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German Pages 460 [464] Year 1995
Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive
Kasseler Semesterbücher Studia Cassellana
Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive Beiträge des Internationalen Georg Forster-Symposions in Kassel, 1. bis 4. April 1993 Herausgegeben im Auftrag der Georg Forster-Gesellschaft e.V. von Claus-Volker Klenke in Zusammenarbeit mit Jörn Garber und Dieter Heintze
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst Die Kasseler Semesterbücher werden vom Präsidenten der Universität Gesamthochschule Kassel (GhK) in zwei abwechselnd erscheinenden Reihen herausgegeben: In der Reihe „Pretiosa Cassellana" erscheinen wertvolle Publikationen der Gesamthochschul-Bibliothek, insbesondere Faksimiles kostbarer historischer Drucke und Handschriften. In der Reihe „Studia Cassellana" werden besondere wissenschaftlich und künstlerische Projekte aus den verschiedenen Bereichen der Universität aufgegriffen. Die Herausgabe der Kasseler Semesterbücher wird durch die Kreissparkasse Kassel ermöglicht, die diese Buchreihe großzügig unterstützt. Die GhK dankt der Kreissparkasse Kassel für ihren beispielhaften Beitrag zur Förderung von Kultur und Wissenschaft.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive : Beiträge des Internationalen Georg-Forster-Symposions in Kassel, 1. bis 4. April 1993 / hrsg. im Auftr. der GeorgForster-Gesellschaft e.V. von Claus-Volker Klenke. In Zusammenarbeit mit Jörn Garber und Dieter Heintze. [Beitr.: Ewert, Michael...]. - Berlin : Akad. Verl., 1994 ISBN 3-05-002614-6 NE: Klenke, Claus-Volker [Hrsg.]; Internationales Georg-Forster-Symposion
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1994 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.
Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Einbandgestaltung: Ralf Michaelis, unter Verwendung eines anonymen, zeitgenössischen Scherenschnitts Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort Claus -Volke r Klenke
IX
Grußbotschaft Ulrich Sonnemann f
XV
Geleitwort Gerhard Steiner
XVII
Lektüren - Perspektiven und Brüche einer Wirkungsgeschichte Georg Forsters Horizont Hindernis und Herausforderung für seine Rezeption Ludwig Uhlig
3
Rezeptionslinien? Forster-Rezeption bei Dilthey, Mehring und Nadler Helmut Peitsch
15
Die beiden Forster und die pazifische Wissenschaft Michael E. Hoare
29
Fahrten und Erfahrungen - Die Reise um die Welt Georg Forster auf der Osterinsel, 1774 Dieter Heintze
45
Die ethnographischen Sammlungen der Forsters aus dem Südpazifik Klassische Empirie im Dienste der modernen Ethnologie Adrienne L. Kaeppler
59
Georg Forster und William Hodges Zeugnisse einer gemeinsamen Reise um die Welt Rüdiger Joppien
77
Annäherungen Über Reisen und Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Wolf gang Griep
103
VI
Inhalt
Erkenntnispraxis und Erfahrungstheorie - Forster und die Philosophie der Aufklärung Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts Gedanken zu Forster, Herder und Kant Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
115
>Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne< Das wahrnehmende Subjekt und die Konstituierung von Wahrheit bei Forster Manuela Ribeiro Sanches
133
Rousseaus Kulturkritik aus der Sicht Georg Forsters Ulrich Kronauer
147
Anschauung und Klassifikation - Forsters naturgeschichtliche Forschungen >Scientia Naturae - Naturbetrachtung oder Naturwissenschaft?< Georg Forsters Erkenntnisfragen zu biologischen Phänomenen in VorlesungsManuskripten aus Wilna und Mainz (1786-1793) Ilse Jahn
159
Georg Forsters botanische Sammlungen und ihre Auswertung Gerhard Wagenitz
179
>Die Zeichen der Zukunft enträthseln< - Zwischen Mainz und Paris Anthropologie und Geschichte Spätaufklärerische Staats- und Geschichtsdeutung im Metaphernfeld von Mechanismus und Organismus Jörn Garber
193
Die Bedeutung Georg Forsters als Kulturvermittler im Zeitalter der Französischen Revolution Thomas Grosser
211
Forster und Frankreich, Frankreich und Forster Marita Gilli
255
Ansichten und Schreibweisen - Forsters Ästhetik Wahrnehmung und Konstruktion Elemente der Ästhetik Georg Forsters Gerhart Pickerodt
275
Bürgerliches Heldenporträt - Ein Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechts Georg Forsters Biographik Helmut Scheuer
287
Inhalt
VII
Ästhetische Erfahrung als schöpferischer Widerspruch Zu Georg Forsters Essay >Über die Humanität des Künstlers< Michael Ewert
307
Die >Wahrheit< in den >Bildern des Wirklichem Zur Funktion des Ästhetischen in Forsters Reisewerk Rotraut Fischer
317
Georg Forsters Rezeption der Antike oder Anmerkungen zur Affektstruktur des Zitats Stefan Goldmann
325 Appendices
Georg Forster-Bibliographie 1970-1993 Claus-Volker Klenke
341
Personen-, Orts-und Schriftenregister
417
Die Autorinnen und Autoren
433
Vorwort
Zweihundert Jahre nach Georg Forsters Tod zeigt sich, wie sehr auch das Erinnern eine Geschichte hat. Die Erinnerung an Forster, diesen weltreisenden Aufklärer, politisch denkenden Naturwissenschaftler, schreibenden Radikaldemokraten, erweist sich — in seinem Falle wird dies vielleicht deutlicher als in anderen — immer wieder als von Interessen und Rücksichten geprägt, von Brüchen und Dynamiken bestimmt, die mehr der jeweiligen Zeitgeschichte zuzurechnen sind als der Person, dem historischen Gegenstand, um den es geht. Nicht wenige der (im übrigen erstaunlich zahlreichen) Gedenkartikel zum Jahrestag seines Todes, dem 10. Januar 1994, besannen sich kritisch und mahnend eines Topos', der die Forsterrezeption über die letzten Jahrzehnte hin wie ein Leitthema durchzog und somit auch für die gegenwärtige Erinnerung kennzeichnend scheint: den vom >vergessenen< Forster, vom >verdrängten< deutschen Jakobiner. Ein Blick auf die wissenschaftlichen Publikationen muß da erstaunen: Allein die schiere Menge des über ihn Veröffentlichten läßt das Schlagwort vom Vergessenen korrekturbedürftig erscheinen. Allen Schwankungen oder Konjunkturen gesellschaftlicher Erinnerung und wissenschaftlicher Gedächtnisproduktion zum Trotz hat Georg Forster doch offenbar immer, vielleicht >gerade nochLandsleute< (die sie werden, indem sie ihn ausschließen) auf sein Engagement in der Mainzer Republik und für die Französische Revolution. Ihre volle Schärfe, d. h. die Zuspitzung auf Forsters Einbezug in oder Ausschluß aus der deutschen Tradition, gewinnt sie wohl erst nachträglich, im Prozeß nationaler Konsolidierung und mit der Diskussion um einen nationalen Literaturkanon.1 Dieser Streit scheint
1 Vgl. zu diesem Thema und der notwendigen Korrektur herkömmlich unterstellter Grundlinien der Auseinandersetzung den Beitrag von Helmut Peitsch in diesem Band.
X
Vorwort
der bis heute wohlbekannte zu sein; er steht aber zugleich exemplarisch und in seiner zeitspezifischen Form für eine wiederkehrende Struktur der Schwierigkeiten mit Forsterc einen Mangel an Eindeutigkeit und Definiertheit da, wo das Bedürfnis nach Identifizierung Abgeschlossenes und Verordenbares sucht. Sollten die Titel des »Revolutionärs« oder »Vaterlandsverräters« also nur Varianten (oder Kehrseiten) des Unentschlossenen sein, des Ruhelosen, Schwärmers, Irrenden oder welche Attribute man immer für ihn gefunden hat? Es wäre einen Versuch wert, in den durch zwei Jahrhunderte und eine ganze Reihe nationaler bzw. politischer Rezeptionskulturen hindurch seltsam divergierenden Kategorisierungsversuchen einmal — probend-essayistisch, wie Forster selbst schrieb2 — den Anspruch auf Einordenbarkeit zu untersuchen und so vielleicht das >Systematische< der historisch je gebotenen Ordnungskriterien sichtbar zu machen. Das, was eine solche >Geschichte der Erinnerung< im Vergangenen finden könnte, gilt für die Gegenwart kaum weniger: Historischen Umbrüchen korrespondieren, wie Freud schon beobachtete, regelmäßig »Umschriften« des Gedächtnisses. Hierzulande findet man sich — nach mehreren, oft katastrophalen solcher Schnitte in diesem Jahrhundert — zur Zeit einmal mehr in einer umschriftsintensiven Phase. Drohte die »deutsch-deutsche« Forsterrezeption über vier Jahrzehnte immer wieder zur Funktion eines untergründigen Dissenses zu geraten, auf wessen Konto die ohnedies nicht allzu zahlreichen demokratischen Traditionen in diesem Land gutzuschreiben seien, so lassen sich angesichts der veränderten nationalen Lage gegenwärtig erneut Anzeichen dafür finden, daß in Forsters politischer Biographie Parallelen zu unverarbeiteten Problemen der deutschen Geschichte gesucht werden. Die Erfahrung, wie in der um die DDR-Vergangenheit und die Teilungsgeschichte entbrannten Debatte bisher mit historischen Vergleichen umgegangen wurde — in der Regel reicht der Blick da gerade 50 Jahre zurück, ohne zu sehen, daß er innerhalb dessen blieb, was es zu erklären galt —, läßt wenig Gutes erwarten. Die Möglichkeit dafür, bei der Suche nach historischen >Lehrbeispielen< bis ins späte 18. Jahrhundert zurückgreifen zu können, liegt in der kaum strittigen Tatsache, daß in Forsters Politik als Mainzer Administrator und Klubist 1792/93 und in seiner Solidarität mit der Entwicklung der Französischen Revolution — zuweilen muß man sich ausdrücklich erinnern: es ging um bürgerliche Freiheitsrechte, die heute als selbstverständlich gelten —, daß also in Forsters jeweils sei es zögernd, sei es überstürzt getroffenen Entscheidungen fast paradigmatisch eine Spannung zwischen Utopie und Praxis, >Ideal und Wirklichkeit^ Erfahrungswissen und historisch Neuem zu entdecken ist, die nicht nur seine Epoche kennt. Ein Kenner der Materie und feinfühliger Kritiker des Zeitgeistes brachte den materiellen Kern der Frage nach Forsters politischer >Aktualität< auf den Punkt, indem er jene Entscheidungen als Wagnis, als selbst komplexes, im Prozeß befindliches Resultat der jeweiligen historischen Situation charakterisierte: »Georg Forster lernte«, so heißt es über dessen Mainzer und Pariser Zeit, »im Bann der Utopie jene Schuld kennen« — die Schuld des Handelnden —, »die zur Grunderfahrung unserer Epoche wurde. Auch darin ist er, weiß Gott, unser Zeitgenosse.«3
2 Vgl. zur essayistischen Struktur der Forsterschen Texte u. a. den Beitrag von Michael Ewert in diesem Band. 3 Klaus Harpprecht: »Ein Fremder namens Forster«, in: Die Zeit, vom 7. Januar 1994, S. 38.
Vorwort
XI
»Schillernde Gestalten* rufen Reflexe hervor. Gefahr besteht freilich, wo die Spiegelung der Aktualität im historischen Beispiel auch zur Projektion geraten könnte. Entscheidend (nicht nur im Hinblick auf die politische Dimension seines Werks) scheint mir, in welchem Maße Forster historisch offenen Situationen mit Offenheit der Erfahrung und des Denkens zu begegnen wußte. In den folgenden Beiträgen wird über diese Fähigkeit zu lesen sein, somit auch darüber, wie sich diese Offenheit in eine Schreib- und Denkform umsetzte, und nicht zuletzt über die Herausforderung und Chance, sie als Theorie lesbar zu machen. Das »Unabgeschlossene und Unverstellte« (U. Sonnemann) seines Denkens entzieht Forster der schnellen Definition, macht ihn schwer faßbar für ein Weltbild voller immer schon bestimmter Gegenstände. Ebenso verfehlt, ebenso mythisierend wie seine überstürzte Einordnung in ein Schema wäre es freilich, das Spezifische, das es so in Forsters Werk zu entdecken gilt, als voraussetzungs- oder kontextlos hinstellen zu wollen. Es hatte Möglichkeitsbedingungen, Gründe, gar Notwendigkeiten — auf politischer ebenso wie biographischer, zeitgeschichtlicher oder wissenschaftshistorischer Ebene. Die Beispiele dafür aus der Spektrum der folgenden Beiträge können in diesen Vorbemerkungen nur angedeutet werden: Seine atypische Bildungskarriere etwa, wozu ebenso die besondere Bindung an seinen Vater (und fast ausschließlichen Lehrer) zählt, wie sie im Beitrag von Michael E. Hoare in diesem Band vor Augen geführt wird, wie auch gleichsam zufallige, auf noch kaum erschlossene Weise prägende Begegnungen, für die Rüdiger Joppiens Rekonstruktion seiner Beziehung zu William Hodges ein überraschendes Beispiel liefert. Oder die Traditionen des Schreibens, der Strukturierung und Formierung argumentativer Darstellung, deren Forster sich wie selbstverständlich und nach heute nur mehr schwer verstehbaren Regeln bedient — siehe Stefan Goldmanns Beitrag zur organisierenden Funktion der antiken Zitate in seinen Texten — oder in deren epistemologische Umbrüche er sich verstrickt findet — vgl. den Beitrag von Wolfgang Griep zum Konflikt der wissenschaftlichen Beglaubigungsstrategien in Forsters Reisebeschreibung. Nicht minder voraussetzungsreich sind die durchaus politisch motivierten Akzente, die er innerhalb traditioneller literarischer Genres setzt — so etwa mit seiner Ausgestaltung des »bürgerlichen Heldenerkenntniskritischer< Streit mit diesem) und von Ulrich Kronauer Jean-Jacques Rousseau (und Forsters geschichtsphilosophische Kritik des >Rousseauismuspolitische< ist. Denn untrennbar damit ist verbunden, >als was< man ihn eigentlich verstehen und rezipieren soll: Als Naturwissenschaftler oder Philosoph? Als Reisender, >freier Schriftstellers >Politiker< oder doch mehr als Taxonom, Naturhistoriker, gar Arzt (Doktor der Medizin, immerhin)? Im Zuge der Erinnerungen an Forster war von einer gewissen »Nostalgie« zu lesen, mit der man heute an seiner Epoche die »lebendige Wirklichkeit« einer »République des lettres« wahrnimmt: einen scheinbar selbstverständlichen >Internationalismus< der wissenschaftlichen Welt, der Forster vom polnischen Nassenhuben über die russischen Wolgagebiete und St. Petersburg, London, Warrington, auf der »Resolution« um die Welt, ins hessische Kassel, das polnische Wilna, das kurfürstliche Mainz und schließlich das republikanische Paris führt (von den zwischenzeitlichen Reisen und auch den gescheiterten >multinationalen< Projekten ganz zu schweigen).5 Damit ist, scheint mir, nicht nur sein unablässiges Wechseln, oder eben: Reisen zwischen den Welten, den Kulturen oder >Nationen< (die sie noch nicht im Sinne des 19. Jahrhunderts sind) angesprochen, sondern auch sein Sich-Bewegen zwischen den Wissenschaften, deren heute vertraute Grenzen zu seiner Zeit noch stärker selbst in Bewegung, auf jeden Fall aber — wie sein Beispiel zeigt — auch durchlässiger waren.6 Vor sehnsuchtsvollen Idealisierungen des 18. Jahrhunderts ist sowohl in politik- als auch in wissenschaftshistorischer Hinsicht mit Grund zu warnen. Nur stellt die von Forster mit zeitgenössischer Unvoreingenommenheit ebenso wie mit wissenschaftspolitischer Absicht überschrittene Disziplinenbegrenzung die Forschung heute vor das Problem, daß keine einzelne der mit so viel Erfolg auseinanderentwickelten Fachwissenschaften sich mehr anheischig machen kann, sein Werk in dessen voller Vielschichtigkeit und Komplexität adäquat zu erfassen. Von der Leichtigkeit nachgerade beschämt, mit der Der Brodbaum zwischen Botanik und Sozialökologie wechselt oder die Biographie Cooks geographiehistorische ebenso wie nautische Fragen diskutiert — und um wieviel mehr gilt dies für seine beiden großen Reisebeschreibungen, die Reise um die Welt und die Ansichten vom Niederrhein —, bedeutet die Interdisziplinärst, die dem heute einzig antworten kann, zugleich einen schwierigen Rekonstruktionsprozeß. Dies um so mehr, als es mit einer Addition der Fachbeiträge nicht getan sein wird. Vielmehr scheint es, als müßten die Disziplinen — wieder? — lernen, in der Diskussion ihrer Kategorien, Methoden und Gegenstände einen Austausch der Annäherungsweisen an Forsters Werk und von deren Re-
5 Wolf Lepenies: »Des Schreibens ist zu viel, des Handelns ist zu wenig in der Welt. Anachronistische Gedanken zu Werk und Leben Georg Forsters«, in: Neue Züricher Zeitung, vom 8./9. Januar 1994, S. 65. 6 Vgl. zu dem nicht zuletzt hier erwachsenden Rezeptionshindernis den Beitrag von Ludwig Uhlig in diesem Band sowie auch dessen Vortrag »Wissenschaften im Connubium: Vielfalt und Einheit im Werk Georg Forsters« (Mainz 1994, i. Dr.).
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sultaten möglich zu machen, um die Verbindungslinien etwa zwischen den Landschaftsbildern der Südseereise und seiner Naturphilosophie, seiner ethnographischen Methodik und der Sozialkritik der Rheinreise, der Systematik seiner botanisch-zoologischen Forschungen und seinem Geschichtsbegriff, dem wissenschaftlichen Ethos und dem ethischen Anspruch seines politischen Engagements wieder erfahrbar zu machen. Dies anzustoßen und ein Stück zu leisten ist die Absicht des vorliegenden Bandes. Als wohl erster dieser Art und dieses Umfangs will er mit der Dokumentation des aktuellen Standes der Forsterforschung in den verschiedenen Disziplinen zugleich deren Überschreitung und Zusammenarbeit einleiten. Die Folge dieser Kombination aber ist, daß die klare Aufteilung der >Ansätze< und Themen vom Gegenstand selbst immer wieder durchbrochen wird. Kann man das >konstruktive< Prinzip von Forsters Schreibweise — wie es in den Beiträgen von Gerhart Pickerodt an seiner Wahrnehmungsästhetik und von Rotraut Fischer am >Kunstcharakter< seiner Reisedarstellung untersucht wird — vom ihrem erkenntnistheoretischen Gehalt trennen, den Manuela Ribeiro Sanches als Konstitutionsprozeß von Wahrheit beschreibt? Sind die ethnologischen Feldstudien auf der Osterinsel — die Dieter Heintzes Beitrag rekonstruiert — und ihre Vermittlung für den europäischen Leser wirklich so weit von den — von Thomas Grosser nachvollzogenen — kultur- und sozialkritischen Diagnosen der bereisten europäischen Länder >entferntGeorg Forstersvergaß< er gewissermaßen, daß er selbst Forster durch Hugo von Hofmannsthal und dieser ihn durch Josef Nadler kennengelernt hatte. Das Bild einer Linie scheint vollends problematisch zu werden, wenn Hofmannsthals »Deutsches Lesebuch« zwar Nadler als Vermittler Forsters nennt, den Text aber nach dem verschwiegenen Gustav Landauer druckt. Die Bedeutung von Diltheys Intervention in Forsters Rezeptionsgeschichte erhellt sich nur, wenn berücksichtigt wird, daß — entgegen der in Abrissen der Rezeptionsgeschichte von Zincke bis Wuthenow vorherrschenden These von Forsters Vergessenheit im späten 19. Jahrhundert — der Autor der Reise um die Welt und der Ansichten vom Niederrhein im literaturgeschichtlichen Positivismus einer der kleineren Klassiker blieb; bis 1910 gilt, daß kaum eine Literaturgeschichte oder Schul-Anthologie auf ihn verzichtete und daß auch in der bildungsbürgerlichen Publizistik der klassische Prosaist wenigstens als Naturforscher präsent war. Dilthey begründete allerdings mit der geistesgeschichtlichen Methode Forsters Ausschluß aus dem Kanon. Es markierte einen spezifischen Liberalismus, wenn
1 Gerhard Steiner: Georg Forster, Stuttgart: Metzler 1977, S. 6. 2 Walter Benjamin: »Einleitung zu C. G. Jochmann, >Die Rückschritte der PoesieLegende< nannte. In Angriffen auf »Französelei«8 und Hymnen auf Gentz, Arndt und Körner entfaltete Mehring damals die These, »deutsches Nationalbewußtsein« sei die Voraussetzimg deutscher Literatur: »aus ihm erst konnte eine deutsche Literatur erwachsen. Unzertrennlich voneinander nährte eins das andere zu immer größerem Wachstum«.9 Den Beginn dieses Prozesses verlegte Mehring in den Siebenjährigen Krieg Friedrichs II., was exakt die Legende war: »Der siebenjährige Krieg war eine wesentliche, vielleicht unerläßliche Voraussetzung unserer klassischen Zeit« (a. a. O.). Mehrings Widerwille, Forster als Teil des Erbes der Arbeiterklasse auch nur in Erwägung zu ziehen, demonstriert Einschränkungen des Demokratismus nicht nur als Konsequenz des Ökonomismus seiner marxistischen Methode, sondern auch als Folge eines Nationalismus, der den nicht-marxistischen mit dem marxistischen Mehring verbindet. Ausgeschlossen aus der Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung der deutschen Literatur als Entfaltung nationaler Identität wurde Forster von Dilthey wie von Mehring, und die geistesgeschichtlich werdende akademische Germanistik mißachtete Forster in der Tat gründlich. Nur einige wenige literarhistorische Positivisten, die im Kaiserreich liberale Humanisten blieben, pflegten den >kleinen Klassikers für dessen politischen Irrweg sie in der seit Dilthey etablierten >Schwäche< eine entschuldigende Erklärung fanden. Ziel ihres Forschens war die — nie geschriebene — gültige Biographie. Unter den geistesgeschichtlich arbeitenden Germanisten gab es jedoch vor 1914 eine Ausnahme: Josef Nadler widmete Forster mehr als sechs enthusiastische Seiten in seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912-24). Als Schüler des Scherer-Schülers August Sauer, der der positivistischen Wissenschaftlichkeit die entscheidende Wendung zum biologistischen Rassismus gegeben hatte, belegt Nadler auch in seiner Behandlung Forsters die Verbindung zwischen Positivismus und Geistesgeschichte. Deshalb wird Nadler mit seinem Insistieren auf >Blut und Boden< als Determinanten der literarischen Entwicklung häufig als eine Art positivistischer Literarhistoriker angesehen. Vertreter der Geistesgeschichte, die mehr Gewicht auf die Autonomie des Geistes legten, gingen so weit, Nadlers Stammesgeschichte als Literatursoziologie anzusehen. »Die Untersuchung des Stammhaften und des Gesellschaftlichen kann ohne weiteres«, meinte etwa Julius Petersen, »in dieselbe Ebene gelegt werden.«10 Gerade Nadlers gezielte Berücksichtigung der poetae mino-
8 Thomas Höhle: Franz Mehring. Sein Weg zum Marxismus, 1869-1891, Berlin: AkademieVerlag 1956, S. 436. 9 Hans Mayer: Deutsche Literaturkritik im 19. Jahrhundert. Von Heine bis Mehring, Stuttgart: Goverts o. J., S. 837. 10 Julius Petersen: Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einßhrung in die moderne Literaturwissenschaft, Leipzig: Quelle & Meyer 1926, S. 171.
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res schien in diese Richtung zu deuten. Doch die Öffnung des Kanons ergab sich bei Nadler aus dem anti-individualistischen Primat der >GemeinschaftKulturgeschichte< in der Historiographie teilte. Während jedoch Karl Lamprecht in seiner Deutschen Geschichte Forster rein politisch denunzierte, fand der keineswegs weniger nationalistische Nadler einen Weg zur Wertschätzung Forsters, indem er ihm einen Platz in der Entwicklung des deutschen >Geistes< zuschrieb. Nadlers Porträt Forsters nahm das Bild des Ethnologen auf, das Scherer und Richard Moritz Meyer über Dilthey hinaus entwickelt hatten. Als »Gau«-Beschreibung wurden Forsters Reise um die Welt und Ansichten vom Niederrhein präsentiert: In ihnen werde jeweils die Ganzheit eines Gaus »in all seinen räumlichen, geschichtlichen, völkischen, geistigen Einzelheiten erfaßt und mit ausgereifter Sprachkunst dargestellt«.11 Je eine Passage aus beiden Werken wurde — deutlich im Gegensatz zu Dilthey — als »Dichtung« (a. a. O.: 287) vorgestellt: die Beschreibung Tahitis und die des Kölner Doms. Letztere sollte ein »Wunder« dokumentieren: Nadler zitierte extrem ausführlich, um dem Text die Bedeutung zu geben, »die wichtigste Urkunde zur Geschichte der rheinischen Restauration« (ebd.: 289) zu sein. Nadlers Auswahl war nicht nur insofern einflußreich, als von nun an in den meisten Anthologien, die Forster aufnahmen, die Kölner Dom-Beschreibung die des Hafens von Amsterdam ersetzte, die im 19. Jahrhundert das populärste Lesestück aus den Ansichten vom Niederrhein gewesen war, sondern auch für die weitere geistesgeschichtliche Forschung insofern bedeutsam, als zwei thematische Gebiete eingeführt wurden, die in den zwanziger und dreißiger Jahren fast immer unter Berücksichtigung Forsters bearbeitet wurden: »das deutsche Naturgefühl« und die Beschreibung deutscher, »rheinische[r] Kunst« (ebd.: 288). Nadlers biologistischer Rassismus zeigte sich in seinem Versuch, Forsters Leistungen auf beiden Gebieten zu erklären. Auf Blut und Boden rekurrierte Nadler, indem er Forsters Geburt in Polnisch-Preußen als Erklärung für sein Naturgefühl nahm (»Forster gehört als Sprößling des Ostens zu den Mitträgern des romantischen Geistes«; ebd.: 290) und den Aufenthalt in Mainz als Druck, im »Kraftfeld des Rheintales« zu wählen: »das hieß zwischen den ringenden Kräften wählen: Umsturz, Restauration. Im Umsturz glaubte er den Fortschritt zu sehen und fiel ihm zum Opfer. Und er, der für den Untergang zu wirken meinte, arbeitete tatsächlich für die Erneuerung« (ebd.: 288). Nadler argumentierte, daß auch im Falle Försters, der mit der Tradition zu brechen meinte, sich die Landschaft als stärker erwies als das Individuum. Der Triumph des Bodens über das revoltierende Individuum machte es möglich, die Reisebeschreibungen — andere Texte wurden nicht erwähnt — als »Kunstwerk zugleich und wissenschaftliche Ereignisse« (ebd.: 287) zu rühmen. Gleichzeitig jedoch läßt der Widerspruch zwischen >Boden< und politischen Intentionen des Individuums >Schwäche< auch zum Schlüsselwort von Nadlers Version der Forsterschen Biographie werden. Indem — wie bei Dilthey, aber auch den Positivisten Leitzmann und Zincke — Schwäche als die einzige Erklärung für Forsters Verwicklung in die Revo-
11 Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 3: Der deutsche Geist (1740-1813), Regensburg: Habel 21924, S. 288.
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lution diente, ließ sich zwischen positiven und negativen Elementen in Forsters Leben und Werk unterscheiden. Implizit brachte Nadler das Gegenbild von >Stärke< ins Spiel, um eine politische Alternative vorzuschlagen. Deshalb unterbrach Nadler seinen Bericht von Forsters revolutionärer Aktivität dadurch, daß er dessen Reaktion auf die französische Besetzimg von Mainz mit der exemplarischen Haltung eines rheinischen Aristokraten kontrastierte, der in einem Pamphlet »Landwehr und Landsturm als bewaffnetes Unterpfand für die Freiheit des Rheinstaates« (ebd.) forderte. Die Opposition Schwäche, Demokratie, Revolution einerseits, Stärke, Militär, Nation andererseits verdeutlichte die Nadlers Neubewertung Forsters zugrundeliegende Konzeption von Deutschheit. Das tragische Beispiel von Forsters »mißleitete[m]« (ebd.: 286) Idealismus zum Beweis der nationalistischen Sache zu nehmen, war nichts Neues; eine neue Wertung jedoch lag darin, Forster in Übereinstimmung mit der Entwicklung der Romantik zu setzen: »Wie nahe war Forster seiner wahren Sendung« (ebd.: 289), beendete Nadler sein Zitat aus den Ansichten. Diese Sicht auf Forster als fehlgegangenen romantischen Nationalisten wurde unterstützt durch die kontrastierende Parallelisierung von Forster und Görres in Nadlers Gruppierung der >RheinfrankenBefreiungskriegePräromantiktheorie< integrierbar machte, mit dem die Geistesgeschichte die deutsche Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts umschrieb. Doch seine >Stammesgeschichte< ist auch eins der seltenen Beispiele für den Einfluß akademischer Literaturwissenschaft auf die zeitgenössische Literatur. Nadlers Einfluß auf das Traditionsverhältnis wichtiger Autorinnen und Autoren mag sich auch aus der Tatsache erklären, daß er selbst das Schreiben von Literaturgeschichte als künstlerische Tätigkeit ansah und sich häufig auf Schriftstelleressayistik bezog. So war es nicht nur Nadlers direktem Einfluß auf die Fachwissenschaft zuzuschreiben, wenn sich in den zwanziger Jahren mehr geistesgeschichtlich orientierte Forscher mit Forster befaßten, sondern auch der — größtenteils von Nadler angeregten — Entdeckung Forsters durch Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dies gilt für die Konservativen: Ina Seidel, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt. Während sie sich positiv auf die wissenschaftliche Autorität Nadlers bezogen, polemisierten die wenigen linken Autoren, die von Nadler unabhängig den Politiker Forster zu aktualisieren suchten, primär gegen die positivistische Forster-Forschung als Klassikerpflege. »[...] wenn der deutsche Geist nicht immer noch von professoraler Feigheit geführt wäre«, wären Forsters »Briefe aus der Revolution« »berühmter« als die Ansichten vom Niederrhein — so forderte Gustav Landauers12 Kommentar zu seiner Ausgabe Briefe aus der Französischen Revolution das kanonisierte Bild von dem Schriftsteller Forster heraus.
12 Gustav Landauer: Briefe aus der Französischen Revolution, Bd. 2, Berlin: Rütten & Loening, neubearbeitete Auflage 3 1985, S. 145.
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Zur selben Zeit faßte ein anderer Schriftsteller, den wie Landauer der Triumph der >Ideen von 1914< zur Beschäftigung mit Forster motiviert hatte, die akademische Beschränkung auf den Schriftsteller oder Naturforscher als eine Form des >VergessensNeuentdeckungen< begründet werden sollten: »>Fachmenschen< kennen eben noch seinen Namen, weil er notwendig immer wieder ihren Weg kreuzt, wenn sie im achtzehnten Jahrhundert herumstapfen.«13 Kerstens Forster-Porträt unterscheidet sich deshalb in zwei Momenten von positivistischen wie geistesgeschichtlichen, die im Kern jedoch bloße Umwertungen sind: Statt Forster in die Entwicklung der deutschen Literatur einzuordnen, setzte ihn Kersten der bisherigen Literaturgeschichte insgesamt — von Goethe bis Leitzmann sozusagen — entgegen (indem er ihn zur Verkörperung eines Ideals machte, das aus der zeitgenössischen politischen Debatte gewonnen war: >Geistiger< und >AktivistHärteBefreiungskriege< durch das Leben des Helden, seine Zeugung und seinen Opfertod fürs Vaterland, verbunden wurden. Die aggressiv nationalistische, weibliche, besser: Mutter-Phantasie vom deutschen Mann im Wunschkind (1930) ist die Folie, gegen die das Forster-Bild in Das Labyrinth (1922) gelesen werden muß. Die Romane zerlegten, was Nadlers Formel vom >mißleiteten< romantischen Nationalisten kombiniert hatte, indem die Revolution zum letzten, verzweifelten Versuch des »weichen und schwärmerischen« Forster wurde, »sich als Mann zu bewähren«.15 Die romanhafte Ausmalung der Schwäche — in den problematischen Beziehungen zu Vater und Ehefrau — akzentuierte Forsters »Abstammung«16 als Ursache: »Sein Geist hatte kein nationales Gepräge«.17 Anders als in Nadlers Literaturgeschichte wurde deshalb in Seidels Roman Forsters Werk insgesamt als bloße Übersetzer-Arbeit — mithin unschöpferisch — preisgegeben. Gerade weil ihm der
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Kurt Kersten: »Georg Forster«, in: Die weißen Blätter, VI (1919), S. 547. Ebd., S. 547f. Ina Seidel: Lebensbericht 1885-1923, Stuttgart: DVA 1970, S. 84. Ina Seidel: Das Labyrinth. Roman, Reinbek: Rowohlt 1978, S. 84. Ebd., S. 85.
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Status eines Schriftstellers verweigert wurde, konnte sich die Fiktion entlarvungspsychologisch auf die undeutsche Politik des Schwächlings konzentrieren. Ganz anders verfuhren Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt, als sie — nicht weniger als Seidel von Nadler angeregt — Forster-Texte in ihre — wie Benjamin schrieb — »bedeutende anthologische Arbeit«18 einbezogen. 1926 nahm Hofmannsthal zwei Briefe Forsters aus Paris in sein Deutsches Lesebuch auf. Obwohl er als Quelle Therese Hubers Ausgabe nannte, diente de facto Landauers Edition als Vorlage — wie sich leicht beweisen läßt. Landauer hatte die Briefe gekürzt (um das Private: auf die Familie und den Pariser Alltag Bezogene) sowie Zeichensetzung und Rechtschreibung normalisiert. In alledem folgte Hofmannsthals Textfassung exakt der Landauers. Die »Gedenktafel« hingegen — so nannte Hofmannsthal seine Kommentierung — war nicht nur bis in biographische Irrtümer Nadlers Literaturgeschichte verpflichtet, sondern gerade in der Betonung von Forsters >Art, die Dinge zu schauen». Ausfuhrlich zitierte Hofmannsthal Nadlers Charakterisierung der Reise um die Welt und der Ansichten vom Niederrhein als Werke der Kunst und Wissenschaft, um sie als »Denkmal« von Forsters »Schauen [...] und Darstellen«19 zu präsentieren. Forster diente bezeichnenderweise bereits im Vorwort des Deutschen Lesebuchs als erstes Beispiel, wenn Hofmannsthal begründete, weshalb er Autoren aufgenommen habe, die nicht zum »Kanon«20 gehörten. Seine Infragestellung eines bereits existierenden Kanons meinte Anspruch auf Kanonbildung unter Einschluß von Schriftstellern, deren »Rang« »schwankend« gewesen sei: »Wir haben solche ausgesucht, deren Sprache und Tonfall uns besonders wahr schien, solche, bei denen der ganze Mensch die Feder geführt hat« (a. a. O.). Dieses Kanonizitätskriterium wurde jedoch nicht als subjektives betrachtet, sondern schloß im Gegenteil den verbindlichen Anspruch ein, daß in diesen »wahrhaften« Schriftstellern »Volksgemüt« (ebd.) und »Volksgeist selber« sprächen und die »Physiognomie« (ebd.: 667) des Volkes sichtbar werde. Das Kriterium männlich-deutscher Ganzheit auf Forster und andere in ihrem Rang umstrittene Autoren anzuwenden meinte, »daß jeder an seiner Stelle für den Augenblick alle übrigen werde aufzuwiegen scheinen. So schien uns, es wäre niemals politisch-sittlicher gedacht worden als von Forster in seinen Briefen aus dem Paris von 1793« (ebd.: 669). Die exemplarische Deutschheit von Forsters moralischer Enttäuschung an der Französischen Revolution gab ihm einen Platz in Hofmannsthals Konstruktion der Kontinuität der deutschen Literaturgeschichte als nationale Identität. Schon vor der Herausgabe des Lesebuchs und der Ausarbeitung seiner Kanonizitätsprinzipien in der berühmten Münchener Rede von 1927 über das »Schrifttum als geistiger Raum der Nation« hatte Hofmannsthal sein Prinzip als Anthologe dargelegt, indem er die Geschichte des einzelnen und die der Nation als Kontinuität und Identität gleichsetzte. Für
18 Walter Benjamin: »Rezension zu >Deutsch in Norwegen«», in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 405. 19 Hugo von Hofmannsthal: Deutsches Lesebuch. Eine Auswahl deutscher Prosa aus dem Jahrhundert 1750-1850. Leipzig: Reclaml984, S. 494. 20 Hugo von Hofmannsthal: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. 2, Frankfurt/M.: Fischer 1957, S. 666.
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ihn galt, daß »eins ins andere eingeht, der hingeschwundene Zeitraum im nächsten weiterlebt und alles ein und dasselbe Wesen bleibt: so für den einzelnen, so für das ganze Volk« (ebd.: 528). Das Insistieren auf Ganzheit, Identität und Kontinuität ergab sich aus dem Eingeständnis, daß es der atomisierten, mechanisierten und materialistisch-individualisierten Gegenwart an allen jenen Qualitäten mangelte — weshalb sich Hofmannsthal Konservativismus revolutionär nennen mußte, wenn er die Wiedergeburt jener verlorenen ganzen, identischen und kontinuierlichen Vergangenheit behauptete. Um einen aktuellen Konsensus zu konstruieren, mußte Hofmannsthal einen Konsensus innerhalb der historischen Tradition erfinden, indem er sowohl die Widersprüche der Gegenwart als auch die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart harmonisierte. Aus zwei spezifischen Gründen paßte also der desillusionierte Revolutionär Forster als Wissenschaftler und Künstler in Hofmannsthals Kanon: erstens beschränkte sich die von Hofmannsthal erfundene Tradition nicht auf das große Kunstwerk, zweitens wurde die Rolle des Schriftstellers als Gemeinschaft und Synthese suchend in die Geschichte zurückprojiziert. Weil der Autor als ganzer Mann das Ganze des deutschen Volkes repräsentieren sollte, erkannte Hofmannsthal >Geistige< an, die zu den »nicht durch das Werk Gedeckten und im Werke Aufgehenden« (ebd.: 729) zählten; dezidiert wies er die »Absonderung des Dichters vom Nichtdichter« (ebd.: 441) zurück. Gleichermaßen führte das nietzscheanische Konzept der >Suchenden< zur Öffnung des Kanons. Indem Hofmannsthal darauf bestand, daß im gesamten Verlauf der deutschen Literaturgeschichte deutsche Schriftsteller auf der Suche nach Gemeinschaft und Bindung gewesen seien, ließen sich alle »Polarisierungen< (ebd.: 731) und »Pendelschläge« (ebd.: 771) in die eine Identität integrieren, die vom Projekt der Synthese versprochen wurde. Wenn Hofmannsthal die »Unbehausten« und »produktive[n] Anarchisten« (ebd.: 731) betonte, dann nahm er die Außenseiter als den deutlichsten Beleg für das Bedürfnis nach Gemeinschaft, Synthese und Harmonie. Sein Anspruch, daß »diese [...] schweifenden, verlorenen Söhne [...] doch den Fahnenwagen ihrer Nation in ihrer Mitte führten« (ebd.), legitimierte überdies seinen eigenen Versuch, von der Marginalität des literarischen Lebens aus nationale Repräsentanz zu erreichen. Im Falle Forsters erwies sich diese Umwertung eines >kleinen Klassikers< als produktiv. Die Anerkennung war allerdings begrenzt durch den der Konstruktion literarhistorischer Kontinuität als Identität immanenten Nationalismus. Differenz wurde der essentialistischen Vorstellung einer Immergleichheit des deutschen Geistes untergeordnet. An Rudolf Borchardts — Hofmannsthal sogar steigernder — Erhebung Forsters zu dem deutschen >Wanderer< hatte anti-westlicher Superioritätsanspruch überdeutlich Anteil. Forsters zentraler Platz in der Anthologie Der Deutsche in der Landschaft folgte nicht nur aus Borchardts Version von Forsters Biographie als »Zentrifugalrad um Deutschland herum«, 21 sondern auch aus der Definition von Deutschheit als Fähigkeit, »die Erfahrung, daß sein Reich nicht von dieser Welt ist [...], aus Versagimg in Schöpfung zu verwandeln« (a. a. O.: 22). Explizit wurde dieses verinnerlichende Wesen gegen englisches und französisches ausgespielt: »Der eigner länderverknüpfender und besiedelnder Politik fast ganz Enterbte überblickt nach der Teilung der Erde aus den nur ihm eigenen Höhen des Geistes
21
Rudolf Borchardt: Prosa, Bd. 3, Stuttgart: Klett 1960, S. 20.
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eine kosmisch-tellurische Verhältniswelt [...], ergreift aus der Bücherstube heraus die Welt durch Begründung erobernder Wissenschaften« (ebd.: 26f.). Während Hofmannsthal sich bei der Infragestellung des Kanons auf die Vorstellung von der Ganzheit des deutschen Mannes in seiner Sprache bezog, betonte Borchardt als spezifisch deutsch die Einheit von »Poesie« und »Wissenschaft« (ebd.: 33), um nicht-fiktionale Prosa zu kanonisieren. Borchardts Prägung durch die Diltheysche Geistesgeschichte wird auch daran deutlich, daß er ausgerechnet in der Begründung des Ausschlusses von Heine die »heimlichen Grundsätze« seiner Anthologie explizierte, »immer auf den schwebenden Punkt des geschichtlichen Lebens abzuzielen, an dem die Unterschiede zwischen Dichtung und Forschung verfließen« (ebd.: 31). Forster rückte für Borchardt deshalb neben Herder als Vater nicht nur der Romantik, sondern des ganzen 19. Jahrhunderts. Mit einem Vokabular, das Sexismus, Rassismus und Klassenhaß mischte, attackierte Borchardt des Sozialdemokraten Alfred Kleinberg Literaturgeschichte Die deutsche Dichtung in ihren sozialen, zeit- und geistesgeschichtlichen Bedingungen als »weibisch[es]«, »verniggert[es]«22 Werk eines >freigelassenen Sklaven< (a. a. O.: 278). Borchardts gewalttätige Metaphorik richtete sich gegen den »Westler« Kleinberg, dem jeder Sinn für das Volk als »metaphysische Tatsache« (ebd.: 275) fehle: »Weil die Äußerungen des deutschen öffentlichen Sinnes im Handeln vom Geiste aus nicht den englischen Normen entsprechen, wirft er uns zu den Hämmlingen und Stubenträumern« (ebd.: 271). Kleinberg gehörte mit Anna Siemsen und Egon Erwin Kisch zu den wenigen Linken, die in den späten zwanziger Jahren Forster öffentlich Resonanz zu schaffen suchten. Die in sozialdemokratischen Verlagen auf ein Massenpublikum zielenden Bücher Kleinbergs und Siemsens bekannten sich von Anfang an zur Tradition Franz Mehrings — entweder, wie Kleinberg, in der Widmung oder, so Siemsen, mit dem Titel Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft. Der zweite Teil dieses Titels markierte jedoch schon eine Abweichung von der Mehringschen Orthodoxie. Kleinberg hingegen blieb innerhalb des Bezugsrahmens »Revolutionen in der Wirklichkeit und im Geiste«23 — ganz im Gegensatz zu Borchardts Denunziation. Während Siemsens Abteilung »Das Jahrhundert des Bürgertums« keine Kapitel über Goethe und Schiller, dafür solche zu Lessing, Herder, Forster und Seume enthielt, begrenzte Kleinberg seine Behandlung Forsters auf zwei ausgedehnte Fußnoten. Schon diese Marginalisierung stellte die Widersprüchlichkeit seiner Bewertung Forsters heraus: Einerseits sollte die Reise um die Welt ein Beleg deutscher >Verspätung< sein, andererseits der einsame Tod in Paris die universale Bedeutung der spezifisch deutschen >Geistesrevolution< beweisen. Weil Kleinberg auf der einen Seite deutsche Geschichte und die Rolle der Literatur in ihr am Maßstab der Französischen Revolution, was meinte: Demokratie, maß, auf der anderen Seite die historische Notwendigkeit von Sturm und Drang, Klassik und Romantik mit Dilthey und Mehring nationalisierte, konnte er zwar aus dem >Schwärmer< Mehrings einen »einsame[n] Prophete[n]« (a. a. 0 . : 205) machen, aber auch Seidels Labyrinth eine »wundervoll feine ideelle Biographie« (ebd.: 391) nennen. Anna Siemsen hingegen wendete ein Zitat von Ina Seidel: »Deutsch-
22 Rudolf Borchardt: Prosa, Bd. 4, Stuttgart: Klett 1973, S. 275. 23 Alfred Kleinberg: Die deutsche Dichtung in ihren sozialen, zeit- und geistesgeschichtlichen Bedingungen. Eine Skizze, Berlin: Dietz 1927, S. X.
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land hat schon einmal das Bollwerk gegen eine Revolution abgegeben«, gegen die »klassische« deutsche »Haltung« der Untertänigkeit von Goethe bis Seidel.24 Wenn sie Forster als einen der »wenigen politischen Köpfe [...] und unabhängigen Charaktere [...] im damaligen deutschen Bürgertum« (a. a. 0.: 119) porträtierte und die Ansichten vom Niederrhein sowie die Briefe aus Paris als seine »wichtigsten« (ebd.: 245) Werke bezeichnete, wurde ihre Abweichung von Nadlers, Hofmannsthals oder Borchardts ebenso wie von Leitzmanns Auswahl und Deutung sichtbar; sie bestand auf den Ansichten als dem »einzige[n] heute noch lebendige[n] politische[n] Buch aus dieser Epoche Deutschlands« (ebd.: 120) und auf den Pariser Briefen als Zeugnis eines »Unerschütterten«: »Er verliert nicht einen Augenblick sein ruhiges Urteil, seinen sicheren Glauben an Sinn und Größe alles dessen, was geschieht« (ebd.: 121). In Siemsens Text wurde ununterscheidbar, ob vom Deutschland Forsters oder ihrer eigenen Gegenwart die Rede ging. Das einzige direkte Forster-Zitat war denn auch die Kritik der Parisischen Umrisse an den deutschen »Gebildete[n], ihrer »Siegwarts- Empfindsamkeit über die Harmlosigkeit der Revolution« (ebd.). Nicht nur im Lob der Härte, sondern vor allem mit der Umkehrung der Mehringschen Fragestellung nahm Siemsen die Impulse des politischen Aktivismus auf. Sie fragte nicht, wie Förster in die literarische, kulturelle und politische Entwicklung des Deutschlands von Goethe und Schiller passe, sondern entgegengesetzt, ob Deutschlands Vergangenheit und Gegenwart dem mit Forster gesetzten Standard entspreche. Ihre Antwort wandte Mehrings Rechtfertigungsformel für klassische Literatur und Philosophie als einzig mögliche Antwort auf die Revolution um in ein Verdikt: »verhängnisvoll unreif« (ebd.). Wie sehr letztlich die Feindschaft gegen Goethe und seine aktuelle Rezeption die Beschäftigung mit Forster bis zur Identifikation steigern konnte, belegt schließlich Egon Erwin Kisch. Auswahl und Kommentierung eines Forster-Textes in seiner Anthologie Klassischer Journalismus blieben 1923 noch völlig in den Bahnen Nadlers, bei dessen Lehrer August Sauer auch Kisch studiert hatte. Erst nach den beiden Reportagen über die Weimarer Gedenkstätten und die Orte von Goethes Kampagne als die Schützengräben der Westfront (1926/27)25 wurde der »verfemte«,26 »ausgelöschte«27 oder »ausgestrichene Klassiker«28 Forster für Kisch zum zentralen Bezugspunkt, um die politische Reportage »als Kunstform [...] literaturfahig«29 zu machen. Die Ansichten vom Niederrhein avancierten zum »Modell der modernen Reportage«.30 Weil Kisch zugleich eine politische Identifikation mit dem Revolutionär Forster und eine literarisch-ästhetische Kanonisierung des 24 Anna Siemsen: Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft, Frankfurt/M., Bielefeld, Mainz: Büchergilde Gutenberg 1948, S. 118f. 25 Vgl. Egon Erwin Kisch: Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 21974, S. 402, 551. 26 Egon Erwin Kisch: Gesammelte Werke, Bd. 9, Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1983, S. 211. 27 Egon Erwin Kisch: Gesammelte Werke, Bd. 10, Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1985, S. 93. 28 Kisch, G. W. 9, a. a. O. (Anm. 26), S. 127. 29 Ebd., S. 211. 30 Kisch, G. W. 10, a. a. O. (Anm. 27), S. 94.
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Genres Reportage anstrebte, wählte er nicht zufällig wiederholt aus den Ansichten als Zitat jene Stelle, an der Forster an die Leser appelliert, »die wenigen unvermeidlichen Unglücksfalle, die die große Revolution notwendig mit sich bringen mußte«,31 anders zu beurteilen als die revolutionsfeindliche Publizistik. Statt die hier aufgenommene >aktivistische< Linie der >unerbittlichen Härte< von Kisch zu Anna Seghers und Georg Lukäcs, auch zu Kurt Kersten, Rudolf Leonhards und Walter Benjamins Intervention im Namen Forsters in die Expressionismus-Debatte und ErbeDiskussion der Volksfront oder zu deren Zurückweisung durch Johannes R. Becher unter Berufung auf die faschistische Verfälschung — durch Walter Bauer — weiterzuziehen, möchte ich das Ergebnis meiner Verwirrung ideologischer Rezeptionslinien im vorfaschistischen deutschen Nationalstaat zusammenfassen: Die institutionell garantierte Dominanz einer in Methode und Kanon nationalistischen Germanistik, die Forster — seit Dilthey — ausschloß, bestimmte noch die Versuche, ihn in die Literaturgeschichte wiedereinzuführen. Der Schriftsteller konnte nur als Ethnologe und ästhetisch als Präromantiker nationalistisch integriert werden — so von Nadler, Hofmannsthal und Borchardt. Der hegemoniale Chauvinismus ordnete sich selbst politisch motivierte Opposition gegen den Kanon unter, wo ein Ideal vom deutschen Mann als Kämpfer entweder Forster von vornherein ausschloß — wie bei Mehring — oder — wie bei Kersten, Siemsen, Kleinberg und Kisch — den Ausschluß in der Form der Umkehrung akzeptieren ließ: Forster zu der Ausnahme von der global mit Goethe gleichgesetzten deutschen Literatur zu monumentalisieren, förderte die Verklärung von Härte, Stärke und Konsequenz im Gegenzug zu der im dominierenden Forster-Bild den Ausschluß begründenden Schwäche. Angemessener als das Bild der Linie ist deshalb vielleicht das eines — epochenspezifischen — Feldes, auf dem bewußte Abgrenzungsversuche von undurchschauten Affinitäten durchkreuzt werden.
31 Egon Erwin Kisch: Landung in Australien. Reisebericht, Berlin: Volk & Wissen 1950, S. 185.
Michael E. Hoare
Die beiden Forster und die pazifische Wissenschaft
Am 26. November 1791, ein Jahr bevor er dem Mainzer Jakobinerklub beitrat, seine erste Rede gegen die Politik der deutschen Fürsten hielt und die Aufnahme der Rheinprovinzen in die neue Französische Republik betrieb, schrieb Georg Forster einen letzten, bezeichnenden Brief zu einem bestimmten Thema an seinen Verleger Christian Friedrich Voß. Es war sein nahezu letzter Versuch, sich ein für allemal mit den drei bis dahin bedeutsamsten Jahren seines Lebens — James Cooks zweiter Weltumseglung 1772-75 — auseinanderzusetzen, bevor er in die abschließende revolutionäre Leidenschaft, den Sturm und Drang der letzten fünfzehn Monate, 1792-94, seines allzu kurzen Lebens stürzte. Zur Aufgabe dieses Symposions gehört es meines Erachtens, unsere Einschätzung von Georgs Leben neu zu überdenken. Ich hoffe, Sie halten mich, einen Antipoden, dessen Ansichten zwangsläufig in erheblichem Maße durch das Erbe bestimmt sind, das die beiden Forsters uns im Südpazifik hinterlassen haben, nicht für allzu vorschnell, wenn ich die zentrale Bedeutung dieser Reise für die Forstersche Biographie und Geschichte derart herausstreiche. In der Tat will ich im Folgenden ein Thema aufnehmen, von dem ich gedacht habe, daß die Georg-Forster-Forscher sich schon seit langem mit ihm befaßt haben müßten: die symbiotische oder geradezu parasitäre materielle und intellektuelle Beziehung zwischen dem Vater, Johann Reinhold, und seinem ältesten Sohn, Johann Georg Adam Forster. In seinem grundlegenden Werk Georg Forster — Einheit und Mannigfaltigkeit in seiner geistigen Welt hat Ludwig Uhlig1 auf die »innige geistige« Verbindung zwischen Vater und Sohn hingewiesen. Wenige Forscher, wenn überhaupt, haben dieses meines Erachtens entscheidende Element des Forster-Falles aufgegriffen. Der ursprüngliche Auftrag der Organisatoren an mich war, entweder als Biograph der Forster-Familie oder aber als Historiker jener Wissenschaften, zu denen sie beigetragen haben, zu sprechen. Gelandet bin ich — durchaus nicht gegen meinen Willen, wie ich anmerken möchte — bei den Wissenschaftshistorikern; es erwarten Sie nunmehr in meinem kurzen Beitrag wissenschaftliche und biographische Akzente. Sicherlich hat man bei uns in der englischsprachigen Welt, speziell >down underResolution< Journal of Johann Reinhold Forster 1772-1775, hrsg. v. Michael E. Hoare, 4 Bde. (>Hakluyt Society Second SeriesResolution< and >Adventure< 1772-1775, hrsg. v. J. C. Beaglehole (>Hakluyt Society Extra SeriesThe Tactless Philosophen«, in: Journal of Pacific History, XII (1977), S. 247-248.
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Und weiter kommt Spate in derselben Besprechung zu dem Schluß: »Für Australier und sogar Briten muß Forsters [i. e. J. R. Forsters; M. E. H.\ Beteiligung an Cooks Reisen selbstverständlich, auch wenn man es bedauert, den ersten Rang in jedweder Bewertung einnehmen: Ein obskurer deutscher Pedant drängt sich mit einem Mal ganz vorn auf die Bühne — und man vergißt leicht, daß es unsere eigene, heimatliche Bühne ist. Und noch einiges mehr als das verknüpft sich mit Forster, [...] [über sein] akademisches Werk [...] die gelehrte Welt im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts — die uns letztlich Herder, Lessing, Humboldt, Goethe gegeben hat, ohne die die Welt unendlich ärmer gewesen wäre [...]. [Wir müssen nunmehr; M. E. H.] Johann Reinhold Forster fest in seine Zeit und weit ab von einem vernächlässigbarenl1 Platz einsetzen.«12 Dies ist 1977 geschrieben, drei Jahre nach dem Erscheinen von Beagleholes monumentalem The Life of Captain James Cook.13 Dieser hatte uns 1961 eine völlig vernichtende Einschätzung von J. R. Forster als »dem offensichtlich aufdringlichsten Phänomen der Reise« und den folgenden, etwas freundlicheren, wenn auch ziemlich inadäquaten Abriß von Georgs Leben geliefert: »Er schrieb viel und beeinflußte die Entwicklung der deutschen Prosa, blieb aber dennoch ein Autor von sekundärem Rang«.14 Im 1974 postum veröffentlichten Life of Cook hat Beagleholes Beurteilung der beiden Forster sich ein wenig weiterentwickelt; er blieb indes im Schlepptau von Alfred Doves biographischen Essays über die Forsters von 1878 befangen, so als ob 100 Jahre Forsterforschung spurlos verflossen wären. Nicht so aber Spate. 1983 bewegte der australische Forscher sich, mitten während der Ausarbeitung seiner eigenen umfassenden Neubewertung der europäischen Entdeckungsgeschichte des Pazifik, auf eine generösere Ansicht über die Forsters zu. In einer Rezension von J. R. Forsters >Resolution< Journal merkt er an, daß dieses neuerschienene Werk Forsters unter anderem »als Gegengewicht zu der übermäßig betonten überragenden Bedeutung Frankreichs im wissenschaftlichen Fortschritt des achtzehnten Jahrhunderts [diene]. Bei allem Respekt gegenüber den Denkern und Reisenden, die Numa Brocs Chronik La Géographie des Philosophes15 aufführt, und so sehr die Franzosen auch ihre Größen in der Theorie der Geowissenschaften hatten — Buffon oder Buache (ein freilich etwas knieschwacher >RiesePhilosopher< of Cook's Second Voyage (1772-1775)«, in: The Journal of Pacific History, II (1967), S. 215-224; A. d. Ü.] 12 Spate, »Review...«, a. a. O. (Anm. 10), S. 248. 13 John C. Beaglehole: The Life of Captain James Cook, London: Black 1974. 14 J[ohn]. C. Beaglehole: »Introduction«, in: The Journals of Captain James Cook..., a.a.O. (Anm. 7), S. xlvii. 15 [Vgl. Numa Broc: La Géographie des philosophes. Géographes et voyageurs français au XVIIIe siècle, Paris: Ophrys 1975; A. d. Ü.]
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zwar besonders diese beiden, die von Peter und Katharina in jene andere Neue Welt des Jahrhunderts, Sibirien, gelockt worden waren!«16 Nun kommt man, mit Spate, dem Kern der Dinge, einer ausgewogeneren Neubewertung eines dieser reisenden deutschen Forscher, etwas näher. Des älteren Forsters »[...] Observations, auch wenn manchmal übermäßig gelobt, müssen stets als die erste Untersuchung eines bedeutenden Teils von Ozeanien durch einen in mehreren Disziplinen voll ausgebildeten Wissenschaftler gelten«. Forster verfugte über »[...] sehr weitreichende Kompetenzen und war ein Pionier sowohl in Physiographie als auch in Ethnographie. Auch wenn seine Bemerkungen zuweilen durch Teleologie und Gefühl getrübt sind [und zwar mehr als bei Georg Forster; M. E.H.], sind sie wegen seines gewitzten Gemeinsinns durchweg verständig und kenntnisreich und beruhen stets auf sorgfältigen Beobachtungen. Und im Unterschied zu so mach anderen Gelehrten scheute er sich nicht, seine Meinung zu revidieren. [Sein] Journal ist der Fundus, aus dem die Observations und Georgs Voyage geschaffen wurden, und es ist faszinierend, die Entstehung dieser einflußreichen Werke zu beobachten.« So gelangen wir dann 1983 mit Spate zu folgender Einschätzung von J. R. Forster Stellung in Wissenschaft und Literatur des 18. Jahrhunderts: ein Mann »von bemerkenswertem Geist, weder Obskurantist [man erinnert sich des früheren >obskuren deutschen PedantenDoktorväterKolosses< Cook, wie ihn, vielleicht
16 Oskar H. K. Spate: »Review on The >Resolution< Journal of J. R. Forster, ed. by M. E. Hoare« [s. Anm. 4], zit. n. Manuskript-Fassung [nach Auskunft des Autors zur Veröffentlichung im Modern Language Review vorgesehen]. 17 {generally and generically — ein schwer zu übersetzendes Wortspiel, wobei >generically< eigentlich >gattungsmäßig< im biologischen Sinne bedeutet; A.d.Ü.] 18 [Im Original deutsch; A. d. Ü.\
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zu Recht, Beaglehole und deutlich noch vor ihm Forster-Zyniker wie der Biologiehistoriker Elmer Drew Merrill 19 geschaffen und verbreitet haben (eine Position indes, die mittlerweile etwas unter Beschuß gerät, da verschiedene Autoren Cook zu »demythologisieren« suchen), 20 war es die größte Aufgabe in den Antipoden, Vater und Sohn zu rehabilitieren. In der Botanik und zuweilen auch in der Zoologie werden die beiden Forster fast durchgängig als eine unauftrennbare Arbeitseinheit, sowohl hinsichtlich der wissenschaftlichen als auch der taxonomischen Tätigkeiten, angesehen. Selbst einfühlsame Autoren wie der Australier Tom Iredale21 schließen die beiden fest zu einem wissenschaftlichen Team zusammen, was sie, wie die letzten 20-25 Jahre ergeben haben, in der Tat auch waren. Johann Reinhold war auf Cooks zweiter Reise unzweifelhaft der führende Wissenschaftler, Georg und Anders Sparrman seine Assistenten. Wenn aber auch das allgemeine Ansehen der Forsters in der englischsprachigen Welt auf Georgs Voyage Round the World von 1777 und Johann Reinholds Observations... von 1778 gründet, die beide fruchtbare und bedeutende Grundlagen in ihrem jeweiligen Genre darstellen und dabei gelungen die Unterschiede zwischen Vater und Sohn als Beobachter (Georg) und Systematiker (J. R.) zum Ausdruck bringen, so muß man sich doch auch klarmachen, daß ihre potentielle Bedeutung für Taxonomiker und Naturgeschichtler nicht allein darin liegt, Pioniere der ozeanischen Wissenschaften gewesen zu sein (Pioniere in einem neuen Feld schaffen stets das erste beachtenswerte Werk), sondern auch in ihrer Arbeit als Systematiker. In dieser Hinsicht war, sowohl was die Illustrationen als auch was die Botanik anbelangt, Georg der »Experte«, in den verschiedenen relevanten Zweigen der Zoologie, Ornithologie und Ichthyologie sticht hingegen Johann Reinhold hervor. Er war immerhin wichtig genug, vom späten Erwin Stresemann — einem von Deutschlands großen zeitgenössischen Systematikern, bei dem ich 1970-71 in Berlin noch arbeiten konnte — ein »Beispiel für brilliante, sorgsame und verständige Darstellung« in der Taxonomie von Vögeln genannt zu werden. 22 Dieses Lob bezog sich auf J. R. Forsters Monographien über Pinguine, »Historia Aptenodytae« von 1780 und »Mémoire sur les Albatros« von 1785, 23 und wurde Forster wegen der Stringenz dieser beiden Veröffentlichungen zuteil. Wie Stresemann schon 1951 bekannt war und wir inzwischen aufgrund eingehenderer Erforschung der in Berlin und anderenorts vorhandenen Forsterschen Manuskripte einschät-
19 Elmer Drew Merrill: »The Botany of Cook's Voyages and its unexpected significance in relation to anthropology, biogeology and history«, in: Chronica Botanica, XIV:5/6 (1954), S. 161384. 20 Vgl. z. B. Jillian Robertson: The Captain Cook Myth, Sydney 1981. 21 Tom Iredale: »J. R. & G. Forster, Naturalists«, in: The Emu, XXXVII (1937), S. 95-99. 22 Erwin Stresemann: Die Entwicklung der Ornithologie von Aristoteles bis zur Gegenwart, Aachen 1951, S.78f. 23 [Johann Reinhold Forster:] »Historia Aptenodytae, generis avium orbi australi proprii Auetore Io Reinoldo Forster LLD«, in: Commentationes Societatis Regice Scientiarum Gottingensis, III, Classis Physicœ, Bd. III (1780), S. 121-148; [ders.:] »Mémoire sur les Albatros. Par Monsieur Forster«, in: Mémoires de Mathématique et de Physique. Présentés à l'Academie Royale des Sciences, par divers savans, et lus dans ses assemblées, X (1785), S. 563-572.
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zen können, ist noch weit mehr vorhanden, was zu Forsters Lebzeiten nie publiziert wurde und das ermessen läßt, wie einschneidend und sogar unzweifelhaft grundlegend ihr systematischer Beitrag zur pazifischen und ozeanischen Wissenschaft gewesen wäre. Damit nun, verspätet, zu Georgs Brief von 1791, den ich eingangs als so entscheidend für Georgs Schwanken zwischen dem Naturwissenschaftler der englischen Zeit und dem Literaten und Revolutionär der deutschen erwähnte. Als er am 26. November 1791 aus Mainz an C. F. Voß in Berlin schreibt, der lange Zeit der treue Verleger Johann Reinholds gewesen war und sich in der letzten Zeit Georg zugewandt hatte, äußert der junge Forster einen heimlichen Wunsch: »Jetzt noch eine Bitte an Sie im engsten Vertrauen. Meine Lage ist, wie Sie leicht denken können, sehr eingeschränkt. Ich bin im Haushalt ein Anfanger, habe sonst mich weit schlechter gestanden als jezt, und kann also noch nicht sagen, daß ich von vorigen Zeiten her auf dem Trocknen und Reinen wäre. So rasch und eifrig ich auch zeither gearbeitet habe, so wenig spüre ich doch noch Erleichterung, und dagegen zwingt mich meine geschwächte Gesundheit zu einer grössern Enthaltsamkeit im Arbeiten, wenigstens auf das nächste Jahr. Um nun dadurch nicht in meinem Häuslichen Zuschnitt Schaden zu leiden und mehr zurückzukommen, ist mir nur ein Mittel beigefallen, welches ich zu versuchen gedenke damit ich mir nichts vorzuwerfen habe so sehr es sonst meiner Denkungsart und, ganzen Natur, möcht ich sagen, zuwider ist. Sie wissen ich bin mit Cook um die Welt gereiset. Die Pflanzen die ich während der Reise entdeckt und beschrieben habe, sind noch nicht publizirt. Den Catalog machte ich 1786 in Wilna bekannt, unter dem Titel prodromus florulae insularum oceani australis. 8°. Gottingae bey Dieterich. — Die Beschreibungen in extenso liegen noch da; sie wären in England herausgekommen, wenn mein Vater nicht mit dem englischen Ministerio zerfallen wäre und allen Vorschub verloren hätte. Die Beschreibungen von Thieren, — womit er sich beschäftigt hat, liegen auch ungedruckt. —« (AA XVI: 384f.). Letztlich bestand Georgs Bitte an Voß darin, einen Förderer oder Sponsor zu finden, am besten den Preußischen König, der ihn für die Ausarbeitung des abschließenden großen Werks über die Pflanzen der zweiten Cookschen Reise absichern oder entlohnen sollte: ein Vorhaben, das 1791 schon fast beendet und für ihn »eine leichte und unterhaltsame Arbeit« sei. Der Brief enthüllt auch Georgs desolate häusliche Verhältnisse, sein Gefühl der Unzulänglichkeit als Vater und Ehemann und seine Verzweiflung, finanziell absolut nicht zurande zu kommen. Für ihn ist keine Erleichterung von all seiner harten Arbeit und Anstrengung in Sicht außer dieses letzten verzweifelten Versuchs, irgendeine finanzielle Entlohnung für eine dreijährige Reise zu erhalten, die, wie er jetzt realisiert, durch Skorbut und andere Entbehrungen seine Gesundheit geschwächt und nachhaltig geschädigt hat. Fast im Gegensatz zu seinen sonstigen (und vielleicht auch seinen >ererbten