt Laing, Ronald (1987): Weisheit, Wahnsinn, Torheit. Der Werdegang eines Psychiaters 1927-1957. Köln: Kiepenheuer & Witsch Lau, Felix (1999): Die Logik des Radikalen Konstruktivismus. Eine Untersuchung zu den Laws of Form von George Spencer-Brown. In: Philosophisches Seminar der Universitat Hamburg. Hamburg: Hausarbeit Lau, Felix (2005): Die Form der Paradoxie. Ein Einführung in die Mathematik und Philosophie der "Laws of Form" von G. Spencer Brown. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme
Lehmann, Harry (2006): Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Asthetik nach Luhmann. München: Fink
Lehmann, Maren (2002): Das Medium der Form - Versuch über die Möglichkeiten, George Spencer-Browns Kalkül der "Gesetze der Form" als Medientheorie zu lesen. In: Brauns, Jörg (Hrsg.): Form und Medium. Weimar: VDG,39-56 Lenzen, Wolfgang (2004): Calculus Universalis. Studien zur Logik von G.W. Leibniz. Paderborn: mentis Lilly, John/ Lilly, Antonietta (1976a): The Dyadic Cyclone. New York: Simon and Schuster Lilly John/ Lilly, Antonietta (1976b): Esalen and the AUM Conference. In: Lilly, John (1976a): 176-192 Link, Godehard (2001): Collegium Logicum. Logische Grundlagen der Philosophie Mskr. LMU München (Druck in Vorbereitung) Link, Godehard/ Niebergall, Karl-Georg (2003): Logik: Von Epimenides zu Gödel. In: Fischer et al. (2003):107-132 Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. FaM: Suhrkamp Luhmann, Niklas (1986): Membership and Motives in Social Systems. In: System Research 13.3.341-348 Luhmann, Niklas (1987a): Archimedes und wir. Berlin: Merve Luhmann, Niklas (1987b): Distinctions directrices. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27.145-161 Luhmann, Niklas (1988b): Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie. In: Merkur 42.292-300 Luhmann, Niklas (1990a): Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag
Luhmann, Niklas (1990b): Die Wissenschaft der Gesellschaft. FaM: Suhrkamp
Luhmann, Niklas (1991): Wie lassen sich latente Strukturen beobachten? In: Watzlawick, P. et al. (Hrsg.) (1991): Das Auge des Betrachters. München: Piper:61-74 Luhmann, Niklas (1993a): Die Paradoxie der Form. In: Baecker (1993a):197-212 Luhmann, Niklas (1993b): Zeichen als Form. In: Baecker (1993b):45-69 Luhmann, Niklas (1995): Why Systems Theory? In: Cybernetis and Human Knowing 3.2 (Internetausgabe.1-10)
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. FaM: Suhrkamp
Luhmann, Niklas (2000): Die Religion der Gesellschaft.
FaM: Suhrkamp
Literaturverzeichnis
309
Luhmann, Niklas (2001a): Aufsätze und Reden. Hg.v. Jahraus, Oliver. Stuttgart: Reclam Luhmann, Niklas (2001b): Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung. In: Luhmann (2001a) Luhmann, Niklas (2003): Frauen, Männer und George Spencer Brown, in: Pasero, Ursula/ Weinbach, Christine (Hrsg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. FaM, 1562 (zuerst erschienen 1988 in: Zeitschrift für Soziologie 1747-71) Luhmann, Niklas (20047): Einführung in die Systemtheorie. Hg.v. Baecker, Dirk. Heidelberg: CarlAuer-Systeme Lütkehaus, Ludger (2003): Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst. FaM: Zweitausendeins
Luhmann, Niklas (2008): Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. v. Niels Werber. FaM: Suhrkamp
Lyotard, Jean-Francois (1986): Le Differend. Paris: Minuit Lyre, Holger (1988): Quantentheorie der Information. Wien: Springer Lyre, Holger (1999): Zur apriorischen Begründbarkeit von Information. In: Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.) Die Zukunft des Wissens. Konstanz: UVK:59-66 Lyre, Holger (2002): Informationstheorie. Eine philosophisch-naturwissenschaftliche Einführung. München: Fink Macy, Joanna (1991): Mutual Causality in Buddhism and General Systems Theory. New York: State University of New York Press Mall, Linnart (1968): Une Approche Possible du Sunyavada. In Quel, Tel Quel 32.54-62 Mahler, Enrico (2001): Die Form der Paradoxie. Logische und andere Noten über eine Form der
Kommunikation. pdf-Datei http://www.fen.ch/texte/gast mahler_paradoxie.pdf
Mann, Christian (1993): A universe comes into being. In: Acta Analytica 10.93-120 Maturana, Humberto (2002): Autopoiesis, Structural Coupling and Cognition: A history of these and other notions in the biology of cognition. In: Cybernetics and Human Knowing 9.3-4.5-34 Maturana, Humberto/ Varela, Francesco (1987): Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Bern, Miinchen: Scherz Matzka, Rudolf (1994): Semiotic Abstractions in the Theories of Gotthard Günther and George Spencer-Brown. In: Acta Analytica 10.121-128 Mazumdar, Pravu (2008): Der archäologische Zirkel. Zur Ontologie der Sprache in Michel Foucaults Geschichte des Wissens. Bielefeld: transcript McCulloch, Warren S. (2000): Verkörperungen des Geistes. Wien/NewYork: Springer Meguire, Philip (2003): Discovering Boundary Algebra: A Simplified Notation for Boolean Algebra and Truth Functors. International Journal of General Systems 32.25-87 Meguire, Philip (2007): Revision. http://www.lawsofform.org/does/Meguire_LoF .pdf Meguire, Philip (2008): Laws of Form. Wikipedia, the free encyclopedia, 17 Seiten (mehrere Revisionen, last modified on August 8, 2008) Meixner, Uwe (1998): Negative Theology, Coincidentia Oppositorum, and Boolean Algebra. In: Neven, Albert/ Meixner, Uwe (Hrsg.): Philosophiegeschichte und Logische Analyse 1. Paderborn: Schöningh.75-89 Merz-Benz, Peter-Ulrich/ Wagner, Gerhard (Hrsg.) (2000): Die Logik der Systeme zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmams. Konstanz: UVK Meyer, Matthias (2004): Zur Theoriefahigkeit wirtschaftlichen Wandels — Invarianzen und theoretische Unterscheidungen. In: Erwägen Wissen Ethik (ehemals Ethik und Sozialwissenschaften), 1, 15,89-92 Moller, Hans-Georg (2000): Die philosophischste Philosophie. Feng Youlans Neue Metaphysik.opera sinologica 6. Wiesbaden: Harrassowitz Moller, Hans-Georg (2006): Luhmann Explained. From Souls to Systems. Chicago and La Salle, Illinois: Open Court Mullan, Bob (1995): Mad to be Normal. Conversations with R.D. Laing. London: Free Association Books Limited London
310
Thomas Hölscher
Minster, Amo (1987): Philosophisches Journal. Von Sartre bis Derrida. FaM: Athenäum
Muth, Andreas (2006): Die Leere von der Form. Spencer-Browns Formtheorie fir Anfanger (zu
Lau). IASLonline: http://www. iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1665 Orchard, Robert A. (1975): On the Laws of Form. In: International Journal of General Systems 2.99106 Ostermann, Alexander/ Staubmann, Helmut (2008): Rezension von Schönwälder-
Kuntze/Wille/Holscher und Lau). Osterreichische Zeitschrift fir Soziologie 1, 2008
Packard, Stephan (2006): Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Gottingen: Wallstein Parsons, Denys/ Spencer-Brown, George (2002): The Directory of Tunes and Musical Themes, by Denys Parsons in collaboration with George Spencer-Brown. Lübeck: Bohmeier (International Edition.- Erstausg. London 1975) Pasero, Ursula/ Weinbach, Christine (Hrsg.) (2003): Frauen, Manner, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. FaM: Suhrkamp Patsalides, Axelle und André (1980a): Le Sujet et le Paradoxe. Pour introduire une logique sans vérité. In: Cahiers Litura no.1, juillet 1980.2 Patsalides, Axelles und André (1980b): Les Lois de la Forme. Pour introduire une sémantique sans vérité. In: Ornicar? Analytica 27 Pickard, Richard H. (2005): Lecture notes from a series given by George Spencer Brown in 1963
(über Material von/für Laws of Form): http://www.tooke-picarel.co.uk/LoF/ Popper, Karl R. (1975): Über Wolken und Uhren. In: Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionä-
rer Entwurf. Hamburg: Hoffmann und Campe:230-82 Putnam, Hilary/ Ketner, Kenneth Laine (2002): Einleitung und Kommentar zu: Charles S. Peirce. Das Denken und die Logik des Universums. Hg. von Kenneth Laine Ketner. FaM: Suhrkamp: 16-148 Quine, Willard Van Orman (1975): Ontologische Relativitat und andere Schriften. Stuttgart: Reclam Rasch, William/ White, Carry (eds. (2000): Observing Complexity. Systems Theory and Postmodernity. Minneapolis/London: University of Minnesota Press Rawls, John (2006, Neuauflage): Eine Theorie der Gerechtigkeit. FaM: Suhrkamp Reisinger, Peter (1998): N. Luhmanns Paradoxie und ein Blick auf Hegel. In: Gloy, Karen u.a. (Hrsg.) (1998): Systemtheorie. Philosophische Betrachtungen ihrer Anwendungen. Bonn: Bouvier:129-144 Reisinger, Peter (1999): Kalkülisieren oder Denken? In: Hoy (Hrsg.) (1999):88-108 Remmert, Reinhold (1964): Zahlen. In: Fischer Lexikon Mathematik 1. FaM: Fischer Robertson, Robin (1999): Some-thing from No-thing: G. Spencer-Brown’s Laws of Form. In: Cybernetics and Human Knowing 6.4.43-55 Rotman, Brian (2000): Die Null und das Nichts. Zur Semiotik des Nullpunkts. Berlin: Kadmos (orig. 1987 Signifying Nothing. Basingstoke: McMillan) Runte, Annette (1994): Die „Frau ohne Eigenschaften“ oder Niklas Luhmanns systemtheoretische Beobachtung der Geschlechter-Differenz. In: Wobbe, Theresa/ Lindemann, Gesa (Hrsg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, FaM: Suhrkamp: 297322 Sartre, Jean-Paul (1994): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek: Rowohlt
Schiltz, Michael (2007): Space Is the Place: The Zaws of Form and Social Systems. Thesis Eleven, Number 88,8-30 Schiltz, Michael/ Verschraegen, Gert (2002): Spencer-Brown, Luhmann and Autology. In: Cybernetics and Human Knowing 9.3-4.55-78
Literaturverzeichnis
311
Schönwälder-Kuntze, Tatjana (2007): Freiheit als Norm? Eine Untersuchung zur Theoriebildung in der Moderne. (Habilitationsschrift; Veröffentlichung in Vorbereitung) Schönwälder-Kuntze, Tatjana (2008): „Die Form der Unterscheidung und ihr Potential zur Erfassung
von Problemsituationen’ in: SEM | Radar, 7. Jg. 01/2008,143-163
Schönwälder-Kuntze, Tatjana/ Heel, Sabine/ Wendel, Claudia/ Wille, Katrin (Hrsg.) (2003): Störfall Gender. Grenzdiskussionen in und zwischen den Wissenschaften. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Schönwälder-Kuntze, Tatjana/ Wille, Katrin (2003a): Methodologische Überlegungen zur Konstruktion von Differenzen nach G. Spencer Brown. In: Schönwälder-Kuntze et al. (2003):117-129
Schönwälder-Kuntze, Tatjana (2001): Authentische Freiheit. Zur Begründung einer Ethik nach
Sartre. FaM: Campus Schulte, Günter (1993): Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie. Frankfurt/ New York: Campus Schwartz, Daniel G. (1980): Isomorphisms of Spencer-Brown’s Laws of Form and Varela’s Calculus for Self-Reference. In: International Journal of General Systems 6.239-255
Scott, Bernard (1996): Second-order Cybernetics as Cognitive Methodology. In: Systems Research
13.3.393-406 Seifart, Manfred/ Beikirch, Helmut (1998): Digitale Schaltungen. Berlin: Verlag Technik Shannon, Claude E. (1938): A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits. In: Transactions of the American Institute of Electrical Engineers 57.713ff. Shannon, Claude E. (2000): Ein/Aus (aus/ein - 0/1). Ausgewählte Schriften zur Kommunikationsund Nachrichtentheorie. Hg. v. Kittler, Friedrich - Berz, Peter - Roch, Axel. Berlin: Brinkmann + Bose
Sheffer, Henry Maurice (1933b): New Sets of Independent Postulates for the Algebra of Logic, with
special Reference to Whitehead and Russell’s Principia Mathematica. In: Transaction of the American Mathematical Society 35.274-304 Simon, Fritz B. (1993a): Das Problem der Selbstreferenz menschlicher Erkenntnis. In: Baecker (1993a):52-78 Simon, Fritz B. (1993b): Die andere Seite der Krankhet. In: Baecker (1993b):266-289 Simon, Fritz B. (Hrsg.) (1997): Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. FaM: Suhrkamp Simon, Fritz B. (1999): Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie: Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik. FaM: Suhrkamp (Erste Auflage 1988 bei Springer) Simon, Fritz B. (2006): Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Heidelberg: Carl-AuerSysteme Sparrer, Insa/ Varga v. Kibéd, Matthias (2003): Ganz im Gegenteil. TetraEmmaarbeit und andere Formen systemischer Strukturaufstellungen für Querdenker - und solche, die es werden wollen. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme
Spencer Brown, George (1953): Statistical significance in psychical research. In: Nature 172.154-
156,594-595 Spencer Brown, Longmans Spencer Brown, Spencer Brown Spencer Brown Spencer Brown, York: Julian Spencer Brown
George (1957): Probability and Scientific Inference. London/New York/Toronto: George (1969): Laws of Form. London: Allen & Unwin als James Keys (1970): 23 Degrees of Paradise. Cambridge: Cat Books als James Keys (1971): Only two can play this game. New York: Julian Press. George (1972): Laws of Form (amerikanische Ausgabe mit neuem Vorwort). New Press (1973): The George Spencer-Brown AUM Conference. Esalen/CA: Esalen Institute
312
Thomas Hölscher
(http://www.lawsofform.org/aum/sessionl.html - dsgl. für session 2-4)) Spencer-Brown, George (1979): Laws of Form (mit neuem Vorwart). New York: Dutton Spencer Brown, George (1993): Self reference, distinction and time. In: Teoria Sociologica I/2.4753 Spencer-Brown, George (1994a): Dieses Spiel geht nur zu zweit. Lübeck: Bohmeier Spencer-Brown, George (1994b): Laws of Form. Portland: Cognizer Co. Spencer-Brown, George (1995): A Lion’s Teeth. Löwenzähne. Lübeck: Bchmeier Spencer-Brown, George (1996): Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft. Heidelberg: Carl-Auer Spencer-Brown, George (1997): Laws of Form. Gesetze der Form. Lübeck: Bohmeier Spencer-Brown, George (2002): The Directory of Tunes and Musical Themes. Zusammen mit Parsons (2002) Spencer-Brown, George (2004a): Laws of Form. Gesetze der Form. Lübeck: Bohmeier Spencer-Brown, George (2004b): Autobiography. Volume 1: Infancy and childhood. Leipzig: Bohmeier Spencer-Brown, George (2008): Laws of Form (erweiterte engl. Neuausg., mit neuem Vorwort). Leipzig: Bohmeier Spencer-Brown, George (angekündigt): The Life of Sir Richard de Vere. In: Volume 1 — Infancy and Childhood. Libeck: Bohmeier Spencer Brown als Richard Leroy (angekündigt): Animals of Change (Projected 12 volumes of verse) Stegmüller, Wolfgang/ Varga v. Kibéd, Matthias (1984): Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Theorie. Band III. Strukturtypen der Logik. Berlin, Heidelberg, Tokio, New York: Springer Stekeler-Weithofer, Pirmin (1986): Grundprobleme der Logik. Elemente einer Kritik der formalen Vernunft. Berlin u.a.: de Gruyter Stekeler-Weithofer, Pirmin (1995): Sinn-Kriterien. Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie von Platon bis Wittgenstein. München/Paderborn: Schöningh Stekeler-Weithofer, Pirmin (2008): Formen der Anschauung. Eine Philosophie der Mathematik. Berlin: De Gruyter Streng, Frederick (1967): Emptiness. A Study in Religious Meaning. Nashville: Abingdon Press Taraba, Sylvia (2005): Das Spiel, das nur zu zweit geht. Die seltsame Schleife von Sex und Logik. Band. 1: Logik. Eine Logologik der "Gesetze der Form" von George Spencer Brown. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Thomas, I. (1971): Review of Brown, G. Spencer: Laws of Form. In: Zentralblatt fur Mathematik 207.7 Thyssen, Ole (1995): Interview with Professor Niklas Luhmann. In: Cybemetics and Human Knowing 3.2 (Internetausgabe.1-4) Thyssen, Ole (2004): Luhmann and Epistemology. In: Cybernetics and Human Knowing 11.1.7-22 Tumey, Peter (1986): Laws of Form and Finite Automata. In: International Journal of General Systems 12.307-318 Ulé, Andrej (2007): Circles of Analysis: Logic, Mind, and Science. Minster: LIT Verlag Varela, Francisco J. (1975): Calculus for Self-Reference. In: International Journal of General Systems.2.5-24 Varela, Francisco J. (1979a): The Extended Calculus of Indications interpreted as a three-valued logic. In: Notre Dame Journal of Fomal Logic 20.1.141-146 Varela, Francisco J. (1979b): Principles of biological autonomy. New York: Elsevier North Holland Varela, Francisco J. (1985): Der kreative Zirkel. Skizzen zur Naturgeschichte der Rückbezüglichkeit. In: Watzlawick (1985):294-30 Varela, Francisco J. (1994): Ethisches Können. Frankfurt a.M./New York: Campus
Literaturverzeichnis
313
Varela, Francisco J. (1997): Erkenntnis und Leben. In: Simon (1997):52-68 Varela, Francisco J. (2000): Pour une Phénoménologie de la Sunyata. In: Depraz et al. (Hrsg.) (2000): 120-145 Varela, Francisco J./ Goguen, Joseph (1978): The Arithmetic of Closure. In: Journal of Cybernetics.8.291-324. Varela, Francisco J./ Thompson, Eva/ Rosch, Eleanor (1995): Der mittlere Weg der Erkenntnis. Der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung. München: Goldmann Varga v. Kibéd, Matthias (1989a): Semantische Aspekte von Negation und Selbstreferenz. In: Acta Analytica 4.99-123 Varga v. Kibéd, Matthias (1989b): Wittgenstem und Spencer Brown. In: Weingartner et al. (1989):402-406. Varga v. Kibéd, Matthias (1990a): Aspekte der Negation in der buddhistischen und formalen Logik. In: Synthesis Philosophica 10.581-592 Varga v. Kibéd, Matthias (1990b): Zur formalen Rekonstruktion der allgemeinen Wahrheitsfunktion in Wittgenstems Tractatus. In: Brandl et al. (Hrsg) (1989):28-34 Varga v. Kibéd, Matthias (1998): Die gemeinsame Form von Zeichen, Unterscheidung und Paradoxien (Tonkassette). Münsterschwarzach: Vier Türme Varga v. Kibéd, Matthias/ Matzka, Rudolf (1993): Motive und Grundgedanken der „Gesetze der Form“. In: Baecker (1993a):58-85. Wagner, Gerhard (2000): Der Kampf der Kontexturen im Superorganismus Gesellschaft. In: MerzBenz, Peter-Ulrich/ Wagner, Gerhard (Hrsg.) (2000):199-233 Waldenfels, Hans (1976): Absolutes Nichts. Freiburg/Breisgau: Herder Wallace, David Foster (2007): Georg Cantor. Der Jahrhundertmathematiker und die Endeckung des Unendlichen. München/Zürich: Piper Wang Pi (1979): Commentary on the Lao tzu. Translated by Ariane Rump in Collaboration with Wing-tsit Chan. Honululu: University Press of Hawaii Watts, Alan (1972): In my own Way. An Autobiography, 1915-1965. New York: Pantheon Watts, Alan (1976): Der Lauf des Wassers. Eine Einführung in den Taoismus. Weilheim: O.W. Barth Watzlawick, Paul (Hrsg.) (1985): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München: Piper Watzlawick, Paul (1988a): Verschreiben statt Verstehen als Technik von Problemlösungen. In: Gumbrecht et al. (Hrsg.) (1988):878-883 Watzlawick, Paul (1988b): Vom Schlechten des Guten oder Hekates Lösungen. München: Piper Watzlawick, Paul (1992): Einführung in den Konstruktivismus. München: Piper Watzlawick, Paul (1994): Anleitung zum Unglücklichsein. München: Piper Watzlawick, Paul (1995): Vom Unsinn des Sinns oder Vom Sinn des Unsinns. München: Piper Watzlawick, Paul/ Krieg, Peter (Hrsg.) (1991): Das Auge des Betrachters. Beitrage zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster. München/Zürich: Piper Weingartner, Paul/ Scurz Gerhard (Hrsg.) (1989): Philosophie der Naturwissenschaften. Akten des 13. Internationalen Wittgenstein Symposiums. Wien Weizsäcker, Carl Friedrich v. (1971): Sprache als Information. In: Die Einheit der Natur. Studien von C.F.v.W. München: Hanser:39-60 Weizsäcker, Carl-Friedrich v. (1977): Biologische Präliminarien der Logik. In: Ders. Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie. München: Hanser:294-314 Whitehead, Alfred N. (1897): A Treatise on Universal Algebra. Reprint New York 1960: Hafner Whitehead, Alfred N. (1943): Indication, Classes, Numbers, Validation. Mind 43 (n.s.), 281-297, 543 (Corrigenda)
314
Thomas Hölscher
Whitehead, Alfred N. (2001): Denkweisen. FaM: Suhrkamp Whitehead, Alfred N. / Russell, Bertrand (1994): Principia Mathematica. Vorwort und Einleitungen. FaM: Suhrkamp Whyte, Lancelot Law (1972): Review of Spencer Brown, G: Laws of Form. In: British Journal of Philosophical Sciences 23.291-294 Wieser, Wolfgang (2007): Gehirn und Genom. Ein neues Drehbuch fir die Evolution. Minchen: Beck Wille, Katrin (2003): Systemdenken. System als Konstellation in Wittgensteins Tractatus und System als Konstitution in Hegels Seinslogik. München: Diss. Wille, Katrin (2007a): Gendering George Spencer Brown. Die Form der Unterscheidung und die Analyse von Unterscheidungsstrategien in der Genderforschung. In: Weinbach, Christine (Hrsg.): Geschlechtliche Ungleichhet in systemtheoretischer Perspektive. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften: 15-51 Wille, Katrin (2007b): Unterscheidungsgewohnheiten, Unterscheidungsstrukturen? Literarisch und philosophisch reflektiert. In: Hotz-Davies, Ingrid/ Schahadat, Schamma (Hrsg.): Ins Wort gesetzt, ins Bild gesetzt. Gender in Wissenschaft, Kunst und Literatur. Bielefeld: transcript:32-55 Wille, Katrin (2007c): Die Unhintergehbarkeit des Unterscheidens. Uber den Beitrag der "Sinn-
lichen Gewissheit" zum Gesamtprogramm der "Phänomenologie des Geistes". In: Synthesis philosophica 22:107-126
Wittgenstein, Ludwig (1986a): Tractatus logico-philosophicus. FaM: Suhrkamp
Wittgenstein, Ludwig (1986b): Philosophische Untersuchungen. FaM: Suhrkamp Wittgenstein, Ludwig (1991): Philosophische Bemerkungen. FaM: Suhrkamp Wolff, Michael (2005): Abhandlung über die Prinzipien der Logik. FaM: Klostermann Wolff, Michael (2006): Einführung in die Logik. München:Beck Wolfram, Stephen (20022): A New Kind of Science. Champaign/IIl: Wolfram media Inc. Wolfram, Stephen (2002b): Interview. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 115, 21. Mai 2002. V2/9 Wohlfart, Günter (20018): Dao — Weg ohne Weg. Konjekturen zur Übersetzung der Anfangspassage in Kapitel 1 des Daodejing. In: Der philosophische Daoismus. Philosophische Untersuchungen zu Grundbegriffen und komparative Studien mit besonderer Berücksichtigung des Laozi (Laotse). Köln: edition chora:27-54 Wohlfart, Günter (2001b): Wu (Nichts) — Zu Kapitel 11 des Daodejing. In: Der philosophische Daoismus. Philosophische Untersuchungen zu Grundbegriffen und komparative Studien mit besonderer Berücksichtigung des Laozi (Lao-tse). Köln: edition chora:55-80. Zink, Julia (2004): Kontinuum und Konstitution der Wirklichkeit. Analyse und Rekonstruktion des Peirce’schen Kontinuum-Gedankens. München: Univ. Diss.
VI. Register
Sachregister A agreement 125, 194 Algebra / algebras 18, 29, 31ff., 46, 49, 53-56, 58, 60ff., 88, 117, 122, 130-135, 138-141, 143, 145, 147, 151, 153f., 158-163, 165-168, 170ff., 174, 177f., 180, 183f., 211f, 214f., 218, 220ff., 225f., 232, 234, 259f., 269 - Boolean 180 Anfang 17, 23, 31, 38, 42, 45, 64ff., 93, 115, 157, 190, 198, 207, 232, 239, 246, 251, 255, 262f., 267, 270, 274, 293 Anweisung 11, 26, 51, 79, 83, 88, 90ff., 94, 96-99, 101, 106, 152, 175, 190, 229 Arithmetik /arithmetics 27, 29ff., 5155, 58, 60ff., 88, 120-123, 131, 133f., 138ff., 147ff., 152ff., 159163, 165-171, 174, 177ff., 190, 193, 216, 218, 225f., 260, 278 arrangement 51, 96, 106, 107-110, 114f., 122-125 Aspekte der Form 68, 72, 74, 89, 123, 288 Asymmetrie 234, 273, 275f., 280-283 Aufrechterhalten 76 Autopoiesis 227, 265 Axiom 31, 49, 80-83, 97, 102, 105, 114, 116, 118, 171ff., 181, 201f. 229, 244
B Beobachter 13, 26, 56, 69, 101, 197£., 235, 237, 239, 241f., 255, 263f., 266f. - Standpunkt des 256
Beobachtung 13, 43, 241, 256, 258, 261f., 264f., 268, 295, 297 u - Selbst- 237, 242 Bezeichnung 30, 32, 40, 58, 64, 69, 93, 98, 101, 104, 118, 122, 154, 159f., 180, 184, 200, 239, 278, 280f., 297 blank 102, 217 Boolean algebras 180 boundary 42, 71ff., 76, 78, 80, 82, 154f., 228, 234 Buddhismus 17, 37, 38, 65
C calculation 51, 59, 113, 117, 147, 217 calculus 30, 33, 37, 41, 53, 88, 117, 139, 160, 162, 170, 195f., 199, 202, 211f., 214f., 217, 228, 233, 258, 261, 268 - of indication 30, 33, 41, 160, 196, 214f., 228, 233, 261, 268 call 81, 82, 89, 117, 196 calling 15, 49, 57, 78-81, 100, 118, 201 cancellation 61, 97, 103f., 107, 116, 119, 202, 229 classification of theorems 121 Cleavage 83, 90, 151 closure 71, 224, 226 communion
34
complexity 27, 272 conditioned coproduction 41 confused with 196 consequence 40, 55, 117, 137, 142f., 146, 152, 160, 162f., 166, 168, 173, 214 content SOf. 55, 78, 89, 155ff., 160, 162, 178, 196, 222
316
Sachregister
continence 49, 69, 70ff., 107f., 182, 276 cross 37, .51ff., 78, 82f., 85, 1OSff., 109, 115ff., 122, 124f., 128f., 131, 134, 144ff., 152f., 158, 160, 167, 182f., 185f., 188, 200, 203, 217, 220, 224f., 229, 233f. -unwritten 109, 156, 160, 186, 234, 265 crossing 49, 72, 78, 80, 82, 84, LOOff., 106, 118, 181, 202, 229, 276
D Definition / definition 22, 48, 49, 69, 70ff., 74, 81, 85, 95, 107, 140, 276 degree 56, 174 demonstration 144, 160, 162f., 167f., 174, 178 description 33, 88, 287 desire to distinguish 195 Differenz 28, 35, 48, 61, 72, 77, 82, 84, 93f., 100, 105, 144, 225, 237, 244-248, 252, 255, 271, 285, 297 direction 114 distinction
expression 50, 96f., 103f., 107, 115, 143, 145, 198f., 241 simple 116, 119, 218
F Form der Unterscheidung 28-31, 34, 36, 42, 49f., 53, 6lf., 67ff., 73f., 76, 78ff., 82, 85f., 93, 98, 110, 113, 119, 121, 123, 130, 133f., 156ff., 167, 194, 195, 197f., 200ff., 204f., 215, 225, 237, 239, 240, 244, 246-249, 252, 255f., 273, 274-277, 282f., 285, 287f., 290ff., 297f. formal / formality 28, 30, 51, 62, 97, 113, 118-121, 129, 134f., 158, 188, 207, 213, 217f., 221, 224, 230, 260 Funktion / function 28, 32, 39, 41, 49, S2f., 57, 60, 73, 75, 77, 81, 83, 9OF., 95, 97, 103, 105f., 118, 121, 124, 131, 134, 138, 143, 155f., 160, 171, 173, 180, 183f., 186, 188f., 193, 198, 200f., 207, 225, 227, 229, 233, 239, 242, 244, 251ff., 264f., 269f., 277, 281f., 2911.
11, 43, 47, 50, 67ff., 71ff.,
76f., 88, 92-95, 152, 195, 197, 203f., 214, 227, 228, 232ff., 259, 261f., 264ff., 270 - first 33, 204, 227, 259, 261 ff. 269f. Dynamik 75, 88, 190ff., 224ff., 263, 267, 284, 296
E Echelon / echelon 59, 146, 175, 178, 187 Einfachheit 17, 20, 27, 28, 45, 101, 208, 227f., 258, 260, 268, 270, 274, 288f., 291, 296 engineering 24 equation 50, 103, 138, 143, 162f. equivalence 50, 60, 148, 215f. Erkenntnis 25, 35, 38, 238, 240f., 243, 250, 255, 298 existence 97, 222
G Gedichte 14 gender 251-254 Geschlechterunterscheidung 5, 208, 273ff., 282-285 Gleichungen 2. Grades 178 Grenze 27, 33, 49, 61, 71-75, 77ff., 82ff., 89f., 99-102, 105, 112, 116, 124, 154-159, 167, 174f., 181f., 184, 188, 223, 228, 233, 236, 252, 264, 276ff., 288f., 291f.
H Hinweis 20f., 33, 48f., 54, 57, 60ff., 67, 69, 73, 76-84, 95f., 102f., 105, 111ff., 115ff., 119, 122f., 128ff., 135, 138f., 145, 147f., 151ff., 163, 177, 195f., 198, 200-204, 235, 239, 260, 262, 277, 281
317
Sachregister
I Identität / identity 26, 43, 127, 136, 244ff., 248, 283 image 55, 155, 157, 160, 162, 178 imaginary 31, 56, 85, 180, 182 state 31, 56, 180 indication 42, 47, 67f., 73, 88, 95, 97, 204, 215, 261, 265, 279 indicator 198 Indikationenkalkül 17, 30, 35f., 42f., 88, 98, 103, 111, 167, 170, 180, 208, 224f., 293 Induktionsbeweis 56, 168f. Initial / initial 55, 117, 120, 141ff., 151, 162, 224 ff. Injunktion 34, 88f., 290 injunktiv 28 instruction 51, 78, 88, 99, 102, 105, 229 intent 50, 91 intention 78, 91ff., 101, 105, 111 interdisziplinär 6, 12, 237, 239, 256
Interpretation
6, 24, 26, 30, 35, 37, 55,
63, 100, 143, 183, 193, 198, 207, 212, 214f., 217f., 222f., 225, 229, 243, 275, 277, 280, 282f., 285, 292, 297 Invarianz/ invariance 129, 190, 227, 232 Iteration 59, 80, 145, 179, 190, 265
K Komplexität 20, 24, 28, 36, 60, 66, 101, 145, 176, 183, 197, 227f., 230, 257f., 260f., 268, 271, 291, 297 Kondensation 36, 97, 99, 103, 110 Konstanten 13, 29f., 136, 152 konstruktiv 87, 208, 261 Konstruktivismus 237f., 241, 254 konstruktivistisch 235, 243, 290, 292, 295 Kontext 11f., 22f., 36ff., 49, 61, 64, 68, 73ff., 81, 84, 89, 91, 95, 123, 134, 141, 159, 234, 255, 265, 277, 281, 283, 288, 291, 294
Koproduktion 16ff., 37, 41ff., 72f., 112 Kritik 12f., 23f., 172, 234, 238, 245, 249, 275, 289 Kybernetik 19, 223, 257
L laws 15, 27, 33, 41, 80ff., 118, 289 Leere 32, 37-41, 230, 289, 294 Logik 11f., 17, 21, 23ff., 30ff., 35, 38, 40, 45f., 55, 71, 87, 97, 104, 166, 168, 171, 173, 179f, 189, 196, 208, 211-216, 221ff., 225, 227f., 232ff., 238, 245, 258, 261ff., 269f., 274ff., 288, 296
M mark 92ff., 98, 106, 116, 122, 194, 200f., 203f., 2331. Markierung 28, 50, 90, 92ff., 98, 101ff., 105, 155f., 158, 198, 200- 204, 229, 231, 252 Mathematik / mathematics 11f., 17, 19, 20, 23f., 26f., 29, 32-35, 39, 45f., 92, 117, 140, 171, 180, 182, 193, 208, 211, 215, 223, 227f., 231, 242, 258-262, 269f., 288, 293 Môglichkeit 16, 18, 25, 30, 32f., 36f., 39f., 42, 45, 50, 52, S4f., 67f., 74-79, 82ff., 93ff., 97, 102f., 109f., 113, 116, 118, 122, 129, 132-137, 139, 145f., 152f., 161, 167, 172, 175f., 180f., 183f., 196, 207, 212, 216, 220, 227, 237, 249, 253, 277, 279, 283, 287, 291f. Motiv / motive 15, 77ff., 83f., 203, 224, 248, 252f., 263, 265, 273, 279
N Name / name 50f., 53, 57, 64f., 78-81, 85, 88, 94f., 98f., 101-106, 110f., 116f., 123, 125, 127, 129, 134f., 140, 146, 148, 153, 175, 196, 229f. 266, 281
318
Sachregister
Negation 32, 71, 221f., 232ff., 242, 246, 277, 280, 282ff., 293 Nichts / nothing 13, 16, 18, 37-40, 64ff., 105f., 135, 230, 247, 264, 281, 289 Notation 29, 33, 45, 87, 94f., 107f., 110f., 118, 183, 188, 190, 194, 196, 198, 214, 216-220, 229, 232f., 236, 256, 2811. number 30, 39, 59, 116, 123, 147, 151, 199, 211, 217, 220
recall 81f., 118 recross 82-85 Reduktion 19, 32, 40, 53, 55, 58, 101, 124, 153, 169, 217, 261 Reflexion / reflexion 47, 55, 144, 146, 154f., 157ff., 165, 245f., 248, 258, 287 rekursiv 138, 240f., 268 Relation 43, 58, 60, 106-109, 111, 122, 131, 134, 236, 240 Relationalität 38, 41, 43 rule of dominance 110, 129, 176, 178
O observer 194, 197ff., 204, occultation 145 Operation 41, 78, 99-102, 124, 167, 172, 184, 225, 276f., 279 Oszillation 31, 33, 59, 62,
229, 263 105f., 112, 230f., 182, 184f.
P Paradoxie / paradox 179, 193, 231, 233, 242, 248, 265, 271 Philosophie 5, 11f., 16, 21, 23, 38, 41, 43, 45, 199, 204, 208, 225, 235, 237, 239, 244f., 2471T., 263, 281, 288, 290 philosophisch 11, 19, 235, 238 possibility 27 possible 33, 41, 199 Praxis 13, 25f., 35, 106, 208, 232, 287f., 291, 293, 295-298 precursor 260, 263 Primäre Algebra 25, 29ff., 47, 131, 139f., 148, 162, 165, 170, 177, 213, 216, 226, 280 Primäre Arithmetik 28-31, 33, 47, S1f., 54, 56, 117, 120, 131, 133, 148, 162, 168, 170, 278, 280 primitive equation 51, 103 proof 160, 162, 211
R Realität
12, 15
S simple 116f., 119, 163, 218 simplicity 27 space 33, 73, 94f., 124, 129, 158, 164, 217
-empty
102, 264, 266
- indicative 181 state 51, 94, 178, 181f., 237, 267, 281 - imaginary 31, 56, 180 - marked 37, 41, 145, 160, 170, 178, 181f., 217f., 281 - unmarked 37, 41, 124, 128, 170, 178, 181f., 217f., 264ff., 268, 281 step 47, 51, 57-61, 113, 143, 147, 215 Strukturen 15, 26, 32f., 36, 60, 154, 162, 165, 190f., 273ff., 285, 2931. Subversion 187, 252
T Technik 11f., 23f., 223 time 33f., 65, 182, 269 token 90, 94ff., 98f., 102-105, 110, 122, 124, 133f., 158, 266 -empty 125 - of the mark 98, 102 truth 97, 190
U Ubersetzung 34, 36ff., 65, 69, 115,
144, 179, 195, 212f., 218, 221, 224
Unabhängigkeit 54, 56, 165, 171, 173
319
Sachregister
Unendlichkeit 157, 178, 183, 225f., 265 universe 27, 33, 41, 199, 241, 290f. unlearning 40, 289 Unterscheidung 13f., 16, 19, 21f., 2631, 33f., 36, 39, 41f., 47-52, 54, 56f., 59, 60ff., 67, 69-74, 76-81, 83ff., 87-90, 92-95, 98-101, 103f., 106, 110ff., 118, 120-123, 125, 129ff, 137, 139, 148, 151, 153, 155f., 159, 181ff., 190, 194-205, 207f., 215, 226, 228-232, 235, 237, 239, 242, 244, 248-256, 262, 267, 273-285, 287f., 290-298 -erste 33, 40, 89f., 92, 99, 101, 125, 208
V values SOf., 77f., 81f., 84, 158, 164, 196f., 203, 214, 279 - imaginary 56, 85, 182 Variablen / variables 29f., 53, 58ff., 122, 130-140, 145ff., 149-153, 161165, 168-171, 173f., 176-179, 181, 184, 187, 212, 214, 217f., 220 velocity 184 Verlernen 21, 34, 91, 298 Verstehen 34 void 39f., 97, 119, 131, 134, 138, 141, 145, 197f., 227f., 259, 264, 266 Vollständigkeit 54f., 165-168, 171, 208
W Wahrheit 13, 32, 37, 40, 177, 193, 218, 237, 244, 250, 256, 277 Wahrscheinlichkeitstheorie 12f. Wert 45, 57-60, 63, 72, 77ff., 81-85, 96f., 102, 105, 109ff., 114, 116, 118f., 122-131, 133-138, 144f., 147f., 150f., 158ff., 164, 167, 169f., 174-177, 179, 180-187, 193, 199, 201-204, 213, 218, 224-227, 248, 254, 279, 281, 284, 296
Wiedereintritt 178, 181, 183, 185, 188f., 194, 248, 267 Wiederholung 14, 31, 48, 56, S8f., 80-85, 102, 116ff., 127, 145f., 151f., 154, 157, 162, 174, 176, 201f., 244, 255, 265 Wissen 25f., 38, 92, 241, 290, 298 wissenschaftstheoretisch 239
Z Zeichen 28f. 32, 36, 39, 49-53, 56, 58, 64, 66, 68, 87, 90ff., 94-106, 108111, 118f., 121-124, 126ff., 130f., 135, 137f., 140f., 144, 148f., 172, 183, 188, 190, 194, 196-204, 207, 213, 216, 225f., 228ff., 235f., 239, 256, 278, 281f. Zeit 11f., 21, 33, 56, 62, 75, 82, 180183, 187, 191, 223, 225, 248, 260, 266, 269, 278, 280
Namensregister
A Adorno, Theodor W. Austin, John 244
248
B Badiou, Alain 271 Baecker, Dirk 20, 260, 267, 297f. Bateson, Gregory 18, 19, 267, 289, 295 Beauvoir de, Simone 251, 254 Beer, Stafford 18 Berkeley, George 238 Blake, William 14 Blau, Ulrich 231, 233, 270 Boole, George 23, 29 Brant, Stewart
18
Breitkopf, Alfred 212 Butler, Judith 252ff. C Cantor, Georg 271 Caramuel, Juan 131
Carnap, Rudolf 237
Caroll, Lewis 220 Chaucer, Geoffrey 14 Clam, Jean 237, 249 Cleary, Thomas 65 Close, Edward 260 Corfield, David 223 D Dath, Dietmar 223 Dawkins, Richard 270 Deleuze, Gilles 271
Depraz, Natalie 298
Derrida, Jacques 248 Descartes, Rene 27, 249f. Dewey, John 25
Dionysios Areopagita 34, 40
Duyvendak, Jan-Julius-Lodewyk 65 E Elberfeld, Rolf 38, 41, 65 Engstrom, Jack 95, 98 Erkes, Eduard 65
Esposito, Elena 20
F Fibonacci, Leonardo 190, 192, 268 Foerster von, Heinz 18ff. 234, 257, 259f., 266, 268 Foucault, Michel 252f., 271 G Gell-Man, Murray 257, 268, 272 Glanville, Ranulph 257 Glasersfeld von, Ernst 132, 239, 241 Goguen, Joseph 225 Giinther, Gotthard 257 H Hahn-Neurath, Olga 237 Hegel, Georg Friedrich Willhelm 71, 157, 244-247, 265, 281
Heidegger, Martin 248
Heisenberg, Werner 238, 241 Howe, Richard Herbert 234 Hume, David 238
321
Namensregister
Huntington, Edward V. 172f. I Idelson, I.V. 16 Irigaray, Luce 248 K Kant, Immanuel 238, 250 Kauffman, Louis H. 20, 27, 30, 39, 95, 100ff., 106, 172, 189, 1921., 211, 223, 225-232, 234, 258, 262, 265- 268 Keys, James 14 Kimmerle, Heinz 248 Kleinert, Ernst 223
Kluge, Alexander 260, 267
L
Lilly, John
18
38
Link, Godehard 31, 32, 168, 177, 184, 212 Lorenzen, Paul 238 Luhmann, Niklas 20, 75, 208, 237, 248, 257-274, 276-284 Lyotard, Jean-Francois 248 Lyre, Holger 223 M Mandelbrot, Benoit 192 Mann, Christian 14, 187, 208, 278, 284 Maturana, Humberto 19, 75, 297 Matzka, Rudolf 29, 71,214 Maurant 219 Mises, von, Richard Herbert 237 Mullan, Bob 293, 295 Miinster, Arno
244, 249
P Packard, Stephan 6, 46, 70, 118, 140 Peirce, Charles Sanders 21, 36, 95, 98, 100, 106, 142, 232
Piaget, Jean-Paul 238
Pisani, Piero 239 Platon 271 Pohner, Martin 65
Proklos 144 Putnam, Hilary 25
13f., 287, 293ff.
Lao-tse 64 Leibniz, Gottfried Wilhelm
6, 31f.,
Popper, Karl-Georg 237
Kramer, Sybille 30, 285 Kutschera, von Franz 212
Laing, Ronald
N Nassehi, Armin 20 Neurath, Otto 237 Nicod, Jean 100 Niebergall, Karl-Georg 123, 168, 177, 211f.
Q
Quine, Willard Van Orman
25
R Ramsey, Jay 65 Rawls, John 270 Remmert, Reinhold 24 Russell, Bertrand 16, 23, 32, 211, 242
S
Sartre, Jean-Paul 247f., 293 Schlick, Moritz 237 Schrédinger, Erwin 238 Schwartz, Daniel G. 225 Seifart, Manfred 187, 189 Sheffer, Henry Maurice 36, 106,
211 ff.
Simon, Fritz B.
16, 20, 24, 101,
296f. Smullyan, Raymond Sparrer, Insa 296
38
322
Spinoza, Baruch de 71
Stegmüller, Wolfgang 212f. Stolzenberg, Gabriel 242
V Varela, Francisco J. 19f., 75, 207, 223- 227, 229, 231, 234, 239, 240-243, 297f. Varga v. Kibéd ,Matthias 21, 212, 223, 231-234, 244 Varga v. Kibéd, Matthias 6, 21, 68, 71, 73, 232, 234, 296 Vermersch, Pierre 298 Vico, Giovanni 238 W Watts, Alan 18 Watzlawick, Paul 20, 239-242, 295f. Weizsäcker, von Carl Friedrich 25 Werber, Nils 264 Whitehead, Alfred North 32 Wiener, Norbert 237 Wittgenstein, Ludwig 21, 23, 33, 35, 91, 95f., 167, 179, 232, 237f., 244 Wohlfart, Günter 39f., 66 Wolfram, Stephen 223
Z Zilsel, Edgar 237
Namensregister
Angaben zu den AutorInnen
Thomas Hölscher, Dr. phil., geb. 14.10.44. Promotion in Kunstgeschichte über kunstgeschichtliche und philosophische Fragen zu Goya (1983). Mitarbeiter am
Zentrum Seniorenstudium der Ludwig-Maximilians-Universität München. Freie Forschungen zur Wechselbeziehung von Moderner Kunst, Medien, Philosophie und Logik.
Tatjana Schönwälder-Kuntze, PD Dr. phil., geb. 06.05.66. Promotion in Philosophie zu Sartres Ethik (2000) sowie Habilitation (2007) zur Theoriebildung in
der praktischen Philosophie der Moderne. Wissenschaftliche Assistentin an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der
Ludwig-Maximilians-Universität, München; Forschungen zu philosophischen Differenztheorien, zu Theoriebildungsstrategien und -genealogien in der Neuzeit und zu Diskursivierungen der Ethik.
Katrin Wille, Dr. phil., geb. 06.12.71. Promotion in Philosophie zum System-
begriff bei Hegel und Wittgenstein (2000). Akademische Rätin (auf Zeit) am
Lehrstuhl für praktische Philosophie, Institut für Philosophie der PhilippsUniversität Marburg. Arbeit an einer Theorie der Unterscheidung (Aristoteles,
Kant, Hegel, Luhmann) und Forschungen zur moralischen Urteilskraft in systematischer Weiterentwicklung der Ethik Immanuel Kants.