Gemeinwohl und lokale Macht: Honoratioren und Armenwesen in der Berliner Luisenstadt im 19. Jahrhundert [Reprint 2015 ed.] 9783111334158, 9783598232213


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Table of contents :
VORBEMERKUNG
EINFÜHRUNG
ERSTES KAPITEL: Die lokale Macht der Honoratioren (1823-1844)
Der Bürger der Steinschen Städteordnung
Honoratioren und Selbstverwaltung
Die Armenkommissionen
Die Armenkommissionen der Luisenstadt
Armenkommissionen und Honoratiorenfamilien
Die Tätigkeit auf der Armendirektionsebene: de Cuvry
Vom Gemeinsinn zum Lokalsinn. Motive der Honoratioren der Luisenstadt
ZWEITES KAPITEL: Der Luisenstädtische Wohltätigkeitsverein
Die Fabrikkinder
Die Schule als „Kirche der Kinder“
Die Sonntagsschule und die Schuluntersuchungen des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins
Die Kleinkinderbewahranstalt des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins und die Kleinkinderbewahranstalt-Bewegung
Spätere Tätigkeit
Kinderarbeit und Schulbesuch
DRITTES KAPITEL: 1844 - Das Auftreten der Liberalen
Die Polarisierung der politischen Beziehungen
Kochhann und die „Lichtfreunde“
Heinrich Runge und der Bürgerverein
Die liberale Sparideologie
Hedemann und der Handwerkerverein
Der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen und Eduard Goldschmidt
Centralverein und Lokalverein
Die Liberalen und die Armenkommissionen
Exkurs: Vom Verein zum „Verfahren“
Viertes Kapitel: Die konservative Offensive
Friedrich Wilhelm IV. und die Luisenstadt
Friedrich Wilhelm IV. und die Planung der Luisenstadt
Die soziale Frage im Bewußtsein der Konservativen
Der Schwanenorden
Das Institut der barmherzigen Schwestern
Bethanien und die Liberalen
Die Gründung der Jakobi-Gemeinde
St. Jakobi und die Innere Mission
FÜNFTES KAPITEL: Die Reaktionszeit
Hinckeldey und der Plan einer Stadtregierung
Reaktionszeit und Selbstverwaltung
Exkurs: „Berliner“ und „Elberfelder System“
Umschichtungen in der Luisenstadt: Die Armenkommissionen
Umschichtungen in der Luisenstadt: Die kirchliche Verdoppelung kommunaler Einrichtungen
Die Sparideologie der Konservativen: Die Berliner gemeinnützige Baugesellschaft und die Luisenstadt
Ehrenamtliche Tätigkeit und Großindustrie: Heckmann
Die „Physiognomie der Einwohnerschaft“ der Luisenstadt
SECHSTES KAPITEL: Die liberale Modernisierung
Die liberale Wende
Liberale Sozialpolitik und Bezirksvereine
Die Liberalen und die Armenkommissionen
Ludwig Loewe und der „Verein gegen Verarmung“
Der Berliner Bebauungsplan von 1862 und das Berliner System
Die lokale Realität der Luisenstadt
Die Armenkommissionen der Luisenstadt während der liberalen Blütezeit
Ehrenamtliche Tätigkeit und Liberale: Wilhelm und Theodor Kampffmeyer
SIEBENTES KAPITEL: Die „Liberale Ära“ der siebziger Jahre
Verwissenschaftlichung und Bürokratisierung der Stadtverwaltung. Auf dem Wege zur „Leistungsverwaltung“
Der kirchliche Vormarsch in der Luisenstadt der siebziger Jahre
Vom Ehrenamt zum Cliquenwesen
Gesundheitspflege und Wohnungsnot: Verwissenschaftlichung und Verschleierung der sozialen Frage
Wohnungsnot als Kostenfaktor für die Gemeinde
Wohnungsmarkt und soziales System: Das Prinzip der kommunizierenden Röhren
ACHTES KAPITTEL: Die Institutuon der zocialen Sicherheit
Die Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse
Erster Exkurs: Konservative Sozialpolitik und „Staatssozialismus“ 1853-1890
Zweiter Exkurs: Krankenkassen und andere Hilfsorganisationen in Berlin
Bismarck und die „lokale Willkür“
Die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung
Bismarcks Sozialgesetze
NEUNTES KAPITEL: Der Zerfall der alten Gesellschaft in der Luisenstadt
Die Luisenstadt nach der Reichsgründung
Stadtmission und Stoecker
Paul Singer, der erste Kommunalpolitiker der Arbeiterpartei
Andere sozialdemokratische Luisenstädter im Stadtparlament
Die Linke und die Wohltätigkeitsfrage
ZEHNTES KAPITEL: Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat im ausgehenden Jahrhundert
Die Folgen der Arbeiterversicherungen für die Gemeinden
Die Armenkommissionen im letzten Viertel des Jahrhunderts
Die Rolle des Ehrenamtes
Ehrenamt und „angemessener Lebensstil“
Die Armenkommissionen der Luisenstadt im letzten Viertel des Jahrhunderts
Ein Wohlfahrts-Clan in der Luisenstadt: die Heckmanns
Ein Armenkommissionsmitglied der achtziger Jahre
Das Scheitern der Honoratiorenmentalität im Oberbürgermeisteramt
ELFTES KAPITEL: Die langwierige Auflösung des ehrenamtlichen Armenwesens in Berlin
Das Berliner System - Cui bono?
Gründe für die Krise des Berliner Systems
Das Prinzip Nachbarschaft
ANHANG
ANHANG A: Das Berliner System. Versuch einer systematischen Darstellung
ANHANG B: Wirtschaftskonjunktur und Honoratiorenverhalten
ANHANG C: Die Armenkommissionen der Luisenstadt im 19. Jahrhundert. Ein Gesamtbild
ANHANG D: Die Klienten der Armenkommissionen
TABELLE: Laufende und Extra-Unterstützungen von 1877 bis 1887/88
ANHANG E: Die räumliche Entwicklung der Armenkommissionsbezirke im Laufe des 19- Jahrhunderts
ABBILDUNGEN
ABBILDUNG 1: Die Luisenstadt 1830
ABBILDUNG 2: Die Luisenstadt 1896
ABBILDUNG 3: Armenkommissions- und Stadtbezirke der Luisenstadt im Jahr 1876
ABBILDUNG 4: Anzahl der Almosenempfänger der sieben Armenkommissionen der Luisenstadt von 1833 bis 1859
ABBILDUNG 5: Getreidepreise im Zeitraum von 1833 bis 1859
ABBILDUNG 6: Vergleich der Almosenempfänger der sieben Armenkommissionen der Luisenstadt von 1833 bis 1859 durch einen Index der Zahl der Unterstützten. 1833 = 100
ABBILDUNG 7: Vergleich der Entwicklung der Roggenpreise mit der Anzahl der Almosenempfänger der Stadt Berlin und der Luisenstadt in der Zeit von 1833 bis 1859 durch einen Index. 1833 = 100
ABBILDUNG 8: Anzahl der Almosenempfänger der einzelnen luisenstädtischen Armenkommissionen, in der gesamten Luisenstadt sowie in ganz Berlin 1833 bis 1859
ABBILDUNG 9: Berufe der ehrenamtlichen Mitglieder der luisenstädtischen Armenkommissionen 1823 bis 1915
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
PERSONENREGISTER
ORTSREGISTER
SACHREGISTER
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Gemeinwohl und lokale Macht: Honoratioren und Armenwesen in der Berliner Luisenstadt im 19. Jahrhundert [Reprint 2015 ed.]
 9783111334158, 9783598232213

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EINZELVERÖFFENTLICHUNGEN

DER

H I S T O R I S C H E N K O M M I S S I O N ZU BERLIN B A N D 77

LUDOVICA SCARPA

G E M E I N W O H L UND LOKALE MACHT

Honoratioren und Armenwesen in der Berliner Luisenstadt im 19. Jahrhundert

K G · SAUR M Ü N C H E N · N E W P R O V I D E N C E • L O N D O N · PARIS 1 9 9 5

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Köpenicker Bank e. G., Berlin. Die Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin erscheint mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung, Berlin.

Lektorat der Schriftenreihe Christian Schädlich Thomas Revering

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Scarpa Ludovica: Gemeinwohl und lokale Macht : Honoratioren und Armenwesen in der Berliner Luisenstadt im 19. Jahrhundert / Ludovica Scarpa. - München ; New Providence ; London ; Paris : Saur, 1995 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin ; Bd. 77) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1991 ISBN 3-598-23221-7 NE: Historische Kommission : Einzelveröffentlichungen der Historischen ...

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Alle Rechte vorbehalten / All Rights strictly Reserved Κ. G. Saur Verlag GmbH & Co. KG, München 1995 A Reed Reference Publishing Company Printed in the Federal Republic of Germany Satz: Historische Kommission zu Berlin, Berlin Druck: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach Binden: Buchbinderei Schaumann, Darmstadt ISBN 3-598-23221-7

VORBEMERKUNG Die Idee zum vorliegenden Band reicht zeitlich weit zurück und besitzt viele geduldige Förderer. Daß sie verwirklicht werden konnte, verdanke ich vor allem der Historischen Kommission zu Berlin und deren Vorstandsmitglied Prof. Wolfgang Ribbe sowie meinem Doktorvater Prof. Hartmut Kaelble. Meinem venezianischen Institut, Istituto Universitario di Architettura di Venezia, und vor allem dessen Rektor, Prof. Marino Folin, habe ich dafür zu danken, daß mir die Möglichkeit eingeräumt wurde, mehrere Jahre in Berlin zu arbeiten. Im Rahmen des von der Stiftung Volkswagenwerk geförderten Forschungsprogramms „Geschichte und Zukunft europäischer Städte" erhielt ich die Gelegenheit, umfangreiche Voruntersuchungen durchzuführen, die von Pfarrer Dr. Klaus Duntze in Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zur Stellung der Kirche in der Luisenstadt in uneigennütziger Kollegialität angeregt wurden. Danken möchte ich auch all denen, die mich bei zahlreichen Einzelfragen berieten und mir Materialien zur Verfügung stellten; besonders erwähnt seien Prof. Innocenzo Cervelli, Frau Prof. Ute Frevert, Renato Gibin, Dr. Dieter Hoffmann-Axthelm, Prof. Wolfgang Hofmann, Prof. Jürgen Kocka, Klaus Kürvers, Prof. Giovanni Levi, Prof. Ilja Mieck, Prof. Fabio Rugge und Dr. Sigurd-Herbert Schmidt. Mein Dank gilt des weiteren Herrn Christian Schädlich für die gründliche Lektorierung. Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung danke ich Herrn Jürgen Jenkel, Vorstandvorsitzender der Köpenicker Bank e. G., sowie seiner Frau Charlotte. Das Manuskript wurde 1991 vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertationsschrift angenommen.

Berlin-Prenzlauer Berg, im Dezember 1994

Ludovica Scarpa

INHALT VORBEMERKUNG

V

EINFÜHRUNG

1

ERSTES KAPITEL:

Die lokale Macht der Honoratioren

(1823-1844)

Der Bürger der Steinschen Städteordnung Honoratioren und Selbstverwaltung Die Armenkommissionen Die Armenkommissionen der Luisenstadt Armenkommissionen und Honoratiorenfamilien Die Tätigkeit auf der Armendirektionsebene: de Cuvry Vom Gemeinsinn zum Lokalsinn. Motive der Honoratioren der Luisenstadt...

ZWEITES KAPITEL:

Der Luisenstädtische Wohltätigkeitsverein

Die Fabrikkinder Die Schule als „Kirche der Kinder" Die Sonntagsschule und die Schuluntersuchungen des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins Die Kleinkinderbewahranstalt des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins und die Kleinkinderbewahranstalt-Bewegung Spätere Tätigkeit Kinderarbeit und Schulbesuch

DRITTES KAPITEL: 1 8 4 4

- Das Auftreten der Liberalen

Die Polarisierung der politischen Beziehungen Kochhann und die „Lichtfreunde" Heinrich Runge und der Bürgerverein Die liberale Sparideologie Hedemann und der Handwerkeiverein Der Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen und Eduard Goldschmidt Centraiverein und Lokalverein Die Liberalen und die Armenkommissionen Exkurs: Vom Verein Zum „Verfahren"

14

15 19 24 33 40 45 47

52 55 57 59 65 70 73

78

78 80 84 92 98 100 104 108 111

Inhalt

Vili

VIERTES KAPITEL: D i e k o n s e r v a t i v e O f f e n s i v e

Friedrich Wilhelm IV. und die Luisenstadt Friedrich Wilhelm IV. und die Planung der Luisenstadt Die soziale Frage im Bewußtsein der Konservativen Der Schwanenorden Das Institut der barmherzigen Schwestern Bethanien und die Liberalen Die Gründung der Jakobi-Gemeinde St. Jakobi und die Innere Mission

FÜNFTES KAPITEL: D i e R e a k t i o n s z e i t

114

114 115 120 125 133 141 146 153

156

Hinckeldey und der Plan einer Stadtregierung Reaktionszeit und Selbstverwaltung Exkurs: „Berliner" und „Elberfelder System"

156 159 166

Umschichtungen in der Luisenstadt: Die Armenkommissionen Umschichtungen in der Luisenstadt: Die kirchliche Verdoppelung kommunaler Einrichtungen Die Sparideologie der Konservativen: Die Berliner gemeinnützige Baugesellschaft und die Luisenstadt Ehrenamtliche Tätigkeit und Großindustrie: Heckmann Die „Physiognomie der Einwohnerschaft" der Luisenstadt

168

SECHSTES KAPITEL: D i e l i b e r a l e M o d e r n i s i e r u n g

Die liberale Wende

171 176 181 183

185

185

Liberale Sozialpolitik und Bezirksvereine 190 Die Liberalen und die Armenkommissionen 193 Ludwig Loewe und der „Verein gegen Verarmung" 201 Der Berliner Bebauungsplan von 1862 und das Berliner System 203 Die lokale Realität der Luisenstadt 207 Die Armenkommissionen der Luisenstadt während der liberalen Blütezeit... 211 Ehrenamtliche Tätigkeit und Liberale: Wilhelm und Theodor Kampffmeyer 213 SIEBENTES KAPITEL: Die „Liberale Ära" der siebziger Jahre

216

Verwissenschaftlichung und Bürokratisierung der Stadtverwaltung. Auf dem Wege Zur „Leistungsverwaltung"

217

Der kirchliche Vormarsch in der Luisenstadt der siebziger Jahre

221

Vom Ehrenamt zum Cliquenwesen

224

Gesundheitspflege und Wohnungsnot: Verwissenschaftlichung und Verschleierung der sozialen Frage Wohnungsnot als Kostenfaktor für die Gemeinde

229 235

Wohnungsmarkt und soziales System: Das Prinzip der kommunizierenden Röhren

237

Inhalt ACHTES KAPITEL:

Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

IX 243

Die Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse 243 Erster Exkurs: Konservative Sozialpolitik und „Staatssozialismus" 1853-1890 244 Zweiter Exkurs: Krankenkassen und andere Hilfsorganisationen in Berlin.... 248 Bismarck und die „lokale Willkür" 254 Die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung 262 Bismarcks Sozialgesetze 266

NEUNTES KAPITEL:

Der Zerfall der alten Gesellschaft in der Luisenstadt

Die Luisenstadt nach der Reichsgründung Stadtmission und Stoecker Paul Singer, der erste Kommunalpolitiker der Arbeiterpartei Andere sozialdemokratische Luisenstädter im Stadtparlament Die Linke und die Wohltätigkeitsfrage

ZEHNTES KAPITEL:

Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat im ausgehenden Jahrhundert

Die Folgen der Arbeiterversicherungen für die Gemeinden Die Armenkommissionen im letzten Viertel des Jahrhunderts Die Rolle des Ehrenamtes Ehrenamt und „angemessener Lebensstil" Die Armenkommissionen der Luisenstadt im letzten Viertel des Jahrhunderts Ein Wohlfahrts-Clan in der Luisenstadt: die Heckmanns Ein Armenkommissionsmitglied der achtziger Jahre Das Scheitern der Honoratiorenmentalität im Oberbürgermeisteramt

Die langwierige Auflösung des ehrenamtlichen Armenwesens in Berlin Das Berliner System - Cui bono? Gründe für die Krise des Berliner Systems Das Prinzip Nachbarschaft

279 279 280 282 285 288

290 292 299 304 306 307 308 312 314

ELFTES KAPITEL:

ANHANG

317 322 324 329

331

Das Berliner System. Versuch einer systematischen Darstellung... 333 Wirtschaftskonjunktur und Honoratiorenverhalten 338 ANHANG C: Die Armenkommissionen der Luisenstadt im 19. Jahrhundert. Ein Gesamtbild 338 ANHANG A :

ANHANG B :

X

Inhalt ANHANG Ο: Die Klienten der Armenkommissionen TABELLE: Laufende und Extra-Unterstützungen von 1877 bis 1887/88

341 345

ANHANG E: Die räumliche Entwicklung der Armenkommissionsbezirke im Laufe des 19- Jahrhunderts ABBILDUNGEN

348 352

ABBILDUNG 1: Die Luisenstadt 1830

352

ABBILDUNG 2: Die Luisenstadt 1896

353

ABBILDUNG 3: Armenkommissions- und Stadtbezirke der Luisenstadt im Jahr 1876

354

ABBILDUNG 4: Anzahl der Almosenempfánger der sieben Armenkommissionen der Luisenstadt von 1833 bis 1859 ABBILDUNG 5: Getreidepreise im Zeitraum von 1833 bis 1859

355 355

ABBILDUNG 6: Vergleich der Almosenempfánger der sieben Armenkommissionen der Luisenstadt von 1833 bis 1859 durch einen Index der Zahl der Unterstützten. 1833 - 100

356

ABBILDUNG 7: Vergleich der Entwicklung der Roggenpreise mit der Anzahl der Almosenempfänger der Stadt Berlin und der Luisenstadt in der Zeit von 1833 bis 1859 durch einen Index. 1833 - 100

356

ABBILDUNG 8: Anzahl der Almosenempfánger der einzelnen luisenstädtischen Armenkommissionen, in der gesamten Luisenstadt sowie in ganz Berlin 1833 bis 1859

357

ABBILDUNG 9: Berufe der ehrenamtlichen Mitglieder der luisenstädtischen Armenkommissionen 1823 bis 1915

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

358

359

PERSONENREGISTER

377

ORTSREGISTER

383

SACHREGISTER

385

Es ist wahr, ein Einzelner kann den Weltlauf nicht ändern. Aber wenn sein ganzes Leben nicht die wilde Verzweiflung ist, die dagegen sich aufbäumt, wird er auch nicht das unendlich kleine, bedeutungslose, eitle, nichtige bißchen Gute zustande bringen, zu dem er als Einzelner fähig ist. Max Horkheimer, Notizen 1961

EINFÜHRUNG In einem persönlichen Brief vom 13. Februar 1884 formuliert der Berliner Oberbürgermeister Max von Forckenbeck angesichts der wachsenden Machtfülle des Staates seine liberale Position: „So lange es möglich erscheint, die Gemeindeverwaltung Berlins in ihrer Unabhängigkeit und in liberalem Sinne und in ihrer kräftigen Wirksamkeit allen mächtigen Feinden zum Trotz aufrecht zu erhalten, solange muß ich diesem Zweck vorzugsweise und fast allein dienen, und dann bleibt keine Kraft und keine Zeit für die Führung resp. die Arbeit der Partei übrig. Die Gemeindeverwaltung Berlins ist eine der wenigen noch übrig gebliebenen Selbständigkeiten, und bei ihren besonderen sorgfältig gepflegten Beziehungen eine Selbständigkeit von einigem Einfluß, und das wiegt schwerer als der Kampf in den Parlamenten, die in den jetzt mehr als 25 Jahren meiner Parlamentsthätigkeit nie so tief, äußerlich wie innerlich, gesunken waren wie heute." 1 Es wäre verfehlt, in diesen Äußerungen nur ein resignierendes Zurückweichen auf die lokale Ebene aufgrund der Wahlerfolge der Konservativen erkennen zu wollen; Forckenbeck spricht vielmehr das generelle Mißtrauen der Liberalen gegenüber den nivellierenden Folgen der zentralen Verwaltungen aus und hält ihr den sozialen und ethischen Gedanken der Selbstverwaltung auf lokaler Ebene entgegen. Denn das ist die Ebene, wo die liberalen Eliten - die Honoratioren - seit Beginn des 19. Jahrhunderts ihr vornehmliches Betätigungsfeld erkannt und es vielfältig ausgefüllt hatten. Ihre exponierte Stellung sicherten sich die Liberalen durch ein Wahlrecht, das sie vor dem Ansturm der Massen schützte, zunächst durch das Zensuswahlrecht und seit 1853 durch das mit der neuen Gemeindeordnung eingeführte Dreiklassenwahlrecht. Auf der Ebene der politischen Praxis beherrschten die Liberalen nahezu ein Jahrhundert lang die meisten Stadtparlamente, ohne daß sie dazu einer breiten Wählerschaft

1

Martin Philippson, Max von Forckenbeck. Ein Lebensbild, Dresden 1898, S. 357.

Einführung

2

bedurften. James Sheehan leitet daraus den besonderen, elitären Zug des deutschen Liberalismus ab.2 Bis zum Ersten Weltkrieg konnte das liberale Bürgertum in den Kommunalverwaltungen aller größeren preußischen Städte politisch dominieren; bei den Reichstagswahlen hingegen, wo die Liberalen durch kein restriktives Wahlrecht geschützt waren, schnitten sie vergleichsweise schlecht ab.3 Im Unterschied zu anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sind Entstehen und Entfalten der modernen Selbstverwaltung in Deutschland zunächst nur in den jeweiligen konkreten Formen einschließlich der Klein- und Kleinstereignisse zu untersuchen. Das resultiert wesentlich aus der Vielgestaltigkeit des Liberalismus als einer umfassenden Kulturidee, in der die freie und individuelle Entwicklung des Individuums zum obersten Gebot erhoben wird. Daraus erwächst gleichsam auf parteipraktischem Gebiet die außerordentliche Heterogenität des liberalen Lagers in den einzelnen Lokalverwaltungen. Lothar Gall charakterisiert in seiner Untersuchung über Mannheim das Forschungsdilemma: Verallgemeinerungen seien in der neuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung nur auf einer derartig hohen Abstraktionsebene möglich, daß „vieles schließlich so allgemein wie banal" erscheine, obgleich sich im 19. Jahrhundert die „Repolitisierung ... der Gesellschaft ... in erster Linie über die Stadt und die städtische Selbstverwaltung vollzogen" hat.4 I In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, diese „Repolitisierung" der Gesellschaft im 19. Jahrhundert konkret zu analysieren; aus methodischen Gründen bot sich als Einstieg und Ausgang die Untersuchung der Tätigkeit der Honoratioren in der Luisenstadt, einem Stadtviertel Berlins, an. Die Luisenstadt, die seit 1802

2

James J. Sheehan, Liberalism and the City in 19• Century Germany, in: Post & Present, 20. Jg. (1971), Nr. 51, S. 116 f. ^ Vgl. Ζ. B. Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1985, S. 131-138. 4 Lothar Gall, Die Stadt der bürgerlichen Gesellschaft. Das Beispiel Mannheim, in: Forschungen zur Stadtgeschichte, hrsg. von der gemeinsamen Kommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Gerda Henkel Stiftung, Opladen 1986, S. 55 ff., Zitat S. 56-57.

Einführung

3

diesen Namen führte, weist eine geschichtliche Dramaturgie auf, deren Hintergrund die rapide Zunahme der Einwohnerzahlen von 13 000 zu Beginn auf 300 077 am Ende des Jahrhunderts bildet. Im Verlauf dieser Entwicklung entstehen völlig neue Dimensionen der Lokalverwaltung und Stadterweiterung; der ehemalige Gemeinsinn nachbarschaftlicher Beziehungen verwandelt sich in eine Fiktion und das Beharren darauf in einen Anachronismus. Der Maßstab der lokalen Ebene - hier des Stadtviertels - ermöglicht die Wahrnehmung historischer Prozesse, wo sie noch plastisch aus den konkreten Ereignissen herauswachsen. Die politischen Verhaltensweisen und Strategien der Individuen treten hier alltäglich auf, gestützt und konditioniert von Nachbarschaftsrücksichten, Klientelen und Familienverbindungen. Die Rekonstruktion dieses Wurzelgeflechts fördert ein Geschichtsbild des tatsächlichen Lebens der städtischen Gesellschaft und seiner Wandlungen zutage, das nicht dem herkömmlichen, von Klassenkonflikten und Staatsaktionen dominierten entspricht. Das Stadtviertel erlaubt die genaue Untersuchung der Umstrukturierung der städtischen Gesellschaft in ihren einzelnen Phasen.5 Der üblicherweise latenten Gefahr mikrogeschichtlicher Untersuchungen, in Individual- beziehungsweise Ortsereignissen völlig aufzugehen, wirkte hier der glückliche Umstand entgegen, daß die Geschichte der Luisenstadt unmittelbar mit der besonderen Rolle Berlins als Hauptstadt Preußens und später des Deutschen Reichs konfrontiert war. Insofern ergab es sich aus der Sache selbst, die Bühne der überlokalen Geschichte zu betreten. Die Wechselbeziehungen von großer und kleiner Geschichte lassen sich entsprechend gut beobachten. Neben dieser Konkretheit ermöglicht die Konzentration auf das räumliche und soziale Gebilde „Luisenstadt" das Erfassen einer gesellschaftlichen Totalität in ihren verschiedenartigsten Äußerungen und Beziehungen. Zu diesem Zweck habe ich eine Arbeitsweise gewählt, die für historische Darstellungen eher untypisch ist. Unterschiedliche Themenkomplexe, die ansonsten von geschichtswissenschaftlichen Spezialdisziplinen separat behandelt werden, mußten untersucht werden, so die Geschichte der Armenfürsorge, die Sozialpolitik der Konservativen, die Herausbildung des Liberalismus, die 5 Im September 1991 fand in der „Ecole Française" in Rom eine Tagung zum Thema Stadtviertel im 18. und 19. Jahrhundert statt. Vgl. Mélanges de l'Ecole française de Rome. Italie et Méditerranée, tome 105, fascicule 2, Rom 1993, S. 459-475 und passim.

4

Einführung

Stadtplanung, die Entstehung des Berliner Mietshauses, die Geschichte der Kleinkinderbewahranstalten und die Krankenkassen, um nur einige Themenbereiche zu erwähnen. Aus Prinzipien der Übersichtlichkeit sind allgemeine und Mikrogeschichte sowie staatliche und Lokalpolitik isoliert dargestellt worden, obgleich sie sich in der historischen Wirklichkeit ständig durchdringen. Diese Methodik besitzt neben dem Nachteil, Sonderthemen nie erschöpfend behandeln zu können, den offensichtlichen Vorteil, Zusammenhänge sichtbar zu machen, die ansonsten unbeachtet bleiben müssen beziehungsweise überhaupt nicht ins Blickfeld gelangen. Es soll hier zumindest auf einige der landläufigen Forschung entgegengesetzte beziehungsweise weiterführende Ergebnisse hingewiesen werden: auf die konkreten Beziehungen zwischen dem sogenannten Elberfelder System und den von ehrenamtlichen Honoratioren getragenen Systemen in anderen Städten, wie zum Beispiel in Berlin und Hamburg;6 zu sparen und sich zu versichern als ein einheitliches und selbst zu gestaltendes Vorsorgeverhalten, das die Liberalen propagierten; das Architekturverständnis Friedrich Wilhelms IV. als Bestandteil seines politischen Denkens 7 und schließlich das Entstehen des Typus des Berliner Mietshauses und sein Funktionieren in der städtischen Gesellschaft als Bestandteil eines neuartigen gesellschaftlichen Umverteilungssystems. II Die Entscheidung, soziale Strukturen und deren Wandel in der Luisenstadt zu erforschen, führte im Fortgang der Untersuchung dazu, sie in mehrere Arbeitsstränge zu gliedern. 1. Den Kern der Studie bildet die Tätigkeit der Honoratioren des Viertels, getragen von ihrem ehrenamtlichen Engagement in den unmittelbaren sozialen Strukturen am Ort, das sind vornehmlich die Armenkommissionen. Die Honoratioren bildeten einen Stand, des^ Vgl. vor allem Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum ersten Weltkrieg, Bd. 1-3, StuttgartBerlin-Köln-Mainz 1980-1989. 7 Vgl. Walter Bussmann, Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. Eine Biographie, Berlin 1990 und Otto Büsch (Hrsg.), Friedrich Wilhelm TV. in seiner Zeit. Beiträge eines Colloquiums ( - Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 62: Forschungen zur preußischen Geschichte), Berlin 1987.

Einführung

5

sen ökonomische Lage seinen Angehörigen eine gewisse Abkömmlichkeit vom Erwerbsleben einräumte und es ihnen erlaubte, „ f ü r die Politik leben zu können, ohne ν ο η ihr leben zu müssen".8 Das System der Honoratioren und seine Wandlungen sind bisher kaum historisch untersucht worden, obgleich es in Preußen den folgenreichen Übergang von der ständischen zur modernen Gesellschaft markiert. Diese wissenschaftliche Abstinenz mag befremden, denn die geschichtliche Kenntnis des Phänomens der Honoratioren wie die schrittweise und völlige Ersetzung der Honoratiorenherrschaft durch bürokratische Verwaltungsstrukturen könnte dazu beitragen, die Mechanismen heutiger Entscheidungen über öffentliche Angelegenheiten besser zu verstehen. Doch die Politik ist wohl wenig geneigt, den Zusammenhang von „unmittelbarer Demokratie" und „Honoratiorenverwaltung" zur Kenntnis zu nehmen. Max Weber zeigt ihn uns: ,Jede unmittelbare Demokratie neigt dazu, zur ,Honoratiorenverwaltung' überzugehen. Ideell: weil sie als durch Erfahrung und Sachlichkeit besonders qualifiziert gilt. Materiell: weil sie sehr billig, unter Umständen geradezu: kostenlos, bleibt. Als Honoratioren wurden jene Bürger geehrt, die sich der öffentlichen Angelegenheiten ihrer Gemeinwesen - scheinbar - uneigennützig annahmen. Selbstverantwortung, freier Ermessensspielraum und Überschaubarkeit aller ihrer Handlungen waren feste Spielregeln dieses Systems. 2. Neben dem Honoratiorentum ist es das Armenwesen, das genaue Einblicke in das unmittelbare und alle Schichten betreffende Funktionieren der Gesellschaft ermöglicht. Es werden Blüte und Verfall des Berliner Systems der Armenverwaltung dargestellt, das zwei Generationen vor dem bekannteren Elberfelder System entstand und diesem in vielem vorgreift. Es stellte sich dabei heraus, daß die räumliche Entwicklung der Stadt mit diesem Umverteilungssystem eng verbunden war. Es leuchtet ein, daß der Glaube, nur dem Gemeinwohl zu dienen, aus der vergangenen, quasi-ständischen Phase der Stadtverwaltung sozusagen selbstverständlich vom Liberalismus übernommen wurde. Eine Wurzel der Langlebigkeit der liberalen Überzeugung, unmittelbar die Interessen der Allgemeinheit und des sozialen 8

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden 5-, rev. Aufl., Tübingen 1980, S. 170. Hervorhebung im Original. 9 Ebda.

Soziologie,

6

Einführung

Fortschritts zu vertreten, läßt sich in der Verwaltung des Armenwesens finden: Dieser zentrale Zweig der Stadtverwaltung erhielt das ganze Jahrhundert hindurch Traditionen und Vorgehensweisen der korporativen Gesellschaft am Leben. 3. Ein weiterer Strang der Arbeit behandelt den Prozeß der Repolitisierung des Stadtbürgertums in religiösen und sozialen Gremien am Ort. Aus einer relativ homogenen Welt von Personen, die in Vereinen, Kirchengremien und Stützpunkten der Stadtverwaltung ihre Zeit für das Allgemeinwohl opferten, entwickelte sich im Laufe des Jahrhunderts eine politische Polarisierung der Interessen. Sie entzündete sich an religiösen und sozialen Eingriffen, die die Frage nach der Macht in der Luisenstadt aufwarfen. Aus diesem Honoratiorentum erwuchs freilich ein Liberalismus mehr des Lokal- als des Weltbürgertums. Vom Gemeinsinn zur Lokalpolitik, aber auch vom Gemeinsinn zum Lokalsinn: Konkret entwickelte sich die Tätigkeit der Honoratioren zu einer Möglichkeit, sich lokalpatriotisch für die Interessen des Viertels zu engagieren. 4. Der letzte Strang der Arbeit verfolgt die heranreifenden liberalen und konservativen Positionen in der sozialen Frage. Bei der konkreten Auslegung der allgemeinen Sparparole in der Kommunalpolitik lassen sich seit den vierziger Jahren zwei Themen aufzeigen, die noch die Debatten über die Arbeiterversicherungen in den achtziger Jahre beherrschen; es ist einerseits die Freiwilligkeit der Vorsorge, die auf Maßnahmen zur Bildung fußt und durch Überzeugung entsteht, andererseits ist es der Zwang zur Vorsorge, der durch Gesetze des paternalistischen Staates sanktioniert wird. Hier wird der Nachweis für den engen Zusammenhang der Arbeiterversicherungsgesetze mit dem kommunalen Armenwesen erbracht sowie auf die besondere Rolle hingewiesen, die dabei Bismarcks Abneigung gegen die liberal regierte Stadt Berlin spielte. III

Die sozialen Mechanismen in der Luisenstadt werden nur verständlich, wenn die Verwaltungsebenen einzeln und in ihren wechselseitigen Wirkungen untersucht und dargestellt werden. Es lassen sich unterscheiden - die Ebene des Stadtbezirks: Dies ist, im damaligen Sinne verstanden, die kleinste politische Verwaltungseinheit und gleichbedeu-

Einführung

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tend mit einem Wahlbezirk oder Armenkommissionsbezirk. Jeder Stadtbezirk stellte einen Vertreter für die Stadtverordnetenversammlung; - die Ebene des Stadtviertels: Als Viertel wird hier, abweichend vom damaligen Sprachgebrauch, die gesamte Luisenstadt verstanden. Denn zunächst folgte man der überkommenen Einteilung der früheren Cöllnischen Vorstadt und sprach von einem Lindenstraßenviertel und einem Köpenicker Viertel. Die Luisenstadt war seit 1809 keine administrative Einheit mehr, jedoch bis 1843 identisch mit der Parochie, der entscheidenden Größe für die Selbstwahrnehmung ihrer Bewohner und Bezugspunkt der städtischen Statistik; - die Ebene der Stadtverwaltung: Hier ist zu berücksichtigen, daß Magistrat, Armendirektion und Stadtverordnetenversammlung recht unterschiedlich wirksam waren und daß nicht ihre Beziehungen zueinander, sondern ihre Beziehungen zu den Honoratioren des Viertels von Interesse sind. Die Funktion der Zentralverwaltung änderte sich im Verlauf des Jahrhunderts in dem Maße, in dem sich gegenüber den formlosen Verfahren der Anfänge straffere Verfahren, bezahlte Arbeit und eine enge Zusammenarbeit zwischen Verwaltungsstellen und freien Vereinen durchsetzten; - die Ebene des Staates: Über die Stadterweiterungsplanung griffen die preußische Staatsregierung und König Friedrich Wilhelm IV. direkt in die Entwicklung der luisenstädtischen Verhältnisse ein. Nach 1844 wirkten Honoratioren der Luisenstadt bei der Gründung des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen und später bei der Gründung der Fortschrittspartei mit. Als lokale Instanzen besetzten die Berliner, insbesondere die luisenstädtischen Lokalpolitiker, wichtige Positionen in zentralen Verwaltungen und nationalen Organisationen, einige stiegen von der untersten zur obersten Ebene auf. Entsprechend dem Abstraktwerden der Macht im Verlauf des Jahrhunderts ändert sich der Stellenwert der verschiedenen Ebenen in der Darstellung. Sind am Anfang die sozialen Strukturen der Luisenstadt identisch mit den Persönlichkeiten, die die sozialen Entscheidungsbefugnisse besitzen - zugängliche Menschen, deren Anwesenheit für Hilfesuchende ein gut verteiltes, räumlich genau wahrnehmbares Netz sozialer Strukturen und lokaler Macht darstellte - , so lösen sich diese Eindeutigkeiten sowie ihre räumlichen Entsprechungen zunehmend auf.

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IV Eine historische Untersuchung der städtischen Selbstverwaltung auf lokaler Ebene wurde bisher noch nicht durchgeführt. Für die zentrale Ebene der Stadtverwaltung sind die bisherigen Arbeiten spärlich und allgemein. Charakteristisch ist die fehlende Aufmerksamkeit für das Honoratiorentum, obgleich es doch in ganz Europa Träger der Kommunalverwaltung war.10 Eine der wenigen Untersuchungen zu diesem Thema - sie befaßt sich mit den Göttinger Honoratioren11 - gibt eine Definition, die jedoch aus der Perspektive ihres Endes erfolgt: Mit dem Untergang der korporativ verfaßten Gesellschaft innerhalb der begrenzten ständischen Welt, wo Traditionen und Lebensstile allgemein akzeptierte Werte darstellten, verschwinde die Figur des Honoratioren zwangsläufig, da sie weniger durch Besitz als durch die gesellschaftliche Achtung bestimmt sei. Ihre Voraussetzung sei eine homogene, nicht durch soziale Spannungen oder klassenspezifische Interpretationen der Wirklichkeit fragmentierte Gemeinschaft, in der von Generation zu Generation die Rolle einer jeden Komponente klar abgegrenzt und der Aufstieg in den Rang des Honoratioren nicht einfach sei. Dennoch ist aber in Berlin, das seit den vierziger Jahren ein außergewöhnliches Wachstum verzeichnete,12 und trotz der Krise der Homogenität des städtischen Lebens einschließlich ihrer bis dahin gültigen Spielregeln die Stadtverwaltung von Honoratiorengestalten beherrscht worden. Ein lebendiges Bild des Honoratiorentums vermittelt das Buch von Lothar Gall über die Familie Bassermann.13 Weitere Beispiele genauerer Untersuchungen dieser Ebene liefern zwei Arbeiten aus England - Peter Hennocks Fit and Proper Persons und Derek Fräsers Urban Politics in Victorian England.14 Meine Ergebnisse stimmen mit letzteren in einigen wichtigen Aussagen überein, besonders in der 1 0 Wolfgang Hofmann, Aufgaben und Struktur der kommunalen Selbstverwaltung in derZeit der Hochindustrialisierung, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Stuttgart 1984, S. 578-644. 1 1 Dieter Koch, Das Göttinger Honoratiorentum vom 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1958. 1 2 Berlin hatte 1802 170 000 Einwohner, 1880 waren es 1 100 000. 1 3 Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989Ernest Peter Hennock, Fit and Proper Persons. Ideal and Reality im NineteenthCentury Urban Government, London 1973; Derek Fraser, Urban Politics in Victorian England. The Structure of Politics in Victorian Cities, Leicester 1976.

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Rolle des religiösen „Dissent" in der gesellschaftlichen Engagiertheit ehrenamtlicher Stadtdiener und in deren Herkunft aus dem Kleinbürgertum. Indem Fraser von der Voraussetzung ausgeht, daß jede Entscheidung der alltäglichen Lokalverwaltung bereits unmittelbar Politik sei, weil eben jede Entscheidung die praktische Ausübung von Macht bedeute, kann er es außer acht lassen, den delikaten Entstehungsprozeß bewußten politischen Handelns aus der einfachen Erledigung der lokalen Angelegenheiten zu rekonstruieren. Aber gerade der Mentalitätswandel von einem bewußt nicht-parteilichen und nicht-politischen Gemeinsinn zu einer bewußt parteiideologischen Lokalpolitik und zur Politik schlechthin sowie der Transfer von Erfahrungen der ersten Generation auf die politisierte zweite sind ein entscheidender Aspekt dieser Zeit. Dabei stellt sich die Rolle der sozialen Strukturen am Ort als Rekrutierungsbasis für Kommunalpolitiker heraus, von den Luisenstädtern Kochhann in den dreißiger Jahren bis zu Singer in den Achtzigern. Bekannt ist die These vom Engagement des Großbürgertums im Kommunalbereich als Ersatz für politische Macht auf nationaler Ebene. Ein Ergebnis dieser Arbeit ist eine differenzierende Auslegung dieser These. Der Hauptträger der Berliner Stadtverwaltung war von Anfang an die heterogene Schicht des „Kleinbürgertums" - Handwerker, Fabrikanten, Kaufleute - und nicht das Großbürgertum; aus dem Kleinbürgertum entstammte die überwältigende Mehrheit der vielen ehrenamtlichen Mitglieder in der Verwaltung am Ort, wie anfangs übrigens auch auf der zentralen Ebene. Erst nach der Reaktionsphase begannen sich die städtischen Ebenen der Verwaltung hinsichtlich ihrer sozialen Trägerschaft stärker zu differenzieren. So blieb die lokale Verwaltung der Luisenstadt bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend in den Händen des Kleinbürgertums, während es seit der Neuen Ära zunehmend Großbürger Industrielle, Bankiers, Professoren - waren, die die ehrenamtlichen Posten auf der Ebene der Stadtverwaltung Berlins besetzten. Die Ausnahmen, die noch in den achtziger Jahren zu finden sind, zeigen das Beharrungsvermögen des traditionellen Anwerbungssystems und die weiterhin wichtige Rolle der ehrenamtlichen Mitglieder des Magistrats als Vermittler zwischen der Ebene der zentralen und der Ebene der lokalen Stadtverwaltung. Die überraschende Lebensfähigkeit des Honoratiorentums erklärt sich aus der Tatsache, daß liberale Bürger die Stadt auf lokaler und teils auch auf zentraler Ebene bis zum Ersten Weltkrieg verwalteten.

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Das ehemals „hinreißend jugendliche, revolutionäre Temperament" der ersten Honoratioren war jedoch abhanden gekommen, übrig geblieben seien, schreibt Leopold von Wiese, „jene guten, nur etwas querköpfigen und begriffsstutzigen Bürger, die sich nunmehr liberal nannten". 15 Mit dem Einsetzen der Neuen Ära verliert die lokale Ebene stetig an Bedeutung und wird politisch marginal; sie wird aber in den Augen ihrer Träger als letzte Burg einer Verwaltung verstanden, die noch im Namen eines unmittelbaren Gemeinsinns für das Wohl der Allgemeinheit tätig ist. Neue Wertvorstellungen und Gewohnheiten setzten sich durch, alte Strukturen wurden anders genutzt oder beibehalten, ohne daß die Menschen, nicht nur hier im Viertel, ihre Begriffe dafür änderten. War beispielsweise das private Interesse, das die ehrenamtlichen Verwalter einbrachten, am Anfang des Jahrhunderts willkommen und gleichsam unzertrennlicher Bestandteil der Honoratiorenexistenz, so war es am Ende des Jahrhunderts, als Nebeneffekt der Professionalisierung des Verwaltungsverfahrens in den siebziger Jahren, völlig suspekt geworden. Hinsichtlich der „Massenverwaltung" habe man, konstatiert Max Weber, nur die Wahl zwischen „Bürokratisierung" und „Dilettantisierung"16; der ungeheure Vorzug der „bürokratischen Herrschaft" bestehe gerade in der formalisierten Fachkompetenz einer „unpersönliche Ordnung", 17 in der weder Subjektivität noch Zufall unterlaufen dürften, Handlungsbedingungen also, die in der Honoratiorenverwaltung gang und gäbe waren.

V Die komplizierte Darstellung muß sich schließlich durch ihre Ergebnisse rechtfertigen. Die Stadtbürger, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Luisenstadt an die Öffentlichkeit traten, liefern ein reicheres Bild der städtischen Gesellschaft, als es sich sonst unter der Voraussetzung einer von oben gesteuerten Gesellschaft in der Geschichtsschreibung zum Thema Preußen erschließt. Es wurde versucht, besonders hervortretende Ereignisse beziehungsweise das Leopold von Wiese, Der Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft, Berlin 1917, S. 70. 1 6 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft..., S. 128. 17 A. a. O., S. 125. 15

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Wesen bestimmter Phasen der geschichtlichen Entwicklung durch markante Persönlichkeiten der Luisenstadt wie Bachmann, de Cuvry, Kochhann, Kampffmeyer, Runge, Heckmann, Langerhans, Loewe, Singer und Zelle unter dem Blickwinkel der individuellen Biographie sichtbar zu machen. Ein originärer wissenschaftlicher Gewinn dieser Forschung besteht in der Entdeckung einer direkten und grundsätzlichen Beziehung zwischen dem gesellschaftlichen Umverteilungssystem und der räumlichen Entwicklung der Stadt Berlin und folgt gleichsam unerwartet aus dem Versuch, die Finanzierung des Modells zu klären. Die Berliner Wohnungsproduktion schwankte „zwischen den Extremen akuter quantitativer Wohnungsnot" und eines „heute kaum noch vorstellbaren Überangebots".18 Es handelte sich dabei um eine unstete, unsichere Entwicklung, die noch bis weit in die sechziger Jahre hinein vollständig von einem kapitalschwachen, laienhaften Bauherrentum getragen wurde.19 Der in jenen Jahren einsetzenden Expansion der Bauwirtschaft und vor allem dem 1862 rechtskräftig gewordenen Hobrecht-Plan verdanken wir heute einige der gelungensten Stadträume Berlins. Zugleich sind wir mit dem Widerspruch konfrontiert, daß der Typus des Berliner Mietshauses und der „hundertjährige Bebauungsplan", wie ihn der Abgeordnete Lasker 1870 ironisch nannte,20 seit ihrer Existenz einer unablässige Kritik ausgesetzt sind, einer Kritik, die auf das konkrete Wachstum der Stadt und auf die jahrzehntelange Produktion dieses Haustyps kaum Auswirkungen hatte.

1 8 Clemens Wischermann, Wohnungsmarkt, Wohnungsversorgung und Wohnmobilität in deutschen Großstädten 1870-1913, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Stadtwachstum, Industrialisierung, Sozialer Wandel. Beiträge zur Erforschung der Urbanisierung im 19• und 20. Jahrhundert, Berlin 1986, S. 101-133, Zitat auf S. 106.

^ 1841 betrug die Zahl der neuerbauten Wohnungen in der Stadt Berlin 2388 bei einem Altbaubestand von 61 000 Wohnungen; 1851 waren es nur 370 neuerbaute Wohnungen, 1859 schon 4642, 1864 erreichte ihre Zahl den Höhepunkt von 9163, 1870 fiel sie wieder auf 2387, stieg aber 1875 auf 20 008, eine Zahl die erst 1890 mit 21 644 Wohnungen überschritten wurde. Seit 1876 sank die Wohnungsproduktion rapide bis zum Tiefpunkt von 1880 mit 6200 Wohnungen, um sich dann wieder langsam zu erholen. Vgl. Emmy Reich, Der Wohnungsmarkt in Berlin von 1840-1910, München-Leipzig 1912, S. 126, 134 f. 2 0 Ernst Bruch, Berlins bauliche Zukunft und der Bebauungsplan, in: Deutsche Bauzeitung, 4 (1870), S. 69.

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Als erste Kritiker traten die Fortschrittsliberalen auf den Plan, die soeben den Magistrat erobert hatten. Diese Exponenten des neuen Großbürgertums in Industrie und Großbanken verwarfen eine gemischte Gesellschaft nach altliberaler Manier, wie sie im Berliner Mietshaus zusammenkam, als eine Zumutung. In ihrem Modernisierungskonzept hatten Dankbarkeitsgefühle und Nachbarschaftshilfe keinen Platz mehr, sondern sie leiteten aus der abstrakten Mechanik der Gesellschaft die räumliche Trennung der sozialen Schichten in der Stadt ab. Allerdings ließen die zunehmend krasser werdenden Unterschiede zwischen der Lebensführung des Großbürgertums und der der Arbeiter eine räumliche Nähe auch nicht mehr als wünschenswert erscheinen; sie hätte wahrscheinlich eher zu Mißbehagen und Reibereien als zur Herstellung positiver Bande zwischen den sich entfremdenden sozialen Schichten geführt. Es ist dies die Zeit der Entstehung der ersten Villenkolonien, die den Wünschen nach Absonderung solcher Klientelen entsprachen und die aus solchen Kreisen initiiert wurden. Die räumliche Nähe verschwand also nach und nach in der zweiten Jahrhunderthälfte und wurde gleichsam durch die ideologische Nähe von Gleichgesinnten in einer ähnlichen Lebenslage ersetzt. Insofern ließ jetzt die Adresse auf die gesellschaftliche Zugehörigkeit und auf die politische Coleur schließen. Klassenkampf und Konfrontation traten an die Stelle der persönlichen paternalistischen Kontakte. Die Entfremdung der sozialen Schichten vollzog sich in der Luisenstadt langsamer als anderswo - nicht zuletzt auch deshalb, weil die Honoratioren länger am Ort blieben. Die Argumentation der Fortschrittsliberalen hatte nachhaltigen ideologischen Erfolg und wurde von den späteren Historikern bis auf wenige Ausnahmen dankbar übernommen, denn sie besaß die entlastende Konsequenz, den Häusern die Schuld zu geben für das armselige Leben, das sich darin abspielte, und nicht den politischen Verhältnissen. Die soziale Not der Arbeiter verwandelte sich unter der Hand in ein technisch-wissenschaftliches Thema für Experten der Wohnungsnot und des modernen Städtebaus. So konnte die zentrale Bedeutung des Berliner Mietshauses für das Funktionieren der städtischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verborgen bleiben, obgleich dieses mit seiner sozial gemischten Nachbarschaft die entscheidende Voraussetzung für die Existenz des gesellschaftlichen Systems der lokalen Honoratioren bewahrte. Die Serviskommissionen, die wie die Armenkommissionen ehrenamtlich

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auf der Ebene des Stadtbezirks arbeiteten, erbrachten Monat für Monat die Aktiva durch Einnahmen aus der Mietsteuer, die Armenkommissionen hingegen die Passiva eines gesellschaftlich-sozialen Gesamtumsatzes. Die Armenunterstützungen flössen über die Mieten in den freien, privaten Wohnungsmarkt; somit förderten sie prinzipiell die Stadtentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und stützten gleichzeitig ihre unmittelbare Klientel, die Armen, wie auch den Mittelstand, der in den Mietshäusern traditionell seine Ersparnisse anlegte. VI Mikrohistorische Untersuchungen haben mit großen Schwierigkeiten in bezug auf die Quellenlage zu kämpfen, denn die Kleinereignisse haben keine eigenen Überlieferungsformen, und die Dokumente sind zumeist rein formaler Natur. Die Quellen sind infolge der Brüche innerhalb der Verwaltungsüberlieferung sowie durch Kriegszerstörungen äußerst lückenhaft. Die vorliegende Arbeit basiert auf den städtischen Akten, soweit sie zur Zeit der Forschung im Stadtarchiv Berlin/DDR erhalten waren. Die von der Nachweisung der in der Stadt-Armenpflege unmittelbar beschäftigten Personen für die Zeit von 1823 bis 1920 erhaltenen Bände verteilten sich zur Zeit der Bearbeitung auf mehrere Stellen in beiden Teilen Berlins, ohne vollständig zu sein. Ferner wurde auf Daten aus den Feuersozietäts- und Bauakten der Luisenstadt im Landesarchiv Berlin beziehungsweise im Bezirksamt Kreuzberg zurückgegriffen.21 Als besonders mühselig erwies es sich, Näheres über die unterstützten Personen in Erfahrung zu bringen. Sie konnten nur für die Jahre 1833 bis 1859 quantitativ erfaßt werden und auch nur, solange es sich um regelmäßig Unterstützte handelte. Die Ergebnisse sind im Anhang graphisch dargestellt und erlauben nur eine Deutung des Verhaltens der Honoratioren in den Kommissionen. Die Frage nach eventuellen Beziehungen zwischen den Honoratioren und „ihren" Armen bleibt also offen.

21 Dies allerdings über eine langjährige Aufarbeitung des Materials, die mir Dieter Hoffmann-Axthelm zur Verfügung stellte.

ERSTES KAPITEL

Die lokale Macht der Honoratioren (1823-1844)

Die Steinsche Städteordnung von 18081 schuf die entscheidende Voraussetzung für eine städtische Selbstverwaltung, die auf dem Recht und der Pflicht der Teilnahme eines jeden Bürgers durch die Übernahme öffentlicher Funktionen basierte. Sie sah die Übertragung zahlreicher öffentlicher Funktionen, die der staatlichen Verantwortung oblagen, auf die Stadtgemeinde vor. In einer verzweifelten Lage der staatlichen Finanzen ging es unter anderem darum, einen Weg zu finden, öffentliche Funktionen zu verbilligen. 2 Die von Stein vorgesehene Erziehung zum Gemeinsinn durch die Übernahme öffentlicher Funktionen in Form des Ehrenamtes wurde zur tragenden Säule der städtischen Selbstverwaltung für das ganze 19. Jahrhundert. Die städtische Selbstverwaltung wurde zum Betätigungsfeld der städtischen Eliten. Der moderne Begriff Eliten ist sicher nicht ganz zutreffend: Erst am Ende des Prozesses, der hier dargestellt werden soll, läßt sich die Benutzung des Begriffs rechtfertigen. Er umschreibt die Tatsache, daß es, unabhängig von großen sozialen Unterschieden in der Praxis, eine Schicht von Personen gab, die die Aufgabe übernahmen, die Interessen des Stadtviertels zu vertreten und nach 1

Die Preußischen Reformen sind Gegenstand einer umfangreichen Literatur; hier seien nur Zitiert Barbara Vogel (Hrsg.), Preußische Reformen. 1807-1820, Königstein/Ts. 1980; Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19• Jahrhundert, Stuttgart 1950; Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967, S. 560 f. 2 Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt a. M. 1986, S. 21 f.

Der Bürger der Steinschen Städteordnung

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außen zu repräsentieren. Er drückt die Anerkennung aus, die sie sich durch ihr Engagement in der Lokalverwaltung nach und nach in ihrem Viertel erwarben, was sie zu lokal geachteten Persönlichkeiten machte. Unabhängig von den Theorien und Absichten der Reformer und ihrer Historiker soll es hier darum gehen, das tatsächliche Funktionieren der Stadtverwaltung vor allem auf der lokalen Ebene in einem einzelnen Berliner Stadtviertel zu untersuchen. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Protagonisten des gesellschaftlichen Lebens auf lokaler Ebene in ihrem Verhalten - und damit die Entstehung sozialer Strukturen - zu rekonstruieren. Es wird bewußt darauf verzichtet, auf die umfangreiche Diskussion der neueren deutschen Historiographie über das Bürgertum einzugehen. Ebenso habe ich mich bemüht, eine vorwegnehmende Kategorisierung zu vermeiden; ich kann allerdings auf einige Verallgemeinerungen nicht verzichten, die ich eher als Annäherungsversuche verstanden wissen möchte.

Der Bürger der Steinschen

Städteordnung

Den Pragmatismus der Steinschen Städteordnung erkennt man an der Art und Weise, wie für die Selbstfinanzierung der städtischen Verwaltung entsprechende Steuern festgesetzt wurden und eine Gruppe von Personen bestimmt wurde, die die Verwaltung in die Hand nehmen sollten. Der Grundsatz war, daß der, der für die Finanzierung der städtischen Verwaltungsleistungen über die Haus- und Gewerbesteuer herangezogen wurde, auch über die Verwendung der Gelder beschließen können sollte. Der städtische Bürger der Städteordnung ist nicht mehr der Bürgerrechtsinhaber des Ancien régime, sondern der Begriff umfaßt, unabhängig von staatlichen Rechten, alle diejenigen, die durch Zahlungen und ehrenamtliche Tätigkeit an der Stadtverwaltung beteiligt waren. Die Einkommensgrenze wurde niedriger angesetzt und die Anzahl der Bürger dadurch vergrößert. Die alten Bürgerrechtsinhaber wurden 1808 in die neue Gruppe übernommen. Hinzu kamen alle, die ein Gebäude besaßen, auch wenn es sich nur um einen Schuppen oder eine Bude handelte. Ebenso mußten alle, die ein Gewerbe betrieben, das Bürgerrecht erwerben.

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I. Die lokale Macht der Honoratioren

Bezeichnend ist, wer von dieser Gruppe an der Obergrenze ausgeschlossen wurde. Staatsbeamte und Angehörige der freien Berufe brauchten das Bürgerrecht nicht zu erwerben. Die Absicht war, sie von Tätigkeiten abzuhalten, die „mit der Würde ihres Standes nicht ganz verträglich" waren. 3 Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Stadtverwaltung waren also in der Mehrheit kleine Gewerbetreibende und Hausbesitzer. „Die Stein'sche Städteordnung führte ... zur lokalen Herrschaft des kleinen Mannes, die sich auch in den größeren Städten einrichtete."4 Es kam zum „Übergewicht des niedrigen Bürgerstandes",5 ein Umstand, dem die Revision der Gewerbeordnung von 1831 mittels höherer Zensusgrenzen abzuhelfen versuchte. Bei der Übernahme ehrenamtlicher Funktionen ging es auch für die beteiligten Bürger nicht um politische Rechte, sondern um die reale Verwaltung der Stadt. Das ist es, was der Staat Gemeinsinn nannte. Auch dieser Gemeinsinn, obwohl er im unmittelbaren Interesse der „Bürger" lag, war anfangs nicht ohne weiteres anzutreffen: Die Bürger mußten zur aktiven Teilnahme an der Stadtregierung, zur Übernahme der Ehrenämter wie Bezirksvorsteher, Stadtverordneter und unbesoldeter Stadtrat überredet werden. Die Stadtverordneten verstanden sich selbst als unparteiische Vertreter der Interessen der Allgemeinheit. Diese Rolle füllte sich im Laufe der Zeit zunehmend mit einem quasipolitischen Inhalt.^ Die Interessen, die sie dabei in alltäglichen Entscheidungen im Stadtparlament vertraten, erwiesen sich selten als Gruppeninteressen. Konflikte waren weitgehend ausgeschlossen, weil das, was

3 R. Koselleck, Preußen zwischen Reform..., S. 573 (Zitat von Minister Graf Dohna). 4 A. a. O., S. 571. 5 A. a. O., S. 575. ^ Franz Steinbach/Erich Becker, Geschichtliche Grundlagen der Kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland, Bonn 1932, S. 77: „Noch im Jahr 1829 gerät (Stein) in Zorn und gebrauchte in einem offiziellen Schreiben an den Minister von Schuckmann die härtesten Ausdrücke gegen die Leute, die von Eigennutz und Herrschsucht getrieben, versuchten, ,über die Städte- und Communalordnung Besorgnisse zu erregen, demokratische Gespenster aus dem eignen hohlen Gehirn hervorzurufen'." Diese Arbeit, im Vorfeld der Machtübernahme des Nationalsozialismus entstanden, versucht zu beweisen, daß Demokratie und Städteordnung in keinerlei Zusammenhang standen. Der Zorn Steins kann aber auch als Reaktion auf eine von ihm nicht erwartete Definition des Begriffs „Gemeinsinn" verstanden werden.

Der Bürger der Steinschen Städteordnung

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unterhalb der Bürgerschicht an anderen sozialen Schichten existierte, von dieser noch nicht in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen wurden, zumal sie nicht imstande waren, ihre Interessen zu formulieren. Der Ausschluß erfolgte über das Zensuswahlrecht und später durch das Dreiklassenwahlrecht, das für das Stadtparlament auch nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für den Reichstag weiterbestand. In der Regel waren in dieser frühen Phase die Bürger, die sich in der Stadtverwaltung engagierten, weniger liberal als die sie beauftragenden Staatsbeamten und bemüht, ihre ständischen Privilegien gegen die wirtschaftsliberalen Gesichtspunkte der Staatsministerien und die Folgen der Gewerbefreiheit und der Freizügigkeit zu verteidigen. Die Ministerien waren bestrebt, durch die Reformen die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu fördern - oft durch Maßnahmen, die gegen die Interessen der städtischen Eliten gerichtet waren. Der Interessengegensatz zwischen Stadtbürgern und Staatsministerien läßt sich an den 1824 begonnenen Vorarbeiten für ein neues Armengesetz ablesen, das die Frage der Freizügigkeit und der Zuständigkeit von Herkunfts- und Einwanderungsort regeln sollte. Die langwierigen Verhandlungen führten schließlich zu dem Gesetz über den Unterstützungswohnsitz von 1842. Die Gesetzgeber wollten, noch ganz im Geist der preußischen Reformen, die Hindernisse beseitigen, die der vollen Entfaltung der Freizügigkeit im Wege standen. Bis dahin waren die Vorschriften über die Armenpflege auf mehrere Gesetze verteilt. In der Praxis ging es um eine Auseinandersetzung zwischen den Kommunen und den Gutsbesitzern als Trägern der öffentlichen Armenpflege auf dem Lande, wobei sie sich gegenseitig die Unterstützungspflicht zuschoben. In der Gesellschaft des Ancien régime beruhte die Verpflichtung der Gemeinde zur Hilfe auf Gegenseitigkeit auf vorausgegangener eigener Leistung, ein Prinzip, das im Zuge der preußischen Reformen und der Mobilität der Gesellschaft sinnwidrig geworden war. Es ergab sich in vielen Fällen ein Hin und Her zwischen verschiedenen Stadtgemeinden, die die Kosten für zugezogene Arme einander zuweisen wollten. Im Zweifelsfall geriet der Arme in die geschlossene Armenpflege, die dem Staat, nicht den Gemeinden unterstand. Gerade um diese kostspielige Lösung möglichst zu vermeiden und die unsichere Rechtslage, die die Freizügigkeit prak-

I. Die lokale Macht der Honoratioren

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tisch behinderte, zu beenden, arbeitete das Staatsministerium an einer neuen Gesetzgebung. Die für die Kommune billigere Unterbringung der Armen in Provinzial-Anstalten kam „dem Lande theuer zu stehen" 7 und also auch, im Endeffekt, die Gesamtheit aller Kommunen. Ein weiteres Indiz für die mangelnde Liberalität der städtischen Bürger in dieser frühen Phase ist die Abneigung des Stadtparlaments gegen jede Öffentlichkeit. So waren die Sitzungen der Stadtverordneten bis 1847 nichtöffentlich, und es gab auch kein Organ, das über die Tätigkeit der Verwaltung berichtete. Als in den zwanziger Jahren der Geheimrat im Innenministerium Semler, den wir noch als Mitbegründer des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins treffen werden, sich bereit erklärte, die Redaktion eines Kommunalblattes kostenlos zu übernehmen, lehnte der Magistrat das Projekt aus grundsätzlichen Erwägungen - es könnten sich daraus nur „Federkriege" entwickeln -ab.8 Das Gemeinwohlideologem, das alle Stadtverordneten teilten, war vorpolitisch und ließ den Gedanken von Parteilichkeit auf kommunaler Ebene gar nicht erst aufkommen. Damit stand der Gemeinwohlgedanke prinzipiell in Gegensatz zum Demokratiegedanken, der zuerst im Vormärz am Horizont des politischen Denkens auftauchte. Der Gesamtvertretungsanspruch stellte eine schwere Hypothek für die städtische Verwaltung dar, die sich davon nie ganz befreien konnte: Der Gemeinwohlglaube ging als einziges Element der frühen, sozusagen quasi-ständischen Phase der Stadtverwaltung in die des Liberalismus über, als die erste liberale Generation parteilicher Bürger im heutigen Sinn sich in der Stadtverwaltung engagierte. So glaubten die Liberalen noch lange, ob mit gutem oder schlechtem Gewissen ist hier unwesentlich, eo ipso die Interessen der Allgemeinheit, also auch die von Handwerkern und Arbeitern, zu vertreten.

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Allerhöchste Kabinettsordre vom 18. Februar 1838, hier zit. nach Harald Schinkel, Armenpflege und Freizügigkeit in der preußischen Gesetzgebung vom Jahre 1842, in: Vierteljahrschrift für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 50 (1963), S. 45SM79- Zit. S. 467. 8 Konrad Kettig, Gemeinsinn und Mitverantwortung, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, Bd. 12 (1963), S. 13. Erst seit I860 erschien ein Kommunalblatt der Stadt Berlin, dessen erster Redakteur der Liberale Woeninger war.

Honoratioren

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Selbstverwaltung

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Honoratioren und Selbstverwaltung In der Einführungsphase der Städteordnung in Berlin waren nur wenige Bürger zur Mitarbeit bereit, erst recht keine Liberalen. Es gab lediglich eine relativ kleine Gruppe von Honoratioren, die ehrenamtlich schon im 18. Jahrhundert die Bürgerschaft repräsentiert hatten. Magistrat, Stadträte, Stadtverordnete sind innerhalb eines ganz anderen Gesamtzusammenhangs Einrichtungen bereits des 18. Jahrhunderts: Seit Geltung der schon unter Friedrich Wilhelm I. erarbeiteten, doch erst Anfang 1747 in Kraft getretenen Reform bestand im 18. Jahrhundert der Magistrat aus einem vom König ernannten Präsidenten (in Personalunion zugleich Polizeidirektor), drei weiteren Bürgermeistern, zwei Syndizi, einem Ökonomiedirektor und einem Kämmerer. 9 Dieses Kollegium wählte die Stadtverordneten als ehrenamtliche Unterbeamte des Magistrats. Sie mußten „mit einem Hause angesessen sein"; ihre Aufgabe bestand darin, der Bürgerschaft die Verordnungen des Magistrats bekanntzumachen. 10 Während der Besetzung der Stadt durch die Franzosen 1806 wurde die Stadtverwaltung grundlegend reorganisiert. Das Comité administratif bestand aus Männern, die von der Bürgerschaft gewählt worden waren, zum Teil handelte es sich um Mitglieder des früheren Magistrats, angesehene Bürger und höhere Staatsbeamte. 11 „Den Vertretern der Bürgerschaft sollte dabei die Oberleitung zufallen, in Wirklichkeit aber hatten sie die Staatsbeamten und trugen die Verantwortung." 12 Es mußte sich erst ein Bürgertum herausbilden, das ein Interesse an der Verwaltung des Gemeinwesens besaß und über die nötigen Kenntnisse verfügte. „Seit undenklicher Zeit hatte der Staat alle Lasten für die öffentlichen Einrichtungen der Residenz getragen und für ihre Wohlfahrt fast allein gesorgt, man hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß dies eine Pflicht des Staates gewesen sei." 13

9 Kurt Schräder, Die Verwaltung Berlins von der Residenzstadt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm bis zur Reichshauptstadt, Diss., Berlin [Ost] 1963, Bd. 1, S. 74 f. 10 Friedrich Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, Berlin 1786, Neudruck, Berlin 1980, S. 395-399. 11 Paul Clauswitz, Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin, Berlin 1908, S. V. 12 Ebda. 13 A. a. O., S. VI.

I. Die lokale Macht der Honoratioren

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Nur allmählich entwickelte sich ein Interesse der Bürger, die städtischen Angelegenheiten als solche zu verstehen und selbständig zu verwalten. Die Einführung und Organisierung der Städteordnung in Berlin bildete einen komplizierten Vorgang, in den das Innenministerium, die Kurmärkische Kammer beziehungsweise die derzeitige Regierung, das noch amtierende Comité administratif und der provisorische Magistrat eingespannt waren: „Zunächst war für die neue Stadtverfassung eine Stadtverordneten-Versammlung nötig, damit diese (nicht umgekehrt wie früher) einen Magistrat wählen könnte, und für die Stadtverordneten-Wahlen mußten erst Bezirke geschaffen werden." 14 Ein Vorbild für das räumliche Prinzip der Aufteilung der Stadt in Wahlbezirke könnte die 1742 vollzogenen Aufteilung der Stadt in achtzehn Quartiere oder Polizeireviere gewesen sein. Auch damals sollte der Quartierkommissar - wie jetzt bei der Einführung von Wahlbezirken der Bezirksvorsteher und der Stadtverordnete des Bezirks und später bei der Einführung der Armenkommissionsbezirke die Armenkommissionsmitglieder - „die genaueste Kenntnis seines Quartiers, der darin befindlichen Häuser und darin wohnenden Einwohner haben".15 Die Aufteilung der Städte in Nachbarschaften, Quartiere, Kirchspiele oder parishes war seit dem Mittelalter geläufig.16 Trotzdem wurde diese geographisch-räumliche Gliederung der Stadtverwaltung in Bezirke, die sowohl für die Wahlen als auch für die Organisation der ehrenamtlichen Tätigkeiten am Ort maßgebend waren, als liberal und fortschrittlich empfunden im Vergleich mit der traditionellen ständischen Gliederung der Gesellschaft. Die Regel sah vor, daß in jedem Wahlbezirk dessen Repräsentanten unter den dort Wohnenden zu wählen waren. In der Praxis ergab das eine auf kleinen Nachbarschaften aufbauende Stadtverwaltung. Es ist heute nicht ganz einfach, sich diese Verhältnisse vorzustellen. Es gab noch kein amtliches Verfahren. Die Ehrenamtlichkeit rechtfer-

A. a. O., S. 97. F. Nicolai, Beschreibung..., S. 401-402. l ( i Henk van Dijk, Bürger und Stadt. Bemerkungen zum langfristigen Wandel an westeuropäischen und deutschen Beispielen, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, München 1988, Bd. 3, S. 447 f. 14

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Honoratioren

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Selbstverwaltung

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tigte in der alltäglichen Praxis eine gewisse Schlampigkeit und erforderte objektiv kaum meßbare Eigenschaften: gewinnendes Verhalten, Bekanntheit und Ansehen unter Nachbarn, anerkannte Zugehörigkeit, Ehrbarkeit. Diese Biederkeit war Voraussetzung der lokalen Wirksamkeit. Man war unter sich und räumte sich einen gewissen Ermessensspielraum ein. Dieser Ermessensspielraum erlaubte anerkanntermaßen auch die Suche nach persönlichen Vorteilen, unter Umständen indirekt, indem man Informationen, die man durch das Ehrenamt erhielt, privat nutzte. Private und öffentliche Interessen, so empfand man, widersprachen einander nicht, ihr Zusammenspiel, bei dem alle Beteiligten ihren Vorteil fanden, wurde als normal angesehen. Die ehrenamtlichen Bezirksvorsteher trugen die Bürger in die Bürgerrolle für die Wahlen ein und stellten die Bürgerbriefe aus. Das wurde unter Nachbarn verhandelt. Es kam vor, daß Bürgerbriefe ausgestellt und nie eingetragen wurden; wo die nicht unbedeutende Summe blieb, die dabei bezahlt wurde, ist nicht festzustellen. Genauso kam es vor, daß angesehene Personen - „man war jemand" - eingetragen wurden und zur Wahl gingen, obwohl sie keine Bürger im Sinne des Gesetzes waren. 17 Die höchste in der Städteordnung vorgesehene Zahl an Stadtverordneten, nämlich 102, ergab für Berlin auch die Zahl der Wahlbezirke. Es mußten die Rollen der Eigentümer und Mieter aufgestellt und geprüft werden, bei letzterer Gruppe galt es festzustellen, wer stimmfähig war. Für diese vorbereitenden Arbeiten bediente man sich der alten, noch von der früheren Verfassung her vorhandenen Stadtverordneten, der Polizeibeamten und der Leute aus der Bürgerschaft. Vom 18. bis 22. April erfolgte in den Kirchen18 die Wahl der Stadtverordneten. Die erste Stadtverordnetenversammlung umfaßte „31 Kaufleute, 28 gewerbetreibende Meister, 9 Fabrikanten, 5 Rentiers, 5 Gärtner und Ackerbürger, 5 Brauer, 4 Gastwirte, 4 Apotheker, 1 Schiffer, 1 Juwelier, 1 Pächter, 1 Arzt, 5 Beamte".19 17

Diese Informationen verdanke ich Dr. Sigurd-Herbert Schmidt, Landesarchiv Berlin (vormals Berliner Stadtarchiv), der mir einige Ergebnisse seiner leider nicht veröffentlichten Untersuchungen über das Wahlverhalten der Berliner Bürger in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mitteilte. 18 Vgl. Klaus DuntZe, Kirche zwischen König und Magistrat. Die Entwicklung der bürgerlichen Kirche im Spannungsfeld von Liberalismus und Konservativismus im Berlin des 19- Jahrhunderts, Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-New York-Wien 1994. 19 P. Clauswitz, Die Städteordnung..., S. 104-105-

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I. Die lokale Macht der Honoratioren

Es war, wie gesagt, nicht leicht, Personen zu finden, die zur Übernahme eines Ehrenamtes20 bereit waren. Es mußten Personen hierfür motiviert werden, die bekannt, gebildet, wohlhabend und deshalb nicht gezwungen waren, ihre Zeit ausschließlich dem Erwerb ihres Lebensunterhalts zu widmen, sondern vielmehr in der Lage, einen nicht geringen Teil davon für ein öffentliches Amt aufzuwenden. Die Schwierigkeit, geeignete Personen zu finden, hing zum Teil auch damit zusammen, daß die Inhaber des Bürgerrechts eine kleine Minderheit der Einwohner darstellten, obwohl sie sich ohne weiteres als Repräsentanten des Gemeininteresses gegenüber dem Staat verstanden.21 1809 ermunterte die Vossische Zeitung zur Übernahme eines Ehrenamtes: „Die Bürger, welche das öffentliche Vertrauen zu den ehrenvollen Stellen von Distriktvorstehern, Stadtverordneten und Magistratspersonen beruft, werden sehr wohl thun, sich durch Witzeleien über ihre Unkunde in allem diesem Formenwesen gar nicht irre machen zu lassen ... Fürchtet nicht, daß die Geschäfte, welche

2 0 Es handelt sich nicht nur um die Ehrenämter des Stadtverordneten, unbesoldeten Stadtrats, Bezirksvorstehers, Stellvertretenden Bezirksvorstehers, sondern auch um die der Mitglieder bzw. Vorsteher einer Armenkommission (seit 1823), einer Schulkommission (seit 1846), des Schiedsmannes. Diese Ehrenämter gibt es für jeden Stadtbezirk, und der Stadtbezirk, das heißt der Wahlbezirk, stellt eine sehr kleine Zone dar. Mit dem Wachstum der Stadt im Laufe des Jahrhunderts nimmt die Zahl der Ehrenämter, von mehreren Hundert Anfang des Jahrhunderts auf mehrere Tausend am Ende, zu. Vgl. dazu Nachweisung der in der hiesigen Stadt-Armen-Pflege unmittelbar beschäftigten Personen, (im folgenden Nachweisung zitiert), Berlin, Jg. 18231914 (mit einigen Lücken). Auch die Annahmestellen der städtischen Sparkasse wurden später von Geschäftsleuten im städtischen Ehrenamt verwaltet. Siehe Herbert Krafft, Immer ging es um Geld. Einhundertfünfzig Jahre Sparkasse in Berlin, hrsg. von der Sparkasse der Stadt Berlin, Berlin I968, S. 82. 2 1 Ζ. B. waren 1847 nur 6% der Einwohner Bürger (insgesamt rd. 24 000 Personen), die das Pflichtrecht hatten, zu wählen und die öffentlichen Ämter zu bekleiden. Vgl. Wilhelm Moritz Fhr. von Bissing, Das Ehrenamt in historischem und soziologischem Überblick, in: Schmollers Jahrbuch, 88. Jg. (1968), H. 1, S. 17-30. Die Zahl der wahlberechtigten Bürger betrug in den Jahren 1830 bis 1850 6%, I860 8% der Bevölkerung. An den Wahlen beteiligten sich 1828-1830 60%, 1848 72%, 1854 24%, 1857 21%, 1858 31%, I860 32% der Wahlberechtigten; vgl. Edgar Loening, Die Verwaltung der Stadt Berlin, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 55 (1885), S. 556; Wolfgang Hofmann, Preußische Stadtverordnetenversammlungen als Repräsentativorgane, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die deutsche Stadt im Industriezeitalter, Wuppertal 1978, S. 31 f. Zum allgemeinen Problem einer sich im beschränkten Wahlrecht widerspiegelnden „patriarchalischen Auffassung" vgl. Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1985, S. 132 f.

Honoratioren und Selbstverwaltung

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Euch übertragen werden, Euch eine kostbare Zeit rauben, die Ihr Eurem Gewerbe entziehen müßt." 2 2 Die Situation änderte sich schrittweise im Laufe der Jahre, ohne daß feste Grenzdaten zu nennen wären. Man kann aber sagen, daß sich zwischen 1830 und 1840 das städtische Bürgertum der politischen Opportunität bewußt wurde, die die Ehrenämter darstellten. Vom Ehrenamt als Mitglied einer Armenkommission konnte man zu dem eines Bezirksvorstehers, dem eines Stadtverordneten oder sogar zu dem eines Mitglieds des Magistrats übergehen, eine Karriere, die nicht wenige Berliner städtische Funktionäre gemeinsam hatten. Ein Dokument für die Änderung der Einstellung des kleinen und mittleren Bürgertums in dieser Hinsicht ist die Schrift Mein Glaubensbekenntnis, mit der Heinrich Runge, ein von seinem Erbe lebender Sohn eines reichen luisenstädtischen Holzhändlers, seine Kandidatur für die Stadtverordnetenversammlung öffentlich anzeigte - ein Vorgehen, das damals - 1844 - noch Befremden hervorrief. Runge unterstrich die Bedeutung der Beteiligung an der städtischen Selbstverwaltung. Seine Broschüre beginnt mit einem entsprechenden Kernsatz: „Das Amt eines Stadtverordneten ist ein so wichtiges und dabei so ehrenvolles, daß es die sonderbarsten Gedanken erregen muß, wenn man sieht, mit welchem Eifer, mit welcher Rührigkeit manche Bürger es von sich fern zu halten suchen, gerade als ob sie eine Ansteckung dabei zu befürchten hätten." 23 Mit diesem Sachverhalt zeichnet sich zugleich die lange Übergangsphase von der korporativen zur modernen Gesellschaft ab: eine Situation, in der der sich dabei formierende Liberalismus auf lokaler Ebene Elemente korporativer Denkweisen am Leben erhielt. Ständische Verhältnisse wie verwandtschaftliche Beziehungen garantierten, so wird zu zeigen sein, die Zugehörigkeit zu ein und derselben sozialen Welt und stellten dadurch das Prinzip des unpolitischen Gemeinsinns nie in Frage. 24 Vossische Zeitung vom 11. 2. 1809, Beilage. Hier nach: Stefi Jersch-Wenzel, Jüdische Bürger und kommunale Selbstverwaltung in preußischen Städten 1808-1848 ( - Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 21), Berlin 1967, S. 31-32. Heinrich Runge, Mein Glaubensbekenntnis, Berlin 1844. 2 4 Daß die städtischen Ehrenämter für längere Zeit „noch an einem ständischen Selbstverständnis" orientiert waren, betont schon Hartmut Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung ( - Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 40), Berlin-New York 1972, S. 277. 22

I. Die lokale Macht der Honoratioren

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Die Armenkommissionen Es geht jetzt darum, dieses Phänomen des lokalen Ehrenamtes, das jahrzehntelang das tragende Gerüst der städtischen Verwaltung darstellte, im einzelnen zu beleuchten, das heißt da, wo es lokal gebunden war und von der Sache her, anders als das Amt des Stadtverordneten oder höhere Ämter, auch blieb: in der lokal oiganisierten Armenfürsoige. Das Armenwesen war für Max Weber neben Militär und ökonomischem Großbetrieb der dritte „Erzieher zur Disziplin",25 ein wichtiger Teilaspekt der Rationalisierung, den er als „rationale Uniformierung des Gehorsams einer Vielheit von Menschen"2^ beschreibt. Die sozialpolitischen Bevollmächtigten der Stadtverwaltung am Ort verfügten über originelle Motivationen und Verfahren, die in ihrer Mischung aus Modernität und Tradition eine erstaunliche Lebensfähigkeit zeigten. Die Bürger versuchten im „starken Staat" nicht nur in ihren Vereinen - ihre eigenen Gesellschaftsideale zu entwickeln und besetzten auf der untersten Ebene der Verwaltung der Stadt, im Stadtviertel, durchaus Machtpositionen. Daß es auch bei Initiativen zur Bekämpfung der Armut um Machtverhältnisse geht, beweist der Umstand, daß angesichts einer Einrichtung wie der des Armenwesens im untersuchten Zeitraum immer wieder harte Konkurrenzkämpfe zwischen mehreren Institutionen Krone, Staat, Kirche, Stadtgemeinde, Parteien, Bürgervereine - ausbrachen. Diese Konkurrenz ist ziemlich unverständlich, denn das Armenwesen besaß vordergründig weder politische noch finanzielle Attraktivität, da es nur erhebliche finanzielle Belastungen verursachte. Dazu kam, daß die unterstützten Armen bei Wahlen nicht ins Gewicht fielen, da sie durch die Inanspruchnahme der Unterstützung ohnehin des Wahlrechts verlustig gingen. Sie wird erst in Bismarcks Polemik gegen die liberal regierte Stadt Berlin in den achtziger Jahren besonders deutlich, hat aber immer als Hintergrund existiert. Sie kann nur als das unvermeidliche Korrelat einer anderen Konkurrenz verstanden werden: Diese galt der Macht- und Legitimitätsfrage und war für alle gesellschaftlichen Kräfte obligatorisch, die Anspruch auf politische Verantwortung erhoben. Robert Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge in Deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, Köln-Wien 1984, S. 360; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., rev. 25

Aufl., Tübingen 1980, S. 686. 26 A. a. O., S. 681.

Die Armenkommissionen

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Sozialpolitik ist schon oft als „Instrument zur Flankierung politischer Herrschaft"27 im allgemeinen dargestellt worden. Schon aus Sorge für Ordnung und Sicherheit konnte sich keine Regierung im 19. Jahrhundert der „sozialen Frage" entziehen. Trotzdem wurde das Armenwesen bisher noch nicht als Parameter innergesellschaftlicher Machtkämpfe untersucht. 28 So war es von höchster Bedeutung, daß eine der Einrichtungen, die mit der Reform von 1808 vom Staat an die Stadtgemeinde Berlin übergehen sollte, eben das Armenwesen war. Da die Stadt nur über traditionelle Einkommensquellen verfügte und infolge der französischen Besetzung hochverschuldet war, konnte ihr die Armenversorgung nicht sofort übertragen werden. Es kam zu einem gut zehnjährigen Interregnum, in dem die bisherige Verfassung der Armendirektion als eine Art staatlichen Armenministeriums notdürftig und mit einiger Verwirrung auch im Kassenwesen aufrechterhalten wurde. 29 Erst 1819 begannen die Vorbereitungen zur Übernahme des Armenwesens durch die Stadt, die eine grundsätzliche Erneuerung der Struktur bedingte, nämlich den Übergang zu einer Beteiligung einer großen Zahl ehrenamtlicher Mitglieder. Die Idee war nicht neu, vielmehr hatte man in Berlin schon mehrfach damit experimentiert. Der erste Versuch, sogenannte Armendeputierte einzuführen, wurde in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts unter Friedrich Wilhelm I. unternommen, 30 geriet aber bald wieder in Vergessenheit. Angesichts einer sprunghaften Zunahme der Bedürftigen in den siebziger und achtziger Jahren 31 erinnerte 27

Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik im Deutseben Kaiserreich, Stuttgart 1986, S. 7. Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 3 Bde., Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1980-1989; Arno Pokiser, Zur Funktion der städtischen Armendirektion des Berliner Magistrats in der ersten Hälfie des 19- Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Berliner Sozialgeschichte, Diss., Berlin (Ost) 1987, und ders., Die städtische Armendirektion des Berliner Magistrats in der ersten Hälfte des 19- Jahrhunderts, in: Berliner Geschichte, Berlin 1988, H. 9, S. 34-46. Ideologiekritisch interessant: Emst Köhler, Arme und Irre. Die liberale Fürsorgepolitik des Bürgertums, Berlin 1977. 29 P. Clauswitz, Die Städteordnung..., S. 120 f. 30 LAB (STA), „Historische Beschreibung des Berliner Armenwesens", Rep. 03, Bd. 57, Bl. 1-37, Stadtarchiv Berlin, insbes. Bl. 16-19, wonach der Plan von Hagens (siehe unten) von 1786 auf einer Instruktion von 1738 beruhte, die nicht durchgesetzt werden konnte, da sich wegen fehlender Bezahlung keine ausreichende Zahl von Deputierten fand. 31 Helga Schultz, Berlin 1650-1800. Sozialgeschichte einer Residenz, Berlin 1987. 28

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I. Die lokale Macht der Honoratioren

man sich erneut an diesen Ansatz. In einem 1786 vom Oberkonsistorialrat Th. von Hagen verfaßten „Plan zur besseren Einrichtung der Armen-Casse und Vertheilung der Almosen" wurde diese Möglichkeit erneut vorgeschlagen und in einem Pro-Memoria darauf hingewiesen, daß „eine Anzahl angesehener Bürger sich edelmütig erklärt hat, das Amt der ehem. Deputierten bei der Armen-Casse unentgeldlich zu übernehmen, so wird die Ausführung des Plans ausserordentlich erleichtert werden". 32 Auch diesmal wurde der Plan nicht durchgeführt, da er 1803 erneut zur Diskussion gestellt worden ist. Ein vergleichbares, doch sehr viel detaillierteres Modell war unterdessen 1788 durch die „Patriotische Gesellschaft" in Hamburg mit Erfolg eingeführt worden. Die Patriotische Gesellschaft war eine freie, 1765 gegründete Vereinigung von Patriziern, Kaufleuten und Manufakturbesitzern, die zu den herrschenden Familien der Stadtrepublik gehörten. 33 Dieser „Verein"34 verfolgte den Zweck, das Problem des „Pauperismus" zu lösen, um die Stadt politisch und wirtschaftlich zu sichern. Beide Interessenebenen hingen eng miteinander zusammen: „In einem blühenden Staat müssen viel Arme, wenig Hilfsbedürftige und keine Bettler sein."35 Hier wird zwischen dem Armen und dem Hilfsbedürftigen unterschieden: Ersterer ist ein Arbeiter, den eine Absatzkrise arbeitslos gemacht hat - Hamburg war damals noch ein Zentrum der Kattunindustrie -, der zweite ist der traditionelle Arme, Kranke, die kinderreiche Witwe, Personen, die anerkanntermaßen nicht in der Lage sind, sich selbst am Leben zu erhalten. Auf den ersten Typus konzentrierten sich die Anstrengungen der Patriotischen Gesellschaft. Ihn am Leben zu erhalten heißt die Anwesenheit einer Arbeitskraftreserve auf dem Arbeitsmarkt zu garantieren, mit der die Löhne der beschäftigten Arbeiter niedriggehalten werden. Das Modell, das diese nützliche Armut organisieren sollte, bestand darin, die Stadt in viele kleine Bezirke zu unterteilen. Jeder einzelne Bezirk sollte nicht mehr als fünfzig arme Familien aufweisen, deren 32

LAB (STA), Oberkonsistorialrat von Hagen, „Pro-Memoria, 16. 10. 1786", Rep. 03, Bd. 322, Bl. 83-88, Stadtarchiv Berlin. Dort befindet sich auch der „Plan zur besseren Einrichtung der Armen-Casse und Vertheilung der Almosen", a. a. O., Bl. 7-33. 33 Bernhard Mehnke, Armut und Elend in Hamburg. Eine Untersuchung über das öffentliche Armenwesen in der ersten Hälfte des 19- Jahrhunderts, Hamburg 1981. 34 Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19- Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 174 f. 35 Zit. nach B. Mehnke, Armut..., S. 35.

Die Armenkommissionen

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Versorgung und Kontrolle drei in diesem Bezirk wohnenden Honoratioren übertragen worden waren. Diese gewährten Hilfen nur, nachdem sie sich persönlich von den Lebensbedingungen der Hilfesuchenden überzeugt hatten, entweder durch Befragung mittels eines umfangreichen Fragebogens oder, und vor allem, durch Hausbesuche. Dank dieses feinverzweigten Kontrollsystems konnten in der Tat schon in den ersten Jahren nach Einführung des neuen Systems die Ausgaben für die Armenpflege gesenkt werden. Eines der bei der Neuordnung des Armenwesens am stärksten engagierten Mitglieder der Patriotischen Gesellschaft, der durch seine ausgedehnten Gartenschöpfungen und sein kulturelles Mäzenatentum bekannte Kaufmann Caspar von Voght,36 begab sich 1803 auf Einladung Friedrich Wilhelms III. nach Berlin und verfaßte dort eine Studie über die Berliner Situation und das Hamburger Modell.37 Mit der Einladung Voghts in die preußische Hauptstadt unternahm Friedrich Wilhelm III. einen weiteren Versuch, die Armenverwaltung durch Einbeziehung von Bürgern zu modernisieren. Der König regte einige Berliner Persönlichkeiten dazu an, einen eigens mit dem Studium des Hamburger Modells befaßten Verein zu gründen, die „Gesellschaft der Berliner Armenfreunde" 38 - der Name wurde von Voght vorgeschlagen -, die den Grundstock einer künftigen, ehrenamtlich tätigen Organisation bilden sollte. Die Vereinsmitglieder konferierten mit Voght und verfaßten ihrerseits als königliche Kommission einen Reformentwurf. Dessen erster Punkt enthält eine Definition des „Armen": „Der Arme ist derjenige, welcher das zum Leben Kurt Detlef Möller, Caspar von Voght. Bürger und Edelmann, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 43 (1956), S. 166-193. 37 LAB (STA), „Gesellschaft der Berliner Armenfreunde", Rep. 03, Bd. 128, Vol I, 28. 3. 1803 - 29. 11. 1803, Bl. 1 und Bl. 28-29, Stadtarchiv Berlin. Voght (1752-1839), eine einzigartige Persönlichkeit, mit Goethe befreundet - überhaupt gab es kaum einen Mann von Rang und Namen, mit dem er nicht persönlich in irgendeine Beziehung getreten war - , hatte schon 1770 im Auftrag seines Vaters, Kaufmann und Senator in Hamburg, den berühmten englischen Gefängnisreformer Howard durch die Strafanstalten Hamburgs begleitet und sich dabei sowohl von den elenden Verhältnissen wie vom Beispiel Howards für sein Leben beeindrucken lassen. Vielgereist sammelte er in ganz Europa Erkenntnisse, Erfahrungen und Anerkennung und galt bald als Experte der sozialen Frage. Der Erfolg der Hamburger Reform und sein Ruf verbreiteten sich rasch, und 1801 wurde er von Franz II. nach Wien eingeladen, um dort an den Beratungen zur Neuordnung des Wiener Armenwesens teilzunehmen. Der Kaiser belohnte seine Verdienste durch den erblichen Freiherrenstand. 38

LAB (STA), Rep. 03, Bd. 128, Vol I, Bl. 89-92, Stadtarchiv Berlin.

I. Die lokale Macht der Honoratioren

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notwendige nicht hat, entweder weil er es zu erwerben nicht im Stande ist, oder weil er dazu nicht Lust hat." Die letzteren sind „mutwillige Bettler".35 Vorgesehen war eine Aufteilung Berlins in 306 Armenbezirke.40 Die persönliche Kontrolle der Armen durch die freiwilligen Funktionäre sei nötig, um angesichts ihrer erschreckenden Zunahme die beiden Typen von Armen genau unterscheiden zu können. Auch dieser Plan blieb ohne Erfolg, sei es aufgrund mangelnder Mitarbeit der Untertanen, sei es wegen der nachfolgenden Kriegsereignisse. Als die Städteordnung 1808 die Voraussetzung für eine Neuorganisation des Armenwesens durch das städtische Bürgertum schuf, war an eine Realisierung nicht zu denken. 1819 schließlich sah man die Zeit für eine Übergabe der Armenfürsorge an die Stadt gekommen. Durch komplizierte Verhandlungen zwischen interimistischer Armendirektion, Ministerium und Magistrat sollte das neue System lebensfähig gemacht werden. Das größte Problem war dabei die Finanzierung des Armenwesens. 1822 gab die Stadt 224 000 Thlr. aus: Trotz eines Staatszuschusses von 75 000 Thlrn. eine gewaltige Summe, die die Stadt durch die Mietsteuer und freiwillige Beiträge aufbringen mußte. In der neuen Armendirektion saßen der Oberbürgermeister, der Syndikus, drei Stadträte, sieben Stadtverordnete, drei Ärzte, ein Geistlicher, der Vorsteher der Ortspolizei und fünf höhere Beamte als Bürgerdeputierte. 1838 zählte dieses Kollegium wegen der steigenden Arbeitslast bei gleichbleibender Ehrenamtlichkeit fast aller Mitglieder bereits rund vierzig Mitglieder.41 Die wöchentlichen Zusammenkünfte der Armendirektion fanden wie bisher am Sitz der Armendirektion im Deutschen Dom statt, der ihr 1779 bei der Fertigstellung des Turmbauwerks von Friedrich II. als Sitz zugewiesen worden war. 42 Eine Ausnahme unter den Stadträten stellte von Anfang an der Bürger französischer Herkunft H. A. de Cuvry dar, der als besoldeter Stadtrat ausschließlich mit der Armenfürsorge befaßt war und innerhalb der Armendirektionsverwaltung neben seiner Leitungstätigkeit auch als Dezernent arbeitete. Er dominierte die Armendirektion bis 39

LAB (STA), Rep. 03, Bd. 129, Bl. 70, Stadtarchiv Berlin. A. a. O, Vol. II, Bl. 36-51. 41 LAB (STA), Rep. 01 GB, Nr. 2404, Bl. 6, Stadtarchiv Berlin. 42 Laurenz Demps, Der Gendarmenmarkt. Gesicht und Geschichte eines Berliner Platzes, Berlin 1987, S. 186. 40

Die

Armenkommissionen

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zu seiner Verabschiedung 1851. Die ersten vier Armenkommissionen wurden 1822 in der Innenstadt (Altberlin und Altcölln) gebildet, 1825 existierten aber schon die geplanten 56 Kommissionen für die ganze Stadt. Auffällig ist die Gleichzeitigkeit der Anfänge des Berliner Systems und der Diskussionen im Staatsministerium über das neue Armengesetz. Sie erlaubt es, die Berliner Armenkommissionen als Experiment der liberalen Staatsverwaltung zu interpretieren, die die Möglichkeit testen wollte, eine möglichst gründliche Dezentralisierung der „offenen" Armenpflege durchzusetzen. Die gewählte Funktionsweise war eine vereinfachte Fassung des Hamburger Modells. Die Stadt wurde in Armenbezirke eingeteilt, die entweder mit den vorhandenen Stadtbezirken zusammenfielen oder zwei solcher Bezirke zusammenfaßten, je nachdem, wieviele Arme sich darin befanden. Jeder Bezirk wurde einer Armenkommission anvertraut, die aus einem Vorsitzenden und etwa fünf Mitgliedern (je nach Lage mehr oder weniger) bestand. Diese Kommissionen waren damit für einen recht begrenzten Bereich zuständig, ein oder zwei Straßen beziehungsweise Teile davon. Die Kommissionsmitglieder sollten genau in diesem Bereich wohnen, es handelte sich in der Regel um die bekanntesten Personen dieses Bezirks. Die Mitglieder wurden von der Stadtverordnetenversammlung gewählt, in der Praxis handelte es sich dabei aber lediglich um die Bestätigung der Vorschläge der alten Mitglieder, die neue kooptierten, beziehungsweise der jeweiligen Stadtverordneten. Der Vorsitz der Armenkommissionen sollte anfangs bewußt mit Staatsbeamten besetzt werden, die im Bezirk wohnten, um den Bürgern Zeit zu geben, die komplizierten Arbeitsvorgänge kennenzulemen und später selber zu überneh43

men.J Nach den Bestimmungen der Städteordnung durften sich die vorgeschlagenen Mitglieder wie bei jedem anderen städtischen Amt der Mitgliedschaft in einer Armenkommission nicht entziehen, doch konnten ernsthafte Gründe geltend gemacht werden, wie Gesundheitsrücksichten, andere öffendiche Tätigkeiten usw., um von einem Amt befreit zu werden. Es leuchtet ein, daß das reibungslose Funktionieren der Kommissionen Mitglieder erforderte, die tatsächlich ^ Die öffentliche Armenpflege in Berlin mit besonderer Beziehung auf die vier Verwaltungsjahre 1822 bis 1825. Dargestellt von der Armendirektion, Berlin 1828.

I. Die lokale Macht der Honoratioren

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und kontinuierlich an der Arbeit teilnahmen, weshalb man offenbar nie Zwang anwandte. Im Detail die von den einzelnen Kommissionen geleistete Arbeit zu untersuchen, ist nicht einfach. Es handelt sich um die Verwaltung einer Minimalökonomie von wöchentlichen Beihilfen in Geld und Naturalien, die nur als Gesamtsumme - nahezu im ganzen Jahrhundert der größte Posten in der städtischen Bilanz überhaupt 4 4 - genaue Umrisse erhält. Die Aufgaben, die eine Armenkommission eines Bezirks erfüllte, können mit denen einer Versicherung verglichen werden, mit zwei fundamentalen Unterschieden: Die Klientel einer Kommission hatte keinerlei Rechtstitel auf Hilfeleistung. Diese wurde vielmehr der öffentlichen Ordnung wegen gewährt und konnte jederzeit verweigert werden, sei es aus Mangel an Mitteln, sei es wegen unmoralischen Verhaltens des Unterstützten, der - zweiter Unterschied gegenüber einer Versicherung - nicht direkt an der Finanzierung der Armenkasse beteiligt war (indirekt war er es über Verbrauchssteuern beziehungsweise über die Mieten). 4 5 Die Armenkommissare sammelten einerseits die Hauskollekten, die monatlichen Armenbeiträge, die jede bessergestellte Familie eines Bezirks bezahlte, unterhielten andererseits durch eine von der Armendirektion garantierte monatliche „eiserne Reserve" eine breite Spanne von Leistungen: kostenlose Arztbesuche, kostenloser Krankenhausaufenthalt, Verschreibung von kostenlosen Brillen, Atteste für den kostenlosen Schulbesuch (die kostenlosen Elementarschulen unterstanden bis 1837 der Armendirektion und erst von da an der Schuldeputation), Vergabe von Holzschuhen und Kleidern, die den Armenkindem den Schulbesuch ermöglichten. Der Zusammenhang von Pantinen und Schulbesuch wirft ein Licht auf den Alltag der Armenkommissionen. An sich bezahlte die Armendirektion auch den Schulbesuch in einer Parochialschule. Die Parochialschullehrer protestierten aber angeblich mehr und mehr gegen den Lärm, den die Pantinen der Armenkinder verursachten, so daß diese umgeschult werden mußten und nur noch von Armenschulen aufgenommen wurden. Dagegen wandten sich natürlich die Erst 1876 werden die Ausgaben für das Armenwesen von denen für den Schulbau übertroffen durch das gewaltige Schulbauprogramm der Gemeinde. Siehe Verwaltungsbericht der Stadt Berlin (1861-1876), Berlin 1877. 45

D a z u unten, SIEBENTES KAPITEL.

Die Armenkommissionen

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Eltern, weil damit das offene Eingeständnis verbunden war, daß sie nicht imstande waren, das Schulgeld zu bezahlen, während dies beim Besuch der Parochialschule im dunkeln geblieben war. 46 Wenn die Armendirektion schrieb, daß die Pantinen in Parochialschulen „unzumutbar" seien, wollte sie dabei offensichtlich nur die Umschulung in die Armenschulen bewirken, um das Mischsystem (entweder besuchten die Kinder die kostenlose Armenschule oder, auf Kosten der Stadt, die Parochialschule) trotz des Widerstandes der Eltern nach und nach zu beenden. Eine der wichtigsten Funktionen der Armenkommissionen betraf die Kontrolle derjenigen Waisenkinder, die gegen Zahlung einer Entschädigung (Pflegegeld) durch das ebenfalls der Armendirektion unterstehende Waisenhaus bei Familien des Bezirks in Kost gegeben wurden. 47 Schon die Hamburger Patriotische Gesellschaft hatte festgestellt, daß Waisenkinder, die bei Familien auf dem Lande aufgezogen wurden, gesünder aufwüchsen als die, die in den Anstalten geblieben seien. Dieser inzwischen als Tatsache angesehene Sachverhalt, bekräftigt durch die bedeutenden Einsparungen, die das Verfahren für die Waisenhäuser bedeutete, bildete die Grundlage der Politik des großen Berliner Waisenhauses, des Friedrichshospitals, das, soweit möglich, über die Armenkommissionen die Waisen auf alle Berliner Quartiere verteilte. Sowohl die Zahlung des Pflegegeldes wie die Kontrolle des Ergehens der Waisen und der Behandlung,

^ LAB (STA), Monatsblatt der Armendirektion (im folgenden Monatsblatt zitiert), Berlin 1852, Nr. 4, Rep. 03, Bd. 100, Stadtarchiv Berlin. 4 7 Als Pflegekinder und Waisen galten auch die Kinder, die bei der Mutter lebten und nur den Vater verloren hatten. Überhaupt blieben Witwen mit Kindern das ganze Jahrhundert hindurch mehrheitlich die Klientel der Armenkommissionen. Daß die Waisenpflege zur Armenpflege dazugehört, wurde noch Ende der sechziger Jahren als selbstverständlich angesehen, eine uralte Tatsache, wie die Etymologie des Wortes „arm" zeigt. Die Organe der Armenpflege waren auch mit der Frage der Vormundschaft befaßt. In den vierziger Jahren begann eine Diskussion darüber, ob Bedarf an einer Neuregelung des Vormundschaftsrechts bestehe. Dabei fragte das Berliner Vormundschaftsgericht 1842, ob es nicht besser sei, die Vormundschaft durch einen Verein ausüben Zu lassen, und Zwar über lokale Kenntnis in einzelnen Bezirken. Vgl. Robert Zelle, Reform der Vormundschaftsgesetzgebung, in: Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, hrsg. von Rudolf Virchow und Franz von Holtzendorff, Berlin 1870, S. 176 f. Daraufhin wurde der Aufsichtsverein für Haltekinder gegründet, siehe unten VIERTES KAPITEL, Anm. 123, und E. Loening, Die Verwaltung. .., S. 30-33, wonach in diesen Jahren 75% der Knaben und alle Mädchen bei Familien gegen Kostgeld untergebracht wurden.

I. Die lokale Macht der Honoratioren

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die sie in den einzelnen Familien erhielten, war Aufgabe eines Mitglieds der Armenkommission, des sogenannten Waisenvaters. Seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre standen diesem Frauenvereine zur Seite, deren Mitglieder in der Regel Ehefrauen und Töchter der Honoratioren des Bezirks waren; sie begleiteten den Waisenvater bei seinen Hausbesuchen, vor allem, wenn es sich bei den Waisenkindern um Säuglinge oder Mädchen handelte. 48 Das Regulativ für die Armenkommissionen schrieb vor, daß der Waisenvater die Hausbesuche bei den einzelnen Familien an unterschiedlichen Wochentagen zu machen habe, zu unterschiedlichen Tageszeiten und ohne vorherige Anmeldung, um unerwartet die Behandlung des Kindes kontrollieren zu können. Darüber hinaus wurde die monatliche Bezahlung des Pflegegeldes in Anwesenheit des Kindes vorgenommen, über dessen Aussehen und Gesundheitszustand der Waisenvater Bericht zu erstatten hatte. Die Kritik seit Mitte des Jahrhunderts weist auf einen Mentalitätswandel hin: Das auf den jeweiligen wirtschaftlichen Interessen von Pflegeeltern, Waisenhaus und Waisenkindern beruhende System wurde zunehmend als fragwürdig empfunden. Waisen aufzunehmen, scheint ein Geschäft für verarmte Familien gewesen zu sein, die sich drei, vier oder fünf Waisenkinder anvertrauen ließen und mit dem Pflegegeld die gesamte Familie ernährten,49 während es auch vorgekommen sein soll, daß Armenkommissionen einzelnen Familien statt Geldzuwendungen Waisenkinder zuwiesen, gegen Zahlung des monatlichen Pflegegeldes.50 Daß 1850 verboten wurde, ältere weibliche Waisenkinder Familien mit eigenen Kleinkindern anzuvertrauen, zeigt, wie weit damals der Brauch verbreitet war, ein Waisen-

Aa

Monatsblatt, Nr. 4 (1833): Man soll Frauen in Armenkommissionsangelegenheiten hinzuziehen, aber ohne die „Aufmerksamkeit des großen Publikum" zu erwekken. Monatsblatt, Nr. 3 (1834), S. 24: Dem Frauen-Verein zur Beaufsichtigung der Waisenhaus-Kost- und Pflegekinder bei der Armenkommission Nr. 25 ist eine Frau Kaufmann Knoblauch, Wallstraße 9, beigetreten. Erst in der Luisenstadt bilden sich seit 1833 Frauenvereine, die mit den Armenkommissionen Zusammenarbeiten, später wird diese Arbeit der Frauen allgemeine Praxis, siehe Monatsblatt, Nr. 7 (1844), S. 67, „Instructionen für den Waisenvater", wo zu lesen ist, daß bei den unregelmäßigen Hausbesuchen der Waisenkinder „eine achtbare Frau mitkommen soll". ^ Bericht des Predigers Schmidt vom 21. März 1853, in: Mittheilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Neudruck, Hagen 1980, S. 2197. 50 Bericht des Predigers Weitling, a. a. O., S. 2206.

Die Armenkommissionen der Luisenstadt

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kind ins Haus zu nehmen, damit es auf die eigenen Kinder aufpassen oder Arbeiten im Haushalt verrichten sollte.51 Die Armenkommissionen waren ziemlich frei in der Handhabung der Hilfeleistungen und in ihren Entscheidungsbefugnissen. Allerdings wurden wichtige wirtschaftspolitische Richtlinien auf der Ebene der Armendirektion beschlossen und den Armenkommissionen zur tagtäglichen Ausführung durch Zirkulare beziehungsweise seit 1833 durch das Monatsblatt der Armendirektion übermittelt. So verbot ein Zirkular der Armendirektion vom September 1832, weiter Webstühle zu kaufen und den armen Familien auszuleihen, um nicht die Zunahme der Weberfamilien zu fördern. 52 Die Vorsitzenden der Armenkommissionen empfingen täglich in ihren Häusern in der Regel frühmorgens von sechs bis sieben Uhr die Bedürftigen des Bezirks, um dann deren Verhältnisse zu überprüfen und gegebenenfalls über Zuwendungen zu entscheiden. Einmal in der Woche traf sich die gesamte Kommission, einmal monatlich fanden Konferenzen mit der Armenbehörde statt. Einige Armenkommissionsvorsteher fungierten in der Armendirektion als Bürgerdeputierte und verbanden damit in ihrer Person die zwei Ebenen der Kommunalpolitik.

Die Armenkommissionen

der Luisenstadt

Als die ersten vier Armenkommissionen in Alt-Berlin und Alt-Cölln arbeitsfähig waren, wählte die Armendirektion als nächstes Gebiet die Luisenstadt. Obwohl ähnliche Untersuchungen über andere Viertel fehlen, kann man die Behauptung wagen, daß es das erfolgreichste Arbeitsfeld in Berlin überhaupt werden sollte. Die Luisenstadt hatte sich, indem sie 1802 diesen Namen annahm, gleichsam unter das Patronat der Königin Luise gestellt (sie hatte bis 51

Monatsblatt, Nr. 1 (1850), S. 4. Noch Ende der sechziger Jahren teilte Robert Zelle interessante Gründe für das Engagement der Pflegeeltern mit: Es sei für sie „lockend, gegen die allmonatlichen Forderungen des gestrengen Hauswirths einigermaßen durch die pünktlich eingehende baare Zahlung des Kostgeldes gesichert zu sein, sowie von den kleinen häuslichen Dienstleistungen Gebrauch Zu machen, zu welchen Kinder in derartigen Familien benutzt zu werden pflegen", vgl. R. Zelle, Die Waisenpflege in Berlin..., S. 200. Vgl. hier auch S. 104-105. 52 LAB (STA), Rep. 03, Bd. 95. Unpaginiert. Dok. datiert 19. 9- 1832, Stadtarchiv Berlin.

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dahin einfach Cöllnische Vorstadt geheißen). Sie war um 1800 mit dem Stralauer Viertel der einzige Berliner Stadtteil, der noch über große Ackergebiete innerhalb der Stadtmauer verfügte. Noch Mitte des 17. Jahrhunderts war nach Bachmann „so gut wie nichts da". 53 Von Gärtnern, Ackerbürgern und Handwerkern bewohnt, nahm sie zwischen 1685 und 1702 Franzosen und in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts Böhmen auf, die nach Berlin einwanderten und die ihre eigene Sprache, ihre Bräuche und handwerklichen Fähigkeiten und ihren Glauben beibehielten. 54 1696 erhielt die Luisenstadt ihre erste Kirche und damit zugleich einen ersten repräsentativen Kern. 1727 wurde auch eine französische Kirche gebaut. Beide Kirchen brannten im Zweiten Weltkrieg aus und wurden in den fünfziger Jahren abgerissen. 1753 zählte die Luisenstadt 5648 Bewohner, darunter 288 Franzosen und 38 Böhmen, 5 5 um 1802 waren es 13 058 (in ganz Berlin 170 000); davon lebten mehr als die Hälfte vom Kleingewerbe und der Agrarwirtschaft, mehr als ein Viertel waren Handwerksmeister; 56 1827 war die Luisenstadt auf 16 742 Köpfe angewachsen, 1832 auf 18 376, 5 7 also ein kontinuierlicher Anstieg, der für die Konsolidierung des Gemeinwesens günstige Voraussetzungen bot. Charakterisiert wurde der Stadtteil durch eine weitgehende ethnische und gewerbliche Mischung, wobei Viehhaltung, Gärtnerei und Landwirtschaft mit hochspezialisiertem Handwerk und Manufakturbetrieben koexistierten, insbesondere mit solchen, die die Lage am Wasser benötigten (Lederbearbeitung, Kattunbleichen). Die Luisenstadtkirche mit ihrem Parochialleben bildete um 1800 die einzige soziale Struktur in Viertel. Hier trafen sich die Handwerksmeister und Fabrikanten, die an den Problemen ihres Stadtviertels interessiert waren. In ihrem Kirchen vorstand übten sie sich in ersten Formen von Selbstverwaltung - Oberkirchenvorsteher war seit 1775 der Bäckermeister Johann Gottfried Haseloff, der auch die ^ Johann Friedrich Bachmann, Die Luisenstadt. Versuch einer Geschichte derselben und ihrer Kirche, Berlin 1838, S. 13. 5 4 Dieter Hoffmann-Axthelm, Die Luisenstadt. Von der Ackerbürger-Vorstadt zur Kreuzberger Mischung, in: Jochen Boberg/Tilman Fichter/Eckart Gillen (Hrsg.), Exerzierfeld der Moderne. Industriekultur in Berlin im 19- Jahrhundert, München 1984, S. 198-207. 5 5 J. F. Bachmann, Die Luisenstadt..., S. IX. 5 6 H. Schultz, Berlin, 1650-1800..., S. 305. 57 A. a. O., S. 159, 201, 206.

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Prediger-Witwen-Casse verwaltete, und seit 1788 sein Sohn Christian.58 Auf Veranstaltungen der Luisenstadtparochie kamen die Honoratioren der Gegend zusammen, die selber oder später deren Söhne bei der Einführung der Städteordnung und der lokalen Verwaltungseinheiten in die Armenkommissionen eintraten. Eine einzigartige Gelegenheit, um das Vorhandensein und die Aktivitäten dieser Honoratioren zu rekonstruieren, ist die Umbenennung der Vorstadt nach der vom Volk und insbesondere von den Vorstädtern geliebten Königin Luise. Bachmann berichtet, daß die Königin der Bürgerschaft des Viertels im April 1802 eine neue Fahne schenkte. „Schon vorher aber hatten die Bewohner unsrer Vorstadt ... durch eine Deputation aus der Gemeinde an Sr. Majestät die allerunterthänigste Bitte gewagt, unsrem Stadttheil für die Zukunft den Namen Luisenstadt beizulegen."59 Unter den Deputierten, die die positive Antwort des Königs empfingen, befand sich auch der Kaufmann Friedrich Wilhelm Crudelius. Dieser war schon 1787 bei dem Versuch des Konsistorialrats von Hagen, eine Reform des Armenwesens herbeizuführen, als Deputierter für die Köpenicker Vorstadt in Aussicht genommen worden, zusammen mit anderen Vorstadthonoratioren, unter anderen dem Destillateur und Stadtverordeneten F. G. G ohlmann, dem Gärtner Andree, dem Kattunfabrikanten Mosisch und dem Stadtverordneten Rose.60 Im Jahr 1803, als Baron von Voght mit der Gesellschaft der Berliner Armenfreunde an einer Reform des Armenwesens nach dem Hamburger Modell arbeitete, war der Kaufmann Crudelius wieder unter den Gründungsmitgliedern dieser Gesellschaft, zusammen mit so hochrangigen Persönlichkeiten wie dem Geh. Regierungsrat Kunth, dem Arzt, Professor und Staatsrat Hufeland und dem Bürgermeister Ransieben.61 Er schlug seinerseits andere angesehene Bürger der Vorstadt als Armendeputierte vor, so den Kalkscheunenpächter Carl Friedrich Woderb, der Gerüchten zufolge ein unehelicher Sohn

58

J. F. Bachmann, Die Luisenstadt..., S. 148. A. a. O., S. 158. LAB (STA), Wiedereinführung der Deputierten in der Armendirektion, 17861801, Rep. 03, Bd. 322, Bl. 112, Nr. 31, Stadtarchiv Berlin. ^ LAB (STA), Die Gesellschaft der Berliner Armenfreunde, betr. die neue Einrichtung der Armenwesen in Berlin, 1803, Rep. 03, Bd. 128, Bl. 135, V, Stadtarchiv Berlin. 59

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I. Die lokale Macht der Honoratioren

des Herrn von Bredow sein sollte (der Name als Anagramm gelesen), einen Schuhmachermeister Peters, den begüterten Essigdestillateur Teichert und den französischen Kunstgärtner J. Bouché. 62 Wie eng diese Zusammenhänge sind, zeigt die Verknüpfung mit den städtischen Ehrenämtern seit 1809· Woderb wurde der erste Stadtverordnete des Schlesischen-Tor-Bezirks, sein ältester Sohn Vorsitzender der entsprechenden Armenkommission von der Gründung an, später auch Schiedsmann. Der von Crudelius vorgeschlagene Gärtner Andree war vermutlich der Vater des späteren Stadtverordneten, Armenkommissionsmitgliedes und Hofinstrumentenmachers Andree. Der Essigbrauer Teichert war der erste Stadtverordnete des Luisenstädtischen Kirchenbezirks. Crudelius, Rose und Gohlmann zusammen mit einem Glasermeister Stieglitz, einem Tischlermeister Giffey und einem Kaufmann Schicks sind auch in der gedruckten, undatierten Liste der Deputierten enthalten, welche die „Armeninspectioren respicieren", eine Liste, die in Zusammenhang mit dem Reformversuch von 1803 bis 1806 zu stehen scheint.63 Bis auf Woderb, der in der Köpenicker Straße wohnte, sind alle an oder in der Nähe der Ecke Neue Grünstraße, Neue Kommandantenstraße wohnhaft, dort wo sich nach der Schleifung der Festungswälle die hochqualifizierten cöllnischen und neucöllnischen Handwerksmeister und kleinen Fabrikanten angesiedelt hatten. 1823 wurden für die Luisenstadt sieben Armenkommissionen gebildet. Um die Armenbezirke zu teilen, untersuchte die Armendirektion, wieviele Arme 1822 in der Luisenstadt durch die bisherige Armenfürsorge unterstützt worden waren und wieviel sie bekommen hatten. 64 Die Untersuchung ergab die Notwendigkeit, für jeden Bezirk eine Armenkommission zu bilden, da im Durchschnitt in jedem Bezirk etwa vierzig Arme wohnten, bis auf zwei Bezirke, die von einer Armenkommission betreut werden konnten. 62

LAB (STA), Rep. 03, Bd. 326, Bl. 14, Stadtarchiv Berlin. LAB (STA), Rep. 03, Bd. 57, Bl. 55, Stadtarchiv Berlin. Der Band ist mit 1806 datiert, neben der gedruckten Liste befindet sich aber ein Reglement von Friedrich Wilhelm II. vom 19- 7. 1787 über das Armenwesen, so daß es nicht sicher ist, ob die liste zum Versuch der Einführung von Armenbezirken von 1787 oder von 1803 gehört. 64 LAB (STA), Rep. 03, Bd. 22, unpaginiert, Stadtarchiv Berlin. Unter dem Datum vom 7. 1. 1823: Liste der Armen der Luisenstadt, und wieviel sie in November 1822 bekommen haben, nach Wahlbezirken aufgelistet: 63

Die Armenkommissionen der Luisenstadt

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Um zu der erforderlichen Anzahl von Mitgliedern zu kommen, hatten zunächst die Stadtverordneten der betroffenen Stadtbezirke Listen mit den Namen möglicher Kandidaten einzureichen, die dann in einem doppelten Prozeß der Verifikation durch die Armendirektion und das Ansprechen der Genannten überarbeitet wurden, wobei die tatsächlichen Mitglieder am Ende durchaus nicht immer mit denen auf den eingereichten Listen übereinstimmten. 65 An dem folgenden Beispiel sieht man die Mühe, die die einzelnen Stadtverordneten mit dieser Aufgabe hatten. In einem Schreiben vom 12. Februar 1823 stellte der Stadtverordnete für den Kottbusser-Tor-Bezirk, Bäckermeister J. G. C. Kochhann, eine Liste zusammen. Er hatte dabei Schwierigkeiten, einen Staatsbeamten als Vorsteher zu finden, da keiner im Bezirk wohnte. Er schlug daher einen Kaufmann Resag, Cichorien-Kaffee-Fabrikant in der Dresdner Straße, als Vorsteher vor, als Mitglieder nannte er - man weiß nicht, ob mit oder ohne Rücksprache - Seifensiedermeister Lehmann (1809 erster Stadtverordneter des Bezirks), Drechslermeister Bräutigam, Tuchbereiter Winzer, Eigentümer Pohlmann, Seidenfabrikant Koob und Gastwirt Licke. Auf diesem Schreiben des Bäckermeisters finden sich zwei Vermerke, einmal der über eine erfolgte Rücksprache mit den Vorgeschlagenen (man habe „diese Herren von dieser Verfügung vorläufig in Kenntnis gesetzt, und da sich alle bereit erklärt haben..."), zum anderen, eine Woche später geschrieben, eine weitere Liste von der Hand eines Armendirektionsbeamten mit vier weiteren Bewohnern der Dresdener Straße, alles Beamte, mit der Verfügung: „Über den soll man bei Kochhann Auskünfte holen." Diese andere Liste, die der Aussage Kochhanns, im Bezirk wohnten keine Beamten, widerspricht

Jacobs-Kirchhofbez. 54 Arme 53 Rthl. 16 Sgr. Neuer Grünstraßenbez. 17 Arme 13 Rthl. 16 Sgr. Stalls chreibergbez. 48 Arme 42 Rthl. 2 Sgr. Luisenkirchenbez. 30 Arme 25 Rthl. 2 Sgr. Schlesisches-Tor-BeZ. 60 Arme 49 Rthl. 16 Sgr. Prinzen-Holzmarkt-Bez. 35 Arme 26 Rthl. 2 Sgr. Dresdner-Straße-BeZ. 31 Arme 24 Rthl. 20 Sgr. Kottbusser-Tor-Bez. 40 Arme 30 Rthl. 5 Sgr. Die ersten vier Bezirke gehörten zum 12. Polizeirevier, die anderen zum 13. Neue Grünstraße und Luisenkirchenbezirk sollten zusammen eine Armenkommission bilden, „da zusammen 47 Almosenempfänger" da waren. Alle anderen Wahlbezirke bilden zugleich eine Armenkommission. 65 LAB (STA), Rep. 03, Bd. 22, Stadtarchiv Berlin.

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I. Die lokale Macht der Honoratioren

und die offensichtlich zusammengestellt wurde, um gleichwohl einen beamteten Vorsteher zu finden, wurde aber nicht weiter verfolgt. Die tatsächlich gebildete erste Armenkommission für den Kottbusser-Tor-Bezirk bestand aus dem Vorsteher Resag und den Mitgliedern Bräutigam, Koob, Lehmann und Pohlmann, die Kochhann vorgeschlagen hatte, Kochhann selbst und dem Tuchbereiter Krückmann - wahrscheinlich von seinem Kollegen Winzer vorgeschlagen - , der auch in anderen Ehrenämtern nachweisbar ist (zum Beispiel 1838 als Bezirksvorsteher des gleichen Bezirks). In den neuen Armenkommissionen insgesamt fanden sich folgende Berufe repräsentiert: fünf Gärtner, sechs Metallhandwerker (ein Dreher, ein Gürtler, ein Gießer, ein Stecher, ein Kupferstecher, ein Goldschmied), drei Seifenfabrikanten, ein Posamentenmacher, ein Musikinstrumentenmacher, ein Schuhmachermeister, ein Sattlermeister, vier Lederfabrikanten, der Besitzer einer Lacklederfabrik, zwei Maurermeister, fünf Bäckermeister und ein Mehlhändler, ein Fleischer, sechs Ladenbesitzer, ein Leinwandhändler, ein Holzhändler, ein Kalkscheunenbesitzer und zehn Staatsbeamte. Die überwiegende Mehrheit bildeten Handwerksmeister, Kaufleute und „Fabrikanten" - ein Beruf zwischen dem des Industriellen und des Handwerksmeisters - , denen von Amts wegen die Staatsbeamten beigesellt waren, die zunächst die mit der größten Verantwortung belastete und meistgemiedene Funktion des Vorsitzenden zu übernehmen hatten. Es ist aber für die Luisenstadt charakteristisch, daß 1830, also sieben Jahre später, fast alle Kommissionen bereits von Bürgern, nicht von Staatsbeamten geleitet wurden. Es handelte sich um gesichertes mittleres und Kleinbürgertum, nur der Kalkscheunenbesitzer gehörte dem Großbürgertum an. Viele von ihnen waren untereinander durch Geschäfts- oder Nachbarschaftsbeziehungen verbunden, nicht wenige auch durch Verwandtschaften, wie drei der vier Lederfabrikanten. Die starke Präsenz der Gärtner erklärt sich aus der Eigenart der damaligen Luisenstadt, der Existenz von bodenintensivem Gemüseund Blumenanbau an der Grenze zwischen Stadt und Ackerland. Die meisten Gärtner nannten sich Kunst-Gärtner, im Unterschied zum einfachen Gemüsegärtner, sie bauten in Gewächshäusern und Plantagen Südfrüchte und seltene Blumensorten an, einige von ihnen zählten zur bürgerlichen Oberschicht. Die gleichstarke Vertretung der Bäcker ging auf die ökonomisch privilegierte Situation dieses Berufes zurück, organisiert in einer geschlossenen Zunft, die die

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Ausbreitung des Gewerbes bremste, 66 auch noch in Zeiten des Bevölkerungsanstiegs und damit wachsender Kundschaft, in einer historischen Epoche, wo das Brot noch immer das Hauptnahrungsmittel darstellte. Die Lederfabrikanten waren besonders eng mit dem Viertel verbunden, da ihre Fabrikationsstätten fließendes Wasser benötigten. Der berufsspezifische Pietismus ließ sie auf die Arbeit in den Armenkommissionen unvergleichlich williger und engagierter eingehen als andere. Im Tagebuch des ehemaligen Bäckermeisters H. E. Kochhann, Sohn des oben genannten Stadtverordneten, kann man nachlesen, wie unbürokratisch damals die Stadtverwaltung funktionierte und wie man in eine Armenkommission eintrat. Kochhann stieg vom Vorsitzenden einer Armenkommission zum Stadtverordneten und schließlich zum Stadtverordnetenvorsteher auf, also zum dritten Mann der Stadtverwaltung. In seinen Erinnerungen erzählt er: „Die Mitglieder der Armenkommission meines Stadtbezirkes waren mit dem ihnen oktroyierten Vorsteher Justiz-Secretair Sonnenberg unzufrieden. Sie erinnerten sich ihres Rechtes, den Vorsteher ihrer Kommission der Armen-Direktion selbst vorschlagen zu dürfen, und da sie mich aus den Vertretungsarbeiten, welche ich für meinen Vater als Stadtverordneten geleistet, kennen gelernt hatten, so fiel ihre Wahl auf meine Person, obgleich ich gar nicht Mitglied ihrer Kommission gewesen war. Die Bestätigung seitens der Armendirektion stieß wegen dieses ungewöhnlichen Herganges zuerst auf Widerspruch, erfolgte aber dann doch, weil meine Wähler von ihrem Beschlüsse nicht lassen wollten. So wurde ich am 19. April 1830 in mein erstes städtisches Ehrenamt durch den B.-D. Apotheker Baerwald, späteren Stadtrat, sodann Direktor der städtischen Gaswerke, feierlich eingeführt." 67 Nicht immer konnte die Arbeit in einer Kommission in Ehren beendet werden, die Konflikte waren zahlreich. Der Geheimsekretär und Stadtrat Starke, der 1815 an der Seite Blüchers gekämpft hatte, ein Freund Jahns, war seit 1823 Vorsitzender einer Armenkommission. Als er 1831 den Vorsitz abgab, nahm er sich aus der Kasse die 66

Ilja Mieck, Preußische Gewerbepolitik in Berlin, 1806-1844 (- Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 20), Berlin 19Ó5. Heinrich Eduard Kochhann, Aus den Tagebüchern, hrsg. von Albert Kochhann, Bd. 1-5, Berlin 1905-1908, Bd. 2: Zeitbilder aus den Jahren 1830-1840, Berlin 1906, S. 7 f.

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I. Die lokale Macht der Honoratioren

erhebliche Summe, die er im Laufe der Jahre der Kommission geliehen hatte. Er mußte sich einer Untersuchung unterziehen und wurde freigesprochen. In einem ähnlichen Fall verlangte wenige Jahre später ein Tischlermeister Boellert die Rückerstattung einer von ihm ausgelegten Summe; der Magistrat zahlte ihm zwar das Geld zurück, entzog ihm aber zugleich als Bestrafung die bürgerlichen Ehrenrechte. 68

Armenkommissionen und Honoratiorenfamilien Der beste Weg, um die sozialen Strukturen kennenzulernen, die die Grundlage des formalen Apparats der von der Armendirektion eingesetzten Armenkommissionen waren und ihn trugen, besteht darin, auf die familiären Verbindungen zu achten, die dabei in einzelnen Fällen sichtbar werden. Man muß davon ausgehen, daß sie der Normalfall waren. Denn andere als die vorhandenen sozialen Beziehungen standen denjenigen Stadtverordneten, die die ersten Mitgliederlisten aufzustellen hatten, gar nicht zur Verfügung. Die Ehrenämter, vor allem der Wechsel der Personen vom Stadtverordneten zum Bezirksverordneten und zum Vorsitzenden der Armenkommission, decken sozusagen die realen sozialen Strukturen auf. Eines der besten bekannten Beispiele ist die Familie Kochhann. Kochhann Sohn wurde, wie oben dargestellt, mit knapp 25 Jahren Vorsitzender einer Armenkommission, ohne zuvor Mitglied gewesen zu sein. Kochhann Väter repräsentierte, wenigstens in den Augen seines Sohnes, den Typus des traditionellen Handwerksmeisters, ohne das geringste Interesse, die eigene handwerkliche Produktion zu erweitern oder zu modernisieren, vielmehr bestrebt, seine freie Zeit in der Bierwirtschaft zu verbringen. Als Stadtverordneter ließ er sich durch seinen Sohn vertreten, ein Detail, das die unbürokratisierten, fast familiären Arbeitsbedingungen der Stadtverwaltung zeigt eine Familiarität, die auch durch den Umstand, daß Kochhann Vater und Sohn für den gleichen Wahlbezirk für zwei Generationen den Stadtverordneten stellten (der erste von den zwanziger Jahren bis 1837, der zweite von 1839 bis 1851 und von 1858 bis 1875), bestätigt wird. Die eigene Bäckerei wird von Kochhann senior dabei nahezu

68

LAB (STA), Rep. 03, Bd. 36, Bl. 49, 126 u n d 138, Stadtarchiv Berlin.

Armenkommissionen

und Honoratiorenfamilien

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ruiniert, es gelang aber dem mit einem modernen Unternehmergeist begabten Sohn schnell, sie wieder hochzubringen. Eine andere wichtige Honoratiorenfamilie der Luisenstadt waren die Radicke. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit einer Brauerei in der Neuen Grünstraße angesiedelt, verfügte die Familie über gesicherten Wohlstand. 1816 übernahm August Radicke die väterliche Brauerei, ein Jahr danach kaufte ein jüngerer Bruder, der Destillateur Carl Gottfried, mit dem sich mit seinem Erbe zur Ruhe setzenden Bruder Johann Heinrich und einer verheirateten Schwester ein Grundstück in der Köpenicker Straße, wo er eine Brennerei erbaute. Auch der Vetter Johann Gottfried und später Carl Gottfrieds Söhne widmeten sich der Destillation und Likörproduktion, ein Gewerbe, das, Mäßigkeitsvereinen zum Trotz, bedeutende Gewinne einbrachte. In dieser Familie war das Ehrenamt des Stadtverordneten für mehrere Jahrzehnte in der Praxis erblich: Carl war von 1823 bis zu seinem Tode Stadtverordneter des 71. Stadtbezirks (Prinzen-Holzmarkt). Nach einigen Jahren des Interregnums - man wählte für den Bezirk Personen, die anderswo wohnten - wurde 1837 Maurermeister Radicke Stadtverordneter, ein Sohn des Destillateurs Johann Gottfried. Das blieb er bis 1848, als der jüngere Sohn Carl Gottfrieds seine Nachfolge antrat.1® Vier Mitglieder der Familie Radicke gehörten der Armenkommission ihres 30. Bezirks an: der Destillateur und Stadtverordnete Carl von der Gründung (1823) bis zu seinem Tod (1834), sein Sohn Julius Radicke von 1830 bis 1845, sein Sohn August als Bezirksvorsteher von Oktober 1842 bis 1845, Maurermeister Radicke von Januar 1832 bis einschließlich 1846.70 Julius Radicke war von 1852 bis 1869 im Vorstand der Armen-Speisungs-Anstalt, die 1800 gegründet worden war, um den Armen während der Wintermonate eine warme Mahlzeit am Tag zu garantieren.71 1831 hatte diese Stiftung ® Dieter Hoffmann-Axthelm, Preußen am Schlesischen Tor, MS., Berlin 1989, Kapitel 8. 70 Nachweisung..., Jg. 1823 bis 1846. 71 Vorsitzender war bis 1810 Stadtrat Dracke, bis 1825 Justizminister von Kircheisen, bis 1833 Oberbürgermeister Büsching, bis 1851 der Königl. Hausminister Fürst zu Wittgenstein. Mitglieder des Vorstands waren zu verschiedenen Zeiten u. a. Oberbürgermeister Krausnick, Stadtrat Hollmann (1825-1858), Prediger Jänicke (bis 1826). In der Luisenstadt ist die Einrichtung seit 1831 mit der vierten Küche der Anstalt in der Köpenicker Straße 101 vertreten, seit 1863 kommt eine Küche in der Wassertorstraße 32, seit 1877 die dreizehnte Küche in der Muskauer Straße 14 und später noch in der Grünauer Straße (heute Ohlauer Straße) 11 hinzu. Die Kosten wurden durch

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I. Die lokale Macht der Honoratioren

eine Küche in der Köpenicker Straße 101 eröffnet, wenige Hausnummern neben der Radickeschen Brennerei, ein Haus, das mehr als ein Jahrhundert lang als Gaststätte diente (später, obwohl Neubau, befand sich hier der Mundtsche Saal). Die Frauen der Familie Radikke (eine Frau Gutsbesitzer, eine Frau Rentier und eine Mademoiselle Radicke) waren im Vorstand der Kleinkinderbewahranstalt der Gegend bis Ende der sechziger Jahre engagiert. Einen Zusammenhang eigener Art stellt die Lohgerberfamilie Kampffmeyer dar. Martin Mathias Kampffmeyer (1793-1868) war von Anfang an eine der aktivsten Persönlichkeiten der Armenkommissionsarbeit in der Luisenstadt. Der Vater, ebenfalls Lohgerber, war aus Ostpreußen eingewandert, wo dessen Vater, seinerseits aus Schwaben zugewandert, ein dürftiges Leben geführt hatte. Martin Kampffmeyer kaufte sich 1817 ein Grundstück in der Luisenstadt am Festungsgraben und legte dort mit Hilfe der wohlhabenden Mutter eine Gerberei an. Die Mutter führte zusammen mit dem ältesten Sohn Carl die nahegelegene väterliche Gerberei in Neukölln am Wasser weiter. Martin war Schüler und Freund des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn, der seit 1809 nur wenige Schritte von der Gerberei des Vaters Kampffmeyer entfernt gewohnt hatte. Martin adoptierte die Tochter eines der beiden engsten Mitarbeiter Jahns, als sie später Waise wurde. Er und seine zahlreichen Söhne blieben auch weiterhin in der Turnerbewegung engagiert, nachdem Jahn im Laufe der Demagogenverfolgung verhaftet und des Landes verwiesen worden war. Martin war Mitglied der Armenkommission seines Bezirks (des 30. beziehungsweise Prinzen-Holzmarkt), außerdem aktives, vom Magistrat kooptiertes Mitglied des Gemeindekirchenrates der Luisenstadtkirche, vor allem aber Gründungsmitglied des Luisenstädtischen Wohlfahrtsvereins, der 1825 mit dem Hauptziel gegründet wurde, denjenigen Armenkindern eine Schulbildung zu ermöglichen, die die

Hauskollekten und von der Armendirektion getragen. Die Armenkommissionen verteilten die „Suppenmarken" an die Armen. Falls noch Marken übrigblieben, wurden diese an Ort und Stelle an die Anwesenden verteilt. Namhafte Berliner Gärtner lieferten Gemüse umsonst, seit 1831 gab es auch Fleischzusatz in der Suppe. Im ersten Winter wurden vom 23. 12. bis zum 1. 4. 8248 Suppen verteilt, 1845 wurden 575 578 Suppen, aber im nächsten Winter (Krisenjahr) schon 1 114 100 Suppen verteilt; 1853 waren es 702 280. Siehe Denkschrift zur 100jährigen Jubelfeier der Armen-SpeisungsAnstalt, Berlin o. J. (1900).

Armenkommissionen

und Honoratiorenfamilien

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Woche über in den Kattunfabriken arbeiteten. Die Untersuchungen der Schulversäumnisse durch den Verein waren vor allem sein Verdienst. Der ältere Bruder Carl (1784-1856) war ebenfalls Mitglied des Wohlfahrtsvereins, im übrigen aber weit mehr in zentralen Gremien engagiert. Dem radikalen Pietismus der Erweckungsbewegung anhängend, wurde er 1823 zum Mitglied des Märkischen Provinziallandtags gewählt, wo er mit Vehemenz die Interessen der Bauern gegen von der Marwitz als Vertreter der konservativen adligen Gutsbesitzer vertrat. Varnhagen von Ense berichtet, daß Carl Kampffmeyer von der Stadtverordnetenversammlung einstimmig als ihr Deputierter im Landtag benannt worden sei. „Die Stadt Berlin hat gestern durch die Stadtverordneten ihre drei Deputierten zu den märkischen Provinz ialständen gewählt. Eine Art konstitutionelle Bewegung und als solche lebhaft aufgefasst: Herr Kampffmeyer, Lederfabrikant, ist fast einstimmig gewählt worden, für ihn sind die Bürger ganz begeistert. Er soll Mut, Umsicht, Kenntnisse und Beredsamkeit vereinigen." 72 Varnhagen schreibt aber auch: „Mit Herrn Bürgermeister von Bärensprung und Regierungsrat Häckel über die Provinzialstände gesprochen. Jener hält die Berliner Wahlen nicht für sonderlich gut. Der Abgeordnete Kampffmeyer sei aus dem untersten Tiersetat, von gesundem Verstände, aber ohne Bildung und Kenntnisse. Kampffmeyer war gleichzeitig Mitglied der konservativ-pietistischen Bibelgesellschaft, wo er mit dem General von Thile zusammenarbeitete, aber auch 28 Jahre lang im Kuratorium des städtischen Altersheims vertreten, des Hospitals (es befand sich in der ehemaligen Splitgerberschen Zuckersiederei unweit seiner Wohnung), das er aus Protest gegen das neue, 1849 eröffnete 74 Hospitalgebäude an der Großen Frankfurter Straße verließ, weil er es als zu luxuriös emp-

72

Karl August Varnhagen von Ense, Blätter aus der preußische Geschichte, Bd. 3, Leipzig 1884, S. 243, Zitiert auch in: Paul Kampffmeyer, Blutsverwandte deutsche Familien im Wandel der Jahrhunderte. Vom Sechzehnten bis in das Zwanzigste Jahrhundert, Greifswald 1939, S. 53. 73 Κ. A. Varnhagen von Ense, Blätter..., Bd. 2, S. 453, zit., allerdings mit einer kleinen Veränderung, in: P. Kampffmeyer, Blutsverwandte..., S. 53. 74 Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege und für den naturwissenschaftlichen Unterricht, Berlin 1886, S. 189-

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fand. Beide Brüder waren Gründungsmitglieder von Kleinkinderbewahranstalten, aber Carl im Rahmen eines von dem ehemals katholischen Prediger Goßner 1834 gegründeten Vereins, in dem auch Leopold von Gerlach und dessen Frau mitarbeiteten. Die Familie Kampffmeyer war insgesamt sehr religiös. Die beiden Brüder Martin und Carl schlugen mit der Zeit zwei verschiedene Richtungen ein, Carl wandte sich der Erweckungsbewegung zu und Martin dem liberalen Lager. Es handelte sich aber anfangs um Gesinnungen, die nicht notwendig als gegensätzlich angesehen wurden. In beiden Fällen war die Religion der ausschlaggebende Grund für die rege Teilnahme der Brüder am öffentlichen Leben. Die zahlreichen Söhne Martin Kampffmeyers waren, wie auch noch die Enkel, fast alle in Armenkommissionen aktiv. Der älteste, Wilhelm, der die Gerberei weiterführte, heiratete die Schwester des Stadtrats Heinrich Runge, der gegenüber der Gerberei wohnte; ein anderer, Theodor, als Buchhändler und Antiquar als einziges Familienmitglied reich geworden, heiratete die Tochter eines benachbarten Lohgerbers, der fünfundzwanzig Jahre lang den Vorsitz einer Armenkommission führte. Theodor selber war Kommissionsmitglied, später übrigens auch Mitglied des Protestantenvereins und des Gustav-Adolf-Vereins wie die anderen beiden Brüder. Der Schwiegervater Martins, Lohgerbersohn und reicher Bäckermeister, war drei Jahrzehnte lang Vorsitzender einer Armenkommission. Die gesamte Familie engagierte sich während eines Jahrhunderts in der Armenfürsorge. Ein Enkel Martins, Paul Kampffmeyer, Verfasser einer Familiengeschichte, gehörte zu den „Jungen", die in den neunziger Jahren gegen den Reformkurs der SPD opponierten und unter dem Beifall von Friedrich Engels gemaßregelt wurden. Er gehörte später zum Friedrichshagener Kreis und war mit Mühsam befreundet; zwei andere, Bernhard und Hans Kampffmeyer, waren 1906 unter den Gründern der Deutschen Gartenstadtgesellschaft, ein Beweis für die tiefen kleinbürgerlichen Wurzeln der Lebensreform in Deutschland.75

75 Hans Kampffmeyer (1876-1932) studierte Forstwissenschaft und Gartenarchitektur, Landschaftsgärtner, Studium an der Kunstakademie in Karlsruhe, stellvertretender Vorsitzender und Generalsekretär der Deutschen Gartenstadtgesellschaft, seit 1912 Wohnungsinspektor und Regierungsrat in Baden, seit 1919 Siedlungsreferent in Wien. Vgl. Kristiana Hartmann, Deutsche Gartenstadtbewegung, München 1976, S. 32.

Die Tätigkeit auf der Armendirektionsebene: de Cuvry

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Die Tätigkeit auf der Armendirektionsebene: de Cuvry Heinrich Andreas de Cuvry (1785-1869), Sohn eines hugenottischen Tuchhändlers, hatte Jura studiert und sich als Freiwilliger in den Befreiungskriegen ausgezeichnet. 1814 bis 1850 war er besoldeter Stadtrat, in seiner Amtsstellung nur dem Stadtbaurat Langerhans vergleichbar. 1824 bis 1845 war er Abgeordneter im Provinziallandtag. Er war mit einer Hugenottin verheiratet, und die einzige Tochter - neben drei Söhnen - heiratete ebenfalls wieder in eine bekannte hugenottische Familie ein. 1825 kaufte er die Mendelssohn-Bartholdysche Meierei vor dem Schlesischen Tor, wo er aber erst in den fünfziger Jahre wohnte. Seine Tätigkeit vermittelt den Eindruck „einer schwer faßbaren Mischung von sozialpolitischem Engagement und Geschäftstüchtigkeit, von realer Leistung und Phraseologie, von Ideal und Ressentiment, von Wohltätigkeit und Ausbeutung - das alles um so schwerer zu fassen, als das Milieu dieser Armenpflege - die ehrenamtliche Tätigkeit lokaler Honoratioren ... - von Haus aus zugleich bewußt ambivalent angelegt war, indem man auf den sozialen Ehrgeiz der Vermögenden spekulierte, um den Zweck einer effektiven Bekämpfung der Staatsarmut zu erreichen".7^ Ein von de Cuvry 1838 verfaßter Bericht über seine eigene Tätigkeit und seinen Tagesablauf gibt einen Eindruck von der ungeheuerlichen Arbeitslast, die er sich in der Kombination seiner Ämter auferlegte. Als Einleitung zu einem Verzeichnis seiner in einem Journal vermerkten Amtshandlungen geschrieben, diente dieser Bericht wie der nachfolgende Band mit den Auszügen aus diesem Journal dazu, seine Forderung nach Entlastung durch Übertragung einiger Dezernate an andere Stadträte zu begründen - der gleiche Vorgang ist im selben Jahr für Stadtbaurat Langerhans überliefert. Er sei, schreibt de Cuvry, so mit Routinearbeiten überladen, daß alle außerordentlichen Anforderungen ihn aus dem Geleise würfen und an Nachdenken und die Ausarbeitung mehr grundsätzlicher Gedanken zum Fortgang der Armendirektion nicht zu denken sei. Als Direktor der Armendirektion war er zugleich Dezernent mit einem reichhaltigen Arbeitsgebiet: von den Hinterlassenschaften gestorbener Armer über die Verteilung von Legaten bis zu den

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D. Hoffmann-Axthelm, Preußen...,

Kapitel 5.

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I. Die lokale Macht der Honoratioren

Armenfriedhöfen und den Auseinandersetzungen mit der Charitékasse. Zugleich sei er Vorsitzender und einziger Dezernent der Armenbeschäftigungsanstalt, als Mitglied des Kuratoriums der Krankenhaus-Angelegenheiten halte er die Beziehungen der Stadt zur Charité aufrecht, sei Vorsitzender des Kuratoriums des Arbeitshauses, habe die Armenwächter und Stadtsergeanten zu mustern und ihre Tätigkeit zu überprüfen, für die verschiedenen Anstalten und Einrichtungen wöchentliche und monatliche Treffen und Vortrag zu organisieren, täglich eine Sprechstunde für das Publikum zu halten, „die aber selten ausreicht, um die harrenden Personen, die Gesuche haben, oder sich beschweren, Rath, Beistand, und Hülfe in Anspruch nehmen pp., auf befriedigende oder beruhigende Weise, ohne Hast und Übersicht abzufertigen".77 Er müsse auch „eine Menge von Personen guten Standes, ja selbst aus den höchsten Ständen" außerhalb der Sprechstunde empfangen. Besonders interessant ist seine Einschätzung, „daß meine amtlichein] Verhältnisse mich in eine nicht unbedeutende Privat- und halboffizielle Korrespondenz verwickeln, theils mit Beamten und Personen von Hofe, theils mit Kommunalbeamten, wo es bald dieses und jenes, zumal mit Armen-Beamten anzugleichen, zu versöhnen, anzuregen und zu vermitteln gilt, um auf glimpflichen Weg Unannehmlichkeiten zu beseitigen oder ihnen vorzubeugen, Unannehmlichkeiten, die mit Personen, die nur aus freiem Willen Zeit und Kräfte der Armenverwaltung zum Opfer bringen, gar zu leicht entstehen und oft von sehr nachteiligen Folgen sind, wenn sie nicht außeramtlich beseitigt werden". 78 Die ehrenamtlichen Stadtbeamten, die Mitglieder der Armenkommissionen, hatten in de Cuvry ihren Ansprechpartner. Seine Schlichtungsfähigkeiten wurden von den komplizierten persönlichen Kontakten, die die freiwillige Amtsausübung in Gang hielten, beansprucht. Unweit von seiner Wohnung in der Jägerstraße befand sich im Deutschen Dom der Sitz der Armendirektion. Abgesehen von den etwa vierzig ehrenamtlichen Mitgliedern der Direktion, die sich hier unter de Cuvrys Vorsitz versammelten, hatte er ungefähr sechzig besoldete Unterbeamten unter sich, drei große Anstalten mit etwa dreißig bis vierzig besoldeten Beamten, 58 Armenkommissionen mit 77

78

LAB (STA), Rep. Ol, GB Nr. 2404, Stadtarchiv Berlin.

Ebda.

Vom Gemeinsinn zum Lokalsinn. Motive der Honoratioren

Al

etwa 600 Vorstehern und Mitgliedern, einen Etat von rund 300 000 Thlrn. und in zwei Registraturen den Überblick über 20 000 jährlich mit der Armenverwaltung in Kontakt kommende Menschen. Als er 1851 aus gesundheitlichen Gründen, wie er sagt, aber wahrscheinlich wegen der reaktionären Wende im Magistrat das Amt verließ, wurde er mit einem offiziellen Festakt geehrt, bei dem man ihm, um die Dankbarkeit der Stadt auszudrücken, das lebensgroße Porträt überrreichte, das heute im Evangelischen Konsistorium hängt. Außerdem wurde er zum Stadtältesten ernannt.

Vom Gemeinsinn zum Lokaisinn. Motive der Honoratioren der Luisenstadt Aus den Gründen, die die Honoratioren der Luisenstadt zur ehrenamtlichen Mitarbeit im Dienste der städtischen Verwaltung veranlaßten, läßt sich zugleich ihr Verständnis des ihnen von der Städteordnung abgeforderten Gemeinsinns erschließen. Während des allmählichen Hineinwachsens in ihre Aufgabe in der Form der ehrenamtlichen Tätigkeit war ihre Vorstellung von Gemeinsinn und Allgemeinwohl durchaus nicht identisch mit dem, was sich die Reformer 1808 vorgestellt hatten. Das läßt sich gerade am Beispiel der Arbeit in den Armenkommissionen und an deren Begründung deutlich zeigen. Ein wichtiger Grund für die Teilnahme an der ehrenamtlichen Arbeit in den Armenkommissionen war die Möglichkeit, sich dabei konkret für die Interessen des Stadtviertels zu engagieren. Gemeinsinn zu üben, hieß dabei keineswegs, einer abstrakten moralischen Pflicht Folge zu leisten, sondern sich die Möglichkeit zu schaffen, städtische Mittel den benachbarten Hilfsbedürftigen zukommen zu lassen. Sich um die Armen des eigenen Wohnbereichs zu kümmern, bedeutete nicht nur die Kontrolle der sozialen Probleme im Viertel durch die beauftragende Verwaltungsspitze - der Sinn des „Hamburger Systems" - , sondern gehorchte ebenso einem sozusagen horizontalen Interesse an der Verbesserung der Lebensbedingungen im eigenen Umkreis und Stadtviertel. Die Gesellschaft war noch nicht, wie später, durch häufige Umzüge und ständigen Zuzug neuer Individuen unübersichtlich geworden. Es ist unvorstellbar, daß die Armenkommissionsmitglieder zu „ihren" Armen keine engeren persönlichen Beziehung hätten entwickeln können, zumal die meisten

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I. Die lokale Macht der Honoratioren

Honoratioren dieser Phase ein ganzes Leben lang in den Armenkommissionen blieben. So wurden sie sichere und dauerhafte Adressen für die Bedürftigen der Nachbarschaft. Die Kontrollidee, die im Hamburger Modell des Armenwesens mit dem „Visiting" der Armen durch benachbarte wohlhabende Bürger verknüpft war, schlug oft schnell ins Gegenteil um - aus einer Kontrolle wurde eine Patronage, aus einer Verwaltung am Ort eine Netz persönlicher Beziehungen. Entsprechende Warnungen und Mahnungen der Armendirektion, die die Armenkommissionsmitglieder einer zu großen Nachsicht „ihren" Armen gegenüber bezichtigte, kommen zwar erst in den fünfziger Jahren vor, aber bereits Anfang der vierziger Jahre wurde dieser Umstand als selbstverständlich vorausgesetzt und zum Ausgangspunkt einer Kritik an den Armenkommissionen gemacht. 79 Gerade um dieses Problem zu lösen, wurde seit den fünfziger Jahren mehrmals vorgeschlagen, zur Beschränkung der Entscheidungsfreiheit der Armenkommissionsmitglieder eine neue Kontrollinstanz bezahlter Mitarbeiter zwischen Lokalebene und Armendirektion zu schaffen. Bezeichnenderweise wurden solche Vorschläge von den Lokalhonoratioren immer zurückgewiesen. Ein gewisser Paternalismus und die Verteidigung von partikularistischen Interessen waren systemimmanent. Im Guten wie im Bösen kamen die Notleidenden eines Stadtbezirks nicht umhin, sich mit den örtlichen Honoratioren persönlich auseinanderzusetzen, um mit ihnen in erträglichem Einvernehmen zu leben. Wohlhabende Bürger sorgten für die Bedürftigen: Jeder hatte seinen anerkannten Platz in der Gesellschaft, eine in der Tradition verankerte Kräftekonstellation, die eher an das Verhältnis des Gutsherrn zu seinen Bauern erinnert als an eine moderne Verwaltung. In der Tat entsprachen die Armenkommissionen in der Stadt dem Gutsherrn auf dem Lande. Lamentierte man, wie noch zu zeigen sein wird, nach 1848, daß die „Dankbarkeit" der Empfänger verschwunden sei, so kann man sich für die Zeit des Vormärz gut vorstellen, daß diese Dankbarkeit, die man bald vermissen wird, noch ein wichtiger Bestandteil der täglichen Erfahrung der Honoratioren des Viertels war. Nachbarschafts- und Dankbarkeitsbande hielten das öffentliche Leben des Viertels zusammen. Die Beschränkung

Siehe unten FÜNFTES KAPITEL.

Vom Gemeinsinn zum Lokalsinn

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der Entscheidungsfreiheit der Armenkommissionsmitglieder hätte diese Bande persönlicher Eigenverantwortung für die eigenen Armen gesprengt und damit das ganze System. Wie de Cuvry 1838 zu verstehen gab, waren diese ehrenamtlichen Beamten höchst sensibel: Es brauche viel Takt und Schlichtungsfähigkeit, um die bei ihren Aktivitäten auftretenden „Unannehmlichkeiten" zu beseitigen. Die Tatsache, daß die lokalen Honoratioren ehrenamdich arbeiteten, also ihre kostbare Zeit im Namen des Allgemeinwohls opferten, räumte ihnen besondere Rechte ein, deren sie sich durchaus bewußt waren. Eines davon war das Recht, selber zu entscheiden, wer Unterstützung bekam und wieviel - im Rahmen der Anweisungen der Armendirektion, die aber einen gewissen Spielraum zuließen - , ein anderes, die neuen Mitarbeiter selber auszuwählen - ein Kooptationsrecht, das den Armenkommissionsmitgliedern erst in den siebziger Jahren genommen wurde. Der Auftrag, für das Gemeinwohl tätig zu sein, fiel in der Luisenstadt auf fruchtbarsten Boden. Der Stadtbereich war bei der Einführung der Städteordnung gerade von der Vorstadt zum Stadtteil avanciert, die Bewohner, eine charakteristische Mischung aus Handwerkern alten Typs, Industriellen, Fabrikanten, Ackerbürgern, alteingesessenen „Kunst-Gärtnern" usw., hatten nur eines gemeinsam: eine zum Lokalpatriotismus neigende Liebe zu ihrem Stadtteil und das Bedürfnis, ihn auf städtisches Niveau zu bringen. Die Luisenstadt, die erst seit wenigen Jahren den bedeutungsvollen Namen trug, war auf der Suche nach einer ehrenvollen Identität. Die ehrenamtliche Mitarbeit im städtischen Dienst auf sich zu nehmen, bot eine doppelte Gelegenheit dazu: Man übernahm ein anerkanntes Amt im Namen des Gemeinsinns und konnte dadurch praktische Hilfe für die benachbarten bedürftigen Bewohner des Viertels leisten. Der „Tiers-état" eignete sich auf diese Weise durch Honoratiorenfamilien wie die Kampffmeyers und die Radickes Erfahrungen in der Kommunalverwaltung und -politik auf der lokalen Ebene an, trotz des Mißtrauens der Magistratsspitze und des staadichen Beamtentums, das aus den treffenden Worten von Bärensprungs spricht. Dieses städtische kleine und mittlere Bürgertum hatte wenig Verständnis für die Verwaltung, die es noch mit der absolutistischen Regierungsweise identifizierte. Das Bürgertum (wie die liberale Doktrin) „brachte von Hause aus gar kein Verständnis für das Berufsbeamtentum auf, setzte vielmehr die altständische Abneigung gegen dies Werk-

I. Die lokale Macht der Honoratioren

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zeug des monarchischen Absolutismus fort". 80 Sich für ein Ehrenamt im Rahmen der Stadtverwaltung zur Verfügung zu stellen, war auch ein Weg, die Überflüssigkeit der staatlichen Bürokratie aktiv zu beweisen oder zumindest ihrem autoritären Gebaren die eigene Fähigkeit zur Selbstverwaltung entgegenzustellen. Es ging darum, auf lokaler Ebene die Umverteilung und Kontrolle politischer Macht in die Hand zu nehmen in Form des als Kampf gegen den Absolutismus verstandenen bürgerlichen Engagements. Die räumliche Organisation selbst, die sowohl den Stadtbezirken als auch den Armenkommissionen und später den Schulkommissionen zugrunde lag, wurde als eine Überwindung der traditionellen korporativen Logik gesehen, die zum Beispiel die Wahl von Repräsentanten in das Innere einer jeden Korporation verlegte. 81 Daß die korporative Logik in der Welt der Honoratioren des Viertels weiter lebendig war, zum Beispiel im Kooptationsverfahren, sah man nicht. Inwieweit - in den Augen der Honoratioren - die Armenkommissionen im täglichen Kontakt mit den Mittellosen in der Tat der Produktionsort jener bürgerlichen Gesellschaft „mittlerer Existenzen" gewesen sind, Ziel und Mission, zu denen das vormärzliche Bürgertum sich berufen gefühlt haben soll, bleibt offen. 82 Ein weiteres, mehr grundsätzliches Motiv für ein Engagement in den Armenkommissionen war die religiöse Einbindung des Lebens. Das gilt für die verschiedenen Schichten. Wenn das zum Liberalismus tendierende Bürgertum kirchenpolitisch auf der Seite der Schleiermacherianer stand, wie noch zu sehen sein wird, so war dabei die kirchliche Einbindung der eigenen Moral noch selbstverständlich und von dem Engagement in den Kirchengemeinden nicht zu trennen, einem Engagement, das oft zur Ausreifung bewußter politischer Positionen führte. Das eigentliche Kleinbürgertum, das in den zwanziger Jahren noch strukturell handwerklich war, stellte andererseits einen Boden dar, in dem der Pietismus - eine Weise, den evangelischen Glauben nicht nur über die persönliche Erwekkung, sondern auch über die „Werke" zu leben - tief verankert blieb. Im festen Glauben, das Beste für die Gesellschaft zu repräsentieren und eine Gesellschaft nach ihrem Bilde verwirklichen zu kön80

H. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung...,

81

A. a. O., S. 94.

S. 171.

8 2 Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Lothar Gall (Hrsg.), Liberalismus, Köln 1976.

Frankfurt a. M. 1988, S. 33;

Vom Gemeinsinn zum Lokalsinn

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nen, hielten die örtlichen Honoratioren es auch für möglich und geboten, den „vierten Stand" zur bürgerlichen Lebensweise zu erziehen und ihn in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Das in den Kommissionen tätige mittlere und Kleinbürgertum kannte aus eigener Anschauung die schwierige Situation des Handwerks, sei es durch die paternalistisch gefärbten Beziehungen zu den eigenen Gesellen, sei es, weil es selber Mangelsituationen durchgemacht hatte. So engagierte es sich sowohl auf der Ebene der traditionellen Armenfürsorge - den Armenkommissionen - als auch in Reformen, die imstande waren, auf lange Sicht die Gesellschaft strukturell zu ändern, wie später den Schulkommissionen oder den Kreditgenossenschaften für Handwerker. Die traditionelle Wohltätigkeit selber wurde mit Maßregeln ausgeübt, die erzieherische Ergebnisse implizierten: Die individuelle Kontrolle der Armenfamilie durch ein Mitglied einer Armenkommission verknüpfte in der Regel die materielle Unterstützung mit Ratschlägen, die das private Leben und die wirtschaftlichen Verbesserungsmöglichkeiten der Familienmitglieder betrafen. Diese lokalen sozialen Strukturen waren Zentren der lokalen Macht, konkret als Verfügungsgewalt über Lebensverhältnisse anderer verstanden. Insofern brauchten die Honoratioren des Viertels genausosehr ihre Armen, um weiterhin ihre angesehene Stellung zu bewahren, wie diese ihre Honoratioren, um zu überleben. So kann man von einer starken gegenseitigen sozialen Bindung ausgehen, die das System festigte und es allen gesellschaftlichen Veränderungen zum Trotz bis zum Ersten Weltkrieg am Leben erhielt.

ZWEITES KAPITEL

Der Luisenstädtische Wohltätigkeitsverein Am 31. März 1825 gründeten die Armenkommissionsvorsteher der Luisenstadt gemeinsam mit mehreren angesehenen Bürgern der Luisenstadtparochie den Luisenstädtischen Wohltätigkeitsverein (im folgenden auch LWV). Seine Aufgabe sollte es sein, in bestimmten Armenangelegenheiten, insbesondere denen der Armenkinder, gemeinsam vorzugehen. Bei zwei Talern jährlichem Mitgliedsbeitrag stand der Eintritt in den Verein jedermann offen. Am Luisenstädtischen Wohltätigkeitsverein lassen sich paradigmatisch die Entwicklungslinien ablesen, die von der kirchlich gebundenen Wohltätigkeit zur Parteipolitik und von der freien Tätigkeit eines Vereins zur kommunalen Sozialpolitik führten. Aus diesem Verein entwickelten sich die Schulkommissionen, die zwanzig Jahre nach der Gründung des Vereins in ganz Berlin eingeführt wurden: Diese übernahmen die Aufgaben, die sich der Verein gestellt hatte, und erfüllten sie auf offizieller Ebene. Der Verein leistete auch darin Pionierarbeit, daß er die Mitarbeit von Frauen in die Armenund Waisenpflege einführte: ebenfalls ein Experiment, das bald von der städtischen Verwaltung übernommen und institutionalisiert wurde. In Zusammenarbeit aller Armenkommissionen der Luisenstadt gegründet, beweist der Verein die enge Verflechtung zwischen institutionellen Gremien und privaten Vereinen. In der Tat gab es damals für diejenigen Persönlichkeiten, die ehrenamtlich tätig waren, keine genaue Grenze zwischen beiden Ebenen. Eine Präzisierung von Aufgabenbereichen und Verfahrensweisen stellte sich vielmehr erst mit der Zeit aufgrund der Erfahrungen ein, die man in der Zusammenarbeit machte. Die Gründergeneration des LWV tat sich aus dem oben geschilderten unspezifischen „Gemeinsinn" zusammen, in dem kirchliche Wohltätigkeit und traditionelle Verantwortung der Honoratioren für

Der Luisenstcidtische Wohltätigkeitsverein

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ihr Stadtviertel untrennbar zusammenwirkten. Es handelte sich dabei um sehr verschiedene Persönlichkeiten: an hervorragender Stelle kleinbürgerliche Fabrikanten wie die Kampffmeyer und der Lacklederfabrikant Neander, daneben die beiden Prediger der Luisenstadtparochie, Koblanck und Hetzel (seit 1828 Hetzel und Bachmann), weiter Beamte, wie der städtische Baurat Wilhelm Langerhans, und einige Staatsbeamte, so der Geh. Justizrath Mertens, der Geh. Secretair C. W. Borstel, der Beamte im Kriegsministerium Starke, der Geh. Registrator Boettge, schließlich Kaufleute wie Philipp Sannier, F. F. C. Dietrichs, beide Amenkommissionsvorsteher, der letzte auch Rendant der Luisenstadtgemeinde, und der Agent Annisius. Anfang der dreißiger Jahre stießen zu diesen Gründern im Zuge der Umbesetzung der Kommissionsvorsitze noch einige markante Persönlichkeiten: der Lohgerbermeister Preiß, Schwiegersohn Martin M. Kampffmeyers, der Fabrikbesitzer Eduard Goldschmidt, von dem noch die Rede sein wird, Bäckermeister Kochhann Sohn, der Kaufmann Gemberg, dessen Frau Wilhelmine als Gründerin von Kleinkinderbewahranstalten hervortrat, worauf ebenfalls noch einzugehen ist, und der Geh. Oberfinanzrat Semler. Seit 1831 wurden auch die Funktionen im Vorstand deutlicher abgegrenzt: Bachmann wurde Ordner, Kassenrevisoren wurden ein Hofrat Bauert und Carl Kampffmeyer, Aufseher der Knabenschule ein Major von Plehwe und M. M. Kampffmeyer, Inspektoren der Mädchenschule Starke und Carl Kampffmeyer, Verwalter des Schulapparates (Bücher, Hefte) der wohlhabende Bäckermeister H. Schmidt (der Schwiegervater M. M. Kampffmeyers). Aus den Quellen über das Vereinsleben läßt sich die langsame Ausbildung zweier verschiedener Grundhaltungen aus einer gemeinsamen Wurzel, dem Gemeinsinn, erschließen. Sie gehen seit dem Ende der dreißiger Jahre in ein pietistisches und ein liberales Lager über, aber die Zugehörigkeit zu dem einen oder dem anderen war noch für längere Zeit den betroffenen Persönlichkeiten selbst nicht ganz klar. Ein Zeichen der sich allmählich herausbildenden und bewußt werdenden Polarisierung kann man in dem Befremden vieler Vereinsmitglieder sehen, das diese gegenüber der Haltung des zweiten Predigers der Luisenstadtkirche, Bachmann, an den Tag legten; in der Anfangsphase kann aber von den späteren Zerwürfnissen überhaupt nicht die Rede sein. Es handelte sich allerdings von Anfang an um eine sehr heterogene Gruppe mit auseinanderstrebenden Interessen - einerseits ein

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II. Der Luisenstädtische Wohltätigkeitsverein

Kattunfabrikant wie Goldschmidt, andererseits die Kaufleute und Lederfabrikanten, die keine Kinderarbeit brauchten, in der Mitte die jeder Reglementierung abholden Beamten und die an vermehrtem Einfluß auf die Gesellschaft interessierten Pfarrer. Gemeinsam war die an sich schon moderne und keineswegs selbstverständliche Intention, Lösungen für übergreifende Probleme nicht nur innerhalb der Armenkommissionen, sondern in einem größeren Gremium zu suchen. Offensichtlich empfanden die Gründer schon nach einem Jahr Erfahrung mit den neuen Armenkommissionen deren Grenzen als zu eng, um zu strukturellen Lösungen kommen zu können - ob es dabei um eine räumliche oder institutionelle Enge ging, sei noch dahingestellt. Der Verein engagierte sich vor allem auf dem problematischen Feld des Schulbesuchs der Fabrikkinder. Zu diesem Zweck richtete er als erste Maßnahme im Jahr 1826 eine Sonntagsschule ein. Das Problem war im Viertel unübersehbar. Die überwiegende Mehrheit der Fabrikkinder arbeitete in Kattundruckereien, von denen eine ganze Anzahl und zum Teil die größten Berlins überhaupt, zum Beispiel die Fabriken von Dannenberger, Goldschmidt und später Stephan, in der Köpenicker Straße lagen.1 Den christlich engagierten Bürgern im Verein, wie den Kampffmeyer, ging es darum, etwas gegen die moralischen Folgen des Fabriksystems zu unternehmen. Über die Garantie eines minimalen Schulbesuchs glaubten sie, die Situation der arbeitenden Kinder verbessern zu können. Die Kattunfabrikanten waren andererseits nicht unmittelbar Partei, da nicht sie die Kinder engagierten, sondern in der Tradition der Manufakturverhältnisse des 18. Jahrhunderts noch immer jeder Drucker seinen Streichjungen persönlich einstellte und entlohnte, also auch dessen Arbeitszeiten bestimmte. Einen Staatseingriff forderte man ohnehin nicht, man kam ihm zuvor. Der liberalistischen Auffassung entsprechend, die die Fabrikanten im LWV mit dem Beamtenapparat teilten, war ein direktes Eingreifen des Staates in den wirtschaftlichen Ablauf durch Gesetzgebung undenkbar, es hieß also, selber aktiv für die Verbesserung der Gesellschaft einzutreten.

1

D. Hoffmann-Axthelm, Preußen..., Kapitel 3.

Die Fabrikkinder

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Die Fabrikkinder Der Fabrikbesitzer Dannenberger, ein „selfmade man" der Luisenstadt, schildert in seinem Lebensabriß, wie er als zehnjähriges Kind 1797 selber in einer Kattundruckerei als Streichjunge arbeitete. Der Vater wollte ihn nach dem Besuch der Parochialschule der Sebastian(später Luisenstadt-)Kirche ein Handwerk erlernen lassen. „Eines Morgens früh 5 Uhr stand ich vor der Tür und Otto, der in derselben Schule Freischüler gewesen war, ging vorüber, hatte ein neues schafledernes Schürzfell vor, worauf eine Form abgedruckt war. Ich fragte ihn: ,Was ist das?' Er sagte mir nun, daß er in einer Kattundruckerei arbeite, und daß mittels solcher Formen die Kattune gedruckt würden. Auf die Frage: ,Kann ich das sehen?' antwortete er ,Ο ja'. Ich bat meine Eltern um Erlaubnis, rannte ihm nach und ging mit, vergaß Essen und Trinken und blieb den ganzen Tag dort. Als ich nach Hause kam, erklärte ich: ,Ich werde ein Kattundrucker.'"2 Den Ausschlag für die Erlaubnis der Eltern gaben die zwanzig Silbergroschen, die er sogleich wöchentlich verdiente. Dannenberger gelang dann zwei Jahre später der Übergang in die Lehre, und nach fünf Jahren Lehrzeit wurde er 1804 Drucker. Die Situation der Fabrikkinder wurde durch den Runderlaß des preußischen Staatskanzlers von Hardenberg an die Oberpräsidenten der Provinzialregierungen vom September 1817 zum ersten Mal von den staatlichen Behörden zur Diskussion gestellt,3 zunächst ohne praktische Folgen. Das lag weitgehend an der Opposition der Industriellen und an der liberalen Einstellung des Beamtenapparats, der einen Eingriff des Staates in die private Wirtschaft nicht für opportun hielt. Es hätte bedeutet, wie man 1817 in einer Beantwortung des Zirkulars von Hardenberg las, daß „die natürliche Freiheit des Men2 Walther Stephan, Johann Friedrich Dannenberger. Ein Bahnbrecher der Berliner Großindustrie, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, (1957/58), S. 19 ff., Zitat S. 23. 3 Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Berlin I960, Bd. 8. Hier ist auf S. 23 f. der Runderlaß abgedruckt. Zur Kinderarbeit im allgemeinen siehe auch Burkhard Müller, öffentliche Kleinkindererziehung im deutschen Kaiserreich. Analyse zur Politik der Initiierung, Organisierung, Nationalisierung und Verstaatlichung vorschulischer Anstalten in Deutschland, Weinheim 1989. Hier wird auf S. 17 f. u. a. darauf hingewiesen, daß nach dem ALR (5 121) die Kinder den Eltern Hilfe bei ihrer Arbeit zu leisten „schuldig" waren, obwohl dadurch die zum Unterricht nötige Zeit nicht vermindert werden durfte (§ 122).

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II. Der Luisenstädtische Wohltätigkeitsverein

sehen, über seine Zeit und Kräfte auf die ihm vorteilhaftest scheinende Art zu disponieren, beeinträchtigt werden würde". 4 Der Erlaß und die daraufhin erstellten Enqueten rückten das Problem aber allgemeiner ins Bewußtsein. Hardenbergs Erlaß über die Kinderarbeit ging auf die Erfahrung der Wirtschaftskrise von 1816/17 zurück. Es sei nötig, schrieb er, „sehr ernstliche Untersuchungen über die Mittel" anzustellen, „wodurch es überhaupt zu verhindern ist, daß die Fabrikation, von welcher die Kultur und der Wohlstand der blühendsten Länder ausgeht, nicht eine zahlreiche Menschenklasse erzeuge, die in den besten Jahren dürftig und bei jeder Mißernte oder jeder Stockung des Absatzes dem tiefsten Elend preisgegeben ist".5 Frühe Gewöhnung an einseitige Fabrikarbeit wird als Grund der späteren Verelendung angesehen. Aber alle Oberpräsidenten lehnten staatliche Eingriffe grundsätzlich ab. So gut wie alle Antworten der Oberpräsidenten Preußens auf Hardenbergs Zirkular hatten nur den Umweg über die Schulpflicht vorgeschlagen, um das Problem der Fabrikkinder kontrollieren zu können, und in der Praxis die Einrichtung von Sonntags-, Abend- oder anderen Sonderschulen angeregt. Es handelte sich in diesen Jahren vor allem um ein sozial-, nicht um ein bildungspolitisches Problem. Die schon im ALR vorgeschriebene Schulpflicht war der einzige gesetzliche Anhaltspunkt, um die soziale Situation der Kinder der ärmeren Bevölkerungsschichten zu beeinflussen. Die „Beförderung des regelmäßigen Schulbesuchs armer Kinder" erfolgte, wie die Armendirektion noch 1837 betonte, aus polizeilichem Interesse, denn die „Vermehrung der Verbrechen ist auch die Folge einer vernachlässigten Erziehung".6 Ein erstes Gesetz zur Regelung der Kinderarbeit wurde erst 1839 erlassen Verbot der Kinderarbeit vor dem neunten Lebensjahr, mindestens drei Jahre Schulbesuch, maximal zehnstündiger Arbeitstag, Verbot von Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit.7 Damit war die Kinderarbeit das einzige sozialpolitische Problem, dessen Lösung schon vor dem Erlaß der allgemeinen Preußischen Gewerbeordnung von 1845, 4

Bericht des Oberpräsidenten v. Bülow in Magdeburg an den Staatskanzler v. Hardenberg, Magdeburg, 11. 10. 1817, zitiert in: J. Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter..., S. 27. 5 A. a. O., S. 23. 6 Monatsblatt, Nr. 10 (1837), S. 147. 7 R. Koselleck, Preußen zwischen Reform, und Revolution..., S. 624.

Die Schule als „Kirche der Kinder"

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in Angriff genommen wurde. 8 Hier geriet der liberale Anspruch auf freie Nutzung aller verfügbaren Kräfte mit der Wehrpflicht und dem Erziehungsanspruch des Staates in Konflikt, die im ALR (für Schulpflicht) und im Gesetz über die allgemeine Militärpflicht von 1814 festgelegt waren. 1825, als der LWV gegründet wurde, gab es also noch keine gesetzliche Regelung der Kinderarbeit. Die Frage der Beschäftigung von Kindern konnte man nur im Zusammenhang mit der Schulpflicht behandeln.

Die Schule als „Kirche der Kinder" Das Berliner Schulwesen veränderte sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts rasch. In der Städteordnung von 1808 wurde das Schulwesen dem Magistrat zugeordnet, aber der Hauptanteil der mittleren und Elementarschulen war noch in den Händen von Kirchengemeinden, also als Parochialschulen organisiert sowie von privaten Schulunternehmern, die den Unterricht mit dem Schulgeld der Eltern finanzierten.9 Bis zu dieser Zeit war die Eröffnung beziehungsweise die Konzessionierung einer Schule mehr eine soziale Wohltat für den alten oder durch Unfall arbeitsunfähig gewordenen Handwerker, der als Lehrer damit seinen Unterhalt verdiente, als eine bildungspolitische Tat. Die ersten zwei Jahrzehnte der LWV sind auch die, in denen die Stadt überhaupt erst begann, sich die Frage zu stellen, wo ihre eigenen Aufgaben liegen könnten. Nur allmählich wurde der Schule eine Schlüsselposition bei der Lösung der sozialen Frage - Unterricht als Vorbeugung gegen Armut - zugeschrieben, und nur von diesem veränderten Gesichtspunkt aus konnte sich die Situation ändern. Mit der Übertragung des Armenwesens auf die städtische Armendirektion im Jahr 1819 wurden auch die Armenschulen der Stadt anvertraut. Der Armenverwaltung unterstanden seit altersher die in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts gestifteten Armenschulen, die erst 1837 von der städtischen Armendirektion an die städtische SchuldeputaWolfgang Köllmann, Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik in Preußen bis 1869, in: Vierteljahrschriftfür Sozial-und Wirtschaftsgeschichte, 53. Jg. (1966), S. 2852. 9 Wilhelm Richter, Berliner Schulgeschichte, Berlin 19S1, S. 50. 8

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II. Der Luisenstädtische Wohltätigkeitsverein

tion übergeben wurden und die Grundlage der späteren Gemeindeschule bildeten. 1824 erarbeitete die preußische Regierung Grundsätze für die Entwicklung des Elementarschulwesens. Vorgesehen waren Kontrollen der Parochial- und Privatschulen, Ausgestaltung und Vermehrung der Kommunalarmenschulen, auch als Norm für die anderen Schultypen, und die Berufung eines Stadtschulrats. Diese Maßnahmen wurden vom Berliner Magistrat schrittweise durchgeführt. 1826, ein Jahr nach der Gründung des LWV, wurde als erster Stadtschulrat Reichhelm eingestellt, der schon bei seinem Amtsantritt mit der Armendirektion vereinbarte, die bisherigen sieben Armenschulen auf 14 zu vermehren, so daß es für jeden der neu geschaffenen 14 Armenschulbezirke eine Schule gab. 10 Mit Reichhelm begann eine langsame, aber unaufhaltsame strukturelle Veränderung, die nicht mehr rückgängig zu machen war: Die Stadt baute Armenschulen. Diese dienten zugleich dazu, Abend- und Nachhilfeunterricht für erwerbstätige Kinder zu erteilen, der im gleichen Gebäude, aber zu anderen Zeiten stattfand. Durch ein reiches und elastisches Angebot versuchte die Stadt, trotz Kinderarbeit nach und nach den Schulbesuch aller Kinder zu ermöglichen. Kinderarbeit an sich wurde als etwas Unvermeidliches und als normal angesehen. Das zeigt noch 1832 eine Frage des damals üblichen Fragebogens für die von der Armenfürsorge unterstützten Personen: „ob Kinder da ... und wieviel sie wöchentlich verdienen".11 In einem früheren Fragebogen bezogen sich noch drei Fragen auf Kinderarbeit: „Ob Kinder zur Schule gehen, Womit die Kinder beschäftigt werden, Wieviele Kinder ihren Unterhalt ganz oder zum Teil verdienen". 12 Die Wandlung der Schule von einer stark von der Kirche beeinflußten Institution zu einer Gemeindeangelegenheit vollzog sich ebenfalls nach und nach. Die Schulpflicht stand mit der Konfirmation in Zusammenhang, hatte also mehr mit der Kirche als mit dem Staat zu tun. In den dreißiger Jahren wurde dieser Zusammenhang von Schule und Religion als selbstverständlich angesehen: In der Preußischen Volks-Schulzeitung liest man 1833 unter dem Titel Wel-

chen Anspruch macht die evangelische Kirche an das bürgerliche 10

Verwaltungsbericbt der Stadt Berlin für die Jahre 1829-1840, und W. Richter, Berliner Schulgeschichte..., S. 52. 11 LAB (STA), Rep. 03, Bd. 95, unpaginieit, Stadtarchiv Berlin. 12 LAB (STA), Rep. 03, Bd. 57, Bl. 73, Stadtarchiv Berlin.

Die Sonntagsschule und die Schuluntersucbungen des LWV

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Leben?, daß „sie Zeit und Zucht für die Kinder verlangt: daß diese in Schulen gebracht und daselbst christlich erzogen werden". Im Hinblick auf den Religionsunterricht „sind die Schulen heilige Oerter, und anzusehen als Kirchen für die Kinder ... Wer nicht eher beten lernt als er's versteht, der lernt es nimmermehr."13 1836 wurde dieser Zusammenhang in einer von der Armendirektion nachgedruckten Circular-Verfügung der Regierung vom 4. Juli 1834 mit dem Zweck, die Kinder zum Schulbesuch anzuhalten, folgendermaßen formuliert: Nach dem ALR habe jeder Einwohner, der den nötigen Unterricht nicht in seinem Haus organisieren kann, Sorge zu tragen, daß der Schulunterricht so lange fortgesetzt werde, bis ein Kind „nach dem Befunde seines Seelsorgers - was durch die Confirmation manifestiert wird - die einem jeden vernünftigen Menschen seines Standes nothwendigen Kenntnisse erworben hat".14 Daraus folgte, daß jedes nicht konfirmierte Kind als schulpflichtig anzusehen war und daß den Pfarrern das Urteil darüber überlassen wurde, ob ein Kind schulpflichtig war oder nicht.

Die Sonntagsschule und die Schuluntersuchungen des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins Am Gründonnerstag eines jeden Jahres wurde eine öffentliche Sitzung des LWV abgehalten, in der über das Wirken des Vereins berichtet wurde.15 Die Stadtverordnetenversammlung stellte für die Zusammenkünfte des LWV, die jeden zweiten Monat am ersten Donnerstag des Monats stattfanden, einen Raum im cöllnischen Rathaus zu Verfügung. Gleich zu Beginn ihrer Arbeit hatten es die Gründungsmitglieder als ihren Hauptzweck bezeichnet, „daß alle armen Kinder unserer Stadt einen vollständigen Unterricht und diejenige sittliche Bildung erhielten, die man als das Mittel ansehen könnte, daß sie zu guten

LAB (STA), Rep. 02/01, Bd. 169, Bl. 118, Stadtarchiv Berlin. Monatsblatt, Nr. 4 (1836), S. 26. Die Schulpflicht wurde erst in den siebziger Jahren von der Konfirmation unabhängig gemacht. ^ LAB (STA), Acta d. Stadtverordnetenversammlung betr. Luisenstädtischer Wohltätigkeitsverein, demnächst „die Ite Communal-Armenschule", 1825-1863, Rep. 00, Bd. 2460, Stadtarchiv Berlin. Alle folgenden Zitate stammen, wenn nichts anderes vermerkt ist, aus dieser Quelle. Die Jahresberichte erschienen unregelmäßig. 13 14

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II. Der Luisensttädtiscbe Wohltätigkeitsverein

Menschen und nützlichen Bürgern herangezogen würden, und daß auf diesem Wege das Übel der Verarmung und die Unsittlichkeit in seiner Wurzel angegriffen würden" (Erster Jahresbericht). Die Vereinsmitglieder bedauerten schon in ihrem ersten Sitzungsprotokoll, „daß es in Berlin äußerst wenige eigene Gebäude für Elementarschulen gibt, und nur zur Miete", es existiere deshalb „keine bleibende Einrichtung". „Ein dringendes Bedürfnis [seien] eigene Gebäude für Armenschulen." Weil Kinder mit ihrem Lärm in normalen Häusern störten, hatte man Schwierigkeiten, Räume zu finden, die man mieten konnte. Deshalb wurde die Frage schon in der ersten Sitzung aufgeworfen, ob es Möglichkeiten gebe, „letztgedachtem Bedürfnis auf anderen Wegen abzuhelfen als aus öffentlichen Kosten, aus welchen bei der jetzigen Lage der Dinge sobald noch keine Abhilfe zu erlangen sein möchte". Es wurde vorgeschlagen, „durch wohltätige Gesinnung edler Menschen" in der Luisenstadt ein Gebäude für eine Armenschule zu errichten. Die erste Sammlung erbrachte 11 Rth., die der Vorstand bei der städtischen Sparkasse anlegte. Die Armendirektion habe keinem armen Kinde Schulgeld versagt, betonte man im Verein, „aber nicht alle armen Kinder sind dadurch in die Schule gegangen". In der Luisenstadt gebe es 400 schulfähige Armenkinder zwischen sieben und 14 Jahren, von ihnen erhielten mehr als ein Drittel keinen Unterricht. Obwohl „Menschenfreunde" schon längst in Berlin Sonntagsschulen eingerichtet hätten, existierten für Handwerksgesellen und Lehrlinge, die älter als 14 Jahre seien, immer noch keine Bildungsmöglichkeiten. Hier sah der Verein sein Arbeitsfeld. Bei der großen Anzahl der Armen und der geringen Zahl der wohlhabenden Bürger der Luisenstadt „ist uns die Schwierigkeit unseres Unternehmens nicht entgangen", „doch ein Hinblick auf jene hohe Verklärte, deren Name unsern Stadtteil zieret, hat unsere Hoffnung belebt, daß ihr Geist ein Unternehmen, was in ihrem Namen begonnen hat, fördern und segnen werde". Kronprinz und Kronprinzessin, die Prinzen Wilhelm, Carl und August gaben Geld. Im Februar 1826 verfügte der Verein über 302 Rth. und ließ durch die Armenkommissionen Kleider an arme Kinder verteilen, die aus Mangel an Kleidung nicht zur Schule gingen. Kinderbücher wurden gekauft und verteilt, die Bibelgesellschaft stellte sechs Bibeln zur Verfügung. 1826 eröffnete der LWV zunächst eine Knabensonntagsschule, in der jeden Sonntagvormittag wenigstens drei Stunden Unterricht in Religion, Lesen, Schreiben und Rechnen erteilt wurde, und zwar in

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den Räumen der Armenschule in der Luisenkirchgasse 20, welche die Armendirektion gemietet hatte. Die Zulassung der Kinder zum Unterricht erfolgte durch die Armenkommissionen. Am 28. Mai 1826 wurde die Sonntagsschule mit 36 Schülern eröffnet, der Verein bemängelte aber, daß kein regelmäßiger Schulbesuch stattfinden könne. „Solange die Unsitte vorwaltet, daß die Drucker auf den Fabriken des Sonntags arbeiten, werden die armen Streichjungen selbst an diesem Tage nie einem Unterrichte regelmäßig beiwohnen können." Am 8. Juli 1827 wurde mit 38 Schülerinnen auch die Sonntagsschule für Mädchen eröffnet, diesmal im Haus des Schulvorstehers Bade, Schäfergasse 21, der es unentgeltlich zur Verfügung gestellt hatte. Hatten 1828 97 Knaben die Sonntagsschule besucht, waren es 1829 116, während die Zahl der Mädchen von 39 im Jahr 1828 auf 80 im Jahr 1829 anstieg. Der Verein suchte in der Sonntagsschule eine Kompromißlösung für die Unterrichtung der Kinder, die arbeiten mußten. Aber gegen die Tatsache, daß sie arbeiten mußten, konnte oder wollte er nicht Front machen: Gingen die Kinder nicht in die Fabrik, so müsse die Armenkommission entfallende Verdienste ersetzen, und das sei bei der ohnehin schon schwer belasteten Armenkasse nicht möglich (Dritter Jahresbericht). „Das Verdienst der Kinder ist zur Subsistenz der Armenfamilien unumgänglich notwendig", eventuelle „Anordnungen ... sollen sowohl auf Vortheil der Fabrikanten, wie auf den Verdienst der Eltern Rücksicht nehmen" (Vierter und Fünfter Jahresbericht). Diese Haltung kann nicht überraschen. Noch in der Debatte über die Kinderarbeit im preußischen Abgeordnetenhaus in einer veränderten wirtschaftlichen Situation wurden fast drei Jahrzehnte später ähnliche Bedenken mit Nachdruck geäußert. 16 Trotzdem untersuchte der Verein seit 1827 das Fehlen in der Schule. Dies geschah nach Aufforderung durch Minister von Altenstein, der nach Gründen suchte, um beim Polizeipräsidium Fabrikanten anzuzeigen, die es den Kindern unmöglich machten, die Sonntagsschule zu besuchen. Es stellte sich heraus, daß nicht nur im Kattundruck Fabrikanten die Kinder sonntags arbeiten ließen.

Heinrich Volkmann, Die Arbeiterfrage im preußischen Abgeordnetenhaus.

1848-1869, Berlin 1968, S. 52 f.

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Die Kinder arbeiteten in den Fabriken „10 bis 12 Stunden am Tag" und seien zu müde, um die Abendschule zu besuchen. Indem er so argumentierte, konzentrierte sich der Verein auf den Versuch, mindestens den Besuch der Sonntagsschule zu garantieren, indem er vom Polizeipräsidium ein Verfahren gegen diejenigen Fabrikanten einleiten ließ, die die Kinder von der Sonntagsschule abhielten. Das Provinzialschulkollegium wandte sich jedoch 1828 gegen den Unterricht in den Abendstunden und gegen die Sonntagsschulen. Wenn überhaupt eine provisorische Lösung zugelassen werden dürfe, sollten die Kinder mindenstens acht Stunden in der Woche Unterricht erhalten, und zwar in den Morgenstunden wie in den von der Armendirektion vorgeschlagenen Fabrikschulen. Die Armendirektion bot an, den Bedenken des Provinzialschulkollegiums gegen die Sonntagsschulen Rechnung zu tragen und die Sonntagsschule in eine Fabrikschule umzuwandeln: Unterricht sollte zweimal in der Woche von 6 bis 9 Uhr am Sonntag und von 7 bis 9 an einem Wochentag erteilt werden. Der Verein sträubte sich dagegen und betonte, daß nicht alle Kinder in Fabriken arbeiteten, ein Umstand, der den Besuch einer Fabrikschule wegen der unterschiedlichen freien Zeiten der Kinder unmöglich machen würde. Der Verein benutzte die verschiedenen Beschäftigungsverhältnisse der Kinder als Argument gegen einen Schulbesuch in der Woche, um die Duldung der Sonntagsschule als Minimallösung in eine Anerkennung durch die Stadt und die Provinzialschulbehörde umzuwandeln. Tatsächlich arbeiteten in der erste Klasse der Knabensonntagsschule nur neun Kinder in Kattunfabriken, die anderen zwanzig waren bei Tuchmachern, Trommelmachern, Tuchscherern, Seidenwirkern usw. beschäftigt; Mädchen mußten kleinere Geschwister beaufsichtigen, während die Eltern arbeiten gingen. Gerade wegen dieser konkreten Schwierigkeiten, die die Kinder vom Schulbesuch in der Woche abhielten, nahm die Zahl der Kinder, die die Sonntagsschule besuchten, immer mehr zu: 1829 waren es 200 Kinder, 1830 176 Knaben und 97 Mädchen und im Sommer 1830 180 Knaben und 106 Mädchen. „Diesen [Kindern] Unterricht, Erziehung und Ausbildung zu geben, ihr künftiges Wohl vorzubereiten und zu gründen, ist die besondere Aufgabe, welche der Verein sich gestellt hat" (Vierter und Fünfter Jahresbericht). Der Verein versuchte, sein Modell der Sonntagsschule gegen andere Formen von Nachhilfeschulen wie die Abendschule zu verteidigen und durchzusetzen. 1826 hatte der erste Stadtschulrat bei seinem

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Amtsantritt die Nachhilfeschule, die Abend- und Sonntagsschule, als „traurigen Notbehelf" vorgesehen. 1 7 Einige Parochial- und Privatschullehrer hatten „zur Erweiterung ihres Erwerbes" Abendschulen ins Leben gerufen. Aber solche privaten Einrichtungen waren nur schwer aufrechtzuerhalten, wie gerade ein Beispiel in der Luisenstadt zeigt. In der Köpenicker Straße hielt der Lehrer Horn eine Abendschule ab, „aber was für Unterricht, Heizung und Licht bezahlt werden muß, ist zu bedeutend, als daß es von den Armen, zumal im Winter, entrichtet werden könne". 1 8 Die Kattunfabrikanten widersetzten sich mit Entschlossenheit nicht nur dem Unterricht in den Morgenstunden, sondern boykottierten in der Tat auch die Abendschulen, indem sie die Kinder abends nicht früh genug aus der Arbeit entließen. Bei einem Treffen am 3. November 1828, bei dem Bürgermeister von Bärensprung, Stadtschulrat Reichhelm und Stadtrat Keibel mit den Kattunfabrikanten Reichel und Dannenberger zusammenkamen, verteidigten letztere energisch die Interessen der Fabrikanten. Die Kattundruckereien könnten nur bei Tageslicht arbeiten, deshalb könnten die Kinder nur in den Abendstunden nach dem Eintritt der Dunkelheit Unterricht erhalten. 1 ^ Die Fabrikanten setzten sich in der Praxis durch: Der Unterricht in den Morgenstunden wurde aufgegeben, die Fabrikkinder besuchten von 1829 an die Abendschule montags und sonnabends von 17 bis 20 Uhr, sonntags von 7 bis 9 Uhr beziehungsweise an allen sechs Wochentagen von 18 bis 20 Uhr - wenn sie sie besuchten. Die Sonntagsschule des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins stellte nun gerade eine Ausweichmöglichkeit auch hinsichtlich der jetzt bestehenden Minimalschulpflicht dar. Kein Wunder, daß sie sich in dieser von Kattunfabrikanten beherrschten Gegend bald durchsetzte. Der LWV bemühte sich, durch seine eigene, als vorbildlich gepriesene Sonntagsschule die „Vorurtheile" gegen diese Art von Nachhilfeschule zu überwinden. In einem Zeitungsbericht von 1833 führt der anonyme Verfasser das luisenstädtische Beispiel als Modell an, das allgemein eingeführt werden könnte, und fragt sich aufgrund der 1 7 Gerhard Krienke, Der schulische Aspekt der Kinderarbeit in Berlin 1825-1848, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, 18. Folge (1969), S. 101. 18 A. a. O., S. 102. 19 A. a. O., S. 110.

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Erfolge der LWV-Sonntagsschule, ob die Verwandlung aller „Abendschulen in Sonntagsschulen zweckmäßig wäre". Er nennt als Gründe für den Erfolg der Vereinsschule: „Der Verein vermeidet jede Weitläufigkeit und Beschwerlichkeit bei der Aufnahme in die Schule..., es reicht die Bescheinigung der Armenkommission, daß das Kind arbeitet; die Kinder nehmen Schulbücher und Hefte mit nach Hause, um damit die Woche lang sich zu beschäftigen; Lehrer bekommen nicht 3 Sgr. die Stunde, sondern 7 u. 1/2 Sgr./Stunde."20 Der Verfasser schlägt die allgemeine Einführung von Sonntagsschulen für alle Kinder vor, auch für die, die bis zum zehnten Lebensjahr zur Schule gingen, damit „die Kinder bis zur Confirmation nicht alles vergessen". Das setze aber voraus, daß „alle Arbeit am Sonntag verboten werden müßte ... Jetzt stehen die sogenannten Streichkinder unter der Willkür der Drucker, denn sobald der Drucker, z.B. vor der Frankfurter Messe, des Sonntags zu arbeiten hat, so muß das Streichkind dasselbe tun, und die Schule ist dann Nebensache." 21 Obwohl die Sonntagsschule eine bequeme Kompromißlösung für die Fabrikanten darstellte, herrschte im LWV doch keine einheitliche Meinung, vielmehr waren verschiedene Auffassungen anzutreffen. Heinrich Runge zum Beispiel, der seit 1843 im Verein mitarbeitete, vertrat 1844 in einer Zeitungsartikelserie, die uns noch näher beschäftigen wird, die These von der Notwendigkeit wirtschaftlicher Maßnahmen, um den Schulbesuch allgemein durchzusetzen, und nicht nur in der Form einer Minimallösung wie der Sonntagsschule. Am 1. Oktober 1830 wurde die neue Communal-Armenschule des siebenten Stadtschulbezirks, Schäfergasse 21, eröffnet und mit ihr verbunden zugleich eine Abendnachhilfeschule. Die Sonntagsschüler des LWV wurden von den Stadtschulbehörden aufgefordert, möglichst die Abendschule zu besuchen. Für viele, wie die Mehrzahl der Mädchen, war das nicht möglich, da sie bis spät (bis 7 Uhr abends) beschäftigt waren. Insgesamt gingen 99 Kinder in die Abendschule, bei der Vereinsschule blieben 118 Knaben und 69 Mädchen, aufgeteilt in drei beziehungsweise zwei Klassen, die Mädchen in der Schule von Schulvorsteher Schmidt, Neue Kommandantenstraße 21, die Knaben bei Hartmann, Neue Jakobstraße 10. 20

LAB (STA), Einiges über Nachhülfe- und Sonntagsschule in und für Berlin, in: Preußische Volks-Schulzeitung, Berlin, Nr. 14 vom 6. 4. 1833, enthalten in: Rep. 02/ 01, Bd. 169, Bl. 119, Stadtarchiv Berlin. 21 Ebda.

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Bei dieser langwierigen Kraftprobe vermittelte die Stadtbehörde zwischen den Provinzialschulbehörden einerseits und den Fabrikanten sowie dem Verein andererseits. Sie versuchte, die Sonntagsschule als Ausnahme zu behandeln und durch die Armenkommissionen zu kontrollieren, ob die Kinder nicht doch in Tages- beziehungsweise Abendschulen unterrichtet werden könnten. Für die Waisenkinder, die die Stadt am besten beaufsichtigen konnte, erließ die Armendirektion schon 1835 genaue Vorschriften, die den Besuch der Sonntagsschule verboten: „Kost- und Pflegekinder sollen in der Regel nur die Tagesschule besuchen. Es darf einer Nachhülfeschule nur überwiesen werden, wenn das Kind schon weit genug in Kenntnissen vorgeschritten ist, um ohne Nachteil den Unterricht in der Tagesschule entbehren zu können, was der Geistliche der Parochie bescheinigt." 22 Auf keinen Fall, betonte die Armendirektion, sollte eine Nachhilfeschule nur deswegen gewählt werden, weil das Kind arbeiten müsse. Eine Magistratsverfügung von 1835 stellte zudem fest, daß Kinder, die noch keine Kenntnisse hätten, keine Nachhilfeschule besuchen dürften - eine Bestimmung, die allerdings „schwer zu halten" war, wie in einem Brief des Vorstands der CommunalArmenschule des VII. Bezirks 1836 bemerkt wurde. 23 Derartige Mahnungen blieben wahrscheinlich ohnehin ohne großen Erfolg, wie die Tatsache vermuten läßt, daß sie in den Monatsblättern der Armendirektion oftmals erneut abgedruckt wurden.

Die Kleinkinderbewabranstalt des Luisenstädtischen Wohüättgkeitsvereins und die Kleinkinderbewahranstalt-Bewegung Seit der Mitte der dreißiger Jahre findet man in den Jahresberichten des Vereins eine zunehmend eindringliche Betonung der Rolle der Religion im Unterrichtswesen. Religion und Glaubensinhalte zu vermitteln, sei „das wichtigste und nötigste, mehr als weltliche Kenntnisse", um sich später einzurichten „in den untersten Stufen der bürgerlichen Gesellschaft" (Sechster Jahresbericht). 1833 erwarb der Verein bei der Bibelgesellschaft hundert Bibeln für 30 Rthl., um sie für 9 Sgr. je Exemplar an arme Familien zu verkaufen. Der Verein 2 2 LAB (STA), Monatsblatt, Nr. 4 (1835), Rep. 02/01, Bd. 169, S. 130, Stadtarchiv Berlin. 23 A. a. 0.,S. 150.

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hielt es für didaktisch geschickter, daß die Empfänger einen gewissen Betrag zahlen mußten, statt die Bibeln geschenkt zu erhalten. „Möchte sie nur fleißig und recht gebraucht, und bald unter uns dazu gethan werden, daß zweckmäßige Besuchs-Vereine die Armenpflege zu verbessern mitwirken. Wie viel wird durch sie in England und Nordamerika geleistet!" Schon in der Argumentation der Jahresberichte des Vereins kündigte sich eine stärker religiös-pietistische Richtung an. Seit 1830 arbeitete der zweite Pfarrer der Luisenstadtkirche J. F. Bachmann im Vereinskuratorium. Er neigte im Laufe der Jahre immer bewußter zur Orthodoxie, bis er mit der zum Liberalismus tendierenden Mehrheit seiner Parochie nicht mehr zusammenarbeiten konnte oder wollte und die Gründung einer neuen Parochie vorantrieb (siehe unten VIERTES KAPITEL). In den gerade zitierten Zeilen des Jahresberichts von 1833 ist schon von einer Reorganisation der Armenpflege durch fromme Besuchsvereine nach englischem Vorbild die Rede, ein Thema, das erst einige Jahre später zum Schwerpunkt der Diskussion zwischen Orthodoxen und Liberalen werden sollte und das zehn Jahre später für die Organisation der neuen Parochie Bachmanns maßgebend wurde. Bei den zum kirchlichen Liberalismus tendierenden Mitgliedern des LWV stieß Bachmanns Entwicklung auf völliges Unverständnis. Aus den handgeschriebenen Tagebüchern Kochhanns - sie sind verloren gegangen, wurden aber noch von Paul Kampffmeyer benutzt, dessen Zitate ausreichend belegen, daß die gedruckte Fassung durch den Herausgeber, Kochhanns Sohn, ausgiebig zensiert worden ist - geht das unmißverständlich hervor: „Viele Jahre hindurch", zitiert Kampffmeyer Kochhann, „war Bachmann Vorsitzender des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins gewesen; ich habe als Schriftführer ihm zur Seite gestanden, konnte aber auf seinen Wegen ihm nicht folgen. Seine Ziele, eine wortgläubige lutherische Gemeinde in Berlin herzustellen, haben sich erfüllt, nicht zum Segen der Einwohner." Kochhann wirft Bachmann auch vor, seine neue Parochie nur aus Opportunismus gegenüber Friedrich Wilhelm IV. errichtet zu haben: „Er hat sich dadurch als charakterlos gekennzeichnet und bei allen der Union treuen Männern den Glauben erweckt, daß nicht Ueberzeugung, sondern nur Eitelkeit und Augendienerei ihn geleitet haben. Ich theile diese Ansicht, da ich aus meiner Stellung im Luisenstädtischen Wohltätigkeitsverein weiß, daß er seine Frau, eine

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Tochter des Kriegsrats Lieder, körperlich mißhandelte, als diese wegen Veränderung seiner Gesinnung ihm Vorstellung machte." 24 Martin Mathias Kampffmeyer und dessen Söhne wie auch Kochhann neigten stark zu einem religiösen und politischen Liberalismus. Ihr intolerantes Unverständnis in bezug auf die entgegengesetzten Neigungen Bachmanns zeigt die Tendenz, ihre eigene Gesinnung als die immer noch allgemeingültige anzusehen, als jenes Allgemeine, das sie, noch ganz im Banne der Ideologie des Gemeinsinns, ohne weiteres zu vertreten sicher sind. Sie waren sich der in Gang befindlichen politischen Polarisierung noch nicht bewußt. Auch bei der Gründung einer Kleinkinderbewahranstalt (im folgenden KKBA genannt) des Vereins scheint es zu Zerwürfnissen zwischen den zwei sich herausbildenden Lagern gekommen zu sein. 1834 gründete der Verein diese Anstalt für Kinder von zwei Jahren an, um sie vor der Verwahrlosung durch „biblische christliche" Behandlungsweise zu retten (Siebenter Jahresbericht von 1833, S. 7). Sie wurde in der Köpenicker Straße 115, einem Zentrum sozialer Not, gegründet - eine dringend benötigte Einrichtung, „in welche bis zum Schlüsse des Jahres 1836 174 Kinder aufgenommen und vor geistlicher und leiblicher Verwahrlosung geschützt worden sind". 25 Bald kündigten sich aber Bedenken innerhalb des Vereins an: Die orthodox-pietistischen Mitglieder fragten sich, „ob man nicht dadurch viele Eltern von ihrer heiligen Pflicht entbinde ... von ihrer Pflicht, ihre Kinder selbst zu erziehen, ob man nicht dadurch viele Eltern in ihrer Gewissenslosigkeit bestärcke und schon lockere Bande des Familienlebens noch loser mache?" Um das zu verhindern, ließ der Verein „große Sorgfalt" bei der Aufnahme walten: Es wurden nur Kinder von Eltern aufgenommen, die wirklich verhindert waren, ihre Kinder selber zu beaufsichtigen, was von der zuständigen Armenkommission bescheinigt werden mußte. In besonderen Fällen wurden gegen Entgelt auch Kinder „nicht ganz armer Eltern" aufgenommen (Neunter Jahresbericht von 1838). Vorbilder solcher Kleinkinderbewahranstalten gab es in Kopenhagen (wo bereits 1798 eine Kinderbewahranstalt bestand) und LonP. Kampffmeyer, Blutsverwandte deutsche Familien..., S. 86. In den gedruckten Tagebüchern Kochhanns finden sich diese Stellen nicht 2 5 J. F. Bachmann, Die Luisenstadt..., S. 174. Nach dem Jahresbericht waren es 177 Kinder. 24

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don. 1830 gründete eine Armenkommission der Altstadt die erste Berliner Kleinkinderbewahranstalt. Bald wurden ähnliche Anstalten von Privatvereinen gegründet, 1844 waren es, über die ganze Stadt verteilt, 26 Anstalten unter sieben Vorständen und 1845 schon 29 Anstalten. Verheiratete und unverheiratete Frauen, Ehefrauen und Töchter von Honoratioren, saßen in den Vorständen und übten eine spezielle Aufsicht über die Anstalten aus, die jeden Tag wenigstens von einem Mitglied beaufsichtigt werden mußten 27 Vom 1. Oktober 1838 an wurde die Kleinkinderbewahranstalt des LWV an den Berliner Verein zur Beförderung der KKBA abgegeben. Dieser war 1831 von einer Bürgerin der Luisenstadt, Wilhelmine Gemberg, gegründet worden und betrieb damals neun der 22 Berliner Anstalten. Bei der Übergabe gingen Kasse und zahlende Mitglieder an den spezialisierten Verein über, der Kosten und Verwaltung Zu Geschichte und gesellschaftlicher Funktion der „Kindergärten" vgl. Wilma Grossmann, Kindergarten. Eine historisch-systematische Einführung in seine Entwicklung und Pädagogik, Weinheim-Basel 1987; Günter Erning/Karl Neumann/Jürgen Reyer (Hrsg.), Geschichte des Kindergartens, 2 Bde., Freiburg i. Br. 1987. Ein Bild vom Alltag eines von der privaten Wohltätigkeit getragenen Kinderhorts in diesen Jahren gibt folgende Erinnerung Lily Brauns an die von ihrer Großmutter organisierte Kinderbewahranstalt: „Sie (die Großmutter) hatte einen Kinderhort ins Leben gerufen, wo die noch nicht schulpflichtigen Kleinen unter Aufsicht einer alten Frau aus dem Dorf spielten und in die ersten Begriffe der Reinlichkeit eingeweiht wurden. Großmama brachte täglich ein Paar Stunden unter ihnen zu und saß, wie eine Erscheinung aus andrer Welt in ihrem schwarzen Samtkleid auf erhöhtem Sitz, mit den feinen Fingern Papierpuppen ausschneidend, während sie den Flachsköpfen, die sie dicht umdrängten, Märchen erzählte ... Was sie mit freundlichem Gleichmut tat, das kostete mir viel Selbstüberwindung. Diese Kinder straften die beruhigend-sentimentale Auffassung von der blühenden ländlichen Jugend Lügen. Nur wenige waren rund und pausbäckig und körperlich fehlerlos. Die meisten wackelten mühsam und auf krummen Beinchen daher, an Ausschlägen an Kopf und Körper, an triefenden Augen litten viele, selbst Krüppel fehlten nicht, und mit Schmutz und Ungeziefer waren fast alle behaftet. Manche unter ihnen stierten mit verblödeten Blicken ins Leere ... Andere, laute und lärmende, führten Worte im Mund, deren Sinn, den ich erst allmälich erriet, mir die Schamröte in die Wangen trieb. Ob es ihnen wirklich etwas nutzen konnte, daß sie hier während ein Paar Kinderjahren vom inneren und äußeren Schmutz ein wenig gereinigt wurden?! dachte ich bei mir ... Und wenn wir nichts weiter erreichen, als ihnen ein paar fröhliche Stunden schaffen und für ihr ganzes späteres Leben die wohlige Erinnerung an etwas Sonnenschein, so ist das genug, sagte Großmama", zit. nach W. Grossmann, Kindergarten..., S. 20-21. 27 Ober die KJeinkinderbewahranstalten in Berlin, in: Allgemeine Schulzeitung, (1847), Sp. 350-352, Neudruck in: Quellen zur Geschichte der Vorschulerziehung, eingeh von Margot Krecker, Berlin 1971, S. 125-126.

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der KKBA mit der Zusage übernahm, daß die Anstalt weiter in der Luisenstadtgemeinde bleiben werde. Die Gründe für diese Übergabe, so liest man im Zehnten Jahresbericht, waren Geldmangel und der Wunsch, „den übrigen Kleinkinderbewahranstalten Berlins ein Beispiel zu geben": Alle diese Anstalten sollten unter einer gemeinsamen Leitung stehen. Der Vorschlag kam von einem Mitglied des Gemberg'schen Vereins, der noch 1840 alle sieben Vereine, die KKBA unterhielten, zusammenlegen wollte. 28 Das Vorhaben wurde mehrmals erörtert, aber nie verwirklicht, 29 obwohl schon 1838 ein gemeinsamer Centraifonds mit Korporationsrechten zum Erwerb von Grundstücken gegründet worden war. Dieser Fonds wurde von zwei Mitgliedern der Armendirektion, der Schuldeputation, der Stadtverordnetenversammlung und jeweils von einem Deputierten aus jedem Vorstand der KKBA verwaltet. In der Tat aber scheint es so, als hätten bei dem Beschluß des LWV, die Bewahranstalt an den Gemberg'schen Verein abzugeben, in der Diskussion über Sinn und Aufbau der Bewahranstalt auch die internen Differenzen eine Rolle gespielt. Für diese Vermutung spricht, daß sich Martin M. Kampffmeyer 1837 vom Amt des Aufsehers der KKBA zurückzog. An seine Stelle trat Kaufmann Klug, später engagiertes Mitglied der Bachmannschen „positiven" Jakobi-Parochie, der sich also wahrscheinlich der sich in diesen Jahren vollziehenden Wende Bachmanns angeschlossen hatte. Die Orthodoxen waren zufrieden, die KKBA in der Obhut des Vereins von Frau Gemberg, einer „erweckten Christin", 30 gut aufgehoben zu sehen. Dieser Umstand erlaubt es, die beginnende Fraktionierung im LWV noch weiter zu verfolgen. Frau Gemberg hatte 1829 einen Frauen-Verein gegründet, „um die Armen in der Hütte des Elends aufzusuchen, ihnen Gottes Wort und äußere Hilfe zu bringen". 31 Sie Hundert Jahre evangelische Kinderpflege in Berlin, 1830-1930, Berlin 1930, S. 17. Neben den Anstalten des Gemberg'schen Vereins zur Beförderung der KKBA existierten seit 1834 Anstalten des pietistischen Pfarrers Goßner und einige andere unabhängige Institute. Alle diese Anstalten werden trotz ihrer verschiedenartigen Organisation in den Verwaltungsberichten der Stadt Berlin in einer durchgehenden Numerierung aufgeführt, die ihnen 1839 durch die städtische Schuldeputation ohne Rücksicht auf die Zeit ihrer Gründung gegeben wurde. Erst von da an respektierte die Zählung dann das Datum der Gründung. 30 Hundert Jahre evangelische Kinderpflege..., S. 14. 31 75Jahre Kleinkinderbewahranstalten, Berlin 1906, S. 6. 28

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war dabei stark beeinflußt von einem Buch des Engländers Samuel Wilderspin, des Vorstehers der Zentral-Kinderschule von Spitalfields in London, mit dem Titel On the importance of educating the infant poor from the age of 18 months to 7 years, das 1826 ins Deutsche übersetzt worden war. Dieses Buch hatte ihr der Geheime Oberfinanzrat Semler, Mitglied des LWV, gegeben. Da auch ihr Mann, Kaufmann Gemberg, Mitglied war, zeichnet sich hier eine Gruppe von Personen ab, die die gleichen Vorstellungen hatten. Wilhelmine Gemberg eröffnete daraufhin im Mai 1831 eine KKBA in ihrem Haus Stallschreibergasse 30. Eine Verlosung, wobei über 3000 Lose zu einem Groschen abgesetzt wurden, erbrachte die nötigen Mittel für den Beginn. Frau Gemberg sagte darüber: „Ich besuchte die ärmsten der mir bekannten Familien in unserer Nachbarschaft, schrieb 36 Kinder unter 7 Jahren mit Vor- und Zuname auf, gab den Müttern Leinwand zu Hemden, Gingham zu Kitteln, Wollen-Garn zu Strümpfen für die Kinder, kaufte für jedes ein Paar Pantinen. Am bestimmten Tag kamen die 36 Kinder in Reihen die Straßen entlang und sagten zu den Kindern, die sie auf der Straße fanden: ,Bei Gembergs ist Schule, kommt mit!' So kam es, daß nicht 36 sondern 75 Kinder am ersten Tage zur Schule kamen ... Am dritten Tage waren schon 104 Kinder in der Anstalt."32 1834 übernahm die Kronprinzessin Elisabeth von Preußen das Protektorat über den Verein, das sie auch als Königin ihr Leben lang mit persönlichem Engagement weiterführte. Erster Vorsitzender des Vereins war von 1834 bis 1837 Major von Gerlach, einer der Brüder Gerlach, die dem Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV. aufgrund der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Erwekkungsbewegung nahestanden.33

Spätere Tätigkeit Durch den Personenwechsel in den Armenkommissionen der Luisenstadt ergab sich nach und nach auch ein gewisser Personenaustausch im LWV. Die Kampffmeyer, Bachmann, Kochhann, Semler blieEbda. Weitere Vorsit2ende mit politisch eindeutiger Zugehörigkeit waren 1857-1861 Konsistorialrat Johann Friedrich Bachmann und Mitte der siebziger Jahre Hofprediger Adolf Stoecker, der Gründer der christlich-sozialen Partei. 32

Spätere

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ben durchweg im Verein aktiv. Einige neue Mitglieder kamen noch hinzu. So trat 1837 der Kattunfabrikant Christian Friedrich Wilhelm Pardow in den Verein ein, dessen Fabrik 1843 nach einem fehlgeschlagenen Versuch der Mechanisierung von den Brüdern Goldschmidt erworben wurde. Anfang der vierziger Jahre traten Persönlichkeiten in den Verein ein, deren politische Einstellung deuüich festzustellen ist: 1843 Heinrich Runge, der im gleichen Jahr mit anderen zusammen eine Protestaktion gegen den Hochverratsprozeß Jacobys organisierte; als Kassenrevisor der jüdische Rentier Benda, später liberaler Stadtrat; als Aufseher Baron von Seid, eifriger Pietist und Gründer eines monarchisch-pietistischen Handwerkervereins, Befüiworter der Gründung der Jakobiparochie. 1850 trat der Ofenfabrikant Blaumann in den Vorstand ein, der gleichzeitig im Kirchgemeindevorstand der Jakobikirche saß, also eindeutig auf der Seite Bachmanns stand. Seit Mitte der dreißiger Jahre beschäftigte sich der LWV zunehmend mit der Beaufsichtigung der Waisenkost- und Pflegekinder durch Frauen, die in Verbindung mit den Armenvätern der Armenkommissionen arbeiteten (Zehnter Jahresbericht von 1839, S. 8). Auch auf diesem Feld zeigt sich die Luisenstadt als Pionier. Über die ehrenamtliche Arbeit von Frauen in den Armenkommissionen äußerte sich die Armendirektion noch 1833, wie schon angedeutet, sehr vorsichtig - diese Arbeit sei notwendig, aber sie solle unter Ausschluß der Öffentlichkeit erfolgen.34 Möglicherweise zeigte sich darin ein pietistischer Einfluß, auch wenn das Angebot von zweifelsfrei liberalen Ehefrauen wie Frau Goldschmidt oder Frau Hedemann angenommen wurde. Die Rolle von religiösen Frauenvereinen in den dreißiger Jahren des 19- Jahrhunderts als „Ort, an dem sich Frauen auf dem Weg zur Selbstverwirklichung gesellschaftlicher Anerkennung und der Unterstützung einflußreicher Männer erfreuen" und dabei auf „Legitimation, Geld und politisches Wohlwollen" seitens ihrer Männer zurückgreifen konnten, wurde neuerdings untersucht.35 In Berlin gründete Goßner, der Carl Kampffmeyer sehr nahestand, 1834 einen „Frauen-KrankenVerein" (in dem auch Hegels Witwe Mitglied war) - ein Beweis dafür, daß im Vergleich zu der etwas zögernden Haltung der Armen34

Monatsblatt, H. 4 (1833). Hugh McLeod, Weibliche Frömmigkeit, männlicher Unglaube? Religion und Kirchen im bürgerlichen 19. Jahrhundert, in: Ute Frevert (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger, Göttingen 1988, S. 134 f. Zitate S. 144 u. 145-

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direktion gegenüber der Mitarbeit von Frauen in Armenkommissionen die christlich-erweckten Organisationen mehr Bereitschaft zu einer aktiven Tätigkeit der Frauen zeigten als bürgerliche. In den folgenden Jahresberichten des LWV sind stets die „Waisenmütter" eingetragen. Sie sollten je vier bis fünf Kinder beaufsichtigen und wurden auf die einzelnen Annenkommissionen je nach Anzahl der dortigen Pflegekinder verteilt. So findet man 1841 eine Frau Steuerrath Hedemann, Lindenstraße 52, sehr wahrscheinlich verwandt (Schwiegertochter?) mit dem Stadtsyndikus Heinrich Hedemann, bei dem sie wohnte, und dessen Frau (eine geborene Jordan, über deren Schwiegersohn mit de Cuvry verwandt) als Waisenmütter eingetragen, eine Madame Seiffert, Lindenstraße 44, Frau eines Lederhändlers und Armenkommissionsvorstehers, die Frau des Predigers Bachmann, die Ehefrau des Fabrikanten und Armenkommissionsmitglieds und späteren Stadtverordneten Ebel, die Frau des Armenkommissionsvorstehers und LWV-Mitglieds Geh. Secr. Wollanke, weiter Madame Goldschmidt, die Frau Eduard Goldschmidts, des Kattunindustriellen, Armenkommissionsvorstehers, Mitglieds der LWV und späteren Mitbegründers des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen. Jede Waisenmutter hatte ein Aufsichtsbuch pro Pflegekind zu führen und trug auch in ein Büchlein, das bei der Familie blieb, den Tag ihres Besuchs und ihre Befunde ein; dieses Büchlein sollte demjenigen, der das Pflegegeld allmonatlich auszahlte, von den Pflegeeltern gezeigt werden. Damit ergab sich ein Verfahren, das die Arbeit der Stadtverwaltung und des Vereins eng miteinander verband. Im 16. Jahresbericht äußerte der Verein den Wunsch, daß sich in ganz Berlin Frauen zur Beaufsichtigung der Pflegekinder zur Verfügung stellen möchten. Im Jahresbericht für das Jahr 1842 konnte der Verein feststellen, daß es dank der Recherchen in bezug auf das Fehlen im Unterricht in der Sonntagsschule nur wenige Kinder gab, die die Vereinsschule nicht regelmäßig besuchten. Ermutigt durch diese Erfahrung, erklärte sich der Verein bereit, die Aufsicht über alle schulpflichtigen Kinder der Luisenstadt zu übernehmen. Um das zu erreichen, teilte er die Luisenstadt in acht Schulbezirke mit ebensovielen Schulkommissionen auf, deren Mitglieder die Aufsicht über die Kinder ihres Bezirks führten. Das war also eine einfache Übertragung des nach dem Hamburger System entworfenen Modells der Armenkommissionen auf die neue Aufgabe. Die Schulkommissionen standen unter der Leitung des LWV, und jeder Schulkommissionsvorsteher führte ein

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Hauptbuch über sämtliche schulpflichtigen Kinder seines Bezirks. Seele dieser Initiative war der Lederfabrikant Martin Mathias Kampffmeyer. Die LWV bemühte sich dabei, geeignete Persönlichkeiten als Schulkommissionsvorsteher zu finden: Unter anderem engagierte sich im Verein in dieser Rolle 1843 Heinrich Runge, dessen Schwester ein Jahr darauf den ebenfalls im Verein tätigen ältesten Sohn von Martin M. Kampffmeyer, Wilhelm, heiratete. Man sieht hier deutlich die Liberalen am Werke - so deuüich, daß dabei zugleich auch klar wird, warum die politisch-religiösen Differenzen, obwohl sie immer unübersehbarer wurden, die Existenz des Vereins nicht gefährdeten: Neben dem gemeinsamen kirchlichen Grundverständnis gab es eine einfache Arbeitsteilung - die „Positiven" kümmerten sich um Waisenkinder und Frauenvereine, die Liberalen organisierten die Schulkommissionen und saßen auch in ihnen. Durch die Nachforschungen der Schulkommissionen wurden viele Kinder gefunden, die noch nie eine Schule besucht hatten. Die Eltern wurden ermahnt, die Kinder mindestens in die Sonntagsschule (jetzt in den Räumen der 7. Communal-Armen-Schule in der Kommandantenstraße) zu schicken. Im Jahresbericht für das Jahr 1843 schrieb der Verein, daß bei Besuchen und der Überwachung von Schulversäumnissen 2401 Fälle geklärt worden seien. „Die Eltern wissen sich überwacht", sie hätten das Bewußtsein, „die achtbarsten Männer bekümmern sich in freier christlicher Liebestätigkeit" um das Wohl ihrer Kinder, und so würden die Nachlässigen an ihre heilige Pflicht erinnert. Die Kommissionsmitglieder erschienen „persönlich", „mit christlichem Liebeswort helfend". Infolge der Anerkennung und des Erfolgs, den diese Initiative fand, wurde mit der Kontrolle des Schulbesuchs in einigen Parochien anderer Stadtviertel begonnen. Die Städtische Schuldeputation übernahm die Einrichtung 1846 und erweiterte sie auf ganz Berlin. Die acht Schulkommissionen des LWV wurden zu städtischen Schulkommissionen.

Kinderarbeit und Schulbesuch Handelte es sich anfangs für den LWV hauptsächlich darum, eine Sonntagsschule zu organisieren, so vergrößerte sich die Aufgabe bis hin zur Kontrolle des Fehlens aller Kinder in der Schule, nicht nur der Fabrikkinder, durch die Schulkommissionen. Der Verein setzte sich dabei die Verallgemeinerung der Erziehung zum Ziel, die einen

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II. Der Luisenstädtische Wohltätigkeitsverein

strukturellen Modernisierungsfaktor darstellte. Durch die allgemeine Erziehung sollte sich die Gesellschaft verändern, und die Armut sollte nach und nach verschwinden. Dahinter stand der ausgesprochen liberale Grundsatz, in der Gesellschaft die Vorteile durch Geburt abzuschaffen und dem Prinzip der individuellen Leistung den Vorrang zu geben. Neben dem liberalen Ansatz erkennt man aber im Vorgehen des Vereins auch einen pietistisch-orthodoxen Stil, der immer noch an der durch die Geburt zugewiesenen Stellung in der Gesellschaft festhält, in der in den Jahresberichten zunehmende Betonung der Religion im Unterricht - durch die Religion sollten die Mitglieder der niederen Stände ihr ihnen durch Geburt zugewiesenes Schicksal akzeptieren lernen - , in den Verbindungen zur Bibelgesellschaft, aber auch in der Frauentätigkeit beim Besuch der Pflegekinder nach dem englischen Vorbild der christlichen Armen-Besuchs-Vereine. In den Schulkommissionen des LWV sind die zwei gegensätzlichen Richtungen beide vertreten, dem Sinn nach sind diese Einrichtungen liberal, dem Verfahren nach - Hausbesuche von christlich gesinnten Menschen - sind sie pietistisch. Wie offen noch in den vierziger Jahren die Frage der Armenschule überhaupt war, zeigt eine Abhandlung des Predigers des Arbeitshauses, Andree, über Zucht und Unterweisung der unteren Volksklassen, in der er die Frage behandelt, ob der Unterricht in der Armenschule nicht schädlich sei, weil „Halbwissen" schlimmer als Unwissen sein könne, was er, für die Armenschule eintretend, bestritt.36 In den vierziger Jahren wurde die Kontrolle der Gemeinde in bezug auf die Kinderarbeit strenger: Eine Zirkular-Verfügung der Armendirektion vom Juni 1840 besagte, daß Fabrikbesitzer keine Kinder annehmen dürften, die keine Bescheinigung des jeweiligen Schulvorstandes über ihre Schulbildung beibringen konnten, eine andere, fast gleichzeitig ergangene Verfügung erschwerte die Bedingungen der Zulassung zur Nachhilfeschule. 1846 erfolgte andererseits die Reorganisation der 37 Parochial- und Privatschulen, in denen Kinder auf Rechnung der Gemeinde Unterricht erhielten. Die städtische Schuldeputation Schloß jetzt schriftliche Verträge mit den Lehrern ab und kontrollierte diese Schulen in einem Maße, daß man in der Tat von einer Übernahme durch die Kommune sprechen

36

Monatsblatt,

Nr. 7 (1841), S. 1 1 4 - 1 1 8 .

Kinderarbeit

und

Schulbesuch

75

kann. Im gleichen Jahr verfügte die Armendirektion, Nachhilfeunterricht sei nur dann zulässig, wenn durch eine Armenkommission festgestellt werde, daß die Familie die Arbeit des Kindes für ihren Unterhalt benötige. In den Armenkommissionen saßen allerdings Persönlichkeiten wie die Mitglieder des LWV, die die Sonntagsschule befürworteten und größtes Verständnis für die Notwendigkeit der Kinderarbeit zeigten. Die kommunalen Mahnungen wurden erst 1852 durch gezielte wirtschaftliche Eingriffe verstärkt: Die Armendirektion untersagte die Zahlung des Pflegegeldes an Kinder, die die Sonntagsschule besuchten, „da sie als Fabrikkinder zum Unterhalt ihrer Angehörigen beitragen, daher die letzteren für sie auf keine Unterstützung Anspruch machen können". 37 Als Ende der vierziger Jahre die Produktionsumwälzungen in den Fabriken ohnehin das Problem der Kinderarbeit in den Hintergrund treten ließen, 38 konnte auch die Schuldeputation den Besuch der Sonntagsschulen erschweren. 1851 regelte die städtische Schuldeputation das Verfahren zur Einschulung der Kinder in die Sonntagsschule neu. Die Eltern mußten sich von der Armenkommission bescheinigen lassen, daß sie wirklich so arm waren, die Arbeit des Kindes für ihren Unterhalt zu benötigen, und zusätzlich noch durch den Schulvorsteher beziehungsweise Hauptlehrer ein Attest über den bisherigen Schulbesuch des Kindes ausstellen lassen. Falls diese das Attest verweigern sollten, weil das Kind nicht die nötigen Kenntnisse hatte, gab es noch die Möglichkeit, dieses durch einen Prediger prüfen zu lassen. 39 Aber das Thema verlor mit der Zeit an Brisanz. Abgesehen vom Jahr 1854, als „wegen der anhaltenden Teuerung der Lebenskosten die Kinder erneut zum Miterwerb gezogen" wurden und man 230 Kinder weniger in den Kommunalschulen und 223 mehr in den Sonntagsschulen registrierte (insgesamt waren 9260 KinA. a. O., Nr. 5 (1852), S. 49, Nr. 8 (1840), S. 82 und Nr. 7 (1846), S. 78 f. Karl-Heinz Ludwig, Die Fabrikarbeit von Kindern im 19• Jahrhundert. Ein Problem der Technikgeschichte, in: Viertelsjahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 52 (1965), S. 63 f. Danach hatte schon damals der Industrielle Harkort den Zusammenhang Zwischen „verbesserter Maschinerie" und dem Ende der Kinderarbeit gesehen. 1852 sank die Zahl der Fabrikkinder in Preußen von 31 035 auf 21 945 als Folge der zunehmenden Einführung von Maschinen. Ein wesentlich schwierigeres Problem stellte nach wie vor die Kinderarbeit in der Hausindustrie dar, ein Phänomen, das auch rein quantitativ schwer zu fassen war. 39 Monatsblatt, Nr. 10 (1851). 37

38

76

II. Der Luisenstcidtiscbe

Wobltätigkeitsverein

der in Tagesschulen, 2046 in Sonntagsschulen und 9408 in Privatoder Parochialschulen untergebracht), verloren die Sonntagsschulen nach und nach an Bedeutung und Schülerzahl. 1856 erschien der letzte Jahresbericht des LWV. Zwei wichtige Vorstandsmitglieder und Säulen des Vereins waren 1855 gestorben: Dr. Soltmann, Mineralwasserfabrikant, seit 1850 Ordner des Vereins, und Carl Kampffmeyer. Am 16. Mai 1853 war auch das Gesetz gegen die Kinderarbeit in Kraft getreten, das jedem Kind unter zwölf Jahren die Arbeit in Fabriken untersagte. Von diesem Gesetz, liest man im Jahresbericht, erwarte der Verein die „besten Früchte". Die Zeiten hatten sich geändert: Ohnehin hat dieser Bericht den Ton einer Rechenschaft über die vergangenen Jahre: „Unser Verein hat sich in seinen 30 Jahren Wirksamkeit das große Verdienst erworben, auf der Bahn christlicher Wohltätigkeit mit mehreren Einrichtungen vorauszugehen, deren Trefflichkeit durch die allmählige Einführung derselben in die öffentliche Armen- und Schulverwaltung aufs klarste erhärtet wurde. Dazu zählen wir vor allem die Thätigkeit des Vereins in der Beaufsichtigung der in Familien untergebrachten Waisenkinder, in der Überwachung des Schulbesuchs der Armenschule-Kinder und in der Errichtung einer Sonntagsschule. Aus dieser Thätigkeit des Vereins sind nach und nach die so heilsamen Einrichtungen des Amtes der Waisenmutter und der Schulkommissionen hervorgegangen, welche sich jetzt über die ganze Stadt erstrecken. Sobald eine oder die andere Wirksamkeit des Vereins allgemeine Stadtsache geworden ist, gaben wir als Verein dieselbe auf und ordneten uns dem GesamtOrganismus unter. Seit mehreren Jahren haben nun auch in der ganzen Stadt die Sonntagsnachhülfeschulen Eingang gefunden, und es dürfte die Zeit gekommen sein, wo unser Verein auch von dieser Thätigkeit, in welcher er für Berlin ebenfalls die Bahn gebrochen hat, und welche in den letzten Jahren ausschließlich unsere Kraft in Anspruch genommen hat, zurücktreten muß, um seinem Prinzip, vorauszugehen mit neuen zweckmäßigen Einrichtungen, treu zu bleiben ... Bereits seit 8 Jahren bekommt die Sonntagsschule Zuschüsse aus Mitteln der Stadt ... und ist somit ζ. T. städtische Anstalt geworden: zu Michaelis d. J. geht die Schule an die Stadt über."40

40 Acta betr. den Louisenstädtischen Wobltätigkeitsverein, 1850-1856. Bericht über das 31. Jahr der Wirksamkeit des LWV zu Bertin, (1856), Pr. Br., Rep. 40, Spezialia 216, Ehemaliges Preußisches Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem.

Kinderarbeit und Schulbesuch

77

Auch in diesem Rechenschaftsbericht betont der Verein seine Überzeugung, daß die Sonntagsschule im Vergleich zur Abendschule ein „Fortschritt" sei. In 31 Jahren hatten 6898 Knaben und 5078 Mädchen die Sonntagsschule besucht, insgesamt 11 976 Kinder. In Zukunft wollte der Verein sich um blinde, epileptische und schwachsinnige Kinder kümmern. Dazu kam es aber nicht mehr. Nachdem 1856 die luisenstädtische Sonntagsschule von der Gemeindeverwaltung übernommen worden war und von da an 7. Communal-Sonntagsschule hieß, löste sich der LWV, der alle seine Ziele offiziell von der Stadtbürokratie übernommen sah, im April 1857 auf. Das besondere Verdienst des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins für die Berliner Schulgeschichte liegt in den Recherchen über den Schulbesuch der arbeitenden schulpflichtigen Kinder. Diese Recherchen, zunächst nur für die Schüler der Vereinssonntagsschule in der Luisenstadt durchgeführt, wurden bald ausgedehnt, zunächst durch den 1832 gegründeten Verein zur Beförderung des Schulbesuchs armer Kinder, in dessen Vorstand unter anderen der Geh. Oberfinanzrat Semler vertreten war. Dieser Verein wertete die Meldungen aller Armenkommissionen Berlins aus, um seine Untersuchungen durchzuführen, 41 und stellte eine Zwischenlösung auf dem Weg zur Bildung der Schulkommissionen in der ganzen Stadt dar: 1833 wurden auf diese Weise 2932 schulpflichtige, aber keinerlei Schule besuchende Kinder ermittelt und eingeschult, 1834 waren es 2400, ein Jahr später noch 1855. Wenn das Problem der Schulpflicht in den fünfziger Jahren so gut wie gelöst wurde, geschah das nicht so sehr durch die Gesetzgebung von 1853, als vielmehr auf Grund von innerwirtschaftlichen Konjunkturen, der Mechanisierung der Textilindustrie und der darauffolgenden Arbeitslosigkeit der Textilarbeiter. Das hieß in der Kattunindustrie, statt der kombinierten Arbeitskraft von Druckern und Kindern Frauen an Maschinen zu beschäftigen, und das entsprach dem kommenden Trend in den sozialen Einrichtungen: Statt der Zahl der Sonntagsschulen sollte sich von da an die der Kleinkinderbewahranstalten vermehren.

41

Monatsblatt, Nr. 6 (1833), S. 46.

DRITTES KAPITEL

1844 - Das Auftreten der Liberalen

Die Polarisierung der politischen Beziehungen In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts nahm eine neue Generation die ehrenamtliche Tätigkeit in den Armenkommissionen der Luisenstadt auf. Anders als die vorhergehende Generation blieben diese jungen Leute nicht ein Leben lang in solchen Ämtern, sondern ließen eine neue Differenzierung der Interessen und politischen Perspektiven erkennen. So wurden sie auch Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung nicht als neutrale Repräsentanten der gesamten Gesellschaft, sondern als „progressive" Kräfte. Parallel dazu gehörten sie den neuen liberalen Institutionen an und standen in religiöser Hinsicht den „Lichtfreunden", dem Gustav-Adolf-Verein und später dem Protestantenverein nahe. Waren Carl und Martin Mathias Kampffmeyer beispielhaft für das Engagement der lokalen Honoratioren der Luisenstadt in den zwanziger Jahren, werden im folgenden Personen wie der Bäckermeister Heinrich E. Kochhann, der Kattunfabrikant Eduard Goldschmidt und der Rentier Heinrich Runge als Beispiele dafür dienen, die Veränderungen im Selbstverständnis der lokalen Honoratioren auf dem Weg zur Übernahme bewußt politischer Positionen zu skizzieren. Seit der Mitte der vierziger Jahre versuchten diese ersten wirklichen Liberalen der Luisenstadt, auf der Ebene der Stadtverwaltung den Eingang in die Politik zu finden. Für die Herausbildung einer ausdrücklich liberalen Fraktion in der Stadtverwaltung bildet nicht das Jahr 1848 die Zäsur, sondern die Mitte des Jahrzehnts, genaugenommen das Jahr 1844. Allgemein war zu diesem Zeitpunkt die konservative Ausrichtung der Regierung Friedrich Wilhelms IV. nicht mehr zweifelhaft. Die Kritik am antisozialen Charakter des kapitalistischen Fabrikwesens

Die Polarisierung

der politischen

Beziehungen

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durch Persönlichkeiten aus der Umgebung des Königs, wie die Brüder Gerlach, weckte in dem sich nun auch auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet in seinen spezifischen Interessen klar herausbildenden Bürgertum die Befürchtung vor einer Annäherung der verarmten Handwerker und Arbeiter an die Konservativen - vor allem die Handwerker forderten in ihren ersten Zusammenkünften in der Tat eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor der Einführung der Gewerbefreiheit zu Beginn des Jahrhunderts. 1 Die Opposition orientierte sich zunächst an der Diskussion über religiöse Fragen: „Die Masse des Bürgertums stand ... auf dem Standpunkt des Rationalismus vulgaris. Als nun die Reaktionspolitik des polizeistaatlichen Absolutismus auf das kirchlich-religiöse Gebiet übergriff und es schien, daß die Regierung Friedrich Wilhelms IV. unter den Einfluß der pietistischen und orthodoxen Partei gerate..., da weckte das in der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung. Wenn man auch die Hoffnung auf baldige politische Reformen herabzustimmen gelernt hatte, so war man keineswegs gewillt, sich das nehmen zu lassen, was man bereits besaß: die Gewissensfreiheit, die religiöse Bekenntnisfreiheit, die Errungenschaften der Aufklärung. Eine jede Opposition, die gegen diesen Zwang sich auflehnte, mußte einen breiten Anhang finden."2 Es sollte eben „durch die Freiheit der religiösen Überzeugungen der Freiheit überhaupt eine Gasse gebahnt werden". 3 Die Liberalen wurden in der Kirche zur „Partei". In dauernder Auseinandersetzung mit den „Positiven" nahmen sie energisch Stellung für die Freiheit der Überzeugung, für die „Unsichtbarkeit" der „wahren Kirche" und relativierten damit die Bedeutung der Institutionen.4 Man kann sich heute schwer vorstellen, welchen Stellenwert die Religion damals für das bürgerlichen Leben hatte. Karl Friedrich v. Kloeden zum Beispiel, Direktor der von Kunth und v. Bärensprung gegründeten Gewerbeschule, berichtet in seinen Jugenderinnerungen, daß von seiner Mutter, die als Kind in einfachen Verhält1

Manfred Simon, Handwerk in Krise und Umbruch. Wirtschaftliche Forderungen und sozialpolitische Vorstellungen der Handwerkermeister im Revolutionsfahr 1848/ 49, Köln-Wien 1983. 2 Hans Rosenberg, Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus, in: Historische Zeitschrift, Bd. 141 (1929), S. 497 f. 3 A. a. O., S. 532. 4 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 423 f., insbes. S. 431 f.

III. 1844- Das Auftreten der Liberalen

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nissen in der Cöllnischen Vorstadt aufwuchs, Religionsunterricht als eine „Feierstunde" erlebt wurde, „in welcher ihr in ihrem freudlosen Leben ein besseres und edleres Sein aufging und sie über die Misere ihres täglichen Lebens sich selig erhoben fühlte". 5 Noch nach Jahren konnte sie die sonntags gehörten Predigten wörtlich wiedergeben. Die Predigten lieferten Stoff zu geistigen Betrachtungen und weiterem Nachdenken für die ganze Woche und machten den Besuch des Gottesdienstes zu einem „unschätzbaren, nicht hoch genug zu stellenden Bildungsmittel". 6 Das Beispiel des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins hat gezeigt, wie intensiv und wie lang andauernd die religiöse Gesinnung Allgemeingut war und wie sie die verschiedensten Persönlichkeiten im Namen lokaler christlicher Liebestätigkeit jenseits der sich allmählich abzeichnenden gegensätzlichen politischen Tendenzen zusammenhielt. Der Verein bestand sogar weiter, als man in kirchlichen Dingen - und zwar recht spät - keine gemeinsame Basis mehr fand. In der Luisenstadt nahm die Aufspaltung der Geister in zwei entgegengesetzte, unversöhnliche Lager, das liberale und das konservative, ihren Ausgang vor allem von einem direkten Eingreifen des Königs in die Gemeindeverhältnisse. Es handelte sich um die Errichtung des Diakonissenhauses Bethanien und die Bildung der neuen Gemeinde St. Jakobi. (Davon wird im nächsten Kapitel im einzelnen zu reden sein.) Der bis dahin relativ homogene Komplex der für das Wohl der Allgemeinheit sozial engagierten Bürger begann sich aufzulösen, und die beiden Fraktionen nahmen Parteicharakter an, die Verwaltung der Stadt vor Ort wurde zur politischen Betätigung.

Kochhann und die „Lichtfreunde" Aus der sich anfangs als homogene Gesellschaftsgruppe fühlenden Bürgerschaft entwickelten sich im Laufe der dreißiger und vierziger Jahre nach und nach neue Schichten. Wie Kaelble unterstreicht, vertraten großbürgerliche und mitdere Industrielle inzwischen entschieden andere Interessen und politische Gesichtspunkte als kleine 5

Karl Friedrich von Kloeden, Jugenderinnerungen,

6

A. a. O., S. 21.

Hamburg 1902, S. 18.

Kochhann und die „Lichtfreunde"

81

Fabrikanten, Handwerker und Kaufleute. 7 In Anlehnung an Schumpeter behauptet Kaelble eine enge Verwandtschaft zwischen dem „Geist des Geschäftskontors" der Unternehmer und den kommunalen Verwaltungsgeschäften und nennt als Grund für das Engagement des Unternehmers neben dem gesellschaftlichen Prestige, das mit solchen ehrenamtlichen Posten verbunden war, die Möglichkeit, liberale Opposition in der Stadtverwaltung zu praktizieren. Wie gezeigt, entwickelten sich diese politischen Standpunkte allmählich und weitgehend aus religiösen Wurzeln. Auf Umwegen, „auf dem Boden religiöser, kirchlicher, theologischer, philosophischer und literarischer Kämpfe", vollzog sich „die Parteibildung in Deutschland". 8 Der Begriff der Partei, so sagte 1843 der Hegelianer Karl Rosenkranz, sei „von der Kirche aus durch die Belletristik und Schulphilosophie in den eigentlichen Staat gewandert". 9 Über solche Umwege gelangten auch Schichten unterhalb der führenden Industriellen, Bankiers und liberal bleibenden Beamten von einer religösen Opposition zu einer politischen, um sich als „parteiliche" Liberale zu organisieren. Der handwerkliche Teil des „Tiers-état" scheint statt dessen tendenziell weiterhin mehr orthodoxe Züge im religiösen Verhalten gezeigt zu haben. Es sind zwei verschiedene religiöse und dann politische Lager, die sich aus dem Mittelstand entwickeln. In der Luisenstadt traten sie erstmals aus Anlaß der Gründung der Jakobi-Gemeinde an die Öffentlichkeit. Der Bäckermeister Heinrich Eduard Kochhann, einer der wichtigsten und einflußreichsten Exponenten dieser Wende in der Luisenstadt, geboren 1805, gehörte einer Altersgruppe an, die noch zwischen der Generation der ersten Honoratioren und den Neuerern der vierziger Jahre steht. Es wurde schon bemerkt, daß er noch ganz innerhalb der altväterlichen Tradition in die Stadtverordnetenversammlung eintrat. Seit 1830 Vorsteher einer Armenkommission der Luisenstadt, 1831 Vorsteher der für seinen Stadtteil eingerichteten Cholerakommission, wurde er nach einer kurzen Pause, in der er keine öffentlichen Ämter innehatte, sondern

7 Hartmut Kaelble, Kommunalverwaltung und Unternehmer in Berìin während der frühen Industrialisierung, in: Otto Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte derfrühen Industrialisierung, Berlin 1971, S. 372 f. 8 H. Rosenberg, Theologischer Rationalismus..., S. 516, vgl. aber auch in gleichem Sinne Gustav Mayer, Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, Frankfurt/M. 1969, S. 11 f. 9 Karl Rosenkranz, Über den Begriff der politischen Partei, Berlin 1843, S. 13.

III. 1844- Das Auftreten der Liberalen

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seine Bäckerei sanierte (1835-1839), 1839 zum Stadtverordneten gewählt, arbeitete in der Schuldeputation und trat im Kuratorium der Gewerbeschule in engen Kontakt zu Ludwig Jonas und den Schleiermacherianern. Seine Tagebücher sind eine der wenigen Quellen, die auf dieser Ebene das allmähliche Reifen des Politischen im öffentlichen Leben nachvollziehbar machen. Es waren dies die Jahre, in denen sich die Polemik zwischen der Evangelischen Kirchenzeitung Hengstenbergs und der 1841 gegründeten „Gesellschaft der protestantischen Freunde", von den Gegnern „Lichtfreunde" genannt, zuspitzte.10 Anlaß der Entstehung der „Partei" der „protestantischen Freunde" „waren die Maßregelungen des Pastors Sintenis in Magdeburg wegen seiner Polemik gegen die Anbetung Christi. Pastor Uhlich, an der Spitze der Bewegung, berief eine Theologenversammlung Juni 1841 nach Gnadau ein, wo der parteiähnliche Zusammenschluß der Bewegung zutage trat."11 Der Kampf der Lichtfreunde richtete sich gegen das apostolische Glaubensbekenntnis und gegen Dogmenzwang; sie traten für Gewissensfreiheit und die Rechte des Individuums ein und wandten sich gegen die Politik der Bevormundung durch die Regierung Friedrich Wilhelms IV. überhaupt. Diese Bewegung, mit der der im Berliner Bürger- und Kleinbürgertum herrschende theologische Rationalismus in seine letzte Phase eintrat und ins praktische Leben umgesetzt wurde, diente als Sammlung all derjenigen Kräfte, insbesondere des Mittelstands, die sich irgendwie in Opposition zu der von Friedrich Wilhelm IV. getragenen Reaktion befanden. Sie wurde sehr schnell populär, ihre Zusammenkünfte waren vielbesucht. 1845 erreichte sie ihren Höhepunkt. 12 Eigentlicher Träger der Bewegung war das gebildete und besitzende Bürgertum, Rosenberg nennt sie eine Mittelstandsbewegung schlechthin, 13 die „nicht unwesentlich mit dazu beigetragen hat, im

10

Klaus Duntze, Heinrich Eduard Kochhann. Ein Berliner Bürger und Christ im 19. Jahrhundert, MS, Berlin 1987, S. 21 f. 11 H. Rosenberg, Theologischer Rationalismus..., S. 530. Dazu auch Jörn Brederlow, „Lichtfreunde" und „Freie Gemeinden". Religiöser Protest und Freiheitsbewegung im Vormärz, München 1976. 12 Hans Rosenberg, Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus, München-Berlin 1933, S. 86. Dieses schöne Buch erklärt am Beispiel von Haym sehr genau den Übergang vom religiösen zum politischen Liberalismus. H. Rosenberg, Theologischer Rationalismus..., S. 533 und passim.

Kochhann und die „Lichtfreunde"

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Bürgertum Interesse am Staats- und Gemeinschaftsleben zu erwekken und Staatsgesinnung zu erzeugen". 14 Dieser Geist brachte „Zukunftsglaube, Selbstzuversicht, praktische Tüchtigkeit und strenge Pflichterfüllung"15 für längere Zeit in das deutsche Bürgertum. Der Historiker Gervinus schrieb mit großen Erwartungen 1845, daß die religiöse Freiheitsbewegung der Deutschkatholiken und der Lichtfreunde „dazu berufen sei, eine sittlich-nationale Reformation größten Stils, die Vereinigung der Konfessionen und die Begründung einer deutschen Nationalkirche in die Wege zu leiten und damit der politischen Wiedergeburt die Bahn zu brechen". 16 Die Regierung ging mit Amtsenthebungen dagegen vor. In der Auseinandersetzung mit dem König über die Besetzung von Predigerstellen durch Rationalisten 17 stellte sich die Stadt Berlin auf die Seite der Lichtfreunde, was mit einer Eingabe des Magistrats an den König vom 22. August 1845 offen zutage trat. Kochhann hatte wie andere seiner Herkunft über solche Polemiken und Zusammenkünfte Gelegenheit, seine Stellung als Liberaler zu finden, und entwickelte sich vom Vertreter eines unspezifischen idealistischen Gemeinsinns zum aufrechten Liberalen und später zum Mitglied der Fortschrittspartei. Wie gleich zu zeigen sein wird, verbanden sich dabei Lichtfreundebewegung und politische Organisation. Kochhann selbst blieb immer der Luisenstadtkirche treu, aber für seine engsten Freunde war es Prinzip, sich in den öffentlichen kirchlichen Handlungen zu den Lichtfreunden zu bekennen. Taufen und Trauungen ließ man vom Haupt der Lichtfreunde, Pastor Uhlich, vornehmen, der dazu aus Magdeburg anreiste. Erst 1847 wurde die Krise durch Legalisierung des Kirchenaustritts und die Bildung freier „Religionsgesellschaften" beigelegt: 18 freilich nicht im Sinne der Liberalen. Ihr Interesse war nicht, selbständige neue Kirchen für sich zu errichten, sondern ihre Stellung innerhalb der Kirche zu behaupten. Dagegen hätte der König „seine" Kirche sehr gern frei von solchen Gesinnungen gesehen. 19 A. a. O., S. 539. A. a. O., S. 538. 1 6 Zitat nach H. Rosenberg, a. a. O., S. 535. 1 7 Klaus DuntZe, Kirche zwischen König und Magistrat. Die Entwicklung der bürgerlichen Kirche im Spannungsfeld von Liberalismus und Konservatismus im Berlin des 19- Jahrhunderts, Frankfiirt/M.-Bem-New York 1994. 1 8 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte..., S. 435. ^ Leopold von Ranke, Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen, Leipzig 1873. 14

15

III. 1844- Das Auftreten der Liberalen

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Heinrich Runge und der Bürgerverein Das deutlichste Zeichen der neuen Situation in den vierziger Jahren war das schon erwähnte Engagement Heinrich Runges (18171886)20 in der Stadtpolitik. Heinrich Runge hatte nach dem Tode seines Vaters dessen Holzhandlung noch fünf Jahre weitergeführt und sie 1843 aufgegeben, um sich ganz der Politik zu widmen. Bei Runge vollzog sich dieses Engagement so, daß er sich zugleich erstmalig öffentlich über den Gegenstand äußerte, dem er sich widmen wollte, indem er anläßlich der Stadtverordnetenwahlen im Frühjahr 1844 als erster eine Art Wahlprogramm drucken und verteilen ließ. Der Titel der Veröffentlichung - Mein Glaubensbekenntnis benutzte die religiöse Sprache, mit der er wahrscheinlich kritisch auf die Polemik Bezug nimmt, die im vorangegangenen Jahr aus Anlaß der Abtrennung der Jakobigemeinde von der Luisenstadtgemeinde zwischen Liberalen und Pietisten gegeneinander geführt worden war. Die Jakobiparochie war, wie noch zu zeigen sein wird, dabei, eine Bastion der Konservativen zu werden, und gerade hier kandidierte Runge. Er verteilte sein Büchlein an alle Eigentümer und Wahlberechtigten des betreffenden Stadtbezirks, doch wurde ihm am Wahltag durch den Bezirksvorsteher das Wahlrecht verweigert, da er „eingegangenen Nachrichten zufolge"21 nicht im Bezirk wohne. Die Wahl verlief ergebnislos und mußte wiederholt werden. Runge wurde aufgrund der Adresse gewählt (Alte Jakobstraße 132), die er angegeben hatte, um kandidieren zu können. Runge wohnte tatsächlich nicht im Wahlbezirk, sondern in der Köpenicker Straße 92 im Prinzen-Holzmarkt-Bezirk, hatte aber das genannte Haus in der Alten Jakobstraße 132 wenige Monate vor den Wahlen gekauft, wahrscheinlich mit der Absicht, in diesem Wahlbezirk zu kandidieren. Man kann für sein Vorgehen konkrete politische Gründe vermuten: Einerseits wollte er wohl dem Stadtverordneten für seinen eigenen Wahlbezirk, Maurermeister Radicke, keine Schwierigkeiten 20

Heinrich Runge, geb. in Zehdenick am 15. Dezember 1817, gest. am 27. November 1886; 1849 unbesoldeter Stadtrat in Berlin, 1850 Emigration in die Schweiz, Konservator der Altertumssammlung zu Zürich; 1861 Rückkehr nach Berlin, 1862 wieder Stadtrat, 1871 Stadtkämmerer; Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses 18611879 und der Parlamente des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches 1867-1876. 21 Heinrich Runge, Mein Glaubenbekenntnis, 2. Aufl., Berlin 1844. Diese zweite Auflage berichtet in der Anlage über die Ereignisse des Wahltags.

Heinrich Runge und der Bürgerverein

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machen. (Radicke war seit 1837 Stadtverordneter; dessen Onkel, Destillateur Radicke, war es bis zu seinem Tode 1833 für zwei Dezennien im gleichen Wahlbezirk gewesen, und sein Vetter Adalbert wurde nach ihm 1849 Stadtverordneter, immer für den gleichen Bezirk: der Wahlbezirk befand sich also, wie schon bemerkt, mehr als drei Generationen lang in den Händen dieser Familie.) Andererseits weist Runge selber in seiner Schrift zur Wahl darauf hin, daß es ungerecht sei, daß der wegen seiner Größe geteilte JakobskirchhofBezirk nur einen Stadtverordneten wählen dürfe. 22 Er erhoffte sich vermutlich, liest man dies als Wahlversprechen, die Stimmen zahlreicher Protestwähler, die für eine Verselbständigung des Traditionsbereichs Alte Jakobstraße gegenüber dem Neubaugebiet um die Jakobikirche eintraten; drittens war er vielleicht überzeugt oder auch genau darüber unterrichtet, daß in diesem sozial gefestigten Bereich die meisten Wähler nicht zu jener Gruppe zählten, die die Errichtung der neuen, „positiven" Gemeinde St. Jakobi unterstützt hatten. Jedenfalls hatte er mit seiner Strategie Erfolg. Die Wahl Runges stellte ein absolutes Novum dar, eine Wende von einer Stadtverwaltung von Honoratioren zu einer politischen Verwaltung. Er forderte programmatisch und ganz bewußt diese Veränderung im Glaubensbekenntnis: Nicht angesehene Personen sollten gewählt werden, sondern ein Programm, und nur auf der Basis entgegengesetzter präziser Programme könnte der Wähler eine Entscheidung treffen. Die politische Auseinandersetzung begann den als neutral verstandenen „Gemeinsinn", auf den die Honoratioren sich beriefen, zu ersetzen. In den Tagebüchern des Bäckermeisters Kochhann ist der Vorgang wie folgt wiedergegeben: H. E. Kochhann berichtet über die Schwierigkeiten der Stadtverordnetenversammlung, beim Magistrat die Öffentlichkeit der Sitzungen durchzusetzen, und fährt fort: „Um so erfreulicher und aufsehenerregender wirkte das freiwillige Anerbieten vom Sohne des Holzhändlers Runge, in den Ehrendienst der Stadtverwaltung treten zu wollen, falls die Bürgerschaft seines Bezirks ihm ihr Vertrauen schenkte. Er hatte in der Druckschrift ,Mein Glaubensbekenntnis' sich über die Eigenschaften eines Stadtverordneten und über die notwendigen Änderungen in der Verwaltung ausgesprochen und danach sich als Kandidaten präsentiert. Das

22

A. a. o., s.

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III. 1844- Das Auftreten der Liberalen

Verfahren war für unsere Spießbürger ein ganz neues, nie dagewesenes Ereignis. Obgleich von ihnen verurteilt, hat es dennoch die besten Früchten getragen, da sich auch die Gebildetsten fortan nicht scheuten, zum Besten ihrer Vaterstadt mitzuarbeiten. Runge, noch jung und unverheiratet, barg bei klarem Verstände eine starke und feurige Seele in seinem damals schwächlichen Körper. Als Mitglied des Bürgervereins hatte er diese Anregung erhalten. Er wurde gewählt. Mit großem Mißtrauen bei seinem Eintritt in der Versammlung von den alten Mitgliedern empfangen, wußte er sehr bald eine dominierende Stellung zu gewinnen und die Gegner als Bundesgenossen zu werben." 23 Die Anspielung auf die „Gebildetsten" gilt dem Privatdozenten Dr. phil. Karl Nauwerck (1810-1891), der 1848 an Stelle Runges in seinem Wahlbezirk als Stadtverordneter gewählt wurde. Runge war inzwischen Stadtrat geworden und konnte seinen Wahlbezirk an seinen in der Ritterstraße 45 lebenden demokratischen Freund 24 weitergeben, ein Zeichen der neuen Dynamik, die die städtische Vertretung angesichts der beginnenden politischen Polarisierung erfaßte. Die Regeln, die noch bis vor kurzen galten, als Wahlbezirke mehrere Generationen lang durch die gleiche Familie in der Stadtverordnetenversammlung repräsentiert wurden, nach denen man seine politische Ausbildung erst im Dienst der Allgemeinheit, in den Armenkommissionen, erhielt, wie die Generation von Kampffmeyer, aber auch noch von Kochhann, um erst später Stadtverordneter und Stadtrat zu werden, verloren ihre Gültigkeit. Mit der Generation Runges und Nauwercks treffen wir zum ersten Mal auf einen Typ von Politiker, der seine ersten Erfahrungen in der literarischen und allgemeinen politischen Öffentlichkeit macht, nicht erst durch Aktivitäten in städtischen oder kirchlichen ehrenamtlichen Lokalverwaltungen vermittelt und vorbereitet. Runge und Nauwerck kannten sich schon länger. Zusammen mit dem radikaldemokratischen Arzt Julius Waldeck, mit Moritz Veit und anderen hatten sie 1842 einen Aufruf unterschrieben, um eine Bürgerkrone für Johann Jacoby, ein Vetter Waldecks, zu stiften, der 2 3 Heinrich E. Kochhann, Aus den Tagebüchern, hrsg. von Albert Kochhann, Bd. 1-5, Berlin 1905-1908, Bd. 3: Mitteilungen aus den Jahren 1839-1848, Berlin 1906, S. 36 f. 2 4 G. Mayer, Radikalismus..., S. 54, zählt Nauwerck zur Gruppe der Herausgeber der Zeitschrift Athenaeum.

Heinrich Runge und der Bürgerverein

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w e g e n Hochverrat und Majestätsbeleidigung verfolgt wurde. Es handelte sich um diejenigen Liberalen und Demokraten, die sich an der Gruppe der „Freien" orientierten und ihre Opposition gegenüber d e m „christlichen Staat" in der Öffentlichkeit verteidigten. 25 Nauwerck, von 1836 bis 1844 Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität, mußte seine Vorlesungen aufgrund des Einschreitens von Kultusminister Eichhorn im März 1844 für immer abbrechen. Der Gemaßregelte betätigte sich weiterhin in Berlin als Publizist und Politiker und wurde 1848 in das Paulskirchenparlament gewählt, w o er sich der Gruppe um Robert Blum anschloß. „Der bekannte patentierte Revolutionär", wie ihn König Friedrich Wilhelm IV. nannte, ging nach dem Scheitern der Revolution wie der Freund Runge nach Zürich.2^ Die Gruppe der „Freien" war alles andere als homogen, und als Bruno Bauer erklärte, daß man „sehr wohl ein guter Bürger sein könne, ohne zugleich ein guter Christ zu sein", 27 galt das nicht für alle. Wichtig ist aber, daß die bis dahin allgemeingültige Identität von Christ und Bürger im Bewußtsein der Liberalen brüchig wurde. Nauwerck war n e b e n Edgar Bauer „der eigentlich politische Schriftsteller der .Freien'" 28 u n d trat für eine konstitutionell-demokratische Monarchie ein, „die sich auf den konsequenten Stein und den konsequenten Hegel stützen sollte". Er schrieb für die Rheinische Zeitung wie für die Deutschen Jahrbücher. Mayer, dessen Untersuchung der „Freien" immer noch am aufschlußreichsten ist, betont dabei, daß Nauwercks politische Publizistik mehr fruchtbar als tief gewesen sei u n d d a ß er mehr durch Zufall in diesen radikalen Kreis geraten sei, „mit dem seine innere Natur nicht sympathisieren konnte". 2 9 Wie Kochhann berichtet, wurde Runge vom „Bürgerverein" zu seiner Kandidatur angeregt. Über diesen Verein, auch Bürger-Gesellschaft genannt, ist nicht viel bekannt. Er soll nach einem Breslauer Vorbild entstanden sein. 30 Bernstein apostrophiert ihn als „einen aus der vormärzlichen Zeit fortvegetierenden Verein von liberalen Bourgeois". 31 Kochhann schreibt: „Zum Zweck der Besprechung wichti25 26

A. a. o., s. 62.

K. Kettig, Gemeinsinn..., S. 24. G. Mayer, Radikalismus..., S. 63. 28 A. a. O., S. 70. 29 Ebda. 30 National-Zeitung, Nr. 659 vom 28. November 1886. Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, Berlin 1910, Bd. 1, S. 22. 27

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ger Tagesfragen hatten meine Freunde Runge (Kaufmann und Stadtverordneter), Zacharias (Bäckermeister), Hamann und Krause 1845 den Berliner Bürgerverein gegründet unter Zustimmung des humanen Polizei-Präsidenten v. Puttkamer." 32 Dabei täuscht sich Kochhann offensichtlich in bezug auf das Datum: Wenn der Verein Runge 1844 zur Kandidatur angeregt haben soll, kann er unmöglich 1845 gegründet worden sein, es sei denn dafür spricht, daß die meisten Mitglieder Luisenstädter und gute Freunde und Nachbarn waren - , der Verein existierte schon seit einiger Zeit als freie Zusammenkunft von Gleichgesinnten und erst seit 1845 offiziell als Verein. „Seine ersten Zusammenkünfte", fährt Kochhann fort, „hielt der Verein in der Urania - Kommandantenstraße ab, später, als sich seine Mitgliederzahl auffallend schnell vermehrte, in der Villa Colonna hinter den Königs-Kolonnaden. Viele freidenkende Männer wie auch ich schlossen sich ihm an und bildeten ihre Ansichten über städtische und staatliche Angelegenheiten. Man kann sich kaum eine Vorstellung davon machen, wie wunderliche Gedanken und Meinungen dabei zutage traten! Mußten wir alle doch erst lernen, uns selbstständig frei zu bewegen und vorurteilslos zu denken. Die öffentlichen Einrichtungen der Stadt fanden sogleich einen weiten Raum bei den Besprechungen und verdichteten sich oft zu Petitionen an die Stadtverordnetenversammlung. Vorsichtiger verfuhr man anfangs bei der Kritik staatlicher Anordnungen, da man einerseits die Unfruchtbarkeit der stets wiederholten Bitten der ProvinzialLandtage vor Augen sah, andererseits der polizeilichen Auflösung des Vereins gewärtig sein mußte. Um so freier und uneingeschränkter wurden die kirchlichen Vorkommnisse besprochen. Und wie vielerlei Veranlassung lag vor!" 33 Kampffmeyer zitiert aus dem verlorengegangenen Original der Tagebücher Kochhanns noch eine weitere interessante Bemerkung, die, wie vieles andere, in der gedruckten Ausgabe der Zensur des Sohnes zum Opfer fiel: „Der Verein war die erste Vereinigung von Männern, welche zusammentraten, um über städtische und staatliche Angelegenheiten zu sprechen. Man kann ihn als den Vorläufer der Ereignisse von 1848 bezeichnen, er erweckte den Sinn für Politik und befreite das Volk aus tiefem Schlummer. Außer den von einigen Mitgliedern gehaltenen Vorträgen geschah das auch von auswärts 32 33

H. E. Kochhann, Mitteilungen..., S. 55. Ebda.

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wohnenden Personen. Prediger Uhlich kam wiederholt von Magdeburg, um über Religion zu sprechen und verrichtete dann zugleich Trauungen und Taufen",34 was das enge Verhältnis zwischen Bürgerverein und Lichtfreunden beweist. Die Konstituierung des Vereins erfolgte nach Kampffmeyer im ebenfalls luisenstädtischen Restaurant Happold in der Neuen Grünstraße: „...viele kommende Wortführer des Jahres 1848/49" gaben sich im Bürgerverein ein „Stelldichein",35 Mitglieder waren unter anderen der Theologe Julius Behrend, die Ärzte Dr. Gustav Wegscheidel Dr. Paul Langerhans, Dr. Friedrich Körte (letzterer, ein Freund Rudolf Virchows, war 1844 mit Wegscheider und dem Armenarzt gewordenen Sohn H. A. de Cuvrys Mitbegründer der „Gesellschaft für wissenschaftliche Medizin"36), Dr. Buhl, Franz Duncker, Dr. John, der Direktor des Stadtschullehrerseminars Adolf Diesterweg, Professor Dielitz, Schulvorsteher Marggraf, Rechtsanwalt Holthof, Redakteur Zabel, Dr. Woeniger, Lederfabrikant Wilhelm Kampffmeyer, Dr. Mügge, Bürgermeister Naunyn, Buchhändler Georg Reimer, Dr. Stockmann, Buchhändler Springer und Kammergerichtsassessor Volkmar. Der Bürgerverein hatte kein einfaches Leben: „...ohne weiteres wurden Vorträge verboten und Versammlungen nur zu geselliger Unterhaltung erlaubt."37 Diese Maßregel habe jedoch zur „Stärkung des Bundes" geführt, „dem eine große Zahl von Magistratsmitgliedern und Stadtverordneten sich anschloß".38 Kochhann schreibt: „Solche Maßregelung rief jedoch das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hervor; denn nun traten erst recht die angesehensten Männer dem Verein bei, so auch ostentativ eine große Zahl von Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordneten."39 Runge nahm im Verein eine „führende Stellung"40 ein. Es ist also von Interesse, die Ideen Runges näher zu erläutern, zumal sie als richtungweisend für den Bürgerverein interpretiert werden können. In seiner sechzehn Seiten umfassenden Wahlrede hatte Runge sich mit den wichtigsten Themen der Liberalen befaßt: Öffentlichkeit der 35

P. Kampffmeyer, Blutsverwandte deutsche Familien..., S. 89.

Ebda.

Hinrich Wilckens, Friedrich und Werner Körte. Leben und Werk zweier Beriiner Ärzte, med. Diss., Berlin 1966. 3 7 H. E. Kochharm, Mitteilungen..., S. 6l. 3 8 P. Kampffmeyer, Blutsverwandte..., S. 893 9 H. E. Kochhann, Mitteilungen..., S. 61. 4 0 P. Kampffmeyer, Blutsverwandte deutsche Familien..., S. 89-

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Stadtverordnetensitzungen, Abschaffung der Fleisch- und Brotsteuer, Überwindung des Systems der Armenunterstützung durch ein auf Sparen und Selbsthilfe zu gründendes neues, Themen, die ein Jahr später auch von konservativer Seite aufgegriffen wurden (siehe unten). Vor allem das Thema des Pauperismus und des Sparens, das Runge bereits im Januar 1844 in einer Reihe von Artikeln in der Vossischen Zeitung behandelt hatte,41 nimmt die späteren Attacken der Liberalen gegen das System der Armenkommissionen vorweg und bildet die Basis der zahlreichen liberalen Initiativen in diesen Jahren. Seit mehreren Jahren, schreibt Runge in der Vossischen Zeitung, sei es die Armuts-Frage, welche überall die Geister beschäftigt, und die zahlreiche Klasse der Proletarier. Die Ausgaben für das Armenwesen Berlins seien auf 446 342 Thlr., 16 Sgr., 1 Pf. gestiegen, und eine „talentvolle Mitbürgerin" (Bettina von Arnim, die er aber nicht mit Namen nennt) habe die Not der Massen in ihrem verdienstvollen Buch geschildert. Der Fehler, schreibt Runge, liege im Prinzip, weil die Hilfe der Armenkommissionen nur ein Palliativ, keine Radikalkur darstelle: „Die Grundsätze, nach welchen die Armen-Commissionen verfahren, sind bekannt, fast außschließlich kinderreiche Familien, denen das ernährende männliche Oberhaupt fehlt, oder alte, arbeitsunfähige Menschen haben auf Unterstützung Anspruch ... Es fällt uns nicht ein, den Armen-Commissionen oder den gedachten Vereinen einen Vorwurf zu machen; auch wie sie sind, nützen sie, wenn auch nur für den Augenblick, die Hauptaufgabe aber, für die Dauer zu sorgen, lösen sie nicht."42 Die Kräfte sollten sich deshalb - Runge war seit 1843 Schulkommissionsvorsteher im LWV - auf das Gebiet der Schule konzentrieren, um echte Abhilfe zu schaffen. Dabei sei es ein Fehler, die Armenschulen der Aufsicht der Armendirektion zu entziehen und sie unter die der Schuldeputation zu stellen. Nur durch Entziehung der Unterstützung im Fall von Schulversäumnissen der Kinder sei es möglich, die allgemeine Schulpflicht durchzusetzen. Folgenreich war der zweite Vorschlag: Eine Central-Armen-Behörde sollte die zahlreichen, nebeneinander wirkenden Privatvereine in ihrer Arbeit anleiten, wobei den lokalen Armenkommissionen die Aufgabe zufiele, über die Bedürfnisse der zu unterstützenden Perso41 42

Vossische Zeitung vom 5·, 16. und 17. Januar 1844. A. a. O., Ausgabe vom 5. Januar 1844.

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nen zu urteilen, wie das schon für einige Vereine der Fall sei (zum Beispiel bei der Armenspeisungsanstalt, die die Suppenmarken von den Armenkommissionen verteilen lasse). Eine Zentralisierung der zersplitterten Vereinstätigkeit sei nötig, weil „dieselben Individuen nicht selten von mehreren Vereinen unterstützt werden, die Wohltaten sich also an einer Stelle häufen, an einer anderen ganz ausbleiben und auf diese Art manche Summe als rein verschwendet betrachtet werden muß." 43 Runge bezog sich damit auf den erst seit wenigen Tagen vom König erneuerten „Schwanenorden" (siehe unten). Was jener für Preußen leisten sollte, dachte Runge, sei von bürgerlicher Seite für Berlin durchsetzbar: „Eine Vereinigung der Wohltätigkeits-Vereine durch ein gemeinsames Band um einen leitenden und anregenden Mittelpunkt." 44 Überhaupt sollte das „Hilfsprinzip" das „Unterstützungsprinzip" ersetzen: man solle Arbeit geben, Unterstützungskassen fördern, Beschäftigungsanstalten errichten. „Es gibt in Berlin viele redliche und ordentliche Arbeiter, welche sich mit ihrer Familie zwar im Schweiße ihres Angesichts, aber doch ehrlich ihr Brod verdienen und sich sogar mitunter eines gewissen Wohlstandes erfreuen, die aber irgend ein Unfall, eine Krankheit, ein selbst nur kurze Zeit dauernder Arbeitsmangel in das tiefste Elend stürzen kann, aus dem sie sich selbst zu retten, nicht im Stande sind." 45 Runge ging hier so weit, den Bau von Wohnungen für die Armen in städtischem Eigentum zu fordern - ein Vorschlag, den damals, 1844, noch niemand gemacht hatte und der in dieser Form offensichtlich nie mehr weiter diskutiert wurde. Diese letzte Forderung deutet an, daß die Front der Bürger nicht mehr geeint war. Es scheint, daß Runge sich als Wortführer eines unternehmerischen Bürgertums verstand, das nur noch wenig Einsicht für die kleinbürgerlichen Vermieterinteressen der Hausbesitzer aufbrachte und mit Sorge den freien Wohnungsmarkt beobachtete. Ein Teil der Unterstützung, die die Armenfamilien erhielten, flöß ohnehin direkt in die Taschen der Hausbesitzer, eine Form von unproduktivem Kapitalumlauf, den ein Unternehmer nicht akzeptieren konnte. Das mußte im Milieu der die Stadtverwaltung bildenden Schichten unüberbrückbare Differenzen hervorrufen. Was Runge A. a. O., Ausgabe vom 16. Januar 1844. 44

Ebda.

45

A. a. O., Ausgabe vom 17. Januar 1844.

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und seine Freunde auch später nicht sahen, waren die strukturellen Zusammenhänge zwischen dem Berliner Sozialfürsorgesystem und dem freien Wohnungsmarkt, Zusammenhänge, die allerdings erst mit dem Wachstum der Stadt und den spekulativen Mieten der siebziger Jahre offen zutage treten sollten (siehe unten SIEBENTES KAPITEL).

Alle Parolen der liberalen Sozialpolitik der nächsten Jahre sind 1844 in dieser Artikelserie von Runge vertreten: Primat der Schule und der Bildung, Kontrollen, um „doppelte" Unterstützungen zu vermeiden, Unterstützungskassen.

Die liberale Sparideologie Die Liberalen hatten alle Ursache, neue Strategien zur strukturellen Verbesserung der Einkommensverhältnisse der Armen durch Bildung und Sparen zu entwickeln. Eine neue Kategorie potentieller Klienten der Armenkommissionen machte sich bemerkbar. Die Stadt Berlin war in den Jahren 1834 bis 1847 von 260 000 auf 410 000 Einwohner angewachsen. Unruhen der letzten Jahre hatten gezeigt, daß bei jeder Konjunkturstockung die traditionelle Armenklientel durch die Masse der arbeitslosen Fabrikarbeiter gefährlich erweitert wurde. Der Bereich sozialpolitischer Überlegungen mußte auf diese breite Masse „potentieller" Klienten der Armenkommissionen ausgedehnt werden; es galt, differenzierte Lösungen zu finden. Es kam aber noch etwas anderes hinzu. Die preußische Armengesetzgebung von 1842 hatte ebenfalls eine neue Lage geschaffen, indem sie die Städte zur Aufnahme neuer Einwohner verpflichtete und zur Unterstützung all derer, die seit einem Jahr dort wohnhaft waren. 46 Diese Gesetzgebung gehörte noch zur Erbschaft der Reformzeit, wie Harald Schinkel in einem grundlegenden Aufsatz gezeigt hat. Die lange, 1824 beginnende Entstehungsphase läßt die Distanz zwischen dem Liberalismus der Ministerialbehörden und der defensiven Haltung der Stadtgemeinden gegenüber einer konsequenten Handhabung des Rechts auf Freizügigkeit deutlich werden. Das Staatsministerium äußerte sein mangelndes Zutrauen zu einer ^ Harald Schinkel, Armenpflege und Freizügigkeit in der preußischen Gesetzgebung vom Jahre 1842, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 50 (1963), S. 459 f.

Die liberale Sparideologie

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fairen Beachtung der Freizügigkeit durch die Kommunen 1838 folgendermaßen: Die Entscheidung über die Zulassung zuziehender Personen in die Hand der Kommunen zu legen, heiße „gar oft, zu einem fast absoluten Verbot des Wohnungswechsels" 47 zu gelangen, mit allen daraus resultierenden negativen Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung. Diese Gesetzgebung, eine „abstrakt-juristische Konstruktion, die ein sittliches Verhältnis für den einen Teil in ein rechtliches umwandelte, aber für den anderen als rein sittliches bestehen lassen wollte", wie Volkmann 1968 bemerkt, „dokumentiert den Übergang zum öffentlich-rechtlichen Denken in der Sozialpolitik" 48 und bildet eine Zwischenphase zwischen Armenpflege und staatlicher Sozialpolitik. So erkannte das Gesetz die Pflicht zur Armenpflege an, aber nicht den Armen, sondern dem Staat gegenüber. Der Arme sollte die Unterstützung als Wohltat empfinden, nicht als Recht beanspruchen können. In der Tat, in den Augen der Bürger der Stadt gehörten in die neue Kategorie der „potentiellen" Armen alle Menschen, die jetzt ungehindert in die Stadt ziehen konnten, entschlossen, dort ihr Glück zu finden, die aber nur ihre Arbeitskraft mitbrachten. In einer Zeit, die keinerlei Rechtsgarantien im Arbeitsverhältnis kannte, entsprach die Einschätzung der Zuwanderer als potentielle Arme durchaus den tatsächlichen Verhältnissen. Ohne die Gründe der sozialen Unsicherheit ändern zu wollen, ging es darum, Strategien für diese breite Kategorie von Bewohnern zu schaffen. Diese Gelegenheitsklientel der Armenkommission, die „redlichen Arbeiter", interessierte nicht nur Runge und die Liberalen. Stellte die Religion den ideellen Ausgangspunkt für die Spaltung der Bürger in zwei politische Lager dar, so war die Sozialpolitik das konkrete Feld für eine allerdings sehr graduelle Entwicklung zweier politischer Strategien. Die bis dahin undifferenzierte Masse der unteren Schichten trennte sich in den Augen der bürgerlichen Honoratioren zunehmend in zwei verschiedenartige Gruppen, und entsprechend änderten sich die Strategien, die bei eintretender Not angewendet werden sollten. Die neue Parole des Sparens dominierte in den vierziger Jahren, sie wurde Leitmotiv mehrerer neuer Unternehmungen sowohl libera47

A. a. O., S. 469.

48

H. Volkmann, Die Arbeiterfrage..., S. 83.

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Das Auftreten

der

Liberalen

1er als auch konservativer Couleur. Da die Entwicklung in diesen Jahren noch voll im Gang war, ist es schwierig, einzelne Persönlichkeiten und Unternehmungen eindeutig einem bestimmten politischen Lager zuzuordnen. Nur in der Luisenstadt lassen sich dank so hervorragender Protagonisten wie Runge und Bachmann schon früh entschieden radikale Positionen ausmachen, und zwar gerade aufgrund der konkreten lokalen Auseinandersetzungen, die ein Zusammengehen ausschlossen. Auf höheren Ebenen, in all den anderen Unternehmungen, die gleich dargestellt werden, darf man sich nur annäherungsweise für eine ideologische Zuordnung entscheiden. Ein Spielraum der Ambivalenz bleibt, entsprechend einer Verbindlichkeit im gesellschaftlichen Leben, das radikale Spaltungen noch nicht kannte. Trotzdem kann man in den allgemeinen Appellen zum Sparen zwei Grundrichtungen identifizieren, die zwei grundlegend konträren Gesellschaftsinterpretationen entsprechen. Wollten die Liberalen zur Vorsorge erziehen und die Armen vom Nutzen eines solchen Verhaltens überzeugen, so wollten die Konservativen stellvertretend zur Vorsorge verhelfen. Die ersten setzten auf Selbsthilfe und Selbständigkeit, die es in der Schule und in Bildungsvereinen zu erwecken galt, die anderen auf paternalistische Kontrollen und staatlichen Zwang. Es stand viel auf dem Spiel: Es ging nicht nur darum, das Absinken der „redlichen Arbeiter" in die Proletarisierung und die Formierung einer oppositionellen Klasse durch Eingliederung in den Mittelstand zu verhindern, sondern letztlich darum, das neue Anhängerpotential für das eigene politische Lager zu gewinnen. Zum Sparen auffordern, hieß für die Liberalen, die kleinen Handwerker und Arbeiter dazu zu bewegen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Das sollte in der Schule durch Erwecken von Selbstvertrauen vorbereitet werden. So unterstreicht der führende liberale Pädagoge Adolf Diesterweg, seit 1830 Direktor des von ihm aufgebauten Berliner Lehrerseminars: „Der Fundamentalsatz biblischer Theologen: ,daß der Mensch von Natur nichts nütze und zu allem Bösen geneigt sei', darf in der Erziehung nicht berücksichtigt werden. Er würde sehr verderblich wirken." Vielmehr gelte die „Anregung des Bewußtseins bis zur höchsten Lebendigkeit, daß wir zur Reinheit und Tugend geboren sind, daß dieses das Ziel alles Menschendaseins sei, daß in dem Ringen danach allein die Menschenwürde ruhe".49 49 Hugo Gotthard Bloth (Hrsg.), Aus Adolf Diesterwegs Tagebuch 1818 bis 1822, Frankfurt/M. 1956, S. 7 f., Eintragung vom 19. Januar 1819.

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Würdig ist es demnach, sich selbst zu helfen, unwürdig ist, weil ein Zeichen des Verzichts auf eigene Initiative, öffentliche Unterstützung zu beanspruchen. Die Regelung, daß nur derjenige, der zur Finanzierung der Ausgaben des Gemeindelebens beitrug, auch an dessen Verwaltung teilnehmen sollte, das heißt, wer Armenunterstützung in Anspruch nahm, das Wahlrecht verlor, erhielt zunehmend eine andere Bedeutung: Ökonomische Selbständigkeit gehe zusammen mit intellektueller, nur wer für sich selber und seine Familie sorgen könne, sei frei und unbefangen genug, um eine verantwortungsvolle Entscheidung zum Beispiel bei der Teilnahme an Wahlen zu treffen. Sparvereine wurden seit Mitte der vierziger Jahre sowohl von Liberalen gegründet als auch von konservativen und orthodox kirchlichen Kreisen (siehe unten). Nur feine Unterschiede in der Handhabung lassen die grundverschiedenen Haltungen erkennen. Zum Sparen gehört die Idee der Selbsthilfe: „Association" wurde seit Mitte der vierziger Jahre zur wichtigsten Parole für die Lösung der „sozialen Frage". Zu sparen oder eine Versicherung abzuschließen sind heute genau unterschiedene individuelle Strategien der Vorsorge. Damals sah man darin nur zwei Seiten derselben Grundhaltung, die den Unterschichten beigebracht werden sollte: Es ging um die Abschaffung der Gewohnheit, von der Hand in den Mund zu leben. Solche Vorstellungen waren sowohl in liberalen als auch in konservativen Kreisen Themen der Diskussion, wie besonders in den Schriften des konservativen Schriftstellers Victor Aimé Huber, 50 und in der zur Selbsthilfe aufrufenden Publizistik von Hermann Schulze-Delitzsch.

Sabine Hindelang, Konservatismus und soziale Frage. Victor Aimé Hubers Beitrag zum sozialkonservativen Denken im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M.-Bern-New York 1983; Ingwer Paulsen, Victor Aimé Huber als Sozialpolitiker, Berlin 1956; Helmut Faust, Geschichte der Genossenschaftsbewegung. Ursprung und Aufbruch der Genossenschaftsbewegung in England, Frankreich und Deutschland sowie ihre weitere Entwicklung im deutschen Sprachraum, 3., erw. Aufl., Frankfurt/M. 1977. Von Friedrich Wilhelm IV. 1843 an die Berliner Universität berufen, gab Huber die konservative Zeitschrift Janus heraus. Zeitschrift und Vorlesungen blieben ohne Erfolg, und auch bei den Konservativen fand Huber wenig Verständnis für seine sozialpolitische Analyse. Politisch isoliert, verließ er 1851 Berlin und übersiedelte nach Wernigerode, wo er sich mit der Gründung von Genossenschaften beschäftigte. Mit seinen Kontakten sowohl Zu Wichern als auch Zu Schulze-Delitzsch gilt Huber als ein Vater der genossenschaftlichen Bewegung. Obwohl das Wort „Selbsthilfe" eine „ganz andere Bedeutung

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Der Selbsthilfegedanke führte in diesen Jahren zur Gründung der ersten Gesundheitspflegevereine und der ersten öffentlichen Krankenkassen.51 In diesem Fall, bei der Gründung der Gewerkskrankenvereine in Berlin, waren es die Magistratsmitglieder Koblanck und Otto Theodor Risch, die 1846 im Auftrag des Magistrats die Initiative dazu ergriffen. Diese Krankenkassen für Handwerker und Arbeiter wurden jeweils für bestimmte Berufsgruppen errichtet. Dreizehn Jahre später gab es sechzig dieser Kassen mit insgesamt 47 000 Mitgliedern. Der Magistrat hatte die Aufsicht über diese Unternehmungen. Es wurden dreißig Bezirke mit je einem Arzt eingerichtet, der die Kassenmitglieder versorgte. Die Kosten hierfür wurden, getreu den Prinzipien des ökonomischen Liberalismus, ausschließlich aus den Mitgliedsbeiträgen aufgebracht.52 Diese Krankenkassen wurden aufgrund der neuen Gewerbeordnung von 1845 möglich, verdankten also ihre Entstehung einer aus konservativen Gesichtspunkten heraus erfolgten Gesetzgebung. Wie weit entfernt die aufblühende Sparideologie von der damals gängigen Vorstellung von Armut noch war, teils aber auch von den wirklichen Verhältnissen,53 zeigt die folgende zeitgenössische Schil-

in Hubers Herzen als in Schulzes Kopf' (I. Paulsen, Victor Aimé Huber..., S. 177) hatte, wurde Schulze von der Publizistik Hubers stark beeinflußt. Für Huber war die soziale Frage nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine „sittliche". Die Association sollte auch Zur Hebung der geistlichen und sittlichen Kräfte der Mitglieder beitragen. Über Hermann Wagener ging, wie Nipperdey betont, vieles von seiner Gesinnung und manches von seinen Ideen in die Bismarksche Sozialpolitik ein. Vgl. T. Nipperdey, Deutsche Geschichte..., S. 440. 51 Gesundheitspflegevereine und Krankenkassen unterscheiden sich grundsätzlich; die ersteren sind freiwillige Vereine auf Bezirksebene, also nach räumlichen Prinzipien organisiert, die letzteren vom Magistrat und nach beruflichen Gesichtspunkten eingerichtet. Vgl. Ute Frevert, Krankheit als politisches Problem, Göttingen 1984, und Florian Tennstedt, Die Entwicklung der auf Selbstverwaltung beruhenden Krankenkassen während der Industrialisierung Deutschlands bis 1883, in: ders., Soziale Selbstverwaltung, Bd. 2: Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung, Bonn o. J., S. 13 f. 52 Bericht über Gründung der Gewerks-Kranken-Vereine und deren Vergrößerung, in: Communalblatt der Haupt-und Residenzstadt Berlin, 1. Jg. ( I 8 6 0 ) , S. 8 7 ; Johannes Rigler, Das medizinische Berlin, Berlin 1 8 7 3 . Siehe auch hier das ACHTE KAPITEL. 53 In den Worten eines Zeitgenossen: „Der Magistrat errichtete zur Abhülfe der Noth .städtische Sparkassen', nach derselben Logik, wie man einen Beinbruch durch Verordnung von Balletsprüngen kurieren will." Robert Springer, Berlin's Strassen, Kneipen und Clubs im Jahre 1848, Berlin 1850, Reprint der Originalausgabe, Leipzig 1 9 8 5 , S. 4 3 .

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derung im Mitteilungsblatt der Armendirektion. In dem Aufsatz Die Verarmung der Unteren Stände, ihre Ursachen und Folgen sowie Vorschläge ihr möglichst vorzubeugen und sie abzuwehren, der 1847 abgedruckt wurde, analysiert Andree, Prediger am Arbeitshaus, die Gründe, die zu vermehrter Armut führen: Es sind ungünstige Natureinflüsse, das heißt die Teuerung der Lebensmittel in den letzten zwei Jahren, allzu große Konkurrenz in Handel und Gewerbe, also die Gewerbefreiheit, und folgender Mangel an Arbeit, schließlich körperliche Lebenszustände (Krankheit). „Ja wie oft", schreibt er, „höre man sagen: Das Gesindel, das faule Pack, sollte nur arbeiten, dann hätte es auch Brot: Ein solcher Herzensloser bedenkt nicht, daß der Taback, welchen er während seines hartherzigen Raisonnements müßigerweise verbraucht, mehr kostet, als ein armer Arbeiter auch bei dem größten Fleiß täglich zur Ernährung seines Kindes verwenden kann."54 Der Autor endet mit einem Dank an alle Wohltäter, allen voran an den König und die Königin, die den Armen Hilfe leisteten. Es ist bezeichnend für den damaligen Stand der Diskussion über die soziale Frage, daß das offizielle Organ der Armendirektion einen solchen Text veröffentlicht, der trotz der mahnenden Haltung gegenüber den Besitzenden noch ganz im Zeichen des Wohltätigkeitsgedankens und der Nächstenliebe steht. Die Gewerbefreiheit, einer der wichtigsten Grundsätze des Liberalismus, wird entsprechend der typischen Argumentation der Konservativen als einer der wesentlichen Gründe für die Entstehung der Armut betrachtet. Die Ideen des Sparens und der Selbsthilfe, seit 1844 propagiert, treten erst in der veränderten Situation nach 1848 im Monatsblatt hervor, verbunden mit der Aufforderung zur Zusammenarbeit von Bezirksvereinen (die Lokalorgane des Centraivereins, siehe unten), Sparvereinen und Armenkommissionen.55 Man muß aber die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts abwarten, um in diesem offiziellen

54

Monatsblatt, Nr. 11 (1847). A. a. O., H. 1 und H. 3 (1849), mit einer Übersicht über bestehende Sparvereine und deren Tätigkeit. U. a. sind eingetragen ein Sparverein für die Armenkommission (im folgenden AK zitiert) 29 mit 583 Sparern und einer Sparsumme von 2802 Thlm., dazu 102 Thlr. „Geschenke"; ein weiterer für die AK 30 mit 390 Sparern und einer Ersparnis von 2547 Thlm.; St. Jakobi-Kirchengemeinde mit 388 Sparern und 2091 Thlm., 57 Thlr. wurden gespendet; St. Elisabeth-Gemeinde mit 1040 Sparern und 55

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Blatt den Einfluß der neuen Mentalität deutlicher zu spüren als bisher (siehe unten FÜNFTES KAPITEL). In der neuen politischen Situation nach 1848 wurde dieser Weg, die unteren Klassen in relativ bessergestellte, die sparen konnten, und die übrigen zu spalten, allgemein wieder aktuell. Paralleli dazu verstärkten sich auch die Versuche, die bessergestellten Arbeiter und die Handwerker politisch für das eigene Lager zu gewinnen.

Hedemann und der Handwerkerverein Die Mobilisierung der Liberalen gegen die Konservativen Schloß kulturelle Initiativen ein. Eine dieser Initiativen war die 1844 im Auftrag des Magistrats durch den städtischen Syndikus Heinrich Hedemann erfolgte Gründung des Handwerkervereins, einer Vereinigung, die zu dem Zweck errichtet wurde, „die volkstümliche Entwicklung des geistigen, sittlichen, geselligen, gewerblichen und staatsbürgerlichen Lebens der Arbeiter durch Lehre und Tat zu fördern".56 Im Verein hielt eine Reihe namhafter Liberaler Vorträge: der Theologe und

5224 Thlrn. Es entspricht den Vorschlägen Hubers, daß in solchen Sparvereinen neben den Spareinlagen der Mitglieder auch das von Wohltätern geschenkte Geld am Ende der Sparperiode ausgezahlt werden sollte. Interessant ist, daß die Sparvereine der Armenkommissionen das gesamte eingesparte Geld in Form von Holz, Torf und Kartoffeln zurückbezahlten, während in den kirchlichen Sparvereinen der gesparte Betrag zum Teil in bar zurückgezahlt wurde. Siehe auch Monatsblatt, H. 8 (1849), H. 3 (1850), S. 25, wo die Armendirektion bedauert, daß viele Sparvereine (wahrscheinlich als Folge der Reaktion) die Geschäfte eingestellt hätten, und den Armenkommissionen empfiehlt, solche Vereine selbst zu organisieren; Vgl. auch Monatsblatt, H. 6 (1850), wo u. a. der Sparverein der AK 29 mit 459 Sparern, der der St. Jakobigemeinde mit 138 Sparern, der der Luisenstadtkirche mit 186 Sparern mit 1377, 780 respektive 1057 Thlrn. eingetragen ist. Siehe auch Monatsblatt, H. 5 (1851), und H. 3 (1854), S. 65 und H. 4 (1855). Siehe § 1 der Vereinssatzung, Zitiert in: Wilhelm Friedensburg, Stephan Born und die Organisationsbestrebungen der Berliner Arbeiterschaft bis zum Berliner Arbeiterkongress, 1840-1848, Diss., Leipzig 1923, Neudruck: Glashütten i. Ts. 1973, S. 22. Für die Geschichte des Handwerkervereins siehe Jürgen Reulecke, Sozialer Frieden durch soziale Reform. Der Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen in der Frühindustrialisierung, Wuppertal 1983, S. 68 f.

Hedemann und der Handwerkerverein

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spätere Buchhändler und Stadtverordnete Julius Berends, 57 Mitglied des Bürgervereins und 1845 wegen einer Veröffentlichung über ein religiöses Thema, die das Ministerium „wegen ihres kommunistischen Inhalts"58 verurteilte, aus dem öffentlichen Schuldienst entfernt, der jüdische Stadtrat David Alexander Benda, 59 der 1843 die Broschüre Katechismus für wahlberechtigte Bürger Preußens60 veröffentlicht hatte - auch hier die Verwendung eines religiösen Terminus für die Beschreibung bürgerlicher Pflichten - , Adolf Diesterweg, der liberale Staatsbeamte Wilhelm Adolph Lette, Freund von Schulze-Delitzsch, Karl Friedrich Koppen, Freund von Karl Marx, und Friedrich Eduard Schmidt, Dozent an der Juristische Fakultät der Berliner Universität.61 Heinrich Hedemann, aus einer preußischen Beamtenfamilie stammend und 1800 geboren, in der Zeit der Demagogenverfolgung durch die Flucht nach Göttingen der Verhaftung entgangen, war seit 1832 Stadtsyndikus. Als Luisenstädter und Mitglied des Gemeinderates der Luisenstadtkirche organisierte er im Namen des Magistrats zusammen mit Bachmann die Teilung der Jakobiparochie (siehe unten). Hedemann betreute von 1844 bis 1848 als Vorsteher den Handwerkerverein und sandte zugleich regelmäßig Berichte über die Vereinsarbeit an das Innenministerium - möglicherweise war das die Bedingung, unter welcher der Staat die Existenz des Vereins duldete, der außerdem während der ganzen Zeit seines Bestehens von Abgesandten der Polizei beobachtet wurde. In seiner Satzung hatte der Verein sich verpflichtet, sich nicht mit religiösen oder politischen Themen zu befassen. Trotzdem konnte ihn Stephan Bom als aktives Mitglied später als „eine Bildungsstätte für heranwachsende Revolutionäre"63 bezeichnen. Bereits 1845 gingen bei Hedemann Klagen des Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg von Meding ein: Berends hatte einen Vor57 Auch als Behrends oder Behrend zitiert. Er betrieb eine Druckerei in der Oranienstraße 103, wo seine eigenen Veröffentlichungen wie viele weitere Schriften der politischen Literatur dieser Jahren gedruckt wurden. Vgl. K. Kettig, Gemeinsinn..., S. 25. 58 W. Friedensburg, Stephan Born..., S. 19. S. Jersch-Wenzel, Jüdische Bürger..., S. 55. Rezensiert in: Vossische Zeitung vom 6. Januar 1844, S. 7. ^ Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung, hrsg. von der Bezirksleitung Berlin der SED, Kommission Zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, Bd. 1, Berlin 1987, S. 21. 62 Nach J. Reulecke, Sozialer Frieden..., S. 68, Anm. 95. 63 W. Friedensburg, Stephan Bom..., S. 23.

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trag mit dem suspekten Titel „Vorwärts" gehalten, Dr. Ferdinand Schmidt, 64 ein Lehrer auf der Linie Diesterwegs, einen weiteren unter dem noch suspekteren Titel „Der Güter höchstes ist die Freiheit", der evangelische Pfarrer Uhlich, bekanntes Oberhaupt der „Lichtfreunde", hatte für seine „häretischen" Ideen geworben. Berends und Schmidt wurden aus dem Verein ausgeschlossen und gründeten einen autonomen, der kleiner, aber radikaler war. Berends wurde im Dezember 1846 in der Beckerschen Tabagie in der Alten Jakobstraße 23 zusammen mit dem Schneider Christoph Friedrich Mentel verhaftet und nach wenigen Tagen wieder entlassen. 6 5 1848 wurde Berends mit Nauwerck in die Deutsche Nationalversammlung entsandt. In der Reaktionszeit verließ Berends Europa und emigrierte in die Vereinigten Staaten. Die Bildung ähnlicher Vereine durch Konservative wie Victor Aimé Huber oder den Baron von Seid, die die Interessen der Handwerker in die monarchische Richtung zu lenken versuchten, führte zu nichts. 66 Der Handwerkerverein Hedemanns erwarb sich schnell Achtung und wurde rasch bekannt. Im ersten Jahr nahm er 87 Handwerksmeister und 1254 Gesellen auf, im nächsten Jahr waren es 94 Meister und 1984 Gesellen, eine Quelle spricht für 1848 von 20 000 Mitgliedern, eine Zahl, die übertrieben hoch erscheint. Jedenfalls handelt es sich nur um diejenigen privilegierten Handwerker, die über genügend Zeit verfügten, um sich an den kulturellen Aktivitäten des Vereins zu beteiligen - der größte Teil der Arbeiter blieb davon ausgeschlossen.

Der Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen und Eduard Goldschmidt 1844 wurde aus Anlaß der ersten Gewerbeaussteilung der Zollvereinsstaaten in Berlin durch rheinische und einige Berliner Industrielle und Beamte der „Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klas-

6 4 Über F. Schmidt vgl. J. Reulecke, Sozialer Frieden..., S. 71, Anm. 105. Unklar ist, ob er mit den oben zitierten F. E. Schmidt identisch ist. Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung..S. 26 und K. Kettig, Gemeinsinn..., S. 25 f. 6 6 Emst Dronke, Berlin, (1846), Neudruck: Berlin 1953, S. 287 und J. Reulecke, Sozialer Frieden..., S. 27, Anm. 1.

Der Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen

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sen" 6 7 gegründet. Da dem Verein, der zunächst auf das Wohlwollen des Königs rechnen zu können schien, auf Grund der Radikalität einiger Mitglieder (vor allem der rheinischen und der Berliner Lokalvereine) vom Ministerium jahrelang und schließlich bis 1848 die Genehmigung versagt wurde, geht es hier zunächst nur um die der Gründung 1844 zugrundeliegenden Absichten und ihre luisenstädtischen Hintergründe. Der Centraiverein ist zwar als Verein für alle Zollvereinsstaaten gegründet worden, hatte aber seinen Schwerpunkt in Preußen, und besonders der Berliner Lokalverein bildete einen bedeutenden Brennpunkt. Im Verein arbeiteten nebeneinander Menschen mit sehr verschiedenen politischen Überzeugungen wie Heinrich Runge und Victor Aimé Huber - die Genannten saßen zusammen mit Wilhelm Kampffmeyer und Rudolf Gneist in der Kommission für Wohnungsfragen - , teils auch Persönlichkeiten, deren politische Zugehörigkeit nicht so eindeutig zu erkennen ist, wie zum Beispiel Carl Wilhelm Hoffmann und dessen Schwiegervater Benda. Trotzdem ist es sicher richtig, mit Toni Offermann im Centraiverein die erste sozialpolitische Intervention des Liberalismus zu sehen. 68 Mehrere zentrale Persönlichkeiten der Luisenstadt saßen von Anfang an im Vorstand des Centraivereins: die Kattunindustriellen Eduard Goldschmidt, Johann Friedrich Dannenberger und Adolph Stephan; andere, die radikaler waren, wie F. Waldeck und Runge, hatten ebenfalls von Anfang an einen Sitz im Vorstand des Lokalvereins. Viele Luisenstädter waren Mitglied sowohl im Central- als auch im Lokalverein, unter anderen Martin und Wilhelm Kampffmeyer oder der Industrielle Justus Heckmann und dessen Sohn August. Von beiden wird noch die Rede sein. Die drei Kattunindustriellen waren miteinander und mit der Luisenstadt in bezug auf ihr wirtschaftliches Schicksal eng verbunden: Dannenberger, aus bescheidenen handwerklichen Verhältnissen der Luisenstadt stammend, begann seine beispielhafte Karriere, indem er 1813 im Auftrag von Ruben Goldschmidt, der erst 1825 seinen Söhnen die Fabrik in der Köpenicker Straße kaufte, Tücher in Bleu Marie Louise druckte, Stephan, Absolvent der Gewerbeschule und

Für seine detaillierte Geschichte vgl. ebda. Toni Offermann, Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in 1850-1863, Bonn 1979·

Deutschland,

102

III. 1844- Das Auftreten der Liberalen

Protégé Beuths, begann seine Laufbahn als technischer Direktor in der Fabrik von Dannenberger.69 Goldschmidt und Dannenberger waren die beiden für den Durchbruch des mechanisierten Kattundrucks entscheidenden Personen. Dannenberger „ging den Weg der permanenten Innovation"70 als erster: Schon 1816 begann er mit der Mechanisierung. 1822 und 1827 reiste er nach England und importierte zum ersten Mal einen Maschinenwebstuhl (Dandyloom), den er im Portierhaus an der Straße arbeiten ließ, um ihn jedermann bekannt zu machen.71 Er war ehrenamtliches Mitglied der Serviskommission, weswegen er 1816 die Wahl zum Stadtverordneten ausschlug, weil die Sitzungszeiten in beiden Gremien die gleichen waren. In enger Zusammenarbeit mit Beuth setzte er sich intensiv für dessen Geweibepolitik ein und kümmerte sich auch als lokale Standesperson um Pflaster und Bepflanzung der Köpenicker Straße. Die Rolle Dannenbergers im Streit um die von der Kattunindustrie benötigte Kinderarbeit wurde schon geschildert. Er vertrat das reine Industrielleninteresse gegen Nachhilfeschule und Abendschule - er selber hatte ohnehin nur Elementarunterricht in der Parochialschule genossen. Seine Fabrik war in den dreißiger Jahren die modernste der Luisenstadt überhaupt und beschäftigte mehrere hundert Menschen. 1844 nahm er - die Fabrik hatte er inzwischen aus Gesundheitsgründen verkauft - an der Gründung des Central Vereins teil. Als der jüdische Kaufmann Ruben Goldschmidt 1827 starb, übernahmen vier Söhne die Firma, um die kurz zuvor gekaufte Fabrik in der Köpenicker Straße zur größten nicht nur der Luisenstadt, sondern Berlins zu machen. „Eduard Goldschmidt war eine der Schlüsselpersonen der Berliner Industrialisierung."72 Unter den vier Brüdern war er die führende Gestalt, lebte „seit Ende des Befreiungskrieges in England, um den großartigen Betrieb der dortigen Industriellen kennen zu lernen und die neuen Fabrikationsmethoden in der väterlichen Fabrik einzuführen".73 Als Vorsitzender der 29. Armenkommission und Mitglied des LWV ist er schon genannt worden. Er hatte eine Tochter des Staatsrats Kunth geheiratet, Chef des Gewerbedepartements unter Stein und Vor-

69

70 71 72 73

D. Hoffmann-Axthelm, Preußen..., Kapitel 3, S. 27 f. A. a. O., S. 29. W. Stephan, Johann Friedrich Dannenberger..., S. 19 f. D. Hoffmann-Axthelm, Preußen..., Kapitel 3, S. 37. Ebda.

Der Centraiverein für das Wohl der arbeitenden

Klassen

103

gänger Beuths. Seit 1832 betrieb er energisch die Mechanisierung der Fabrik und setzte sich auch in der Öffentlichkeit für die Benutzung von Dampfmaschinen ein. 1844 war er einer der Organisatoren der Gewerbeausstellung und gehörte zu den Gründern des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen; 1846 zum Stadtverordneten gewählt, trat er in die Armendirektion ein. Er unterhielt enge Beziehungen zum liberalen Flügel der evangelischen Kirche, ebenso sein Bruder Carl, der eine Stieftochter Schleiermachers geheiratet hatte. Eduard war langjähriges Vorstandsmitglied des Gustav-Adolf-Vereins, wo unter anderen auch der liberale Buchhändler Theodor Kampffmeyer, Sohn von Martin Mathias Kampffmeyer, mitarbeitete. Der dritte große Kattunindustrielle der Luisenstadt, Adolph Stephan, hatte mehrere Jahre lang als technischer Direktor in der Kattunfabrik von Dannenberger gearbeitet, um sich später, 1839, unter Mithilfe Dannenbergers unabhängig zu machen und seine eigene Fabrik, ebenfalls in der Luisenstadt, zu gründen. Stephan war von 1846 bis zur Reaktionszeit und später, seit 1862, jahrelang als Mitglied der Armenkommission 29 (Schlesisches-Tor-Bezirk) und in der 17. Schulkommission der Luisenstadt tätig, wie sein Sohn, der Chemiker Otto, der Ende der sechziger Jahren als Bezirksvorsteher fungierte. Marie Stephan, Fabrikbesitzerin (Frau oder Schwiegertochter Stephans), war für mehr als zwanzig Jahre Mitglied im Vorstand einer KKBA. Das Auftreten dieser drei Industriellen bedeutet ein Novum in der lokalen Verwaltung der sozialen Angelegenheiten der Luisenstadt: Zum ersten Mal sind moderne Industrielle daran beteiligt - Kaelbles Einschätzung als „mittlere" Industrielle ist in diesem Fall nicht ganz richtig, es gab zu dieser Zeit weder größere Fabriken noch größere in Fabriken investierte Kapitalvermögen in Berlin.74 Zwei der genannten Industriellen arbeiteten sowohl im Central- beziehungsweise Lokalverein als auch in den herkömmlichen Armenkommissionen. Der Konflikt, der damit gegeben war, zumal Goldschmidt 1846 auch in die Armendirektion eintrat, wurde vor allem in der Arbeit des Lokalvereins ausgetragen. Obwohl sich die Verbindungen zu den dort führenden Ideologen und Fabrikanten, etwa zu Runge und Wilhelm Kampffmeyer, nur indirekt belegen lassen - Runge übernahm auf zentraler Ebene im September 1848 mit Professor Kaiisch 74 Hartmut Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung ( - Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 40), Berlin-New York 1972.

104

III. 1844- Das Auftreten der Liberalen

die Redaktion der Mittheilungen des Centraivereins75 - , muß man sie voraussetzen und mit berücksichtigen. Centraiverein und

Lokalverein

Die Gleichzeitigkeit der Initiativen von Runge - im Januar 1844 Veröffentlichung einer Artikelserie über den Pauperismus in Berlin in der Vossischen Zeitung, Gründung des Bürgervereins, im April Kandidatur für die Stadtverordnetenwahl, im Herbst Gründung des Centraivereins und des Lokalvereins - und Hedemann - Gründung des Handwerkervereins - deutet auf eine politische Strategie der Bürgervereins-Partei in der Luisenstadt hin. Die Erfahrungen in den lokalen ehrenamtlichen Verwaltungsgremien, den Armenkommissionen und dem LWV, hatten offensichtlich Grenzen aufgezeigt, die die neue Generation von Honoratioren mit ihrer Initiative sprengen wollte. Der Berliner Lokalverein entstand aus dem Bürgerverein. Die enge Beziehung beider Vereine wird in einer von Ernst Wilhelm Kaiisch verfaßten Geschichte des Berliner Lokalvereins ausdrücklich betont.76 Im Bürgerverein hatte Kaiisch selbst Vorträge über Waisenpflege gehalten, die zur Gründung der Pestalozzistiftung durch den Lokalverein führen sollten.77 Nicht nur waren die Initiatoren beider Vereine immer dieselben Luisenstädter, sondern mehr noch: Als 1846 das Innenministerium das Statut definitiv ablehnte, übernahm der Bürgerverein selber einige der Projekte des Lokalvereins, unter anderem die Gründung der Pestalozzistiftung durch Diesterweg, Kaiisch und Lette. Reulecke schreibt, daß sich diese Stiftung in erster Linie der Waisenerziehung annahm, „darüber hinaus aber auch Mittelpunkt eines ganz Deutschland umfassenden Strebens nach einem reformierten Schul- und Erziehungswesen im Sinne Pestalozzis sein wollte". 78 Liest man Kalischs Vortrag, erhält man ein sehr viel umfassenderes Bild von den Absichten und Denkweisen dieser ersten Liberalen. Kaiisch verteidigt das Verfahren, Waisenkinder bei Familien in Pflege zu geben, statt sie im Waisenhaus zu lassen. Es seien, betont er, Müthetiungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, unveränd. Neudruck der Ausg. Berlin 1848-1858, Hagen 1980, S. 271. Ernst Wilhelm Kaiisch, Zur Geschichte des Berliner Lokalvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, in: Mittheilungen..., S. 93 f. 77 Mittheilungen..., S. 383 f. 7 8 J. Reulecke, Sozialer Frieden..., S. 185 f.

Centraiverein und Lokalverein

105

meist Armenfamilien, die solche Kinder annehmen, gelockt vom Pflegegeld und der Arbeitskraft des Kindes. Gerade deshalb sei die Aufnahme der Kinder in Armenfamilien vorzuziehen, da es den Kindern im Waisenhaus viel „zu gut" gehe. Dort würden sie gepflegt wie Kinder reicher Familien, ohne zu erfahren, wieviel Arbeit hinter dem gemachten Bett und dem gedeckten Tisch stünde, und wenn diese Wohltat zu Ende gehe, seien sie für das echte Leben völlig unvorbereitet: „Gewiss erinnert sich mit mir noch mancher von Ihnen, meine Herren, wie wir Kinder im Elternhause nach gesundem Schlafe am strengen Wintermorgen mit Eiszapfen vor dem Munde aufgewacht sind. Das darf die Familie wagen; das Waisenhaus aber läuft Gefahr, daß ihm zum Entsetzen aller mitleidigen Seelen eines schönen Morgens die Eiszapfen in die Zeitung ,eingesandt' werden." 79 An Proletarierfamilien übergeben, werden die Kinder „in die Zustände dieses Proletariats eingetaucht"80 und an Arbeit gewöhnt. Warum sollten sie es besser haben „als die Kinder der lebenden Eltern".81 Das Pflegegeld sollte nicht so kärglich sein, sondern so, daß man dafür Bedingungen stellen könne. Die Pestalozzistiftung sollte diesen Familien kontrollierend beistehen, durch Waisenerziehung zur Volkserziehung zu kommen, eine Erziehung allerdings, die „auf Grund der wirklichen Existenz"82 erfolgen müßte. Ohnehin sei oft die Schule für Kinder, die für das Arbeitsleben gemacht seien, unproduktives Herumsitzen. Im Grunde wurde im Bürgerverein die dezentrale Unterbringung der Waisen in Familien befürwortet, welche schon zunehmend praktiziert und durch die Waisenmütter des LWV kontrolliert wurde, ohne daß auf die kostensparende Komponente dieser Dezentralisierung hingewiesen worden wäre. Die Tätigkeit des LWV wird, was die Kontrolle des Schulbesuchs angeht, von Kaiisch an anderer Stelle ausdrücklich gelobt. Über die Kinder, die die Schule und die KKBA besuchten, könnte man auch die Eltern zu bürgerlichen Sitten erziehen: „Die Mütter schämen sich doch voreinander, den Schmutz des Hauses öffentlich an ihren Kleinen sehen zu lassen, oder sie werden von den Kindern selbst daran erinnert."83

Mittheilungen..., S. 389. A. a. O., S. 393. 81 Ebda. 79 80

82

A. a. O., S. 399·

83

E. W. Kaiisch,

Zur Geschichte...,

S. 103.

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III. 1844 - Das Auftreten

der

Liberalen

Bei dem Hauptprojekt des Lokalvereins, der Gründung einer Alters- und Invalidenkasse, ging es ebenfalls darum, die Kosten des Armenwesens für die Allgemeinheit zu senken und dabei einen erziehenden Einfluß auszuüben: „Die Commune hatte ja bisher die Verpflichtung, die durch Alter untauglich gewordenen Arbeiter zu erhalten, ohne daß diese, solange sie verdienen konnten, dazu etwas zurücklegten; jetzt will der Lokalverein einen solchen Weg zeigen, auf dem die Arbeiter an Sparsamkeit gewöhnt werden sollen, und zwar nicht allein, um sich damit zu helfen, sondern auch Andern."84 Der Plan sah vor, mit Arbeiter-, Fabrikanten- und Gemeindebeiträgen eine Altersversicherung zu gründen. Neu ist in der Diskussion die Erwägung, die Arbeiter zur Teilnahme eventuell verpflichten zu können. Der Kattunindustrielle Eduard Goldschmidt äußerte Bedenken: Ohne regelmäßige Arbeit gebe es keine regelmäßigen Beiträge, und wie solle man sich Arbeitern gegenüber verhalten, die zwischenzeitlich Berlin verlassen und jahrelang die Beitragszahlungen unterbrochen hätten und die dann wieder zurückgekehrt seien? Sein Kollege Stephan sprach sich für den Plan aus, sei doch die „Assecuranz das einzig heilsame aller Lottospiele, indem der Beitragende allemal gewinnt".85 Die ernsthafteste Kritik kam von Karl Rodbertus, der unter anderem zu bedenken gab, daß die „heutigen Arbeitslöhne" 86 keine Mittel dazu böten. Nach den Märzereignissen des Jahres 1848 lud Adolf Diesterweg sofort die ehemaligen Komiteemitglieder zur Neukonstituierung des Lokalvereins ein. Der Vorstand des Bürgervereins unterschrieb dabei einen „Aufruf an die Bürger und Bewohner Berlins". Unter anderen waren Runge, Zacharias und Hamann, die Professoren Ernst Wilhelm Kaiisch und Adolf Schmidt, die Fabrikanten Kampffmeyer und Stephan vertreten. Für die Interessenidentität von Central-, Lokal- und Bürgerverein spricht auch folgende Tatsache: Bernstein berichtet, daß der Bürgerverein im April 1848 eine Petition an den Magistrat gerichtet habe, um ein „Einschreiten gegen die Arbeitseinstellungen" zu fordern, die weiter nichts als „Landzwang" seien.87

84

Gutachten des Vorstandsmitglieds A. Sußmann, in: Mittkeüungen..S. 464. A. a. O., S. 466, die Äußerungen Goldschmidts auf S. 462. 86 A. a. O., S. 487. 87 E. Bernstein, Die Geschichte..., S. 22-23; J. Reulecke, Sozialer Frieden..., S. 185, Anm. 178. 85

Centraiverein und Lokalverein

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Vorsitzender des Lokalvereins wurde im Oktober 1848 Dr. Julius Waldeck, und Heinrich Runge übernahm das Amt des Schriftführers. Andere Mitglieder waren der Kaufmann David Born, ein Bruder von Stephan Born, der Buchhändler Franz Duncker, Bruder des Stadtrats und Vorstandsmitglieds des Centraivereins Hermann Duncker, und Dr. Ries, 1848 Nachfolger Hedemanns als Vorsitzender des Handwerkervereins. 88 Das Komitee nahm fünf Arbeitervertreter in seine Reihen auf, um zu zeigen, daß „die Verbesserung des sittlichen und wirtschaftlichen Zustandes der arbeitenden Klassen nur unter thätiger Mitwirkung derselben" 89 möglich sei. Der Lokalverein strebte die Bildung von Bezirksvereinen an und setzte, wie Reulecke betont, „besonders optimistisch"90 die vorhandenen Wahlbezirke mit den Bezirken des Vereins gleich. In der Tat muß man darin weniger Optimismus und mehr die fehlende Phantasie des Lokalvereins sehen. Waren ohnehin anfangs die meisten Armenkommissionen auf der Basis der Wahlbezirke errichtet worden und zum Teil mit ihnen identisch oder eine Unterteilung derselben, so kann man annehmen, daß der Lokalverein für seine Lokalbezirke einfach diese flächendeckende räumliche Organisation imitieren wollte. Es bildeten sich nur wenige Bezirksvereine, von denen sich wiederum nur wenige als lebensfähig erwiesen. Sie sollten erst in den sechziger Jahren, nach der Reaktionszeit, ihre Tätigkeit entfalten (siehe unten). Der Lokalverein engagierte sich mit einer Reihe von Initiativen, um die Lebensverhältnisse der unteren Schichten zu verbessern. Er gründete Vorschußvereine und ließ von einigen Bäckermeistern Brot mit Einheitsgewicht und von kontrollierter Qualität produzieren, organisierte Unterricht für Erwachsene, insbesondere in Fremdsprachen, die von Auswanderungswilligen sehr zahlreich besucht wurden, und kooperierte mit der Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft von W. C. Hoffmann. 91 Der Lokalverein trat im selben Jahr mit einer Eingabe an das Polizeipräsidium für die Abschaffung der Kellerwohnungen ein und eröffnete damit die liberale Kampagne für die Wohnungshygiene, die allerdings erst in den siebziger Jahren ihre volle Kraft erreichte. 92 A a. o., s. 186 f. ^ Ebda. 88

90

Α. α . Ο., S. 187.

91

Α. α . Ο., S. 1 8 9 f.

92Mittheilungen...,

S. 2713.

III. 1844- Das Auftreten der Liberalen

108

Mit dem Einsetzen der Reaktionszeit wurden die Aktivitäten für den Lokalverein zunehmend schwierig. Julius Waldeck, sein Vorsitzender, wurde im Mai 1849 verhaftet und zu drei Monaten Gefängnisstrafe verurteilt. Der Lokalverein galt ohnehin, anders als der Centraiverein (worin er den rheinischen Lokalvereinen ähnelte), dem Polizeipräsidenten von Hinckeldey als Sammelpunkt von Menschen der „entschiedensten sogenannten demokratischen Richtung".93 Es erging ihm also kaum besser als dem Gesundheitspflegeverein, der von Stephan Borns Arbeiterverbrüderung im Mai 1849 gegründet worden war und 1853 geschlossen wurde. 94 Auch der Lokalverein erlag „alsbald der Ungunst der Verhältnisse".95

Die Liberalen und die Armenkommissionen Die Liberalen blieben weiterhin in den Armenkommissionen ihrer Bezirke, wie die später zu Beginn der Reaktionszeit einsetzenden Massenaustritte zeigend Die gleichen Personen - zum Beispiel Kaiisch, einige Mitglieder der Familie Kampffmeyer, Goldschmidt, Stephan - arbeiteten sowohl in den traditionellen lokalen Strukturen als auch in den neuen, sie organisierten also am Ort ein differenziertes Angebot für eine Klientel, die es ihrerseits zu differenzieren galt. Der Lokalverein verstand sich als Hilfe für die lokalen sozialen Strukturen am Ort; „in einer Stadt, wo Flur und Treppe zur Straße geworden, auf der die Bewohner, die einander fremd vorübergehen (sie!), und den Hausbesitzer ... nur als ruhige und zahlungsfähige Mieter interessieren, wo die dienenden Klassen nicht mehr Hausgenossen, sondern für Lohn- und Kostgeld Beamte ihrer Herrschaften sind", 97 will der Lokalverein den Armenkommissionsmitgliedern beistehen; diese sind „bei der Prüfung der einzelnen Nothzustände und in der Beurtheilung der Mittel zu ihrer Abhülfe Irrthümern und Mißgriffen ausgesetzt". 98 93

J. Reulecke, Sozialer Frieden..., S. 239 f. Hinckeldey schrieb dies im Januar 1850. A. a. O., S. 241. In der Zeit seines Bestehens waren von diesem immerhin 28 000 Personen auf Vereinskosten ärztlich behandelt worden und hatten während rund 250 000 Tagen 60 000 Taler Krankengeld von ihrer Kasse erhalten. 95 J. Reulecke, Sozialer Frieden..., S. 243 (zitiert nach einer von Lette 1863 verfaßten Geschichte des Centraivereins). siehe unten FÜNFTES KAPITEL. 94

97

98

E. W. Kaiisch, Zur Geschichte..., S. 98.

A. a. O., S. 97.

Die Liberalen und die Armenkommissionen

109

Sie helfen also in einigen Fällen zu viel, in anderen zu wenig. Das um so mehr, als es immer weniger Hausbesitzer gebe, die, wie hier weiter geklagt wird, „ein Herz für die Leiden" ihrer Mieter hätten und eine Informations- und Kontrollfunktion für die Armenkommissionen ausübten. Die Strategie des Centraivereins war im Unterschied zum Vorgehen der Armenkommissionen ausgesprochen innovativ. Statt aufgrund genauer und unmittelbarer Kenntnis Zuwendungen zu verteilen, die gleichermaßen den zeitweise Arbeitslosen wie den chronisch Hilfsbedürftigen zugute kamen und das zum Überleben nötige Minimum an Unterhalt garantierten, setzten Central- und Lokalverein auf die Verbreitung des Sparens und versuchten, die vorübergehend Arbeitslosen dafür empfänglich zu machen, in Zeiten der Beschäftigung für die Zeiten der Krise zu sparen. Es handelte sich vor allem darum, Handwerker und Arbeiter, die von ihrer Hände Arbeit lebten, zur Vorsorge zu erziehen. Zu Vorsorge und Selbsthilfe gehörte das Sparverhalten in allen seinen Varianten. Wie Kaelble formulierte, handelte es sich darum, die „sozialen Verhaltensweisen der Arbeiter zu b e e i n f l u s s e n " . ^ Es ging darum, einen anderen Träger - möglichst den potentiellen Armen selbst - für die sozialen Ausgaben zu finden. Die Liberalen um Runge waren nicht mehr bereit, im Namen eines ohnehin verlorenen Gemeinsinns die sozialen Kosten wie bisher von der Gesamtheit tragen zu lassen. Die liberalen Industriellen verlagerten deshalb den Schwerpunkt ihrer sozialen Aktivitäten auf die Bildung, was sich in späteren Jahren in der Gründung von Bezirksvereinen zeigte. Auf der gleichen Linie hob der luisenstädtische Armenarzt Salomon Neumann, 100 Mitglied des Centraivereins, in dessen Mittheilungen die positiven Auswirkungen der Familien-Gesundheitspflege-

99

H. Kaelble, Berliner Unternehmer..., S. 179. Salomon Neumann (1819-1908), als Sohn eines jüdischen Kleinhändlers in Berlin geboren, seit 1845 Armenarzt, hatte 1847 das Buch Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum veröffentlicht und sich neben Virchow für eine medizinische Reform eingesetzt. 1849 arbeitete er im Gesundheitspflegeverein von Born mit. Er war der Begründer der Medizinalstatistik in Berlin, Mitherausgeber des Monatsblatts für Medizinische Statistik und öffentliche Gesundheitspflege, gehörte der Stadtverordnetenversammlung bis 1905 an und wurde später auf Grund seiner Verdienste Ehrenbürger Berlins. Vgl. Rolf Winau, Medizin in Berlin, Berlin-New York 1987, S. 164 ff. 100

110

III. 1844- Das Auftreten der Liberalen

Vereine, das waren Krankenkassen auf Freiwilligkeitsbasis, hervor und erklärte, daß die beständigsten unter ihnen diejenigen seien, die nur auf den Beiträgen der Mitglieder und nicht auch auf Wohltätigkeit basierten.101 Man begrüßte deshalb in den Mittheilungen die Gründung der „Arbeiterverbrüderung" durch Stephan Born. Sein Bruder David, ein erfolgreicher Kaufmann jüdischer Herkunft, der den Bruder zeitweise in seinem Hause Unter den Linden beherbergte, war, wie schon bemerkt, eines der aktivsten Mitglieder des Berliner Lokalvereins. Dieser Zusammenhang ist nicht weiter erstaunlich, da die Liberalen in Stephan Born einen Organisator der Massen sahen, der imstande sei, sie zu mäßigen, wie Born selber am 11. Mai 1848 an Marx schrieb.102 Derselbe Stephan Born hatte andererseits 1845 anonym eine den Centraiverein hart kritisierende Broschüre herausgegeben, in der er ihn beschuldigte, dem Volk nur Brosamen und Moral zu geben: „Wollt ihr uns die Sittlichkeit verleihen, die in euern Salons, in euern geheimen Boudoirs herrscht? Wollt ihr uns mit der Albernheit eures steifen Zermoniells beglücken?"103 Dem „Zynismus" der Reichen stellt er die treue Hingabe des armen Mannes an Familie, Glaube und Vaterland entgegen. Born begnügte sich allerdings damit, in dieser Schrift die Notwendigkeit einer kulturellen Hebung des Proletariats durch sich selbst zu propagieren. Im gleichen Verlag erschien wenige Monate später eine Broschüre von Julius Behrends, in der dieser feststellte, der Verein könne nur dann Erfolg haben, wenn er dazu beitrage, die Klassen- und Korporationsgrenzen zu überwinden; er schlug zukunftweisend und ganz im Einklang mit dem Altersversicherungsplan des Lokalvereins die Errichtung eines Versicherungsinstituts für die unteren Klassen zum Zweck der Vorsorge und des Sparens vor. Auch er teilte die Ideen des Handwerkervereins und dessen Anspruch, zur Selbsttätigkeit und zum Sparen zu erziehen.

101

Salomon Neumann, Gesundheitspflege. Bericht über die in Berlin Familien-Gesundheitspflege-Vereine, in: Mittheilungen..., S. 2099 f. 102 w Friedensburg, Stephan Born.., S. 94. 103 A. a. O, S. 14.

bestehenden

Exkurs: Vom Verein zum „ Verfahren "

111

Exkurs: Vom Verein zum „ Verfahren" Es war oben davon die Rede, wie aus der Tätigkeit des Luisenstädtischen Wohlfahrtsvereins 1846 die Schulkommissionen entstanden, die sich wie die Armenkommissionen aus einem Vorsitzenden und ehrenamtlichen Mitgliedern zusammensetzten. In ihnen war der Zweck, den sich der Luisenstädtische Wohlfahrtsverein aus eigenem Antrieb gesetzt hatte, institutionalisiert. Er wurde öffentlicher Dienst und auf die ganze Stadt ausgedehnt. Die Armenkommissionen waren ihrerseits nichts anderes als die Institutionalisierung des dreißig Jahre früher entstandenen Systems der Hamburger Patriotischen Gesellschaft. Schon vor dem Bruch in den vierziger Jahren hatten private Vereine die Lösung von Problemen wie Armenfürsorge, Ausbildung und Krankenversorgung in die Hand genommen, weil der Staat dies nicht vermochte. 104 Die Auflösung der korporativen Abhängigkeiten, die im 18. Jahrhundert begann und im ALR ihren rechtlichen Boden fand, wurde im 19· Jahrhundert vom Staat nicht in angemessener Weise fortgeführt. So waren zum Beispiel noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Grundbesitzer verpflichtet, den Schulbesuch der auf ihrem Grundbesitz lebenden Kinder zu garantieren. Dieselbe paternalistisch-korporative Logik regierte auch die öffentlichen Funktionen, die an den Hausbesitz gebunden waren. Die Hausbesitzer waren für die Richtigkeit der Wählerlisten verantwortlich, also für die fiskalische Kontrolle ihrer Mieter - ganz in einer Traditionslinie, die sie als Hausväter sah, als die kleinste Machtzelle des korporativen Staates. Derselbe Staat, der in der Gesetzgebung bereits am Ende des 18. Jahrhunderts die korporativen Bindungen reduzierte und an die Stelle der häuslichen Dienste den Begriff des freien Vertrages setzte, sah sich aus Finanzgründen gezwungen, auf korporative Verhaltensweisen zurückzugreifen.

104

Zur Privatwohltätigkeit als „stellvertretend-vorwegnehmende Sozialstaatlichkeit" vgl. Burkhard Müller, öffentliche Kleinkindererziehung, Weinheim 1989, S. 47 f., und Jürgen Reyer, Die Rechtsstellung und der Entfaltungsraum der Privatwohltätigkeit im 19. Jahrhundert in Deutschland, in: Rudolph Bauer (Hrsg.), Die liebe Not. Zur historischen Kontinuität der „Freien Wohlfahrtspflege", Weinheim-Basel 1984, S. 28 f., der von einem „Auftragsverhältniß zwischen Staat und Privatwohltätigkeit" spricht (a. a. O., S. 47). Um einen komplizierteren Vorgang als einen „Auftrag" handelte es sich in der Tat, wie das luisenstädtische Beispiel Zeigte.

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III. 1844- Das Auftreten der Liberalen

So wurde auf rechtlichem Gebiet 1827 in Preußen das neue Amt des Schiedsmannes eingeführt. Obwohl die Einrichtung in Berlin vom Magistrat geschaffen wurde, ging es darum, die staatlichen Gerichte zu entlasten und damit die Aufwendungen für zusätzliche Richterstellen einzusparen. 105 1814 kamen in Berlin auf 150 000 Einwohner 127 Polizisten, 1848 auf 400 000 Einwohner 204.106 Wer sollten die Träger der öffentlichen Ordnung, des Armenwesens, der Kontrolle des Schulbesuchs, der Errichtung von Schulen usw. sein? In den ehrenamtlichen Gremien vermischten sich liberale Überzeugungen und typisch korporative Funktionen, Paternalismus und Moderne, was als Beweis für die Schwierigkeit des Übergangs von einem ökonomisch-sozialen System zum nächsten angesehen werden kann. Der bürgerliche Impuls, der die Honoratioren dazu veranlaßte, ihre freie Zeit in Armen- und Schulkommissionen, in den Vorständen von Kinderbewahranstalten, Hospitälern, Waisenhäusern usw., im Lokalverein und in den Arbeiterbildungsvereinen des Centraivereins zu verbringen, hatte paradoxerweise ein Doppelgesicht: ein Eintreten für die lokale Autonomie und für die Modernisierung der bürgerlichen Gesellschaft stand in der besten Tradition korporativer Verantwortlichkeit. Nur nach und nach wurden die von freiwilligen Vereinen getragenen Aktivitäten institutionalisiert. Dazwischen gab es eine lange Phase der Spezialisierung von Vereinen und einer Zusammenarbeit von Vereinen und Armenkommissionen, die schon dadurch zustande kam, daß ihre Mitglieder teilweise identisch waren. Für diese Übergangsformen gibt es zahlreiche Beispiele. Der Verein für Haltekinder, der in Zusammenarbeit mit den Armenkommissionen die Behandlung der in privaten Familien untergebrachten Waisenkinder kontrollierte, übernahm in systematischer Weise eine Aufgabe, die bereits Mitte der dreißiger Jahre von den Frauenvereinen begonnen worden war. In diesen schlossen sich die Frauen und Töchter der Vorsitzenden der Armenkommissionen zusammen. Mit den Armenkommissionen arbeiteten andererseits Frauen- und Männervereine zusammen, die sich mit Krankenbesuchen befaßten, und der Frauenverein, der das von Goßner geleitete Elisabeth-Hospital in der Nähe der Potsda105

W. M. Frh. v. Bissing, Das Ehrenamt.., S. 20. Reinhart Koselleck, Die Auflösung des Hauses als ständische Herrschaftseinheit, in: Neithard Bulst/Joseph Goy/Jochen Hoock (Hrsg.), Familie zwischen Tradition undModeme, Göttingen 1981, S. 109 f-

Exkurs: Vom Verein zum „ Verfahren "

113

mer Straße gründete, ließ sich von den zuständigen Armenkommissionen unmittelbar die Zuwendungen für die Bedürftigen auszahlen, solange diese sich im Krankenhaus aufhielten. Die freien Vereine sind nicht nur Versuche, die inzwischen unbeweglich und paternalistisch wirkenden Armenkommissionen durch flexiblere Handlungsformen zu überholen. Sie sind freie Experimentierfelder für Institutionen, die erst erfunden werden müssen, um Antworten auf neue gesellschaftliche Probleme zu finden. Hier besetzen die mit öffentlicher (Verwaltungs-)Macht ausgestatteten Honoratioren und deren freie Vereine Räume, die von Staatsintervention noch unberührt sind, und tragen zur Ausbildung öffentlicher Verfahren bei, die von den sich dadurch modernisierenden öffentlichen Verwaltungsapparat übernommen werden. Eine Spannung zwischen den verschiedenen Gremien, die an diesen Experimenten teilnehmen, darf vorausgesetzt werden. Auf die Verhärtung der ehrenamtlichen institutionellen Praxis der Kommissionen im Gegensatz zu den Auffassungen der liberalen Schicht ihrer Mitglieder reagieren diese durch ein Ausweichen auf die zielstrebigere Vereinsarbeit. So entsteht eine kontinuierliche Entwicklung. Die jeweiligen neuen Experimente der Vereinsarbeit gehen dann wieder in neue kommunale Verfahren über.

VIERTES KAPITEL

Die konservative Offensive

Friedrich Wilhelm IV. und die Luisenstadt Die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. 1840 fiel mit einem entscheidenden Entwicklungsdatum der Luisenstadt zusammen, dem endgültigen Beginn der Separation des Köpenicker Feldes. Aus dem innerstädtischen Ackerland der Luisenstadt wurde das größte Berliner Stadterweiterungsgebiet dieser Jahrzehnte. Damit war es nötig geworden, einen endgültigen Bebauungsplan festzusetzen. Im Zusammenhang mit diesem trat der König in Aktion, und zwar mit der Absicht, über den Bebauungsplan diesen neuen Stadtteil nach seinen Vorstellungen mitzugestalten. Friedrich Wilhelm IV. hatte sehr viel mehr Interesse an Religion und Kunst als an politischem Handeln, als er den Thron bestieg. Im Hinblick auf die Luisenstadt hatte der neue König genaue künstlerische und religiöse Vorstellungen, die er schon in der Kronprinzenzeit entwickelt hatte. Der Luisenstadt muß er sich persönlich besonders verbunden gefühlt haben, war sie doch nach seiner Mutter benannt. Ein familiärer Bezug wurde später auch durch die Straßennamen Waldemarstraße und Adalbertstraße - nach Brüdern des Königs - hergestellt, sowie Mariannenplatz, der nach jener Tante benannt war, die bei ihm die Mutterstelle übernommen und ihn mit ihrem Pietismus entscheidend beeinflußt hatte. Seine Pläne sollten sich über alle Etappen des Scheiterns hinweg in zwei großen repräsentativen Bauten konkretisieren, dem Diakonissenmutter- und Krankenhaus Bethanien und der Jakobikirche. Beide sind als eine konservative Offensive gegen das traditionelle Netz der sozialen Strukturen des Viertels, gegen das System der Selbstverwaltung durch die Honoratioren am Ort zu interpretieren.

Friedrich

Wilhelm IV. und die Planung

der Luisenstadt

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Friedrich Wilhelm, IV. und die Planung der Luisenstadt Eine Konstante der Persönlichkeit Friedrich Wilhelms IV. war seit seiner Jugend die Leidenschaft für Architektur.1 Er soll gelegentlich geäußert haben: „Wenn wir (er meinte sich und seine Brüder) als Söhne eines einfachen Beamten zur Welt gekommen wären, so wäre ich Architekt geworden, Wilhelm Unteroffizier, Albrecht ein Trinker und Karl wäre ins Zuchthaus gekommen."2 Die Beschäftigung mit Architektur war für ihn viel mehr als nur ein Hobby. Auch als König, berichtet der „Architekt des Königs"3 Ludwig Persius in seinen Tagebüchern, kämpfte Friedrich Wilhelm IV. gegen die Langeweile der Ministerialkonferenzen, indem er unentwegt architektonische Skizzen anfertigte. Varnhagen von Ense berichtet in seinen Tagebüchern, daß der König Minister warten und Regierungsfragen offenließ, um planend „mit dem Gartendirektor Lenné im Zimmer lässig auf und ab"4 zu gehen. Der architektonische Nachlaß bestätigt das. Es ist kürzlich bemerkt worden, daß in der Persönlichkeit Friedrich Wilhelms IV. religiöses Bewußtsein, manische Kunst- und Architekturbegeisterung und politische Ideologie ein schwer zu entwirrendes Ganzes bildeten.5 Seine Denkform war wie die der Romantik bildlich-assoziativ.6 Architektur diente ihm als Visualisierung seiner 1

Ludwig Dehio, Friedrich Wilhelm IV., ein Baukünstler der Romantik, München 1961; Eva Börsch-Supan (Hrsg.), Ludwig Persius. Das Tagebuch des Architekten Friedrich Wilhelms IV., München 1980. 2 Gerd-Η. Zuchold, „Es sey nur gerade so, wie damals gebaut worden, ivieder zu bauen...". Die Kirchenreformpläne Friedrich WilhelmsIV. Bedeutung, Ziel, Wirkung, in: Sonderdruck zum 23. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin, Juni 1989, S. 2. 3 E. Börsch-Supan, Ludwig Persius... 4 Karl August Varnhagen von Ense, Tagebücher, aus dem Nachlaß neu verlegt, Bern 1972, Bd. 3, S. 18 (Januar 1845). In einer Eintragung vom Februar 1844 berichtet Varnhagen von der Begegnung eines seiner Bekannten mit Lenné. Auf die Frage: „Was machen Sie denn?" antwortete Lenné: „Projekte, nichts als Projekte, jeden Tag ein neues, der König ist unerschöpflich, eins jagt das andre", a. a. O., Bd. 2, S. 259In einer Eintragung vom August 1843 berichtet er über eine heftige Auseinandersetzung Zwischen dem König und Lenné, die sich an stadtplanerischen Fragen entzündete, a. a. O., Bd. 2, S. 204. 5 David E. Barclay, König, Königtum, Hof und preußische Gesellschaft in der Zeit Friedrich Wilhelms IV., in: Otto Büsch (Hrsg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit, Berlin 1987, S. 1 f. ^ Frank-Lothar Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik Berlin 1990, S. 112.

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gesellschaftlichen Reformpläne. Der König war aber viel zu sehr selber Architekt, um in ihr nur eine dienende Funktion zu sehen. Er brauchte ebenso die religiösen und sozialpolitischen Aufgaben, um seine architektonischen Entwürfe mit Inhalt zu füllen. Er ist in der Tat die Schlüsselfigur der preußischen Architektur nach Schinkel gewesen, seinen ausführenden Architekten Persius, Stüler, Stier, Soller und anderen weit überlegen.7 Ebenso stark und ernstzunehmen war sein Interesse an stadtplanerischen Fragen. Hier ist sein Eingreifen mit dem Namen Peter Joseph Lennés verbunden. Der Potsdamer Gartenbaudirektor wurde erst durch Friedrich Wilhelm IV. in diktatorischer Weise, unter Umgehung der zuständigen Behörde, mit der Planung zunächst der beiden Brennpunkte der Stadtentwicklung betraut, die den kurz vor der Thronbesteigung stehenden Kronprinzen am meisten interessierten: das Moabiter Exerzierplatzgelände und das Köpenicker Feld und danach die Planung der Erweiterung Berlins überhaupt. 8 Das Interesse für das Köpenicker Feld hatte Friedrich Wilhelm bereits seit 1834 durch eigene Planungen bewiesen. Das Köpenicker Feld war in der Zeit seiner Jugend, den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, neben dem Stralauer Viertel das einzige unbebaute Gebiet innerhalb der Stadtmauer. Es handelte sich noch weitgehend um Ackerland. Unweit des Stadtzentrums gelegen und an der Spree entlang verlaufend, schien es ungewöhnliche städtebauliche Möglichkeiten für die Planung eines vorbildlichen neuen Stadtteils zu bieten. Dem stand allerdings dreierlei entgegen: die vorhandene Luisenstadt, die sich mit einer Bebauung aus dem 18. Jahrhundert zwischen die Innenstadt und das offene Feld schob, der von Friedrich Wilhelm III. genehmigte Bebauungsplan von 1826 und die ausstehende Separation des Ackerlandes. Die drei Hindernisse waren eng miteinander verknüpft, wobei die Separation das entscheidende Problem bildete. Die Geschichte der Separation des Köpenicker Feldes, also der noch nicht urbanisierten 7

Dieter Hoffmann-Axthelm, Bethanien. Eine historische Anmerkung zum Verhältnis von Architektur und Ideologie, in: Sonja Günther/Dietrich Worbs (Hrsg.), Architektur-Experimente in Berlin und anderswo. Für Julius Posener zum 85- Geburtstag, Berlin 1989, S. 138 f. ® Ulrich Reinisch, Stadtplanung im Konflikt zwischen absolutistischem Ordnungsanspruch und bürgerlich-kapitalistischen Interessen - Peter Joseph Lennés Wirken als Stadtpkmer von Berlin, in: Peter Joseph Lenne. Gartenkunst im 19- Jahrhundert. Beiträge zur Lenne-Forschung, Berlin-München 1992, S. 34 ff.

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Luisenstadt, erstreckte sich über mehrere Jahrzehnte.^1 Sie muß hier trotz ihrer Kompliziertheit in ihren Grundzügen skizziert werden, um die Stadtplanung in ihrer Geschichte und die Versuche Friedrich Wilhelms IV., sie in andere Bahnen zu lenken, verstehen zu können. Die Separation des Köpenicker Feldes, also die Umwandlung der genossenschaftlich bewirtschafteten, mit uralten Servituten belasteten Äcker in privates Land, oblag einer rein agrarischen Behörde, der General-Kommission für die Kurmark zur Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse, und war vom Antrag der Ackerbesitzer abhängig. Der Antrag auf Separation, die vor allem die Teilung des Gemeinlandes implizierte und daher attraktiv war, wurde für das Köpenicker Feld 1822 gestellt. 10 1823/24 brachte Bürgermeister von Bärensprung die Diskussion mit den zuständigen staatlichen Behörden, dem Innenministerium, dem Polizeipräsidenten und der Oberbaukommission über einen Bebaungsplan in Gang. Er begriff als erster die systematische „Verklammerung von Separation und Herstellung eines Bebauungsplans". 11 Erstes Ergebnis war der Mandel-Plan, der anspruchslose Versuch, sich an die vorhandenen Feldergrenzen anzupassen. 12 Dieser „Magistratsplan" rief allerdings Unzufriedenheit und Kompetenzkonflikte hervor, so daß der Innenminister 1824 den Baurat Schmid von der Oberbaudeputation mit einer neuen Planung beauftragte. Durch eine Kabinettsorder des Königs vom 9- Juli 1825, mit der Friedrich Wilhelm III. positiv auf einen von Bärensprung an den Staat gerichteten Appell reagierte, wurde jede Neubebauung auf dem Köpenicker Feld untersagt beziehungsweise von dem Nachweis der Unschädlichkeit des Bauvorhabens für die zukünftige Durchführung des Planes abhängig gemacht. 1826 wurde Schmids Bebauungsplan, der gegenüber Mandel einige neue Plätze und vor allem die Anlage eines Kanals zur Entwässerung und Versorgung des Gebietes vorsah, genehmigt. 13

D. Hoffmann-Axthelm, Preußen..., Kapitel 7, S. 11 f. A. a. O., Kapitel 6 und 7. 11 A. a. O., Kapitel 7, S. 13. 1 2 Manfred Hecker, Die Luisenstadt. Ein Beispiel der liberalistischen Stadtplanung und baulichen Entwicklung Berlins zu Beginn des 19- Jahrhunderts, in: Berlin zwischen 1789 und 1848. Facetten einer Epoche, Ausstellungskatalog der Akademie der Künste Berlin, Berlin 1981. 13 Ebda. 9

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Die geplanten Straßen wurden jetzt zwar abgesteckt, aber nicht gebaut, und ebensowenig kam die Separation voran, da die Grundeigentümer, die durch die Separation ja mehr Land und nicht weniger erhalten wollten, in dieser Form nicht an ihr interessiert waren. Es fehlten die wirtschaftlichen Voraussetzungen, um sie voranzutreiben: Stadtwachstum und die damit verbundene Bauspekulation.14 Das Mißverhältnis verschärfte sich bei der Übertragung des Verfahrens auf die gesamte Umgebung Berlins, so daß die letzte Abteilung des Schmidschen Bebauungsplans nicht mehr genehmigt wurde. Dabei ging es nicht einfach um praktische Schwierigkeiten, sondern um eine Krise des aus den Steinschen Reformen hervorgegangenen Verfahrens eines Interessenausgleichs zwischen Staat und bürgerlichen Eigentümern. Das Jahr 1834 bildet hier die entscheidende Wende. Der SchmidPlan entstand im Zusammenspiel von Magistrat, liberalem Ministerium (von Schuckmann) und dem altliberalen Beamtentum. 1834 starb von Schuckmann, und sein konservativer Nachfolger von Rochow begann mit der Ausarbeitung einer autoritären Lösung. Wenn Friedrich Wilhelm III. 1836 die Bildung einer neuen Kommission verfügte, die einen weiteren Bebauungsplan aufstellen sollte, so war das der Ausdruck dieser konservativen Wende, vielleicht aber auch bereits der Intervention des Kronprinzen. Dieser hatte 1834 in die festgefahrene Situation eingegriffen und eigenhändig eine Planung vorgelegt, die Schinkel Anfang 1835 einer vernichtenden Kritik unterzog - „in seiner Vernachläßigung der vorhandenen Anlagen und Eigentumsstrukturen sei er [der Plan Friedrich Wilhelms, L. S.] nicht finanzierbar, und in seinem Allgemeinheitsgrad, aufgrund der Konzentration auf eine beherrschende städtebauliche Figur, kein für die städtische Durchbildung des Geländes geeignetes Instrument".15 Die 1836 eingesetzte Kommission verwarf ihrerseits 1837 den Entwurf des Kronprinzen. Vermutlich gekränkt in seinem stadtplanerischen Ehrgeiz, handelte der Kronprinz jetzt unabhängig von Verfahrensregeln und Kompetenzabgrenzungen und beauftragte Peter Joseph Lenné mit der Planung.16 Lenné legte schon am 1. Januar

14

D. Hoffmann-Axthelm, Preußen..., Kapitel 7, S. 20.

Paul Ortwin Rave, Karl Friedrich Schinkels Lebenswerk. Stadtbaupläne, Brükken, Straßen, Tore, Plätze, Berlin 1948, S. 28. 16 U. Reinisch, Stadtplanung..., S. 44 f. 15

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1840, also noch vor der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV., einen neuen Bebauungsplan für das Köpenicker Feld vor, der sich eng an die Pläne des Kronprinzen anlehnte. Die Absicht des Kronprinzen war es, „der Luisenstadt eine eigene, und möglichst starke städtebauliche Zentrierung zu geben". 17 Dazu diente eine riesige Rundplatzanlage im südlichen Teil des Köpenikker Feldes, von der acht Achsen ausgehen sollten, während die Behandlung des nach Westen und damit in das bebaute Gebiet der Luisenstadt verlagerten Kanals die Handschrift Lennés verrät. Lenné mußte sich aber schnell davon überzeugen, daß dieser Plan aus eben den Gründen, die schon Schinkel genannt hatte, undurchführbar war. Er nahm mit dem Separationskommissar Naunyn Fühlung auf und legte daraufhin 1841 den endgültigen Plan vor, der sich, den Gegebenheiten entsprechend, wieder dem Schmidschen Plan annäherte. Der Kanal wurde nach Osten zurückverlegt. Statt des einen Rundplatzes entstand die Reihung von Moritz-, Oranien- und Heinrichplatz und als abgewandelter Ersatz im östlichen Teil des Feldes im Zusammenhang mit der großen Kanalbiegung der in der Achse der Kanaleinfahrt liegende langestreckte zweite Kirchplatz, der heutige Mariannenplatz. Das rasche Einschwenken Lennés hatte einen klaren Grund. Inzwischen waren zwei Jahrzehnte vergangen, und „jene Verwertungsdynamik, die 1826 noch unvorstellbar war",18 machte sich auch in Berlin bemerkbar: Das einsetzende Bevölkerungswachstum, also eine wachsende Nachfrage nach Wohnungen, ließ eine kapitalistische Verwertung des Bodens in Reichweite erscheinen. Eine symbolische Überhöhung, wie sie sich Friedrich Wilhelm mit seinem Plan von 1834 vorgenommen hatte, enthielt die realisierte Planung allerdings nicht mehr. Daß der König das als Mangel empfand, geht aus Lennés Plan von 1841 hervor. Dort findet sich als östlicher Fluchtpunkt für die Bebauung des Geländes das in eben diesen Jahren geplante neue Zellengefängnis eingetragen. Zu diesem Zeitpunkt war also noch nicht entschieden, daß Moabit Standort des Gefängnisses sein sollte, und es wurde überlegt, mit diesem geplanten Monumentalbau der erweiterten Luisenstadt das bislang fehlende Zentrum zu geben.

17

18

D. Hoffmann-Axthelm, Preußen...,

Ebda.

Kapitel 7, S. 22.

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Die soziale Frage im Bewußtsein der Konservativen 1847 veröffentlichte Otto von Gerlach, Mitglied jener Umgebung Friedrich Wilhelms IV., die die „Kamarilla" genannt wurde, in eigener Übersetzung in Berlin eine Schrift von Thomas Chalmers über den Kampf der schottischen Kirche gegen den Pauperismus. 19 Der Erfolg von Chalmers hatte darin bestanden, daß es ihm in einer der ärmsten Parochien von Glasgow gelungen war, die Gesamtkosten für den Unterhalt der Armen zu senken, indem er das Gemeindeleben reorganisierte. Nicht nur besuchten die bessergestellten Gemeindemitglieder die Armen in ihren Häusern, auch die Armen selber halfen sich untereinander, wobei die anonyme staatliche Hilfe durch persönliche Beziehungen zu den bedürftigen Familien ersetzt wurde. Gerlach kannte die englischen Verhältnisse gut; 1842 war er Mitglied einer offiziellen Delegation, die Friedrich Wilhelm IV. beauftragt hatte, die neuen kirchlichen Einrichtungen des Landes zu studieren. 20 Er schrieb zwar über das Glasgower Experiment, hatte aber, wie aus der Einleitung und den Anmerkungen hervorgeht, die preußischen Verhältnisse im Kopf. Hier sollte die Kirche durch die Einführung des Diakons, des ehrenamtlich tätigen Laien, der seine freie Zeit der Armenpflege widmet, die Leitung der Armenversorgung wieder in die Hand nehmen und damit die städtischen Armenkommissionen ersetzen, denen er vorwarf, sich nur für die materiellen Bedürfnisse der Armen zu interessieren und die geistlichen zu vernachlässigen. Otto von Gerlach, Pfarrer an der Elisabethkirche, organisierte selber in seiner Gemeinde nach schottischem Vorbild eine von ehrenamtlich arbeitenden Gemeindemitgliedern getragene Armenversorgung. Ähnliche Vorstellungen einer Sozialreform auf der Grundlage der Kirche wurden in der Umgebung Friedrich Wilhelms IV. seit Jahren diskutiert. Schon bevor er den Thron bestieg, hatte Friedrich Wilhelm mehr als ein Programm für die Erneuerung der Kirche durch Thomas Chalmers, Die kirchliche Armenpflege, bearb. von Otto von Gerlach, Berlin 1847. Der englische Originaltitel lautet: Thomas Chalmers, On the Sufficiency of the parochial System without a Poor-rate for the right Management of the Poor, Glasgow 1841, als Bd. 21 der Sammelausgabe The Works of Thomas Chalmers, Glasgow 1836-1842 erschienen. 20 Otto von Gerlach/Hermann Ferdinand Uhden/Karl Leopold Adolf Sydow/August Stiiler, Amtlicher Bericht über die in neuerer Zeit in England erwachte Tätigkeit für die Vermehrung und Erweiterung der kirchlichen Anstalten, Berlin 1842.

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Einführung des Diakonats entworfen. In einem langen Brief an seinen Freund Bunsen, den preußischen Botschafter in England, stellt er im März 1840 ein Kirchenreformprogramm vor, nach dem begüterte Bürger und Adlige sich einer durch die Einführung des Diakonats nach altchristlichem Vorbild „wiederhergestellten" Kirche zur Verfügung stellen sollten. Es handele sich darum, schreibt der Kronprinz Friedrich Wilhelm, „die leidigen Armenkommissionen los zu werden". 21 Der Umstand, daß der König auch später in seinen kirchlichen Reformprojekten den gleichen Vorstellungen treu blieb, zeigt, daß es sich nicht um Phantasien - und seien es königliche - handelte. 22 Der Zusammenhang seiner religiösen, sozialpolitischen und ästhetischen Anschauungen wurde schon betont. Seinem gesamten Verständnis von der Rolle der Monarchie lag die Überzeugung zugrunde, daß die Geschichte gleichsam wie eine Offenbarung des göttlichen Willens auf Erden die Institutionen rechtfertige. Dies war eine ebenso nützliche wie verbreitete Überzeugung in jenen Monarchien, welche sich seit 1789 in der Defensive sahen, eine Überzeugung, die sich im Falle Friedrich Wilhelms IV. mit dem Enthusiasmus für die Architektur verband, derjenigen Kunst, die seiner Gesellschaftsidee einen konkreten und allgemein erfahrbaren Ausdruck zu geben imstande war. Die Verbundenheit Friedrich Wilhelms IV. und seiner Umgebung mit den Ideen der „politischen Romantik" ist erst neuerdings wieder untersucht worden 2 3 Über jede theoretische Rechtfertigung irdischer Ordnungen hinaus war die Religion für den König und seinen Kreis unmittelbar die Grundlage aller Herrschaft. Es gab für sie so etwas wie ein Lehnsverhältnis zwischen „himmlischem König" und „irdischem König". Die Monarchie sei die ideale Staatsform, „weil schon der Hausvater Gott repräsentiert und der König Vater des Staatshauses sein soll, der den Ruf hat, seinen Untertanen den ewigen König in seiner Gestalt vor Augen zu stellen". 24 Der Paternalismus war also

2 1 L. von Ranke, Aus dem Briefwechsel..., S. 56, Brief vom 24. 3. 1840. Zu diesen Fragen siehe auch den Brief Fliedners an Friedrich Wilhelm IV. vom 3. 5. 1844, Fliedner-Archiv, Kaiserswerth, Rep. II, Fn. 1. 2 2 Ewald Schaper, Die geistespolitischen Voraussetzungen der Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, Stuttgart 1938. 2 3 F.-L. Kroll, Friedrich WilhelmIV.... 2 4 Hans Joachim Schoeps, Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., Berlin 1964, S. 16.

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ein fester Bestandteil eines Lebensgefühls mehr noch als einer Denkweise. Für Friedrich Wilhelm war die Religion nichts vom Staat und vom Leben der Gesellschaft Getrenntes, sondern die Grundlage, auf der jene sich entwickeln. Eine Reform der evangelischen Kirche bedeutete für ihn also zugleich eine gesellschaftliche Reform. Unter diesem Blickwinkel verhinderte eine solche Einstellung jedes politische Handeln. Einerseits mußten alle Ansätze, bestehende Machtverhältnisse zu ändern, als Willkürakt, als Rebellion gegen die „natürliche", von Gott gewollte Lage erscheinen. Andererseits fragte man sich, ob nicht dennoch eine neue Situation auch einen unergründlichen göttlichen Willen widerspiegelte und sich folglich aus einer „Unrechtssituation" eine Situation neuen Rechts entwickeln könne. Ein bestimmter Immobilismus gehörte zu diesem Bewußtsein25 und bildete den Grundton der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. Die Charakteristika seiner Politik wurden von Friedrich Engels in einem kleinen Aufsatz von 1842 sehr genau erfaßt. Die beiden ersten Regierungsjahre reichten aus, um den Kern der sozialen Politik des Königs zu bestimmen: Den christlichen Staat zu verwirklichen erklärtes Ziel des Königs -, bedeutete nicht nur, den Staatsbeamten den Besuch des Sonntagsgottesdienstes zur Pflicht zu machen oder die theologischen Fakultäten von „Rationalisten" zu reinigen, sondern hieß, der Kirche diejenige Unabhängigkeit vom Staat zurückzugeben, die sie mit der Reformation verloren hatte. Hier aber, bemerkte Engels, stieß das Vorhaben des Königs auf nicht lösbare Widersprüche: Er selber, in seiner Person König und Summus Episcopus der evangelischen Kirche, vereinigte irdische und göttliche Macht und unterwarf die göttliche Macht der irdischen - „Der Fürst war eher Fürst, als er Summus Episcopus wurde ... Wie jene Unterordnung aber dem christlichen Geiste widerspricht", fährt Engels fort, „so ist es durchaus nötig, daß der Staat, der den Anspruch der Christlichkeit macht, der Kirche ihre Selbstständigkeit ihm gegenüber wieder einräume"26 - , daher die Notwendigkeit der Kirchenreform, 25

Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 6. Aufl., München-Berlin 1922, S. 262. Friedrich Engels, Friedrich Wilhelm TV. König von Preußen, in: Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Zürich-Winterthur 1843, jetzt in: Karl Marx/Friedrich Engels, Gesammelte Werke, Berlin 1964, Bd. 1, S. 446 ff., Zitat S. 448.

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die den König sein Leben lang beschäftigte. Aber „eine Rückkehr zum Katholizismus ist nun einmal unmöglich; die absolute Emanzipation der Kirche ist ebenfalls unausführbar, ohne die Grundsäulen des Staates zu untergraben; es muß also hier ein Vermittlungssystem durchgeführt werden." Das ganze begreift er als „eine Vermischung mit den Prinzipien des katholischen Staates ein, die eine wunderliche Verwirrung und Prinzipienlosigkeit herbeiführen muß". 27 Die neuen sozialen Figuren des Diakons und der Diakonissin, die eine grundsätzliche Rolle in allen Reformprojekten der vierziger und fünfziger Jahren spielten, griffen in der Benennung auf die altchristliche Gemeinde zurück, in der Funktion wurden sie von einer idealisierten Standesgesellschaft mittelalterlicher Prägung inspiriert. Die korporative Gesellschaft, die jedem einzelnen eine genau umschriebene Rolle zuwies und die gemeinschaftliche Übernahme der sozialen Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen einschloß, ist das Ideal. Der Kapitalismus ist, mit den Worten Ludwig von Gerlachs, ein unsittliches Streben nach Gewinn als Selbstzweck: „Nur in Verbindung mit den darauf haftenden Pflichten ist das Eigentum heilig, als bloßes Mittel des Genusses ist es nicht heilig, sondern schmutzig. Gegen Eigentum ohne Pflichten hat der Kommunismus recht."28 Der Grundbesitzer ist für das Wohlergehen der eigenen Bauern und ihrer Familien verantwortlich. Nach dem Gesetz war er noch über die Mitte des Jahrhunderts hinaus dazu verpflichtet, was zeigt, daß die korporative Vorstellungswelt der Konservativen nicht so weit von der damaligen preußischen Wirklichkeit entfernt war, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Auf die gleiche Weise sollte der Fabrikbesitzer sich seiner Arbeiter annehmen und der Wohlhabende dem ärmeren Nachbarn helfen. Insofern wird das Amt des Diakons, dessen Einführung die Grundlage der Kirchenreform bildete, gleichzeitig mit dem des ehrenamtlichen städtischen Funktionärs geschaffen und bezeugt indirekt den ständischen Charakter und die korporative Verwurzelung beider Modelle.2^

27

F. Engels, Friedrich Wilhelm IV...., S. 448 f. H.-J. Schoeps, Das andern Preußen..., S. 38. 2 9 Das Modell des Ehrenamtes ging, wie oben gezeigt, auf die Hamburger Patriotische Gesellschaft zurück, wurde von Chalmers aufgenommen und kam von Schottland nach Berlin, wo das Hamburger Modell für die städtisch-bürgerliche Armenfürsorge ohnehin die Grundlage bildete. Chalmers System wurde nicht nur von Otto von Gerlach aufgegriffen, sondern auch von der Elberfelder Stadtverwaltung, wes28

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Sicher waren die Auffassungen der konservativen Gruppe nicht einheitlich: Es geht hier aber nicht um die Bandbreite von Positionen innerhalb des konservativen Lagers, sondern vielmehr um jenen theoretischen Kern, der in der Gründung des Diakonissenhauses Bethanien praktische Gestalt annimmt. Es handelte sich 1847 nicht zufällig um einen der letzten Regierungsakte Friedrich Wilhelms IV., als er noch vorkonstitutioneller König war. Das spirituelle Klima, in dem diese Vorstellungen reiften, hatte sich seit den zwanziger Jahren in der Umgebung des Kronprinzen entwickelt. Zu jener Kerngruppe junger Pietisten gehörten außer den Brüdern Gerlach der künftige Minister von Alvensleben, Graf Stolberg, Friedrich von Bülow, Adolf von Thadden und andere. Schon der Kronprinz interessierte sich lebhaft für soziale Initiativen und fromme Werke. Er lud Elisabeth Fry, die englische Quäkerin, die die Insassen der Londoner Gefängnisse besuchte, 30 an seinen Hof. Er finanzierte teilweise das erste, 1836 vom Pastor Fliedner eröffnete „Diakonissenhaus" in Kaiserswerth, wo evangelische Frauen in der Kranken- und Kinderpflege unterrichtet wurden, und interessierte sich später lebhaft für Wicherns Pläne einer „Inneren Mission". Durch Vermittlung seiner Tante, der Prinzessin Marianne, kam er mit dem Prediger Goßner in Berührung und unterstützte unter anderem Goßners Gründung eines Frauenhospitals, des Elisabeth-Krankenhauses (1834), das aus der Tätigkeit eines Frauen-Kranken-Vereins hervorging. Besonders die Tätigkeit Fliedners beeindruckte den König. Seine Anstalten in Kaiserswerth waren gleichzeitig Schulen für die freiwilligen Pflegerinnen und Krankenhäuser beziehungsweise Kinderbewahranstalten. Wie in katholischen Krankenhäusern die Nonnen, pflegten die Diakonissen die Kranken und die Kinder aus Nächstenliebe unentgeltlich. Dieses Beispiel blieb für Friedrich Wilhelm offenbar maßgebend: Auf der Suche nach einer Konkretisierung seiner Pläne zur Erneuerung der Kirche bot es ihm das Prinzip des Diakonats.

halb es seit der zweiten Hälfte des 19- Jahrhunderts das „Elberfelder System" genannt wurde. Kirchliches und städtisches System, die sich in Berlin feindlich gegenüberstanden, gingen aus derselben historischen Wurzel hervor. Vgl. u. a. Knote, 50 Jahre Göttinger Armenpflege, in: Monatsschrift für Innere Mission, (1893), S. 225 f. 30

Janet Whitney, Elisabeth Fry, Bad Pyrmont 1939-

Der

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Der Schwanenorden Die Religion war der Schlußstein in der Politik des Königs, die darauf abzielte, die Gesellschaft auf die korporativen Formen des Mittelalters hin zu erneuern, ein Unternehmen, dem nach Engels Analyse der Mißerfolg sicher war. Zeitgenössische Kritiker hatten für die „mittelalterlichen" Neigungen Friedrich Wilhelms nur Spott übrig - einen Spott, der sich aus den vom neuen König bald enttäuschten Erwartungen des liberalen Bürgertums erklären läßt. In seinen Tagebüchern merkt Varnhagen von Ense 1847 zum Vortrag von David Friedrich Strauß, Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige, an, daß er selber „schon vor Jahren unseres Königs mittelalterliche Bestrebungen mit den Bestrebungen des Kaisers Julianus verglichen" habe. 31 Der Vortrag von Strauß ist eine spöttische Mystifikation. Er gibt vor, über Kaiser Julian zu berichten, spricht aber in Wirklichkeit von Friedrich Wilhelm IV.: „Wie hatte es dem romantischen Kronprinzen in's Herz geschnitten, da er unter seines ungläubigen Vorfahrs Regierung die Tempel zerfallen, die Mysterien vernichtet, die Altäre zerstört ... sah. Wie fest nahm er sich vor, falls er auf den Thron berufen werden sollte, die kranke Welt zu heilen, den Göttern ihre Ehre, den Völkern ihre Götter, und damit dem römischen Reiche die Stütze seiner Größe wiederzugeben ... Zur Regierung gelangt, betrachtete daher Julian die kirchliche Restauration als seine Grundaufgabe. Die ... Würde eines Pontifex maximus war ihm so wichtig als die kaiserliche; er teilte fortan sein Leben in den Dienst des Staates und den des Altars ... Uns Söhnen der Gegenwart, die wir vorwärts streben, und den neuen Tag, dessen Morgengrauen wir spüren, heraufführen helfen möchten, ist Julian als Romantiker, dessen Ideale rückwärts liegen, der das Rad der Geschichte zurückzudrehen unternimmt, zuwider."32 Nach seiner Thronbesteigung suchte Friedrich Wilhelm in der Tat nach einer Form, um nicht nur die Kirche, sondern überhaupt das Verhältnis von Monarchie, Religion und Gesellschaft zu reformieren. 31 Κ. A. Varnhagen von Ense, Tagebücher..., Bd. 4, S. 140, Eintragung datiert vom 14. 9- 1847. David Friedrich Strauß, Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren, in: ders., Kleine Schriften, Bonn 1898, S. 105 f., Zitate S. 128 f. u. S. 146.

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Das Handlungsterrain konnte für ihn nur die Sozialpolitik sein, in seinen Worten: „die christliche Liebestätigkeit". Sie sollte sich in der Luisenstadt, „seinem" Viertel, vorbildlich verwirklichen. In dieser Situation war der Kontakt zu Fliedner, dem Gründer der Diakonissenanstalt Kaiserswerth, von entscheidender Bedeutung. Im Januar 1842 hatte Fliedner eine erste Audienz in Berlin, zunächst bei der Königin. Es ging dabei um die Möglichkeit, Diakonissen aus Kaiserswerth in der Charité als Krankenschwestern einzusetzen, was auch geschah. Im September 1842 forderte der Minister Eichhorn Fliedner zur Mitarbeit an dem Plan des Königs auf, in Berlin ein „Institut zur Bildung evangelischer Krankenpflegerinnen" zu errichten. 33 Am 18. Oktober erstattete Fliedner ein Gutachten, in dem er vorschlug, möglichst entfernt von der Charité ein Gelände mit Garten am Halleschen Tor oder auf dem Köpenicker Felde zu kaufen, um dort „senfkornartig" klein mit einem Krankenhausbau als Mutterhaus für Berlin und die östlichen Provinzen beginnen zu können. Das Gutachten Fliedners, auf der Basis der mündlichen Unterredung verfaßt, zeigt auch, daß es nach der Intention des Stifters um mehr als ein Krankenhaus ging: „Da für die Zukunft auch auf die Bildung von Kinder-, Armen- und Gefangenen-Pflegerinnen Rücksicht genommen werden soll, so wäre es sehr wichtig, Bauplätze zu reservieren, worauf späterhin eine Kleinkinderschule mit Raum für Probelehrerinnen, ein Waisenhaus für weibliche Waisen, welche zum Pflegedienst erzogen würden, und ein Asyl für entlassene weibliche Gefangene, die Lust zur Besserung haben, gebaut werden könnten."34 Was dem König vorschwebte, war etwas Großes. Seine kirchlichsozialen Erneuerungspläne, die er mit der Vereinigung aller in christlichem Sinne handelnden gesellschaftlichen Kräfte zu einer großen, vom König geführten Gemeinschaft zu realisieren gedachte, forderten eine repräsentative Gelegenheit. In diesem Sinne beschloß er 1843 als Rahmen seiner Erneuerungsanstrengungen die Neugründung des längst erloschenen Schwanenordens, den einer seiner Vorfahren vierhundert Jahre früher ins Leben gerufen hatte.

33

Fliedner Archiv, Kaiserswerth MKG I, 302 H I. Zusammenfassung datiert vom 9. 10. 1947. Pastor Schulze, Bethanien. Die ersten fünfzig Jahre und der gegenwärtige Stand des Diakonissenhauses Bethanien zu Berlin, Berlin 1897, S. 14.

Der Schwanenorden

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Am 7. März 1843 hatte Fliedner eine weitere Audienz bei Hofe, diesmal beim König selbst: Der König teilte ihm seine Absicht mit, die Stiftungsidee mit der Errichtung eines evangelischen Mutterhauses für die Krankenpflege in Berlin zu verbinden. Fliedner fürchtete, dadurch in eine Sache verwickelt zu werden, die ihn ihres - wie gleich zu sehen sein wird - überkonfessionellen und antilandeskirchlichen Charakters wegen in Widerspruch mit seinem Glaubensund Kirchenverständnis bringen mußte. 35 Trotzdem reiste er mehrfach nach Berlin, um den König in weiteren Audienzen hinsichtlich des Projekts zu beraten. Erst ein Jahr später traute Fliedner sich, nicht ohne Bunsen als Gewährsmann heranzuziehen, seine Bedenken zu äußern: Am 3. Mai 1844 wandte sich Fliedner in einem Brief an den König erneut und unter energischer Verteidigung der Entwicklungsfähigkeit der Landeskirchen gegen den Schwanenorden. 36 Es handelt sich um ein entscheidendes Dokument, das die Schlüsselposition des Ordensprojekts für die gesellschaftlichen Erneuerungspläne des Königs beweist. Fliedners Reaktion zeigt in der Tat, daß der König in dem Schwanenorden ein Instrument sah, um seine Vorstellungen an der liberalen Kirche vorbei durch eine Art neuer Kirche der guten Werke, der Liebestätigkeit durchzusetzen. Seltsamerweise gibt es von diesem zentralen Hintergrund keine Spur in der zeitgenössischen Diskussion. Der Plan wurde weitgehend als Marotte mißverstanden. Treitschke ist ein gutes Beispiel für diese Verharmlosungstendenz, wenn er schreibt, der für ästhetische Wirkungen empfängliche König habe sich vom romantischen Hauch 35 Martin Gerhardt, Theodor Fliedner, Bd. 1 u. 2, Düsseldorf-Kaiserswerth 1933 und 1937. Siehe Bd. 2, S. 229 f. Fliedner, 1800 geboren, gründete 1826 eine rheinischwestfälische Gefängnisgesellschaft, 1833 ein Asyl für entlassene weibliche Gefangene, 1835 eine Strickschule, 1836 eine Kleinkinderbewahranstalt und eine Bildungsanstalt für Pflegerinnen (Diakonissen). Hier ein Teil dieses wichtigen Briefes von Fliedner: .Allerhöchst dieselben hatten in der vorjährigen Audienz bemerkt wir in Rheinland-Westfalen bedürften zur Förderung der christlichen Liebestätigkeit den Schwanenorden nicht, weil da die Evangelische Kirche daselbst lebendiger und kräftiger sich entwickelt habe und alle solche Wirksamkeit unter ihre Leitung nehme und weiterfordere. Für die östlichen Provinzen sey der Schwanenorden jetzt nötig, zur Entwicklung und Führung dieser christlichen Liebespflege, weil die Evangelische Kirche hier im Landt noch zu todt sey. Mit Freude würden Sie den Orden allhier fallenlassen, sobald die Kirche hier so lebendig und kräftig geworden sey, ihre Pflicht in dieser Hinsicht zu erfüllen." Aus: Brief Fliedners an Friedrich Wilhelm IV. vom 3. 5. 1844, Fliedner Archiv, Kaiserswerth, Rep. II, Fn. 1.

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der stattlichen Ordensgräber in Ansbach und Haßfurt - es handelt sich um die Schwanenritterordenskapelle in der St. Gumbertus-Kirche in Ansbach und die Ritterkapelle von Haßfurt am Main - beeindrucken lassen. Trotz Widerständen in der eigenen Umgebung habe der König seine Absicht Weihnachten 1843 in einer von Treitschke als „hochpathetisch" bezeichneten Proklamation öffentlich gemacht, deren „altertümlich klingende Sätze er mit Eichhorn und Thile vereinbart hatte". 37 Charakteristisch sei, so Treitschke, daß der Prinz von Preußen, sein Bruder Wilhelm, vor vollendete Tatsachen gestellt wurde - der König fürchtete seine Kritik. 38 Treitschke ist nicht nur in seinen Äußerungen tendenziös, sondern er steht wie die meisten Zeitgenossen den Anschauungen des Königs verständnislos gegenüber und ist nicht bereit, den gesellschaftspolitischen Anspruch zuzubilligen, der in dem in der Tat alles andere als mittelalterlichen Ordensplan steckte: ein Beweis mehr, daß Liberale und Konservative, auf der Scheidelinie zweier Welten einander unverständlich blieben. (Das Prädikat „von Gottes Gnaden" ist zum Beispiel für die einen ein Überbleibsel aus dunklen Zeiten, für den König Teil seines gesellschaftspolitischen Selbstverständnisses.) Das Patent des Schwanenordens enthält originelle Ansätze zur Lösung der sozialen Frage und bezieht sich durchaus auf die damalige Realität. Es lohnt sich, es so gut wie vollständig wiederzugeben: „Von dem vielfach Erfreulichen, welches unsere Zeit, unter den Segnungen eines langen Friedens - den Gott uns erhalten wolle hervorbringt, verdient kaum etwas größere Anerkennung und Beachtung, als die weit verbreiteten Bestrebungen, ,auf dem Wege der Bildung von Vereinen physische und moralische Leiden zu lindern' . Dies Streben ist wesentlich eins mit dem: das Christenthum zu beweisen, - nicht durch Bekenntnißstreit oder nur in äußerlichen Gebärden - wohl aber in seinem Geist und seiner Wahrheit, nämlich durch Leben und That. - Durchdrungen von der Überzeugung, daß viele jener achtungswürdigen Vereine zu der vollen Wirksamkeit, deren sie fähig sind, nur dann gelangen können, wenn sie ein gemeinsames Band um einen leitenden und anregenden Mittelpunkt vereinigt, haben wir beschlossen, den ältesten Orden Unseres Hau3 7 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19-Jahrhundert, 1894, Teil 5, S. 241. 38 Ebda.

Leipzig 1879-

Der Schwanenorden

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ses, die Gesellschaft des Schwanenordens, welche gerade jetzt vor 400 Jahren von Unserm in Gott ruhenden Ahnherrn, dem Erzkämmerer und Churfürsten Friedrich II. gestiftet, und nie förmlich aufgehoben worden, wieder zu beleben und dem erwähnten Bedürfniß entsprechend, neu einzurichten. Schon der Sinn der im Jahre 1443 verfaßten Statuten dieses Ordens ist kein anderer, als ,Bekenntnis der christlichen Wahrheit durch die That'. Wir haben die Anfertigung neuer Statuten, und die Bildung eines leitenden Ordensrath befohlen, dessen Gliederung in Abtheilungen zur Leitung der verschiedenen Thätigkeiten der Gesellschaft demnächst erfolgen soll. Unsere nächste Sorge für die praktische Wirksamkeit der Gesellschaft des Schwanenordens soll die Stiftung eines evangelisches Mutterhauses in Berlin für die Krankenpflege in großen Spitälern sein. - Den Ordenszeichen haben Wir diejenigen Veränderungen gegeben, welche Uns den gegenwärtigen Verhältnissen entsprechend erscheinen. - Die für die Zwecke des Ordens unmittelbar arbeitenden Mitglieder, nämlich die Pfleger und Pflegerinnen der Leidenden, der reuigen Gefallenen, der Bestraften, usf. so wie die Geistlichen, welchen etwa die unmittelbare Leitung von Stiftungen der Gesellschaft und die Seelsorge in denselben anvertraut wird, tragen kein Ordenszeichen. Die Insignien des Schwanenorden sind nicht, gleich denen anderer Orden, bestimmt, als ein Schmuck des Verdienstes, als eine Auszeichnung, verliehen zu werden; nur die goldene Kette desselben wollen wir in seltenen Fällen als Königliches Ehrengeschenk an gekrönte Häupter und erlauchte Personen verleihen. Der Schwanenorden soll vielmehr ,eine Gesellschaft' sein, in die man freiwillig eintritt, um sich thätig einem der Zwecke derselben zu weihen, aus welcher man aber auch ohne Unehre austreten kann, wenn man jener Thätigkeit sich zu widmen nicht ferner den Beruf fühlt oder im Stande findet ... Männer und Frauen ohne Ansehen des Standes und Bekenntnis können, wenn sie den Pflichten der Gesellschaft sich zu unterziehen bereit sind, in dieselbe aufgenommen werden ... Unsere Absicht ist allein die: durch vereinte Kräfte auf dem bezeichneten fruchtbaren Felde Großes zu wirken. An Gottes Segen ist Alles gelegen. Ihn flehen Wir auf dieses Werk herab, damit die erneuerte Ordensgesellschaft zur Linderung und Heilung vielfacher Leiden erwachse und emporblühe, und damit Männer und Frauen aus allen Bekenntnissen, Ständen und Stämmen Unseres Volkes in zahlreichem Verein und in edelstem Wetteifer beweisen mögen, daß sie das Wort des Herrn beherzigen: ,An ihren Früchten sollt Ihr sie erken-

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nen'. - In dem Bewußtsein, daß der Zweck, für welchen Wir den Schwanenorden wieder herstellen, ein guter, daß die Absicht dabei lediglich gerichtet ist, auf Abhülfe fühlbarer Mängel, auf Förderung heilsamer Anstalten, befehlen Wir Unsere Stiftung getrost und freudig dem König der Könige. - Unter Seinem Segen wird sich eine wahrhaft edle Schaar sammeln, welche das Große, Heilsame, Thatkräftige in den Richtungen dieser Zeit mächtig erfassen und fördern ... durch das, worin allein alle christlichen Bekenntnisse sich vereinen können und sollen, durch thätiges Ueben des göttlichen Willen, in Siegesgewissheit der göttlichen Liebe. Der Ordenswahlspruch ist, ,Gott mit uns!'."39 König und Königin gründeten den Orden, stellten ihn unter ihre persönliche Schirmherrschaft und luden Männer und Frauen guten Willens, ohne Unterschied des Standes und Bekenntnisses - wie das Patent zweimal betont - ein, ihm beizutreten und ihren Glauben durch die Werke der Barmherzigkeit zu bekennen. Der Orden sollte eine Konkretisierung der Pläne des Königs zur Einführung des Diakonats in einer im apostolischen Sinne erneuerten Kirche sein: einerseits nicht weniger als eine Überwindung der Trennung der Kirche in verschiedene Konfessionen auf der Ebene der „Werke", andererseits der grandiose Plan einer Dachorganisation für alle Vereine, die auf dem Feld der ehrenamtlichen Fürsorge arbeiteten. Es war ein Vorschlag, der einen echten Mangel zu beantworten suchte und den nicht zufällig wenige Tage später auch der Liberale Heinrich Runge, wie oben gezeigt, der Öffentlichkeit in derselben Zeitung und an derselben Stelle, der ersten Seite, unterbreitete, die das Patent veröffentlicht hatte. Altertümlich war im Plan des Königs der Versuch, die Oberschicht für eine Beschäftigung mit sozialen Aufgaben zu gewinnen. Etwas Ähnliches hatte er schon 1840 in seinem Programm für die Erneuerung der Kirche geschrieben: „Welche Zeit wäre das, bester Bunsen, wenn wir es erlebten, das Streben des Mittelalters nach dem Klosterwesen bei uns ersetzt zu sehen durch ein Streben wohlhabender Bürger und Edelleute"40 auf dem praktischen Feld der Wohltätigkeit. Vossische Zeitung vom 2. 1. 1844. Vgl. auch Walter Bussmann, Probleme einer Biographie Friedrich Wilhelms IV., in: O.Büsch (Hrsg.), Friedrich Wilhelm TV...., S. 22 ff. 40 Brief des Königs an Bunsen vom 24. 3. 1840, in: L. von Ranke, Aus dem Briefwechsel..., S. 64.

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Das Patent sagte nichts darüber, w i e die Aufnahme in den Orden tatsächlich geregelt werden sollte. In der bürgerlichen Öffentlichkeit traf der königliche Gedanke nur auf Spott. Liberale wie Varnhagen von Ense und später Treitschke bagatellisierten das Patent mit Adjektiven wie „mittelalterlich" und „altertümlich". Es hieße, ihnen unkritisch zu vertrauen, übernähme man ihre Polemik, statt sich zu fragen, was diese Polemik verdeckt. Die politische Spaltung war schon vollgezogen, die Liberalen beabsichtigten, w i e schon gezeigt, ihre eigene Reorganisation der sozialen Verhältnisse durchzusetzen. In ihrer polemischen Herabsetzung des königlichen Plans übersahen sie willentlich oder unwillentlich dessen praktische Seiten: Eine Zentralisierung der privaten Initiative war in der Tat fällig. Der einzige Liberale, der die praktische Seite der Idee des Schwanenordens verstand, war Heinrich Runge, der in seinen Zeitungsartikeln über den Pauperismus wenige Tage nach dem königlichen Patent die Grundidee einer Zentralisierung aller Wohltätigkeitsvereine aufnahm. Aus dieser Debatte, die mit dem Schwanenordenspatent vom Januar 1844 begann, sollte - Reulecke deutet das an41 - der Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen im Sommer 1844 entstehen, der schließlich die weltliche Realisierung einer königlichen Intuition wurde. Friedrich Wilhelm IV. fehlte der Realismus, um seinen Plan politisch durchzusetzen. Anders Fliedner, auf den er sich stützte·. Statt darauf zu warten, daß Adlige oder bürgerliche Fabrikanten sich der Krankenpflege widmeten, mobilisierte er mit seinen Diakonissenanstalten das breite Arbeitspotential alleinstehender Frauen aus allen Schichten der Bevölkerung. Die Arbeit in einer Diakonissenanstalt gab diesen Frauen eine Rolle, einen Lebenszweck, Unterkunft, Brot und Alterssicherung. Einerseits war sie mehr als der Frauen-Verein von Goßner und die mit den Armenkommissionen in Verbindung stehenden bürgerlichen Frauenvereine und andererseits auch mehr, als viele unverheiratete Frauen damals anderswo zu erwarten hatten. Eine der wenigen Stimmen, die sich mit Wärme für den Ordensplan einsetzten, gehörte Victor Aimé Huber, der im Februar 1844 in einem Artikel alle, denen die soziale Frage am Herzen lag, dazu auf-

41J.

Reulecke, Sozialer Frieden.

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rief, diese Gelegenheit nicht vorübergehen zu lassen.42 Aber auch in der engsten Umgebung des Königs gab es Widerstände. Der Staatsund Kabinettsrat Generaleutnant von Thile - „Bibel-Thile" genannt, weil er Vorstandsmitglied der Bibelgesellschaft war - verfaßte im Juni 1843 eine eigene Denkschrift, die mit einer Fülle von Argumenten von der Gründung des Schwanenordens abriet.43 Er merkt an, „daß der Zweck des Ordens ... kaum ein wesentlich anderer oder geringerer als der der Kirche selbst, von der Seite ihres Eingreifens in das praktische Leben ist, und daß der Orden, zur vollen Ausbildung gelangt, eine Kirche in der Kirche seyn würde, nur die Verwaltung der Lehre und der Geheimnisse Gottes von ihrem Bereich ausschließend. Eine solche Institution läßt vom weltlichen Regiment aus durch weltliche Mittel und Hebel sich aber nicht organisieren, ohne einerseits von den erschütterndsten Einwirkungen auf alle moralischen und politischen Verhältnisse des Lebens und der Gesellschaft begleitet zu seyn, andererseits aber ... von vorherein dennoch den Keim des Todes in sich selbst zu tragen."44 Der Orden habe eine „sehr große Ähnlichkeit mit dem Freimaurerorden", der „wesentlich beigetragen hat, die Kirche zu veröden", indem er „ein Surrogat der Kirche für alle diejenigen aufstellte, welche das Wesen des Christentums in Humanitätszwecken, abgelöst vom kirchlichen Leben und Glauben suchten".45 Das geplante Mutterhaus solle der privaten Wohltätigkeit empfohlen werden und seine Anfänge aus den vielen Frauen- und MännerKranken-Vereinen entwickeln. Der König solle vermeiden, „sich direkt an die Spitze der Sache zu stellen, weil die Privatfreigebigkeit schläft, wenn sie glaubt, daß der König selbst statt ihrer wache". 46 Der König ließ sich von diesen Argumenten nicht beeindrucken. Bunsen hatte in einem Brief vom 11. Mai 1844 für diese Initiative ein warmes Lob - sie habe Rom erröten lassen, ja, sie habe, fährt er fort, 42

Victor Aimé Huber, Auch ein Wort über den Schwanenorden und dessen mögliche Bedeutung, in: Evangelische Kirchenzeitung, Bd. 34 (1844), S. 81 f. Vgl. auch J. Reulecke, Sozialer Frieden..., S. 63 f. 43 Handakten des Staats- und Kabinettsrats Generalieutenant von Thile, 1843-1844, Denkschrift des Kabinettsministers von Thile vom 22. 6. 1843, Kabinettsordre vom 24. 12. 1843 an den Staatsminister Eichhorn, Entwurf des Dekrets vom 21. 12. 1843, Rep. 89 H, Beiakten Zu IV. 9, Geheimes Staatsarchiv, Dahlem. 44 Ebda. 45 Ebda. 46 Ebda.

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Rom „vernichtet", indem diesem zum ersten Male „eine geistige Central-Gewalt" gegenübergestellt worden sei, „die ihm den Tod drohe, ohne ihm feindlich zu sein".47 Bunsens übertriebene Hoffnungen hatten eher mit seiner eigenen, von der Niederlage in den Mischehenstreitigkeiten herrührenden offenen Rechnung mit dem Katholizismus und speziell mit Rom zu tun. Und so ging schließlich Bunsen vermutlich auch auf Grund von Unterredungen mit Fliedner auf Distanz. Der König ließ daraufhin den großangelegten Plan fallen. Das einzige konkrete Ergebnis des für fast alle befremdlichen Ordensplanes war das Diakonissenhaus Bethanien, das noch während der Errichtung von der Öffentlichkeit als „Hospital des Schwanenordens" bezeichnet wurde und im Volk noch lange das Schwanenhaus hieß.48 Daß der großangelegte königliche Plan einer Dachgesellschaft für Initiativen im sozialen Bereich von Anfang an mit dem Bau eines Krankenhauses gekoppelt war, ging allerdings nicht nur auf Fliedner zurück. Das Verständnis des Königs für die soziale Frage war in der Tat von historischen Bildern geprägt, die mit bestimmten Ausgestaltungen verbundene waren, so von dem Beispiel der Hl. Elisabeth, der Witwe des Landgrafen von Thüringen, die im 13. Jahrhundert in Marburg ein Hospital errichtete, das 1234 vom Papst dem Deutschen Ritterorden übertragen wurde, oder dem Beispiel der Ordenshospitäler der mittelalterlichen Ritterorden überhaupt. Friedrich Wilhelm IV. kam einige Jahre später auf seine Ordensidee zurück und erneuerte 1852 den evangelischen Zweig des bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückreichenden Johanniterordens, dessen Ordensmeister sein Bruder Prinz Friedrich Karl wurde. Die Ritterschaft wurde bereits 1853 der Johanniter-Schwesternschaft und später der Johanniter-Unfallhilfe angegliedert. 49

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Daß in jenen Jahren ein neues Krankenhaus in Berlin dringend benötigt wurde, steht außer Zweifel. Zahlreiche Schriftstücke der Armendirektion belegen, daß die 1727 gegründete Charité nicht

47 Brief von Bunsen an Friedrich Wilhelm IV. vom 11.5. 1844, in: L. v. Ranke, Aus dem Briefwechsel..., S. 117.

Karl Kupisch, Bethanien in Berlin, Berlin 1970, S. 22. Ernst Schering, Ordo und Caritas, in: Glaube, Geist, Geschichte. Festschrift für Ernst Benz, Leiden 1967, S. 255. 48

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mehr imstande war, die wachsende Menge von Kranken unterzubringen. Schon 1822 hatte die Armendirektion mit diesem Mißstand die Errichtung der Medizinalbezirke und der Armenärzte begründet, um die armen Kranken möglichst zu Hause behandeln zu lassen.50 Daß es in der Folgezeit nicht an Mahnungen der Armendirektion an die Adresse der Ärzte fehlte, wenn irgend möglich keine Kranken in die Charité zu schicken, hatte allerdings auch finanzielle Gründe. 1835 etwa gab die Armendirektion zu bedenken, die Pflege eines Kranken koste in der Charité 7 1/2 Sgr. pro Tag, so daß es vorzuziehen sei, falls das billiger käme, die Kranken zu Hause zu pflegen. 51 Andererseits wurde 1832 unter Hinweis auf den Platzmangel in der Charité in der Kochstraße ein Krankenhaus für Handwerksgesellen eröffnet, dessen Kosten teils von der Stadt, teils von den „Gesellenkassen" getragen wurden. 52 Es kann also nicht erstaunen, daß die Absicht des Königs, ein von Diakonissen geführtes Krankenhaus zu errichten, vom Magistrat und den Verantwortlichen der Armendirektion mit größtem Interesse aufgenommen wurde. Die wesentlichen Akten zum Gründungsvorgang betreffen die Arbeit der von Friedrich Wilhelm beziehungsweise dem Minister der Geistlichen-, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten Eichhorn eingesetzten Kommission. Sie wurde von dem Regierungsrat Tschirner geleitet. Weitere Mitglieder waren als Vertreter des Magistrats Stadtrat Hollmann, als Vertreter des Konsistoriums Konsistorialrat Snethlage und als Vertrauter des Königs Otto von Gerlach, Pfarrer von St. Elisabeth. Der Aktenband beginnt mit einem Brief Otto von Gerlachs vom 4. März 1843, in dem er, bezugnehmend auf das Protokoll der ersten Sitzung, gegen die Verwendung des Terminus „Diakonissen" Bedenken erhebt und bemerkt, der König habe von „barmherzigen Schwestern" gesprochen und die Kommission habe

50

LAB (STA), Vorschriften nach welcher die Verpflegung der Armen-Kranken in Berlin zu bewirken..., 11.2. 1822, Rep. 03, Bd. 22, unpaginiert, Stadtarchiv Berlin. 51 LAB (STA), Monatsblatt, Nr. 11 (1835), S. 128, Circular Nr. 86, Stadtarchiv Berlin. LAB (STA), Bekanntmachung von Oberbürgermeister Bärensprung vom 21. 91832, in: Monatsblatt, Rep. 03, Bd. 95 (1832), Stadtarchiv Berlin. Danach soll das Krankenhaus in der Kochstraße 30 mit 100 Betten ausgestattet gewesen sein. Die Stadt gab das Grundstück unentgeltlich und trug neben den Gewerken zu den allgemeinen Kosten bei. Die Ärzte Berendt, Arzt des Prinzen Albrecht, Dr. Dieffenbach und Dr. Stosch, Ärzte der Kronprinzessin, übernahmen unentgeltlich die Leitung.

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sich darauf zu beschränken, einen geeigneten Bauplatz und eine Vorsteherin zu finden.53 Der Magistratsvertreter hatte keine Zeit verloren. Schon in der ersten Sitzung referierte er, er habe sich mit dem Stadtbaurat Wilhelm Langerhans beraten; nach dessen Meinung sei die (in der heutigen Schlesischen Straße gelegene) Meierei des Stadtrats de Cuvry also des Direktors der Armendirektion - „in vieler Hinsicht als recht geeignet für den Zweck" 54 anzusehen. Den anderen Kommissionsmitgliedern schien der Preis zu hoch und der Ort zu weit von der Stadt entfernt. Das ist der Anfang eines sich über längere Zeit erstreckenden Kleinkriegs innerhalb der Kommission, in dem die wirklichen Gründe nie genannt werden. Statt dessen wurde über Bodenpreise, Fahrzeiten, Eignung von Altbauten und Wassergüte geredet. Hollmann, de Cuvry und Langerhans waren alle drei mit der Luisenstadt verbunden und verfochten einheitlich als Magistratsinteresse die Ansiedlung des Krankenhauses in der Luisenstadt. Otto von Gerlach dagegen favorisierte mit den von ihm vorgeschlagenen Grundstücken eine Anlage in der Rosenthaler Vorstadt, in seiner Parochie also, und über den wenig später hinzutretenden medizinischen Gutachter kam eine dritte lokale Option hinzu, die Stralauer Vorstadt. Damit verknüpfte sich eine zweite Linie der Auseinandersetzung, die eine sehr viel bedeutendere Perspektive betraf, nämlich die Frage, ob in einem bestehenden Gebäude klein begonnen oder gleich ein Neubau errichtet werden sollte. Darin, daß sich Hollmann unmittelbar nach der ersten Sitzung in einem Brief an Tschirner für die Altbaulösung aussprach, erkennt man neben der lokalen Präferenz und dem Interesse am Anwesen de Cuvrys auch das leitende Magistratsinteresse, schnell zu einem Krankenhaus zu kommen. Das energische Vorgehen Hollmanns unterstützte im weiteren Verlauf diese Bestrebung. Nachdem die Kommission die vorgeschlagenen Grundstücke in der Gartenstraße (vor dem Hamburger Tor) und vor dem Schlesischen Tor besichtigt hatte, beschloß man, eine Annonce aufzugeben und sich weitere Grundstücke anbieten zu lassen. Kaum waren die 34 Angebote eingegangen, hatte Hollmann 5 3 Acta Commissionis betr. die Errichtung eines Instituts barmherziger Schwestern in Berlin von 1843, Brief von Otto von Gerlach vom 4. 3. 1843, Bd. 1, erstes Blatt (unpaginiert), Bethanien-Archiv. 54

A. a. O, Protokoll datiert vom 22. 2. 1843.

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auch schon alle geprüft und für ungeeignet befunden. Inzwischen hatte Fliedner in Begleitung des Medizinalrats Busch die de Cuvrysche Meierei besichtigt. Fliedner erwies sich als unerwarteter Verbündeter des Magistrats. Er war begeistert von der Möglichkeit, im kleinen zu beginnen und das Krankenhaus nach und nach aufbauen zu können. Der Mediziner dagegen hatte hygienische und praktische Einwände, die aber, wie sich bald darauf zeigte, nur darauf abzielten, ein Grundstück auf der Stralauer Seite durchzusetzen. Das gebäudetechnische Gutachten, das im Auftrage des Ministeriums durch den Bauinspektor Stein von der Oberbaudeputation zu den konkurrierenden Grundstücken abgegeben wurde, erklärte beide Gebäude für geeignet.55 Inmitten dieser Auseinandersetzungen war es der König, der durch eine Kabinettsorder vom 3. November 1843, einen Monat vor dem Patent der Erneuerung des Schwanenordens, die Entscheidung herbeiführte. Er wollte grundsätzlich einen Neubau und diesen möglichst auf dem Köpenicker Feld in der Nähe des geplanten Kanals.56 Das Zellengefängnis war schon in Moabit im Bau, und der König wünschte einen Monumentalbau für den neuen Stadtteil, allen Ratschlägen Fliedners, klein anzufangen, zum Trotz. Damit begann eine neue Phase. Eichhorn setzte sich umgehend mit seinen Kollegen, den Ministern von Bodelschwingh und von Arnim, in Verbindung, um den Erwerb entsprechender Grundstücke in Gang zu bringen. 57 Mit dem Bauinspektor Helfft wurde der Kommission nun auch ein Baubeamter zugeordnet. In der ersten auf die Kabinettsorder folgenden Sitzung im Januar 1844 hatte man sich der Mitarbeit des Vermessungsrevisors Meyer, der rechten Hand Naunyns, versichert, der besser als irgend jemand sonst die Grundstücksverhältnisse auf dem Köpenicker Feld kannte. Meyer schlug drei Möglichkeiten vor, städtebaulich geeignet gelegene Grundstücke zu erwerben. Alle drei lagen am Mariannenplatz und erforderten Kaufverhandlungen mit mindestens zwei Eigentümern, wobei Meyer bereits Vorverträge mit allen infrage kommenden Verkäufern abgeschlossen hatte. Aus Kostengründen entschied sich die Kommission für eine Grundstückkombination an der Nordwestflanke des Platzes in unmittelbarer Nachbarschaft des geplanten Kanals. Nachdem man 55 56 57

A. a. O., Gutachten Steins vom 24. 6. 1843. A. a. O., Dokument datiert vom 18. 11. 1843. Ebda.

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die ausgewählten Grundstücke erworben und sich noch drei kleinere Ergänzungsgrundstücke zur Abrundung gesichert hatte, war die Aufgabe der Kommission erfüllt. Parallel zum Grunderwerb lief die Planung an. Mit der Erstellung der Baupläne beauftragten Eichhorn und Arnim im Juli 1844 Persius - dies sei der schnellste Weg, da sich dieser bereits durch die Anfertigung des Bebauungsplans eingearbeitet habe. Der Bau sollte unbedingt in zwei Jahren abgeschlossen sein. Trotzdem kann man davon ausgehen, daß bereits Pläne des Königs vorlagen beziehungsweise daß der König selber entschieden in den Planungsprozeß eingriff.58 Ähnlichkeiten der Architektur Bethaniens mit einer Skizze des Kronprinzen von 1816 - ein auf einer Insel zu errichtender Palast, der ebenfalls einen dort dem Hl. Georg gewidmeten Orden beherbergen sollte59 — sprechen dafür, daß die Grundidee von Friedrich Wilhelm stammte und von Persius ausgearbeitet wurde. Persius hatte zum Jahresende die Pläne fertiggestellt, so daß sie genehmigt werden konnten. Als Bauleiter empfahl Persius Theodor Stein, der allerdings - er war Angestellter der Oberbaudeputation von allen weiteren Pflichten entbunden werden müsse. Anfang November begann Stein mit der Einrichtung der Baustelle und orderte erste Materialien. Die Hast, mit der der König seinen Plan verwirklicht sehen wollte, führte allerdings zu Fehlkoordinationen, die Monate kosteten. Erst im April 1845 lagen die endgültigen Pläne vor, und es konnte tatsächlich mit den Bauarbeiten begonnen werden. Persius war nach Italien abgereist und starb kurz nach seiner Rückkehr. Friedrich August Stüler, der ähnlich wie Persius mit dem König in engem persönlichen und künstlerischen Kontakt arbeitete, übernahm die endgültige ästhetische Überarbeitung der Baupläne.60 Gleichzeitig liefen seit September 1844 Verhandlungen zwischen Tschirner und dem Magistrat, vertreten durch de Cuvry und die Stadtverordneten Bernard und Krebs. Sie führten schon im Dezember zu einer Übereinkunft zwischen König und Magistrat. Der König 58

Detalliert ist der Planungsvorgang dargestellt und die Mitwirkung des Königs belegt in: D. Hoffmann-Axthelm, Bethanien. - Eine historische Anmerkung..., S. 138 f. 59 Ernst Lewalter, Friedrich Wilhelm IV. Das Schicksal eines Geistes, Berlin 1938, S. 155. Eva Börsch-Supan, Berliner Baukunst nach Schinkel 1840-1870, München 1977; Gerd Kley, Friedrich August Stüler (1800-1865). Gedanken zum 125. Todestag des preußischen Architekten, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 86. Jg. (1990), H. 2, S. 266 if.

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rechnete für die Finanzierung des Krankenhauses mit der Teilnahme der Besitzenden in der Form einer „Stiftung" von Betten. Der Magistrat war zu sehr auf ein neues Krankenhaus angewiesen, um sich nicht ein Belegungsrecht zu sichern, und sei es im Kleid des Stifters. Der Vertrag sah vor, daß die Stadt fünfzig Betten stiftete, wobei sie pro Jahr je Bett hundert Taler zu zahlen hatte, dafür aber auch auf diese Betten Anspruch hatte und sie nach eigenem Gutdünken belegen konnte. 61 Für die Stadt handelte es sich dabei nicht um christliche Liebestätigkeit, sondern um einen Mietvertrag. Während des Jahres 1845 wurde in einem solchen Tempo gebaut, daß die Ziegelfabriken Schwierigkeiten hatten, rechtzeitig zu liefern. Unterdessen ging die Suche nach einer geeigneten Leiterin weiter. Fliedner entzog sich der Einladung Friedrich Wilhelms, die Leitung des Instituts zu übernehmen. Die Entscheidung, in Kaiserswerth zu bleiben, stimmte mit seinen Bedenken gegenüber den theologischen Grundlagen des Schwanenordens überein. Er reiste aber mehrere Male nach Berlin, um an Beratungen über die Inneneinrichtung des Hauses, über die Abfassung der Hausordnung und des Statuts und ähnliches teilzunehmen. Die Beziehungen zwischen Kaiserswerth und Bethanien blieben auch nach der Eröffnung des Hauses längere Zeit schwierig und klärten sich erst nach Jahren, als Fliedner darauf verzichtete, an den Jahreskonferenzen des Kuratoriums von Bethanien und an den Einsegnungen neuer Diakonissen teilzunehmen. Danach erhielt er lange Zeit die Diskussionsprotokolle, ohne noch auf irgendwelche Entscheidungen Einfluß zu nehmen. Neben der minutiösen Beeinflussung aller Details sorgte Fliedner für einen Fortgang des Unternehmens in seinem Sinne vor allem dadurch, daß er im Februar 1846 brieflich dem König eine Leiterin seines Vertrauens vorschlug. 62 Es handelte sich dabei um die fünfunddreißigjährige Gräfin Marianne von Rantzau. Sie war erst 1845 in Kaiserswerth eingetreten, ermutigt durch das Beispiel ihrer Freundin, Elena Herzogin von Orleans, eine geborene Prinzessin von Mecklen-

^ Acta Commissionis, Bethanien-Archiv, Dokumente, datiert vom 22. 1844, 5. 12. 1844 und 22. 12. 1844 sowie LAB (STA), Rep. 00, Bd. 216, Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 7. 7. 1845, Stadtarchiv Berlin, in der der Vertrag ratifiziert wurde. Am nächsten Tag entschied die Stadtverordnetenversammlung, daß die Summe von 5000 Thlrn. pro Jahr nicht überschritten werden dürfte. Vgl. Sitzung vom 8. 7. 1845. Acta Commissionis, Bethanien-Archiv, Brief Fliedners vom 2. 2. 1846.

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burg-Schwerin. Wichern stellte ihr gegenüber dem Minister Eichhorn ein ausgesprochen günstiges Zeugnis aus: „Mit persönlicher alles gewinnender Anmut verbindet sie nicht nur eine Hoheit und Bildung des Geistes, wie dieselbe ihrer Stellung in der Gesellschaft entspricht, sondern auch eine Gewandtheit des Umganges mit den obersten Kreisen der Gesellschaft und den ärmsten Bewohnern der Hütten des Elends, wie sie nur selten in einem Frauenzimmer vereinigt sein mögen." 63 Bereits im Juni war sie offenbar vom König akzeptiert, denn Tschirner wurde angewiesen, ihr aus dem Bauetat 800 Taler für eine Rundreise durch mehrere vorbildliche europäische Krankenhäuser zur Verfügung zu stellend Im April 1846 wurde eine neue Kommission eingesetzt, die sich mit der Inneneinrichtung des Hauses zu befassen hatte.65 Stein erhielt vier Wochen Urlaub, um sich die damals modernsten Krankenhausbauten ansehen zu können. 66 Sein besonderes Augenmerk galt der für das damalige Hygieneverständnis zentralen Belüftung und den gemeinschaftlichen Einrichtungen, wie Heizung, Küche, Wäscherei. Nach seiner Rückkehr begannen im Neubau bereits die Installationen dafür. Marianne von Rantzau zog schon Ende März 1847 in das Verwalterhaus ein, um sich mit der Einrichtung und der Aufstellung der Hausordnung zu befassen. Interessant ist die Härte, mit der Fliedner ihr brieflich Maßregeln erteilt. Er verbot ihr zum Beispiel, einen Sonnenschirm oder einen Sonnenhut zu tragen oder die Schwestern mit „du" anzureden. Dies würde Frauen von Rang davon abhalten, in die 63

Pastor Schulze, Bethanien..., S. 164. ^ Die Reise, die Marianne von Rantzau zusammen mit Tschirner antrat, kostete den König 2350 Thlr. und dauerte vom 25. Juni bis 16. Oktober. Sie besuchten Klöster, Hospitäler und Anstalten in Thüringen, Bayern, Österreich und Südfrankreich, dann ging es über Basel nach Straßburg, Trier, Kaiserswerth, Brüssel, London und Paris, von dort nach Holland und schließlich von dort nach Hamburg. Pastor Schulze, a. a. O., S. 27. 65 Ihr gehörten an: Medizinalrat Schmidt, Kammergerichtsrat Lehnert, Oberbaurat Stüler, Bauinspektor Stein und Oberinspektor Esse. ^ Es handelte sich um das allgemeine und das jüdische Krankenhaus in Hamburg, das Krankenhaus in Hannover, das Clemeshospital in Münster, das Büigerhospital in Koblenz, das Heiliggeisthospital in Frankfurt, das Hôpital St. Jean in Brüssel, das Hotel de Dieu und das Invalidenhaus in Paris sowie fünf Londoner Krankenhäuser und Hospitäler (St. Bartholomew, Guys Hospital, Greenwich, St. George Hospital, University Hospital, German Hospital).

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Diakonissenanstalt einzutreten. Ebenso tadelte er Marianne von Rantzau, weil sie König und Königin um Rat gefragt hatte, wie sie sich von den Schwestern anreden lassen sollte. Wenn man nämlich einen Rat vom Regenten erbitte, dann sei dieser Rat ein Befehl, dem man nachzukommen habe. Diese Maßregeln haben einen gemeinsamen Tenor: Fliedner drängte bis hin zu den kleinsten Details zeremonieller Art, zum Beispiel anläßlich der Schlüsselübergabe, darauf, die Autonomie des Instituts gegenüber dem Herrscherhaus und seine engen Bindungen an Kaiserswerth zu bewahren. Die sich daraus ergebenden Unstimmigkeiten endeten erst, als beide, der König wie Fliedner, sich zurückzogen. Am 10. Oktober 1847 fand die feierliche Eröffnung des Hauses statt. Thile und Eichhorn sollten einen passenden Namen für die Anstalt vorschlagen. Zwischen den zur Wahl gestellten zwei Namen Bethanien und Salem entschied sich der König für den ersten, der auf das Dorf anspielt, wo Jesus den gestorbenen Lazarus auferweckte und dessen Schwester Maria ihm die Füße gesalbt und mit ihren Haaren getrocknet hatte (Johannes, 11,1-46). Die Zeremonie galt der Einweihung der Heil- und Bildungsanstalt, vom Schwanenorden war nicht mehr die Rede. Von 9 Uhr morgens an versammelten sich die zahlreichen Gäste: unter anderen Staatsminister General von Boyen, Eichhorn, von Bodelschwingh, von Savigny, Uhden, von Dürsberg und Generalieutenant von Rohr, Stadtkommandant General von Ditfurth, Vertreter der Staats- und Stadtbehörden, Polizeipräsident von Minutoli und Oberbürgermeister Krausnick. Als 10.30 Uhr die neuen Kirchenglocken ertönten, erschien der König in Begleitung des Prinzen Adalbert und des Hofstaates. Sie wurden am Hauptportal von Minister Eichhorn, der Oberin und dem Bauinspektor Stein empfangen. Stein gab dem König die Schlüssel, der sie der Oberin überreichte, die sie ihrerseits an Stein weiterreichte, der das Tor öffnete. Nun traten die Geistlichen in Aktion, an ihrer Spitze die beiden Bischöfe Neander und Roß. Sie eröffneten den Zug, König und Begleitung folgten. Bischof Neander predigte, und unter Assistenz der luisenstädtischen Pfarrer Hetzel und Bachmann gab er dem Haus seinen Namen, führte den Anstaltspastor Schulze in sein Amt ein und segnete die neun aus Kaiserswerth kommenden Diakonissen und die Oberin, der er das „Gelübde treuer Pflichterfüllung" abnahm, durch Handschlag ein. Zum Schluß sprach Fliedner. Die Anwesenheit von Hof, Staat, Magistrat und Landeskirche verwies auf eine vermeintlich neutralisierte politische Bedeutung des

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Ereignisses. Auch wenn der Schwanenorden vergessen zu sein schien und die Rolle der Landeskirche stark betont wurde, täuschte der Eindruck. Es handelte sich um eine Demonstration königlicher und staatlicher Initiative, die weder die Stadtverwaltung noch die lokalen Empfindsamkeiten zum Ausdruck kommen ließ.

Bethanien und die Liberalen Wenige Monate nach der Eröffnung von Bethanien veränderte die Märzrevolution die politische Situation in Preußen. Die Probleme, die sich daraus für die Anstalt ergaben, waren zahlreich und langfristig. Sie ergaben sich aus dem Umstand, daß der König, nunmehr konstitutioneller Herrscher, nicht mehr nach eigenem Belieben über die Finanzierung des Krankenhauses verfügen konnte. Jetzt stand das Eigentum an der Stiftung in Frage und damit ihre Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Ministerium. Marianne von Rantzau schrieb unter dem Datum vom 22. März 1849 in ihr Tagebuch, sie könne von Seiten des Königs auf keine Hilfe rechnen. „Nach außen haben wir es oft schmerzlich empfunden, daß wir auf eine Stütze von seiten des Königs gar nicht mehr rechnen dürfen, daß er uns hingegen in die Hände seiner Minister (sie!) [gibt], und damit unser Haus eingereiht ist in die eigentlichen Staatsanstalten und seine ihm anfangs zugesicherte freie Stellung verloren hat ... Uns allen ist dies eine heilsame Schule, uns nicht zu verlassen auf Menschen, uns nicht zu verlassen auf Fürsten, sondern zu vertrauen auf den Herrn allein, der alle ihre Anschläge zu Schanden machen kann, wenn nach seinem Willen das Werk bestehen soll."^7 Die Frage des Eigentums wurde formal erst 1855 gelöst, als der König nach langem Streit und juristischen Diskussionen unter den beteiligten Ministerien der Anstalt das Grundstück und Gebäude, nicht aber die Einrichtung schenkte. Damit war aber das Grundproblem nicht gelöst: das Fehlen einer Finanzierung der laufenden Kosten. Die Gebäudemasse Bethaniens allein schon machte ungeheure Summen zur bloßen Unterhaltung nötig. Die vom König gewollte und sowohl gegen den Rat von ThiEmst Schering, Ermunterung zur diakonischen Existenz. Aus dem Briefwechsel Fliedners mit Marianne von Rantzau, erste Oberin des Mutterhauses Bethanien in Berlin, in: Die Innere Mission, Berlin, H. 11 (1972), S. 475 ff-, Zitat S. 492.

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les und Fliedners als auch gegen die Ansicht der Gründungskommission und des Magistrats durchgesetzten monumentalen Dimensionen erwiesen sich nicht nur als eine unerschöpfliche Quelle von Geldsorgen, sondern auch von Antipathie und Verständnislosigkeit der Bürgerschaft. Denn im Widerspruch zu seiner Größe begann das Haus wegen des Mangels an Schwestern seine Tätigkeit mit einer geringen Zahl von Kranken, die in keiner einleuchtenden Beziehung zur Bettenzahl stand. Dadurch setzte sich das Krankenhaus der Kritik der öffentlichen Meinung aus, die ihm ohnehin skeptisch gegenüberstand. Die öffentliche Feindseligkeit wurde in Bethanien so stark empfunden, daß 1850 der Vorsitzende des Kuratoriums, Götze, hierzu eine Studie verfaßte, in der er die Gründe dafür darlegte und die Möglichkeiten, ihnen abzuhelfen.^8 Auch Götze sah in der Größe Bethaniens eine der wesentlichen Ursachen für seine mangelnde Popularität: Das Mutterhaus hätte klein anfangen müssen, um „mit Gottes Hilfe" und durch das Wirken gläubiger Männer und Frauen wachsen zu können, wie zahllose private Vereine zuvor gezeigt hatten. Für die liberale öffentliche Meinung handelte es sich um eine Unternehmung bigotter Adliger und der Ultrakonservativen. Von den in den Barrikadenkämpfen im März 1848 Verwundeten fanden 45 in Bethanien Aufnahme, elf starben an Wundfieber. Es fehlte „nicht an manchem gehässigen Angriff in öffentlichen Blättern gegen die Krankenhausverwaltung, was man indessen mit Stillschweigen ertrug".® Diese Anspielung des Pastors von Bethanien, Schulze, galt jenen, die die Anstalt beschuldigten, sie habe die Märzkämpfer gar nicht retten wollen. Varnhagen von Ense spricht in seinen Tagebüchern von Bethanien nur in Zusammenhang mit Bemerkungen über „widerwärtige Frömmelei" oder mit Skandalgeschichten, die sein Mißtrauen und seine Schadenfreude zeigen: „Im Krankenhaus Bethanien werden die Kranken mit Beterei gräßlich geplagt; der Hauptzweck der Behandlung ist, die Gewissen aufzuregen, die Kranken zum Bewußtsein ihrer Sünden und zu dem Bekenntniß zu bringen, daß sie ihre Leiden verdient haben. Wenn sie wegen übergroßer Schmerzen klagen, verweist man ihnen das als einen Mangel an Ergebung. Ja selbst die körperliche Pflege wird ihnen bisweilen versagt, um sie Geduld zu

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Fliedner-Archiv, Kaiserswerth, Gutachten Götze. Pastor Schulze, Bethanien..., S. 47; K. Kupisch, Bethanien...,

S. 29.

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lehren. Eine von heftigen Krämpfen heimgesuchte Kranke bat vor einiger Zeit Nachts um Kamillenthee, der die Schmerzen lindern würde; sie wurde belehrt, sie möge sich in Geduld fassen bis zum Morgen, in der Nacht könne man sich mit dergleichen Bereitungen nicht abgeben! Ganz arme Leute haben von dort schon nach Hause zurück verlangt, obschon sie hier manchem Mangel entgegensehen mußten. Das Frömmlerwesen vernichtet alles Gute, was die Anstalt haben könnte, es stiftet überall nur Unheil ... Die Oberin von Bethanien, Marianne von Rantzau, sollte vor Gericht geladen werden, weil eine ihrer Diakonissinnen sich das Leben genommen hat, man sagt aus Verzweifelung über die gegen sie ausgeübte Strenge. Durch höheren Einfluß ist die Vorladung unterblieben. Unabhängigkeit der Gerichte! ... Die aus Bethanien mit einem Hausknecht entflohene Diakonissin setzt die fromme Welt in größten Aufruhr. Die Scheinheiligen, die Eitelfrommen, sind voll erbitterter Scham und Wuth. Erst wollte man den Vorgang dem König und der Königin verbergen, da das nicht ging, so will man wenigstens die Öffentlichkeit möglichst vermeiden, und ein höchster Befehl verbietet von der Sache zu reden. Hinckeldey hat die Zeitungen vertraulich warnen lassen, besonders den Kladderadatsch." Und einen Tag später: „Schlechte Wirtschaft in Bethanien. Bei aller Pracht des Äussern sind 10 Kranke in mäßigen Zimmern aufgehäuft. Eigentliche Krankenpflege vernachläßigt, Beten und Singen mit Eifer getrieben. Die geringen Leute sagen, es komme auch viel Liederlichkeit vor, die Diakonissinnen seien ζ. T. schlechte Weibbilder, sc."70 In der Reaktionszeit verdichtete sich dieses Bild, das den Bau nicht ohne Grund als Sinnbild der gesamten Weltanschauung des Königs sah. Der fast leerstehende Krankenhausbau machte es den Liberalen leicht, ihren Haß auf die politisch bedrückende Situation auf diesen zu übertragen. Zwei Romane - in der Reaktionszeit übliche Vehikel politischer Kritik - machten in diesem Sinne Bethanien zu ihrem Schauplatz, 1849 „Zwei Schützen" von Alexander von Ungern-Sternberg, 1855 „Die Diakonissin" von Karl Gutzkow.71 Im

70 Varnhagen von Ense, Tagebücher, Zitate aus: Bd. 10, S. 378 (Eintragung vom 14. 12. 1853), Bd. 9, S. 3 (Eintragung vom 2. 1. 1852), und S. 310 (Eintragung vom 8. 5. 1854), Bd. 11, S. 61 und 63 (Eintragungen vom 29. und 30. 7. 1852). 71 Gutzkow war ein sehr gemäßigter Liberaler, siehe Claus Richter, Leiden an der Geseüschafl. Vom literarischen Liberalismus zum poetischen Realismus, Königstein/ Ts. 1978, S. 113 f.

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ersten wird die Oberin als eine Dame von hohem Rang, aber ohne Herz beschrieben. Marianne von Rantzau schrieb an Fliedners Frau, es sei darin ein Untergrund von Wahrheit.72 Nicht so polemisch war der zweite Roman. Trotz der Trivialität der Handlung - eine Liebesgeschichte mit allen möglichen rührenden Gemeinplätzen - kann man den Roman von Gutzkow zum Teil als eine soziologische Analyse der Motive lesen, die Frauen zu Diakonissen werden ließen. Das Diakonissenhaus als Zufluchtsstätte für unglücklich liebende, verlassene Frauen der oberen Stände bedeutet für die Suche dieser Frauen nach einer Rolle in der Gesellschaft eine ernste Alternative zur verpaßten Ehe. Gar nicht spöttisch ist der allgemeinen Ton: Die verschiedenen Personen der Handlung äußern ernsthafte Bedenken über die Anstalt. Das interessanteste Argument kommt von einer Diakonissin: Nicht an Pflegerinnen habe es bis jetzt gefehlt, sondern an Pflegeanstalten. Würde man solche reichlich bauen, an Personen, „die in einer so übersetzten Zeit wie die unsrige für den Lohn, den auch die Diakonissinnen bekämen, mit Aufmerksamkeit den Athemzug der Leidenden belauschten, würde es gewiß nicht fehlen". 73 Theodor Fontane, damals Apotheker in Bethanien, äußerte sich in einem Brief an seinen Freund Lepel empört über den ersten Roman und bezichtigte den Autor, mit unwürdigen Mitteln einen leichten Erfolg anzustreben.74 Die Anwesenheit eines Demokraten, wie des jungen Fontane, in Bethanien ist an sich merkwürdig.75 Fontane wurde vom Krankenhauspastor Schulze eingestellt, einem rigiden Konservativen, der seit langem mit der Familie Fontane befreundet war und damit gegenüber dem Ministerium, das einen anderen Kanditaten vorgeschlagen hatte, die Unabhängigkeit des Kuratoriums von Bethanien betonen wollte. Wenige Stunden am Tag mit der Unterrichtung zweier Schwestern in der Pharmazie beschäftigt, konnte Fontane, der auf dem Gelände selbst wohnte, den größten Teil seiner Zeit der Abfassung politischer Artikel antimonarchistischen Inhalts und von Briefen wid72

E. Schering, Ermunterung..., S. 493. Karl Gutzkow, Die Diakonissin. Ein Lebensbild, Frankfurt a. M. 1855, S. 177. 74 E. Schering, Von der Revolution zur preußischen Idee. Fontanes Tätigkeit im Mutterhaus Bethanien und der Wandel seiner politischen Einstellung, in: Zeitschrift für Religions-und Geistesgeschichte, Bd. 22 (1970), H. 4, S. 315 f. 75 Allerdings wurde Fontane von der späteren Kritik als politisch „unzuverlässig" angesehen, vgl. Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, 2. Aufl., Stuttgart 1980, S. 4. 73

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men: „Ich will ein freies Volk; Namen tun nichts zur Sache, ich hasse nicht die Könige, sondern den Druck, den sie mit sich führen. Man spielt kein ehrliches Spiel, und darum will ich die Republik. Es gibt keine deutsche Einheit bei 37 Fürsten, und deshalb will ich sie noch einmal."76 Die aristokratische Note, die die erste Oberin dem entstehenden Diakonissen- und Krankenhaus verlieh, sollte die Anstalt auch weiterhin beibehalten. Als Marianne von Rantzau schon 1855 starb, wurde als Nachfolgerin die Gräfin Anna von Stolberg-Wernigerode berufen, Tochter des damals amtierenden Ministers. Erst die dritte, 1868, und die vierte Oberin, 1873, waren bürgerlicher Herkunft. Die vierte war immerhin eine geborene von Gerlach. Die fünfte Oberin wiederum, eine Gräfin von Keller, war eine Nichte der zweiten. Obwohl Bethanien eine in sich geschlossene, religiöse, aristokratisch getönte und mit dem Herrscherhaus eng verbundene Welt darstellte, funktionierte es trotz der langen Anlaufphase doch von Anfang an als Krankenhaus und als Diakonissen-Mutterhaus, also als Anstalt für die Schwesternausbildung. Mit seinen 360 Betten konnte es natürlich nie so viele Kranke aufnehmen wie die Charité, aber Armenärzte und Armenkommissionen vor allem aus der Luisenstadt schickten in wachsender Anzahl Kranke dorthin. 1849 betrugen die Aufwendungen der Armendirektion für Krankenpflege in der Charité 12 000 Taler, für Bethanien bloß 109; 1850 waren es 18 717 gegenüber 194 Talern; 1851 aber 12 676 gegenüber 4002 Talern. Als die Krankenanstalt ihre Kapazitätsauslastung erreichte, wurden rund 500 Arme pro Jahr gepflegt. 77 Der auffällige Umschwung im Jahre 1851 kann nur schlecht mit der wachsenden Ausweitung des Krankenhausbetriebs erklärt werden. Es dürfte sich darin auch die veränderte Haltung der städtischen Verwaltung spiegeln. Die Liberalen hatten im Februar 1850 schon demissioniert und waren von 1851 an nicht mehr in der Stadtverordnetenversammlung vertreten. Wenn die liberale Polemik, wie noch zu zeigen sein wird, auf die Schwierigkeiten des Magistrats hindeutet, die Armenpflege im konservativen Sinne zu bestimmen, dann weist das zumindest auf eine öffentlich diskutierte Änderung dieser 76 77

E. Schering, Von der Revolution..., S. 305.

LAB (STA), Rep. 03, Bd. 95-102, Monatsblätter..., Jg. 1849-1859, Stadtarchiv Berlin. Unklar ist, ob die Stiftung von 50 Betten durch die Stadtgemeinde in diesen Zahlen schon enthalten ist.

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Haltung hin. Die Neutralisierung der Liberalen im Magistrat in den fünfziger Jahren erlaubte Bethanien, in Ruhe zu wachsen. Dagegen ergriff der aus den Wahlen von 1861 hervorgegangene, von den Liberalen dominierte Magistrat die Gelegenheit, sich der öffentlichen Polemik gegen Bethanien und die dominante Stellung des Pastors Schulze auch in praktischen Fragen anzuschließen und damit zu Schulzes Sturz beizutragen, als sich eine in den fünfziger Jahren beginnende Kette von Todesfällen durch Wundfieber Ende der sechziger Jahre auffällig verdichtete. Da man damals noch nicht wußte, wie dem Wundfieber beizukommen war, beleuchtete diese späte Revanche der Liberalen nur ihre politischen Vorbehalten.

Die Gründung der fakobi-Gemeinde Das Krankenhaus Bethanien war nicht die einzige monarchische Festung, die der König in der Luisenstadt und auf dem unbebauten Köpenicker Feld errichten ließ. Am 3. August 1843, demselben Jahr, in dem Friedrich Wilhelm den Bau eines Modellkrankenhauses für den Schwanenorden beschloß und Naunyn die Separation des Köpenicker Feldes zu einem vorläufigen Abschluß brachte, schlug der zweite Pfarrer an der Luisenstadtkirche, Johann Friedrich Bachmann, dem Magistrat die Teilung der Luisenstadtgemeinde vor, also die Bildung einer neuen Gemeinde, die er zu übernehmen versprach. 78 Diese Gemeinde wurde unter größter Anteilnahme des Königs tatsächlich geschaffen und mit einer genau seinen Vorgaben entsprechenden Kirche ausgestattet. Das Außerordentliche der Maßnahme zeigte sich diesmal nicht durch den Bau eines Monuments an einem großen Platz auf freiem Felde, sondern umgekehrt durch Einfügung einer neuen, im Bebauungsplan nicht vorgesehenen Kirche in eine vorhandene Straßenflucht. Den Hintergrund für die Teilung der Parochie bildete zunächst das Bevölkerungswachstum. Dieses Argument brachte allerdings nur derjenige Teil der Gemeinde vor, der eine „aggressive Seelsorge" für nötig hielt.79 Der Kirche unterstand bis 1874 die Führung der Personenstandsregister. Kirchliche Trauung, Taufe und Beerdigung waren 78 Zur Vorgeschichte dieser Teilung vom kirchengeschichtlichen Gesichtspunkt aus vgl. K. Duntze, Kirche zwischen König und Magistrat... 79 Ebda.

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öffentlichen Dienste, die von sämtlichen Einwohnern zwangsläufig in Anspruch genommen wurden, weil es kein kommunales Standesamt gab. Daher spielte es an sich keine große Rolle, wieviele der neu zugezogenen Bewohner spezifisch geistliche Dienste beanspruchten. Das Bedürfnis nach einer neuen Kirche war trotzdem umstritten. Der behauptete kirchliche Notstand war eine Frage der Interpretation von Gemeinde und pfarramtlicher Arbeit. Entsprechend dem pietistischen Standpunkt sollte der Prediger aktiv, also durch Hausbesuche, etwa 3000 Seelen betreuen, vom Standpunkt des Rationalismus aus wirkte er durch die Predigt, und seine Gemeinde konnte daher viel größer sein. Bereits 1838 war mit der Verlängerung und Bebauung der Alten Jakobstraße begonnen worden; unmittelbar nach der Genehmigung des Bebauungsplanes wurden die Verlängerung der Sebastianstraße und die nördliche Verlängerung der Feld-, der künftigen Alexandrinenstraße, angelegt, im folgenden Jahr die Schmidstraße und die Neanderstraße. Da es sich um nicht der Separation unterliegendes Land handelte, konnte es sofort parzelliert und bebaut werden, was auch innerhalb von zwei Jahren geschah. Mit dem Abschluß der Separation begannen bereits die Grundstücksverkäufe an der Oranienstraße, wo die Bebauung 1845 einsetzte. Der Ausbau der Luisenstadt spiegelte sich im Anstieg der Einwohnerzahl wider. 1843 zählte die Luisenstadtgemeinde bereits 36 000 Seelen. Eine Kirche war in der Gegend, in der das Wachstum des Viertels erfolgte, im Bebauungsplan nicht vorgesehen. Der projektierte Kirchplatz lag im östlichen Teil des Köpenicker Feldes, eben der Mariannenplatz, an dem Bethanien errichtet wurde. Dort fehlten aber alle Ansätze zu einer raschen Parzellierung und Bebauung, während Bachmann erkannt hatte, daß das unvermutete Wachstum der Luisenstadt nach Süden einen unmittelbar im Neubaugebiet gelegenen Kirchenstandort möglich machte. Es handelte sich aber bei der Initiative Bachmanns um weit mehr als eine bloße Frage der Organisation. Bachmann, 1799 in einer märkischen Kleinstadt geboren, hatte nach Studium und Promotion im Schindlerschen Waisenhaus gearbeitet, war in den zwanziger Jahren Prediger der deutschen Gemeinde in Lissabon gewesen und wurde 1828 zum zweiten Prediger an der Luisenstadtkirche gewählt. Von Beginn seiner Tätigkeit an arbeitete er im Luisenstädtischen Wohlfahrsverein mit, dessen Vorsitz er 1830 übernahm, unterstützt vom jungen Kochhann. Während Bachmann in den zwanziger Jahren noch als Liberaler wahrgenommen wurde,

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wandte er sich in den dreißiger Jahren in steigendem Maße orthodoxpietistischen Einstellungen zu, in scharfem Kontrast zum ersten Prediger Christian Wilhelm Hetzel. Kochhann schreibt: „Schon während der letzten Jahre seines Amtes als zweiter Prediger der Luisenstädtischen Kirche, war Bachmann bemüht, eine strenggläubige Richtung und frömmelnde, zum Katholizismus neigende Formeln einzuführen ... Bachmann, ursprünglich ein freisinniger Mann und von wahrhaft christlicher Gesinnung, ließ sich leider durch die romantisch-religiösen Anschauungen König Friedrich Wilhelms IV. verleiten, die St. Jacobi Kirchengemeinde nach dessen Sinn zu begründen." 80 Bachmann setzte sich nicht nur für katholisierende Formen ein, seien es liturgische Neuerungen, sei es die Wiedereinführung der privaten Beichte, sondern er forderte wie Otto von Gerlach, daß man nach dem Beispiel von Chalmers die Armen zu Hause aufsuchen sollte. Es ist durchaus möglich, daß Bachmann, wie Kochhann unterstellt, auf die Seite der Konservativen überging und sich zum Bannerträger der Ideen des Königs machte, um eine eigene Gemeinde zu bekommen. Nach einer wohlwollenderen Quelle bekehrte sich Bachmann, der als Student sowohl beim „Rationalisten" Schleiermacher als auch beim orthodoxen Lutheraner Tholuck Vorlesungen gehört hatte, zum Luthertum in der Folge einer Gewissenskrise.81 In seinem 1838 erschienenen Werk über die Geschichte der Luisenstadt läßt die Charakterisierung seiner Vorgänger den neuen Standpunkt bereits deutlich erkennen. 82 Es scheint, als hätten sich auch innerhalb der Gemeinde zwei Fraktionen gebildet. Jedenfalls schrieb der pietistische Baron von Seid, Gründer eines gegen entsprechende liberale Vereine gerichteten monarchisch-pietistischen Handwerkervereins,83 im September 1843 zwei Artikel in einer Berliner Tageszeitung, in denen er in biblischem Stil den Verlauf einer Versammlung mit den Bewohnern jener Straßen beschrieb, die in die neue Gemeinde übergehen sollten: Als die Frage gestellt wurde, ob eine neue Gemeinde gegründet werden solle, „da stand die ganze Versammlung auf wie ein Mann. 80

Kochhanns handschriftliche Aufzeichnungen, zitiert in: P. Kampffmeyer, Blutsverwandte deutsche Familien..., S. 85 f. Siehe auch oben, S. 66. 81 Zum Gedächtnis des Ober-Consistorialraths und Pfarrers zu St. Jacobi Dr.Joh. Friedr. Bachmann, Berlin 1876. 82 J. F. Bachmann, Die Luisenstadt..., S. 182 f. 83 E. Dronke, Berlin..., S. 274.

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Nur ein Widerspruch ward laut. Er ging aus von einem Mitgliede der alten Parochie, ward von dem Syndicus mit Freundlichkeit beseitigt, von der Versammlung mit Eifer zurückgewiesen und diente nur dazu, das Gefühl der Gemeinsamkeit, der innigen Einigkeit noch mehr hervorzuheben. Erhöht wurde die allgemeine Begeisterung durch die bis dahin aufgesparte Mittheilung, daß Se. M. der König bereits einen Bauplatz unentgeltlich bewilligt. Keiner wollte nun zurückbleiben, viele unterzeichneten in der Versammlung schon Beiträge zum Kirchbau, andere nahmen die Listen mit, um im weitern Kreise dafür zu wirken, und als die Aufforderung erging, daß sich Diejenigen melden möchten, die mit Lust und Liebe sich unentgeltlichen Diensten für die neue Kirche unterziehen wollten, da traten viele Männer aus allen Ständen hervor und verpflichteten sich freudig und wetteifernd zu solchem Liebeswerk, so daß in wenigen Monaten die festgesetzte Zahl fünfzig erfüllt war ... So war Das, worüber die Behörden monatlang vergeblich conferirt und deliberirt, in einer einzigen schönen Stunde vollendet, als man sich an die Gemeinde wandte." 84 Diese ganz in der Gedankenwelt des Königs gehaltene Schilderung, in der auch der Magistratsvertreter selbstlos mitwirkt, ist offensichtlich nur die Sicht der einen Fraktion, vermutlich der Minderheit. Es ist gar nicht verwunderlich, wenn diesem orthodox-pietistischen Ansturm gegenüber die Stadtverwaltung, deren Exponenten überzeugte Schleiermacherianer waren, 85 tunlichst lange „deliberine" und immer neue Fragen aufwarf, die auf eine Boykottierung der Absicht einer Gemeindegründung hinausliefen. Anfänglich unterstützte der Magistrat Bachmanns Initiative durchaus und beauftragte den Syndikus Hedemann damit, die entsprechenden Versammlungen mit den betroffenen Gemeindemitgliedern zu veranstalten, die darüber zu entscheiden hätten. Hedemann war als Magistratsvertreter, der das Patronatsrecht des Magistrats wahrnahm, ohnehin Mitglied des Gemeinderats der Luisenstadtkirche. Neben Hedemann saßen im Kirchenvorstand der Rendant und Stadtverordnete Dieterichs, Hofinstrumentenmacher Andreé, Braueigner Radicke und Lohgerbermeister Martin Kampffmeyer - alle langjährige Mitglieder der kommunalen Armenkommission. Im Kirchenvorstand und in der Gemeinde waren die Meinungen über die Teilung 84 85

Berlinische Nachrichten, Nr. 229 vom 30. 9. 1843 und Nr. 237 vom 1. 10. 1843. K. Duntze, H. E. Kochhann..., S. 22.

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der Parochie geteilt. So protestierte der Teil der Gemeinde, der sich von der Darstellung des Barons von Seid distanzieren wollte, mit einer Gegendarstellung des Schlossermeisters Krüger, eines Armenkommissionsvorstehers, in der Vossischen Zeitung86 Es war das erste Mal, daß die Initiative zu einer derartigen Teilung von einem Gemeindepfarrer ausging, und Bachmann erklärte sich später die „starke Opposition"87 gegen das Vorhaben mit den dadurch aufgeworfenen Schwierigkeiten. Die entstehenden Probleme waren nicht leicht zu lösen, da finanzieller Natur: die Teilung des Grundbesitzes (Friedhöfe) und die Aufteilung der Straßen. (Zahl und Status der Gemeindemitglieder bedingten die Einkünfte aus der Kollekte.) 450 Häuser mit 20 000 Seelen sollten nach der Teilung des Gemeindebezirks bei der Stammgemeinde verbleiben, 400 Häuser mit 16 000 Seelen sollten die neue Gemeinde bilden.88 Was den Magistrat jedoch irritierte, waren die direkten Beziehungen, die Bachmann und Hedemann - letzterer offensichtlich ohne Rücksprache mit seinen Kollegen und von Bachmann mitgezogen zwischen der neuen Gemeinde und dem König herstellten. Am 2. September 1843, also drei Wochen vor der Sitzung, auf der die beteiligten Gemeindemitglieder der Neugründung zustimmten, hatten beide dem König einen Bericht geschickt, in dem sie die Sachlage schilderten und ihn persönlich um die Schenkung eines Baugrundstücks baten. Am 24. September antwortete Friedrich Wilhelm zustimmend und begrüßte das Unternehmen. So konnten Bachmann und Hedemann am nächsten Tag in der Gemeindeversammlung diese Entscheidung bekanntgeben und daraufhin mit der Sammlung für den Kirchenbau beginnen. Am 12. Dezember beschloß der Magistrat eine Dreiteilung der Luisenstadtgemeinde, wobei zwei neue Kirchen zu errichten wären: die von Bachmann geplante und die vom Bebauungsplan vorgesehene. Inzwischen hatten Bachmann und Hedemann dem König bereits ein Baugrundstück vorgeschlagen, das in der Oranienstraße dem Jakobskirchhof gegenüber lag und im Besitz eines Kaufmanns war, der es aus Spekulationsgründen soeben von einem an der Separation des Köpenicker Feldes Beteiligten erworben hatte. Gleichzeitig wurde Ebda, und Vossische Zeitung, Nr. 230 vom 2. 10. 1843, erste Beilage. Ebda. 8 8 J. F. Bachmann, Die ersten 25Jahre der St. Jacobi-Gemeinde zu Berlin, Berlin 1870, S. 4. 86 87

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der Finanzminister vom König angewiesen, die Kaufsumme bereitzustellen, und schon im Januar 1844 konnte der Kaufvertrag abgeschlossen werden, fast gleichzeitig mit der ministeriellen Bestätigung der neuen Gemeinde gegenüber dem Konsistorium. Stüler fertigte auf königlichen Befehl den Entwurf an, nach dem dann auch gebaut wurde, und der erfahrene und vielbeschäftigte königliche Baumeister C. G. Holtzmann, später Stadtbaurat und einer der größten Grundbesitzer im Bereich der Separation, erbot sich, die Bauleitung kostenlos zu übernehmen. Im März 1844 reichte die Kirchbaukommission den Bauantrag ein. Während eine erste Sammlung bereits 5000 Taler erbracht hatte, kamen weitere Mittel dadurch hinzu, daß die Cöllnische Ackerschaft ein ihr genossenschaftlich verbliebenes Separationsgrundstück zur Verfügung stellte.89 Durch diese Vorgänge sah sich der Magistrat beiseite gedrängt. Offenbar blieb ihm nichts anderes übrig, als den Bauantrag zu bemängeln. In Bachmanns späterer Schilderung: „Eine Erwiderung des Magistrats vom 30. April theilte ein Gutachten der Städtischen Bau-Commission mit, welches die eingereichten Baupläne und Anschläge für unvollständig erklärte und mannigfache Bedenken dagegen erhob, zugleich auch einen näheren Nachweis über das vorhandene Bau-Capital und über die Beschaffung der noch erforderlichen Geldmittel forderte."90 Mit diesen Forderungen - es dürfte sich, was den Entwurf angeht, ausschließlich um Fragen der technischen Sicherheit gehandelt haben, in denen Stadtbaurat Langerhans so erfahren wie penibel war - verschlechterte der Magistrat aber seine Position nur noch weiter. Die Jakobi-Baukommission appellierte an das Ministerium mit der Bitte, die Oberbaudeputation einzuschalten. Diese gab einigen Mónita recht und widerlegte andere, woraufhin am 13- Juni der König seinerseits, als handele es sich um einen Immediatbau, den Entwurf Stülers genehmigte und befahl, unverzüglich mit dem Bau zu beginnen. Das ließ sich Bachmann nicht zweimal sagen. Maurer- und Zimmermeister, Mitglieder der neuen Gemeinde, waren für den Bau bereits fest vorgesehen. Auch die weiteren Arbeiten wurden, so weit als möglich, an Handwerksmeister aus der Gemeinde vergeben. Es wurde mit so großer Eile gebaut, daß im November bereits der Rohbau fertig war und das Richtfest begangen werden konnte. A. a. o., s. 9 f. A. a. O., S. 10.

89 9Q

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Mit dem Baubefehl war über die Frage des Patronats rechtlich noch nicht entschieden. Patronatsherr der Berliner Kirchen war in der Regel der Magistrat, es sei denn, es handelte sich, wie bei den „Normalkirchen" von 1832, um königliche Gründungen. Der Patronatsherr übernahm die Bau- und Unterhaltskosten und hatte ein Recht zur Ernennung des Predigers.91 Im Falle der Luisenstadtkirche stand das Patronatsrecht des Magistrats außer Frage. Im Falle der Jakobikirche übte der König, ohne daß es darüber zu einer Einigung gekommen war, faktisch bereits Patronatsrechte aus. Der Magistrat hatte demgegenüber wenig Neigung, die finanziellen Lasten zu übernehmen. Bachmann hingegen verfolgte die Strategie, einerseits das Patronatsrecht weiter auszuhöhlen, andererseits den Magistrat nicht als finanzielle Stütze zu verlieren. So beantragte er unter Hinweis auf den begonnenen Bau beim Magistrat, das Patronat zu übernehmen, und bat zur gleichen Zeit den König, den Namen der Kirche und den Zeitpunkt der Grundsteinlegung zu bestimmen und dieser beizuwohnen. Der König entschied sich wegen der Nähe zum Jakobshospital und Jakobsfriedhof für den Namen St. Jakobi und setzte den 2. Juli als Tag der Grundsteinlegung fest. Diese fand in Anwesenheit von Hof, Staat und Stadtverwaltung statt, wobei der Oberbürgermeister den König empfing. Der aktuelle Konflikt kam nirgendwo zum Vorschein. Faktisch aber war es schon zum Bruch gekommen. Die Stadtverordnetenversammlung, die offensichtlich in der Mehrheit auf der Seite der Mitglieder der Luisenstadtgemeinde um Krüger stand, hatte massiv Druck auf den Magistrat ausgeübt, seine Vertreter aus dem Gründungskomitee zurückzuziehen: Ihre Eigenschaft als Magistratsmitglieder vertrage sich nicht mit der Beteiligung an diesem Vorhaben. Daraufhin traten die beiden Vertreter, Hedemann und der in der neuen Gemeinde wohnende Stadtrat Hollmann, wenige Tage vor der Grundsteinlegung aus der Kommission aus. Ebenso hatte der Magistrat bereits zehn Tage vorher beim König gegen die Verletzung seiner Patronatsrechte und der öffentlichen Ordnung protestiert. Vergleichsverhandlungen in der Patronatsfrage blieben erfolglos. Vom König bekam der Magistrat zu hören, ein Patronatsrecht stehe ihm nicht ohne weiteres zu, sondern könne nur durch Übernahme finanzieller Leistungen und durch königliche Verleihung erworben

K. Duntze, Kirche zwischen König und Magistrat...

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werden, dieser habe sich, da die Eigenschaft der neu konstituierten Gemeinde nicht länger in Frage gestellt werden dürfe, aber binnen vier Wochen zu entscheiden. Für diesen Fall wurde ihm allerdings zugestanden - an sich eine Desavouierung des bereits amtierenden Vorstandes der neuen Gemeinde - , daß je eine Versammlung der alten und der neuen Gemeinde über Besitzteilung und Neuwahl der Gemeindevertreter der neuen Gemeinde entscheiden solle. Damit sahen Bachmann und die Seinen sich offenbar in die Defensive gedrängt, so daß sie zwar sich zu fügen versprachen, zugleich aber auf eigene Kosten eine Broschüre herausbrachten, in der sie ihre bisherige Tätigkeit ins rechte Licht setzten. Als sich der Magistrat mit der Berufung der Versammlungen Zeit ließ, appellierte man schließlich im Dezember an das Konsistorium, kommissarisch eine Versammlung einzuberufen, außerdem möge der König das Patronat nicht länger für den Magistrat zur Verfügung halten, sondern selber in Anspruch nehmen; gleichzeitig bat man um einen weiteren Vorschuß aus dem Patronatsbeitrag zur Bestreitung der Baukosten. 92 Zu dieser Versammlung kam es im Februar 1845 in der Tat, der Gemeindevorstand wurde neu gewählt, im wesentlichen die bisherigen fünfzig Personen, und wenige Tage später übernahm der König das Patronat. Am 5. Oktober 1845 wurde die Kirche in Anwesenheit von König, Hof, Staat und Magistrat eingeweiht. Die für sie gewählte Architektur einer altchristlichen Basilika spiegelt sehr genau die auf die altchristlichen apostolischen Anfänge der Kirche zurückgehenden Ideale Friedrich Wilhelms wider. „Das einzige Mögliche und das wahrhaft nothwendige sey seit 1800 Jahren da, als Vermächtnis der Apostel. Es sey nur gerade so, wie damals gebaut worden, wieder zu bauen", formulierte der König sein architektonisches Bekenntnis, wenn auch nicht direkt auf die Jakobi-Kirche bezogen, in einem Brief an Bunsen. 93

St. Jakobi und die Innere Mission Bachmann begann mit einer organisatorischen Neuerung: einer Gemeindeverfassung, der ersten Berliner überhaupt. Zusammen mit einer neuen Kassenverwaltung - alle Einkünfte der Gemeinde gin92

J. F. Bachmann, Die ersten 25Jahre..., S. 17. L. v. Ranke, Aus dem Briefwechsel..., S. 49. Vgl. auch G.-H. Zuchold, „Gerade

so"..., S. 10.

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gen in eine Kasse, aus der nach festen Ansätzen sämtliche Ausgaben bestritten wurden - ist die Modernisierungs- und Konstitutionalisierungsmaßnahme in der Hand Bachmanns auch als Mittel einer strafferen Gemeindeführung zu sehen. Sie hob sich ab gegen die altertümlichen Verhältnisse in der Luisenstadtgemeinde, die noch an der untergehenden Honoratiorengesellschaft orientiert waren. Bachmann war sich als guter Kenner der sozialen Verhältnisse der Luisenstadt darüber im klaren, daß er es mit dem ärmeren und sozial schwächeren Teil zu tun hatte. Die wenigen Honoratioren, die er in die Gemeindevertretung zu holen vermocht hatte, erwähnte er noch im historischen Rückblick ausdrücklich. Das neue Gemeindestatut läßt sowohl den Widerwillen der Stadtverordneten als auch den Enthusiasmus des Königs begreiflich erscheinen: Übereinstimmend mit Friedrich Wilhelms Vorstellungen von einer Erneuerung der Kirche sollte es in der neuen Gemeinde Diakone geben, um die Pflege der Kranken, Armen und Kinder zu übernehmen. Die Parochie wurde in sieben Bezirke geteilt, anfangs kirchliche Armenkommissionen, später Pflegschaften genannt, die jeweils Freiwilligen anvertraut waren, den bekanntesten Gemeindemitgliedern und ihren Frauen. Es ging darum, der städtischen Fürsorge eine geistliche Fürsorge an die Seite zu stellen, die „das Übel an der Wurzel packt". Erste Ursache des Elends sei, behauptete Bachmann, die Entfernung von der Kirche. Er betonte selber, wie St. Jakobi sich mit diesem Statut ein Privileg erworben habe, das keine andere Berliner Gemeinde besitze: eine Erweiterung des sozialen Handlungsfeldes der Kirche.94 Bachmanns Argumente sind die von Chalmers und Gerlach: Die private Wohltätigkeit bringe oft mehr Schaden als Hilfe, wenn sie nicht vom aufmerksamen Auge der ehrenamtlichen Gemeindemitglieder koordiniert werde, indem sie die, die keine Lust zum Arbeiten haben, prämiert und zum Betteln treibt; das von Gott gewollte Organ des Beistands in der Not sei die Kirche; bei der Einteilung der Bezirke komme es darauf an, daß sie so klein seien, daß sich zwischen Geber und Empfänger eine menschliche Beziehung im Zeichen der Nächstenliebe bilde. Eine Liebe, die zugleich soziale Kontrolle und Erziehung sein soll: „Besonders zur Einwirkung auf das weibliche Geschlecht, auf geordnete Führung des Hauswesens und Kirchlicher Bericht für die St. Jacobi-Gemeine über das Jahr 1848..., S. 17 und

S. 9-

St. Jakobi und die Innere Mission

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rechte Kinderpflege sollen die männlichen Pfleger durch weibliche unterstützt werden. Bald entwickelte die Jakobigemeinde unter Bachmanns Leitung außer dem Diakonat auch mehrere ergänzende Aktivitäten: den schon genannten Sparverein, Nähschulen für Mädchen, Frauen- und Männervereine, um die Kranken in ihren Häusern zu besuchen. Es gelang Bachmann, in seiner Gemeinde ein sehr viel feineres Netz neben dem der Armendirektion zu knüpfen. Letzteres wurde nicht ersetzt, sicherlich aber beeinflußt. Nicht wenige unter den Vorstehern und Mitgliedern der Armenkommissionen des Gebiets saßen auch im Kirchenvorstand von St. Jakobi, so zum Beispiel der Ofenfabrikant Blaumann, der Kaufmann Seefeld oder der Kassenkontrolleur Wollanke. Die starke Präsenz sozial engagierter Handwerker in Bachmanns Parochie erlaubt es, einen Bezug zwischen Handwerkswelt und pietistischer Erweckung zu behaupten, im Gegensatz zum liberalen Glauben der kleinen und großen Industriellen der älteren Luisenstadt, die in der Luisenstadtkirche oder später in St. Thomas vertreten waren.

95

A. a. O., S. 15-20. Zitat S. 19Wie grundlegend sich die Konkurren2 zwischen den beiden Parochien und die Frage der Beziehung zwischen Kirche und Schule nach 1848 verändert hatten, zeigt die schroffe Abfuhr, die Stadtschulrat Schulze Bachmann im November 1849 erteilte, als dieser dafür plädierte, daß die 7. Kommunalschule seiner Jakobi- statt der Luisenstadtkirchengemeinde zugerechnet werden solle. Das sei, so Schulze, „völlig gleichgültig, da wir für alle Kinder, ohne Rücksicht auf die Parochie, gleichmäßig hinsichtlich des Schulunterrichts sorgen". Vgl. LAB (STA), Rep. 22/760, Bl. 264 und 765. Das Dokument ist vom 30. November 1849 datiert, Stadtarchiv Berlin.

FÜNFTES KAPITEL

Die Reaktionszeit Hinckeldey und der Plan einer Stadtregierung Die Person und das Schicksal des Berliner Polizeipräsidenten Carl Ludwig von Hinckeldey1 zeigen, wie ernst es Friedrich Wilhelm IV. damit war, die Unabhängigkeit der städtischen Verwaltung einzugrenzen. Die städtische Selbstverwaltung war sowohl für den König als auch für Theoretiker in seiner Umgebung wie Huber der Hort jenes Liberalismus, der für das Aufkommen der revolutionären Ideen verantwortlich gemacht wurde. Es wundert also nicht, daß der König 1848 eine bekanntermaßen energische Persönlichkeit wie von Hinckeldey nach Berlin rief und ihm die Leitung des Polizeipräsidiums anvertraute. Dieses Amt umfaßte nicht nur den Bereich der öffentlichen Sicherheit im heutigen Sinne, sondern war noch einem aus der Tradition des aufgeklärten Absolutismus stammenden Begriff von sozialer Fürsorge verpflichtet. Hinckeldey ging einerseits wegen seiner energischen Bekämpfung der Liberalen, Demokraten, Arbeitervereine usw. während der Reaktionszeit,2 andererseits wegen der ebenso energischen Organisierung öffentlicher Dienste in die Geschichte ein. Diese waren für die Allgemeinheit von vitalem Interesse, so der Beginn der Wasserversorgung, die Reorganisation der Feuerwehr und der Straßenreinigung oder die Einrichtung der Straßenbeleuchtung.3 In dieser zweiten Hinsicht, als vom König Kurt Schräder, Die Verwaltung Berlins von der Residenzstadt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm bis zur Reichshauptstadt, Diss., Berlin/DDR 1963. Vgl. auch Günter Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung (1848-1870), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, München 1987, Bd. 2. 2 Wolfram Siemann, Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung. Die Anfänge der politischen Polizei 1806-1866, Tübingen 1985. 3 Berthold Schulze, Polizeipräsident Carl von Hinckeldey, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 4 (1955), S. 81-108. 1

Hinckeldey

und der Plan einer Stadtregierung

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gewollte paternalistische Alternative zur Stadtverwaltung, interessiert er hier. „Ich habe sehr viel von diesen Demokraten gelernt! Es muss dahin gestrebt werden, daß sie ihren Einfluß vollkommen dadurch verlieren, daß die Polizei bessere Dinge bringt",4 betonte Hinckeldey selbst, und Varnhagen schrieb 1852 mit Bitterkeit: „Nachdem der Berliner Magistrat sich unwürdig und feig der Reaktion angeschlossen, gegen den Sinn der Bürger und gegen die Freiheit und alle Achtung verloren, wird er nun vom Polizeipräsidenten behandelt, wie er's verdient. Hinckeldey macht nicht viel Umstände mit ihm, ordnet die Feuerwehr und die Straßenreinigung, schließt mit den Engländern einen Vertrag über die Versorgung der Stadt mit fließendem Wasser. Sofern er zweckmäßige Anordnungen trifft, wird er allerdings belobt; aber die Freiheit der Stadt leidet und der Magistrat wird immer verächtlicher."5 Hinckeldeys Tätigkeit ist mit der des Barons Haussmann in Paris unter Napoleon III. verglichen worden. In beiden Fällen wurden die städtischen Körperschaften von staatlichen Beamten ausgeschaltet, die sich rücksichtslos über alles Hemmende hinwegsetzten. „In den fünfziger Jahren wagte die väterliche Fürsorge der Polizei sich an Aufgaben, die später zur schwersten Last der Selbstverwaltung wurden", 6 schrieb Adolf Wermuth, Sohn des hannoverschen Polizeipräsidenten, Kollegen und Freundes von Hinckeldey, in seinen Erinnerungen. In einem Brief an dessen Vater machte Hinckeldey selber deutlich, welchen weiten Bereichen sein Zugriff galt: „Mir machen die Kornpreise große Not. Ich bin ein wahrer Kornjude geworden. So ist es mir doch gelungen, durch Anwendung sehr bedeutender Mittel des hiesigen Land- und Wassermarktes Herr zu bleiben. Auf der Börse habe ich diese Leute um so mehr ruhig spielen, auch hohe Preise notieren lassen, als ich dadurch nur hohe Zufuhren heranbekomme. Wir haben dermalen Korn und Kartoffeln die Fülle und zu verhältnismäßig civilen Preisen ... Auch die Bäcker habe ich zwischen die Finger genommen. Letztere nach der hier bestehenden Gesetzgebung ohne Erfolg. Schadet aber nicht. Das Schlimmste, was die Polizei in solchen Dingen tun kann, ist stillzusitzen. Das Volk verlangt zu sehen, daß man sich um seinen Hunger kümmert. Dage4

A. a. O., S. 90. Κ. A. Varnhagen von Ense, Tagebücher..., Bd. 9, S. 438. ^ Adolf Wermuth, Ein Beamtenleben. Erinnerungen, Berlin 1922, S. 15. 5

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V. Die Reaktionszeit

gen habe ich mit dem podolischen Vieh gute Geschäfte gemacht ... Schon habe ich den zweiten Transport erhalten." 7 Mit seinen zahllosen Initiativen drängte der Vertrauensmann des Königs den Magistrat immer mehr zurück, einen Magistrat, der unter dem Oberbürgermeister Krausnick ohnehin von Unsicherheit und einer panischen Angst vor Investitionen geprägt war. 8 Die Geschichte der Wasserversorgung ist dafür bezeichnend. Schon 1840 hatte Friedrich Wilhelm IV. eine Kommission, in der auch Alexander von Humboldt saß, beauftragt, einen Plan zur Versorgung der Stadt mit Trinkwasser auszuarbeiten, und einzelne Mitglieder nach London und Paris geschickt, um die dortige Lage zu erkunden. Der Magistrat lehnte es aus finanziellen Rücksichten ab, sich an dem Projekt zu beteiligen, und 1852 nahm Hinckeldey die Sache in die Hand, indem er einen Vertrag mit einer englischen Firma Schloß. Noch einmal verweigerte der Magistrat seine Beteiligung an dem Unternehmen, das Berlin von 1856 an mit fließendem Wasser versorgen sollte. An dem Tag des Jahres 1853, als die Grundsteinlegung zum Bau der Wasserwerke erfolgte, feierte man Hinckeldey als Wohltäter des Volkes. Seine Popularität in der Presse und in der Bevölkerung konnte nicht größer sein. Den Aufgaben, die Hinckeldey als Polizeipräsident in Berlin übernahm, entsprachen in der Provinz die des Regierungspräsidenten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Friedrich Wilhelm IV. die Absicht hatte, auch für Berlin wieder eine Regierung zu bilden, die es 1815 bis 1821 schon einmal gegeben hatte, um die Funktion des Regierungspräsidenten Hinckeldey zu übertragen. 9 Es scheint, daß besonders dieses Vorhaben dazu beitrug, Hinckeldey die Antipathien der gesamten Politik und Verwaltung zuzuziehen. Die Exekutivgewalt, die er auf sich vereinigt hätte, wäre gegenüber dem seit Friedrich Wilhelm I. in der preußischen Verwaltung herrschenden Prinzip der Kollegialität ein Novum gewesen. Darüber hinaus umgaben Haß und Furcht diesen Mann, der als einziger das Privileg hatte, selbst im Krankheitsfall Zugang zum König zu haben und der über die Mög-

Ebda. Jürgen Wetzel, „Taubfür die Stimme derZeit". Zwischen Königstreue und Bürgerinteressen. Beriins Oberbürgermeister H. W. Krausnick von 1834-1862, Ausstellungskatalog Landesarchiv Berlin, Berlin 1986. 9 B. Schulze, Polizeipräsident..., S. 83 und 95. 7 8

Reaktionszeit und Selbstverwaltung

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lichkeit verfügte, ihm „ständig ins Ohr zu tuten".10 Seine persönliche Macht wuchs mit den zunehmenden Befürchtungen des Königs vor Attentaten und Revolutionen. Die gescheiterte Absicht, Hinckeldey zum Regierungspräsidenten von Berlin zu machen, beleuchtet die Stellung des Königs zur städtischen Selbstverwaltung. Er hätte dieses Ergebnis der Reformen von 1808, die Einführung der städtischen Selbstverwaltung in Berlin, durch eine eigene staatliche Instanz seiner praktischen Bedeutung beraubt. Statt dessen wurde Hinckeldey 1854 zum Polizeiminister und Chef des Geheimdienstes ernannt. Diese Machtstellung brachte ihm neue Feindschaften; 1856 wurde er in einem Duell getötet. Es war ein „angekündigter Tod", dessen Umstände beweisen, daß niemand, weder in der Regierung noch in der Verwaltung, die Courage besaß, ihn zu retten. An seiner Beerdigung nahm - für diese Zeit ungewöhnlich - eine Menschenmenge von 100 000 Personen teil, etwas weniger als ein Sechstel der Bevölkerung der Stadt.11

Reaktionszeit und Selbstverwaltung Mit dem Einsetzen der Reaktion Anfang der fünfziger Jahre wurde die Macht der ehrenamtlichen Selbstverwaltung beschnitten. Das betraf zunächst die zentrale Ebene. Als aus Protest gegen das Vorhaben des Magistrats, General Wrangel zum Ehrenbürger der Stadt zu ernennen, auf der Stadtverordnetenversammlung am 5. Februar 1850 alle liberalen Stadtverordneten den Saal verließen,12 wurden sie daraufhin von der weiteren Teilnahme ausgeschlossen. Unter ihnen befand sich Bäckermeister Heinrich E. Kochhann, der gleichzeitig seine übrigen Ehrenämter niederlegte, um sich ganz seinen Geschäften als Mitbesitzer einer Dampfmühle zu widmen.13 Heinrich Runge 10 Nach den Denkwürdigkeiten Otto von Manteuffels, Zit. nach B. Schulze, Polizeipräsident..., S. 96. 11 Zum symbolischen Wert von Hinckeldeys Tod als „tragischem Bruch des bürgerlichen Gesetzes der Gleichheit vor dem Gesetz" - Hinckeldey war als Folge der Schließung einer adligen Glücksspielgesellschaft im Duell getötet worden - siehe Paul Kampffmeyer/Bruno Altmann, Vor dem Sozialistengesetz. Krisenjahre des Obrigkeitsstaates, Berlin 1928, S. 9. 12 H. E. Kochhann, Tagebücher. Mitteilungen aus den Jahren 1848-1863, Bd. 3, S. 19. 13 Α. a. Ο., S. 25.

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V. Die Reaktionszeit

trat als Stadtrat zurück und ging 1850 nach Zürich. Ein Jahr später wurde in seiner Abwesenheit sein Haus von der Polizei durchsucht und Druckschriften beschlagnahmt.14 Eine seiner letzten Handlungen als Stadtrat war ein Protest gegen den Stadtverordnetenvorsteher gewesen, der, geschmückt mit der Amtskette, an einem Fest des Ministeriums teilgenommen hatte: „Dies Fest ist der Triumph der niedrigsten Knechtsgesinnung. Von dem Magistrat ist man diese gewohnt",15 schrieb Vamhagen in sein Tagebuch. Die neuen Wahlen ergaben eine konservative Stadtvertretung. Auf sie trifft das übliche Klischee von der Stadtverordnetenversammlung als einem Hausbesitzerparlament ausnahmsweise zu. Bezeichnend ist, daß 1855, mitten in der Reaktionszeit, der Anteil der Unternehmer an der Versammlung mit 9,5 Prozent sein historisches Minimum im 19. Jahrhundert erreicht hatte, gegenüber einem Durchschnitt von 35,4 Prozent.16 Vamhagen von Ense berichtet, daß der Magistrat die demokratischen Elemente jetzt auch aus der Lokalverwaltung entfernen wolle: „Abends Besuch von Herrn von Weiher. Der Magistrat hat ihm seine Entlassung aus der Armenkommission gegeben, dem Herrn Prof. Kaiisch (uns schon bekanntes Mitglied des Lokalvereins für das Wohl der arbeitenden Klasse, L. S.) ebenfalls; es scheint dies eine durchgehende Maßregel gegen die Demokraten zu sein. Die Demokraten ihrerseits werden nun ihre Armensachen, Unterstützungen, Beihülfen sc., auch ausschließlicher einrichten, und ihre Gaben keiner Verwaltung anvertrauen, deren sie nicht sicher sind; wo Behörde, Vornehme, Geistliche an der Spitze stehen, darf man an der Gerechtigkeit und Billigkeit der Verkeilung zweifeln."17 Bald zeigte diese Säuberungsaktion des Magistrats ihre Nachteile. Dezember 1851 verspottete die Nationalzeitung den konservativen Magistrat: Er sei nicht nur nicht in der Lage, die zahlreichen Posten der ehrenamtlichen Armenkommissionsvorsteher zu vergeben, sondern auch unfähig, Menschen zu finden, die unbesoldete Stadtratsposten übernehmen würden. Die Zeitung gibt zu verstehen, daß 14

Κ. A. Vamhagen von Ense, Tagebücher..., Bd. 8, S. 477, Eintragung vom 18. 12. 1851. 15 A. a. O., Bd. 6, S. 429, Eintragung vom 7. 11. 1849. 16

H. Kaelble, Berliner Unternehmer..., S. 234.

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Κ. A. Vamhagen von Ense, Tagebücher..., Bd. 8, S. 191, Eintragung vom 29. 5. 1851.

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Gemeinsinn nur liberal sein könne u n d daß die Konservativen ihren moralischen Bankrott schon bewiesen hätten. 1 8 In dieser Atmosphäre war es vielleicht kein Zufall, wenn der Direktor der Armendirektion, de Cuvry, aus Gesundheitsgründen seine Stelle nach 31 Jahren Tätigkeit aufgab, obgleich er nur wenige Monate später als Bürgerdeputierter 19 wieder in die Armendirektion eintrat. Die Situation scheint sich während der gesamten fünfziger Jahre nicht verbessert zu haben, da der Magistrat Kandidaten als Armenkommissionsmitglieder durch Annoncen in den Zeitungen zu suchen gezwungen war. 20 Das Prinzip der Ehrenamtlichkeit wurde nach und nach immer mehr durchbrochen: Bekamen 1840 unter 59 Armenkommissionsvorstehern nur elf zusammen 309 Thlr. „Miethsentschädigung" - eine Form von verkappter Bezahlung - , waren es 1850 von 6l schon 41, die zusammen 2408 Thlr. erhielten, und I860 von 64 nicht weniger als 54, bei einer Gesamtsumme von 5240 Thalern. 21 1851 versuchte der Magistrat, eine Kontrolle der Armenkommissionsarbeit einzuführen, u n d zwar durch die Einschaltung von zehn bis zwölf Armendirektionsmitgliedern als besoldete Distriktsdirektoren, was die Stadtverordnetenversammlung aber im Oktober 1852 ablehnte. 2 2 Statt dessen wurden 1853 drei besoldete Assessoren in die Armendirektion aufgenommen, und die Mitgliederzahl derselben wurde von 44 auf 27 Mitglieder reduziert. Diese Reform wurde sicher auch aus Zweckmäßigkeitsgründen durchgeführt. Die starke Fluktuation der Armendirektionsmitglieder verhinderte eine kontinuierliche Einarbeitung und verursachte damit praktische Schwierigkeiten. Dabei spielten aber auch politische Motive eine Rolle. Die neuen Beamten kontrollierten auch die Arbeit der Armenkommissionen, die sonst „faktisch stets in der Handhabung ihrer Bewilligungsbefugnis ziemlich unbeschränkt" 2 3 waren. Der I86I, also schon in der Neuen Ära, erschienene Verwaltungsbericht über diese Jahre schweigt über die politischen Hintergründe 18

„Aus ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", in: Nationalzeitung vom 2. 12. 1851, Morgenausgabe. 19 Monatsblatt, H. 7 (1851), S. 128. 20 Mittheüungen des Centraivereins..., S. 2451. 21 Verwaltungsbericht der Stadt Berlin, 1841-1850, Berlin 1853, S. 210, und 18511860, Berlin I86I, S. 53. 22 23

Vossische Zeitung, Nr. 141 vom 16. 6. 1864. Verwaltungsbericht..., S. 49.

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der Einführung der besoldeten Assessoren beziehungsweise die Diskussion, ob es nicht zweckmäßiger sei, eine Reorganisation des Armenwesens durch besoldete Kräfte durchzusetzen. Das Problem wurde nur kurz erwähnt und der Vorschlag abgelehnt, da dadurch das Ganze einem „todten Mechanismus" gleich werden würde. 24 Dieses neue Kontrollbedürfnis beschnitt die ehrenamtlich tätigen Bürger in ihrer sozialen Entscheidungskompetenz. Die Angelegenheiten, die sie verwalteten, waren nicht mehr ohne weiteres den allgemeinen Interessen gleichzusetzen, die keiner Kontrolle bedurft hätten. Das Ehrenamt war faktisch durch die platzgreifende gesellschaftliche Polarisierung abgewertet worden. Die überkommene lokale Selbstverwaltung war angesichts der neuen offenen Fragen, denen sich die aktivsten Bürger zuwandten, ein älterer Zustand, der einer noch homogenen Gesellschaft entsprach. Die Kontrollen wiederum waren in der Sache wohl nicht unbegründet. Oft waren Armenkommissionsmitglieder nur darauf bedacht, die Situation ihrer Armen und ihres Stadtteils zu verbessern, ohne die gesamte Armenverwaltung zu berücksichtigen, in Einzelfällen sogar mit einem privaten illegalen Interesse: Es gab Fälle von Armenkommissionsmitgliedern, die „alimentationspflichtige Verwandte" von unterstützten Personen waren und so auf die Gemeinde Kosten abwälzten, die sie selber hätten tragen müssen. 25 Abgesehen von solchen Extremfällen, waren die Armenkommissionsmitglieder gegen eine Reform des Armenwesens eingestellt, die ihre Autonomie hätte einschränken können. So wandte sich etwa die 37. Armenkommission in einer vom 22. Juni 1852 datierten Antwort auf die Reorganisationsversuche des Magistrats mit mehreren Argumenten gegen eine Einschaltung bezahlter Kräfte zwischen der Armendirektion und den lokalen Kommissionen am Ort. Unter anderem protestierte sie gegen die Auffassung, daß die Kosten der Armenfürsorge wegen „schlechter Verwaltung" gestiegen seien, und verteidigte die „jetzige Armenordnung nach dem Beispiel Hamburgs". Das Problem sei, daß die Armen sich daran gewöhnten, die Unterstützung nicht als Wohltat, sondern als ihnen zustehendes Recht anzusehen. Wegen Mangel an Arbeit vermehre sich die Zahl derer, die um Unterstützung nachsuchen, und wer Arbeit habe, lege nichts zurück. Würde eine berufsmäßige Zwischeninstanz die Tätig24 25

A. a. o , S. 55. A. a. O., S. 56. Ähnlich auch in: Monatsblatt, H. 2 (1856), S. 11.

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keit der Armenkommissionen kontrollieren, würden sich geeignete Männer in ausreichender Zahl nicht mehr zur Übernahme des Ehrenamtes bereitfinden. Das geltende System habe unbestreitbare Vorteile, denn es bekämen 800 Arme Geld von 25 bis 30 Deputierten in ihrer Wohnung, im andern Fall müßten sie sich alle (gleichzeitig) im Bureau melden. „Gute Verwaltung hat als erste Regel: jede vexatorische Maßregel zu vermeiden." 26 Die Entscheidungsfreiheit der lokalen ehrenamtlichen Beamten bildete als Quelle einer gewissen Lokalmacht die praktische Belohnung ihrer Arbeit. Ihre Bedrohung war der Hintergrund, wenn im Rückblick über diese Phase geschrieben wurde: „Gerade unter den wohlhabenden Bürgern von Berlin zeigte sich eine nicht zu besiegende Abneigung dagegen (sc.: in Armenkommissionen zu arbeiten, L. S.), vielleicht weil der erwähnte, oft bürokratische Geschäftsgang weder den Mitgliedern noch den Vorstehern der Armenkommissionen eine so freie Bewegung bei der Armenpflege gestattete ... Es war fortwährend eine große Schwierigkeit, geeignete Männer für das Amt des Armenkommissionsvorstehers zu finden-, die wenigen, welche sich fanden, weigerten sich meistens, ihr Amt ganz unentgeltlich zu übernehmen, sie forderten mindestens eine Miethsentschädigung, und es wurde endlich zu Regel, eine solche zu gewähren." 27 Neben der veränderten politischen Situation und der Einführung von Kontrollen, die die lokale Macht der Honoratioren zu beschränken drohten, spielte aber bei der Schwierigkeit, geeignete Kandidaten für die ehrenamtliche Tätigkeit zu finden, mit Sicherheit auch ein anderer Umstand eine Rolle, den die Liberalen geflissentlich übersahen: das veränderte politische Selbstbewußtsein der sich organisierenden Arbeiter. Die Klientel der Armenkommissionen verhielt sich in dem Maße, in dem eine Art Selbstbewußtsein der neuen Klasse wuchs, mehr und mehr feindselig und war schwer zu behandeln. Die Dankbarkeit für die kleine Wohltat wurde - zuerst faßbar 1848 bei den Erdarbeitern in den Rehbergen und auf dem Köpenicker Feld, die beim Kanalbau beschäftigt waren - bei einem Teil der Ärmsten durch die seit den Pariser Sansculotten immer neu erhobene Forderung ersetzt, ihr Recht zu bekommen. Beleuchtung der Schrift über die Reorganisation der städtischen Armenverwaltung, Berlin 1852, S. 21. Ich danke Gerhard Freund, Berlin, für den freundlichen Hinweis auf diese Schrift. 27 Vossische Zeitung, Nr. 141 vom 16. 6. 1864.

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Das betont nicht nur die schon zitierte Stellungnahme der Armenkommission, sondern auch ein Bericht der Armendirektion: Nachdem sie festgestellt hat, daß in den fünfziger Jahren infolge der Verteuerung der Lebensmittel die Bedürftigkeit, der Bevölkerung gewachsen sei, fügt sie hinzu: „Zudem hatte die politische Bewegung auf die ganze Anschauungsweise der unteren Schichten unserer großstädtischen Bevölkerung einen für die Armenverwaltung höchst bedenklichen Einfluß ausgeübt. Es wurden oft die unangemessensten Anforderungen an die Fonds der Armen-Verwaltung gestellt. Vielfach verbreitete sich die Auffassung, es sei Pflicht der Kommune, für die Existenzmittel ihrer Angehörigen zu sorgen, und die Dürftigen zu unterhalten."28 Damit nicht genug, schlug sich auch noch die staatliche Repression im Armenetat nieder. 1853 veröffentlichte das Monatsblatt der Armendirektion eine ministerielle „Circular Verfügung an sämtliche Königl. Regierungen und an das königliche Polizei Präsidium ... betr. Verfahren gegen Ausländer, die in den diesseitigen Staaten im Konkubinat leben", vom 5. November 1852. Das Dokument ist interessant, weil es zeigt, wie von Seiten des Staates die politische Wende aus „moralischen" Gründen zu Maßnahmen führte, die gegen die wirtschaftlichen Interessen der Lokalverwaltung gerichtet waren: Nicht-preußische Gewerbegehilfen, die im Konkubinat lebten und dabei Kinder zeugten, durften danach nicht naturalisiert werden (was ihnen das Eingehen einer Ehe ermöglicht hätte), sondern sollten vielmehr abgeschoben werden. 29 Es ist offensichtlich, daß eine derartige Verfügung den Interessen der Armendirektion entgegenarbeitete, da ihre Durchführung die Zahl der „Waisenkinder"30 vergrößern und damit die Kosten für die Gemeindeverwaltung in die Höhe treiben mußte. Zum gleichen Ergebnis hätte ein neues Ehescheidungsgesetz geführt, das in der Umgebung des Königs lange diskutiert wurde, weil es eine gesetzliche Regelung de facto bestehender Familienverhältnisse unmöglich gemacht hätte, wodurch wiederum die Zahl der unehelichen Kinder gestiegen wäre. 31 Ohnehin weigerten sich viele 28

Verwaltungsbericht..., S. 45. LAB (STA), Rep. 02, Bd. 100, Monatsblatt, H. 1 (1853), S. 1, Stadtarchiv Berlin. Als „Waisenkinder" erhielten auch Kinder Unterstützung, deren Väter nicht gestorben, sondern verschwunden bzw. unbekannt waren. Vgl. ERSTES KAPITEL, Anm. 47. 31 Η. v. Treitschke, Deutsche Geschichte..., S. 245. 29

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„positiv" eingestellte Pfarrer, Geschiedene ein zweites Mal zu trauen. Trotz ihrer offensichtlichen UnWirtschaftlichkeit galten in diesen Jahren moralische Reglementierungen als Mittel, um eine „Normalisierung" des sozialen Verhaltens der Bevölkerung durchzusetzten. Eindeutig gegen Teile der Bewohner waren diejenigen Bestimmungen gerichtet, die sich mit der Sittlichkeit der unterstützten Armen befaßten. Schon 1851 hatte die Armendirektion verfügt, daß das Pflegegeld Witwen, die im Konkubinat lebten, nicht gezahlt werden solle: „Es ist zu unserer Kenntnis gekommen, daß in einigen Armenkommissionsbezirken Pflegegeld an solche Witwen gezahlt wird, welche im Konkubinatsverhältnis leben", obwohl in der Geschäftsordnung vom 23. März 1836 das Gegenteil vorgeschrieben sei. Das Pflegegeld sollte nach einer angemessenen Verwarnung entzogen werden, „um dadurch möglichst die Auflösung des obwaltenden unsittlichen Verhältnisses zu bewirken und den Nachteilen vorzubeugen, welche die Fortdauer desselben auch für die Armenpflege herbeizuführen geeignet ist. 32 Viel vorsichtiger und kompromißbereiter hatte das gleiche Organ 1844 argumentiert: „Es ist sehr lobenswert und unbedingt anzuerkennen, daß die Armenkommission einen hohen Werth auf die moralischen Eigenschaften der ihrer Fürsorge anheimfallenden Armen legt und danach ihre Gaben modifiziert, bis zu einer gänzlichen Entziehung des Notwendigsten kann und darf jedoch eine solche Rücksichtsnahme nicht führen, denn wegen vorwalthender Immoralität darf niemand ganz hülflos bleiben und dem Verkommen preis gegeben, oder wohl gar aus Noth, zur Begehung von Verbrechen verleitet werden." Die Vergabe von Almosen solle auf jeden Fall der Einweisung ins Arbeitshaus vorgezogen werden. 33 Um Einsparungen für die Armenkasse zu erreichen, eigneten sich allerdings andere moralische Vorstellungen aus der ständischen Tradition. So sollten gemäß einer Verfügung der Armendirektion die Armenkommissionen Gesuche, in denen ein kostenloser Krankenhausaufenthalt für Gesinde beantragt wurde, ablehnen, denn es „entspricht dem sittlichen Verhältnis zwischen Herrschaft und Gesinde", 34 daß erstere die Kosten bei Erkrankung des letzteren übernimmt. 32

LAB (STA), Monatsblatt, Nr. 10 (1851), S. 171.

33

A. a. O, (1844), Nr. 4, S. 29-

34

A. a. O, (1855), Nr. 8, S. 137.

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Sind diese Maßnahmen als Folge der politischen Reaktion zu bezeichnen, so findet man in diesen Jahren in den Anweisungen der Armendirektion an die Armenkommissionen auch Konsequenzen aus der Spardebatte von Konservativen und Liberalen um 1844. Als Beispiele für diese widersprüchlichen Einflüsse seien nur zwei Bekanntmachungen von 1854 und 1855 genannt: In der ersten diskriminiert die Armendirektion Arbeitslose, die nur ab und zu Unterstützung beantragen: „Diese zeitweise Arbeitslosigkeit trifft sehr häufig solche Arbeiter ... die, wenn sie beschäftigt sind, einen so guten Verdienst haben, daß sie wohl im Stande sind, für die schlechten Tage zurückzulegen und zu sparen. Die meisten tun es aber nicht, sondern ziehen es vor, bei eintretender Not die Armenfonds in Anspruch zu nehemen und diese gewissermaßen als ihre Sparkasse zu betrachten." 35 In der zweiten Verlautbarung machte die Armendirektion darauf aufmerksam, daß in vielen Stadtteilen freie Gesundheits- und Krankenpflegevereine existierten, wie unter anderen der Luisenstadt- und Neu-Cöllner-Gesundheitspflegeverein, geleitet von dem Lithographen Birch, Armenkommisionsvorsteher der AK 32. Die Armenkommissionen sollten im eigenen Interesse den Eintritt in solche Vereine fördern. „Das ist für völlig Verarmte nicht möglich", aber bei „solchen, die ihre Existenz noch im Ganzen selbstständig erhalten" und mit der Armenkommission „nur im Fall von augenblicklichen Unglücksfällen in Berührung kommen", soll die Armenkommission die Gelegenheit benutzen, um sie mit „der leichten Drohung", man werde demjenigen, der in besseren Tagen gegenüber seiner Familie „seine Pflichten vernachlässigt hat",3^ die Unterstützung verweigern, zum Eintritt in diese Vereine zu bewegen.

Exkurs: „Berliner" und „Elberfelder System" Gerade in den Jahren der politischen Reaktion, als in Berlin das System der Stadtverwaltung durch ehrenamtliche lokale Honoratioren erste Krisenzeichen zu zeigen begann, wurde das gleiche System in der allgemeinen deutschen Debatte über das Thema der Armenfürsorge - jetzt im Zusammenhang mit der „sozialen Frage" - erneut 35

A. a. O., (1854), Nr. 8, S. 131.

36

A. a. O., (1855), Nr. 8, S. 138.

Exkurs: „Berliner" und „Elberfelder System "

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vorgeschlagen und in Tagungen, Broschüren, Veranstaltungen aller Art vielfach diskutiert, aber nun unter der Bezeichnung des „Elberfelder Systems".37 In der wissenschaftlichen Diskussion übernahm dieses System, das genausogut „Berliner" beziehungsweise „Hamburger" oder „Glasgower System" hätte heißen können, die Charakteristiken des in Berlin seit 1823, in Hamburg seit 1787 angewandten Systems der Armenfürsorge. Dieser Vorgang ist ein Zeichen für die Überzeugungskraft, die in der Reaktionszeit von der Tätigkeit der Inneren Mission J. H. Wicherns ausging: Gerade auf Tagungen und in Veröffentlichungen der Inneren Mission wurde dieses System, das in Elberfeld erst 1852 eingerichtet worden war, behandelt und unter dem neuen Namen propagiert. Es ging Wiehern, wie schon bemerkt, darum, die bürgerliche Armenpflege in die kirchliche zu integrieren und sie zu begleiten, nicht sie zu ersetzen. Durch die Herleitung der Vaterschaft am „Elberfelder System" von dem Modell Chalmers' in Schottland verbreitete Wichern eine Sicht der Dinge, die den religiös-kirchlichen Charakter dieses Systems betonte und unter Ausnutzung der Spaltungen im bürgerlichen Lager seine bürgerlich aufklärerische Herkunft verschwieg. Einer der „Erfinder" des Elberfelder Systems war Daniel von der Heydt, Geschäftsmann und Kommunalpolitiker in Elberfeld. Unter seinem Bruder, dem Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten Friedrich August von der Heydt, „vollzieht der preußische Staat die Wendung zur Sozialpolitik".38 Von der Heydt überdauerte von 1848 bis 1862 alle Veränderungen der politische Situation im Amt. Liberal-konservativ und von sozialem Verantwortungsbewußtsein geprägt, stand er hinter der frühen preußischen Sozialgesetzgebung. Dank seines persönlichen Engagements wurden die Jahre 1852-1855, wie man gesagt hat, die „sozialpolitisch fruchtbarste Zeit vor der Bismarckschen Sozialgesetzgebung". 39 Neben der Ausweitung des Kinderschutzes und der Unterstützungskassengesetzgebung

3 7 Die Literatur über das „Elberfelder System" ist uferlos und braucht in unserem Zusammenhang nicht berücksichtigt zu werden. Vgl. Ch. Sachße/F. Tennstedt, Geschichte...·, Franz Memelsdorf, Der Aufbau des Wohlfahrtsamts in einer größeren Stadt, Berlin 1926, S. 95. 3 8 Heinrich Volkmann, Die Arbeiterfrage im preußischen Abgeordnetenhaus 18481869, Berlin 1968, S. 103. 3 9 vi. a. O., S. 101.

V. Die Reaktionszeit

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set2te er, gegen spezifisch konservative Interessen gerichtet, die Armenrechtsnovelle vom 21. Mai 1855 durch. Dieses Gesetz wälzte die Lasten der Armenfürsorge, die durch die in die Städte gezogenen Menschen im ersten Aufenthaltsjahr entstanden waren, auf die Herkunftsgemeinden ab. Die Herkunftsgemeinden waren in der Regel ländliche Ortschaften, so daß die Stadtgemeinden Erstattungsansprüche bei den Gutsbesitzern geltend machen konnten. Das Gesetz führte also zu einer Umverteilung der Kosten des Armenwesens zugunsten der Stadtgemeinden und zu Lasten der Landgemeinden und stieß auch im preußischen Abgeordnetenhaus entsprechend auf den Widerstand der Gutsbesitzer.40 Die Novelle von 1855 stützte die Armengesetzgebung von 1842 finanziell ab, die die Freizügigkeit garantiert hatte, indem sie die Pflicht zur Armenpflege den Wohnsitzgemeinden auferlegte. Bezeichnenderweise finden sich auf der lokalen Ebene keine Hinweise auf die Novelle. Sie entsprach offensichtlich so genau den Bedürfnissen bei der konkreten Handhabung der Armenpflege am Ort, daß sie keinen Diskussionspunkt darstellte. Unklar ist allerdings, wer den alltäglichen Papierkrieg zu führen hatte, um die entstandenen Kosten von den Herkunftsgemeinden erstattet zu bekommen ob Armenkommissionsmitglieder oder eventuell die bezahlten Assessoren in der Armendirektion. Auf der untersten Ebene der Armenkommission mußte das Gesetz zu vermehrter Genauigkeit und Schriftlichkeit und also auch Kontrollierbarkeit führen. Auf jeden Fall kam es einer Finanzhilfe für die Stadtgemeinden gleich, war also für das Berliner beziehungsweise Elberfelder System eine wichtige Stütze.

Umschichtungen in der Luisenstadt: Die Armenkommissionen Die Phase der politischen Reaktion schlug gewaltige Breschen in das Gebäude des liberalen lokalen Gemeinsinns, und dies gerade in einer Zeit, als durch die Bebauung des Köpenicker Feldes und die Zunahme der Einwohner auch die sozialen Strukturen am Ort verstärkt werden mußten. Von 1843 bis 1852 verdoppelte sich die Zahl der ehrenamtlichen Mitarbeiter der Armenkommissionen in der Lui-

40

A. a. O., S. 80-110.

Umschichtungen

in der Luisenstadt:

Die Armenkommissionen

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senstadt von 76 auf 145 Personen, während die ursprünglichen Gremien zwei- oder dreimal geteilt wurden, um mit der Verdichtung der Bevölkerung Schritt zu halten und weiterhin für überschaubare Verhältnisse zu sorgen. Zwischen 1852 und 1863 nahm die Zahl der ehrenamtlichen Posten nur um etwa 30 Prozent (von 145 auf 199) zu, ein gebremster Anstieg, der als Folge der Reaktion auf die ehrenamtliche Arbeit betrachtet werden kann. Wahrscheinlich waren die ehrenamtlichen Honoratioren, die sich Anfang der fünfziger Jahre in der lokalen Verwaltung engagierten und damit den Appellen des konservativen Magistrats folgten, wenn nicht ausgesprochen konservativ, so doch mindenstens keine Liberalen. An den Armenkommissionen der Luisenstadt läßt sich verfolgen, wie die Liberalen hinausgedrängt wurden - oder sie wegen des Neuen Kurses freiwillig verließen, je nachdem, wie man die gleich referierten Daten verstehen will. Waren die Armenkommissionen von ihrer Gründung bis zur Mitte der vierziger Jahren sehr stabil, mit Mitgliedern und Vorstehern, die oft eine ganze Generation lang im Amt blieben, so änderte sich diese Situation plötzlich zwischen dem Ende der vierziger und dem Anfang der fünfziger Jahre, folgendermaßen: 41 In der für den Jakobskirchhof-Bezirk zuständigen 26 II. AK traten 1851 der Vorsteher, ein Buchhändler Bülow, und zwei Mitglieder, Dr. Gaebler, Königl. Kammergerichtsassessor und Mitglied der gemeinnützigen Baugesellschaft Hoffmanns (s. u.), und der Chemiker Dr. Soltmann, Sohn des Mineralwasserfabrikanten und Mitglieds des LWV, aus der Kommission aus: Sie waren alle erst im November 1848 eingetreten. An ihrer Stelle traten zwischen September 1850 und Mai 1851 ein Kaufmann als Vorsteher, zwei Maurermeister und ein Stuben- und Schildermaler als neue Mitglieder ein. In der 28. AK, für den Bezirk Alte Jakobstraße zuständig, waren im gleichen Zeitraum der Vorsteher und sieben Mitglieder ausgetreten,

41

Alle folgenden Daten aus: Nachweisung der in der hiesigen Stadt-Armenpflege unmittelbar beschäftigten Personen, hrsg. von der Armendirektion, Berlin 1850 ff. für die Jahre 1849 und 1852. Diese Quelle ist nicht sehr zuverlässig - ζ. B. wird Kochhann noch 1852 als Mitglied der AK geführt, während er in seinen Tagebüchern behauptet, er habe sich schon Ende 1850 aus allen öffentlichen Tätigkeiten zurückgezogen - , aber dennoch von unschätzbarer Bedeutung, weil über sie die lokalen Vorgänge rekonstruiert werden können.

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V. Die Reaktionszeit

der Vorsteher und vier Mitglieder, die sich schon sehr lange im Amt befunden hatten, eventuell aus Altersgründen, die anderen drei waren aber erst im August 1848 und im März 1849 eingetreten. In der 29. AK für den Bezirk Schlesisches Tor traten vier Mitglieder aus, von denen nur einer länger im Amt war, die drei anderen aber erst 1845 und 1846 eingetreten waren - unter diesen der Kattunfabrikant Stephan, der auch Bezirksvorsteher und Vorstandsmitglied des Lokalvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen war. An ihre Stelle traten 1850/51 fünf neue Mitglieder ein: unter ihnen Vater und Sohn Heckmann, und zwar auch als Bezirksvorsteher und dessen Stellvertreter - von ihnen wird noch die Rede sein - , und der Kalkscheunenbesitzer Schilling zugleich als „Waisenvater". In der 30. AK für den Brückenstraße-Bezirk waren acht Mitglieder in diesem Zeitraum ausgetreten, von denen fünf erst seit kürzerer Zeit im Amt waren. Unter den Ausgetretenen befanden sich drei Mitglieder der Familie Kampffmeyer, Vater Martin Mathias und zwei Söhne. Der älteste Sohn, Lohgerbermeister Wilhelm, war erst seit Januar 1847 Mitglied der Armenkommission. Der dritte Sohn Theodor, ein Buchhändler, war im Januar 1847 in die Kommission eingetreten, wird aber schon 1849 in den Nachweisungen nicht mehr aufgeführt. Nur ein neues Mitglied trat 1851 - und zwar als neuer Bezirksvorsteher - statt Kampffmeyer in die Armenkommission ein. Es war dies ebenfalls ein Lederfabrikant. Bei den AK 31 und 32 läßt sich ähnliches beobachten, wobei in der AK 32 eine echte Umwälzung stattfand. Der Vorsteher und elf Mitglieder traten aus - unter anderen Bäckermeister H. E. Kochhann. Sie wurden durch elf neue Personen ersetzt. Nur bei wenigen Mitgliedern mit langer Kommissionszugehörigkeit ist möglicherweise an einen altersbedingten Wechsel zu denken, bei der erst Ende der vierziger Jahre eingetretenen Mehrheit handelte es sich mit Sicherheit um einen politischen Austritt. Wegen der formalen Behandlung in den Quellen ist in keinem Fall eindeutig festzustellen, wer freiwillig ausgetreten und wer, wie im zitierten Beispiel Varnhagens, aus dem Amt entfernt worden war. Daß auch der Armenarzt, ein Sohn de Cuvrys, ersetzt wurde, dürfte aber unter Umständen bedeuten, daß der junge de Cuvry womöglich gestorben war, da er auch in anderen Akten nie mehr auftaucht. Die genannten Vorgänge blieben für die Funktionsfähigkeit dieser Form der lokalen Verwaltung nicht ohne Folgen und trugen dazu bei, ihre Krise zu vertiefen. Diese Krise lief bezeichnenderweise im

Die kirchliche Verdoppelung kommunaler Einrichtungen

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Bereich der Luisenstadt mit dem gleichzeitigen Aufblühen der entsprechenden kirchlichen sozialen Einrichtungen parallel, die Bachmann in der Jakobigemeinde der städtischen Armenfürsorge entgegensetzte und die die Innere Mission in der Luisenstadt verkörperten. Auch nach dem Ende der Reaktionszeit und trotz des Wiedereintritts führender Liberaler gewannen die Armenkommissionen ihren ehemaligen Stellenwert im Viertel nicht mehr zurück. Als sie sich wieder für die Liberalen öffneten, hatten diese längst ihre eigenen Organisationen geschaffen, die ihrerseits zu den alten sozialen Strukturen des Viertels in Konkurrenz traten.

Umschichtungen in der Luisenstadt: Die kirchliche Verdoppelung kommunaler Einrichtungen Die erste bedeutende Konkurrenz entwickelte sich in der Reaktionszeit auf kirchlicher Seite. Die homogene Honoratiorengesellschaft des Viertels war endgültig durch die politische Polarisierung gesprengt worden: Den städtischen lokalen sozialen Strukturen traten kirchliche gegenüber. Die organisatorischen Fähigkeiten Bachmanns beschränkten sich keineswegs auf die Ausgestaltung seiner eigenen Parochie. Er war vielmehr ein tatkräftiger Verfechter und Koordinator der konservativen Sozialpolitik des Königs. Mit Bethanien war er durch Mitarbeit im Kuratorium verbunden. 1847 verfaßte er neben anderen im Auftrag des Ministers Eichhorn ein Gutachten über die Möglichkeiten, das Armenwesen ganz im kirchlichen Bereich zu organisieren. Das Gutachten blieb ohne praktischen Folgen,42 aber Bachmann realisierte seine Ziele zumindest im eigenen luisenstädtischen Wirkungsbereich. Im August 1847 gründete er mit einer kleinen Gruppe von Gesinnungsfreunden, die aus dem Gustav-Adolf-Verein, der ihnen zu liberalistisch schien - saßen doch darin Kochhann, Martin Mathias und Theodor Kampffmeyer - , ausgetreten waren, einen neuen Verein, der sich zunächst „Kirchlicher Gustav-Adolf-Verein" und dann seit Juni 1848 „Evangelischer Hülfsverein für kirchliche Zwecke" nann42

Bestand 14/2526, Gutachten Bachmanns vom 26. 10. 1847, Evangelisches Zentralarchiv Berlin.

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V. Die Reaktionszeit

te. 43 Im Vorstand befanden sich unter anderen Victor Aimé Huber, schon seit 1848 einfaches Mitglied, Lohgerbermeister Carl Kampffmeyer, der Geh. Justizrat Professor F. J. Stahl und Pfarrer Bachmann. Ziel des Vereins sollte es sein, „nicht nur den Kampf gegen die ungläubige Richtung in der Kirche fortzusetzen", sondern „den Kampf gegen die Revolution überhaupt".44 Gerade die Unbestimmtheit des Vereinszwecks machte diesen flexibel genug, damit er in viele Richtungen tätig werden konnte. In unserem Zusammenhang ist von Interesse, daß es durch Zuschüsse des Vereins möglich wurde, in fünf Gemeinden Berlins, darunter der Jakobi-Gemeinde, Diakone einzusetzen. Dadurch gab der Verein ein erstes Beispiel zur Bildung von Parochialvereinen in ganz Berlin, die in den nächsten Jahrzehnten durch die Innere Mission organisiert wurden. Der erste Vereinsgeistliche, seit 1850 Erdmann Beyer, der bereits mehrere Jahre in Paris „die Quelle des Verderbens"45 in der Großstadt kennengelernt hatte, wurde gleichzeitig zum ersten „Stadtmissionar" ernannt, was den engen Zusammenhang zwischen Wicherns Innerer Mission und der praktischen Tätigkeit des Vereins zeigt. Am Wittenberger Kirchentag im November 1848, auf dem Wichern sein Schlagwort der „Inneren Mission" an die Öffentlichkeit brachte, nahm auch eine Deputation des Vereins teil. Überhaupt wird Wicherns Innere Mission der Begriff, unter dem sich alle sozialen Initiativen dieser orthodoxen kirchlichen Richtung sammeln und kooperieren - seien es freie Vereine, wie Frauen- und Männer-Kranken-Vereine, seien es Parochial- oder andere Organisationen. In der Tat übernimmt Wicherns Idee der Inneren Mission die Schlüsselrolle, die der Schwanenorden in den Vorstellungen Friedrich Wilhelms IV. hatte, und setzt sich in der Reaktionsära weitgehend durch, und zwar mit der takräftigen Hilfe Bachmanns und seiner luisenstädtischen Unternehmungen. 46

43

E. Hülle, Der Evangelische Verein für kirchliche Zwecke in Berlin, in seiner geschichtlichen Entwickelung und seinem gegenwärtigen Bestände. Festschrift zum 25. Jahresfeste des Vereins am 31. Oktober 1873, Berlin 1873. 44 A. a. O., S. 7. 45 A. a. O., S. 21. Sogar ein Büro für Armensachen wird später von der Stadtmission eröffnet, d. h. eine Zentrale, wo eventuelle Wohltäter sich Auskünfte über Hilfsbedürftige und ihre „Würdigkeit" einholen konnten: Dem lange diskutierten Bedürfnis nach einem Informationsaustausch über die zu unterstützenden Personen, dem schon 1844 sowohl im

Die kirchliche Verdoppelung kommunaler Einrichtungen

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1852 wurde Beyer auch zweiter Prediger in Bethanien, so daß in seiner Person die Identität der Ziele der drei Unternehmungen Evangelischer Hülfsverein, Innere Mission und Bethanien verkörpert wurden. Der Verein kaufte 1852 in der Oranienstraße, unweit der Jakobikirche, ein eigenes Haus (Nr. 106). Dieses Vereinshaus wurde zugleich das „Mutterhaus für die Innere Mission in Berlin"47 genannt. Der Kauf wurde durch ein Comitée ermöglicht, das ein mit 3 Prozent verzinstes Kapitaldarlehn gewährte; am Zusammenbringen der Kaufsumme beteiligten sich unter anderen Stahl, V. A. Huber, der Polizeipräsident von Hinckeldey, der Industrielle Borsig, der Stadtälteste Keibel, der Stadtverordnetenvorsteher Fändrich, der Geh. Ober.Reg.Rat Bethmann Hollweg und der Kaufmann Louis Ravené. Das Vereinshaus wurde ein Zentrum aller ähnlichen Vereine und Bestrebungen, nicht nur für die Luisenstadt, sondern für ganz Berlin. Sein Saal wurde für kirchliche und sozialpolitische Veranstaltungen aller Art in Anspruch genommen. Unter anderem wurde in den Räumen eine „Herberge zur Heimat" für wandernde Handwerker eröffnet, ein „Hospiz für die unbemittelten Stände", ein Evangelischer Bücher-Verein mit Buchhandlung usw. Es wurden dort auch wissenschaftliche Vorträge gehalten, die manchmal durch die königliche Anwesenheit beehrt wurden - zum Beispiel sprach Stahl über das Thema „Was ist Revolution?" Am 19. Februar 1855 hielt Wichern im Vereinssaal in Anwesenheit des Königs einen Vortrag „Über Armenpflege", in dem er über kirchliche, bürgerliche und freiwillige Armenpflege sprach. Es handelte sich um einen grundsätzlichen Vortrag, in dem Wichern die besonderen Funktionen dieser drei Formen der Armenpflege vonaneinder abgrenzte und die Möglichkeiten ihrer Kooperation skizzierte. Als bedeutsamen Punkt hob er die verderblichen Konsequenzen der staatlich garantierten Armenfürsorge hervor, die durch eine Zwangssteuer finanziert werde: Sie sei der „eigentliche Grund zu allem unheilbar scheinenden Verderben",48 weil „Nährung kommunistischer Gelüste".49 Wenn der „Staat Schuldner der Armen sei", sei das

Projekt des Schwanenordens als auch in den Vorschlägen Runges abgeholfen werden sollte, ist hier erstmals entsprochen worden. 47

Α. a. O., S. 27.

Johann Hinrich Wichern, Über Armenpflege, in: Gesammelte Werke, Bd. 3,1, Berlin-Hamburg 1968, S. 21 f. und 250 f., Zitat S. 22. 49 A. a. O., S. 30. 48

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V. Die Reaktionszeit

„die Stelle, wo das falsche Armenpflegeprinzip sich mit dem Prinzip der kommunistischen Revolution identifiziert, eine Bahn, die Deutschland in den Tendenzen des Lärm- und Gewaltjahres 1848 zu betreten erstlich in Gefahr war".50 Nur die persönliche Beziehung zwischen Pflegenden und Hilfsbedürftigen kann verhindern, daß „aus der Pflege der Armen eine Pflege der Armut"51 wird. Wichern übernimmt einerseits die Kritik von Chalmers am englischen staatlichen Armenpflegegesetz von 1834 mit dem Hinweis auf die verderblichen Folgen einer Verpflichtung des Staates gegenüber den Armen - die Vermehrung der Hilfesuchenden - , äußert andererseits aber auch eine Sorge, die in diesen Jahren im liberalen Lager diskutiert wird: die Gefahr, daß aus der gesetzlichen Armenpflege ein Anrecht auf Unterstützung der Armen erwächst. Deshalb behandelt er auch die private freie Wohltätigkeit und zitiert als „Stimmführer" der Parole der Freiwilligkeit in der Armenpflege den Zürcher Regierungsrat Dubs (1822-1879), der in der Rede zur Eröffnung der Wintersitzung des Großen Rates am 1. März 1853 diese Lösung der Armenfrage vorgeschlagen hatte. Bedenkt man, daß seit 1850 in Zürich der Berliner Liberale Heinrich Runge lebte, kann man eine Verbindung zu den liberalen Reformvorschlägen in den sechziger Jahren annehmen. 52 Auffällig ist, daß sich zwischen Konservativen und Liberalen angesichts des bedrohlichen Anwachsens der Zahl der Armen und der massenhaft vertretenen Forderung nach einem Recht auf Unterstützung nach 1848 Gemeinsamkeiten zeigen. In der veränderten politischen Situation erhält die freiwillige „Liebestätigkeit", ganz gleich ob in Form der Diakonie oder der ehrenamtlichen Armenfürsorge im Dienste der Stadt - es handelt sich dabei offensichtlich um zwei Formen, die strukturell die gleiche gesellschaftliche Funktion besitzen, aber ideologisch gegensätzlich begründet werden - , neue, unerwartete Bedeutungen. Wichern vertrat die Notwendigkeit der Wiedererwekkung des kirchlichen und apostolischen Diakonats, da seiner Meinung nach die persönliche „Liebesarbeit" die einzige Antwort auf ein 50

A. a. O, S. 32. A. a. O., S. 35. 52 Zumal Runge das Zürcher Armenwesen in einem Aufsatz beschreibt, vgl. Heinrich Runge, Mittheilungen aus dem Bericht der Armenpflege der Stadt Zürich im Jahre 1852, in: Mittheilungen des Centraivereins..., S. 2071 ff. Siehe zum Ganzen auch das SECHSTE KAPITEL. 51

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bürokratisch arbeitendes, zur Hilfe verpflichtetes Armenwesen darstellt. Bachmann wurde im weiteren Verlauf in seiner Eigenschaft als Konsistorialrat 1853 zum Initiator und Mitglied der „Kommission zur Abhülfe kirchlichen Nothstände". Während des gesamten Zeitraums der fünfziger Jahre kämpfte er um die Erweiterung des kirchlichen Einflusses in der Luisenstadt und ihrer Umgebung. Erst sein missionarisches Konzept der „aggressiven Seelsorge" ließ das Bedürfnis nach neuen Parochien als notwendig erscheinen, wie eine Kritik von Seiten des Magistrats während der Verhandlungen über die Errichtung von Gemeinde und Kirche zum Heiligen Kreuz unterstellte. Bei dieser neuen Gemeindegründung setzte er es 1865 im Konsistorium durch, daß ein Prediger angestellt wurde, der vorher Hilfsprediger an der Jakobikirche gewesen und mit der dortigen lutherischen Agendenvariante vertraut war. Sein Argument war, daß der bisher zur Jakobigemeinde gehörende Teil der neuen Gemeinde, der der aktivste im Gemeindeleben sein dürfte, an diese lutherische Form gewöhnt sei.53 In der Tat hatte Bachmann mit seinen Anstrengungen dauerhaften Erfolg. In den nächsten Jahrzehnten bildeten sich um seine Unternehmungen immer neue Einrichtungen. 1862 zog im Vereinshaus der „Evangelische Bürgerverein" ein, ausdrücklich als Gegenpol zum liberalen Bürgerverein konstituiert, dessen Mitglieder 1861 die Fortschrittspartei gegründet hatten. Er verfaßte Petitionen und Proteste „gegen die Umtriebe des Protestantenvereins, gegen Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit, ... gegen Sonntagsentheiligung"54 und verstand sich als Unterverein des Evangelischen Vereins. 1869 kaufte der Evangelische Verein das Nachbarhaus Oranienstraße Nr. 105, um seinen Sitz zu erweitern und Platz für weitere Einrichtungen zu schaffen. Während in diesen Jahren die lokale kommunale Verwaltung in Schwierigkeiten steckte, gediehen die Unternehmungen Bachmanns. Das hing mit der sozialen Umstrukturierung der Mitglieder der Kommissionen zusammen. Gegenüber den unter Magistratskontrolle verödenden kommunalen Aktivitäten der Armenkommissionen während der von der Reaktion geprägten fünfziger Jahre stellte für die zu ehrenamtlicher Tätigkeit bereiten Handwerker möglicherweise das 53 54

K. Duntee, Kirche..., Kapitel 3. Denkschrift des Evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke, Berlin 1898, S. 66.

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Engagement in der christlichen Armenpflege der Jakobigemeinde eine weit interessantere Alternative dar. Das erklärt vielleicht, warum 1853 die Superintendenten Kober, Schulz und Hetzel - letzterer ein aufrichtiger Liberaler - vorschlagen konnten, das Armenwesen wieder völlig kirchlich zu organisieren. Generell verstärkte sich in der Reaktionszeit die Zusammenarbeit zwischen städtischen und kirchlichen Wohltätigkeitseinrichtungen. Ende der fünziger Jahre wurde den Pfarrern das Recht zuerkannt, an den monatlichen Sitzungen der Armenkomissionen ihres Sprengeis teilzunehmen, jedoch ohne Stimmrecht.

Die Sparideologie der Konservativen: Die Berliner gemeinnützige Baugesellschaft und die Luisenstadt Einen Sonderfall der konservativen sozialpolitischen Initiativen bildet die erste Berliner gemeinnützige Baugesellschaft. Ihre Tätigkeit und die Figur ihres Initiators, des kgl. Landbaumeisters Carl Wilhelm Hoffmann, sind ausreichend in der Literatur behandelt. 55 Hier ist es von Interesse, die Verbindung mit der sozialpolitischen Offensive der Konservativen in der Luisenstadt darzustellen. 1849 befanden sich von den 92 neuerbauten Wohnungen und neun Werkstätten der Gesellschaft 79 Wohnungen (85 Prozent) und alle Werkstätten in der Luisenstadt. Gründe für diese starke Präsenz sind eventuell in der besonders von Handwerkern geprägten Sozialstruktur des Stadtteils zu suchen, also darin, daß der soziologische Typ des „kleinen Mannes", den die Baugesellschaft ansprach, massiv vertreten war. Weiter kann man vermuten, daß Hoffmann mit den Bedingungen der Luisenstadt auch persönlich vertraut war. Ein „Aufsichtsverein für Haltekinder",56 der in Zusammenarbeit mit der Polizei die Anträge auf Aufnahme aller Kinder unter vier Jahren begutachtete und die Pflegefamilie weiter betreuen und kontrollieren Johann Friedrich Geist/Klaus Kürvers, Das Berliner Mietshaus, Bd. 1, München 1980, S. 447 f.; Gerhard Fehl, Der Kleinwohnungsbau, die Grundlage des Städtebaus? Von „offenen Kleinwohnungen" in Berlin und vom unbeirrt seit 1847 verfolgten Reformprojekt der „abgeschlossenen Kleinwohnung", in: Juan Rodriguez-Lores/Gerhard Fehl (Hrsg.), Die Kleinwohnungsfrage. Zu den Ursprüngen des sozialen Wohnungsbaus in Europa, Hamburg 1988. Nach dem Publikandum des Königlichen Polizeipräsidiums vom 8. 3. 1847, aufgrund Kabinettsorder von 30. 6. 1840, wurde angeordnet, daß die entgeltliche An55

Die Berliner Gemeinnützige Baugesellschaft

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sollte, verzeichnete für das Jahr 1852 als Vorsteher für die Luisenstadt neben fünf anderen (ein Apotheker, zwei Ärzte, ein kgl. Polizeileutnant, ein Oberlehrer) einen Baumeister Hoffmann, wohnhaft Alexandrinenstraße 91.57 Unter dieser Adresse war aber in den Adreßkalendern für 1847 und 1855 eine Mademoiselle H. Hoffmann, Lehrerin, verzeichnet. Es handelte sich um das Haus Alexandrinen- Ecke Oranienstraße. Und hier, Oranienstraße 128, wohnte ein Baumeister L. Hoffmann, der sich für seine Vereinstätigkeit der Adresse und der Hilfe seiner Schwester oder Tochter bedient zu haben scheint. Im Addreßkalender von 1847 liest man bei ihm neben dieser Luisenstädtischen Addresse den Zusatz „auch Grenadierstraße 26". Der Landbaumeister Carl Wilhelm Hoffmann wohnte nun aber eben in der Grenadierstraße 26 im Hause seines jüdischen Schwiegervaters, des Rentiers und Stadtrats David Alexander Benda. Die Vermutung liegt nahe, daß beide Baumeister Hoffmann, wenn nicht identisch, miteinander verwandt waren. Wenigstens drei Brüder, die allesamt im Bauberuf standen, sind bekannt. 58 Der Baumeister L. Hoffmann und die Lehrerin Hoffmann wohnten in unmittelbarer Nähe der Jakobikirche und dürften von den dortigen sozialpolitischen Experimenten der Konservativen unterrichtet beziehungsweise in sie einbezogen gewesen sein - nachweisbar ist das nicht, da die einzige erhaltene Liste von ehrenamtlichen Mitarbeitern der Pflegschaften der Jakobigemeinde aus dem Jahre 1870 stammt: Dort ist die Lehrerin inzwischen als Schulvorsteherin aufgeführt. 59 nähme von Pflegekindern unter vier Jahren eine polizeiliche Genehmigung erforderte. Zugleich gründete sich ein Verein, der die Verpflegung beaufsichtigte und dessen Mitglieder gemäß Statut das Recht hatten, die Wohnung der Pflegeeltern zu betreten und Auskünfte über sie zu bekommen. Die Polizei bediente sich des Vereins zur Begutachtung der Anträge. Sein genaues Gründungsdatum konnte nicht ermittelt werden. Er ist im Adreßkalender 1847 eingetragen, Vorsteher ist Dr. BareZ, Geh. Obermedizinalrat. 1854 begutachtete der Verein 1119 Gesuche um Erteilung der KonZession Zur Aufnahme von Haltekindern, 1853 waren es 1208. 1854 wurden 3435 Konzessionen erteilt, 1853 waren es 3003 - offensichtlich wurden nicht alle Gesuche begutachtet. 175 Kinder wechselten die Pflegeeltern, nur in drei Fällen wurde die Konzession entzogen. 1857 wurden 2935 Personen konzessioniert. 620 Kinder wurden von Angehörigen zurückgenommen, 254 starben. Vgl. LAB (STA), Monatsblatt, Nr. 4 (1855), S. 49, und Nr. 5 (1859), S. 95. 57

A.a.O., Nr. 2 (1852), S. 17. Uwe Kieling, Berliner Privatarchitekten und Eisenbahnbaumeister im 19. Jahrhundert, in: Biographisches Lexikon, Berlin 1988, S. 32 f. 59 J. F. Bachmann, Die ersten 25Jahre..., S. 77. 58

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V. Die Reaktionszeit

Schon zu Beginn ihrer Existenz hatte die Jakobiparochie, wie wir sahen, einen Sparverein gegründet. Den Spareinlagen nahm sich jeweils in jeder Pflegschaft ein ausdrücklich dafür engagierter ehrenamtlicher Mitarbeiter an.60 Der innere Zusammenhang zwischen Sparideologie und gemeinnütziger Baugesellschaft dürfte für die Zeitgenossen evident gewesen sein. Die Schriften V. A. Hubers über „Innere Colonisation" und „Association" ebenso wie J. Fauchers Schrift Die Vereinigung von Sparkassen und Hypothekenbank und der Ausschuß eines Häuserbauvereins gehörten unbestritten zur Diskussion der sozialen Frage.61 Zugleich gab es personelle Querverbindungen zwischen Baugesellschaft und kirchlichen Armenbezirken, was angesichts der Vorurteilslosigkeit der pietistischen Kreise wenig verwundert, die nicht nur wichtige angesehene Persönlichkeiten als Finanziers ansprachen, sondern auch „kleine Leute" als aktive ehrenamtliche Mitarbeiter gewinnen wollten. So war zum Beispiel in der Jakobigemeinde ein Tischlermeister Stange sowohl Pfleger bei einer Pflegschaft der Jakobiparochie als auch „Vicewirth", zuständig für Ordnung und Moralität der Mieter, des in der Gemeinde gelegenen Hauses Ritterstraße 49 der Baugesellschaft. Gottlieb Samuel Liedke (1803-1852), Generalstaatskassenbuchhalter und Armenkommissionsvorsteher im Bezirk Hamburger Tor, der 1845 eine Spargesellschaft für seine Armenkommission gegründet hatte, war Gründungsmitglied der gemeinnützigen Baugesellschaft.62 Die „Spar2eit" begann mit dem April jeden Jahres und umfaßte die sieben Monate bis Oktober. Die Einlagen konnten wöchentlich von 2 1/2 bis zu 15 Sgr. betragen. In den ersten Jahren wurden am Schluß der Sparzeit den Sparern, je nach Wunsch, entweder die Einlagen bar zurückgezahlt oder Holz, Torf und Kartoffeln dafür angekauft. Das letztere hatte den Vorteil, daß diese in großen Quantitäten gekauft und somit den Sparern sehr viel billiger geliefert wurden als im Kleinhandel - das Prinzip der Konsumgenossenschaft. Später wurde aber wegen „mannigfacher Unzuträglichkeiten" den Sparern allgemein die bare Einlage plus 6 Pf. Zinsen auf den Taler (3 Prozent) zurückerstattet. Die erste Sparperiode begann 1847 mit 388 Sparern. Es steht für die konservative Haltung, daß zu den gesparten Beträgen auch „Geschenke" seitens Dritter zu der zusammengebrachten Sparsumme beitrugen. Geschichte des Gemeinnützigen Wohnungsbaus in Berlin, Berlin 1957, S. 20. Auch hier wird dieser Zusammenhang unterstrichen. 62 Friedrich Gustav Lisco, Das wohlthätige Berlin, Berlin 1846, S. 100-102; Gottlieb Samuel Liedke, Hebung der Noth der arbeitenden Klassen durch Selbsthülfe, Berlin 1845, im Selbstverlag des Verfassers. Die Minderbemittelten seines Bezirks konnten in seiner Spargesellschaft im Sommer kleine Summen sparen, die sie dann am Winteranfang in Form von Torf, Holz und Kartoffeln zurückgezahlt bekamen. Mitglied

Die Berliner Gemeinnützige Baugesellschaft

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Auch den Statuten nach läßt sich die Baugesellschaft von Hoffmann als besondere Form der konservativen Variante der Sparideologie deuten. Die Mieter der Baugesellschaft hatten nach dreißig Jahren die Möglichkeit, Eigentümer der Wohnungen zu werden oder sich eine dadurch gesparte Summe auszahlen zu lassen. Als Mieter, denen es zu Wohnungseigentum zu verhelfen galt, waren in gültiger Ehe lebende Familienväter vorgesehen, die von Mitgliedern der Gesellschaft vorgeschlagen werden konnten, wenn sie mindenstens fünf Jahre in Berlin gewohnt hatten, eine feste Arbeit nachweisen konnten und in gutem Ruf standen. Bedingung, um in den Wohnungen der Gesellschaft bleiben zu dürfen, waren eine moralisch einwandfreie Führung und Pünktlichkeit bei der Mietzahlung. Ausdrücklich waren „Almosenempfänger und verrufenen Personen fernzuhalten" 6 3 Entsprechend Hubers Modell der „Association" wurde das Unternehmen von vermögenden Vereinsmitgliedern getragen, die entweder acht Taler pro Jahr zahlten oder Aktien der Gesellschaft zeichneten. Hier waren Vertreter der besten Gesellschaft versammelt: allen voran der König, der 1849 Aktien für 2000 Taler zeichnete und 200 Taler jährlich bewilligte. Die Mitgliederliste verzeichnet Adlige und Minister (von Boldelschwing, Eichhorn, Uhden) neben Fabrikanten und Kaufleuten der Luisenstadt wie die Kattunindustriellen Goldschmidt, Nauen & Loewe (Nachfolger Dannenbergers), Buchhändler Oehmigke, Färbereibesitzer Nobiling, fünf Mitglieder der Familie Benda und Liedke, Gründer des genannten Sparvereins, daneben kleine Handwerksmeister. Im Vorstand saßen unter anderen Huber, C. W. Hoffmann, der Luisenstädter Obergerichtsassessor Gaebler, Architekt Stüler und Kaufmann S. A. Benda. Als Hausvorstedurfte nur werden, wer seine Kinder regelmäßig zur Schule schickte. Liedke trat 1847 in einem Büchlein gegen den liberalen Vorschlag auf, die Schlacht- und Mahlsteuer abzuschaffen, und schlug statt dessen vor, sie beizubehalten und die Einkünfte „in Verbindung mit Sparanstalten" den Armen Zugute kommen zu lassen. Das wäre eine Form von Zwangssparen über die Steuern gewesen, wie es im konservativen Lager Zukunft haben sollte, allerdings erst nach vierzig Jahren mit dem obligatorischen Beitrag der Arbeitnehmer zu den Versicherungskassen in den achtziger Jahren. Vgl. Gottlieb Samuel Liedke, Die Schlacht- und Mahlsteuer und die Armen, Berlin 1847, S. 4. ® Carl Wilhelm Hoffmann, Die Aufgabe einer Berliner gemeinnützigen Baugesellschaßt Berlin 1847, S. 1 und 3, und ders., Die Wohnungen der Arbeiter und Armen, Berlin 1852, S. 20; Dr. Gaebler, Idee und Bedeutung der Beriiner gemeinnützigen Baugesellschaft, Berlin 1848, S. 40.

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V. Die Reaktionszeit

her für die einzelnen Häuser stellten sich neben Hoffmann, Huber und Benda unter anderen zwei Majore zur Verfügung, einer davon jener Major Nobiling, der 1848 Befehlshaber der Bürgerwehr und Bekannter und Informant Varnhagens von Ense war. 64 Nicht wenige unter den Genannten waren auch Mitglieder des Centraivereins. C. W. Hoffmann scheint eine schillernde Figur gewesen zu sein, in der alle Strömungen der Zeit zusammentrafen. Pietistischen Vereinen nahestehend, heiratete er die Tochter des liberalen Stadtrats Dr. Benda und trat damit in eine alteingesessene wohlhabende jüdische Kaufmannsfamilie ein. Schwiegervater Benda, Mitglied des Centraivereins, hielt Vorträge im Berliner Handwerkerverein und engagierte sich energisch für die Öffentlichkeit der Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung.65 Seine demokratische Grundhaltung kostete ihn Ende 1848 die unbesoldete Stadtratstelle. Schwiegersohn Hoffmann galt ebenfalls als Liberaler. 1848 findet man ihn als Begründer eines demokratischen Vereins für Volksrechte. Er scheint aber unter dem Eindruck des Jahres 1848 seine Haltung geändert zu haben. Damals beschäftigte sich seine 1847 gegründete Baugesellschaft mit der Vermittlung von Erdarbeiten, um das Unruhepotential arbeitsloser Arbeiter zu neutralisieren. Ein Geheimbericht des Polizeipräsidiums charakterisiert Hoffmann als eitel und egoistisch, bemüht, „andere gleichhoch oder höher gestellte Persönlichkeiten geistig durch Klugheit zu überragen und als der Produzent und der Träger großer Taten, Ideen oder Prinzipien zu glänzen". Um seiner Baugesellschaft nicht zu schaden, verkehre er mit Personen aller Parteirichtungen. Kritisiert wird in dem Bericht auch das Prinzip dieser Baugesellschaft, durch die „arme, schwache, unglückliche Arbeiter sich durch eigene Kraft emporarbeiten" sollten.66 Die gemeinnützige Baugesellschaft hatte keinen anhaltenden Erfolg. C. W. Hoffmann wurde 1852 als Kreisbaumeister nach Creutzburg versetzt, was in diesen Jahren einem Verfahren wegen politisch unerwünschter Tätigkeit gleichkam und ein indirekter Beweis seiner Verdächtigung oder seiner Unbeliebtheit sein konnte. 64

K. A. Varnhagen von Ense, Tagebücher..., Bd. 9, S. 393. S. Jersch-Wenzel, Jüdische Bürger..., S. 54 f. 66 J. F. Geist/K. Kürvers, Das Berliner Mietshaus..., S. 447-450. Ich danke hier Klaus Kürvers, der mir die Mitgliederliste der gemeinnützigen Baugesellschaft zu Verfügung stellte. 65

Ehrenamtliche Tätigkeit und Großindustrie: Heckmann

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In einer 1849 anonym erschienenen Broschüre wird die Stadtverordnetenversammlung wegen ihres fehlenden Interesses an der Baugesellschaft heftig kritisiert. Dabei wird nicht nur die herkömmliche städtische Sozialpolitik angegriffen, sondern es werden die Hauseigentümer im Stadtparlament beschuldigt, die Konkurrenz dieses Unternehmens zu fürchten.^ 7 Es handelt sich um die erste direkte Anschuldigung in der Richtung der späteren bekannten, bald zum Gemeinplatz der Diskussion der Wohnungsreformer gewordenen Kritiken à la Hegemann gegen das „Hausbesitzerparlament". Interessanterweise scheint sie aus dem konservativen Kreis um Hoffmann zu kommen. Faktisch war der Bau kleiner billiger Wohnungen für Minderbemittelte für die nächsten Jahrzehnte kein Thema mehr, und die Baugesellschaft von Hoffmann blieb ein Einzellfall. Die Sozialpolitik der Stadt hielt sich in Grenzen, die nicht nur keine Konkurrenz für die Hausbesitzer darstellten, sondern ihnen, wie noch zu zeigen sein wird, vielmehr Vorteile bot: Manche Unterstützungen der Armenkommissionen wurden in Form von Miete zurückgezahlt und trugen dazu bei, die Vitalität des freien Vermietermarktes aufrechtzuerhalten.

Ehrenamtliche Tätigkeit und Großindustrie: Heckmann Ein neuartiger Fall in der lokalen, ehrenamtlich tätigen Honoratiorenschaft der Luisenstadt ist die Industriellenfamilie Heckmann, letztes Beispiel auch der ehrenamtlichen Tätigkeit mehrerer Generationen der gleichen Familie: eine Dynastie von am Ort sozial engagierten Großindustriellen. Carl Justus Heckmann (1786-1878), geboren in Eschwege in Nordhessen, Kupferschmied wie sein Vater, kam nach den Befrei„Da aber die Stadt viele Tausende ausgibt, um die Lage der arbeitenden Klassen, der Arbeitslosen, ja der arbeitsscheuen Arbeiter zu verbessern, da thatsächlich und ausdrücklich das Princip, die Verpflichtung im allgemeinen anerkannt ist, so kann die Frage fortan nur noch ... über mehr oder weniger zweckmäßige Verwendung der Mittel in einzelnen Fällen sein. Sind aber so viele Tausende verwendet worden, auf Arbeiten, die wenig oder gar keinen nachhaltigen Nutzen versprechen ..., so ist das wahrlich kein Grund, auf nachhaltig fruchtbare, die Sicherheit und Ruhe der Stadt und das Wohl der Arbeiter selbst dauerhaft... gründende Arbeiten gar nichts zu verwenden, sondern - wie gesagt - gerade im Gegentheil!", aus: Die Stadtverordneten und die gemeinnützige Baugesellschaft, Berlin 1849, S. 7-8 und 14.

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V. Die Reaktionszeit

ungskriegen nach Berlin und arbeitete sich durch den Bau des neuen Pistoriusschen Brennapparats - getragen von der anhaltenden Konjunktur der damit ermöglichten Alkoholdestillation auf Kartoffelbasis - vom Handwerksmeister zum Industriellen hoch. 1836 legte er vor dem Schlesischen Tor auf einem von de Cuvry erworbenen Grundstück ein Kupfer- und Messingwalzwerk an, das er schnell zu einer der bedeutendsten Fabriken Berlins ausbaute. Zweigwerke entstanden in Breslau, Moskau, Hamburg, die weitere Maschinen der Nährmittelindustrie herstellten, aber auch Lokomotivteile. Im Berliner Werk waren etwa 300 Arbeiter beschäftigt. C. J. Heckmann war auf diese Weise einer der reichsten Berliner Industriellen geworden, vielleicht der reichste überhaupt. Mitglied des Centraivereins, war er ein stolzer Bürger - es scheint, als habe er die Annahme des Adelstitels abgelehnt, ein Umstand, der nicht aufhörte, seinen Sohn August (1822-1896) zu verbittern. Letzterer, der mit dem Bruder Wilhelm 1869 den Betrieb übernahm, wird uns später noch beschäftigen. Im April und Mai 1851, in der schwersten durch den politischen Richtungswechsel hervorgerufenen Krise der Berliner Armenverwaltung, traten Heckmann Vater und Sohn in die 29. AK (Schlesisches Tor) ein, der erste zugleich als stellvertretender Bezirksvorsteher, der zweite als Bezirksvorsteher. Während Heckmann Vater in bereits vorgeschrittenem Alter das Ehrenamt übernahm, war Heckmann Sohn nicht einmal dreißigjährig und blieb in diesem Gremium fast vier Jahrzehnte, bis zum Ende der achtziger Jahre. Unterstützt wurde er erst von seinem Bruder Wilhelm, dann von seiner Frau, seinem Sohn und seiner Schwiegertochter. Die weiblichen Familienmitglieder waren im Vorstand der Kleinkinderbewahranstalt des Viertels seit deren Gründung tätig. Für die Familie Heckmann hatte der Eintritt in die Armenkommission inzwischen einen ganz anderen Stellenwert als in den zwanziger Jahren für die Familie Kampffmeyer. Es handelte sich weder um religiöse Pflicht, noch ging es ihnen darum, die bürgerliche Gesellschaft „mittlerer Existenzen" zu verwirklichen. Für sie ging es darum, die gesellschaftliche Kontrolle des Gebiets zu sichern und den sozialen Konflikten den Damm paternalistisch organisierter Fürsorgeleistungen entgegenzustellen. Genau ein halbes Jahrhundert lang konnten sie diese Position halten, die Männer in den Armen- und Schulkommissionen, die Frauen in den Kinderbewahranstalten und Frauenvereinen.

Die „Physiognomie der Einwohnerschaft" der Luisenstadt

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Die „Physiognomie der Einwohnerschaft" der Luisenstadt Zur gleichen Zeit, zu der sich die Stützpunkte der christlichen konservativen Sozialpolitik in der Luisenstadt etablierten, begann das sprunghafte Wachstum des Viertels. Trotz seiner Erfolge betonte Bachmann in der Schrift zum 25jährigen Jubiläum seiner Jakobiparochie seine tiefe Sorge, was den räumlichen und sozialen Zusammenhang der Luisenstadt betraf. Die „Physiognomie der Einwohnerschaft". hatte sich gewaltig verändert: „Tausende, ja Zehntausende neuer Bewohner sind aus Berlin und aus aller Herren Lande in unsre Parochie eingezogen, die sich völlig fremd sind und oft, wenn sie auch in demselben Hause wohnen, sich unbekannt bleiben, für unsre Kirche und Kirchengemeine aber kein Interesse mitgebracht haben. An die Stelle des einfachen Handwerks und Handelsverkehrs ist großartiges Fabrikwesen in seinen mannigfachsten Verzweigungen und die Industrie der Weltstadt getreten, ... das rastlose Trachten nach Erwerb und Genuß aber die religiösen und kirchlichen Interessen immer völliger überwuchert. Dazu dann seit 1848 die Auflösung der früheren Genossenschaften und die immer schroffere Zerklüftung aller Stände in politisches Partheigetriebe und das Aufkommen des buntesten Sektenwesens."68 Was verlorengegangen war, war die soziale Gebundenheit des Viertels, die Zusammengehörigkeit einer Gegend, die für Jahrzehnte durch kleinstädtische Enge charakterisiert war: „...die meisten kannten sich und waren mit einander wenn nicht verwandt, doch befreundet." Damit, betonte Bachmann, „hatte die kirchliche Gemeinschaft an der bürgerlichen ihre natürliche Grundlage".® Bachmann, ein genauer Kenner der Luisenstadt, beobachtete die Auflösung ihrer früheren sozialen Zusammenhänge in der Folge des großstädtischen Wachstums. Aber nicht nur das quantitative Wachstum von Menschen und Häusern sprengte das Verhältnis zwischen räumlicher und sozialer Ordnung, es war vielmehr die Polarisierung der politischen Lager, die die einheitliche örtliche Zusammengehörigkeit nach und nach durch viele politische ersetzte: Nebeneinander arbeiteten in der Luisenstadt kirchliche Einrichtungen, städtische Armen- und Schulkommissionen, freie Vereine der Liberalen, Spar-

6 8 J. F. Bachmann, Die ersten 25Jahre..., S. 29. ® Ebda.

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V. Die Reaktionszeit

und Vorschußgenossenschaften nach Schulze-Delitzsch, Arbeitervereine, freie Krankenkassen verschiedener Orientierungen. Im begrenzten politischen Bewegungsspielraum der Reaktionszeit hatten sich die liberalen Organisationen hauptsächlich auf wirtschaftliche Fragen konzentriert, und in seinen Genossenschaften bemühte sich zum Beispiel Schulze-Delitzsch über die Bewältigung praktischer ökonomischer Fragen um eine politische Verbindung zwischen Liberalen und Arbeitern, gemäß seiner Überzeugung, daß die soziale Frage keine politische, sondern eine wirtschaftliche sei. Auch seine Selbsthilfe-Ideologie fand in diesem Handwerkerviertel ein fruchtbares Terrain. Die unabhängigen Kleinproduzenten hörten gern, w i e sie sich durch die Genossenschaften der Vorzüge des freien Spiels der Kräfte bedienen konnten, statt sich von ihnen zermalmen zu lassen. Schulzes praktischer Rat kam ihren Hoffnungen, der Proletarisierung zu entgehen, entgegen. Aus denselben Gründen komplizierte sich das soziale Gefüge der Luisenstadt, und dabei bildeten sich gerade in der Reaktionszeit aus verschiedenen Gründen einerseits die kirchlichen Einrichtungen der Inneren Mission und andererseits die genossenschaftlichen Arbeiterorganisationen: eine Politisierung und Multiplizierung der Interessenvertretungen, die auch mit der neue Ära nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten und die die herkömmlichen lokalen Fürsorgeeinrichtungen der Armen- und Schulkommissionen von ihrer führenden Position verdrängten.

SECHSTES

KAPITEL

Die liberale Modernisierung Die liberale Wende Mit der Hochkonjunktur des Liberalismus seit Beginn der Neuen Ära erhielten die Diskussionen der fünfziger Jahre über die Opportunität einer Reform des Armenwesens einen veränderten Sinn. Zahlreiche Mitglieder des Bürgervereins kehrten in die Stadtverordnetenversammlung zurück, zugleich aber auch in die große Politik. Diese Gruppe organisierte sich einerseits neu auf kommunaler Ebene, andererseits - in der Fortschrittspartei - auf Landesebene. Auf beiden Ebenen verstanden sie sich als Sachwalter eines fortschrittlichen Allgemeininteresses, nicht als lokale Honoratioren. Ihre Aktivitäten galten der gesamten Kommune, nicht mehr nur dem eigenen Stadtbezirk. Die großen kommunalpolitischen Fragen waren für sie solche der sozialen Infrastruktur und Hygiene: Schulen, Kanalisation, Markthallen, Krankenhäuser, Grünanlagen, Turnhallen usw. Die beteiligten Luisenstädter - Kochhann, Langerhans jr.,1 Runge - gingen in dieser allgemeinen Ebene auf. Kochhann war 1858 zusammen mit einer Reihe führender Liberaler wieder in die Stadtverordnetenversammlung gewählt worden. Die Gruppe traf sich in späteren Jahren im Wahlkomitee der Fortschrittspartei oder privat in der „Terbusch-Gesellschaft", einer nach ihrem Stammlokal (der Terbusch'schen Ressource) benannten liberalen Fraktion von Stadtverordneten, die dort ihr Vorgehen in der Stadtverordnetenversamm1

Paul Langerhans (1820-1909), Sohn des Stadtbaurats Wilhelm Langerhans, Arzt, 1862-1866 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (DFP, linker Flügel), 18811887 und 1888-1903 Mitglied des Reichstages (DFP, Deutsche Freisinnige Partei, Freisinnige Volkspartei). Vgl. Gerd Fesser, Linksliberalismus und Arbeiterbewegung, Berlin 1976, S. 199-

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VI. Die liberale Modernisierung

lung koordinierten. Diesem Zirkel - Delbrück,2 v. Unruh,3 Virchow, Neumann, Twesten, 4 Duncker,5 Kochhann, Zacharias, Elster, Guttentag, 6 Zelle,7 - „wurde der Spottname .Vorsehung' beigelegt, den wir akzeptierten. Wir bildeten keine Partei, wir faßten nicht in dem Sinn Beschlüsse, daß der einzelne daran gebunden und in der Versammlung danach zu stimmen gezwungen war ... Die Erkenntnis hatte uns vereinigt und hielt uns zusammen, daß die große Bedeutung, welche Berlin in politischer und wirtschaftlicher Beziehung habe und mehr und mehr in ganz Deutschland gewinnen müsse, daß das stetige Wachstum der Stadt eine Reihe von Einrichtungen erheische, welche sofort in Angriff genommen werden müßten, wenn die Anforderungen, welche schon jetzt und sicher in Zukunft gestellt werden würden, erfüllt werden sollten. Berlin, im Jahre 1840 eine Stadt von etwa 310 000 Einwohner, hatte hauptsächlich durch Zuzüge sich bis zum Jahre I860 um zirka 164 000 Einwohner vermehrt ...

2 Adalbert Delbrück, 1822-1890, Bankier, unterstützte in der Konfliktzeit den rechten Flügel der DFP, später die Nationalliberale Partei; Mitbegründer der Deutschen Bank (1870) und erster Aufsichtsratsvorsitzender. Vgl. G. Fesser, a. a. O., S. 193. 3 Hans Victor von Unruh, 1806-1886, Industrieller, 1848 Mitglied der Berliner Nationalversammlung (rechtes Zentrum); Mitbegründer von Nationalverein und DFP; Mitbegründer und seit 1870 Vorsitzender der Nationalliberalen Partei; 1863-1871 Mitglied des Abgeordnetenhauses, 1867-1879 Mitglied des Reichtages. Vgl. G. Fesser, a. a. O., S. 205. 4 Karl Twesten, 1820-1870, Jurist, Stadtgerichtsrat in Berlin, 1862-1870 Mitglied des Abgeordnetenhauses, rechter Flügel der DFP, Mitbegründer der Nationalliberalen Partei, 1867-1870 Mitglied des Reichstages. Vgl. G. Fesser, a. a. O., S. 205. ^ Franz Duncker, 1822-1888, Sohn (mit weiteren vier Brüdern) des Verlegers und Berliner Stadtverordneten Karl Duncker, Verleger, Besitzer der Volks-Zeitung, 18621877 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses; linksliberaler Führer der DFP, seit 1865 Vorsitzender des Berliner Handwerkervereins, 1867-1877 Mitglied des Reichtages (DFP); 1868 Mitbegründer der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine. Der Bruder Maximilian (Max) Duncker, 1811-1886, Historiker und Rechtsliberaler, war 1861-1866 politischer Berater des Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Der Bruder Hermann Duncker, 1817-1892, Jurist, wurde I860 Syndikus und 1872 Bürgermeister Berlins. Vgl. G. Fesser, a. a. O., S. 194, und Gerhard Kutzsch, Berlins Bürgermeister 1808-1933, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, Berlin 1976, S. 7-29.

^ Immanuel Guttentag, 1817-1862, Verlagsbuchhändler in Berlin. Robert Zelle, 1829-1901, Jurist, von 1861 an Stadtrat, später Syndikus, von 1891 an Bürgermeister und von 1892 an Oberbürgermeister Berlins. Seit der Gründung Mitglied der Fortschrittspartei und des Abgeordnetenhauses 1873-1891- Siehe auch unten ZEHNTES KAPITEL. 7

Die liberale Wende

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Nach wiederum 20 Jahren hatte sich die Einwohnerzahl verdoppelt. War auch dieser gewaltige Aufschwung nicht vorauszusehen, so konnte doch jeder, welcher der Bewegung mit einiger Aufmerksamkeit folgte, wissen, daß ein stetiger, alle bisherigen Verhältnisse modifizierender Fortschritt zu erwarten war."8 Nach den Tagebüchern Kochhanns wurde der Name „Vorsehung" erst später von Oberbürgermeister Seydel erfunden, der in einigen Artikeln der Spenerschen Zeitung „streng und keineswegs richtig geurteilt"9 habe. Von dieser Fraktion in die Berliner Stadtverwaltung geholt, hatte sich Seydel bald mit ihr entzweit. Die Fraktion der „Vorsehung" kritisierte den Immobilismus der Stadtverwaltung, die unter dem Oberbürgermeister Krausnick von einer solchen Furcht, die Stadt in Investitionen zu verwickeln, beherrscht war, daß alle großen infrastrukturellen Neuerungen der Initiative des Polizeipräsidenten zu verdanken waren. Im Jahre 1859 wurde der Arzt Rudolf Virchow in die Stadtverordnetenversammlung gewählt. In das politische Leben eingeführt hatte ihn sein Freund, der Arzt Paul Langerhans. Beide gehörten der „Vorsehung" an, wie auch der luisenstädtische jüdische Armenarzt Salomon Neumann,10 der mit Virchow schon in den vierziger Jahren für die öffentliche Gesundheitspflege gestritten hatte. Diese Gruppe unternahm erste Vorstöße im Namen der Gesundheitspflege, so in ihrem Antrag von I860, für den Durchbruch der Inselstraße zu sorgen, den sie mit einem Sanitätsgutachten unterstützte, in dem eine kausale Beziehung zwischen dem Mangel an Luft und Licht und der Häufung von Cholerafällen hergestellt wurde.11 Eine der ersten Initiativen Virchows als Stadtverordneter bestand darin, eine Petition an den Landtag vorzuschlagen, die die Änderung der Gemeindeordnung von 1853 bezweckte. Dieser Antrag spaltete die Stadtverordnetenversammlung, die damit befaßte Komission und schließlich das Magistratskollegium in zwei Lager und führte zu einer aufschlußreichen Polemik zwischen Virchow und Gneist in der Presse.

8 Adalbert Delbrück, Lebenserinnerungen, Privatdruck, o.O., o.J., S. 86. 9 H. E. Kochhann, Aus den Tagebüchern..., Bd. 3, Mitteilungen aus den Jahren

1848-1863, 10 11

S. 72.

Siehe hier DRITTES KAPITEL, Anm. 100. D. Hoffmann-Axthelm, Preußen am Schlesischen Tor..., Kap. 8.

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VI. Die liberale Modernisierung

Rudolf Gneist, Jurist aus der Schule Savignys und seit 1845 Stadtverordneter, ist der Theoretiker der Selbstverwaltung schlechthin. Die Bezeichnung „städtische Selbstverwaltung" stammt aus seinen Schriften.12 Für ihn sind die Honoratioren, die ehrenamtlich tätig sind, die Träger der Selbstverwaltung: „Die ganze Kraft der Selbstregierung beruht auf unbesoldeten und gebildeten Männern."13 Er spricht aber nicht von den Honoratioren, die ehrenamtlich für die Berliner Stadtverwaltung arbeiteten: Das historische Vorbild, auf das er, idealisierend, sich stützte, war die englische Gentry des 18. Jahrhunderts. 14 Kernpunkt der Petition von Virchow und seinen Freunden war die Rückkehr zur Städteordnung von 1808 unter Abschaffung der Veränderungen von 1831 und 1853, vor allem des Dreiklassenwahlrechts. Die Polemik zwischen Virchow und Gneist entzündete sich an der Frage, welche Besteuerungshöhe das Recht zu wählen begrenzen sollte. Ohne die Vorschläge hier näher zu untersuchen - nach dem Vorschlag von Gneist hätte sich die Zahl der Wahlberechtigten vermindert, nach dem von Virchow hätte sie sich ungefähr auf gleicher Höhe gehalten -, genügt es, hier festzustellen, daß es die Figur des ehrenamtlichen Funktionärs war, die den strittigen Punkt bildete. Gneist betonte, daß der wohlhabendste Teil der Berliner Bürgerschaft für sich allein bereits neun Zehntel der ehrenamtlichen Stellen innehabe. Wer mit der eigenen Arbeit die Existenz einer unabhängigen Kommunalverwaltung sichere, habe ein Recht, das Gewicht seiner eigenen Stimme entsprechend gewertet zu sehen. Mehr noch, so schlug Gneist vor, sich für ein Ehrenamt zur Verfügung zu stellen, sollte das Wahlrecht eo ipso für die bedeuten, die sonst aus Gründen ihrer Steuerklasse ausgeschlossen gewesen wären. 15 De facto vertrat 12

H. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung... A. a. O., S. 375. 14 Nicht zufällig setzte mit Gneists Schriften die Verklärung Steins als Vater der Selbstverwaltung ein, die dann für die Gedenkfeiern des liberalen Magistrats obligatorisch wurde. Dabei aber galten die Theorien Gneists der Staatsverwaltung, nicht der kommunalen Ebene, obwohl er in dieser tätig war. Bezeichnend für die noch in seiner Zeit verbreitete unpolitische Auffassung von Kommunalverwaltung ist seine verächtliche Bezeichnung derselben als „die Verwaltung von Straßen und Rinnsalen, von Almenden und Hospitälern und solchen Dingen, über die sich das kleinbürgerliche und das Beamtenverständnis als den Begriff der Selbstverwaltung geeinigt hatten", zitiert nach: H. Heffter, a. a. O., S. 739. 15 Communalblatt, H. 10, (1861), S. 71-73 und H. 11 (1861), S. 82 f. 13

Die liberale Wende

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Gneist die Auffassung, daß über das aktive wie passive Wahlrecht nur derjenige verfügen sollte, der bereit sei, ehrenamtlich zu arbeiten. Virchow betonte dagegen die politische Bedeutung seiner Petition gegen das Dreiklassenwahlrecht. Trotz der Widersprüche in der Stadtverordnetenversammlung müsse man zum Sinn der Städteordnung von 1808 zurückkehren. Deren Grundprinzip sei, daß das Ehrenamt ein Pflichtrecht sei, dem sich kein Bürger entziehen dürfe. In der Praxis hatte man, um das Amt funktionsfähig zu halten, allerdings nie auf dem Amtszwang bestanden. So wurden die neuen Mitglieder in den Armenkommissionen, wie schon gezeigt, von den ausscheidenden Mitgliedern kooptiert; dabei hatten sich oft Verwandte und Nachbarn abgewechselt oder waren Familien über Generationen in den gleichen Armenkommissionen vertreten. Es handelte sich offenbar um einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Generationen des Liberalismus, und wo Gneist die Stärke sah, sah Virchow einen zu beseitigenden Übelstand. Während der Altliberale Gneist in seiner aus der Tradition des preußischen Amtsadels überkommenen Sicht der Selbstverwaltung den Wert der vorhandenen Verhältnisse anerkannte, wollten Virchow und seine Freunde, die Fortschrittsliberalen, diese Verhältnisse demokratisieren und modernisieren. Sie betonten angesichts der Schwierigkeit, Personen zu finden, die die Ehrenämter übernahmen, die Pflicht jedes Bürgers, das Amt anzunehmen. Für sie hatte der, der bloß seine Pflicht tat, keinerlei Ehrenstellung inne. Diese liberale Fraktion war 1859 noch in der Minderheit. Die von Virchow und seiner Gruppe vorgebrachten Petitionen hatten keine Folgen. Erst 1862 gab es eine liberale Mehrheit, die eine Wachablösung zustande brachte. An die Stelle der Bedächtigkeit und Sparsamkeit der vorangegangenen Verwaltung trat eine moderne unternehmerische Mentalität, die besonders durch Geschäftsleute und Unternehmer wie Adalbert Delbrück, Werner Siemens und Ludwig Loewe in der Stadtverordnetenversammlung vertreten war. Der Jurist Karl Theodor Seydel, vorher Regierungspräsident von Hohenzollern, Schwager Virchows (ihre Frauen waren Töchter eines bekannten Berliner Gynäkologen), ersetzte Krausnick als Oberbürgermeister. Hermann Duncker wurde anstelle von Hedemann Bürgermeister, besoldete Stadträte wurden Robert Zelle, später Oberbürgermeister, und Franz Gesenius, ein Freund Delbrücks. Als unbesoldete Stadträte wurden gewonnen: J. G. Halske, Kompagnon von W. Siemens,

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VI. Die liberale Modernisierung

Paul Mendelssohn-Bartholdy, Bankier und Gründer der später Agfa genannten chemischen Fabrik vor dem Schlesischen Tor, Sohn des Komponisten und Enkel des Stadtrats der dreißiger Jahre, und H. J. Loewe, der Kattunindustrielle, Sozius und Nachfolger Dannenbergers. Die Fraktion der „Vorsehung" sah ihre Zeit gekommen und setzte Kochhann als Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung durch. 16

Liberale Sozialpolitik und Bezirksvereine Die Stellung der Fortschrittler zur sozialen Frage ist weitgehend bekannt. Trotz tiefgreifender Unterschiede 17 vertraten sie im allgemeinen die Auffassung, das freie Spiel der Kräfte werde mit der Zeit die soziale Frage lösen. 18 Man lehnte jegliche Staatshilfe ab, weil man sie grundsätzlich für gefährlich hielt. So leugnete John PrinceSmith, Freund Schulze-Delitzschs, Berliner Stadtverordneter und im Sommer 1848 Mitglied der Armendirektion, 1864 die Existenz der „sogenannten Arbeiterfrage":19 Fortschritte im allgemeinen wirtschaftlichen Leben würden als solche die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiter nach sich ziehen, Klienten der Armenfürsorge würden nur diejenigen Personen bleiben, die ohnehin unproduktiv seien (kinderreiche Witwen, Alte, Gebrechliche). Hermann Schulze-Delitzsch wandte sich gegen eine staatliche Armenfürsorge, die nur die Folge gehabt hätte, die Armut noch zu vermehren. 20 H. E. Kochhann, Aus den Tagebüchern..., Bd. 3, Mitteilungen aus den Jahren 1848-1863, S. 76. 17 Vgl. James J. Sheehan, Liberalismus und Gesellschaft in Deutschland 18151848, in: Lothar Gall (Hrsg.), Liberalismus, Gütersloh 1976, S. 208 ff.; Karl Holl/Günther Trautmann/Hans Vorländer (Hrsg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986. 18 Wilhelm Mommsen, Zur Beurteilung des politischen und sozialen Denkens im 19- Jahrhundert, in: ders., Stein, Ranke, Bismarck, München 1954, S. 257 f. Ernst Schraepler, Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland, Bd. 1, 1800-1870, Göttingen 1955, S. 173 ff. 20 Vgl. auch Hans Achinger, Sozialpolitik als Gesellschajispolitik. Von der Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat, Hamburg 1958, S. 21-22. Lette, liberaler Beamter, Vorsteher des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen und Freund von Schulze-Delitzsch, vertrat die Ansicht, Assoziationsgeist und Freiheit könnten sich nur in dem Staat entwickeln, bei welchem „die Regierungen darauf verzichten, die Stelle der göttlichen Vorsehung einnehmen und von oben her die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse der Völker polizeimäßig bevormundend regeln zu wollen".

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Öffentliche Hilfe stelle nach Schulze-Delitzsch „der menschlichen Natur ein Armutszeugnis aus, ... [sei] ein Mißtrauensvotum gegen den lieben Gott, der in der Begabung des Menschen ein solches Mißverhältnis zwischen Sollen und Können sich hat zu Schulden kommen lassen!"21 Staatliche Hilfe war in den Augen der Liberalen mit polizeilichem Absolutismus und mit der Bevormundung der Bürger identisch. Schulze-Delitzsch betonte mehrmals, daß die soziale Frage keine politische, sondern eine wirtschaftliche Frage sei.22 Er hatte 1849 seine Stellung als Patrimonialrichter in Delitzsch als Folge seines Aufrufs zum „Steuerstrike" im Landtag verloren und konzentrierte seine Kräfte auf den Aufbau von Genossenschaften, Kranken- und Sterbekassen, Sparvereinen, Vorschußkassen und anderer Selbsthilfeorganisationen. 23 „Nicht die kleinen Gewerbetreibenden durch polizeiliche Verbote gegen die Konkurrenz des Großbetriebs schützen, sondern sie zur Konkurrenz mit demselben selbst befähigen",24 war sein Rezept. Ende der vierziger Jahre, als Schulze-Delitzsch mit seiner Agitation begann, war der Unterschied zwischen Arbeitern und Handwerkern sowohl bei ihm als auch bei seinem Publikum durchaus noch nicht klar erkennbar. Die Handwerker, die sich die Selbsthilfe leisten konnten, zogen der politischen Parteinahme, für die es inmitten der Reaktion ohnehin keinen Spielraum gab, die Möglichkeit praktischer Verbesserungen und individueller wirtschaftlicher Unabhängigkeit vor. Das Genossenschaftsmodell war leicht anwendbar, und in der Tat entstanden in kürzester Zeit zahllose lokale Assoziationen, von denen die Kredit- und Einkaufsgenossenschaften langfristig existenzfähig waren. Auf die Dauer konnte man so aber allenfalls kleine Handwerker vor der Proletarisierung schützen, die sich in den sechziger Jahren 21 Hermann Schulze-Delitzsch, Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus, Leipzig 1863, S. 77. 22 Michael Gugel, Industrieller Aufstieg und bürgerliche Herrschaft. Sozioökonomische Interessen und politische Ziele des liberalen Bürgertums in Preußen zur Zeit des Verfassungskonflikts, 1857-1867, Köln 1975, S. 180; Hermann Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen, in: Lothar Gall/Robert Koch (Hrsg.), Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert. Texte zu seiner Entwicklung,Uà. 4, Frankfurt a. M.-Berlin-Wien 1981, S. 163 ff. 23 Rita Aldenhoff, Schulze-Delitzsch. Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung, Baden-Baden 1984. 24 H. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen..., S. 175.

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VI. Die liberale

Modernisierung

rasch vergrößernde Masse der Fabrikarbeiter war außer acht gelassen. Die Fortschrittler waren der Auffassung, daß nur wirtschaftlich unabhängige Personen Politik betreiben sollten, die Arbeiter und Handwerker sich also zu dieser Unabhängigkeit durch das Assoziationswesen emporarbeiten, im übrigen aber sich von der Fortschrittspartei politisch vertreten lassen sollten. So lehnte zum Beispiel Schulze-Delitzsch die Mitgliedschaft von Arbeitern im Nationalverein ausdrücklich ab.25 Mit der Neuen Ära lebten im preußischen Abgeordnetenhaus die Debatten über die Prinzipien von Zwang und Freiwilligkeit bei der Lösung der sozialen Frage wieder auf.2^ Diese Debatten hatten aber auch auf der lokalen Ebene Folgen. Nach der Reaktionszeit begannen die Bezirksvereine erneut mit ihrer Tätigkeit. Sie waren funktional auf die liberale Selbsthilfepropaganda bezogen. Es handelte sich um die lokalen Organisationen, die die Liberalen 1848 durch den Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen zu organisieren begonnen hatten, die, bald verboten, sich in den sechziger Jahren zu lokalen sozial- und bildungspolitischen Gremien der Fortschrittler entwickelten. Weil sie diejenigen Organisationen waren, dank derer die Liberalen unmittelbar und praktisch mit den Arbeitern in Kontakt kamen, wurden sie die lokalen Stützpunkte Schulze-Delitzschs und seiner Anhänger. Das galt besonders für ein Handwerkermilieu wie das der Luisenstadt. Ein Bezirksverein „schafft Capital, hilft sparen, schafft billige Lebensmittel, verbreitet Bildung, sorgt für Unterhaltung, rathet der Auswanderung, spendet Almosen, hilft sociale Fragen lösen, regt das staatliche und kommunale Leben an". 27 Die Mehrheit der Vorträge und Diskussionen, die die Bezirksvereine organisierten, beschäftigte sich mit praktischen wirtschaftlichen Fragen, die ihre Mitglieder unmittelbar interessierten.28 25

R. Aldenhoff, Schulze-Delitzsch..., S. 128-131. H. Volkmann, Die Arbeiterfrage..., S. 111 f. 27 Statistisches Jahrbuch der Stadt Beriin für das Jahr 1868, Berlin 1869, S. 226. Wie die Quelle betont, gab es vermutlich mehr Vereine als die 29, die die Fragen des statistischen Amtes beantwortet haben und infolgedessen in dieser Übersicht vertreten sind. 28 Ebda. Handwerker und Gewerbetreibende machten 40% der Mitglieder aus, Kaufleute 18%, Professoren, Beamte, Ärzte, Apotheker, Architekten, Journalisten, Künstler 10%, Fabrikanten 9%, „für den Großbetrieb Arbeitende" (Maschinenbauer, Werkführer, Fabrikdirigenten) 6%, Handeltreibende und Cafetiers 6%, Rentiers 6%, Maler, Graveure, Photographien 5%. 26

Die Liberalen und die Armenkommissionen

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Mit den Bezirksvereinen waren vielfach andere Unternehmungen verbunden, vor allem Darlehenskassen. Ende der sechziger Jahre arbeiteten in ganz Berlin 57 Genossenschaftsbanken, Darlehenskassen und Vorschußvereine auf Stadtviertelebene, mehr als ein Fünftel davon (14) in der Luisenstadt. Zur gleichen Zeit zählte man in Berlin (1867) 17 Consumvereine (1873/74 werden nur neun, und nicht dieselben, aufgeführt), vier davon (1873/74: drei) in der Luisenstadt. Weiter werden für 1873/74 34 Produktivgenossenschaften aufgeführt, die aber nicht lokal zuzuordnen sind. Insgesamt handelte es sich um einen eigenen Bereich, der im städtischen statistischen Jahrbuch unter der Rubrik „Sparsamkeit und Selbsthülfe" nicht ohne Sympathie zusammengefaßt ist.29 Gingen die Kleinkinderbewahranstalten, die seit 1830 gegründet wurden, nach und nach in städtische Verwaltung über, wie das Beispiel des Luisenstädtischen Wohltätigkeitsvereins zeigt, so übernahmen beziehungsweise gründeten die liberalen Bezirksvereine eigene Einrichtungen, die Fröbelschen Kindergärten,30 die, seit dem 11. Februar 1852 verboten, seit April I860 wieder erlaubt waren. So wurde 1867 der Fröbelsche Kindergarten in der Köpenicker Straße 44 mit 99 Kindern gegründet. Verschiedene Erziehungstheorien waren miteinander konfrontiert - es handelte sich nicht mehr einfach darum, Kinder nur von der Straße zu holen. Die Fröbelschen Kindergärten, die sich die unermüdlich von Diesterweg vertretene Parole der Pestalozzianer, Selbständigkeit und Elementarbildung, zu eigen gemacht hatten, galten I860 noch als suspekte Einrichtungen.31 1868 finden wir als Vorstandsmitglied des Fröbelschen Kindergartens in der Köpenikker Straße den liberalen Kattunindustriellen Stephan, von dem schon als Mitglied des Centraivereins die Rede war.

Die Liberalen und die Armenkommissionen Als in den sechziger Jahren die städtischen Gremien eine liberale Mehrheit erhielten, die eben diese Überzeugungen einer Sozialpolitik der Sparsamkeit, Selbsthilfe und Selbständigkeit vertrat, mußte 29 30

Ebda. A. a. O., S. 212.

Eine Anmerkung der Redaktion des Communalblatts zu einem Artikel z. B. versprach „Aufklärung über das bekanntlich noch immer vielfach umstrittene System der

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VI. Die liberale Modernisierung

das notwendigerweise zu Reibungen mit dem bestehenden System der Armenkommissionen führen. Am 31. Januar 1864, 32 ein Jahr nach seiner Amtseinführung, brachte Oberbürgermeister Seydel den Antrag ein, die beiden Bereiche der Armenfürsorge zu trennen, und zwar einerseits in die „polizeiliche" Fürsorge zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, um denjenigen Personen, die strukturell unfähig seien, für sich selbst zu sorgen (Alte, Behinderte, Witwen mit Kindern), eine minimale Unterstützung zu gewähren, und andererseits in die Wohltätigkeit, die in gelegentlichen Zuwendungen an zeitweilig in Not geratene Personen bestehe. Nach dem Antrag Seydels hätte die „polizeiliche" Fürsorge bei der Armendirektion verbleiben sollen, die Armenfürsorge der Wohltätigkeit aber sollte an eine neu zu gründende Einrichtung übergehen, deren Aufgabe es gewesen wäre, die Zuwendungen von Privatpersonen und Vereinen im Rahmen einer Unterteilung der Stadt in fünf Zonen an die Bedürftigen zu übergeben.

sogenannten Fröbelschen Kindergärten". Vgl. F. Winther, Der Kindergarten, in: Communalblatt der Haupt- und Residenzstadt Berlin, 1. Jg. (I860), Nr. 12 vom 16. 9I860, S. 101 und Nr. 13 vom 23. 9• I860, S. 110. I860 waren in Berlin drei Fröbelsche Kindergärten aktiv, in der Elisabethstraße, 1859 gegründet (circa 20 Kinder), in der Königstraße 32, vom 1. Mai I860 an (60 Kinder) und in der Lindenstraße 66, vom 1. Juli I860 an (40 Kinder). Sie waren von einem Frauenverein zur Beförderung der Kindergärten, der I860 über 80 Mitglieder Zählte, organisiert und durch Erzieherinnen, die der Fröbelschen Lehre nahestanden, beaufsichtigt - während in den von Frau Gemberg initiierten Kleinkinderbewahranstalten jeweils ein Ehepaar die Kinder beaufsichtigte, weil man dort lange noch bezweifelt hat, daß eine Frau die nötige Kraft haben könnte, mit einer ganzen Kinderschar fertigzuwerden. Der Verein kündigte im September I860 an, daß „demnächst" eine Monatliche Korrespondenz zwischen Schule und Haus als Beiblatt der neuen Pädagogischen Zeitschrift von Moritz Fürbringer (1802-1874) - 1848-1853 Nachfolger Diesterwegs als Direktor des Berliner Seminars für Stadtschulen, 1853-1873 Stadtschulrat von Berlin - erscheinen werde. (Das hier zitierte Blatt konnte nicht aufgefunden werden. Zu Fürbringer siehe Communalblatt vorn 12. 4. 1874, S. 183.) Der Berliner Fröbelverein wurde aber erst 1874 durch die Vereinigung des Frauen-Vereins Zur Beförderung der Fröbelschen Kindergärten und des Vereins für Familien- und Völkserziehung gegründet. Er betrieb in den neunziger Jahren sechs Kindergärten, ein Kindeigärtnerinnenseminar in der Königgrätzer Straße (heute Stresemannstraße) 90 und eine Kinderpflegerinnenschule in der Schmidstraße (in der Luisenstadt). Nach Benno Fromm, Die Wohltätigkeitsvereine in Berlin, Berlin 1894, S. 24. 32 Aktenstücke, betr. die Reorganisation der Wohlthätigkeits-Armenpflege, Anhang A, in: Verwaltungsbericht der Stadt Berlin 1861-1876, Berlin 1880, S. 401-409.

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Die Antwort der Armendirektion vom Mai 1864 war trotz der Gemessenheit der Formulierung denkbar eindeutig: Sie forderte den Magistrat auf, er möge auf die in Frage stehende Reform verzichten, da es nicht nur keine Garantie für ihr Gelingen gebe, sondern auch das Funktionieren der sozialen Fürsorge gefährde, die traditionell durch die Armenkommissionen gewährleistet werde. Seydel zog sich daraufhin „nicht überzeugt, sondern verletzt zurück, so daß es gar nicht zu Verhandlungen kam". 3 3 Folgt man den Aussagen Delbrücks, so war dies der Grund für die Distanzierung Seydels von der Gruppe der „Vorsehung". Auf das Votum der Armendirektion antwortete allerdings ein Parteigänger Seydels, der in der Leidenschaftlichkeit der Argumentation erkennen läßt, daß es um einiges mehr ging als eine einfache Reorganisation des Fürsorgesystems. 34 Die Absicht Seydels und seiner Parteigänger war es, ein für allemal den im Publikum verbreiteten Gedanken auszurotten, es gebe ein Recht auf Unterstützung - ein Gedanke, der sich ihrer Meinung nach allzu leicht einstellte, wenn die Fürsorge durch eine öffentliche Anstalt wahrgenommen würde. Es zeigte sich hier das Unbehagen der Liberalen gegenüber dem wachsenden Selbstbewußtsein der arbeitenden Klassen, aus dem, wie schon oben bemerkt, eine veränderte Sicht des Armenwesens folgte, wobei die Unterstützung als Pflicht der Gemeinde angesehen wurde, nicht als „Wohltat". Deshalb sollte die Wohltätigkeit in die Hände einer privaten Einrichtung übergehen, die über keinen durch öffentliche Gelder garantierten Etat verfügte, sondern ganz von der Freigebigkeit der Bürger getragen würde. „Die Humanitäts-Armenpflege der Magistratsvorlage hat zu ihrer Grundlage die Freiheit des Gewährens und Versagens, das Nichtvorhandensein einer Unterstützungspflicht." 35 Das setzte voraus, „daß im Sinne der Magistratsvorlage die Lage, einen Kranken wegen mangelnder Mittel mit seinem Hülfsgesuche abweisen zu

33

A. Delbrück, Lebenserinnerungen..., S. 93.

LAB (STA), Votum in Form eines Berichts der Armen-Direktion an den Magistrat, Rep. 03, Bd. 349, 25. 5. 1864, Bl. 66-77 RS., und Antwort darauf: Kursorische Beleuchtung des Votums vom 25- 5. 1864, über die Vorlage des Magistrats vom 31. 1. 1864, betr. die Reform der städtischen Armenpflege, Bl. 84-100, Stadtarchiv Berlin. 35

A. a. O., Bl. 14.

196

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müssen, als eine mögliche, und als eine zu rechtfertigende, in das Auge gefaßt werden muß" 36 - statt dessen wird die weitere Bildung von Krankenkassen gefordert, „durch welche hauptsächlich das bestehende, sehr bedenkliche System der Armen-Krankenpflege durchbrochen und gebrochen werden muß". 37 Es ging darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die von Schulze-Delitzsch propagierte Selbsthilfepolitik in die Tat umzusetzen. 3 8 Schulze-Delitzsch hatte in seinen Vorträgen im Berliner Arbeiterverein die Tätigkeitsweise der Armenkommissionen heftig kritisiert und ihnen vorgeworfen, den einzelnen „moralisch zu entmutigen": „Wer von einem anderen, und sei es der Staat, Unterstützung anspricht, der räumt diesem die Obmacht, die Aufsicht über sich ein ... das wäre ein Aufgeben seiner selbst, ein Verzweifeln an der eigenen Kraft." 39 Wie könne jemand die Energie finden, sich selbst zu helfen, wenn er zugleich passives Objekt der Wohltätigkeit bleibe? Wenn die öffentliche Hand auf eine Reihe von Aktivitäten und Aufgaben verzichte, müßte die Gesellschaft, verstanden als Gesamtheit der Bürger, also Hilfsbedürftige wie Wohltäter, sich von allein organisieren, und das mit geringeren Lasten für die, die über die Steuern die Kosten der Sozialfürsorge trügen. Das Vorhandensein der öffentlichen Armenpflege an sich wurde also von den Liberalen als die Ursache der wachsenden Schwäche der privaten Wohltätigkeit und der Selbsthilfeorganisationen denunziert, weil die offizielle Armenpflege, wenn sie sich „auf dem Gebiete der freien Wohltätigkeit versucht, eine Armen-Bevölkerung heranzieht, die Armut erzeugt mit den Mitteln, die sie zur Bekämpfung derselben anwendet". 40 In der vorgeschlagenen Ordnung sollte dagegen gelten, „daß es ihr nicht mehr freisteht, überhaupt ganz unerörtert zu lassen, ob sie auf Grund einer gesetzlichen Pflicht oder aus Humanität unterstützt ... Die freie Armenpflege thut eben niemals mehr als sie will und kann, wie jetzt schon die freie Wohltätig-

36

A. a. O., Bl. 17. Ebda. 3 8 Neben den liberalen Selbsthilfe-Einrichtungen gab es in Berlin in diesen Jahren mehrere andere Vorsorgeeinrichtungen. Siehe unten ACHTES KAPITEL. 3 9 Hermann Schulze-Delitzsch, Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus. Neugedruckt in: E. Schraepler, Quellen zur Geschichte..., Bd. 1, S. 182. 37

40

Kursorische Beleuchtung...,

S. 8.

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Armenkommissionen

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keit." 41 „Die Reviere und Vorstände sollen Cadres für die Bethätigung der freien und freiwilligen Privat-Wohltätigkeit bilden...", sie hätten auf alle Bestrebungen zu achten, die darauf gerichtet seien, „den Arbeiter in Zeiten, wo es ihm noch möglich ist, zu Ersparnissen zu veranlassen, und ihm solche sicher unterzubringen, auf alle Anstrengungen der Schule, auf alle guten kirchlichen Bestrebungen, auf alle jene Bestrebungen der menschlichen Betriebsamkeit, welche für müßig stehende Hände neue Fundgruben an Arbeit und Erwerb entdecken". 42 In letzter Instanz zielte Seydels Reformansatz darauf ab, die Geldunterstützung überflüssig zu machen. Die Ablehnung durch die Armendirektion stützte sich nicht auf Prinzipien - hier betont das vom Direktor der Armenverwaltung Schreiner unterzeichnete „Votum" durchgehend die Übereinstimmung - , sondern auf die praktische, in mehr als vier Jahrzehnten akkumulierte Verwaltungserfahrung. Einer der Hauptkritikpunkte seitens der Armendirektion an Seydels Vorschlag waren die Folgen, die die Reform für die ehrenamtlich tätigen Bürger gehabt hätte. Ihre Entscheidungsfreiheit wäre noch weiter eingeschränkt worden und damit ihr Ansehen dem Publikum gegenüber, hätten sie in den Armenkommissionen nur die Fälle behandeln dürfen, die zur „obligatorischen" Armenpflege gehörten, und alle andere Bedürftigen zu den freien Wohltätigkeitsorganisationen geschickt. Als unmittelbare Folge wäre es noch schwieriger geworden, überhaupt ehrenamtlichen Armenkommissionsmitglieder zu finden, während durch die neue Organisation die Zahl der dafür nötigen ehrenamtlichen Mitarbeiter noch wachsen würde. In der Tat brach ein Streit über zwei entgegengesetzte Modelle von Stadtverwaltung aus. Die Liberalen wollten nicht mehr in die traditionelle Armenunterstützung - ein Faß ohne Boden - investieren, sondern in strukturelle Erneuerungen. So wuchsen unter ihrer Verwaltung ständig die Kosten für die Schule und für den Schulbau, bis dieser Posten Ende der siebziger Jahren der aufwendigste geworden und der Armenetat zum ersten Male im Jahrhundert in der städtische Bilanz auf den zweiten Platz verdrängt worden war. Durch Schulbildung und Erziehung zu einem Spar- und Vorsorgeverhalten wollten die Liberalen der Armut einen Riegel vorschieben und nicht erst nachträglich durch die Armenkommissionen eingreifen, wenn die 41 42

A. a. O., A. a. O.,

S. 9S. 12.

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Bedürftigkeit schon eingetreten war. Ihre Modernisierungsansprüche standen nicht nur prinzipiell dem Armenkommissionssystem entgegen; mit ihren Auffassungen erklärten sie dem traditionellen System der lokalen autonomen Armenkommissionen auch insofern den Krieg, als sie ihre Zuständigkeit in Zweifel zogen und beschneiden wollten. In der Stadtverordnetenversammlung kam es zu keiner Beschlußfassung, und die Diskussion zog sich über Jahre hin. Selbst die Liberalen um Seydel, insbesondere die Fraktion der „Vorsehung", hegten Zweifel an der Angemessenheit der Vorlage. Es waren die Jahre, in denen die Liberalen ein Interessenbündnis zwischen Konservativen und Handwerkern zu fürchten begannen. 1864 konnte Wagener Bismarck von dem tiefen Riß in Schulze-Delitzschs Arbeiterverein berichten - ein Riß, den er auszunutzen hoffte. Die Entscheidung darüber, wer die politische Führung des Mittelstandes erringen würde, war in eine heikle Phase eingetreten, die eng mit der Frage der Gesundung des Handwerks zusammenhing. 43 So galt es, unnötig unpopuläre Maßnahmen zu vermeiden. Die Diskussion war jedoch eröffnet. Zahlreiche Monatskonferenzen der Vorsitzenden der Armenkommissionen diskutierten über die Möglichkeit einer genauen Grenzziehung zwischen „polizeilicher" und „humanitärer" Fürsorge.44 Die Kommissionsvorsitzenden betonten auf diesen Konferenzen wiederholt, daß es eben die Menschlichkeit der Armenkommissionen sei, sich um solche Haarspaltereien nicht zu kümmern. Sie bemühten sich vielmehr, ein positives Bild von der Berliner Armenfürsorge zu vermitteln. Die Kommissionen kämpften also dafür, ihre lokale Entscheidungsbefugnis zu behalten. Dieses Insistieren auf ihrer Unabhängigkeit mußte zwangsläufig eine gewisse Freigebigkeit zur Folge haben, da die Mindestsätze ohnehin festgelegt waren.

43

H. Volkmann, Die Arbeiterfrage..., S. 131-137. Anfang der sechziger Jahren war der Erfolg Schulze-Delitzschs unter den Arbeitern größer als der Lassalles. Diese Situation wandelte sich durch die strukturellen Veränderungen in der Masse der arbeitenden Bevölkerung schnell - Handwerker und Gesellen, die noch gehofft hatten, sich einmal unabhängig zu machen, wurden zu Fabrikarbeitern. Im August 1864 starb Lassalle, im September 1864 wurde in London die Internationale Arbeiter-Association, im August 1869 in Eisenach die Socialdemokratische Arbeiterpartei gegründet. 44 Communalblatt, 10. Jg. (1869), S. 389 und 15. Jg. (1874), S. 144.

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In einer Verwaltungszeitschrift liberaler Tendenz nahm im Oktober 1864 ein langer, anonym veröffentlichter Artikel (Verfasser war wohl der Herausgeber Hermann Stolp) die Frage wieder auf. Wiederum ging es um das zentrale Motiv der Liberalen: Das herrschende Unterstützungssystem sei ungerecht, da es über die Steuern dem produktiven Teil der Bevölkerung Mittel entziehe, um sie über die Wohltätigkeit dem unproduktiven Teil der Bevölkerung zuzuführen, wodurch dieser dazu gedrängt werde, in seiner Weise fortzufahren. Daraus zog der Verfasser aber eine originelle, gewissermaßen auf die spätere Bismarcksche Lösung vorausweisende Folgerung: Statt der Kommunalverwaltung sollten, wenn überhaupt, die Industriellen, die ihren Verdienst der Existenz der Arbeiter verdankten, verpflichtet sein, sich derselben anzunehmen, wenn sie arbeitslos würden; sie könnten sich dazu nach dem Muster der Versicherungen zu privaten Vereinigungen zusammenschließen. So wie es in vielen Ländern obligatorisch sei, die Gebäude gegen Feuer zu versichern, könne es auch obligatorisch gemacht werden, Personen gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit zu versichern. 45 Während die Armendirektion aber gegen Seydel das Prinzip der bis dahin gültigen städtischen Armenpflege verteidigte, machte sie sich die liberale Argumentation da zu eigen, wo sie den Druck, dem sie von außen unterlag, nach innen weitergeben konnte und wo er ihren eigenen Zentralisierungsabsichten zur Disziplinierung der Kommissionen entgegenkam. 1867 nahm ein Zirkular der Direktion die von Virchow 1859 in die Diskussion eingebrachte Verpflichtung zur ehrenamtlichen Tätigkeit wieder auf. Die Kommissionen wurden ermahnt, von der Praxis Abstand zu nehmen, vor der Benennung eines neuen Mitglieds die betreffende Person zu fragen, ob sie geneigt sei, das Amt anzunehmen, da dies den Gefragten glauben mache, „daß sein Eintritt in ein städtisches Amt von seiner Entscheidung abhänge". 46 Die Diskussion über das Funktionieren des Systems der Armenkommissionen ging währenddessen weiter. 1867 verfaßte der jüdische Arzt Wolfgang Straßmann47 eine lange Studie über das Thema. Die Reform der öffentlichen Armenpflege und des öffentlichen Versorgungswesens, in: Deutsche Gemeinde-Zeitung vom 15. und 22. 10. 1864. 46 Communalblatt, 8. Jg. (1867), Nr. 32, S. 457. 4 7 Stefi Jersch-Wenzel, Jüdische Bürger und kommunale Selbstverwaltung in Preußischen Städten 1808-1848, Berlin 1967, S. 68 f. 45

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Dr. Straßmann war Stadtverordneter, gehörte der Fraktion um Seydel an und war Experte für Fragen der Armenfürsorge. Er schlug im Kern eine Art Kompromiß vor: Das entscheidende sei, daß die öffentliche Anstalt sich von jedem Anschein der Pflicht befreie, was die Wohltätigkeit angehe, und diese der privaten Initiative überlasse. 48 Andererseits erarbeitete das statistische Büro der Stadt eine Unterteilung des Stadtgebiets in Zonen - die fünf Zonen Seydels - unter dem Gesichtspunkt des zahlenmäßigen Verhältnisses von Besitzenden und Besitzlosen, die es erlaubte, auf der Grundlage der privaten Wohltätigkeit mit einer finanziellen Autonomie der Zonen zu rechnen. 49 Auf Magistratsebene versandete die Initiative Seydels. 1869 gründeten aber diejenigen Liberalen, die die Vorstellungen Seydels unterstützten, darunter Wolfgang Straßmann und Ludwig Loewe, auf der Basis der vorgeschlagenen Zoneneinteilung den „Verein gegen Verarmung". Dieser nahm sich vor, einerseits die private Wohltätigkeit praktisch zu organisieren, andererseits die vorhandenen privaten Wohltätigkeitsinitiativen zu koordinieren, um zu verhindern, daß Bedürftige mehrere Hilfeleistungen zur gleichen Zeit in Anspruch nahmen. Das Vorgehen der Vereinsmitglieder, die sich durch das Vereinsschild an der Wohnungstür kenntlich machten, bestand darin, Familien ihrer Zone aufzusuchen, die in Gefahr waren, ins Elend abzusinken, um sie durch Beratung und Darlehen in Form von Geld oder Arbeitsgerät zu unterstützen. So wollte man der Armut zuvorkommen und damit die regelmäßige Geldunterstützung überflüssig machen. Das Ziel, alle privaten Initiativen unter einem Dach zu vereinen, hat dieser Verein nie erreicht, doch war er als Organisation offenbar stabil genug, um nach 25 Jahren auf seine Tätigkeit befriedigt zurückblicken zu können. 50 Mit einer kleinen Mitgliederzahl 48

Anhang Β in: Verwaltungsbericht der Stadt Berlin, 1861-76, S. 410-447. Ernst Bruch, Zur Organisation der Wohlthätigkeits-Armenpflege in Berlin, die Vertheilung von Reichtum und Armuth in den Stadtbezirken, in: Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik, 3. Jg. (1869), S. 107 ff. 50 LAB (STA), Rep. 00-02/1, Bd. 1463; Wolfgang Straßmann, Geschichte, Verfassung und Wirksamkeit des Vereins gegen Verarmung in Berlin, Berlin 1873. In den ersten 16 Jahren seines Bestehens hatte der Verein an 71 476 Personen Darlehen gewährt und Geschenke für insgesamt 1 739 894 M. gemacht und 3258 Nähmaschinen vergeben, 569 811 M. wurden zurückgezahlt. Der Verein zählte 1885 12 347 Mitglieder. Vgl. auch Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege, Berlin 1886, S. 89.

Ludwig Loewe und der „ Verein gegen Verarmung "

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und einem bescheidenen Kapitalvermögen besteht der Verein noch heute.

Ludwig Loewe und der „ Verein gegen Verarmung" Einer der Gründer der Vereinigung wirft auf den Verein ein besonderes Licht. Ludwig Loewe (1837-1886)51 wurde 1863 Stadtverordneter für den Wallstraßenbezirk. Er, der sogleich den.Vorschlag Seydels unterstützt hatte, war das typische Beispiel eines Industriellen, der es aus dem Nichts zu einem Vermögen gebracht hatte und persönlich die liberale Ideologie verkörperte, gemäß der jeder, wenn er den Willen und die Bildung dazu hatte, Unternehmer werden könnte. Loewe stammte aus einer jüdischen Familie in der Provinz, die in armseligen Verhältnissen lebte. Mit seinem Bruder Isidor nach Berlin gekommen, eröffnete er einen Werkzeughandel und trat mit seinem jungen Freund Paul Singer in direkten Kontakt mit Lassalle. Singer war damals ein achtzehnjähriger ehrgeiziger luisenstädtischer Kaufmannslehrling und gerade dabei, sich wie Loewe aus den bedrängten Verhältnissen einer armen jüdischen Familie emporzuarbeiten. 52 Loewe gründete den liberalen Bezirksverein Neukölln, wo Lassalle 1862 den Vortrag Was nun? Zweiter Vortrag über Verfassungswesen hielt. Loewe und Singer trennten sich von Lassalle, als dieser sich gegen die Liberalen wandte und sich der Arbeiterbewegung einerseits, Bismarck andererseits näherte. Loewe war über die Turnbewegung zu einigen in der Stadtverwaltung engagierten Liberalen in Beziehung getreten, Virchow, Kochhann, die Kampffmeyer, die ihn anregten, für die Stadtverordnetenversammlung zu kandidieren. Er hatte sich damals schon im Nationalverein hervorgetan und sich die Sympathien von Schulze-Delitzsch erworben. Nachdem er auf einer Studienreise durch Amerika das neue System standardisierter Massenproduktion kennengelernt hatte, 51

Conrad Matschoß, Geschichte der Ludwig Löwe & Co. A.G., in: Ludwig Löwe & Co. A.G., Berlin, 1869-1929, hrsg. Zum 60 jähr. Jubiläum der Firma von der Gesellschaft für Elektrische Unternehmungen, Ludwig Löwe & Co. A.G., Berlin 1930, S. 1 59. 52 Eduard Bernstein, Zum Gedächtnis Paul Singers, in: Der wahre Jakob, Nr. 641 (1911), S. 696I.

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gründete er 1869, dem Jahr, in dem er an der Gründung des „Vereins gegen Verarmung" mitwirkte, eine Aktiengesellschaft für die Produktion von Nähmaschinen, wo er das amerikanische System zum ersten Male in Berlin einführte. Die Fabrik hatte ihren Sitz in der Hollmannstraße 32 in der Luisenstadt. Während ähnliche Fabriken bis dahin noch Einzelstücke herstellten, von denen jedes anders ausfiel, produzierte Loewe, um Produktion und Instandhaltung zu vereinfachen, Maschinen, bei denen alle Teile austauschbar waren. Rationalisierung und Massenproduktion waren aber nicht mit der Saisonbedingtheit vereinbar, die damals noch den Verkauf von Nähmaschinen bestimmte - es handelte sich um ein Produkt, das vor allem vor Weihnachten gekauft wurde. Es war sinnlos zu rationalisieren, wenn es nicht gelang, den Markt von den jahreszeitlichen Beschränkungen zu befreien. Loewe versuchte es - damals ein ungewöhnliches Vorgehen - mit Annoncen in den Zeitungen. Aber schon im Jahresbericht für 1874 gab er Schwierigkeiten beim Verkauf zu, und im Geschäftsbericht von 1877 wurden die Nähmaschinen zum letztenmal erwähnt. Seit 1871 hatte Loewe begonnen, Waffen für das preußische Heer, aber auch für den Export nach Südamerika zu produzieren. Damit erreichte er eine ungeheure Expansion der Produktion, wobei Nachtschichten nötig wurden, um die Lieferfristen einhalten zu können. Der „Verein gegen Verarmung" begann 1870 damit, an Familien, die vom Elend bedroht waren, Nähmaschinen zu verteilen. 1872 waren es 726 Maschinen, die ebensoviele Familien erhielten. Der Verein beglich die erste Rate und garantierte gegenüber dem Fabrikanten die Fortzahlung im Falle von Schäden oder Verlust, der Empfänger hatte die folgenden Monatsraten zu bezahlen. Auf diese Weise sollte, wie der Verein betonte, durch Heimarbeit der Verarmung vorgebeugt werden, während die Erfindung des Ratenkaufs den Absatz von Nähmaschinen das ganze Jahr über ermöglichte. So wenig Loewe aber dadurch seine Produktion aufrechtzuerhalten vermochte, so wenig war vermutlich die Mehrheit der Bedürftigen in der Lage, die Raten zu zahlen. Ein Beispiel bildet zwei Jahrzehnte später das Gesuch einer Witwe an Kaiser Wilhelm I., aus dem man das Echo der Tätigkeit des „Vereins gegen Verarmung" heraushören kann: „ich über all schon eingekommen bin wo ich gehört habe das Witwen eine Maschine bekommen haben und sie mir zurückgeschrieben haben das ich soll auf abzahlung nehmen und ich nicht die Mittel besitze denn ich kann mir nicht mal satt

Der Berliner Bebauungsplan

von 1862

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Essen so habe ich mir erlaubt die Bitte an Euer Majestät zu richten." 53 Der Berliner Bebauungsplan von 1862 und das Berliner System Sowohl die traditionelle Unterteilung der Stadt in Armenkommissionsbezirke als auch zum Teil die neue Zoneneinteilung Seydels setzten als Bedingung ihres Funktionierens eine sozial gemischte Stadt voraus. Trotz des sprunghaften Wachstums der Stadt war es noch möglich, im Berliner Mietshaus überschaubar sozial sehr weit voneinander entfernte Bewohnergruppen zu vereinen: eine Eigenart dieses Haustyps, die auch in der Industrialisierungsphase erhalten blieb. James Hobrecht (1823-1902),54 Ingenieur und Kanalisationsspezialist, Bruder des Juristen und Oberbürgermeisters Arthur Hobrecht (ab 1872), war bereits in den fünfziger Jahren vom Berliner Polizeipräsidenten mit der Anfertigung eines Bebauungsplans für die Berliner Umgebung beauftragt worden. 55 Sein Plan, 1862 veröffentlicht, wurde schon wenige Jahre später einer nicht mehr abbrechenden Kritik unterzogen. Am folgenreichsten war die Kritik Dr. Bruchs, des Direktors des Statistisches Amtes der Stadt Berlin. Bruch sah in Hobrechts Plan die Ursache für das Vorherrschen des als sozial bedenklich und gesundheitsschädlich eingestuften Bautypus des Mietshauses. Diese Kritik sollte bald ein Gemeinplatz der städtebaulichen Literatur werden und erfuhr mit der Polemik Werner Hegemanns gegen das „Steinerne Berlin" ihren Höhepunkt. 56 Die Kritik ignorierte die enge Beziehung der Planungsweise Hobrechts mit dem Armenkommissionssystem Berlins und übersah die mit dem Seydelschen Vorschlag verbundene Diskussion darüber. Die Rosmarie Beier, Frauenarbeit und Frauenalltag im Deutschen Kaiserreich. Heimarbeiterinnen in der Berliner Bekleidungsindustrie 1880-1914, Frankfurt a. M.-New York 1983, S. 50 f. 54 Ingrid Thienel, James Hobrecht, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 9, S. 280 f. 55 Johann Friedrich Geist/Klaus Kürvers, Das Berliner Mietshaus, Bd. 1, 17401862, München 1980, S. 485 f. Ernst Bruch, Berlins bauliche Zukunft und der Bebauungsplan, Berlin 1870; Werner Hegemann, Das steinerne Berlin, Lugano 1930; Jutta Lubowitzki, Der „Hobrechtplan". Probleme der Berliner Stadtentwicklung um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Berlin-Forschungen V(r Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 71), Berlin 1990, S. 11-130; Wolfgang Ribbe, James Hobrecht, in: Wolfgang Ribbe/Wolfgang Schäche (Hrsg.), Baumeister, Architekten, Stadtplaner. Biographien zur baulichen Entuncklung Berlins, Berlin 1987, S. 219-234.

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damaligen Polemiken zeigen, wie sich unter den Liberalen im Hinblick auf die Art von Stadt, die aus der Modernisierung herauswachsen sollte, zwei Richtungen (und Generationen) gegenüberstanden. Setzte das traditionellen System der Armenkommissionen die soziale Mischung in kleinen Nachbarschaftseinheiten voraus, so war sie in den größeren Revieren der Reform Seydels nicht mehr unbedingt nötig. Es ist kein Zufall, daß Seydels System sich auf Bruchs Statistiken stützte. Schon von der Absicht her war die kleinteilige soziale Mischung in einem Modernisierungsmilieu wie dem des Vereins gegen Verarmung nicht mehr erwünscht. Hobrecht stellte 1868 die Vorzüge des Berliner Mietshauses als Ort der sozialen Mischung bewußt heraus gegen Kritiken wie die Bruchs und gegen das System der Segregation sozial schwacher Schichten in Arbeitervierteln nach dem Londoner Modell. Seine Verteidigung dieses Haustyps ist außerordentlich interessant: Er argumentiert ganz im Einklang mit der in Berlin praktizierten ehrenamtlichen sozialen Nachbarschaftsarbeit und bezieht sich offensichtlich, wie das Erscheinungsdatum (1868) zeigt, auf die Diskussion über die Wohltätigkeitsreform. - Straßmann hatte 1867 seine Denkschrift veröffentlicht und gründete mit Loewe 1869 den Verein gegen Verarmung, der aus dieser Diskussion die Konsequenzen zog. Hobrechts Streitschrift bildet ein wichtiges Manifest seiner „Fraktion", ein ganzes gesellschaftliches Programm, das deshalb trotz seiner Länge ausführlich zitiert werden soll: „Unsere Art zu wohnen steht - wie bekannt in einem prinzipiellen Gegensatz zu der englischen. In einer sogenannten Mietskaserne befindet sich im 1. Stockwerk eine Wohnung zu 500 Talern Miete, im Erdgeschoß und II. Stockwerk je zwei Wohnungen zu 200 Talern, im III. Stockwerk je zwei Wohnungen zu 150 Talern, im IV. drei Wohnungen à 100 Taler, im Keller, auf dem Bodenraum, im Hinterhaus oder dergleichen mehrere Wohnungen à 50 Taler. In einer englischen Stadt finden wir im Westend oder irgendwo anders, aber zusammenliegend, die Villen und einzelnen Häuser der wohlhabenden Klasse, in den anderen Stadtteilen die Häuser der ärmeren Bevölkerung, immer in Gruppen nach dem Vermögen der Besitzer zusammenliegend, ganze Stadtteile dabei lediglich von der Arbeiterbevölkerung bewohnt. Wer möchte nun bezweifeln, daß die reservierte Lage der je wohlhabenderen Klassen und Häuser Annehmlichkeiten genug bietet, aber - wer kann auch seine Augen vor der Tatsache verschließen, daß die ärmere Klasse vieler Wohltaten verlustig geht, die ein Durcheinanderwohnen

Der Berliner Bebauungsplan von 1862

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gewährt. Nicht ,Abschließung', sondern .Durchdringung' scheint mir aus sittlichen, und darum aus staatlichen Rücksichten das Gebotene zu sein. Das Sehen und Kennenlernen, die Berührung mit der Armuth und der Unbemitteltheit in allen Abstufungen ist für den Reichen und Wohlhabenden eine sittliche Schule, während die Abschließung, je nach dem, entweder zu einer Verhärtung, oder bei empfindsameren Naturen, wenn einmal diese Berührung antritt und dies bleibt nie ganz aus - zu einer falschen und nervösen Humanität führt. Das Wohltun der wohlhabenderen Klassen soll nicht darin bestehen, daß dieselben von Zeit zu Zeit in Form einer Abfindungs-Summe einen Geldbeitrag für irgend einen Verein auf das Debet ihres Haushaltungs-Conto's bringen, sondern darin, den besonderen Bedürfnissfall selbst aufzusuchen, und durch Rath, Ermahnung und Unterstützung, welche der Natur der Bedürftigkeit angemessen sein muss, von Person zu Person zu helfen. In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns auf dem Weg nach dem Gymnasium. Schusters Wilhelm aus der Mansarde und die alte bettlägerige Frau Schulz im Hinterhaus, deren Tochter durch Nähen oder Putzarbeiten den notdürftigen Lebensunterhalt besorgt, werden in dem I. Stockwerk bekannte Persönlichkeiten. Hier ist ein Teller Suppe zur Stärkung bei Krankheit, da ein Kleidungsstück, dort die wirksame Hilfe zu Erlangung freien Unterrichtes oder dergleichen, und alles das, was sich als das Resultat der gemütlichen Beziehungen zwischen den gleichgearteten und wenn auch noch so verschieden situirten Bewohnern herausstellt, eine Hilfe, welche ihren veredelnden Einfluß auf den Geber ausübt. Und zwischen diesen extremen Gesellschaftsklassen bewegen sich die Ärmeren aus dem III. und IV. Stock, Gesellschaftsklassen von der höchsten Bedeutung für unser Kulturleben, der Beamte, der Künstler, der Gelehrte, der Lehrer usw. In diesen Klassen wohnt vor allem die geistige Bedeutung unseres Volkes. Zur steten Arbeit, zur häufigen Entsagung gezwungen und sich selbst zwingend, um den in der Gesellschaft erkämpften Raum nicht zu verlieren, womöglich ihn zu vergrößern, sind sie in Beispiel und Lehre nicht genug zu schätzende Elemente und wirken fördernd, anregend und somit für die Gesellschaft nützlich, und wäre es fast nur durch ihr Dasein und stummes Beispiel auf diejenigen, die neben ihnen und mit ihnen untermischt wohnen. Umgekehrt sind die Wohlhabenderen in ihrer Reinlichkeit und geselligen Dressur, ganz abgesehen von

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besseren Eigenschaften, die ihnen ja keineswegs fehlen, und welche die Folge sorgfältigerer Erziehung sind, erst recht von sittlichem Einfluß auf den Armen und Aermeren. Wenn eine Mutter aus dem englischen Arbeiter-Viertel ihr Kind ungewaschen, ungekämmt und zerlumpt umherlaufen läßt, weil jede Anregung zur Verausgabung von Arbeit und Zeit nach dieser Richtung fehlt, so wird sich die Mutter aus der Kellerwohnung einer Miethskaserne doch scheuen, dies zu tun, denn sie weiß sich beobachtet und dem Tadel besserer Mitbewohner ausgesetzt. Wieviel gelegentlicher Verdienst für Arbeiten und Leistungen, die der Wohlhabende braucht, fällt ab auf die ärmeren Mitbewohner des Hauses. Hier werden Arme und Hände gebraucht zum Holz oder Torf tragen, zum Plätten, Nähen, Waschen, Scheuern, da reicht die Geschicklichkeit des Flickschneiders oder Flickschusters aus der Hofwohnung hin, um kleine Reparaturen zu machen; hier weiß die Tochter des kleinen Beamten aus dem Hinterhause Unterricht auf der Nähmaschine zu ertheilen, dort kann der Lehrer aus dem Dachstübchen - er kann es ja, da er auf dem kurzen Wege keine Zeit verliert - dem Schuljungen aus dem I. Stock Nachhülfestunden geben, - so gestaltet sich leicht ein natürliches Verhältnis von Nehmen und Geben, bei welchem sich alle Theile gut steh e n - Ein englisches Arbeiterviertel betritt der Polizeibeamte und der Sensationsdichter. Wenn die junge Lady seinen alarmierenden Roman gelesen hat, bricht sie wohl in Schluchzen aus, läßt anspannen und fährt in die von ihresgleichen nie betretene Gegend, nach welcher der Kutscher kopfschüttelnd den Weg sucht. In der Regel wird das Bad zu stark für ihre Nerven sein; sie schaudert vor der Armut; sie schaudert vor der Schlechtigkeit und dem Verbrechen, welche überall die Begleiter der sich selbst überlassenen Armut sind, fährt zurück, um nie wieder die schreckliche Gegend zu sehen, und salviert ihre Seele durch einen Geldbeitrag an eine Armenkommission. Wenn wir uns vor Arbeiter-Vierteln hüten wollen, so müssen wir bei unserem Prinzip stehen bleiben, es nicht verwerfen, sondern verbessern." 57 Die Altliberalen hielten bewußt an einem Modell der Stadt fest, das durch die soziale Mischung, Übersichtlichkeit und räumlich kleine Einheiten charakterisiert war: an einer überschaubaren ^ James Hobrecht, Über die öffentliche Gesundheitspflege und die Bildung eines Centraiamtes für öffentliche Gesundheitspflege, Stettin 1868, S. 13-16. Vgl. auch den verkürzten Neudruck in: Nationalzeitung vom 21. und 28. 1. 1893-

Die lokale Realität der Luisenstadt

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Gesellschaft von Honoratioren, in der den „Wohlhabenderen" eine genau umrissene soziale Rolle nicht nur durch ihre ehrenamtliche soziale Arbeit, sondern auch durch ihr bloßes Vorhandensein als positives Beispiel besserer Lebensführung zukam. Wie ernst und zeitgemäß ein Teil der Liberalen Hobrechts Argumentation fand, verdeutlicht die Tatsache, daß sein Text noch 1893 wörtlich in der National-Zeitung wieder abgedruckt wurde.58 Die Diskussion über Vorteile und Nachteile einer Trennung oder Mischung sozialer Schichten und ihrer Funktionen ging indessen in den Fachdebatten weiter. Der Hobrecht-Plan stellt mit seinen immer gleichen Parzellen für alle Zwecke die Formalisierung der altliberalen Vorstellungen dar: gleiche Chancen für alle Unternehmungen auf allen Grundstücken durch Vermeiden jeder hierarchischen Gliederung, ohne räumliche Trennung von Klassen und Funktionen. In einer Zeit, in der der Fortschritt sich durch Verwissenschaftlichung und Spezialisierung in allen Bereichen des Lebens ankündigte, konnte dieser Plan, der altbewährte Zusammenhänge weiterbestehen lassen wollte, schon bei seiner Veröffenüichung von den „fortschrittlichen" Kommunalpolitikern nicht mehr verstanden werden.

Die lokale Realität der Luisenstadt Hatte Friedrich Wilhelm IV. mit dem Bau von Bethanien versucht, die lokale Selbständigkeit der Armenkommissionen beiseitezudrängen, so sollte mit dem Antrag Seydels durchaus ähnliches durchgesetzt werden. Die Entscheidungsautonomie der Armenkommissionen am Ort war auch denjenigen ein Dorn im Auge, die die Stadt wie einen großen modernen Verwaltungsbetrieb organisieren wollten. Der Alltag der Armenkommissionen blieb aber trotz der vielen Debatten und Reformvorschläge auf Magistratsebene weitgehend unverändert. Die Anzahl der Unterstützungsbedürftigen nahm angesichts des Wachstums der Stadt zwangsläufig nicht ab, wie es die liberale Selbsthilfepropaganda für möglich zu halten vorgab, sondern sie nahm zu. Neubebauung und Verdichtung durch erhöhte Über-

58

National-Zeitung, 21. und 28. Januar 1893.

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VI. Die liberale Modernisierung

bauung der vorhandenen Grundstücke ließen die Klientelen der einzelnen Kommission, selbst bei einem gleichbleibenden prozentualen Anteil an der Bevölkerung des Bezirks, anwachsen. Hatten 1827 in der Luisenstadt ca. 16 000 Personen in 631 Häusern gewohnt, 59 so waren es 1861 86 867 und 1867 schon 149 000 in 3671 Häusern. Die Zahl der Wohnungen nahm im Zeitraum von 1850 bis 1867 von 9632 auf 21 394 z u / 0 Das bis zur Mitte des Jahrhunderts mäßig wachsende, der Tradition verhaftete Viertel expandierte also in kürzester Zeit in großstädtische Dimensionen. 61 1871 lebten allein diesseits des Luisenstädtischen Kanals 116 302, jenseits 62 441 Personen - 1881 diesseits 118 210 und jenseits 123 769. Diese Zahlen zeigen, daß im inneren Teil der Luisenstadt Anfang der siebziger Jahren die Phase des sprunghaften Bevölkerungswachstums abgeschlossen war, während sich die Zahl der Bewohner des äußeren Teils im nächsten Jahrzehnt noch verdoppeln sollte. Das stärkste Wachstum der Einwohnerschaft erfolgte Anfang der sechziger Jahre, als ein konjunkturelles Hoch die Bautätigkeit in ganz Berlin extrem ausweitete. Wurden I86I in Berlin 2652 Bauerlaubnisscheine ausgestellt, so waren es 1862 3601, also fast 1000 mehr. 62 Hatten die im Mietsteuerkataster vorhandenen Wohnungen sich I860 um 3852 vermehrt, so betrug der Zuwachs 1864 9163 WohJ. F. Bachmann, Luisenstadt..., S. 200. Christiane Bascón-Borgelt/Astrid Debold-Kritter/Karin Ganssauge/Kristiana Hartmann, In der Luisenstadt. Studien zur Stadtgeschichte von Berlin-Kreuzberg, Berlin 1983, S. 31 und S. 37; Ingrid Thienel, Städtewachstum im Industrialisierungsprozeß des 19- Jahrhunderts ( - Veröffentlichungen der Historischen Kommission Zu Berlin, Bd. 39), Berlin-New York 1973. Die Daten über die Bevölkerung der Luisenstadt sind für die Zeit vor I86I sehr ungenau bzw. nur bruchstückhaft aus dem Werk von Bachmann vorhanden. In dem Bericht der städtischen Central-Commission für die Volkszählung, Die Berliner Volks-Zählung vom 3- 12. 1861, Berlin 1863, S. 9, Anm., gibt eine kurze Notiz über die Berliner Volkszählung von 1843 an, daß damals für ganz Berlin 289 O68 bzw. 331 894 Einwohner gezählt wurden (!). Bei solchen Schwankungen, die schätzungsweise doppelt so groß wie die Zahl der Einwohner der damaligen Luisenstadt sind, können die Daten nicht benutzt werden. So sind auch die Zahlen von Tabelle V, in: I. Thienel, Städtewachstum..., S. 371, für die Zeit vor 1861 unbrauchbar. ^ Dieter H offmann-Axthelm, Geschichte und Eigenart der Kreuzberger Mischung, in: Karl-Heinz Fiebig/Dieter Hoffmann-Axthelm/Eberhard Knödler-Bunte (Hrsg.), Kreuzberger Mischung. Die innenstädtische Verflechtung von Architektur, Kultur und Gewerbe, Berlin 1984, S. 9 f. Dieter Hoffmann-Axthelm, Baufluchten. Beiträge zur Rekonstruktion der Geschichte Berlin-Kreuzberg, Berlin 1987, S. 17.

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nungen. 6 3 Dies ist eine Entwicklung, die sich zum großen Teil in der Luisenstadt abspielte, wie der Vergleich der Stadtpläne zwischen 1850 und 1870 zeigt. Entsprechend wuchs auch die Zahl der ehrenamtlichen Honoratioren. Die größte Zunahme der Mitglieder der Armenkommissionen gab es zwischen 1863 und 1877, als ihre Zahl von 199 auf 573 um ca. 180 Prozent anstieg. In diesen Jahren befand sich die Berliner Industrie in der Phase des endgültigen „take off". Dazu gehörten Phänomene, die bald Gemeinplätze der wissenschaftliche Literatur über die Großstadt und ihre Übel werden sollten: der Zuzug von Massen von Menschen aus der Provinz (1864 waren 72,5 Prozent aller Tagelöhner und Handarbeiter außerhalb Berlins geboren, wie 94 Prozent aller Dienstboten, 82 Prozent der unteren Beamten, 85 Prozent der im Baugewerbe Beschäftigten)^ und die entsprechend engen Wohnverhältnisse - in der Luisenstadt bestanden 1861 nur 46 Prozent aller Haushalte aus Familienangehörigen, zu allen anderen gehörten außerdem Schlafleute, Lehrlinge, Gesellen, Aftermieter und Dienstboten. Schlafleute gab es in 25 Prozent aller Haushalte, während 21,3 Prozent aller Wohnungen auch gewerblich genutzt wurden; zwischen 1861 und 1871 wechselten jährlich in 42 Prozent aller Wohnungen die Mieter. 65 Das sprunghafte Wachstum der Luisenstadt in den sechziger Jahren führte dazu, daß der Stadtteil immer weniger durch persönliche Bekanntschaft zusammengehalten wurde. Wie oben mitgeteilt, stellte ein historisch geschulter, genauer Beobachter wie Bachmann fest, daß das Zusammengehörigkeitsgefühl der Luisenstädter abnahm. Ein System wie das der Armenkommissionen, das durch familiäre und nachbarliche Beziehungen strukturiert war, mußte zunehmend unter der neuen, anonymen großstädtischen Situation leiden. Es waren die gleichen Jahre, in denen die Luisenstadt sich als „liberales" Stadtviertel auszeichnete. Die alte Tradition des Engagements der Bürger in der lokalen Selbstverwaltung am Ort blieb bestehen, aber die Gremien vermehrten sich: Neben die städtische Lokalebene traten jetzt andere, nämlich politisierte Lokalorganisationen.

® Ch. Bascón-Borgelt u. a., In der Luisenstadt..., S. 31. 6 4 I. Thienel, Städtewachstum..., S. 100. 6 5 A a. O., S. 121, 125 und 1Ó2.

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Von den 29 Berliner Bezirksvereinen entfielen 1866 vier auf die Luisenstadt: Louisenstädtischer Bezirksverein, gegr. 1861, 214 Mitglieder, Vorsitzender Stadtrat Romstädt; Bezirksverein Oranienplatz, 124 Mitglieder, Vorsitzender Dr. Kache; Bezirksverein des Köpenikker Stadtviertels, 450 Mitglieder, Vorsteher Dr. Paul Langerhans; Bezirksverein Moritzplatz, 95 Mitglieder, Vorsteher Guido Weiß.66 Alle wurden 1862 gegründet. Zum unmittelbaren Umfeld der Luisenstadt gehörten noch der 1862 gegründete Bezirksverein „Alt-Cölln", Vorsteher Stadtverordneter Ludwig Loewe, in der Grünstraße und der Verein der Stadtbezirke 100 und 101, Vorsteher Dr. Ludwig Ruge, Bruder des Herausgebers der Deutsch-Französischen Jahrbücher und Schwager Virchows, in der Wallstraße 91. Diese Bezirksvereine waren, wie gesagt - und die Namen der Vorsteher belegen es -, die Lokalorganisationen der Fortschrittler und des demokratischen Flügels der Liberalen am Ort, ihr Instrument der Organisierung von Handwerkern und Facharbeitern. Dr. Paul Langerhans war eine der Hauptfiguren des Liberalismus der Luisenstadt. 1862 bis 1866 und 1872 Landtagsabgeordneter, Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, deren Vorsitz er von 1893 bis zu seinem Tode (1908) innehatte, 1883 bis 1903 Reichstagsabgeordneter der Freisinnigenpartei,67 entfaltete er als Bezirksvereinsvorsteher in den sechziger Jahren und als Armenkommissionsmitglied und Bezirksvorsteher von 1864 bis in die neunziger Jahre eine rege Tätigkeit zur Entwicklung von Selbsthilfeorganisationen in der Luisenstadt. So fungierte er 1865/ 66 als Treuhänder für die Gründung einer Produktionsgenossenschaft für Maschinenbauer, die allerdings nicht zustandekam. Mehr Erfolg hatte die 1863 ebenfalls durch Langerhans gegründete Luisenstädtische Volksbank e. G., die 1868 bereits 327 Mitglieder zählte und noch in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts selbständig arbeitete.68 66 Guido Weiß (1822-1899), ein Arzt, war radikaler Demokrat, Journalist und Mitglied des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen. Zunächst bei der Vossischen Zeitung, dann Redakteur der Berliner Reform, die 1861 gegründet worden war und die er im Geiste seines Freundes Johann Jacoby bis 1866 leitete, redigierte er seit 1867 die demokratische Tageszeitung Die Zukunft, in der auch Marx und Engels veröffentlichten. Vgl. Thomas Höhle, Franz Mehring. Sein Weg zum Marxismus, Leipzig 1956, S. 44 f., der Weiß als Lehrer Mehrings darstellt. G. Fesser, Linksliberalismus..., S. 199; D. Hoffmann-Axthelm, Preußen am Sc h lesischen Tor..., Kap. 7. Ebda. Außer der Luisenstädtischen Volksbank gab es noch den Louisenstädtischen Darlehenskassenverein - Vorsitzender war Dr. Behrendt, Ritterstraße 45 - mit

Die Armenkommissionen der Luisenstadt

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Langerhans war ein Leben lang befreundet und benachbart (beide wohnten am Michaelskirchplatz) mit dem Juristen und späteren Oberbürgermeister Robert Zelle, soll aber auch zu der kleinen Gruppe aufrechter Demokraten, den Jacobyten", gehört haben, die sich um die von Johann Jacoby 1867 gegründete und von Guido Weiß geleitete Zeitschrift Die Zukunft scharte. Neben George Friedländer und Franz Mehring gehörten dazu junge Kaufleute und Fabrikanten wie Ludwig Devereux und William Spindler und die beiden Freunde Ludwig Loewe und Paul Singer.69

Die Armenkommissionen der Luisenstadt während der liberalen Blütezeit 1866 wurde für die Armenkommissionen der Luisenstadt die Einteilung des Viertels geändert. Angesichts der Zunahme der Klientelen und der Bevölkerung überhaupt versuchte man in der wachsenden Großstadt übersichtliche soziale Verhältnisse durch Verkleinerung der Bezirke aufrechtzuerhalten. Von 1866 an entstanden in der Luisenstadt 24 neue Armenkommissionen (die AK 27 bis einschließlich 50), davon waren drei (29, 33 und 37) nur auf dem Papier geplant, um erst später, „nach eintretendem Bedürfniß",70 wenn die Bebauung der entsprechende Zone abgeschlossen sein würde, ins Leben zu treten. Viele der zu den neuen AK zählenden Straßen trugen vorerst nur die Nummern des Hobrecht-Plans, Abteilung I - zum Bei331 Mitgliedern. Außerdem wurden 1873 innerhalb der Luisenstadt nicht weniger als 12 Darlehenskassenvereine, meist Bezirksoiganisationen, gezählt. Weiter gab es 4 (bzw. 3) luisenstädtische Konsumvereine (für einige Vereine ist die lokale Zugehörigkeit jedoch nicht auszumachen): Consumverein „Köpenickerstraße" seit 1862, „Köpenicker Feld", „Providentia" und „Vorsicht" seit 1865. Bei den Produktionsgenossenschaften ist eine lokale Zuordnung nicht möglich, doch muß man annehmen, daß die eine oder andere der Möbeltischlereigenossenschaften in der Luisenstadt beheimatet war, wo dieses Gewerbe mehr als irgendwo sonst in Blüte stand; eine von ihnen, die Möbelfabrik „Eintracht", zeitweise Köpenicker Straße 154, existierte bis weit über die Jahrhundertwende. Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, Berlin 1868, S. 222225. Die Luisenstädtische Bank überlebte diese Vereine, geriet aber in der Inflation in Schwierigkeiten und wurde von der Köpenicker Bank, ebenfalls eine Genossenschaftsbank, übernommen. ® Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung, Bd. 1, Von den Anfängen bis 1917, Berlin 1987, S. 141. 70 Communalblatt, (1866), S. 38-39.

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spiel gehörten zur AK 27 (Schlesische-Straße-Bezirk) unter anderem die Straße 51 (später Wrangelstraße) von Straße 5 (Falckensteinstraße) bis Straße 46 (Görlitzer Ufer), die Straße 5 von Straße 54 (Görlitzer Straße) bis Straße 60 (Oberbaumstraße) usw.- als Zeichen des noch in Gang befindlichen Ausbaus der Gegend. Bei der Frage der sozialen Strukturen am Ort handelte es sich immer weniger um ein räumliches Problem. Die ehemalige persönliche und nachbarschaftliche Zugehörigkeit wurde zunehmend durch eine ortsunabhängige politische Zugehörigkeit ersetzt. Das Novum in den sechziger Jahren bestand im Nebeneinander der verschiedenen Gremien, die „ihre" lokale Sozialpolitik in der Luisenstadt betrieben: der Armenkommissionen, der Bezirksvereine des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, des Vereins gegen Verarmung, der Genossenschaften und Vorschußvereine nach Schulze-Delitzsch, des Luisenstädtischen Handwerkervereins, der kirchlichen Einrichtungen der Stadtmission und der Parochien. Es entstand eine Form von Spezialisierung der Funktionen und der Methoden in bezug auf die jeweiligen Klientelen, konfrontiert mit den Organisationen der Arbeiter - Arbeitervereine, Krankenkassen, Bildungs- und politische Vereine. Bekannten sich Bezirksvereine, Vorschußgenossenschaften und der Verein gegen Verarmung zu ihrer liberalen und die kirchlichen Einrichtungen zu ihrer konservativen Grundhaltung, so blieben die Armenkommissionen, in denen trotz allem die Hauptrepräsentanten der wichtigen Familien der Gegend relativ konstant vertreten waren, ein traditioneller Rest. Sie waren nicht mehr, wie in den Zeiten vor 1848, charakterisiert durch einen zum Liberalismus neigenden Gemeinsinn: Selbstverwaltung am Ort zu übernehmen, hieß immer weniger, eo ipso liberal gesinnt zu sein. Infolge der Repression der Liberalen in der Reaktionszeit war jetzt eher das Gegenteil der Fall. Der unpolitische Schein des weitgehend bürokratisierten Alltags dieses Gremiums begünstigte ein im modernen Sinne kleinbürgerliches Selbstverständnis, das die lokale Funktion als solche schätzte und ausübte. Nur vereinzelt findet man ausgesprochene Liberale in den Mitgliederlisten. So arbeitete Paul Langerhans 1864 bis 1890 in der AK seines Wohnorts; Kattunfabrikbesitzer Stephan war seit März 1862 wieder Mitglied einer AK, derselben, der auch Theodor Kampffmeyer seit Februar 1863 angehörte; Kattunfabrikant Goldschmidt war seit August 1859 wieder Mitglied einer AK und Vorsteher seit Oktober

Ehrenamtliche Tätigkeit und Liberale

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I860. Es sind Eintrittsdaten, die das Ende der Reaktionszeit und der Repression der Liberalen verdeutlichen. (Kochhann trat erst 1875 wieder in die 41. AK ein, als er aus seinem Amt als Stadtverordnetenvorsteher ausschied.) Durch die Diversifizierung des sozialpolitischen Angebots im Viertel und im öffentlichen Leben überhaupt verloren die Armenkommissionen und die mit ihnen personell mehr oder minder identischen Schulkommissionen ihre singuläre Wirkung und für die Strukturierung von Entscheidungen in bezug auf konkrete soziale Fragen am Ort ihren Monopolcharakter. Sie waren nur noch Gremien unter anderen, an die man sich wenden konnte, und nicht mehr der ausschließliche Ort der öffentlichen Hilfe. Somit verblaßte nach und nach mit dem Verlust ihrer Schlüsselrolle für die soziale Struktur des Viertels auch ihre Machtposition, ein weiterer Grund für die zunehmende Schwierigkeit, Bürger zu finden, die ehrenamtlich in den Kommissionen arbeiten wollten.

Ehrenamtliche Tätigkeit und Liberale: Wilhelm und Theodor Kampffmeyer Wilhelm Kampffmeyer (1819-1885), der älteste Sohn von Martin Mathias, blieb aus Pflichtgefühl den Eltern und Geschwistern gegenüber in der väterlichen Gerberei, seit 1842 als Miteigentümer. Die Gerberei ernährte zwar zwei kinderreiche Familien - Wilhelm heiratete im März 1844 Julie Runge, und die beiden bekamen drei Kinder, während beim Vater Martin noch sechs Kinder im Haus wohnten - , konnte aber die Fesseln des handwerklichen Kleinbetriebes nie sprengen. Die Industrialisierung des Sektors machte das Leben noch schwieriger für ein Handwerk, das traditionell große Geldsummen benötigte. So verließen alle andere Söhne von Martin Mathias, obwohl sie das Gewerbe erlernt hatten, die Branche und wechselten dank dem Großvater mütterlicherseits, dem als Bäcker wohlhabend gewordenen Lohgerbersohn Schmidt, in die Müllerei über. Wilhelm führte den Vorsitz im Verein deutscher Gerber und redigierte von der Gründung 1856 an die Zeitschrift der Branche, die Gerberzeitung, was nach der Aufgabe des väterlichen Geschäfts 1868 ein Einkommen sicherte. Sein erster Sohn Wilhelm (1844-1896) arbeitete mit ihm zusammen.

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VI. Die liberale Modernisierung

Trotz der hin und wieder angespannten wirtschaftlichen Lage trat Wilhelm 1846 der Schulkommission seines Bezirks bei und im Januar 1847 in die AK 30 ein, in der auch der Vater Mitglied war. Wenige Zeit später trat er wegen der Reaktion aus beiden Gremien aus, blieb aber weiterhin im LWV, im Vorstand einer Kleinkinderbewahranstalt und im Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen tätig. Nach dem Ende der Reaktionszeit saß er bis Mitte der siebziger Jahren im Vorstand der Gemeindeschule seines Stadtteils. Der Sohn Wilhelm war bis fast zu seinem Tode im Vorstand einer Schulkommission. Theodor Kampffmeyer (1821-1888), der dritte Sohn von Martin Mathias, ist ein Beispiel für die Aufstiegschancen dieser Generation. Aus dem Handwerk kommend, wurde er ein angesehener Buchhändler und Antiquar, der als Millionär starb. Seine erste eigene Buchhandlung eröffnete er 1842. Im Januar 1847 Schloß sich Theodor wie der Bruder Wilhelm der AK 30 an, wechselte aber bald nach Alt-Cölln. In der Luisenstadt trat er seit 1863 als Mitglied der 45. AK am Ort seiner wichtigsten und dauerhaftesten Verankerung wieder hervor, die durch einen ursprünglich ererbten Garten mit Sommerhaus am Mariannenplatz zustande kam, dem er 1869 das entsprechende Vorderhaus als Sitz von Familie und Nachkommen hinzufügte. Es ist heute - ein Sanierungsopfer - durch einen Neubau ersetzt. Aus „politischem Pflichtbewußtsein" ließ er sich als Wahlmann der Deutschen Fortschrittpartei aufstellen. Als Höchstbesteuerter seines Bezirks wählte er oft allein zwei Wahlmänner. Mit Lübeck, Nachfolger Jahns, und Otto Göritz, dem Büchersammler, befreundet, half er diesem, seine „Lübeck-Göritz Stiftung" aufzubauen - eine Büchersammlung, die später Bestandteil der Berliner Stadtbibliothek wurde und deren Reste heute trotz großer Kriegsverluste in der Berliner Magistratsbibliothek aufbewahrt werden. Sehr religiös - sein Schwiegersohn, der Buchhändler Erich Wallroth, lehnte die Taufe seiner Kinder ab, aber Kampffmeyer setzte sie trotzdem durch - wie die restliche Familie und eifriges Mitglied des Protestantenvereins, „bemühte (er) sich, den Unterschied zwischen den befehlenden, herrschenden und dienenden, gehorchenden Menschen möglichst abzumildern. Das war wohl ein allgemeiner Familienzug, alle suchten die äußeren Standesschranken einzuebnen. Sie fühlten sich alle als gleichberechtigte Staatsbürger und machten scharfe Front gegen jeden Standesdünkel." 71 Von innen mußte nach seiner Überzeugung die Überwindung der Klassengegensätze kommen und das Reich

Ehrenamtliche Tätigkeit und Liberale

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Gottes auf Erden vorbereiten - das Reich Gottes, das das „Freiwerden von aller Selbstsucht voraussetzt", wie der Sohn Paul 1939 berichtete. 72 Theodor Kampffmeyer blieb jahrzehntelang (1862-1888) in der Armenkommission: „Die Sonntagnachmittage füllte er vielfach mit sorgfältigen Recherchen zur Feststellung der wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse seiner Schutzbefohlenen aus, um sich selbst von dem Grade ihrer Unterstützungsbedürftigkeit zu überzeugen." 7 3 Der wachsende Wohlstand des Vaters ermöglichte seinen Söhnen die Übernahme sozialethischer Pflichten, die dieser vor allem auf dem Wege christlicher Barmherzigkeit und privater Wohltätigkeit zu erfüllen versucht hatte. Nach dem Tod Theodor Kampffmeyers wurde das Haus der Familie am Mariannenplatz 5 verkauft. Die Kinder, in der vierten Generation im Stadtteil ansässig, verloren bis auf den Architekten Theodor, der zwei seiner großen Ingenieurbauten in unmittelbarer Nähe erbaute, jede Beziehung zur Luisenstadt. Ähnliches läßt über die zwei Söhne Kochhanns sagen: Sie studierten und zogen aus dem Stadtteil fort in eine bessere Gegend, eine Tendenz, die sich auch in anderen Honoratiorenfamilien durchsetzte und ihre langjährigen engen Beziehungen zu ihrem Viertel auflöste. Die soziale Entmischung der Stadt nahm jetzt ihren Anfang.

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P. Kampffmeyer, Blutsverwandte deutsche Familien..., S. 133. A. a. O., S. 136. A. a. O., S. 134.

SIEBENTES KAPITEL

Die „Liberale Ära" der siebziger Jahre Die Jahre nach 1866 werden als die „Liberale Ära" schlechthin bezeichnet, obwohl sie von der Spaltung der Liberalen gekennzeichnet sind, zu der Bismarcks außenpolitische Erfolge geführt hatten.1 Auf Reichsebene beteiligte sich die Nationalliberale Partei bis 1878 an der Regierungskoalition, und in den größeren Städten beherrschten die Liberalen bis zum Ersten Weltkrieg ununterbrochen das öffentliche Leben. Der Liberalismus hatte allerdings, gemäß seinem Charakter als Honoratiorenpartei, noch nie eine einheitliche Front dargestellt. Auf der Ebene des Berliner Stadtparlaments ist das besonders an den dort geführten Streitigkeiten zwischen Gneist und Virchow ablesbar. Inzwischen begann die Modernisierung der Infrastrukturen der Großstadt Berlin nach den Vorstellungen der Gruppe der „Vorsehung" seit Anfang der sechziger Jahren langsam zu greifen, eine Modernisierung, die sowohl auf der Verwissenschaftlichung der „sozialen Frage" als auch auf der wissenschaftlichen Durchdringung der Strukturen der öffentlichen Verwaltung beruhte. Das bedeutete den Aufbau eines professionalisierten Beamtentums und die Entwicklung fester Verwaltungsverfahren. Der Verein für Sozialpolitik veranstaltete 1872 2 seine erste Tagung. Er war im gleichen Jahr von G. Schmoller, L. Brentano, A. Wagner, W. Roscher, A. Schäffle, W. Sombart und anderen gegründet worden. Sein Ziel war es - trotz der sehr unterschiedlichen Positionen der einzelnen Persönlichkeiten - durch soziale Reformen die negativen sozialen Folgen des kapitalistischen Wirtschaftssystems abzufangen. James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg, 1770-1914, München 1983, S. 147 f. 2 Marie-Luise Plessen, Die Wirksamkeit des Vereins für Socialpolitik von 18721890. Studien zum Katheder- und Staatssozialismus, Berlin 1975· 1

Verwissenschaftlichung

der Stadtverwaltung

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Nach dem Wort eines Kritikers als „Kathedersozialisten" bekannt, bereiteten sie durch ihren Arbeiten die Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre vor.3

Verwissenschaftlichung und Bürokratisierung der Stadtverwaltung. Auf dem Wege zur „Leistungsverwaltung" Die ständige Zunahme der Verwaltungsaufgaben der Gemeinden führte allgemein dazu, daß Berufsbeamte an die Stelle der ehrenamtlich tätigen Bürger traten. Im Grunde stand schon die Rationalisierung der Stadtverwaltung unter dem Druck der Fortschrittler-Gruppe der „Vorsehung" Anfang der sechziger Jahre prinzipiell in Gegensatz zu einer Verwaltung der Stadt durch ihre wohlhabenden Honoratioren. Diese Gruppe ergriff die Initiative zu Neuerungen, die wir heute als die Infrastruktur der Großstadt bezeichnen. Für die Gruppe der „Vorsehung" handelte es sich bei den Aufwendungen zur Realisierung solcher Anlagen durchaus um „produktive Ausgaben".4 Sie wurden nicht nur aus den Steuereinnahmen bereitgestellt, sondern durch Anleihen beschafft. Die Gruppe setzte durch, „alle die Ausgaben daraus zu bestreiten, welche solche Anlagen beträfen, welche auch den zukünftigen Generationen zugute kämen", weil an der Anleihe „auch die zukünftigen Geschlechter partizipierten",5 während Steuern nur die Gegenwart träfen. „Die Berliner Stadtanleihen sind großenteils in den Händen der wohlhabenden Bürger, welche die Zinsen genießen, zu deren Aufbringung diejenigen freilich zum großen Teil steuern, welche Kapitalien in Papieren anzulegen nicht imstande sind",6 kritisierte Delbrück, einer der Mitglieder der „Vorsehung", später in seinen Lebenserinnerungen die Inanspruchnahme von Anleihen, um die Stadt mit modernen Infrastrukturen auszustatten. Neben ihrer Professionalisierung war die Stadtverwaltung zunehmend der Politisierung der Verhältnisse ausgesetzt, eine Politisierung, ' Pierangelo Schiera, Il laboratorio borghese, scienza e politica nella Germania dell'ottocento, Bologna 1987, insbes. S. 207 ff., wo die Zusammenhänge zwischen Politik und Wissenschaft in dieser Zeit besonders hervorgehoben werden. 4 A. Delbrück, Lebenserinnerungen..., S. 94. 5 A. a. O., S. 95. 6 A. a. O., S. 96.

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VII. Die „Liberale Ära " der siebziger Jahre

die die Mitglieder der „Vorsehung" gerade nicht beabsichtigt hatten. Sie hielten sich im Gegenteil ganz in der Tradition der Honoratioren für die einzigen Vertreter des Gesamtinteresses der Stadt. Ein Symptom des Umbruchs in der Stadtverwaltung ist Delbrücks Austritt aus der Stadtverordnetenversammlung: Ohnehin erbittert über den Boykott des von ihm und Virchow 1864 initiierten Projekts eines zentralen Schlachthofs für Berlin durch den Polizeipräsidenten von Madai ein solcher nahm dann erst 1881 seine Arbeit auf 7 - , verließ er die Stadtverwaltung auch, weil in ihr, wie er später schrieb, „neue Elemente" aufgetaucht seien, „die zu einer förmlichen Fraktion zusammentraten, an deren Beschlüsse die Einzelnen gebunden waren". 8 Das war mit dem liberalen Glauben an die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen für das Wohl der Allgemeinheit nicht zu vereinen. Die „Leistungsverwaltung"9 nach unternehmerischen Gesichtspunkten war Anfang der achtziger Jahren schon soweit fortgeschritten, daß Rudolf von Gneist in einem Aufsatz für eine englische Zeitschrift die verschiedenen städtischen Unternehmungen darstellen konnte, die eine Rentabilität aufwiesen: „... gasworks, waterworks, canalization, central cattle yard, purchase and sale of land" 10 waren alles Aktiva im Verwaltungsbudget. Knapp zehn Jahre nachher belegt ein englischer Beobachter die Leistungsfähigkeit der Berliner Stadt7

Den Gegensatz, den die Auffassungen der Konservativen dazu bildeten, Zeigen noch 1881 die polemischen Bemerkungen Bismarcks, als er „das Recht" der Stadt, „die Benutzung der Schlachthäuser unter Steuer zu legen und sie zu erzwingen und außerhalb der Schlachthäuser nicht schlachten zu lassen", ähnlich wie eine indirekte Schlachtsteuer behandelt, die der Stadt Zugute kommt. Vgl. Stenographische Berichte Deutscher Reichstag, 4. Sess. 1881, Bd. 1, 9• Sitzung am 4. März 1881, S. 171. 8 A. Delbrück, Lebenserinnerungen..., S. 101. 9 Die Epoche der „Leistungsverwaltung" gehört zu den am besten erforschten Phasen der Kommunalgeschichte deutscher Städte. Vgl. Hendrik Gröttrup, Die kommunale Leistungsverwaltung, Stuttgart usw. 1973; Wolfgang Hofmann, Aufgaben und Struktur der kommunalen Selbstverwaltung in der Zeit der Hochindustrialisierung, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3, Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1984, S. 578-644; Wolfgang Krabbe, Die Entfaltung der modernen Leistungsverwaltung in den deutschen Städten des späten 19. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Urbanisierung im 19- und 20. Jahrhundert, Köln-Wien 1983, S. 373391; ders., Munizipalsozialismus und Interventionsstaat. Die Ausbreitung der städtischen Leistungsverwaltung im Kaiserreich, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 30. Jg. (1979), H. 5, S. 265-283. 10 Rudolf von Gneist, The Government of Berlin, in: The Contemporary Review, London, (1884), S. 769 ff., insbes. S. 792.

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Verwaltung, indem er unter anderem hervorhebt, daß Berlin „a public debt of about 1/2 Million Sterling (interest 3 1/2 and 4 1/2%)" habe. Die Ausgaben (4 Million Sterling) seien nur „apparently large", in der Tat aber „considerably less for head of the population than is the expenditure in a city like Edinburgh". 11 Bald wurde die Stadtverwaltung Berlins gerade von ausländischen Beobachtern als Modell einer notorisch guten Verwaltung gepriesen. 12 In einer Gemeindeverwaltung, die immer mehr nach unternehmerischen und beruflichen Gesichtspunkten arbeitete und immer komplizierter wurde und die sich durch Inanspruchnahme von Anleihen rasch zu einer „Leistungsverwaltung" entwickelte, verschoben sich die Kräfteverhältnisse zwangsläufig von den Honoratioren zur Berufsbeamtenschaft. Eine solche Gemeinde hatte es nicht mehr nötig, ehrenamtliche Mitarbeiter zu beschäftigen. Das Prinzip des „Sparens" als Grundhaltung einer guten Verwaltung war für die Zeit Krausnicks als Oberbürgermeister charakteristisch und wurde schon von der Gruppe der „Vorsehung" in den sechziger Jahren als lächerlich empfunden. Einer der Gründe für den Einsatz ehrenamtlicher Kräfte, eben der Zwang zu sparen, mußte zunehmend als Überbleibsel alter Zeiten erscheinen. Ein unbequemes Überbleibsel, da die Einsparungen, die durch die unentgeltliche Arbeit der Honoratioren erzielt wurden, durch Konzessionen auf der Ebene der lokalen Macht und durch das persönliche Eingreifen von besoldeten Beamten in Schlichtungsfragen, wie schon am Beispiel de Cuvrys in den vierziger Jahren gezeigt worden ist, wiederum als Kostenfaktoren zu Buche schlugen. Die Entwicklung ging unaufhaltsam in die Richtung einer zunehmend abstrakteren Beziehung zwischen Bürgern und Verwaltung: Statt den Dienst in dieser ehrenamtlich, also durch Arbeit „in natura", zu leisten, begannen sich die Bürger daran zu gewöhnen, daß sie durch Steuern die Arbeit bezahlter Beamter finanzierten und damit die gesamte Verantwortung an die Stadtverwaltung delegierten. Trotzdem blieb die unterste Ebene der Stadtverwaltung am Ort noch in der Hand der ehrenamtlich Tätigen, und auf der Ebene des Magistrats spielten die unbesoldeten Stadträte weiter eine Vermittler1 1 James Pollard, A Study in Municipal Government the Corporation of Berlin, Edinburgh 1893, S. 11. 1 2 Brian Ladd, Urban Planning and Civic Order in Germany, 1860-1914, Cambridge, Mass. 1990.

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VII. Die „Liberale Ära " der siebziger Jahre

rolle zwischen den beiden Ebenen. So war der unbesoldete Stadtrat Romstädt, Dekorateur und Stubenmaler, in den sechziger und siebziger Jahren Stadtverordneter und Armenkommissar seines Wohnbezirks (er wohnte zunächst Wassertorstraße 65, dann Moritzplatz 10), und von der Gründung an Vorsteher des Luisenstädtischen Bezirksvereins. Der unbesoldete Stadtrat Kaufmann Theodor André Sarre, Schwiegersohn und Mitarbeiter von Justus Heckmann, der 23 Jahre (1869-1892) im Magistrat saß, war vorher Stadtverordneter und Bezirksvorsteher. Seine Frau Mathilde geb. Heckmann fungierte in der Armenkommission ihres Bezirks als Waisenmutter. Max Weber ist bekanntlich der Theoretiker, der diese gesellschaftliche Wende im öffentlichen Leben analysiert hat. In seinem späten Vortrag Politik als Beruft stellt er den Gegensatz zwischen Moral und Politik dar. Die Zeiten der Honoratioren, in denen die „Wahrnehmung von sozialer Verwaltung und Herrschaft" als „Ehrenpflicht" galt, 14 in denen die Moral die Politik so weit überdeckte, daß sie sie gar nicht erst als solche zu Bewußtsein kommen ließ, waren der Ära der Professionalisierung gewichen: „Beamte bilden den typischen Verwaltungsstab rationaler Verbände", und diese Beamten sind „als erfolgreich Fachgeschulte qualifiziert". 15 Dies sei eines der wesentlichen Merkmale der „spezifisch modernen Form der Verwaltung". 16 Diese Wandlung hatte der junge Max Weber bereits in Berlin und in seiner eigenen Familie beobachtet. Der Vater Max (1836-1897) war in Berlin seit 1869 besoldeter Stadtrat und hatte das Bauwesen „unter sich". 17 Er war Mitglied der preußischen Landtagsfraktion der Nationalliberalen Partei und „huldigte" - nach Wolfgang Mommsen „einem satten, selbstzufriedenen Honoratiorenliberalismus, dem alles Kämpferische abging und der längst seinen Frieden mit Bismarck geschlossen hatte". 18 Nicht nur bedeutende Persönlichkeiten des Max Weber, Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, hrsg. von Johannes Winckelmann, 4. Aufl., Stuttgart 1968, S. 167 ff. und 527 ff. 1 4 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., rev. Aufl., Tübingen 1980, S. 547. 15 A. a. O., S. l6l. 16 A. a. O., S. 160. 1 7 Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Heidelberg 1950, S. 46; ein Hinweis Max Webers auf die Verwaltungserfahrung seines Vaters, in: Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik ( - Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 125), Leipzig 1908, S. 296. Ich danke Prof. Fabio Rugge, Pavia, für diese Information. 1 8 Wolfgang Mommsen, Max Weber: Gesellschaft, Politik und Geschichte, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1982, S. 23.

Der kirchliche Vormarsch in der Luisenstadt

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politischen Lebens verkehrten im Hause Weber, die Familie selbst besaß als großbürgerliche Honoratiorenfamilie eine Tradition.19

Der kirchliche Vormarsch in der Luisenstadt der siebzigerJahre In dem Maße, in dem die Stadtverwaltung modernisiert und in ihren Verfahren abstrakter wurde, gewannen die kirchlichen Institutionen auf der lokalen Ebene als eine Art Gegenpol gegen die Erfahrung großstädtischer Nivellierung und Beziehungslosigkeit an Gewicht, und zwar auf konservativer wie auf liberaler Seite. Schon in den sechziger Jahren mußte die Parochie in der Luisenstadt wegen des Bevölkerungswachstums neu aufgeteilt werden. I860 war es der Magistrat, der auf Antrag des Kirchenvorstands der Luisenstadtkirche die Initiative ergriff. Ein dritter Prediger wurde mit dem Auftrag berufen, die Abtrennung der neuen Gemeinde in die Wege zu leiten. Die „neue Luisenstadt-Gemeinde", später St. Thomas genannt, wurde 1864 endgültig selbständig. Eine provisorische Fachwerkkirche wurde im selben Jahr auf dem Mariannenplatz errichtet und gleichzeitig ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben, den Kochhanns Neffe Friedrich Adler gewann. Dem Magistrat war der Entwurf aber nicht repräsentativ genug, man wünschte eine Kuppel, die den Neubau der nahen katholischen Michaelskirche, die auf Initiative des Königs entstanden war, zumindest ebenbürtig machen sollte. 1869 war der Bau der Kirche abgeschlossen, nicht ohne beträchtliche Schenkungen: König Wilhelm I. stiftete die Chorfenster, die Honoratioren der Gegend die Ausstattung. Die Fachwerkkirche war damit keineswegs entbehrlich. Da die neue Gemeinde, kaum fertig ausgestattet, schon wieder viel zu groß war, wurde die Interimskirche 1872 auseinandergenommen und auf 1 9 Hans Norbert Fügen, Max Weber, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 13: Der Großvater Webers hatte noch in Bielefeld als Leinwandhändler ein Honoratiorenleben geführt, ebenso der älteste Sohn Karl David Weber, der im Gewerbe des Vaters blieb und in Oerlinghausen bei Lemgo eine gewinnträchtige Verlegerexistenz aufgebaut hatte, wo er „im Umgang mit den armen Bauern zwischen Distanz und Leutseligkeit" schwankte. Durch seine Mutter kam Max Weber junior mit einer starken pietistischen Religiosität in Berührung. Der Großvater mütterlicherseits Fallenstein war liberal und eng mit dem Historiker Gervinus befreundet, der auch eine besondere Beziehung zur Tochter Helene, der späteren Mutter von Max, unterhielt. Die ältere Tochter Ida heiratete in Berlin den liberalen Geschichtsprofessor Hermann Baumgarten, den besten Freund von Max Weber sen.

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VII. Die „Liberale Ära " der siebziger Jahre

dem Lausitzer Platz wieder aufgebaut. Diese Gemeinde wuchs weiterhin so schnell, daß man schon zwei Jahre später an eine neue Teilung zu denken begann. Die Interimskirche auf dem Lausitzer Platz wurde aber erst 1887 zur Keimzelle einer neuen Gemeinde, der Emmausgemeinde, die mit einem Anfangsbestand von 70 000 Seelen von der Thomasgemeinde abgezweigt wurde. Die Thomasgemeinde zählte 1870 etwa 60 000 Seelen, die von zwei Geistlichen und einem Hilfsprediger versorgt wurden. 1887, bevor die Emmausgemeinde abgezweigt wurde, hatte sie die Zahl von 140 000 Seelen erreicht. Aber die Kontinuität täuscht. Die Errichtung der Thomasgemeinde war die Revanche des Magistrats fur die Niederlage bei der Gründung der Jakobigemeinde. Es wurden nicht nur standfeste liberale Mitglieder aus dem Vorstand der Luisenstadtgemeinde in die neue Gemeinde delegiert - den Vorsitz übernahm Theodor Risch - , sondern auch die gewählten Pfarrer waren beide Liberale. Im Gemeindekirchenrat trifft man unter anderen die liberalen Honoratioren Adolph Stephan, Theodor Kampffmeyer und Paul Langerhans wieder. Ganz anders die Emmausgemeinde. Sie entwickelte sich, von Anhängern Stoeckers geleitet, sofort zu einer konservativen Hochburg 2 0 Im Südwesten des Viertels ging das Wachstum der Stadt ebenfalls weiter. Mitte der sechziger Jahre zählte die Jakobigemeinde bereits über 60 000 Seelen; Bachmann beklagte gegenüber dem Konsistorium einen „beispiellosen Nothstand" und erreichte ohne Zugriff des Magistrats nicht nur eine Teilung der Gemeinde, sondern auch eine Wiederholung der Entstehungsbedingungen seiner eigenen Gemeinde. 1867 richtete das Konsistorium in der Wassertorstraße eine neue Gemeinde ein. Für diese Kirche, ebenfalls von Adler entworfen, übernahm der König das Patronat und gab ihr den Namen St. Simeon. 21 Aus dem Umkreis Bachmanns entstand Anfang der siebziger Jahre eine weitere parallele soziale Struktur, denn die Ursprünge des PaulGerhardt-Stifts liegen ebenfalls in der Jakobigemeinde. 22 Am 1. No-

Theodor Hübner, Kirchlicher Bericht zur Jubiläums-Feier des 25jähr. Bestehens der St.Thomas-Gemeinde, Berlin 1889, und Georg Malchin, 75JahreEmmaus-Kirche, Berlin 1968. 2 1 Karl Hermann Gock, Ein Jahrhundert Evangelische Kirchengemeinde St. Simeon, Berlin 1968. 2 2 Walter Wendland, Die Entwicklung der christlichen Liebestätigkeit in Groß-Berlin vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Berlin 1939, S. 20. 20

Der kirchliche Vormarsch in der Luisenstadt

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vember 1871 nahm die erste Gemeindediakonissin in der Jakobigemeinde ihren Dienst auf. Sie war von Pastor Disselhoff, seit 1865 zweiter Prediger an der Jakobikirche und Schwiegersohn Fliedners, aus Kaiserswerth berufen worden. Die Krankenpflege war von Anfang an als eine der Aufgaben der neuen Jakobigemeinde betrachtet worden. Mit den Jahren nahm das Vorhaben eine festere Organisationsform an. Neben den in freien Krankenvereinen tätigen Parochiemitgliedern wurden Diakonissen für Krankenbesuche aufgenommen. Im April 1873 wurde eine Wohnung als Sitz dieser Diakonissen in der Jacobikirchstraße 5 gemietet, im gleichen Hause, in dem Disselhoff selber wohnte. Ein Jahr später wurde das Haus Jacobikirchstraße 6 vom Verein für Privat-Kranken- und GemeindePflege gekauft und Paul-Gerhardt-Stift genannt. Dies geschah in doppelter Absicht, einmal, um die „persönliche innerliche Einwirkung" auf kranke Arme durch die Diakonissen zu gewährleisten, die die Privatkrankenpflege in den Gemeinden übernehmen würden, zum andern, um das Modell der Gemeindediakonie in sämtlichen Berliner Parochien einzuführen, was zunächst in den drei Gemeinden Bartholomäus, Elisabeth und Zion im Norden Berlins (im Einflußbereich Otto von Gerlachs) gelang. Im ersten Jahr wurden 2431 Hausbesuche in 122 Familien gemacht. 1875 waren sechs Schwestern tätig, 1876 acht, 1877 schon fünfzehn, 1879 achtzehn. 1879 wurden der Sohn Fliedners, Pastor Theodor Fliedner, und seine Gattin als Hauseltern im Paul-Gerhardt-Stift eingeführt. Weiter wurde ein Kleinkinderschulseminar für die Ausbildung von Mädchen für die Arbeit mit Kindern eröffnet, das gleichzeitig auch - wie in Kaiserswerth - als Kleinkinderbewahranstalt diente. Ende des Jahres waren schon 22 Schwestern dort tätig. Als Fliedner jr. wegen Krank e l 1884 die Anstalt verließ, arbeiteten schon 48 Schwestern in diesem Haus. 23 Im dritten Bericht des Paul-Gerhardt-Stifts liest man: „Die sociale Frage, d. h. die stets wachsende Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen und die zunehmende, Schrecken erregende Verbitterung der letzeren, ist die eigentlich brennende Frage unserer Zeit. Unsere aufrichtige Überzeugung: (Daß) die Socialdemokratie einzig und allein 23

25 Jahre des unter dem Allerhöchsten Protektorat Ihrer M. d. Kaiserin und Königin Auguste Victoria stehenden Diakonissen-Mutterhauses Paul-Gerhardt-Stift in Berlin, Denkschrift, hrsg. zur Jubelfeier am 7. 6. 1901. Zentralarchiv des Diakonischen Werkes, Berlin.

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VII. Die „Liberale Ära " der siebzigerJahre

durch die christlichen Weltanschauung überwunden werden kann",24 eine Überzeugung, die bekanntlich auch Hofprediger Stoecker teilte. Er versuchte, diese lokalen sozialpolitischen Erfahrungen für seine in den siebziger Jahre begonnene politische Agitation zu nutzen. 25

Vom Ehrenamt zum Cliquenwesen Die Liberalen bewegten sich in genau entgegengesetzter Richtung. Im Berliner Stadtparlament hatten sie schon in den sechziger Jahren angesichts des Kooptationssystems der lokalen sozialen Strukturen Unbehagen empfunden und versucht, den Armenkommissionen den Anschein einer Lokalmafia zu nehmen, um zu Geist und Buchstaben der Städteordnung von 1808 zurückzukehren. Sie hatten auf dem Pflichtcharakter des Ehrenamtes bestanden und damit auf die Mißbräuchlichkeit des von den Armenkommissionen ausgeübten Kooptationsrechts hingewiesen. Diese Haltung konkretisierte sich ziemlich schnell in den als Modernisierung und Demokratisierung intendierten Reformen, die aber nach und nach zur Blockierung des Systems beitrugen. Die schon genannte, 1867 erlassene Zirkular-Verfügung der Armendirektion an die Armenkommissionen, die es verbot, den Vorzuschlagenden nach seiner Bereitschaft zur Übernahme des Amtes zu fragen, hatte zur Folge, daß bald viele Armenkommissionsmitglieder gewählt wurden, die keine Lust oder Zeit hatten, das Amt auszuüben. So wurde 1869 bei der Dezemberkonferenz der Armenkommissionsvorsteher mitgeteilt, daß ein Bürger, der ein unbesoldetes Kommunalamt in der Armenverwaltung nicht annehme, auf Antrag der städtischen Behörden durch Verfügung der königlichen Regierung auf drei Jahre der Ausübung des Bürgerrechts für verlustig erklärt und um ein Achtel stärker zu den direkten Gemeindesteuern herangezogen werden könne. Stadtrat Schreiner erklärte dazu, damit würde man der oft zu beobachtenden Gleichgültigkeit einen Riegel vorschieben und es den Armenkommissionen leichter machen, geeignete Mitglieder zu fin-

24

Dritter Bericht über das Paul-Gerhardt-Stift zu Beriin, Berlin 1877, Zentralarchiv des Diakonischen Werkes, Berlin, S. 4. 25 Karl Kupisch, Adolf Stoecker. Hofprediger und Volkstribun. Ein historisches Porträt, Berlin 1970, S. 24 f.

Vom Ehrenamt zum Cliquenwesen

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den. Die Verordnung, bei Neuwahlen nicht danach zu fragen, ob das Amt angenommen werde, bleibe weiterhin gültig. 26 Noch schärfer schritt der Magistrat 1874 gegen das offensichtlich immer noch übliche Verfahren ein, wie man aus den Sitzungsprotokollen der Stadtverordnetenversammlung von 23. April 1874 erfährt: „Die Versammlung hat Kenntnis genommen von der Mittheilung des Magistrats, daß derselbe unter entspr. Abänderung des § 3 der Geschäftsanweisung für die mit dem öffentlichen Armenwesen Berlins betrauten städtischen Organe beschlossen hat, Vorschläge zur Besetzung vacanter Stellen in den Armenkommissionen ferner nicht von den letzteren einzufordern, vielmehr die Wahl der Armenkommissionsmitglieder fortan lediglich dem freien Ermessen der Stadtverordnetenversammlung zu überlassen." 27 Damit nahm der Magistrat den Armenkommissionen eine wichtige Quelle ihrer lokalen Macht, die ständisch gefärbte Autonomie, und entzog ihnen die Entscheidungsfreiheit in bezug auf die Zusammensetzung der Mitglieder. Der Magistrat sah sich dennoch genötigt, den Rückzug anzutreten. In der Stadtverordnetenversammlung vom 28. Dezember 1875 nahm die Versammlung von einer Magistratsvorlage Kenntnis, in welcher der Wunsch ausgesprochen wurde, vor der Wahl von Armenkommissionsmitgliedern jedesmal zu prüfen, ob die „Vorgeschlagenen geneigt sind, das Amt zu übernehmen", 28 und im Mai 1878 war es wiederum der Magistrat, der aus Anlaß der Ernennung zweier neuer Kommissionsmitglieder die Stadtverordentenversammlung bat, von der Nominierung von Personen abzusehen, von denen man von vornherein wisse, daß sie das Amt nicht annehmen würden. Die daraufhin in der Stadtverordnetenversammlung stattfindende Debatte zeigte, wie sehr sich die Stadtverwaltung inzwischen in einer Sackgasse befand, ja, daß das System gefährdet war. Der den Standpunkt des Magistrats vortragende Stadtrat gab zu bedenken, daß es Fälle gebe, wo die Arbeit der Kommission blokkiert sei, weil Mitglieder gewählt worden waren, die ein Recht hatten, das Amt zurückzuweisen, oder die in einen anderen Bezirk umgezogen oder seit einiger Zeit verstorben waren, ohne von jenen 26

Communalblatt, (1869), S. 747.

A. a. O., Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 23- 4. 1874, Berlin 1874, S. 205. 28 A. a. O., Berün 1876, S. 4. 27

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VII. Die „Liberale Ära" der siebzigerJahre

Fällen zu reden, wo ungeeignete Personen gewählt worden waren (zum Beispiel Vorbestrafte). 29 Da diese Umstände sich als Grausamkeit gegen die Armen auswirkten, müsse die Versammlung ihre Entscheidung mit größtem Bedacht treffen. Der Stadtverordnete Ludwig Loewe, der progressive Industrielle, hielt diesen Argumenten entgegen, daß der Magistrat damit früheren Anordnungen widerspreche, und plädierte dafür, an dem Prinzip, daß die Übernahme des Ehrenamtes Pflicht sei, festzuhalten. Der Stadtverordente Gerth gab hingegen einen Einblick in die wirklichen lokalen Schwierigkeiten, zum Beispiel in einem Peripheriegebiet wie dem seinen Personen zu finden, die für eine ehrenamtliche Tätigkeit geeignet seien. 1877 habe er selber zweihundert Personen für Ehrenämter ausfindig machen müssen und sei dabei auf unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen: „Als zur Zeit die Armendirektion mit dem Antrage kam, den Armenkommissionen das Recht zu nehmen, die Vorschläge zu machen, da war ich es, der darauf hinwies, daß dadurch in der Peripherie die größten Unzuträglichkeiten entstehen würden, und ich hatte gebeten, davon Abstand zu nehmen. In den großen Bezirken, in denen der Verzug ein fast täglicher ist, bilden den Hauptbestandteil derjenigen, die wir zu Kommunalbeamten gemacht haben, weil sie dort seßhaft sind, die Eigenthümer; in diesen Stadttheilen wird es geradezu unmöglich werden, immer die geeigneten Kräften zu finden. Die Versammlung ist darüber hinweggegangen. Der Magistrat hat gesagt, es wäre nicht gut, dann würde ein Cliquenwesen entstehen, der Stadtverordnete müßte in der Lage sein, Vorschläge zu machen." 3 0 Dann ging er auf die beiden Personen ein, die in dieser Sitzung gewählt werden sollten: der eine werde das Amt nicht annehmen, weil es ihm zu beschwerlich sei, wozu er durch das Gesetz berechtigt sei, da er schon ein anderes Ehrenamt übernommen habe. Der andere werde das Amt aus Gesundheitsgründen ablehnen, auch das sei ein legaler Grund. Gerth räumte allerdings ein, daß es unmöglich sei, nur Personen zu wählen, die die Wahl mit Sicherheit annehmen würden. In den Vororten hätten die Leute anderes zu tun. „Glauben LAB (STA), Vorlage, welche den Zeitungen nicht mitgetheili ist, Nr. 67 (485), 1878, Rep. 03, Nr. 14, Bl. 120 u. 120 RS., Stadtarchiv Berlin. LAB (STA), Bericht über die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 16. 5. 1878, Rep. 03, Nr. 14, Bl. 116 RS., Stadtarchiv Berlin.

Vom Ehrenamt zum

Cliquenwesen

227

sie denn, daß wir den Tag für Sie arbeiten können?"31 sei er zum Beispiel gefragt worden. In einzelnen Fällen seien Personen gewählt worden, die nicht einmal lesen und schreiben könnten. „Das ist traurig, aber es sind Männer, welche einen gewissen Besitz haben und ich habe nicht anders schließen können." 32 Abschließend schlug er vor, die Wahl vorzunehmen, ohne den Antrag des Magistrats zu berücksichtigen. Weitere Stadtverordnete nahmen das Wort: einer, um auszuführen, daß niemand heute mehr daran interessiert sei, Kommissionsmitglied zu werden, da das zuviel Arbeit mache, und daß man deshalb an der Möglichkeit festhalten müsse, die Gewählten zur Annahme des Amtes zu verpflichten, ein anderer, um an den bon sens der Anwesenden zu appellieren, Personen zu wählen, von denen man wisse, daß sie annehmen würden, ein weiterer, um darauf hinzuweisen, daß die gegenwärtigen Schwierigkeiten nur die Folge davon seien, daß man den Kommissionen das Recht der Kooptation neuer Mitglieder genommen habe, und um vorzuschlagen, wieder zum früheren Verfahren zurückzukehren. Die Sitzung Schloß mit der Wahl der beiden Kandidaten, von denen man wußte, daß sie nicht Kommissionsmitglieder werden würden. Wenige Jahre später nahm die Vossische Zeitung die Frage aus Anlaß des folgenden Falles wieder auf: Der Vorsitzende einer Armenkommission hatte Gelder veruntreut und dazu stellte sich bei den anschließenden Nachforschungen heraus, daß er vorbestraft war. Als der Gesetzgeber den Stadtverordneten die Aufgabe zugewiesen hatte, die Kommissionsmitglieder zu wählen, sei er, schrieb das Blatt, von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Stadtverordneten als Vertreter der Bürgerschaft imstande sein müßten, in ihr geeignete Personen zu finden: „Daran, daß in einer Großstadt von mehr als einer Million Einwohnern solche Voraussetzungen nicht mehr zutreffen, konnte der Gesetzgeber nicht denken!"33 In der Großstadt zählten die Bürger, die Ehrenämter zu bekleiden hatten, mehrere Tausende, und die persönliche Bekanntschaft, die es innerhalb der Bezirke einmal gab, sei nicht mehr vorhanden. Statt eine Lösung vorzuschlagen, begnügte sich die Zeitung damit zu 31

Ebda.

32

Ebda.

33

Die Wahl der unbesoldeten Kommunalbeamten, in: Vossische Zeitung vom 18. 2.

1881, Nr. 81.

228

VII. Die „Liberale Ära " der siebzigerJahre

bemerken, daß Fälle wie der genannte zu vermeiden seien, „damit der Mann das Amt ehre und dieses den Charakter des Ehrenamtes bewahre, denn nur hierdurch finden die unbesoldeten Kommunalbeamten für ihre aufopfernde Thätigkeit eine Befriedigung". 34 Das Wachstum der Stadt und die kulturelle und politische Ausdifferenzierung der Bevölkerung hatten Ausmaße erreicht, bei denen selbst verkleinerte Bezirkseinheiten nicht mehr die Übersichtlichkeit der sozialen Beziehungen garantieren konnten, von der das Funktionieren der Armenkommissionen abhing. Das Kooptationsverfahren wurde trotz Kritik inoffiziell aufrechterhalten. Noch 1895 hob man in einer Monatskonferenz der Armenkommissionsvorsteher hervor, daß es „wünschenswert" sei, wenn die Armenkommissionen selbst vor den Wahlen geeignete Personen vorschlagen würden. 35 Die Veränderungen innerhalb der Stadtverwaltung waren die Folge eines Mentalitätswandels. Das Privatinteresse der ehrenamtlichen Beamten wurde nicht mehr wie früher gewissermaßen als Garantie und Teil des Gesamtinteresses akzeptiert, sondern erschien jetzt verdächtig. Es handelte sich dabei um ein Problem, das als solches einerseits im Zusammenhang mit den Modernisierungsversuchen der Liberalen in den sechziger und siebziger Jahren bewußt wurde, andererseits um das Abstraktwerden der Beziehung zwischen Vertretenen und Vertretern. Die Aufgabe der Stadtverwaltung selber wurde anders gesehen: nicht mehr als Verwaltung der objektiven Interessen der Allgemeinheit durch ihre Vertreter, die aus der Nachbarschaft und aufgrund von persönlichem Vertrauen gewählt wurden, sondern als ein zunehmend unpersönliches Mandat, das von Spezialisten oder von Personen wahrgenommen wurde, die die eigenen politischen Interessen zu vertreten versprachen. In diese Richtung deutet zum Beispiel eine Anweisung der Armendirektion von 1871, in der verfügt wird, daß Armenkommissionsmitglieder, die Hauseigentümer sind, keine Nachforschungen über Bedürftige, die ihre Mieter sind, anstellen und ihnen keine Unterstützung gewähren dürften36 - ein Bedenken, das schon früher formuliert, aber erst jetzt offiziell in die Geschäftsordnung aufgenommen wurde.

Ebda. Communalblatt, (1895), S. 223. -'D Geschäfts-Anweisung für die mit der öffentlichen Armenpflege Berlins betrauten städtischen Organe, Berlin 1871, 5 15. 34

35

Gesundheitspflege und Wohnungsnot

229

Ein weiteres Beispiel für den oben dargestellten Sachverhalt ist die Petition des luisenstädtischen Arztes Paul Langerhans, die er 1873 im Namen des von ihm gegründeten und geleiteten Stadtbezirksvereins für das Köpenicker Viertel in der Stadtverordnetenversammlung einbrachte und in der verlangt wurde, daß kein Stadtverordneter gleichzeitig mit der Stadt in Geschäftsbeziehungen stehen dürfte. Als die Stadtverordnetenversammlung sich diese Petition zu eigen machte und an den Magistrat weiterleitete, äußerte Oberbürgermeister Hobrecht, daß die Stadt damit riskieren würde, gerade die besten Kräfte zu verlieren - sei es als Geschäftspartner, sei es als ehrenamtliche Mitarbeiter - , und wies den Antrag mit dem Hinweis zurück, es sei nicht Aufgabe des Magistrats, dem Gewissen der einzelnen solche Konflikte zu ersparen.37

Gesundheitspflege

und

Wohnungsnot:

Verwissenschaftlichung

und

Verschleierung der sozialen Frage

1873 wurde der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege gegründet. Die erste Versammlung fand im selben Jahr in Frankfurt am Main statt. James Hobrecht, damals Stadtbaurat von Stettin, hatte bereits 1868 für eine solche Gründung plädiert und gab ein Jahr später, zusammen mit den Ärzten Pettenkofer (München), Varrentrapp (Frankfurt am Main) und dem Oberbürgermeister von Danzig, Winter, die Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege heraus. In dieser Zeitschrift kann man die Debatten verfolgen, die engagierte Ärzte, Ingenieure und Kommunalbeamte im Namen einer wissenschaftlich fundierten Gesundheitspolitik für die Großstadt führten. Ziel des Unternehmens war es, wissenschaftliche Untersuchungen vorzulegen, in denen Empfehlungen für die Baugesetzgebung ausgesprochen wurden, zum Beispiel Normen für „das richtige Verhältnis zwischen Häuserhöhe und Straßenbreite, zwischen Bewohnerzahl, Baufläche und grüner Vegetation".38 Durch Fortschritte in den medizinischen Kenntnissen wollte man die gesundheitsgefährdenden LAB (STA), Rep. 01-02 GB, Bd. 274, Bl. 148 f., Stadtarchiv Berlin. Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege (im folgenden DVöG Zitiert), Bd. 1 (1869). 37 38

230

VII. Die „Liberale Ära " der siebzigerJahre

hygienischen Verhältnisse der Großstadt, die durch Statistiken39 klar erwiesen waren, verbessern. Man war in diesem Kreis allgemein davon überzeugt, daß die baulichen Verhältnisse die Gesundheit ihrer Bewohner direkt beeinflußten. Auf der zweiten Versammlung des Vereins 1874 in Danzig referierte der uns schon bekannte Arzt, Berliner Stadtrat und Mitbegründer des Vereins gegen Verarmung Dr. Wolfgang Straßmann über „Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege an die Baupolizei in Bezug auf neue Stadttheile, Straßen und Häuser".40 Er kritisierte die baulichen Zustände Berlins, die durch das Bestreben, die Grundstücke in der extensivsten Weise auszunutzen, herbeigeführt worden seien. Für die extreme Überbauung von Grundstücken mit mehreren Seitenflügeln und Quergebäuden hinter dem Vorderhaus war seit einiger Zeit das Stichwort „Miethskaserne" gebräuchlich. Die Argumente, die Straßmann und seine Gesinnungsfreunde zum Beweis der Gesundheitsschädlichkeit der „Mietskasernen" vorbrachten, sind, genauer betrachtet, alles andere als objektiv. Straßmann geht davon aus, daß kleine Hinterhöfe als Ursache eines Mangels an Licht und Luft in den Wohnungen gesundheitsschädlich seien. Daß die Belüftung an und für sich positiv sei, war eine allgemeine Überzeugung der damaligen Städteplaner. So behauptete Hobrecht 1868, daß breite Straßen deswegen eine wohltätige Wirkung hätten, weil sie kein Hindernis für den „Luftwechsel"41 bildeten. Unter Führung der Ärzte Virchow und Neumann hatte I860, wie schon erwähnt, die damals noch kleine liberale Fraktion im Stadtparlament einen Antrag auf Durchbruch der Inselstraße eingebracht, um die Wallstraße für die Durchlüftung zu öffnen, und dies mit dem Wüten der Cholera in dieser Straße untermauert. Solche Vorschläge beruhten auf Forschungen, die in der Gruppe um Virchow seit Ende der vierziger Jahre durchgeführt wurden. Virchow hatte 1848 während einer Forschungsreise durch Oberschlesien einen bald berühmt gewordenen Bericht verfaßt, in dem er eine eigene Epidemiologie, seine „soziologische" Epidemiologie,

^ Die Statistik war eine neue, damals entstehende Disziplin, die in enger Beziehung zu dem hier Behandelten stand. Vgl. Jürgen Reulecke, Pauperismus, „social learning" und die Anfänge der Sozialstatistik in Deutschland, in: Hans Mommsen/ Winfried Schulze (Hrsg.), Vom Elend der Handarbeit, Stuttgart 1981, S. 358-372. 40

DVöG, Bd. 7 (1875), S. 52 f.

41

J. Hobrecht, Über öffentliche Gesundheitspflege..., S. 17.

Gesundheitspflege

und

Wohnungsnot

231

entwickelte. Danach hing der Typhus von der „lokalen sozialen Situation" ab, also von mangelhafter Ernährung und schlechten Wohnungen, die die Wirkungen klimatischer Faktoren, wie zu großer Feuchtigkeit, verstärkten. Unter dieser Kombination von Bedingungen entwickle sich ein „Miasma", das in den Körper eindringe und die Krankheit erzeuge. Wie sein Freund und Kollege Salomon Neumann unterschied er zwischen „natürlichen" und „künstlichen" Krankheiten, wobei die letzteren primär auf sozialen Bedingungen beruhten. Die Gruppe um Virchow untersuchte eine Vielzahl von Faktoren als Auslöser epidemischer Krankheiten: Boden, Luft, Ernährung, soziale Sitten, Familienleben, Wohnung und Beschäftigung und glaubte an die Erzeugung von Krankheiten durch die Luft und an die keimtötende Kraft der Sonne. 42 Straßmann selber vertrat eine wesentlich einseitigere Position als Virchow. Er kritisierte in der Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege von 1874 die Bestimmungen der Baupolizeiordnung, die eine Mindestgröße für die Höfe enthielten, weil sie nur auf eine „Pyrophobie" zurückzuführen seien und den Forderungen der öffentlichen Gesundheitspflege nicht entsprächen. Um die angebliche Enge der Berliner Hinterhöfe zu beweisen, zitierte er einen Berliner Schriftsteller, der schon 1846 die Berliner Höfe mit Postillionsstiefeln verglichen haben soll. Nach der Definition des Volkszählungsberichts von 1867 bezeichnet er die im Parterre und die eine oder zwei Teppen hoch gelegenen Wohnungen als „normale", die im Keller und vier Treppen hoch gelegenen als „anomale". Für wissenschaftlich durch Statistiken über Sterblichkeitsraten bewiesen hielt er nicht nur den Satz: „je höher die Häuser, desto ungesunder die unteren Räume", sondern auch den, daß Wohnungen, die vier Treppen hoch und darüber liegen, „an sich schon gesundheitsgefährlich" seien. Dieser Umstand sei mehrfach statistisch bewiesen und erforscht worden, unter anderem von Virchow selbst. 43 In

4 2 Erwin Ackerknecht, Rudolf Virchow. Arzt, Politiker, Anthropologe, Stuttgart 1957, S. 105 f.; B. Ladd, Urban Planning..., behauptet, daß die damaligen hygienischen Vorstellungen mehr dem Lebensstil, dem irrationalen Glauben, den sozialen Strategien und Vorurteilen des Großbüigertums als rationalen medizinischen Gesichtspunkten entsprachen. 4 3 Vgl. Max Sommerbrodt, Über Sterblichkeit und Todgeburten in abnorm hoch gelegenen Wohnungen, in: DVöG, Bd. 10 (1878), S. 260 f. Sommerbrodt bezieht sich

232

VII. Die „Liberale Ära " der siebziger Jahre

bezug auf die Mortalität seien die Wohnungen, die vier Treppen hoch lägen, schlimmer als die Kellerwohnungen, referierte Straßmann. Ein Umstand, der sich allerdings dadurch erklären lasse, „daß die Kellerwohnungen vielfach auch als Geschäftslokalitäten benutzt werden, und daß die meisten Geschäfte, welche in den Kellern betrieben werden, ihren Inhaber reichlich und gut ernähren. Es kommt in Berlin recht häufig vor, daß aus dem ,Budiker' im Keller sehr bald ein Hauswirth und Rentier wird." Straßmann nennt in diesen Zusammenhang die ökonomischen Gründe solcher statistischen Ergebnisse, ohne es für nötig zu halten, sich damit weiter zu beschäftigen: „Die Sachlage ist also einfach die, daß die Inhaber der Kellerwohnungen wohlhabender sind als die Leute, die 5 oder 6 Treppen über ihm wohnen. Daß aber, selbst bei gleich günstigen Wohnungsverhältnissen, unter den ärmeren Leuten mehr sterben, als unter den Wohlhabenden, ist ohne weitere Erklärung verständlich." Wenige Jahre später war in der gleichen Zeitschrift zu lesen: Bei der Interpretation der Sterblichkeitsraten in den verschiedenen Wohnungen sei der „Wohlhabenheitsfactor auch in Rechnung zu ziehen ... die Argumente dafür seien aber doch mehr geistreich philosophierende, als wirklich exacte".44 Straßmann fährt in der Aufzählung der Übelstände der Wohnungsverhältnisse in Berlin fort, ohne zu merken, daß die „Sachlage", die er gerade benannt hat, die Ursachen der Sterblichkeit in bestimmten Wohnungen bereits klärt und jede weitere Analyse entbehrlich macht - eine in diesen Kreisen verbreitete Haltung. Straßmann kritisierte weiter die Überbelegung der Berliner Wohnungen, das Fehlen geordneter Einrichtungen von Stadtreinigung und Entwässerung und verwies auf die kolossale Sterblichkeit der Kinder unter einem Jahr, die er „der Verunreinigung des Bodens und der Luft unter Mitwirkung der baulichen Umstände" zuschrieb, zumal die Sterblichkeit der Kinder im Gegensatz zu der der Erwachsenen auf die Sommermonate fiel. Durch die Einführung der Kanalisation versprach sich Straßmann eine bedeutende Abnahme gerade der Kindersterblichkeit. Offensichtlich hielt er Ausdünstungen und Fäulnis, die in den Sommermonaten aus den Rinnsteinen aufstiegen, u. a. auf Rudolf Virchows Schrift Canalisation oder Abfuhr? Eine hygienische Berlin 186944

M. Sommerbrodt, Über Sterblichkeit..., S. 262.

Studie,

Gesundheitspflege und Wohnungsnot

233

für die Ursache. Einen Zusammenhang zwischen fehlenden Kühlungsmöglichkeiten und mangelnder beziehungsweise inexistenter Sterilisierung für die in der Großstadt verkaufte Milch wurde damals noch nicht erkannt. Straßmann nennt drei „Gründe" für die Übelstände der Berliner Wohnungsverhältnisse: einmal das Bestreben der Bauherren, so viele Mietswohnungen wie möglich auf einem Grundstück unterzubringen; zweitens den „enormen Zustrom von Menschen", die jedes Jahr nach Berlin kommen; drittens die nachteiligen Wirkungen des Bebauungsplans von 1862. Der Bebauungsplan habe sehr breite Straßen festgelegt, aber breite Straßen erlaubten den Bau hoher Häuser: „Ohne diesen festen, Freiheit und Abwechselung ausschließenden Bebauungsplan wäre es auch möglich gewesen, daß sich einzelne Gruppen der Bevölkerung innerhalb des Weichbildes für sich angesiedelt hätten und eine bequemere Form der Bebauung, wie sie gerade ihren individuellen Zwecken entsprach, hätten finden können." 4 5 Damit sprach sich Straßmann wie schon Ernst Bruch für die Absonderung der verschiedenen sozialen Schichten und gegen das Prinzip der Gleichheit aller Grundstücke und die damit verbundene soziale Mischung aus, die der Hintergrund des Bebauungsplans von Hobrecht gewesen war. Straßmann schloß sein Referat mit Vorschlägen, die später allgemein von den modernen Stadtplanern übernommen wurden. Der ständige Zuzug von Menschen in die Stadt sollte durch Erbauung neuer Stadtteile und „Ansiedelung in der Nähe der Städte", nicht durch Verdichtung der vorhandenen, aufgefangen werden; die Errichtung freistehender Gebäude und Gebäudegruppen sei zu fördern; geringe Straßenbreiten seien angemessen für Straßen, die nicht Hauptverkehrsstraßen seien; die Höhe der Gebäude dürfe die Straßenbreite nie überschreiten und in keinem Falle über vier Stockwerke einschließlich des Erdgeschosses hinausgehen; der dritte Teil eines jeden Grundstücks solle von Bebauung frei bleiben. Er schlägt aber auch vor, die Vorschrift, daß für jeden Bau ein „Baueonsens" eingeholt werden müsse, abzuschaffen, weil dadurch Kosten und Weitläufigkeiten entstünden. Für den Liberalen Straß-

45

DVÖG, Bd. 7 (1875), S. 57.

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VII. Die „Liberale Ära " der siebzigerJahre

mann, auch hier Bruch folgend, war dies ein Erbe des Absolutismus. Er bemerkte nur den Nachteil für die private Initiative und übersah, daß die Einhaltung der Normen, die er im Namen der öffentlichen Gesundheitspflege einführen wollte, ebenso Kosten und Kontrolle für die private Initiative darstellten. Ein Widerspruch, den man durchgehend im liberalen Lager findet. Die hygienischen Gesichtspunkte verselbständigten sich bald zur Parole „Licht, Luft und Sonne" und wurden zum nicht hinterfragten Allheilmittel des Städtebaues bis in die jüngste Zeit. Die pauschale Kritik am Berliner Mietshaus, die seit Rudolf Eberstadt und Werner Hegemann zum Allgemeinplatz wurde und zu den Flächensanierungen dieses Jahrhunderts führte, beruhte auf der Ausblendung der wirtschaftlichen Gründe für die „Übelstände" der Arbeiterwohnungsverhältnisse zugunsten einer Kriminalisierung der Gebäudeeigenschaften. Der Hauptübelstand, die Überbelegung solcher Wohnungen, war dagegen das notwendige Ergebnis des Mißverhältnisses zwischen niedrigen Familieneinkommen und hohen Mieten, das durch Untermieter und Beschränkung des Flächenbedarfs individuell bewältigt wurde. Die öffentliche Gesundheitspflege zu fördern, gehörte zur liberalen Strategie der „Vorsehungs"-Gruppe, indirekt den unausbleiblich kommenden Fortschritt zu lenken, in dem sich schließlich die soziale Frage auflöste. So brachten die Liberalen im Stadtparlament nicht nur kein Verständnis für die Wohnungsnot auf, sondern verschleierten die wirtschaftlichen Gründe dieser Phänomene mit wissenschaftlichen Argumenten. Sogar im Statistischen Amt wurde die dort beobachtete Tendenz der Großstadtbevölkerung zu häufigem Wohnungswechsel nicht mit ökonomischen Zusammenhängen erklärt - periodische Mieterhöhungen und Suche nach billigerem Wohnraum - , sondern durch den Begriff des Nomadentums der großstädtischen Bevölkerung, also durch den Versuch, bestimmte Kategorien und Verhaltensweisen wissenschaftlich in Beziehung zu 4ίΐ setzen. In dieser Weise wurden ebenfalls, wie gezeigt, Statistiken über Kindersterblichkeit und Typhuserkrankungen direkt mit der Beschaffenheit der Wohnungen korreliert, ohne die Tatsache zu bemerken, daß kleine Wohnungen von Menschen bewohnt wurden, die nicht ^ Hermann Schwabe, Das Nomadenthum in der Berliner Bevölkerung, in: Beriiner Statistisches Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik, 1. Jg. (1874), S. 31 f.

Wohnungsnot ab Kostenfaktorfür die Gemeinde

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genug verdienten, deshalb zu eng beisammenwohnten und zu wenig zu essen hatten. Solche Zusammenhänge waren für Praktiker wie Neumann, selber mit Virchow, Straßmann und Hobrecht Initiator der Gesundheitspflege, durchaus klar. In seinem Amt als Armenarzt der Luisenstadt hatte er genügend Erfahrungen in bezug auf die Lebensverhältnisse der Armen gemacht.

Wohnungsnot als Kostenfaktorfür die Gemeinde Die Wohnungsnot bereitete den lokalen sozialen Institutionen Schwierigkeiten und verursachte indirekt erhebliche Kosten für die Gemeinde. Die Lebhaftigkeit der Wohnungsmarktkonjunktur läßt sich in den Protokollen der Monatsversammlungen der Armenkommissionsvorsteher nachlesen, ohne daß dabei der Zusammenhang mit den steigenden Ausgaben der Armenverwaltung erkannt wurde. Immer wieder wird die Grenze der Mieten zur Diskussion gestellt, die man bei der Gewährung einer Hilfe beziehungsweise bei der Befreiung von der Mietsteuer zugrunde legen sollte. Wurden in den sechziger Jahren Fälle, in denen Hilfesuchende angaben, hohe Mieten zu zahlen, einfach als Betrug angesehen - Mietverträge wurden danach unter dem Namen eines registrierten Armen geschlossen, um sich der Mietsteuer zu entziehen - , so komplizierte sich die Lage seit den siebziger Jahren zunehmend. Es soll Fälle gegeben haben, wo mehrere Familien eine größere Wohnung gemeinsam bezogen. Dabei wurde betont, daß die Armenverwaltung ihre „Aufmerksamkeit darauf lenken" solle, daß die „einzelnen Familien soviel wie möglich eigene Mietskontrakte abschließen, damit nicht dem Versuche Vorschub geleistet werde, für größere Wohnungen, als nach den bisherigen Grundsätzen zuläßig, Steuerfreiheit zu erlangen".47 Schon Jahre zuvor hatte die Versammlung der Armenkommissionsvorsteher bei der Armendirektion beantragt, die Bestimmung aufzuheben, nach welcher nur solchen Personen Pflegegeld bewilligt werden dürfe, die nicht mehr als 80 Thlr. Miete pro Jahr zahlten. Der Antrag wurde

47 October Conferenz-Protokoll der in: Communalblatt, (1871), S. 480.

Armenkommissions-Vorsteher-Versammlung,

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VII. Die „Liberale Ära " der siebziger Jahre

abgelehnt, weil dadurch die Stadt bezüglich der Mietsteuer geschädigt werden würde und weil die „Beseitigung dieser Schranke in sozialer und sittlicher Beziehung mannigfache Gefahren in Aussicht" 48 gestellt hätte. Durch den allgemeinen kontinuierlichen Anstieg der Mieten wurde die Frage immer wieder aktuell. So wandte sich Dr. Straßmann 1873 dagegen, zu streng vorzugehen, und sah in einer Miete bis zu 100 Thlrn. noch kein Hindernis bei der Bewilligung von Unterstützung: übertriebene Strenge fördere Bettelei, mache das Publikum mißtrauisch, Arme undankbar und sei oft genug Ursache unangenehmer Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Kommissionen selber.^ Ein Jahr danach wurde es überhaupt für unmöglich erklärt, einen Höchstsatz für die Miete festzulegen: in den verschiedenen Stadtteilen seien die Mietpreise viel zu unterschiedlich und überall im Ansteigen begriffen. Es wurde darauf hingewiesen, daß an sich keine Mietsteuerbefreiung vorgesehen war, sondern daß die Steuer-Deputation in der Regel auf die Mietsteuer verzichtete, um die Armenkasse nicht zu belasten. Sie wurde nunmehr ermahnt, bei Mieten über 100 Thlrn. besondere Kontrollen vorzunehmen. 50 Nach 15 Jahren war die übliche Miethöhe allgemein auf 300 Mark (100 Thlr.) im Jahr gestiegen, und es wurde ein Antrag gestellt, die Mietgrenze entsprechend zu erhöhen. 51 Auch ein anderer empfindlicher Nachteil resultierte für das Armenwesen aus der Wohnungsnot: Die Zahl der Pflegeeltern nahm infolge der Wohnungsnot konstant ab, während aus dem gleichen Grund die Zahl der Kinder zunahm, deren Eltern „sich heimlich entfernt haben" und die ins Waisenhaus kamen. 52 Das Thema wurde immer wieder zur Diskussion gestellt. 1878 wurde bei einer Monatskonferenz der Armenkommissionsvorsteher hervorgehoben, daß in Berlin 70 Prozent der Säuglinge im ersten Lebensjahr starben, und es wurde auf den Kinder-Schutz-Verein hingewiesen, der Kinder bis zu drei 48 Dezember Conferenz-Protokoll der Armenkommission-Vorsteher-Versammlung, in: a. a. O., (1869), S. 2. ^ Mat Conferenz der Armenkommission-Vorsteher-Versammlung, in: a. a. O., (1873), S. 249. Januar Conjerenz der Armenkommission-Vorsteher-Versammlung, in: a. a. O., (1874), S. 102. -51 November Conferenz der Armenkommission-Vorsteher-Versammlung, in: a. a. O., (1889), S. 470. 52 Bericht der Armendirektion, Abt. für die Waisenverwaltung, datiert vom 30. 6. 1873, in: a. a. O., Beilage, 14. Jg. (1873), o. S.

Wobnungsmarkt und socales System

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Jahren mittwochs und sonnabends in der Jägerstraße 4 aufnahm und sofort an Pflegemütter vermittelte. 53

Wohnungsmarkt und soziales System,: Das Prinzip der kommunizierenden Röhren Den Zeitgenossen war die Mechanik des Berliner Wohnungsmarktes, die enge Verflechtung von Wohnungsnot und Armenfürsorge in einem System der sozialen Umverteilung, nicht bewußt. Diese Verflechtung hatte sich allerdings erst im Laufe der Zeit ergeben. Der Druck, den die jährlich nach Berlin ziehenden Menschenmassen auf den Wohnungsmarkt ausübten, brachte die bestehende Praxis von älteren Institutionen wie der Mietsteuer und des Armenwesens überhaupt erst in ein ineinandergreifendes Verhältnis. War die Wohnungsnot einerseits ein Kostenfaktor des Armenbudgets, so fungierte sie andererseits über die Mietsteuer als gewinnbringender Faktor auf der Einnahmenseite der Stadtverwaltung. Zunächst weiter zum Kostenfaktor: Zwischen den Extra-Unterstützungen der Armenkommissionen und spekulativen Gewinnen privater Hauseigentümer auf dem Wohnungsmarkt bestand ein Zusammenhang. Die Extra-Unterstützungen nahmen sprunghaft zu, wobei für die Gründe dieser Zunahme im Statistischen Jahrbuch der Stadt keine Kommentare gegeben werden. Dabei machten die Extra-Unterstützungen etwa dreimal so viel aus wie die laufende Unterstützung. 54 Die Vermutung, daß sich hinter vielen Extra-Unterstützungen Mietunterstützungen verbargen, ist naheliegend. Wurde grundsätzlich stets die „offene" Armenpflege als billigere Alternative der „geschlossenen" vorgezogen, so galt das auch für die Wohnungsfrage. Die Bewilligung von Extra-Mietsunterstützungen war der einzige Weg, um die

Conferenzprotokoll der Armenkommission-Vorsteher-Versammlung, April 1878, in: a. a. O., (1878), S. 188. 5 4 Die Daten sind allerdings schwer zu interpretieren. Die Zahl der Empfänger von Almosen ist mit der Zahl der „Portionen" Extra-Unterstützung vielleicht nicht ohne weiteres vergleichbar, da die Zahl der Portionen möglicherweise nicht mit der Zahl der Empfänger identisch ist. Andererseits sprechen die Prozentangaben für eine solche Identität. Nach ihnen betreffen die Extra-Unterstützungen einen dreimal so großen Anteil (fast 3 Prozent) der Bevölkerung wie die Almosen (1,1 Prozent). Siehe dazu den ANHANG.

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VII. Die „Liberale Ära " der siebziger Jahre

chronisch überbelegten Arbeitshäuser und Obdachlosenasyle nicht noch weiter zu füllen. 55 Damit wird ein Charakteristikum dieser Armenpflege evident, das schon von Anfang an systemimmanent war, obwohl es nie ausdrücklich in den Quellen genannt wird. Bei gleichzeitiger voller Freiheit des Wohnungsmarktes und dem Fehlen jeglichen Mieterschutzes flöß die Armenunterstützung im Endeffekt in die Taschen der Hausbesitzer. Dabei halfen kaum die noch dazu auffällig wenigen und sehr frühen (die erste erschien 1836 im Monatsblatt) 56 Aufforderungen der Armendirektion, die Hausbesitzer in den Armenkommissionen sollten sich an Untersuchungen, die ihre eigenen Mieter betrafen, nicht beteiligen. Daß bei den Hausbesitzern, die in den Kommissionen saßen, indirekt eine Form von Privatinteresse mit im Spiel war, wurde offensichtlich nicht empfunden. Die Extra-Unterstützungen stützten den Wohnungsmarkt, unabhängig davon, welche Armenkommissionsmitglieder sie welchen Armen bewilligt hatten. Sie taten das allerdings in der Form einer personenbezogenen Unterstützung, ähnlich wie das sogenannte Wohngeld in der heutigen Bundesrepublik. 57 Extra-Unterstützungen sorgten also für das Florieren des privaten Wohnungsmarktes und vermehrten gleichzeitig die Zahl der Mieter, indem sie diese und damit die Vermieter einigermaßen absicherten. Dieses Umverteilungssystem verhalf auch Personen zum Status eines Mieters, die sonst in behelfsmäßigen Unterkünften und Baracken vor der Stadt eine Bleibe hätten suchen müssen. Dadurch aber unterstützte das Berliner soziale System zugleich das für Berlin typische Stadtwachstum in der Form individueller, von einzelnen kapitalschwachen Bauherrn erbauter Mietshäuser, und hielt die Ausbreitung der sogenannten Barackien in Grenzen - dort wohnten offensichtlich diejenigen, die noch nicht lange genug in der Stadt lebten, um Unterstützung zu erhalten. Das Berliner System wirkte also marktkonsolidierend und zivilisationsfördernd zugleich und trug dazu bei,

" Dieser Weg wurde hin und wieder ausdrücklich bei den Monatskonferenzen der Armenkommissionsvorsteher empfohlen. Siehe unten, ZEHNTES KAPITEL. 56 Monatsblatt, (1836), H. 11, S. 142. 5 7 Vgl. Walther Prigge/Wilfried Kaib (Hrsg.), Sozialer Wohnungsbau im internationalen Vergleich, Frankfurt/M. 1988. Das „Wohngeld" als „personenbezogene" Form der Unterstützung gilt danach heute als billigere Alternative zur „objektbezogenen" Unterstützung, also zur Finanzierung von sozialem Wohnungsbau.

Wohnungsmarkt

und soziales System

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daß Jahr für Jahr für Tausende neu einziehender Einwohner Wohnungen erbaut wurden. Der Wohnungsmarkt war allerdings nicht nur über die ExtraUnterstützungen mit dem System der städtischen Armenkommissionen strukturell verbunden; vielmehr hatten über die Mietsteuer alle zur Miete wohnenden Einwohner damit zu tun. Wer nicht unterhalb der Einkommensgrenze lag, so daß er davon befreit war beziehungsweise sogar Extra-Unterstützung oder laufende Unterstützung erhielt, mußte mit der Bezahlung der Miete eine Mietsteuer an die Stadtkasse entrichten. Die Haus- und Mietsteuer wurde 1815 durch den Staat in Berlin eingeführt. Diese Steuer beruhte auf dem Servis- und Einquartierungswesen der Vergangenheit. Dem in der Stadt untergebrachten, nicht kasernierten Militär hatten alle Einwohner, nicht nur die Bürger, Quartier zu gewähren oder statt dessen den sogenannten Servis zu zahlen. Ursprünglich ging diese Institution auf Friedrich Wilhelm I. zurück. 58 Das Servis- und Einquartierungswesen hatte 1817 die Kommune übernommen, nachdem es schon zwei Jahre zuvor durch Kabinettsordre neu geregelt worden war. Es legte die Einführung erheblich höherer Steuersätze fest und befreite die Einwohner dafür von der Einquartierungsbürde. Verwaltet und kassiert wurde die Steuer von der Servis- und Einquartierungsdeputation, die sich, ähnlich wie die Armendirektion, durch ein ganzes System über die Stadt verteilter ehrenamtlicher Mitarbeiter, die 213 Servisverordneten, bei der Einschätzung und der Eintreibung der Steuer in den Stadtbezirken helfen ließ. Die Haussteuer betrug dreieinfünftel Prozent des Mietertrags, die Mietsteuer sechszweidrittel Prozent des Mietwerts. Diese Steuern spielten durchgehend eine wichtige Rolle im städtischen Haushalt. Sie erbrachten ungefähr 40 Prozent der Einnahmen, zusammen mit der Einkommensteuer beliefen sie sich in den achtziger Jahren auf fünf Sechstel des Etats. 58

Gerhard Kutzsch, Verwaltung und Selbstverwaltung in Berlin unter der ersten Städteordnung, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte, Bd. 13 (1962), S. 31. Vgl. Ernst Bruch, Über die Haus- und Miethssteuer in Berlin, in: Berlin und seine Entwicklung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik, Berlin 1869, S. 233; Edgar Loening, Die Verwaltung der Stadt Berlin, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 55 (1885), S. 511 ff., Daten auf S. 555 und 558. Die Mietsteuer süeg zwischen 1871 und 1876 von 5 auf fast 10 Mill. M.; von 1882 bis 1894 stieg sie langsam weiter auf 13 Mill. M. Vgl. Ernst Kaeber, Die Epochen der Finanzpolitik Berlins 1808-1914, in:

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VII. Die „Liberale Ära " der siebziger Jahre

Indem die Mietsteuer einen festen Prozentsatz der Miete betrug, verdiente die Stadtkasse direkt proportional an den kontinuierlich steigenden Mieten auf dem Wohnungsmarkt. Diese für die Stadt wichtige Steuereinnahme fiel erst gegen Ende des Jahrhunderts im Zuge der Miquelschen Steuerreform (1893) 6 0 zugunsten einer einheitlichen Grundsteuer weg, die zusammen mit der Einkommensteuer die größte Einnahmequelle der Stadt bis 1914 darstellte. 61 Tatsache ist, daß im 19. Jahrhundert die Ausgaben für das Armenwesen wesentlich niedriger als der Ertrag aus der Mietsteuer waren. Man vergleiche jeweils für die Jahre 1830, 1840, 1850 und I860 den Gesamtaufwand für das Armenwesen: 113 100, 239 500, 597 300, 697 500 Thlr., und den Ertrag aus Haus- und Mietsteuer: 359 000, 468 600, 650 000, 1 108 300 Thlr. 62 Daraus folgt, daß die Einkünfte aus der Mietsteuer das Armenwesen finanzierten und daß die Mietsteuer die Funktion eines Ausgleichsfaktors im sozialen Leben und insbesondere auf dem Wohnungsmarkt besaß. Dabei kam es allerdings zu einer strukturellen Ungerechtigkeit. Der unfreiwillige Beitrag zum Armenbudget ließ die realen Einkommensverhältnisse unberücksichtigt. Dadurch belastete er gerade die am meisten, die eigentlich selber kurz vor der Schwelle der Befreiung von der Steuer standen. Berücksichtigt man nämlich den Umstand, daß bei niedrigen Einkommen im Verhältnis mehr für die Miete ausgegeben wird als bei höheren, 63 lassen die Anschuldigungen Bismarcks (siehe unten), die städtischen Liberalen bürdeten ders., Beiträge zur Berliner Geschichte ( - Veröffentlichungen der Historische Kommission zu Berlin, Bd. 14), Berlin 1964, S. 190 ff., insbes. S. 195, 199 und 202. 6 0 Wolfgang Krabbe, Die Deutsche Stadt im 19- und 20. Jahrhundert, Göttingen 1989, S. 159 f. ^ Konrad Kettig, Berlin im 19. und 20. Jahrhundert 1806-1945, in: Heimatchronik Berlin, Köln 1962, S. 347-460, insbes. S. 426. E. Loening, Die Verwaltung... ® Ein Umstand, der schon damals bekannt war: Vgl. H. Schwabe, Das Verhältniß von Miethe und Einkommen in Berlin, in: Berlin und seine Entwicklung. GemeindeKalender und städtisches Jahrbuch für 1868, Berlin 1869, S. 264-267. Das „Schwabesche Gesetz" muß allerdings relativiert werden, vgl. Clemens Wischermann, Wohnungsmarkt, Wohnungsversorgung und Wohnmobilität in deutschen Großstädten 1870-1913, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Stadtwachstum, Industrialisierung, Sozialer Wandel. Beiträge zur Erforschung der Urbanisierung im 19- und 20. Jahrhundert, Berlin 1986, S. 101 ff., insbes. S. 123.

Wohnungsmarkt und soziales System

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die Kosten für ihr Armenwesen den schwächeren Bevölkerungsklassen auf, als durchaus berechtigt erscheinen. Man wird sonst aber vergeblich in den damaligen Diskussionen Hinweise auf diese Eigenschaften des sozialen Systems suchen. Es handelte sich in der Tat um eine feine Verzahnung zwischen an sich einander fremden Einrichtungen, die niemand vorausgesehen hatte. Das Erbe der Servistradition und das Armenwesen griffen um so genauer ineinander, je mehr die Mietausgaben allgemein an Bedeutung gewannen. Das Prinzip des von der Gesamtheit der Mietsteuerpflichtigen finanzierten „Wohngeldes" ergab sich automatisch. Die bauliche Realität Berlins bildete die konkrete Folge dieser Verzahnung. Die Mietshäuser waren der Ort der sozialen Mischung, also gewissermaßen die gebaute Bedingung der Funktionsfähigkeit des ganzen Systems überhaupt und zugleich dessen Resultat; die Mieterträge, die zum Teil auch dank Extra-Unterstützungen bezahlt wurden, stellten die Altersversicherung der Mittelklasse dar, das heißt derjenigen Schicht, die das System ehrenamtlich verwaltete, also dessen verkappte Belohnung. So fungierte das Armenwesen nicht nur als Garantie für die Versorgung der Armen im Alter, sondern auch über die Extra-Unterstützungen, die in die Mieten flössen, als Garantie für die Altersrente des Kleinbürgertums, das traditionell für diesen Zweck in Mietshäusern seine Ersparnisse investierte - solange es den einzelnen gelang, die riskante Operation des Hauserwerbs auf Kredit finanziell durchzuhalten. Der Teil der Miete, der in Form von Mietsteuer an die Stadt bezahlt wurde, flöß wieder in die Armenkasse, womit der Zyklus aufs neue begann. Die Freiheit des Wohnungsmarktes war unantastbarer Bestandteil des gesamten sozialen ehrenamtlichen Umverteilungssystems der Stadtverwaltung. Die Liberalen in der Stadtregierung waren sich aber der Möglichkeiten dieses komplizierten Netzes, das einem Mechanismus zur gleichzeitigen Kontrolle der soziale Probleme, der Wohnungsfrage und der Stadtentwicklung gleichkam, so wenig bewußt, daß sie, wie noch zu zeigen sein wird, nicht in der Lage waren, es ideologisch gegen die Konservativen zu verteidigen. Die Konservativen sahen sehr genau die Schattenseiten des Systems. Die aufgrund der ständigen Zuwanderung steigenden Mieten vermehrten einerseits die Einkünfte der Stadt aus der Mietsteuer - abzüglich zunehmender Extra-Unterstützungen - , bedrohten aber andererseits das auf Dezentralisierung - Hilfe in Nachbarschaftseinheiten - beruhende soziale System der Armenkommissionen.

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VII. Die „Liberale Ära " der siebziger Jahre

Durch den Modernisierungsschub der „Liberalen Ära" wurde das Prinzip der alten Selbstverwaltung mit seinem Berliner Fürsorgesystem unaufhaltsam demontiert und zerfiel schließlich in einer Gesellschaft, die sich zunehmend unpersönlich organisierte.

ACHTES

KAPITEL

Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit Die Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse Das Jahr 1878 markiert Bismarcks Kursänderung in der deutschen Innenpolitik. Wenige Monate, bevor er mit dem Sozialistengesetz die Sozialdemokraten zu Staatsfeinden erklärte, beendete er die Koalition mit den Liberalen. Der letzte liberale Minister, der noch 1878 von Bismarck in das Kabinett berufen wurde, war der gerade amtierende Oberbürgermeister Berlins Arthur Hobrecht. Bismarck bot ihm den Posten eines Wirtschaftsministers an, den er allerdings mit der endgültigen antiliberalen Wende nach wenigen Monaten wieder verlor. Die Stadtverwaltung büßte ihren fähigsten Kopf ein, ohne daß dieses Opfer das Regierungsbündnis mit den Liberalen retten konnte. Die Stadt Berlin, Hauptstadt und Regierungssitz einer konservativen Regierung, blieb auch nach der Wendung gegen Freihandel und Liberalismus auf der Ebene der Reichsregierung eine liberal regierte Verwaltungseinheit. Hatte Bismarck schon zuvor seine Abneigung gegen die Großstadt geäußert, so wurden seine Attacken jetzt viel aggressiver und gewichtiger, darauf gerichtet, das Ansehen des Liberalismus zu zerstören. Beobachtet man die konservative Sozialpolitik der achtziger Jahre aus dieser Perspektive, so wird ihre Motivation klar, die lokale Sozialpolitik der liberal regierten Städte in der Öffentlichkeit in Mißkredit zu bringen. Der Mythos vom fürsorglichen „Vater Staat" wird dem Mythos vom liberalen Wirtschaftsegoismus entgegengesetzt. Die Arbeiterversicherungsgesetzgebung der achtziger Jahre stellte eine Innovation dar, die Merkmale der konservativen sozialpolitischen Strategien und liberale Prinzipien zu einer neuen Synthese verband. Für Bismarck war sie zugleich ein gegen die Liberalen gerichtetes Politikum, ein Schlag gegen das städtische Armenwesen der Honoratioren.

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Vili. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

Die Sozialgesetzgebung bedeutete für den Liberalismus ein zweites 1866. Der liberale sozialpolitische Gesichtspunkt, die Arbeiterschaft von der Notwendigkeit der Vorsorge zu überzeugen, ging verloren, die liberale wirtschaftliche Verflechtung zwischen freiem Wohnungsmarkt und Umverteilungssystem wurde von den Liberalen selber verkannt und nicht konsequent verteidigt. Die Polemiken der Konservativen gegen die Mietsteuer stellten ihre Abrechnung mit den Liberalen dar und beendeten damit die seit Jahrzehnten sich abzeichnende Konfrontation zwischen zwei sozialpolitischen Systemen. Bevor wir uns damit näher beschäftigen, soll hier kurz die Vorgeschichte der konservativen Sozialpolitik und der praktischen Hilfsorganisationen auf freiwilliger beziehungsweise Zwangsbasis skizziert werden.

Erster Exkurs: Konservative Sozialpolitik und „Staatssozialismus" 1853-1890 Zahlreiche Motive der Sozialgesetzgebung Bismarcks reichen bis in die vierziger Jahre des Jahrhunderts zurück. Die pietistisch paternalistische Haltung Friedrich Wilhelms IV. und seiner Umgebung erging sich keineswegs nur in verschwommenen Plänen zu einer feudalen Reform der Gesellschaft durch die Kirche, sondern brachte auch, beginnend mit der Gewerbeordnung von 1845, eine eingreifende und innovative Wirtschafts- und Sozialpolitik hervor, die wenige Jahre vorher noch undenkbar gewesen wäre. Die neue Gewerbeordnung war von Regierungsseite her das erste Signal dafür, daß der Staat gegenüber dem Wirtschaftsliberalismus auf Distanz ging. Zum Teil unter Aufgabe der 1810 eingeführten Gewerbefreiheit wurden erneut Innungen eingerichtet, in die man nach einer bestandenen praktischen Prüfung vor dem Innungsmeister aufgenommen wurde die Mitgliedschaft war Bedingung für die Annahme von Lehrlingen. Das Gesetz regte die Errichtung von Beistandskassen an, sei es innerhalb der Innungen, sei es auf genossenschaftlicher Basis. Auf der Grundlage dieses Gesetzes nahmen überall in Preußen die ersten Vorsorge- und Krankenkassen um ein Vielfaches zu, wie für Berlin, wo der Magistrat sie organisierte, bereits ausgeführt wurde. Es entstand ein System von Kassen, die das Hauptprinzip der späteren Reichskrankenversicherung tendenziell vorwegnahmen. Durch Zwangsbeiträge sollten die Versicherten selbst und die Arbeitgeber

Erster Exkurs: Konservative Sozialpolitik

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zur Finanzierung der Kassen beitragen. Die Debatten im Landtag, die sich an den sozialpolitischen Regierungsvorlagen der Reaktionszeit entzündeten, drehten sich im wesentlichen bereits um dieselben Motive wie die Reichstagsdebatten der achtziger Jahre über die Gesetzentwürfe der Bismarckschen Sozialpolitik.1 Die Ursprünge der Pflichtversicherungen standen in engem Zusammenhang mit dem zunehmend als unzulänglich empfundenen Armenwesen. Das Armenwesen und das Versicherungswesen können nicht als zwei grundverschiedene und voneinander unabhängige Systeme betrachtet werden. Es ging sowohl in der sozialpolitischen Gesetzgebung der Reaktionszeit als auch bei der Bismarckschen Sozialgesetzgebung immer darum, für die soziale Frage durch eine Art indirekter Reform der Armenfürsorge eine Lösung zu finden. Dem Armenwesen sollten in dem Maße potentielle Klienten genommen werden, in dem immer weitere Kategorien von Arbeitern dem Versicherungszwang unterlagen. Da immer nur eine Teillösung gefunden wurde, arbeiteten die Konservativen seit 1845 ständig weiter an dieser Konstruktion. Die Bismarckschen Arbeiterversicherungen sind als Krönung dieser Versuche anzusehen. Bei den entsprechend der Gewerbeordnung von 1845 gegründeten Kassen wie später beim Arbeiterversicherungsgesetz Bismarcks versprach sich die Regierung eine Entlastung der öffentlichen Armenkassen und einen Wandel im Verhalten der arbeitenden Bevölkerung „in wirtschaftlicher und sittlicher Beziehung".2 Die Gesetzgebung der Reaktionszeit fungierte als Experiment für die Bismarckschen sozialpolitischen Gesetze. Die Schlüsselvorstellungen des Konservativismus - der Paternalismus der „sozialen Monarchie" und die Pläne für eine korporative Repräsentanz der Gesellschaft - blieben weit über die Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. hinaus für die Sozialpolitik der Konservativen verbindlich. Der sich in vierzig Jahren durchsetzenden allgemeinen Versicherungspflicht entspricht eine Mentalitätsänderung, die man „Pflicht zur 1

H. Volkmann, Die Arbeiterfrage..., S. 63 f. Wilfried Reininghaus, Das erste staatlich beaufsichtigte System von Krankenkassen: Preußen 1845-1869- Das Beispiel der Regierungsbezirke Arnsberg und Minden, in: Zeitschrift für Sozialreform, 29. Jg. (1983), H. 5/6, S. 271 ff., Zitat S. 273. Beim Unterstützungskassengesetz von 1854 wurden als Begründung die steigenden Kosten der Armenfürsorge zum ersten Mal ausdrücklich angesprochen. Vgl. H. Volkmann, Die Arbeiterfrage..., S. 65. 2

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Vili. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

Gesundheit" bei den arbeitenden Menschen nennen könnte. Deshalb waren zunächst nur die Arbeiter selbst gezwungen, sich zu versichern, nicht ihre nicht direkt an der Produktion beteiligten Familien. In dem Maße, in dem die Gesunderhaltung kein privates Problem mehr darstellte, erschien es zunehmend ungerecht, die Kosten dafür von der Gesamtheit der Gesellschaft, also durch das Armenwesen tragen zu lassen. Es handelte sich nur scheinbar um ein Paradox: Mit der Idee des Gemeinsinns ging auch die Vorstellung einer einheitlichen Gesellschaft verloren, und Teile davon weigerten sich zunehmend, für die Behandlungskosten der Arbeiter aufzukommen, denn deren wieder hergestellter Gesundheitszustand kam dem Fabrikbesitzer zugute. Die soziale Gesetzgebung Bismarcks zielte auf die Reduzierung der Kosten des Armenwesens sowie auf die Einschränkung der lokalen Macht der Honoratioren und des liberalen Regiments in den Stadtparlamenten ab. In dieser Gesetzgebung wurde die Selbsthilfeideologie der Liberalen in eine neue, antiliberale Konstruktion überführt: Das Vorsorgeverhalten galt dabei nicht mehr als Vorbild, von dem man die arbeitende Bevölkerung überzeugen mußte, sondern als vom Staat vorgesehener Zwang, der bald nicht mehr vom Status des Lohnabhängigen zu trennen war. Bereits in den Parlamentsdebatten über die Gesetze von 1853 Verbot der Kinderarbeit in den Fabriken - und 1854 - Einrichtung von gewerblichen Unterstützungskassen - gerieten Konservative und Liberale offen miteinander in Konflikt. Hermann Wagener, langjähriger Mitarbeiter Bismarcks und Vermittler der Ideen der vierziger Jahre, 3 entgegnete in einer Parlamentsdebatte auf die Klagen der Liberalen, jeder Vorsorgezwang sei „Kommunismus": „Es hätte noch kein

3 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte..., S. 440. Wagener kam durch Ludwig von Gerlach mit den pietistischen Strömungen der Erweckungsbewegung in Berührung. 1848 trat er der Sekte der Irvingianer bei, die sich auf den wichtigsten Mitarbeiter von Thomas Chalmers beriefen. So teilte er einerseits die Überzeugungen Friedrich Wilhelms IV. von der Möglichkeit einer Erneuerung von Kirche und Gesellschaft durch das Diakonat, wurde durch Irving, der im Unterschied zu Chalmers zu einer Art Staatssozialismus tendierte, aber vor allem politisch beeinflußt. Über Otto von Gerlach lernte Wagener um 1846 Bismarck kennen. Als 1848 die Neue Preußische Zeitung („Kreuzzeitung") gegründet wurde, wurde er der Redakteur des Blattes. 1861, als sich die Auseinandersetzung mit den Liberalen zuzuspitzen begann, gründete er den „Preußischen Volksverein" und eine neue Zeitung, das Preußische Volksblatt, durch die er die Handwerker gegen die Werbung Schulze-Delitzschs zu mobilisieren

Erster Exkurs: Konservative Sozialpolitik

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Kommunismus daran gedacht, den Arbeitern die Bedingung zu stellen, daß sie selbst die Hauptträger der Armenpflege sein müßten."4 Das verdeutlicht die damaligen Vorstellungen des Ineinandergreifens von reformbedürftigem Armenwesen und neu zu erfindenden Strategien der Zwangsvorsorge und erklärt das Ziel, das ein Teil der Konservativen durch Unterstützungskassen und Versicherungszwang anvisierte: die öffentlichen Ausgaben für die Armenfürsorge zu senken und die Arbeiter durch eine Sozialpolitik, die sie zum Teil selber bezahlen mußten, dem Staat näherzubringen - das gleiche Ziel, das die Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre verfolgte. Trotz der anfänglichen Erfolge Schulze-Delitzschs, der einen Weg zur Vermeidung der Proletarisierung zu weisen schien, verlor der Liberalismus Ende der sechziger Jahre unter den Arbeitern in dem Maße an Boden, wie sich Handwerk und Fabrikarbeit auseinanderentwickelten. Nicht nur der Wandel in der sozialen Zusammensetzung der Arbeiterschaft entfremdete sie der liberalen Partei, auch die Haltung der Liberalen zur Frage des Wahlrechts stellte einen offenen Konflikt dar, den Wagener auszunutzen suchte. Seine Strategie wurde von den Liberalen klar erkannt und gefürchtet. Karl Twesten zum Beispiel beschuldigte Wagener während einer parlamentarischen Debatte im Februar 1865, „er wolle die Liberalen zwischen Reaktion und viertem Stand zerquetschen".5 Wageners Plan, den Liberalismus zu bekämpfen, indem man sich das politische Gewicht des vierten Standes durch eine staatliche Sozialpolitik zu sichern versuchte, war deutlich: Er forderte Bismarck auf, die Übereinkunft mit den Liberalen durch einen Pakt mit einem „materiell befriedeten Volk"6 zu ersetzen.

versuchte. Vgl. Wolfgang Seile, Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Sozialismus, Tübingen 1958. 4 Karl Edmund Femerling, Die Stellung der Konservativen Partei zur gewerblichen Arbeiterfrage in derZeit von 1848 bis 1880; Diss. Halle 1927, S. 79. 5 W. Seile, Hermann Wagener..., S. 98. 6 A. a. O., S. 112. Wageners Einfluß endete 1873 jäh, als nicht zufállig die Liberalen einen Skandal um seine Beteiligung an privaten Spekulationen entfachten - er hatte sich geheime Dienstinformationen über den Verlauf geplanter Eisenbahnen zunutze gemacht. Bismarck verteidigte ihn im Parlament, ging aber bald auf Abstand zu dem ruinierten Mann, der ihn mit seinen Geldproblemen verfolgte. Wagener veröffentlichte ein Buch über Friedrich Wilhelm IV., in dem er die Notwendigkeit einer Rückkehr zu den Vorstellungen der vierziger Jahre vertrat, vgl. Hermann Wagener, Die Politik Friedrich Wilhelms IV., Berlin 1883.

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Vili. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

Zweiter Exkurs: Krankenkassen und andere Hilfsorganisationen in Berlin Die Krankenkassen bauten auf einer nie völlig verlorengegangenen handwerklichen Tradition auf, die in Berlin fast im gesamten Jahrhundert aufrechterhalten worden war. Trotz Einführung der Gewerbefreiheit (1810) hatten einige Überreste der Zünfte als freie Organisationen weiterexistiert. Diese dienten für ihre Mitglieder als Hilfskassen im Falle von Krankheit u n d Tod. Noch 1837 veröffentlichte das Monatsblatt der Armendirektion ein reiches „alphabetisches Verzeichnis der zur Zeit noch existierenden und unter Aufsicht des Magistrats stehenden zünftigen Innungen, Gewerke u n d Gehülfen-Verbindungen, mit Kranken- und Sterbekasse für Meister bzw. Gesellen und Verwalter derselben". 7 Hier liest man zum Beispiel, daß bei den Bäckern nur für Gesellen Unterstützungen vorgesehen waren und daß die Verwaltung dem jeweiligen „Lademeister" oblag, damals ein in der Luisenstadt ansässiger Bäkkermeister Krause (Alte Jakobstraße 19). Neben solchen Einrichtungen, die noch der ständischen Tradition angehörten, bildeten sich, wie oben gezeigt wurde, seit Mitte der dreißiger Jahre Frauen- und Männer-Kranken-Vereine, die sich vornahmen, arme Kranke zu besuchen. Dabei m u ß man zwei völlig verschiedene Typen unterscheiden. Einige Vereine waren horizontal organisiert, das heißt, sie verpflichteten sich auch zu gegenseitiger Hilfe, wie man aus der an die Armenkommissionen gerichteten Aufforderung der Armendirektion, Arbeiter zum Eintritt in solche Vereinigungen zu bewegen, entnehmen kann; 8 andere, wie der FrauenKranken-Verein von Goßner, hatten das Ziel, höhergestellte Personen zu vereinigen, um arme Kranke zu pflegen, deren Selbstorganisation nicht zur Debatte stand. Solche Vereine entstanden in christlich beziehungsweise pietistisch engagierten Kreisen. Das erste Modell schien einen gewissen Erfolg zu haben, wenn 1838 eine „Revier-Eintheilung bei dem hiesigen christlichen Männer-KrankenVerein"9, in dessen Vorstand unter anderen Bachmann und einer der Brüder Gerlach saßen, durch den Magistrat vorgenommen wurde.

7 8 9

Monatsblatt,

Nr. 3 (1837), S. 24.

Ebda. Monatsblatt,

Nr. 2 (1838), S. 8.

Zweiter Exkurs: Krankenkassen

249

Hilfsorganisationen, und seien sie auch Reste aus der Zeit vor den preußischen Reformen, fehlten also nie völlig. Sie waren klein und nach Berufen organisiert, und sie dienten einem geringen Prozentsatz der Handwerker. Die Hilfskassen, die seit Mitte der vierziger Jahre gegründet wurden, knüpften in Berlin direkt an diese vom Magistrat beaufsichtigten traditionellen Hilfsorganisationen an. In der Folge der Gewerbeordnung von 1845 bildete sich in Berlin 1846 eine Vereinigung von auf Gegenseitigkeit beruhenden Hilfskassen für Gesellen, Gehilfen, Fabrikarbeiter und Fabrikarbeiterinnen zur gemeinsamen Krankenpflege ihrer Mitglieder, die sich „Gewerks-Krankenverein" nannte. Dieser Verein nahm die Reste der verbliebenen zünftlerischen Kassen in sich auf: „Da ein Theil der Mitglieder jener Vereinigung bei den unter Leitung des hiesigen Magistrates stehenden Innungskassen verblieben war, ... so arbeitete der Magistrat ... erfolgreich auf eine Kräftigung dieses Vereines hin."10 Der Verein wurde der Obhut der Magistratsmitglieder Risch und Koblanck unterstellt, wie oben schon als praktische Folge der Idee des Sparens und der Assoziation erwähnt wurde. Durch Ortsstatut wurde in Berlin 1846 der Kassenzwang für einige Arbeiterkategorien eingeführt. Danach mußte sich in diesem Verein jeder Geselle und Gehilfe einschreiben, der nicht schon anderweitig versichert war. Der Gewerkskrankenverein hatte anfangs unter der Konkurrenz des von Stephan Born gegründeten Gesundheitspflegevereins des Berliner Bezirks der Arbeiterverbrüderung zu leiden. Letzterer wurde am 1. Mai 1849 von den Gesellenkassen der Maler, der Messerschmiede, der Instrumentenmacher, der Vergolder, der Goldarbeiter und der Uhrmacher gegründet und begann seine Arbeit mit 327 Mitgliedern. Im September desselben Jahres hatte sich die Zahl der Mitglieder auf 5110 aus 19 Gewerken vermehrt. Als der Polizeipräsident von Hinckeldey 1853 diesen Verein verbot, handelte er nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch, um den öffentlichen „Zwangskassen zum Siege zu verhelfen",11 wie 1875 polemisch unterstellt wurde. Zuletzt hatte der Verein fast 10 000 Mitglieder, die nach der 10

Die Fürsorge für erkrankte Arbeiter, in: Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege und für den naturwissenschaftlichen Unterricht, Berlin 1886, S. 386. 11 Heinrich Bernhard Oppenheim, Die Hilfs- und Versicherungskassen der arbeitenden Klassen, Berlin 1875, S. 33.

250

Vili. Die Institutionalisierung

der sozialen

Sicherheit

Auflösung ihres Vereins ihren monatlichen Beitrag wahrscheinlich an den Gewerkskrankenverein zahlten. Neben dem Gewerkskrankenverein wurden auch andere ähnliche Kassen gegründet. 12 So wurde zum Beispiel am 17. Januar 1849 eine „Kranken- und Sterbekasse hiesiger Fabrikarbeiter" ins Leben gerufen, die 1853 ihren Namen in „Kranken-, Sterbe- und Unterstützungskasse für Arbeiter in Zeugdruckereien und Färbereien" und 1858 in „Allgemeine Fabrikarbeiter-Kranken-, Sterbe- und Unterstützungskasse" änderte, und von 1853 an gab es die „Meyersche Kranken-, Sterbe- und Unterstützungskasse" für weibliche Arbeitskräfte. In beiden Fällen erfolgte die ärztliche Versorgung durch den Gewerks-Krankenverein, so daß anzunehmen ist, daß dieser in der Praxis die Zusammenfasssung aller oder der meisten kleineren Kassen darstellte.13 Dem Modell der Hausbesuche der Armenkommissionen folgend, hatten die Ausschußmitglieder der eben genannten Männerkrankenkasse die Verpflichtung, „den erkrankten Mitgliedern das Hauskrankengeld in die Wohnung zu bringen und dabei eine Kontrolle auszuüben. Diese Herren führten den Titel ,Pflegeväter'. Dieser Zahlungsmodus wurde 1875 eingestellt."14 1884 wurden die für Männer und Frauen getrennten Kassen unter dem Namen „Allgemeine Ortskrankenkasse gewerblicher Arbeiter und Arbeiterinnen" zusammengefaßt. Die Zahl der Mitglieder betrug damals 51 355. Wieweit daneben der Gewerkskrankenverein weiterbestand, bleibt unklar, immerhin gibt es Anzeichen dafür. Für Handwerker und Arbeiter, die regelmäßig in einem Arbeitsverhältnis standen, gab es also während des ganzen Jahrhunderts und vermehrt nach 1845 die Möglichkeit, sich in Hilfskassen zu organisieren, um sich durch regelmäßige Beiträge im Fall von Krankheit oder Tod einigermaßen zu schützen. Aber solche Organisationen halfen gerade dann nicht mehr, wenn man sie am meisten brauchte. Verlor der Arbeiter seine Arbeit und konnte er die Beiträge für mehr als drei Wochen hintereinander nicht bezahlen, war er aus der Kasse ausgeschlossen und verloren waren auch seine bis dahin bezahlten Beiträ12

Ute Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770-1880, Göttingen 1984, S. 310 f. 13 Urkunde zur Grundsteinlegung für das Verwaltungsgebäude der allgemeinen Ortskrankenkasse der Stadt Berlin, am 18. April 1931, Archiv der AOK Berlin. 14 A. a. O., S. 4.

Zweiter Exkurs: Krankenkassen

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ge. Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner hätten sich ohnehin nie leisten können, Mitglieder in solchen Kassen zu sein, aber auch für die bessergestellten Fabrikarbeiter bildeten sie keine Garantie für Notzeiten. Es war für Gesellen sowie für Arbeiter und ihre Familien aus finanziellen Gründen naheliegend, möglichst keiner Kasse anzugehören, um den vollen Lohn zu erhalten und bei Ausbruch einer Krankheit zur Armenkommission zu gehen. Die Abneigung der Arbeitenden gegenüber gewissen regelmäßigen Lohnabzügen im Hinblick auf einen höchst ungewissen Notfall dokumentierte mit konkreten Beispielen noch in den achtziger Jahren Lujo Brentano.15 Das gleiche wurde für die Regierungsbezirke Arnsberg und Minden behauptet: „Die Arbeiter hielten in den fünfziger Jahren Spar- und Pensionskassen, die ihren Lohn reduzierten, für abwegig." Ähnlich mußten sie über die Krankenkassen denken, die ihnen Kosten und keine Sicherheit brachten. Ohne allgemeinen Kassenzwang alle Arbeiter zum Eintritt in eine Krankenkasse zu bewegen, war sicherlich schwer. Um so schwerer, wenn dazu die billigere Alternative der Armenkommission bestand. Oberbürgermeister Seydel behauptete also seinerzeit wahrscheinlich nicht zu Unrecht, daß die Bereitschaft der Armenkommissionen zur Hilfeleistung ein wesentlicher Grund für viele Arbeiter sei, solchen Kassen fernzubleiben. Seydel war als Liberaler gegen die Einführung des Kassenzwangs und verfolgte eine Strategie, die den gesetzlichen Kassenzwang dadurch unnötig machen sollte, daß alle Arbeiter, die es sich leisten konnten, zum Eintritt in Krankenkassen und ähnliche Organisationen veranlaßt wurden, indem man ihnen die Alternative der Armenkommission nahm oder unsicher machte. Der Vorschlag Seydels fand aber, wie schon gezeigt, selbst in den Reihen der Fortschrittler keine Zustimmung. Die Maßnahme wäre unter den damaligen Bedingungen zu unpopulär gewesen. 17 Da die Liberalen in jedem staatlichen Zwang eine absolutistisch gefärbte Einmischung in das freie Spiel der Kräfte sahen, kamen sie aus diesem Engpaß nicht heraus. Eine Entlastung des Armenwesens war durch die Überredung breiter Massen zu Selbsthilfe und Sparen sowie durch ihren freiwilligen Eintritt in Hilfskassen nicht zu errei15 16 17

Lujo Brentano, Der Arbeiter-Versicherungszwang, Berlin 1881, S. 64-66. W. Reininghaus, Das erste ... System..., S. 279. Siehe SECHSTES KAPIIEL, A N M . 4 3 .

252

Vili. Die Institutionalisierung

der sozialen

Sicherheit

chen. So waren sie nicht imstande, der Entwicklung zum Kassenzwang einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Die wiederholte liberale Kritik am Zwangsprinzip - in den Worten Treitschkes „die Anmaßung" der Regierung, „irdische Vorsehung" für die Arbeiter sein zu wollen 18 - konnte diese Entwicklung keineswegs aufhalten. Hatte die Gewerbeordnung von 1845 es den Kommunen überlassen, sich durch Ortsstatut für einen Zwang zum Eintritt in die Unterstützungskassen zu entscheiden, so zeigte das Unterstützungskassengesetz vom 3. April 1854 die Absicht der Regierung, den staatlichen Zwang in stärkerem Maße zu einem Mittel der Sozialpolitik zu machen. 19 Mit der Gewerbeordnung von 1869 wurde die Verpflichtung für Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter aufgehoben, falls sie nachweisen konnten, einer anderen Kranken-, Hilfs- oder Sterbekasse anzugehören. Diese Gewerbeordnung, in der Zeit des Bündnisses der Regierung mit den Liberalen entstanden, erkannte die freien Hilfskassen an, nicht zuletzt, um auch die Hirsch-Dunckerschen Kassen, von liberalen Mitstreitern Schulze-Delitzschs gegründet, am Leben zu erhalten.20 Längst nicht alle Arbeiter unterlagen in der Zeit Seydels trotz der viielfachen Kassengründungen dem Kassenzwang. Hier brachten erst die Sozialversicherungen der achtziger Jahre einen bedeutenden Sprung nach vorn. Vergleicht man die Zahl der Mitglieder des Berliner Gewerks-Krankenvereins 1883 und 1884 - 92 531 und 175 539 21 bemerkt man sofort die Auswirkung des Krankenversicherungsgesetzes von 1883, das den Kassenzwang erheblich über den Kreis derjenigen Kategorien hinaus erweiterte, die bereits im Berliner Ortsstatut von 1850 und 1854 durch das Unterstützungskassengesetz vorgesehen waren. Die Gründung der auf die Gewerbeordnung von 1845 zurückgehenden Hilfskassen basierte auf dem Berufsprinzip und nicht auf geographischen Einteilungen wie bei den Armenkommissionen. Die Tradition der zünftlerischen Hilfsorganisationen war nicht so weit in Vergessenheit geraten, daß sie die neuen Gewerkshilfsorganisationen nicht beeinflußt hätte. So war der Berliner GewerkskrankenverHeinrich von Treitschke, Der Sozialismus und seine Gönner, Berlin 1875, S. 99· ^ H. Volkmann, Die Arbeiterfrage..., S. 63 f. 2 0 F. Tennstedt, Die Errichtung..., S. 299. 21 Die Fürsorge..., S. 389. 18

Zweiter Exkurs:

Krankenkassen

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ein, was die Verwaltung anbetraf, nach Berufen vom Bäcker zum Zinngießer in 65 verschiedene Kassen untergliedert. Was die Leistungen für die Versicherten anging, wählte der Magistrat jedoch eine räumliche Verteilung in der Stadt nach dem Modell der Stadtbeziehungsweise der Armenkommissionsbezirke.22 Am Anfang hatte der Verein sechs besoldete Ärzte, bald darauf, wie schon erwähnt, 30, auf 30 Bezirke verteilt, und in den achtziger Jahre waren es bereits 85. Die Krankenkassen wurden von der Arbeiterbewegung im allgemeinen ambivalent interpretiert, schwankend - so Ute Frevert „zwischen Lutschbeutel und Gewerkschaftssäule".23 In der Regel gründeten die Arbeiterorganisationen lieber eigene „Hilfskassen", um nicht in die gesetzlichen eintreten zu müssen. Freie Hilfskassengründungen waren auch die Antwort auf die Unzulänglichkeiten des Krankenkassengesetzes von 1884. So gründete ein Zimmermann,24 Mitglied der Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften, 1885 als freie Hilfskasse den „Verein für ärztliche Hilfeleistung". Hier konnten Arbeiter ihre Familienangehörigen gegen Krankheit versichern - im Bismarckschen Krankenversicherungsgesetz waren die Arbeiter zwangsversichert, nicht aber ihre Frauen und Kinder.25 Solche Hilfskassen wurden, wie auch die Krankenkassen nach dem Bismarckschen Gesetz, unter dem „Sozialistengesetz" Sammel22

„Die Mittel der Vereinigung sind sonach koncentriert, ihre Wirksamkeit ist dagegen so sehr lokalisiert, daß keiner dieser Bezirke so groß ist, daß für einen Arbeiter oder eine Arbeiterin der Weg zum Arzte weit ist. Die größte Entfernung mag in besonders ungünstigen Bezirken 15 Minuten betragen; im Durchschnitt beträgt sie die Hälfte dieser Zeit", vgl. a. a. O., S. 388. 23 U. Frevert, Krankheit..., S. 329. 24 Konrad Beck, Vorwärts - Durch Nacht zum licht! Die Vor- und Frühgeschichte der Arbeiter-Samariter-Kolonne Berlin und Umgegend (1884-1910), in: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 22. Jg. (1986), H. 2, S. 168 f. 25 Mit einem monatlichen Beitrag von 25 Pfennigen für die Frau und 10 Pfennigen für jedes Kind konnte in dieser Kasse die eigene Familie versichert werden. Die Leistungen beinhalteten freie Arztwahl und Vergünstigungen bei Medikamenten. Der Verein wurde wenige Monate später unter der Nummer 85 im Verzeichnis der freien Hilfskassen Berlins mit dem Namen „Sanitätsverein der Arbeiter beiderlei Geschlechts in Berlin" eingetragen. Er organisierte auch Abendkurse für Erste Hilfe bei Unglücksfällen, besonders in Baubetrieben, aber auch für Frauen. Aus diesem Verein ging 1888 der Deutsche Samariter-Verein, später Arbeiter-Samariter-Bund, hervor. Ebda.

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Vili. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

punkt der politischen Agitation der Sozialdemokraten.26 Als Massenpartei besetzte die SPD so die Gremien der modernen, für die breiten Massen der Arbeiter zugeschnittenen Versicherungen gegen die Not.27

Bismarck und die „lokale Willkür" Ein Beweggrund von Bismarcks Sozialpolitik war es, bei den Arbeitern Loyalität zu erzeugen. Sie sollten es nicht mehr nötig haben, sich in einer Arbeiterpartei zu organisieren. Ein willkommener Nebenaspekt war jedoch die Schwächung der bürgerlichen Selbstverwaltung in den großen Städten. Beide Ziele wurden erreicht, obwohl das erste scheinbar durch das Wachstum der SPD verfehlt wurde. Die Berücksichtigung der Spannungen, die sich seit Ende der siebziger Jahre zwischen Bismarck und der liberalen Stadtverwaltung Berlins entwickelten, ist eine Voraussetzung, um die Stadt- und insbesondere berlinfeindliche Komponente der Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre rekonstruieren zu können. Wie gereizt das Verhältnis zwischen Bismarck und der liberalen Stadtverwaltung Berlins in diesen Jahren war, zeigt die außerordentlich polemische Behandlung einer Gesetzesvorlage im Reichstag „betreffend die Besteuerung der Dienstwohnungen" von Reichsbeamten. Bismarck stellte sich selbst hinter diesen Gesetzentwurf und griff das Steuersystem Berlins und insbesondere die Mietsteuer heftig an. Seine eigene Dienstwohnung wurde seiner Meinung nach von Florian Tennstedt, Die Entwicklung der auf Selbstverwaltung beruhenden Kranhenkassen während der Industrialisierung Deutschlands bis 1883, in: ders., Soziale Selbstverwaltung, Bd. 2: Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung, Bonn o. J., S. 13-22, und U. Frevert, Krankheit..., passim. So arbeitete Mathilde von Hofstetten, Witwe des Lassalleaners und Mitherausgebers des Socialdemokrat Johann-Baptist von Hofstetten, für den Deutschen Samariter-Verein. Vgl. K. Beck, Vorwärts..., S. 173. 2 7 Hans-Peter Ulimann, Deutsche Unternehmer und Bismarcks Sozialversicherungssystem, in: Wolfgang Mommsen/Wolfgang Mock (Hrsg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850-1950, Stuttgart 1982, S. 142 f.; Joachim Umlauf, Die Deutsche Arbeiterschutzgesetzgebung 1880-1890. Ein Beitrag zur Entwicklung des sozialen Rechtsstaates, Berlin 1980; Otto Quandt, Die Anfänge der Bismarckschen Sozialgesetzgebung und die Haltung der Parteien, Berlin 1938; Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973, S. 137.

Bismarck und die „lokale Willkür"

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den Stadtbehörden unverhältnismäßig hoch besteuert. So wollte er durch dieses Gesetz - die Vorlage sah vor, die maximale Höhe der Mietsteuer auf 10 Prozent des Dienstgehalts der Reichsbeamten festzulegen, in der Kommission wurde sie auf 15 Prozent gebracht - die Reichsbeamten für immer vor jeder Willkür der Stadtregierung schützen. Diese an sich banale Angelegenheit war für den Kanzler ein Anlaß, den gesamten Verwaltungsstil der Liberalen ins Zwielicht zu rücken. Seine Rede vom 4. März 1881 war eine so gründliche Abrechnung mit der liberalen Stadtverwaltung, daß sie kurz darauf von Antisemiten28 in 100 000 Exemplaren gedruckt und mit folgendem Kommentar in der Stadt verteilt wurde: „Victoria! Das war der Kanonenschuß zur Eröffnung der Schlacht gegen das Fortschrittsjudentum, es war das erlösende Wort, das unser großer Kanzler gestern sprach, als er vor dem Parlament des deutschen Reiches ... gegen die Wirtschaft unserer hochweisen Stadtverwaltung energisch zu Felde zog ... Das Auftreten des Fürsten hat gezeigt, daß der Leiter unserer Regierung ein wahrhaft deutscher Mann ist, dem nicht nur die Würde und Unabhängigkeit der Reichsbeamten vor einer jüdische Stadtclique, sondern auch vor allem das Wohl des Volkes am Herzen liegt." Und der Schluß: „Aber darum schreien auch die elenden Judenlümmel fortwährend ,Weg mit Bismarck', sie wollen keine Freiheiten, keine Erleichterung für die Armen, für das Volk, sie streben allein nach Ehre und Besitz und wollen jeden beseitigen, der ihnen ein Halt gebietet. Nun, hoffen wir zu Gott, daß die Regierung, überzeugt von der Not des Volkes, von dem Elend unseres Vaterlandes, dem Judenring recht bald ein energisches Halt gebietet. Stehen wir treu zu unserem Kanzler! Der Mann, der die äußeren Feinde zu Schanden gemacht, wird auch den noch gefährlicheren inneren Feind über den Haufen werfen. Der .eiserne Kanzler' ist unsere Zuversicht und unsere Hoffnung. Unsere Parole lautet: ,Hoch Bismarck! Weg mit dem Judenpack'."29 Die Rede Bismarcks ließ sich von den Antisemiten außerordentlich gut instrumentalisieren, denn einerseits prangerte sie die Ungerechtigkeit der Mietsteuer als solcher an, andererseits gab sie zu verstehen, daß die Liberalen ihn persönlich für seine politische Coleur 28 29

So geschildert in: Otto Hermes, Zu den Stadtverordnetenwahlen, Berlin 1887. A. a. O., S. 5.

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VIII. Die Institutionalisierung

der sozialen

Sicherheit

durch die besonders hohe Steuer bestrafen wollten. Die erste Argumentation zielte darauf ab, den unsozialen Charakter der liberalen Stadtregierung bloßzustellen, die zweite, die unvermeidlich willkürliche Komponente von Entscheidungen, die von ehrenamtlichen Stadtbeamten getroffen wurden, anzugreifen. Bismarck erklärte, daß das System der ehrenamtlichen Beamten eng mit der liberalen Verwaltung verflochten sei, und rechnete seine Schattenseiten der liberalen Lokalpolitik zu, ungeachtet des traditionellen Charakters des Ehrenamtes und der Distanzierungs- und Modernisierungsversuche der Liberalen. Bismarck forderte, was die erste Argumentationskette betrifft, rundweg die Abschaffung der Mietsteuer, in seiner Sicht „eine der unvollkommensten, drückendsten, nach unten hin wachsende so genannte degressive Steuer, eine der unbilligsten, die überhaupt gefunden werden kann. Sie besteht deshalb auch nur in außerordentlich wenigen Städten ... Von der gesammten Miethssteuer, die in ... 9 Städten aufkommt, kommen auf Berlin 98 Prozent ... Es ist ferner bemerkenswerth, daß der Berliner Magistrat in einer mir hier vorliegenden Eingabe vom 16. Februar 1869 selbst weit entfernt ist von der Überzeugung, daß dies eine gerechte Steuer sei; nichts desto weniger aber erhebt er nach dieser Steuer 48 Prozent, also nahezu die Hälfte seiner gesammten städtischen Besteuerung."30 Die Eingabe des Magistrats, eine Erwiderung auf eine ministerielle Verlautbarung, daß die Mietsteuer eine Art von Einkommensteuer sei, wird ausführlich von Bismarck zitiert: „Es wird keinem Zweifel unterliegen können", schreibt also der Magistrat 1869, „daß die erste Bedingung und Voraussetzung, um der Miethssteuer den Charakter einer Einkommensteuer beizulegen, die sein müßte, daß die Miethssteuer die verschiedenen Einwohner und Einwohnerklassen auch nur in ungefährem Verhältniß zu ihrem Einkommen belastet, daß sie sich mit anderen Worten in ihrer Höhe nach dem Einkommen regulirt; gerade das Gegentheil trifft aber bei der Miethssteuer in zahlreichen Fällen zu ... Wir dürfen nur auf die Gewerbtreibenden hinweisen, welche häufig einer sehr hohen Miethssteuer unterliegen und ein verhältnißmäßig sehr geringes Einkommen beziehen; ... auf die überaus große Anzahl sehr wohlhabender und reicher Einwohner hinweisen, welche oft zur Befriedigung ihres Wohnungsbedürfnisses Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen IV. Legislaturperiode, IV. Session, 9· Sitzung am 4. März 1881, S. l62.

Reichstags,

Bismarck und die „lokale Willkür"

257

eine verhältnißmäßig sehr unbedeutende Ausgabe machen und infolgedessen einer unbedeutenden Steuer unterworfen sind." In der Tat mußte, wie im vorigen Kapitel gezeigt, die Mietsteuer Arbeiter wesentlich härter als Besserverdienende drücken: „...(für) eine Familie, die ein Einkommen von 3 bis 400 Thaler hat, (ist) eine Wohnung nicht unter ca. 100 Thaler zu haben ... Es geht also ein Drittel bis ein Viertel des Einkommens für die Miethe darauf, wovon dann noch die Miethssteuer zu einem hohen Prozentsatz bezahlt werden muß, während der Wohlhabendere für sein Wohnungsbedürfniß nur 1/8 bis 1/10 seines Einkommens oder noch weniger aufzuwenden braucht." 31 Bismarck nutzte die Gelegenheit, um den unsozialen Charakter des Liberalismus und seiner Stadtverwaltung zu unterstreichen und dem Staat die Rolle eines Retters der Armen zuzuweisen. Dabei antizipierte er ein Motiv - der Gegensatz väterlicher Staat - egoistische Stadt - , das einen Monat später in seiner Rede zur Arbeiterversicherung eine Rolle spielen sollte: „In diesem Maßstabe besteuert also die Stadt Berlin ihre Eingesessenen, und namentlich die ärmeren ... schärfer als die wohlhabenden. Es ist meines Erachtens eine der dringendsten Aufgaben der preußischen Regierung, mit allen Mitteln dahin zu wirken, daß dieser reformbedürftige Zustand in der Hauptstadt des deutschen Reichs aufhöre, und ich glaube, sie wird damit auch wesentlich zur Befriedigung namentlich der großen Massen armer und mitunter erwerbsloser Leute beitragen, wenn sie diese bis in das kleinste hinein treffende Steuer beseitigt. Der Schlafbursche muß seine Miethssteuer zahlen ... denn natürlich wird sie auf die Miethe aufgeschlagen." 32 Die Steuer zeuge „von einem nicht sehr nachdenklichen Experimentiren mit dem Schicksal der großen und besitzlosen Massen", die in den großen Städten wohnten. Bismarck ließ es hin und wieder auch nicht an belehrenden paternalistischen Gesten fehlen: „Ich möchte den regierenden Häuptern der Stadt ans Herz legen, etwas mehr Fürsorge für die Armen zu haben." 33 Dabei argumentierte er unter anderem damit, daß Armen- und Schulwesen auf der Gesetzgebung des Staates beruhten und folglich ihre Kosten vom Staat getragen werden müßten. Sie seien als Staats31

Abgeordneter Frh. von Mirbach, a. a. O., 36. Sitzung am 29. April 1881, S. 904.

32

A. a. O., Sitzung am 4. März 1881, S. 1Ö2.

33

A. a. O.,

S. 163.

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Vili. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

lasten besser vom Staat als von der Stadt zu bestreiten, was durch die Bewilligung indirekter Steuern auf Tabak, Branntwein und andere Luxusgegenstände leicht zu erreichen wäre - wieder ein Vorgriff auf eine grundsätzliche Pointe der Gesetzesvorlage zur Arbeiterversicherung. Die andere Argumentationskette Bismarcks zielte darauf ab, das Selbstverwaltungssystem als solches als unzuverlässig und willkürlich zu diskreditieren: ich habe den Eindruck, daß bei diesen Einschätzungen (der Steuer seitens der Servisbeamten, L. S.) manche Menschlichkeiten doch mit untergehen. Mir ist von einem Bürger hier gesagt worden: der uns einschätzende Mann ist zum Beispiel ein Spezereihändler und wir haben das Gefühl, daß er die Kunden, die von ihm nehmen, milder behandelt, als die, welche nicht von ihm nehmen ... Ich bin nicht der Einzige, aber auch ich habe gegenüber der Stadtverwaltung ungefähr das Gefühl gehabt, was ein Abgeordneter haben würde, der nach einer Session, w o er die Regierung heftig und scharf angegriffen hat, plötzlich in seiner Einkommensteuer oder sonstigen Steuer zur Strafe um 50 Prozent erhöht wird ... wenn ich nun unter allen den Eröffnungen, die ich darüber bekommen, die Namen ,Runge, Hagen' lese, so kann ich mich nicht erwehren, ich fühle mich fortschrittlich angeweht ... Die Tendenz dieses Gesetzes ist ja nur, solchen Bedenken, die in einem politisch nicht sehr mißtrauischen Menschen, wie ich bin, vielleicht auftauchen können, die Spitze abzubrechen. Setzen Sie uns mit den Stadtverwaltungen auseinander, indem Sie uns einen festen Satz einführen, meinetwegen 20 Prozent, wir wollen nur nicht der Willkür unterliegen." 34 In der gleichen Sitzung versuchten zwei in ihrer Eigenschaft als Reichstagsabgeordnete anwesende Mitglieder der Berliner Verwaltung, der Oberbürgermeister Max von Forckenbeck und der Industrielle und Stadtverordnete Ludwig Loewe, die Stadtverwaltung zu verteidigen. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen Bismarck und den Repräsentanten der Stadt, in der es ersterem mühelos gelang, diese in die Defensive zu drängen. Indem sie steuertechnisch argumentierten, daß die Steuer vielleicht nicht gerecht, aber unersetzbar sei, gaben sie indirekt zu, daß die Stadtverwaltung sich ihre Finanzen auf unsoziale Weise beschaffte. Bei aller Empörung sahen

34

A. a. O.,

S. 1 6 4 u. 1 6 5 .

Bismarck und die „lokale Willkür"

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sie sich gezwungen zuzugeben, es nicht besser machen zu können: eine Verteidigung, mit der sie sich selbst das politische Armutszeugnis ausstellten, das die Konservativen bei ihrem jetzigen Kurs benötigten. Ihr Argument, die praktischen Folgen der Gesetzesvorlage seien so geringfügig, daß es unwürdig sei, lediglich um Privilegien für die Reichsbeamten durchzusetzen, Reichstagsabgeordnete so lange damit zu beschäftigen, ließ sich offensichtlich leicht in ein Argument für die Gesetzesvorlage wenden: die wirtschaftliche Einbuße für die Stadt Berlin sei so geringfügig, daß es sich nicht lohne, ihretwegen gegen eine Gesetzesvorlage zu stimmen, die durch Einführung genauer Sätze jede auch nur leise Vermutung einer Willkür für alle Zeiten aus der Welt zu schaffen verspreche. Als Alternative zur Mietsteuer sahen die Liberalen nur die Wiedereinführung der Schlacht- und Mahlsteuer beziehungsweise andere indirekte Steuern, die sie aus wirtschaftsliberaler Überzeugung grundsätzlich ablehnten. Obgleich ihnen der Charakter der Mietsteuer als quasi indirekter Steuer nicht unklar war, wurde er dennoch in der Debatte von Loewe kräftig bestritten - denn die Mietsteuer stehe doch im Verhältnis zu den Mietkosten, die man zum Wohnen ausgeben müsse, man bezahle automatisch im zweiten Hinterhof weniger als im Vorderhaus; daß diese an sich kleinere Summe im Verhältnis zu den jeweiligen Einkommen eine weit größere Ausgabe darstellte, verschwiegen die Liberalen lieber. Das Interesse der Stadtverwaltung an den Erträgen des freien Wohnungsmarktes durch die Steuer ist schon als grundsätzlicher Bestandteil des Umverteilungssystems der Stadt unterstrichen worden. Anstatt aber ihre Umverteilungspolitik als solche zu verteidigen, ließen die Liberalen sich in die Defensive drängen und versteckten sich hinter abstrakten Prinzipien. Sie gingen von der Fiktion aus, daß auf dem freien Markt jeder sich aussuchen könne, wieviel Miete er bezahlen wolle, eventuell durch Einschränkung des Wohnbedarfs beziehungsweise durch einen Umzug. Dabei übersahen sie, daß in einer schnell wachsenden Großstadt wie Berlin die Wohnungsnachfrage gerade bei Kleinwohnungen außerordentlich intensiv war und dadurch die Macht der Hausbesitzer unverhältnismäßig wuchs, so daß von einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage nicht die Rede sein konnte. Forckenbeck bestritt, daß bei der Arbeit der Servisbeamten in irgendeiner Weise politische oder andere Rücksichten eine Rolle spielten, dafür gäbe es zu viele Instanzen, die sich mit der Sache beschäftigten, und protestierte gegen die Angriffe auf die ehrenamt-

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VIII. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

lieh arbeitenden Beamten: „...was soll aus der ... Gemeindeverwaltung werden, wenn das hauptsächlichste konservative Element meine Herren, ich spreche in dieser Beziehung aus Erfahrung - was in Berlin existirt und die sozialen Verhältnisse zusammenhält, also die Gemeindeverwaltung mit ihren zirka 11- bis 16 000 Ehrenämtern in dieser Art angegriffen wird. Erschüttern Sie dieses Element in seinen wesentlichen Grundlagen und Wirkungen, dann werden meiner Überzeugung nach die Zustände in Berlin gefährdeter und hängen nur von der materiellen Gewalt ab." 35 Forckenbeck wies abschließend darauf hin, daß Beamte steuerlich ohnehin weniger zu den Kosten der Stadtverwaltung beitrügen als alle anderen und daß dadurch schon jetzt alle übrigen Bürger mehr Steuern bezahlen müßten. Bismarck erwiderte, offensichtlich vergnügt, daß dieser Ausfall an Steuern, den die Anwesenheit der Beamten verursache, ein leicht zu lösendes Problem darstelle, und drohte mit der Verlegung des Reichstages in eine andere Stadt: „. ..ich habe mich immer dem Gedanken nicht verschließen können, daß der Reichstag und die Zentralbehörden besser in einer anderen weniger bevölkerten und der Unruhe weniger ausgesetzten Stadt wie Berlin ihre Sitzungen hielten ... Der Herr Vorredner hat gesagt, daß jene Behauptung, daß ein politischer Einfluß stattfände, unbegründet wäre wegen der Mannigfaltigkeit der Instanzen. Ja, ich glaube, es ist eine weltbekannte Sache, daß in Berlin der Fortschritt regiert, ein fortschrittlicher Ring die Stadt beherrscht, der garnicht zu durchbrechen ist ... alle Instanzen gehören in ihrer Majorität der gleichen Fortschrittspartei an, einer Partei, die bei allen ihren ausgezeichneten Eigenschaften ich doch für eine der lebhaftesten in ihrer politischen Thätigkeit halte, die wir überhaupt haben, und die gerade mit am meisten geneigt ist, die politischen Empfindlichkeiten auf das Privatleben zu übertragen ... Ich will nicht sagen, daß die Fähigkeit sich zu beherrschen geringer wäre, (Heiterkeit.) aber es ist eben die Lebhaftigkeit der Empfindung, die Überzeugungstreue vielleicht stärker als bei anderen. Deshalb bricht sie auch in der Berliner Stadtverwaltung durch zum Schaden derer, die ihr nicht angehören." 36 Die Bezeichnung „fortschrittlicher Ring" spielte auf die Formulierung „städtischer Ring" an, die damals bezeichnenderweise aus Korruptionsskandalen in der Stadtverwaltung von New York geläufig 35 36

A. a. O., S. 168. A. a. O., S. I69.

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war, und stellte an und für sich schon als Anspielung eine beleidigende Attacke auf die Stadtregierung dar. Loewe tadelte die „tendenziöse Absicht", „die Stadtverwaltung Berlins herunterzusetzen", und mahnte, daß die Benutzung von Begriffen wie „städtischer Ring" mit den damit verbundenen Anspielungen aus Übersee nur von mangelnder Verantwortlichkeit gegenüber öffentlichen Angelegenheiten zeuge. 37 Er wollte aber auch die Mietsteuer und die Stadtverwaltung verteidigen und fand dazu keine bessere Argumentation als einen Vergleich der Errungenschaften der Stadtverwaltung mit denen Bismarcks, wobei er behauptete, „daß der Reichskanzler in wirthschaftlicher Beziehung trotz der großen Lasten, die er der Bevölkerung auferlegt hat (gemeint sind die Zölle von 1878, L. S.), nicht so Großes für unser Vaterland geschaffen hat, als gerade die Berliner Stadtverwaltung für Berlin".38 Im Hinblick auf die Verehrung, die Bismarck auch von vielen Liberalen entgegengebracht wurde, war das eine durchaus kühne Behauptung. Nach drei Tagen heftiger Diskussion wurde die Gesetzesvorlage angenommen. Eugen Richter hatte zuvor appelliert, gegen die Vorlage zu stimmen, um ein Zeichen gegen das „diktatorische Regiment" Bismarcks zu setzen. Bismarcks „Verleumdungen" seien nur „geeignet", „das öffentliche Leben zu demoralisiren und uns dahin zu führen, daß man zuletzt Anstand nimmt, sich mit öffentlichen Dingen zu beschäftigen, wie das in New-York und ähnlichen Städten der Fall gewesen sein soll, wo es nicht mehr für anständig gilt, mit öffentlichen Dingen sich zu beschäftigen".39 Richters wie Loewes Argumente beweisen schließlich die Isolation der Liberalen und ihre Schwäche - sie ließen sich von den Drohungen Bismarcks unnötig in die Defensive zwingen. Aus Furcht vor der wachsenden Macht der Konservativen verrannten sie sich in der Verteidigung der Mietsteuer, obwohl sie diese früher selbst kritisiert hatten und bereits damals nicht als einen verbesserungsfähigen Bestandteil des gesamten sozialen Umverteilungssystems gerechtfertigt hatten.

37 38 39

A. a. O., S. 172. Ebda. A. a. O., Sitzung am 29. April 1881, S. 899 und 897.

262

Vili. Die Institutionalisierung

der sozialen

Sicherheit

Die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung Eine vergleichbare Hilflosigkeit zeigten die Liberalen in der Stadtregierung bei der Frage der Reform der Wahlbezirke. Die Affäre der Auflösung der Berliner Stadtverordnetenversammlung beweist, wie stark die Stadtregierung sich inzwischen bedrängt fühlte. Die Haltung der Liberalen ist nur aus der Gespanntheit der Beziehungen zwischen Innenministerium und Berliner Stadtregierung zu Anfang der achtziger Jahre verständlich. Die Liberalen, die sich als die einzigen treuen Bewahrer der Selbstverwaltung verstanden, fürchteten sich vor anderen politischen Parteien, insbesondere vor den Konservativen, deren ablehnende Haltung gegenüber der Selbstverwaltung für den Fall, daß sie in das Stadtparlament gelangten, nichts Gutes versprach. An sich handelte es sich bei der Reform der Wahlbezirke 1883 um eine verwaltungstechnische Notwendigkeit, der sich eigentlich niemand verschließen konnte. Um so aufschlußreicher sind die Proteste eben derselben liberalen Wortführer, die die Neuordnung der Wahlbezirke, um die es jetzt ging, schon Ende der sechziger Jahre selber vorgeschlagen hatten - ein Indiz des tiefen Unbehagens und Mißtrauens der Liberalen gegenüber der Reichsregierung. Das ungleichmäßige Bevölkerungswachstum hatte die alten Wahlbezirke ihrer Homogenität beraubt. Einige wiesen infolge baulicher Verdichtung und sozialer Deklassierung ein Vielfaches der Einwohnerzahl anderer Bezirke auf. Daraus resultierte eine wachsende Disproportion, was den Wert einer Wählerstimme betraf: Nicht nur galt eine Stimme mehr oder weniger, wenn der Wähler der ersten, zweiten oder dritten Steuerklasse angehörte, sondern auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Wahlbezirken konnte von Vorteil oder Nachteil sein. So wohnten 1881 im Wahlbezirk Nr. 17 - Dorotheenstadt - 4005 Personen, im Wahlbezirk Nr. 23 - Friedrichstadt - dagegen 111 843; die Stimme eines Bewohners des ersteren hatte daher ein Vielfaches an Gewicht gegenüber der eines Bewohners des letzteren, auch wenn im ersteren pro Abteilung nur ein Stadtverordneter, im letzteren dagegen zwei zu wählen waren. 40 Die Frage der Neuordnung der Wahlbezirke wurde in der Stadtverordnetenversammlung seit 1868 behandelt, immer wieder vertagt 40

Personal-Nachweisung der Berliner Gemeinde-Verwaltung für das Jahr 1881,

S. 323.

Die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung

263

und zur Überprüfung an besondere Kommissionen überwiesen. Das Problem mußte die Versammlung in Verlegenheit bringen. Das sprunghafte Wachstum der Stadt machte nicht nur eine Umverteilung der Wähler auf die Wahlbezirke nötig, sondern legte auch die Antiquiertheit der Erwartungen bloß, die die Städteordnung an das geographische Prinzip geknüpft hatte. Mit dem Auftreten der Massengesellschaft verlor sich trotz des Dammes des Dreiklassenwahlrechts mehr und mehr der Sinn der Wahl als eines unpolitischen Votums, um die Interessen des Stadtbezirks im Sinne eines Nachbarschaftsbereichs zu vertreten. Politische Rücksichten und der Einfluß der Agitation von politischen Parteien nahmen mit der Abstraktion der sozialen Beziehungen in den unüberschaubar werdenden Wachstumsvierteln der Großstadt zu. Es war also das Selbstverständnis der Stadtrepräsentanten selbst, das auf dem Spiele stand. So behauptete der Stadtverordnete Eugen Richter in der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 29. Juni 1875, daß die Versammlung „auf die Dauer nicht den Anspruch" erheben könne, „das berechtigte Organ von Berlin zu sein", da sie „aus Wahlen hervorgeht, bei denen die Wahlbezirke derartig in Widerspruch stehen mit der Bevölkerungsziffer".41 Die Einteilung der Wahlbezirke sei geradezu eine „monströse", wie es der Armenarzt Salomon Neumann in der gleichen Sitzung ausdrückte. Richter schlug vor, die Versammlung solle selbst ihre Auflösung beantragen, um zu einer neuen Einteilung der Wahlbezirke zu gelangen. Die Verhandlungen wurden bis zur zweiten Sitzung im Januar 1876 vertagt. Richter sagte damals: „Allerdings liegt der Fall hier vor, die Majorität der Stadtverordneten kommt aus Wahlkreisen, die verhältnismäßig zu stark vertreten sind, die also ein unberechtigtes Privilegium haben ... Scheut man nun davon zurück, da wo es die Sache erfordert, sich einer neuen Vertrauensprobe zu unterwerfen, so muß das Bewußtsein des mangelnden Vertrauens zunächst diese Majorität selbst auflösen, dann aber auch ihr das Ansehen nach außen hin nehmen ... wenn dem so ist, so kann es zweifelhaft sein, ob die gegenwärtige Vertretung von Berlin überhaupt berechtigt ist, Rechtsverbindlichkeiten, Rechtsgeschäfte für die Stadt in großem Umfange einzugehen, ζ. B. Anleihen aufzunehmen ... die städtischen Behörden haben die Verpflichtung, diesem Zustande ein Ende zu machen, und wenn sie dieser Verpflich-

41

Sten. Ber. der Stadtverordnetenversammlung, Sitzung vom 29. Juni 1875, S. 372.

264

Vili. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

tung nicht nachkommen, so hat jeder Bürger das Recht, zu verlangen, daß von Oberaufsichtswegen ein gerechter Zustand hergestellt wird."42 Paul Langerhans stellte mit ähnlichen Argumenten in der gleichen Sitzung einen Auflösungsantrag, um die „eklatanten Übelstände" aus der Welt zu schaffen. Bei der darauffolgenden Abstimmung wurde der Antrag Langerhans abgelehnt und eine gemischte Deputation zur Beratung der Angelegenheit gebildet. Nach zwei Jahren unterbreitete der Magistrat eine entsprechende Vorlage, die Versammlung nahm sie jedoch nicht an, sondern wählte einen Ausschuß, der nach weiteren zwei Jahren vorschlug, die Zahl der Stadtverordneten um 18 zu vermehren und die neuen Stadtverordneten den größeren Wahlbezirken zuzuteilen. Der Magistrat sah in diesem Vorgehen keine Lösung. Die Diskussion war auch auf der lokalen Ebene lebhaft. Zahlreiche Bezirksvereine richteten in den Jahren 1876 bis 1880 entsprechende Petitionen an die Regierung. So gab es zum Beispiel 1878 eine Petition der Bezirksvereine der Luisenstadt,43 von Langerhans selbst und anderen Liberalen angeführt, in der beim Staatsministerium die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung beantragt wurde. Das war der Stand der Dinge, als das „Conservative Central-Comitee" Stoeckers am 14. November 1881 dem Staatsministerium eine eigene Petition übergab, in der erneut die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung und die Neueinteilung der Wahlbezirke sowie Neuwahlen gefordert wurden. Obwohl die Argumente die gleichen waren, die die Liberalen seit Jahren in die Debatte geworfen hatten, empfanden Magistrat und Stadtverordnete diesen Antrag als eine Attacke der Konservativen, mehr noch, des Staates selber, und es verbreitete sich unter ihren Mitgliedern die Ansicht, der entsprechende Artikel der Städteordnung, der eine Auflösung der Versammlung vorsah, sei ein Strafparagraph und also als solcher nicht anwendbar, wo kein Delikt vorlag. 42

Die Auflösung der Berliner Stadtverordnetenversammlung. Eine geschichtliche Darstellung nebst den wichtigsten hierauf bezüglichen Actenstücken, Berlin 1883, S. 7-8. Der Schlesische-Thor-Bezirksverein, Oranienplatz-Bezirksverein, der HallescheThor-Bezirksverein, der Neue Luisenstädtische Bezirksverein und andere hatten im Mai 1878 eine Petition verfaßt. Vgl. Die Auflösung..., S. 10.

Die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung

265

Die Stadtverordnetenversammlung debattierte über die Verhandlungen zwischen den Staatsbehörden und dem Magistrat auf einer außerordentlichen Sitzung. Dem Minister des Innern wurden in Reden, worin sich „der nämliche Ton wie in den Parlamentsreden der Konfliktszeit"44 fand, die schwerwiegendsten Vorwürfe gemacht. Die Liberalen Wolfgang Straßmann, Robert Zelle, Paul Langerhans und Ludwig Loewe empörten sich über die Maßnahme und wollten das Problem durch eine einfache Erhöhung der Zahl der Stadtverordneten lösen. Loewe bestritt in seiner Rede sogar heftig, daß jemals an eine Auflösung der Stadtverordnetenversammlung gedacht worden sei, und sprach von einer „Vergewaltigung des bestehenden Rechtes". Die Liberalen erweiterten die Stadtverordnetenversammlung durch Kooptation von 18 Abgeordneten, um der Auflösung zuvorzukommen. Als das Ministerium insistierte, schrieb die Vossische Zeitung, es sei nur noch die antisemitische Presse, die weiter die Auflösung fordere. 45 Diejenigen Wähler, die am meisten durch die Einteilung der Wahlbezirke benachteiligt wurden, waren gerade die der dritten Abteilung der Luisenstadt. Hier wohnten nicht wenige Liberale, die in Magistrat und Stadtverordnetenversammlung bis zum Ende der siebziger Jahre für die Neueinteilung der Wahlbezirke gestritten hatten unter anderen Robert Zelle und Paul Langerhans - und die sich jetzt dagegen sträubten. Offensichtlich bedeutete diese plötzliche Umorientierung bei der Lösung der Frage der Wahlkreiseinteilung eine grundsätzliche Veränderung in der Beziehung der Liberalen zur Wählermasse der dritten Abteilung. Hatten sie noch Ende der siebziger Jahre geglaubt, diese Masse in den Kommunalwahlen für sich zu gewinnen, so fürchteten sie in den achtziger Jahren trotz des Dreiklassenwahlrechts um ihre Mehrheiten, so daß sie sogar das Risiko eingingen, sich selber zu widersprechen und sich gegen eine Reorganisation zu wehren, deren Unvermeidlichkeit sie schon seit Jahren erkannt hatten. Dies muß zu dem weiter oben geschilderten Vordringen der konservativen Lokalorganisationen in Beziehung gesetzt werden, die für Stoeckers „Conservatives Centraikomitee" die lokale Basis bildeten, ähnlich wie es die Bezirksvereine in den sechziger Jahren für die 44 45

A. a. O., A. a. O.,

S. 21. S. 25.

266

Vili. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

Liberalen getan hatten. Die aggressive antisemitische Propaganda Stoeckers, die gezielt gegen die liberale Stadtverwaltung gerichtet war, wurde von den Liberalen ernst genommen. Sie befürchteten, daß die Wähler der dritten Wählerklasse der Arbeiterpartei oder den Anhängern Stoeckers folgen könnten, was gleichermaßen die Existenz der Liberalen bedrohen würde. Die Liberalen waren sich dabei bewußt, eine Honoratiorenpartei darzustellen, und sie waren besorgt um die politische Eindämmung einer Masse, deren Sympathien sie längst nicht mehr sicher waren. Der Minister von Puttkamer hatte am 1. September 1882 bekanntgemacht, daß die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung bevorstehe, und am 23. April 1883 verfügte eine Kabinettsordre die Auflösung zum 1. Januar 1884, um Neuwahlen auf der Grundlage einer neuen Einteilung der Wahlbezirke zu ermöglichen.4^

Bismarcks Sozialgesetze Bismarck dachte bei seinen sozialgesetzgeberischen Plänen auch in den Kategorien der Armenfürsorge.47 Für die Zeitgenossen stand außer Frage, daß Bismarcks Ziel der „Übergang der Armenpflege aus der Verwaltung der Gemeinden in die des Staates" war. 48 Er hatte das Thema einen Monat vorher in der Diskussion über die Mietsteuer bereits eingeführt. Wichtige Argumente seiner Aprilrede, in der er für eine Arbeiterversicherung plädierte, hatte er ebenfalls schon einen Monat vorher gerade in seiner Polemik gegen die Stadtverwaltung geäußert: Die Stadt sei von „lokaler Willkür"49 beherrscht, von einer Stadtverwaltung, die ohnehin unsozial, parteiisch und unwirtschaftlich arbeite. Schulpflicht und Armenversorgung seien Staatsangelegenheiten, deren Kosten von einem vorsorglichen Staat durch Besteuerung von Luxusartikeln bestritten werden könnten.

^ Zu den Folgen der Neueinteilung der Wahlbezirke siehe hier das

NEUNTE KAPI-

TEL.

^ Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983, S. 35. 48 A. a. O., S. 37. ^ Vgl. Stenographische Berichte Deutscher Reichstag, Sitzung vom 29. April 1881, S. 908.

Bismarcks

Sozialgesetze

267

Die Sozialversicherungen der achtziger Jahre wurden damals nicht nur von der SPD einfach als eine Reform der Armenpflege denunziert, deren Kosten durch die Beitragsleistungen teilweise den Arbeitern aufgebürdet werden sollten, 50 sondern auch in offiziellen Erklärungen von Regierungsseite und in wissenschaftlichen Debatten so gesehen. So erklärte Lujo Brentano die Alters- und Invalidenversicherung für den letzten, „genialen" Versuch, das Problem der Armenpflege im industriellen Zeitalter zum Teil zu lösen. 51 In der Reichstagsdebatte über die Unfallversicherung im April 1881 behandelten, wie näher zu zeigen sein wird, alle Redner den Gesetzentwurf wie eine Reform des Armenwesens, und zwar wie eine Reform, durch die erhebliche Teile der Armenpflege in gewandelter Form von den Gemeinden auf den Staat übertragen wurden. Die liberalen „Freihändler" kritisierten in einer vom „Congress Deutscher Volkswirthe" herausgegebenen Streitschrift vehement die Absichten Bismarcks, indem sie die zwangsweise Arbeiterversicherung kurzerhand wie eine Staatsarmenpflege behandelten, die die „Commune aus der Armenpflege zu expropriiren"52 drohe. Ihr Autor, August Lammers, merkte darin an, daß sogar „Anhänger der socialpolitischen Initiative des Staates wie Adickes und Schäffle"53 aus praktischen Gründen sich gegen die Übertragung der Armenpflege von den Gemeinden auf den Staat ausgesprochen hätten. Ein solcher Plan habe etwas „verlockendes" nur für eine „cäsarisch-napoleonische Phantasie", 54 er komme einem „Anfall von Allmachtsschwindel"55 gleich. 50 Die Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag..., S. 187-217, Jürgen Tampke, Bismarcks Sozialgesetzgebung: Ein wirklicher Durchbruch?, in: W. Mommsen/ W. Mock, (Hrsg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates..., S. 79-91. G. A. Ritter, Sozialversicherung..., S. 50. Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, 2 Bde., Berlin I960, Bd. 2, S. 585.

Lujo Brentano, Die beabsichtigte Alters-und Invaliden-Versicherung für Arbeiter und ihre Bedeutung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, (1888), S. 1 51

46.

5 2 August Lammers, Staatsarmenpflege, in: Volkswirtschaftliche Zeitfragen. Vorträge und Abhandlungen, hrsg. von der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin und der ständigen Deputation des Congresses Deutscher Volkswirthe, 2. Jg. (1881), H. 16, S. 27. 53 A. a. O., S. 20. Adickes und Schäffle befürchteten bei einer solchen Übernahme eine Erhöhung der Kosten der Armenpflege als Folge der Anonymisierung des Verfahrens, die unvermeidlich mit einer staatlichen Gesamtorganisation zu erwarten sei. 54 A. a. O., S. 21. 55 A. a. O., S. 3.

268

VIII. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

Bismarck hatte sich von Beginn seiner politischen Tätigkeit an in unverkennbar konservativer Manier über die arbeitenden Klassen ausgesprochen: „Die Fabriken", sagte er 1849, „bereichern den Einzelnen, erziehen uns aber die Masse von Proletariern, von schlechtgenährten, durch die Unsicherheit ihrer Existenz dem Staate gefährlichen Arbeitern, während der Handwerkerstand den Kern des Mittelstandes bildet, dessen Bestehen für ein Staatsleben so notwendig ist, daher die geforderten Opfer nicht dagegen in Betracht kommen, dessen Erhaltung mir vollkommen ebenso wichtig erscheint, wie die Schöpfung eines freien Bauernstandes zu Anfang dieses Jahrhunderts, der zuliebe man sich nicht scheute, tiefe Eingriffe in Recht und Eigentum zu machen." 56 Er soll später geäußert haben: „Wer eine Pension hat für sein Alter, der ist viel zufriedener und viel leichter zu behandeln, als wer darauf keine Aussicht hat." 57 Gall weist darauf hin, daß die Sozialgesetzgebung, gemessen an den Absichten und Erwartungen Bismarcks, „ein völliger Schlag ins Wasser" gewesen sei, 58 sowohl wegen der vom Reichstag abgeschwächten Form, in der sie zur Geltung kam, als auch wegen der enttäuschend geringen kurzfristigen Auswirkungen auf das praktische Leben und das politische Verhalten der Arbeiter. Der parlamentarische Weg der Gesetze war mühselig, alle Versionen trafen auf die programmatische Abwehr von Liberalen und Sozialdemokraten. Die Liberalen bezichtigten ihn erneut des Staatssozialismus und Kommunismus, die Sozialdemokraten sprachen von „zünftischem" beziehungsweise „Kasernensozialismus".59 Das Urteil Galls sollte relativiert werden, wenn man die langfristige Wirkung dieser Gesetze betrachtet. Alle drei sozialpolitischen Gesetzentwürfe, die unter Bismarcks Regierung vorgelegt wurden Unfall-, Kranken- sowie Alters- und Invaliditätsversicherung - , stellten den Versuch einer Lösung der sozialen Frage durch ein Modell dar, das nicht zuletzt die Macht der Lokalverwaltungen brechen sollte. Allerdings war das ein umwälzendes Modell. Zum erstenmal wur-

Zit. nach Otto Vossler, Bismarcks Sozialpolitik, in: Historische Zeitschrift, Bd. 167 (1942/43), S. 336 f , Zitat S. 337. 5 7 Zit. nach Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M.-Berlin 1980, S. 605. 58 A. a. O., S. 648. 5 9 O. Quandt, Die Anfänge..., S. 39 u. 42.

Bismarcks Sozialgesetze

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de ein einklagbares Recht auf Unterstützung im öffentlichen Leben eingeführt, zum erstenmal wurde das Individualisierungsprinzip durch die Einführung von Personenkategorien ersetzt. Diese indirekte Reform des Armenwesens zog aus den Debatten des letzten halben Jahrhunderts die Konsequenzen. Hatte Oberbürgemeister Seydel in den sechziger Jahren noch vergeblich vorgeschlagen, polizeiliche und Wohltätigkeitsarmenpflege zu trennen, so hatten die Diskussionen, die in der Folge dieses Vorschlags geführt wurden, zu einer Präzisierung des Begriffs des Armenwesens beigetragen und die Pflicht des Staates gegenüber den in Not Geratenen in das allgemeine Bewußtsein gerückt. In den monatlichen Konferenzen der Armenkommissionsvorsteher wurde mehrere Male die Frage des Unterschieds zwischen beiden Zweigen des Armenwesens behandelt. Wurde dabei Ende der sechziger Jahre der Unterschied mehr in der verschiedenen Individualität der Unterstützten gesehen, so wurde er Mitte der siebziger Jahre in den rechtlichen Grundlagen gesucht: Polizeiliche beziehungsweise gesetzliche Armenpflege beruhe auf dem Zwang staatsrechtlicher Bestimmungen - dem preußischen Gesetz von 1842 und dem Reichsarmengesetz vom 6. Juni 1870 - , während Wohltätigkeitsarmenpflege aus freiem Willen erfolge. Erstere liege im Interesse der öffentlichen Sicherheit und des Staatswohls, sie betrachte Zuwendungen als Darlehen, 60 das der Empfänger bei Eintreten besserer Verhältnisse zu erstatten beziehungsweise über das Erbrecht (das Recht, den Nachlaß unterstützter Personen als Eigentum der Armendirektion anzusehen) zu garantieren habe. Die öffentliche Armenpflege zumindest wurde damit als eine „Erfüllung von Staatspflicht" angesehen, 61 einer Pflicht, die der Staat an die Gemeinden delegiert hatte. Allerdings gab es keinen Rechtsanspruch des einzelnen auf Unterstützung. Schon das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 hatte eine generelle Fürsorgepflicht für die Armen im Sinne einer Staatsaufgabe erkannt, und Bismarck erklärte nicht zufällig bei der Verteidigung seiner Sozialpolitik, mit ihr auf dem Boden des ALR zu stehen. In der

Diese Betrachtungsweise ist wahrscheinlich der Grund dafür, daß an die Armendirektion viele Anträge auf Darlehen und nicht auf Unterstützung gestellt wurden. Siehe Communalblatt, 17. Jg. (1876), S. 109.

^ März-Conferenz derArmenkommissicmsvorsteher-Versammlung, in: Communalblatt, 16. Jg. (1875), S. 144.

270

Vili. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

Tat markierte seine Sozialgesetzgebung das endgültige Ende des liberalen bürgerlichen Zeitalters, das vom Anfang des 19. Jahrhunderts an im Kampf gegen das Ancien Régime die Ansätze, Sozialpolitik zur Pflichtaufgabe des Staates zu erheben, zum Teil wieder vergessen ließ. Die Legitimation der Daseinsfürsorge als Staatsaufgabe wurde in den Reichstagsdebatten über die Arbeiterversicherung nicht mehr ernsthaft bezweifelt. Die bestehende Armengesetzgebung enthielt die Keime dieser Legitimation.62 Der erste Entwurf von 1881 für ein Unfallversicherungsgesetz, entstanden auf der Basis eines 1880 eingebracht en Promemoria des Bochumer Industriellen Baare, stellte gegenüber dem Haftpflichtgesetz von 1871 einen qualitativen Sprung dar. Im ersten Gesetz trat die Entschädigungspflicht erst dann ein, wenn es dem Arbeiter beziehungsweise seinen Erben gelang, die Schuld des Unternehmers zu beweisen. Eine Neuerung bildete auch die Verlagerung des rechtlichen Problems auf das Gebiet des öffentlichen Rechts, durch Gründung der „Reichsversicherungsanstalt", eines öffentlichen Trägers, durch den die Beteiligung privater Institute ausgeschlossen wurde und das Klagerecht für die Betroffenen impliziert war. Die Prämien sollten - bei einem jährlichen Arbeitslohn bis zu 750 Mark - zu einem Drittel vom Staat und zu zwei Dritteln von den Unternehmern bezahlt werden. Lag sein Lohn darüber - bis 1000 Mark Jahreslohn - , sollte der Arbeiter das Drittel des Staates übernehmen, bei über 1000 Mark Jahreslohn wurde dieses Drittel zwischen Arbeitern und Unternehmern geteilt. Mit dem staatlichen Versicherungsmonopol wollte Bismarck das Prinzip der Pflichtversicherung neutralisieren: Die Versicherungsgesellschaft sollte weder Gewinne erwirtschaften noch Gefahr laufen, Bankrott zu machen. „Man kann nicht den Sparpfennig des Armen dem Konkurse aussetzen"63 - zumal es sich um einen Zwangssparpfennig handelte. Mit den Staatsbeiträgen wollte Bismarck der Öffentlichkeit die sozialpolitische Verantwortung des Staates demonstrieren. Der Reichstag strich die staatlichen Beiträge, und so war es

/2

Michael Stolleis, Quellen zur Geschichte des Sozialrechts, Göttingen-Frankfurt a. M.-Zürich 1976, S. 17 f. ® Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstags, IV. Legislaturperiode, IV. Session, 2. April 1881, 28. Sitzung, Rede Bismarcks, S. 712 ff., jetzt abgedruckt in: Lothar Gall, Bismarck. IHe großen Reden, Berlin 1981, S. 210 ff., Zitat S. 223-224.

Bismarcks Sozialgesetze

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nun Bismarck, der sich gegen das Gesetz wandte, als es im Bundesrat im Juni 1881 zur Debatte stand. Zu Beginn der neuen Legislaturperiode im November des Jahres stellte sich die berühmte „Kaiserliche Botschaft zur Socialen Frage" hinter das gesamte Bismarcksche Reformpaket: Unfallversicherung, Krankenversicherung, Alters- und Invaliditätsversicherung wurden den Untertanen vom Kaiser versprochen. Die Monarchie antwortete damit auf die zahlreichen Anrufungen in den zurückliegenden Jahrzehnten, sich als „soziale Monarchie" zu betätigen. Die kaiserliche Botschaft erfuhr bei den schwierigen und sich über Jahre hinschleppenden Debatten über die Vorlagen zur Arbeiterversicherung durchaus mehr als nur ein marginales Interesse. Nicht wenige konservative Abgeordnete glaubten sich verpflichtet, als Untertanen des Kaisers seinem Wort zu gehorchen. Der Abgeordnete von Flügge hielt zum Beispiel das Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung für widersprüchlich und fehlerhaft. Trotzdem stimmte er für die Vorlage, weil er wisse, „die Verabschiedung des Gesetzes in dieser Session ist der dringende Wunsch meines Kaisers" 6 4 Die gleiche Mentalität ließ Bismarck erklären, daß es mit der Aufgabe einer konservativen Partei unverträglich sei, gegen einen von der Regierung vorgelegten Entwurf zu opponieren. 5 Trotzdem wurde auch der zweite Entwurf zur Unfallversicherung vom März 1882 in der Gesetzeskommission verworfen, da Bismarck aus grundsätzlichen Erwägungen vom Prinzip der Staatsbeiträge nicht abgehen wollte. Inzwischen war auch der Entwurf des Gesetzes für die Krankenpflichtversicherung eingebracht und im Mai 1883 nach nicht allzu vielen Schwierigkeiten angenommen worden. Im folgenden Jahr legte die Regierung die dritte Fassung des Gesetzentwurfs über eine Unfallversicherung vor, die im Sommer 1884 Gesetz wurde. Der Gesetzentwurf für die Alters- und Invaliditätsrenten wurde erst 1888 vorgelegt. Wilhelm II. betonte, als er im November den Thron bestieg, daß er das soziale Werk Wilhelms I. fortsetzen wolle. Trotz des staatlichen Zuschusses von 50 Mark pro Rente und des Pflichtcharakters der Versicherung, die von der Mehrheit kritisiert wurden, ^ Zit. nach Hans-Peter Benöhr, Verfassungsfragen der Sozialversicherung nach den Reichstagsverhandlungen von 1881 bis 1889, in: Zeitschrift der Samgny-Stiftung für Rechtsgeschichte, (1980), S. 94 f. 65 A. a. O., S. 115.

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Vili. Die Institutionalisierung

der sozialen

Sicherheit

wurde das Gesetz nach einer leidenschaftlichen Verteidigung durch Bismarck, der an alle Konservativen jeglicher Richtung appellierte, „zum Schutz von Staat und Reich" für das Gesetz zu stimmen, mit knapper Mehrheit angenommen.66 Bismarck verlor bald das Interesse an der Sozialgesetzgebung sie wird nicht einmal in seinen Lebenserinnerungen von ihm behandelt - , da sie, weil der Staatsbeitrag aufgegeben werden mußte, in seinen Augen politisch gescheitert war. Dieser hatte für ihn eine Schlüsselfunktion nicht nur in der Strategie einer Rückbindung der Arbeitermassen an den Staat, also gegen die Sozialdemokratie, sondern als Mittel, die städtische Armenfürsorge wenn nicht ganz zu beseitigen, so doch ihr mindestens bedeutende Konkurrenz von selten des Staates zu machen - mit einer deutlichen Frontstellung gegen diejenigen Städte, die von den Liberalen beherrscht wurden, insbesondere gegen Berlin. Diese Absicht muß in seinen Plänen ursprünglich eine noch größere Rolle gespielt haben, wenn er an eine allgemeine Staatsbürgerversicherung für alle Bedürftigen dachte.67 Bismarck sprach im Reichstag von einer „Versuchung", den Wortlaut des Gesetzes nicht mit den Worten „Alle Arbeiter", sondern Jeder Deutsche" beginnen zu lassen.68 In einer Rede vom 2. April 1881 zur Verteidigung des Gesetzentwurfs für die Unfallversicherung sprach er mit aller Klarheit aus, „daß im Staat, namentlich in dem monarchischen, landesväterlich regierten Staat",69 für den Egoismus des freien Spiels der Kräfte kein Platz sei. Aber der Ort dieses Egoismus schlechthin sei die Großstadt Berlin. Die Realisierung der Sozialpolitik sei Aufgabe des Staates, weil er, über den Parteien stehend, das Allgemeininteresse vertrete. Parteiisch und nicht in der Lage, Verwaltung und Politik zu trennen,

^ J. Umlauf, Die Deutsche Arbeiterschutzgesetzgebung..., S. 67. G. A. Ritter, Sozialversicherung..., S. 55. Mitte der neunziger Jahre nahmen die Vorschläge einer Reform der Arbeiterversicherungen in Richtung auf eine Gesamtversicherung bzw. eine Staatsbürgerversicherung, die „alle Staatsbürger" hätte umfassen sollen, „deren Einkommen unter einer gewissen Höhe blieben", auf dem Weg der Erweiterung des Personenkreises der bestehenden Versicherung zu. Siehe W. Kulemann, Die Reform unserer Sozialversicherung, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (·= Schmollers Jahrbuch), 18. Jg. (1894), S. 853 ff. insbes. S. 861 u. 1118 f. 68 69

L. Gall, Bismarck. Die großen Reden..., S. 214. A. a. O., S. 213.

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sei dagegen die Stadt. Der Staatszuschuß stelle keine neue Ausgabe dar, sondern sei nur ein Übergang der Finanzierung von der lokal organisierten Armenverwaltung zur staatlichen Vorsorge. Die von Bismarck vorgeschlagene Finanzierung durch Tabak- und Branntweinsteuer sei sozialer als die Finanzierung öffentlicher Ausgaben durch die Mietsteuer. Im ganzen war Bismarcks Rede eine Philippika gegen die Stadt, er gab, wie bereits einen Monat zuvor, zu verstehen, wie liederlich die Stadtverwaltungen mit ihren Finanzen und mit ihren Bedürftigen umgehe. Die gegenwärtige Armenfürsorge bewahre zwar jedermann vor dem Hungertod: „Das genügt aber nicht, um den Mann mit Zufriedenheit auf sein Alter und seine Zukunft blicken zu lassen, und es liegt in diesem Gesetze auch die Tendenz, das Gefühl menschlicher Würde, welches auch der ärmste Deutsche meinem Willen nach behalten soll, wachzuerhalten, daß er nicht rechtlos als ein Almosenempfänger dasteht, sondern daß er ein Peculium an sich trägt, über das niemand außer ihm verfügen kann und das ihm auch nicht entfremdet werden kann." 7 0 Wenn bereits das soziale Handeln des Staates Kommunismus sei, „ich nenne es immer wieder praktisches Christentum in gesetzlicher Betätigung - aber ist es Kommunismus, dann ist der Kommunismus ja längst in den Gemeinden im höchsten Maß getrieben, ja sogar durch staatlichen Zwang. Der Herr Vorredner (Eugen Richter, Hagen, L. S.) sagte, daß auf unsere Weise die unteren Klassen durch indirekte Steuer belastet würden, um für die Armenpflege den Beitrag aufzubringen. Ja, meine Herren, was geschieht denn aber in den großen Städten, in dem nach seiner Meinung vom fortschrittlichen Ringe so glänzend verwalteten Berlin? Da wird der Arme dadurch verpflegt, daß der Verarmende, der morgen sein gleich armer Bruder sein wird, wenn er wegen der Mietsteuer ausgepfändet ist, durch Mietsteuer den Beitrag aufbringen muß, um den schon Armen zu verpflegen. Das ist viel härter, als wenn das aus der Tabak- oder Branntweinsteuer käme (wie das Bismarcks Gesetzentwurf vorsah, L. S.)." 7 1 Auf die Kosten hinweisend, fuhr er fort: „Wie erheblich die Lasten sind, die unter Umständen dem .Gemeindekommunismus' in Gestalt der Armenpflege abgenommen werden und auf den Staatskommunismus in dieser Gestalt übergehen würden, darauf wirft eine vereinzelte Tatsache einen Lichtblick ... Nur von den 170 Städten über 70

71

A. a. O., S. 2 1 7 - 2 1 8 .

A. a. O.,

S. 2 2 5 .

274

Vili. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

10 000 Einwohner steht fest, daß dieselben für ihre Armenpflege im Durchschnitt einen Aufwand von 4 Mark pro Kopf machen. Es wechselt dieser Aufwand zwischen 0,63 und 12,84 Mark - also sehr verschieden. Am auffallendsten ist das Ergebnis aber da, wo die Mehrzahl der arbeitenden Klassen sich in Knappschaften und ähnlichen Verbänden befinden. Man sollte glauben, daß stark bevölkerte Fabrikorte, wie Oberneuenkirchen und Duttweiler, in dieser Berechnung einen außerordentlich starken Appoint haben müßten. Berlin, was nur teilweise ein industrieller Ort ist, teils auch nicht, also gewissermaßen, wenn es richtig und geschickt in seinen Finanzen verwaltet wäre, eine Art Durchschnittspunkt geben könnte, zahlt weit über den Durchschnitt für seine Armenpflege, ohne daß die Armen - wie jeder, der sich Privatwohltätigkeit und das Aufsuchen der Armen in ihren Wohnungen etwa zur Aufgabe stellt, sich leicht überzeugen kann, was für beklagenswerte Zustände der Armut in Berlin mitunter vorhanden sind - also ohne daß die Armen brillant verpflegt werden; aber dennoch beläuft sich das Armenbudget in Berlin auf 5 200 000 Mark nach den neuesten Angaben, und die Armenkrankenpflege ... auf zirka 1 900 000 Mark, also zusammen auf über 7 Millionen Mark, also 7 Mark pro Kopf, während der Durchschnitt der großen Städte nur 4 Mark pro Kopf beträgt... Wo sich vorwiegend dichte Fabrikbevölkerung befindet, ist die auffallende Tatsache zu verzeichnen, daß Obemeuenkirchen nur 58 Pfennige pro Kopf Armenlast hat, wenig über eine halbe Mark, und Duttweiler 72 Pfennige." 72 Hätte man im ganzen Reich „Berliner Verhältnisse", wäre das Reich in phantastische finanzielle Lasten verstrickt: wenn man die Berliner direkte Belastung ... auf das ganze Reich erweitern wollte, (man würde) über eine Milliarde Mark direkte Steuern ... haben. Indessen" - und hier entpuppt sich die finanzielle Berechnung als eine politische Attacke gegen die Berliner Stadtverwaltung - „es leben ja nicht alle im Reich unter dem fortschrittlichen Ring". 73 Welche Beleidigung diese Bezeichnung für die Berliner Stadtverwaltung darstellte, wurde schon ausgeführt. Im Grunde suggerierte Bismarck, man müsse der unzuverlässigen Stadtverwaltung die Zuständigkeit für die Armenpflege entziehen, um sie dem zuverlässigen Staat zu übergeben. 72

A. a. O., S. 230-231.

73 Ebda.

Bismarcks Sozialgesetze

275

Der Staatszuschuß stellte in Bismarcks Augen nur einen Wechsel in der Zuständigkeit der Verwaltung jener enormen Geldbeträge dar, die die Kommunen für die Armenfürsorge ausgaben: weg von den liberalen Stadtverwaltungen und hin zum überparteilichen Staat, weg von den willkürlich handelnden ehrenamtlichen Honoratioren und hin zu den zuverlässigen Staatsbeamten. Ursprünglich wollte Bismarck die Ausgaben für die Unfallversicherung auf Unternehmer, Arbeiter und lokale Armenorganisationen aufteilen. Hätte der Entwurf Gesetzeskraft erlangt, würde das zu erheblichen Einsparungen für die Armenkommissionen geführt haben, da bis dahin die Unterstützung arbeitsunfähig Gewordener, abgesehen von jenen sehr wenigen Fällen, in denen es den Betroffenen gelang, die Schuld des Arbeitgebers nachzuweisen, vollständig auf die Armenfürsorge entfiel. In der großen Rede vom April 1881 äußerte Bismarck statt dessen: „Nur kann es nicht der Lokalverband sein, es muß ein größerer Armenverband sein, und der größte ist der Staat, und deshalb halte ich unbedingt fest an dieser Staatshilfe ... Ich betrachte dies als integrierenden Teil des Gesetzes, ohne welchen es nicht mehr denselben Wert für mich haben würde, den ich ihm bisher beilege." 74 Die Frage der finanziellen Deckung der Ausgaben sei irrelevant, denn die Finanzmittel seien lediglich von den Gemeinden auf den Staat zu übertragen. Bismarck bemerkte abschließend dazu: „Der Herr Abg. Bamberger hat ferner gefragt: Woher nehmen Sie denn die Mittel, die dazu nötig sind? Wie ich schon bemerkte, dieses Gesetz erfordert im ganzen wenig neue Ausgaben, die Regierung verlangt nur die Erlaubnis, den Staat an die Stelle der armenpflegenden Gemeinden treten zu lassen, und dann eine kleine, mäßige Zulage für den Erwerbsunfähigen, die aber von dessen Willen absolut unabhängig bleibt und ihm anklebt, ohne daß sie von ihm getrennt werden kann, ihm also eine gewisse Unabhängigkeit auch in seiner Stellung als Invalide im Leben läßt ... das sollte ... ein Staat, der seiner großen Mehrzahl nach aus aufrichtigen Bekennern des christlichen Glaubens besteht, der sollte dem Armen, Schwachen und Alten auch in einem noch weiteren Maße, als es hier gefordert ist ... sich nicht versagen und dem armen Manne nicht. (Bravo! rechts.)" 75 In der gleichen Reichstagssitzung hatte Eugen Richter noch ganz in den liberalen Kategorien der Armenfürsorge gegen den Entwurf 74

A. a. O.,

75

A. a. O., S. 2 3 5 - 2 3 6 .

S. 2 3 2 .

276

Vili. Die Institutionalisierung

der sozialen

Sicherheit

von Bismarck argumentiert: „Unsere Armengesetzgebung individualisiert, sie kennt kein Recht auf Unterstützung Kategorien gegenüber, sondern sie sagt: wenn du dir nicht helfen kannst aus äußeren oder inneren Gründen, wenn es dir gar nicht möglich ist, dir das Minimum der Existenz zu verschaffen, wenn auch sonst niemand für dich eintritt, dann nach Prüfung des einzelnen Falls, des individuellen Verhältnisses, wird dir so viel aus öffentlichen Mitteln gereicht, daß du davon nothdürftig existieren kannst. Hier umgekehrt, hier wird ganz von vornherein kategorienweise festgestellt, daß eine gewisse Klasse, die nicht den und den Lohn hat, nicht im Stande ist, sich selbst zu helfen, und daß aus öffentlichen Mitteln ihnen hierfür ein Zuschuß geleistet werden muß."76 Das sei nicht Sozialismus, behauptete Richter schließlich, sondern die schlimmste Art des Kommunismus. In der nächsten Sitzung des Reichstages, zwei Tage später, trat Rudolf von Gneist gegen Richters Vorwurf des Staatssozialismus auf und verteidigte den Gesetzentwurf. Schon jetzt gewährleiste der Staat durch die einzelne Gemeinde jedem in Not geratenen Arbeiter Unterstützung: „Worum es sich jetzt handelt", sagte Gneist, „ist nur das: eine Klasse der Unfälle aus dem Gebiet der allgemeinen Armenpflege herauszuheben, ... die Armenalmosen in eine Lebensversorgung zu verwandeln und das dazu erforderliche Mehr den beteiligten Industriekreisen zur Last zu legen, denen es zu Gute kommt."77 Die letzte dieser geplanten Versicherungen, die gegen eintretende Armut infolge alters- beziehungsweise invaliditätsbedingter Arbeitslosigkeit, wurde als das „sozialpolitische Lieblingsprojekt des Reichskanzlers"78 angesehen. Es wurde 1888 von Lujo Brentano ganz offen „lediglich" als „eine Armensteuerreform gekennzeichnet, welche alle Mißstände der bisherigen Armenpflege-Ordnung" durch eine „zweckmäßigere Ordnung der Armenpflege" „zu beseitigen verspricht",79 als ein „Projekt", das die Aufgaben einer Armenwesensreform in „ganz vorzüglicher Weise löst".80 Die Argumente, die er dabei ins Feld führte, hätten generell auch für die ersten beiden Ver-

Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags..., 28. Sitzung am 2. April 1881, S. 708. 77 A. a. O., 29. Sitzung am 4. April 1881, S. 73978 August Lammers, Ziele und Bahnen der Deutschen Armenpflege, Berlin 1882, S. 26. 7 9 L. Brentano, Die beabsichtigte Alters-Versicherung..., S. 28. 80 A. a. O., S. 32.

Bismarcks Sozialgesetze

277

Sicherungen gelten können. Es lohnt sich also, sie im einzelnen zu behandeln. Nach dem Gesetzentwurf erhielt derjenige Arbeiter eine Altersrente von 120 Mark pro Jahr, der das 70. Lebensjahr vollendet hatte, sofern er nicht bereits eine Invalidenrente bekam. Gegen die Bemessung der Altersgrenze wandte ein anderer zeitgenössischer Beobachter ein: „Wie viele Arbeiter werden denn alt?"81 Die wenigsten würden so alt, argumentierte Brentano, ohne daß sie vorher Invaliden geworden wären, in der Regel würde die gezahlte Rente also die Invalidenrente sein. Als Invalide galt dabei „derjenige, welcher in Folge seines körperlichen oder geistigen Zustandes weder im Stande ist, die Arbeiten, welche seine bisherige Berufstätigkeit mit sich bringt, regelmäßig zu verrichten, noch durch andere, seinen Kräften, Fähigkeiten und der vorhandenen Arbeitsgelegenheit entsprechende Arbeiten den Mindestbeitrag der Invalidenrente zu erwerben." Es handelte sich also nur darum, „dem Versicherten den Betrag zu sichern, welcher dem Verarmten schon bisher ... auf dem Wege der Armenunterstützung ... zu Teil wurde. Auch diesen Betrag erhält der Versicherte nur ähnlich wie seitens der Armenpflege, nämlich nur insofern er nicht auf irgend eine Weise sich noch selbst so viel verdienen kann. Desgleichen wird die Invalidenrente, ähnlich wie bisher die Armenunterstützung, dem Empfänger entzogen, wenn in seinen Verhältnissen eine Veränderung eintritt, welche ihn nicht mehr als dauernd völlig erwerbsunfähig erscheinen läßt."82 Daß dem Versicherten nur der Betrag als Rente in Aussicht gestellt wird, „der zur Entlastung der bisherigen Armenpflege erforderlich ist",83 bezeichnete Brentano als die Eigenschaft, die die Funktionsfähigkeit der neuen Regelung garantiere: „Da die Rente, die in Aussicht gestellt wird, so geringfügig ist, brauchen nämlich auch die Beiträge, welche erhoben werden, nur geringfügig zu sein. Fehlt nun dem Arbeiter auch die Stetigkeit der Beschäftigung", das Hauptproblem, das bis dahin jeden Versuch einer Lösung der Armenfrage durch Versicherungen jeder Art zum Scheitern verurteilt hatte,84 „die zur stetigen Zahlung selbst dieser geringfügigen Beiträge unentbehrlich ist, 81

A. Lammers, Ziele..., S. 26. L. Brentano, Die beabsichtigte Alters-Versicherung..., S. 29. 83 Ebda. 84 Brentano betonte, daß bei fehlender Versicherung gegen unfreiwillige Arbeitslosigkeit keine Sicherung der Möglichkeit bestand, die durch Gesetz vorgesehenen 82

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Vili. Die Institutionalisierung der sozialen Sicherheit

so macht es ihm dieser geringe Betrag derselben doch nicht von vornherein unmöglich, nicht nur die verabsäumten eigenen Beiträge, sondern auch ... die des Arbeitgebers nachzuzahlen." 85 Um eine Invalidenrente zu beziehen, mußte der Arbeiter fünf Jahre lang jährlich für dreihundert Tage Beiträge gezahlt haben. „Nur wenn ein Arbeiter erwerbsunfähig wird erweislich infolge einer Krankheit, welche der Versicherte bei der Arbeit aus Veranlassung derselben sich zugezogen hat", sollte von diesem Erfordernis abgesehen werden: „Und auch dieses erscheint von dem Gesichtspunkte aus, daß es sich um ein Gesetz betreffend die Ordnung der Armenpflege handelt, ganz konsequent . . . Würde der Arbeiter doch ohne dies ganz unverschuldet der nur unter entehrenden Bedingungen gewährten Armenunterstützung anheimfallen. Somit erscheinen alle Invaliden der Arbeit dieser schimpflichen Armenunterstützung entrückt. Sie alle erhalten die Invalidenrente..., zu deren Ermöglichung sie selbst ein Drittel beigesteuert haben. Dagegen soll diese Rente jenen nicht zu Teil werden, welche erweislich sich die Arbeitsunfähigkeit vorsätzlich oder durch schuldhafte Beteiligung an Schlägereien ... zugezogen haben. Diese sollen allerdings auch nicht verhungern oder erfrieren. Aber für sie bleiben die entehrenden Bedingungen der Armenunterstützung bestehen." 8 6 Die Forderungen der Liberalen seit den vierziger Jahren nach selbstverantwortlichem Vorsorgeverhalten und Selbsthilfe der Arbeiter realisierten sich in den achtziger Jahren auf der Ebene gesetzlicher Regelungen, den Zwangsversicherungen, die bald vom Status des Arbeiters untrennbar wurden. Da mit den Versicherungsgesetzen jedoch keine Garantie gegen Arbeitslosigkeit verbunden wurde, war die Erhaltung des Arbeitsplatzes stets bedroht. Jeder Arbeiter konnte von der Gruppe der versicherungspflichtigen in die der „arbeitsscheuen" Arbeitslosen abstürzen, von der gesetzlichen Ebene des „Rechts auf eine Rente" auf die des Armen ohne jedwelche Rechte. Kein Wunder also, daß die Versicherungsgesetze nicht die erhoffte Duldsamkeit der arbeitenden Klassen gegnüber dem Staat brachten. Zwangsbeiträge dauernd zu zahlen - der Haken, an dem die ganze Versicherungskonstruktion krankte, auch nach der Bismarckschen Gesetzgebung. Siehe Lujo Brentano, Der Arbeiter-Versicherungszwang, Berlin 1881, S. 28. L. Brentano, Die beabsichtigte Alters-Versicherung..., S. 34. 86 A. a. O., S. 35.

NEUNTES

KAPITEL

Der Zerfall der alten Gesellschaft in der Luisenstadt Die Luisenstadt nach der Reichsgründung Die Reichsgründung bildet in der Geschichte der Luisenstadt eine Zäsur. Der Bauboom zu Beginn der siebziger Jahre führte zu einer Ausdehnung und Verdichtung der Bebauung. Es entstanden neue, im Bebauungsplan nicht vorgesehene Straßen (Naunynstraße, Pücklerstraße, Muskauer Straße), und die in den sechziger Jahren bebauten Grundstücke wurden in der Tiefe durch Fabrikgebäude erschlossen, in die eine Vielzahl kleiner und mittlerer Betriebe einzog. Die Bebauung übersprang erstmals die Linie der ehemaligen Zollmauer; die halbe Reichenberger Straße und die Wiener Straße wurden als erste Straßen des Schlesischen Viertels in kürzester Zeit bebaut. Als sich Mitte der achtziger Jahre die Baukonjunktur wieder belebte, wurde mit einem Schlag der gesamte Rest der äußeren Luisenstadt bebaut. Die äußere Luisenstadt besaß in den von Nord nach Süd verlaufenden Straßen alle Eigenschaften eines reinen Arbeiterviertels, eine in der Luisenstadt bis dahin unbekannte Erscheinung. Des weiteren veränderte sich das Verhältnis der alten Luisenstadt zum Stadtzentrum. Mit der Funktion der Reichshauptstadt kamen die zentralen Verwaltungen aller großen Banken, Verbände usw. nach Berlin. Erst jetzt wurde die Stadt auch vom Aussehen her und durch die Konzentration der Kapitalkraft und des Konsums zu einer Großstadt im Sinne des 19. Jahrhunderts. Damit ging der Abriß der alten und bescheidenen, oft noch zweistöckigen Stadt einher, die Berlin bis dahin gewesen war. Die ältesten Teile der Luisenstadt lagen im unmittelbaren Erweiterungsgebiet der neuen City, und bis zur Jahrhundertwende war von der barocken Kleinstadt des 17. und 18. Jahrhunderts so gut wie nichts mehr übrig. Selbst die stadtnahen Spekulationsgebiete der Ritter- und Oranienstraße bis hin zum Moritzplatz

280

IX. Der Zerfall der alten Gesellschaft in der Luisenstadt

wurden in die Citybildung und das Eindringen der Industrie aus der südlichen Friedrichstadt einbezogen. Das Ergebnis war das Exportviertel zwischen Alter Jakob- und Alexandrinenstraße, die Musterschau der luisenstädtischen Produktivität.1

Stadtmission und Stoecker Die ungleichmäßige Entwicklung der Luisenstadt beschleunigte den Zerfall ihrer alten gesellschaftlichen Strukturen. Auf der lokalen Ebene etablierten sich einerseits kirchliche Einrichtungen, die eine radikal konservative Politik betrieben, und andererseits begannen die Organisationen der Arbeiterpartei durch ihre Vertreter politischen Einfluß zu gewinnen. Es wurde schon geschildert, wie die Stadtmission dank Bachmann und dem Verein für kirchliche Zwecke in Berlin zuerst in der Luisenstadt Wurzel schlug. In den folgenden Jahrzehnten nahm die Zahl der Standorte in diesem Viertel zu; 1875 wurden in der Sebastianstraße das Melanchthonhaus als Filiale der Stadtmission und 1885 der Jungfrauenverein der Stadtmission mit Nähschule in der Eisenbahnstraße eröffnet, er wurde später in die Lausitzer Straße 8 verlegt; im Nachbarhaus Lausitzer Straße 9 befanden sich in den achtziger Jahren eine Sparkasse sowie eine Sonntagsschule der Stadtmission mit 300 Kindern, eine weitere wurde 1882 in der Admiralstraße 11 eröffnet und eine dritte in den Räumen der Kleinkinderbewahranstalt in der Cuvrystraße 39.2 Die „Stadtmissionare" waren „schlichte Leute, die dem Handwerkerstande" entstammten. 3 Das Viertel, in dem sie tätig wurden, war jedoch kein Handwerkerviertel mehr. Cuvrystraße, Lausitzer Straße und Admiralstraße war gemeinsam, daß sie die ärmsten Straßen der damaligen Luisenstadt waren. 4 Cuvrystraße und Lausitzer Straße waren ausgesprochene Arbeiterstraßen, die Lausitzer Straße war wie

1 Horant Fassbinder, Berliner Arbeiterviertel 1800-1918, Hamburg 1971, S. 102103; D. Hoffmann-Axthelm, Die Luisenstadt..., S. 198-207; ders., Zur Baugeschichte des Moritzplatzes, in: ders., Baufluchten..., S. 16 f. 2 Ernst Evers, Die Berliner Stadtmission, Berlin 1902. 3 A. a. O., S. 69. 4 Dieter Hoffmann-Axthelm, Straßenschlachtung. Geschichte, Abriß und gebrochenes Weiterleben der Admiralstraße, Berlin 1984, S. 18 f.

Stadtmission und

Stoecker

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auch die anderen, in der Nähe des Görlitzer Bahnhofs liegenden Querstraßen darüber hinaus ein Zentrum der Zuwanderung von Polen aus den polnischen Provinzen des damaligen Preußen; die Zuwanderer waren meist katholisch.5 1887 wurde die Emmausgemeinde von St. Thomas abgezweigt. Schon bei der Gründung umfaßte die neue Parochie 70 000 Seelen. Die Emmaus-Kirche entwickelte sich zu einer Bastion der Konservativen beziehungsweise der „Positiven", wie sie sich nannten. Ein begeisterter Anhänger Stoeckers, der Tischlermeister Stehmann, gründete hier einen „Positiven Parochialverein", und entsprechend wählte die Gemeinde ihre Gemeindevertreter.^ Die Parochie organisierte Frauenvereine, Krankenpflegestationen und kirchliche Armenkommissionen; die Mitglieder dieser Gremien betrieben - unter dem Vorwand, praktische Hilfe anzubieten - eine „aggressive Seelsorge", um alle Bewohner in das Gemeindeleben einzugliedern. Stoecker war 1874 als Hofprediger nach Berlin berufen worden. 1877 übernahm er die Leitung der Berliner Stadtmission, deren Aufgaben ihm aber bald als zu klein erschienen. Als seine 1878 gegründete christlich-soziale Arbeiterpartei die erste Wahlniederlage erlitt, begann Stoecker seine Propaganda durch antisemitische Argumente zu stützen. Ein religiös motivierter Antisemitismus wurde bald das Zentralthema seiner politischen Tätigkeit. Viele Juden hatten sich einerseits in der Stadtverwaltung den Freisinnigen und den Liberalen (Ludwig Loewe, Wolfgang Straßmann, Salomon Neumann) und andererseits der Arbeiterpartei (Paul Singer, Eduard Bernstein) angeschlossen. Auch an der Spitze von Banken und Industrieunternehmen standen Juden. Politische und gesellschaftliche Übel schienen sich in der Judenfrage zu konzentrieren. Der „Mammonismus", so Stoecker, sei die ökonomische Ausdrucksform des Liberalismus, und im modernen Judentum sah er die Mächte, „welche unser Volk dem Abgrund zutreiben".7

5 Siehe dazu den Erlebnisbericht von Wilhelm Leibusch, Einer aus der Lausitzer Straße. Eine katholische Jugend in Berlin-Kreuzberg zu Anfang des Jahrhunderts, Berlin 1968, S. 32 f. ^ 75 Jahre Emmaus-Kirche. Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestehens der Emmaus-Kirche, Berlin 1968, S. 9· 7 Karl Kupisch, Adolf Stoecker. Hofprediger und Volkstribun. Ein historisches Porträt, Berlin 1970, S. 44.

282

IX. IDer Zerfall der alten Gesellschaft in der Luisenstadt

Die „Berliner Bewegung", wie Stoecker seine antisemitische Agitation nannte, hatte in den frühen achtziger Jahren ihre Glanzzeit. Sie entwickelte sich schnell zu einer kleinbürgerlich-konservativen Partei, die dem konservativen Lager Wähler aus dem Potential der Liberalen und der Arbeiterpartei zuführte. Ihre Propaganda war oft in schroffer Art gegen die liberal regierte Stadt gerichtet. Zu vulgär, um Sympathien bei Bismarck zu erwecken, war sich Stoecker der Gunst des Hofes bis zum Ende der achtziger Jahre jedoch gewiß.

Paul Singer, der erste Kommunalpolitiker der Arbeiterpartei Neben Stoecker war es die Sozialdemokratie, die die Vorherrschaft der Liberalen in der Luisenstadt bedrohte. Die Masse der Wählerschaft der dritten Klasse erhielt mit der Neueinteilung der Wahlbezirke von 1883 mehr Macht. Die drei genannten politischen Kräfte führten deshalb einen heftigen Wahlkampf bei den darauffolgenden Kommunalwahlen. Die Arbeiterpartei stellte zum ersten Mal Kandidaten auf. Die Konservativen um Stoecker und die Arbeiterpartei rangen um die Wähler der dritten Klasse. Unter 42 Stadtverordneten der dritten Klasse eroberten die ersteren 10 Sitze im Stadtparlament, die anderen 5, die Liberalen 27. Die Liberalen wurden durch das Dreiklassenwahlrecht gerettet: Hätten nicht die Stimmen der ersten und zweiten Klasse wesentlich mehr Gewicht besessen als die der dritten, wäre ihr Sieg weniger bedeutend ausgefallen. In absoluten Zahlen wurden im ganzen 59 000 liberale, 33 000 konservative und 7000 sozialdemokratische Stimmen abgegeben. 8 Die Liberalen sahen angesichts der konservativen Bedrohung „das Eintreten der Sozialdemokraten in den Wahlkampf nicht ungern", 9 zumal in dieser Zeit Beziehungen zwischen Bürgerpartei und Arbeiterpartei noch reichlich vorhanden waren und die erste ihre Hoffnung, die zweite in ihrem Fahrwasser zu halten, nicht ganz aufgegeben hatte.10 8 Otto Hermes, Zu den Stadtverordnetenwahlen, Berlin 1887, S. 6. 9 Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung, Berlin 1907, Bd. 2, S. 116. 10 1878, im letzten Jahr des Regierungsbündnisses mit den Liberalen, gründeten 70 Luisenstädter um Julius Weiß den Fortschrittsverein Benedikt Waldeck in der Alten Jakobstraße 75, der nach zwei Jahren 756 Mitglieder Zählte. Der Verein versuchte,

Paul Singer, der erste Kommunalpolitiker

der Arbeiterpartei

283

Die gesamte Wahlkampagne der Arbeiterpartei ging von der Luisenstadt aus. In der Wohnung des Maschinenbauers Görcki, Naunynstraße 57, befand sich das Büro des Wahlkomitees. Hier wurden in verschiedenen Lokalen - unter anderem im Restaurant „Zur Linde" in der Kottbusser Straße 1, Ecke Admiralstraße - die Kandidaten aufgestellt. Der erste Kommunalpolitiker der Arbeiterpartei, Paul Singer, war ein angesehener Kaufmann aus der Luisenstadt und glich in vielem den Honoratioren dieser Gegend. Am 16. Januar 1844 als neuntes Kind einer Berliner jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, verlor er als kleiner Junge seinen Vater und wuchs in sehr bedrängten Verhältnissen auf. 1858 verließ er die Realschule, um als Lehrling in die Tuchwarenhandlung des demokratisch eingestellten Kaufmanns Meyer einzutreten. Hier und in dem Konfektiongeschäft von J. Singer, einem der größten Berlins, wurde er ausgebildet und gründete 1869 mit seinem Bruder Heinrich die „Damenmäntelfabrik Gebr. Singer", die sich in der Kommandantenstraße 84 befand. In wenigen Jahren gelang es ihm, den Betrieb „zu blühender Höhe emporzuheben". 11 Seit Anfang der sechziger Jahre war Paul Singer mit Mitgliedern der gerade gegründeten Fortschrittspartei befreundet; außerdem verkehrte er im Jacoby-Kreis, einer Gruppe bürgerlicher Intellektueller, Kaufleute und Fabrikanten, die entschieden Bismarcks Politik kritisierten. Einige von ihnen, zum Beispiel Guido Weiß und Paul Langerhans, leiteten liberale luisenstädtische Bezirksvereine, andere, darunter auch Singer, waren Mitglieder des Berliner Arbeitervereins, der mit der Bebel-Liebknechtschen Richtung im „Verband deutscher Arbeitervereine" sympathisierte.12 Die Fortschrittler des Jacoby-Kreises distanzierten sich bald von Loewe und Langerhans, die sich mit der liberalen Stadtverwaltung identifizierten, und unterschieden sich besonders in der Behandlung der sozialen Frage. Dennoch waren sie weiterhin in Bezirksvereinen tätig, weil sie immer noch vom Grundsatz der Selbsthilfe überzeugt waren. Trotzdem ging für sie der Reformvorschlag Seydels sicher durch Vortrage, die alle zwei Wochen gehalten wurden, die Teilnahme der Liberalen am politischen Leben wieder zu beleben. 11 Der Konfektionär νom 22. Dezember 1887. Ich unterstelle einen Zusammenhang Zwischen dem Vertrieb von Nähmaschinen und der Gründung einer Fabrik für Damenmäntel durch Paul Singer (siehe oben, S. 201-203). 12 Heinrich Gemkow, Paul Singer. Ein bedeutender Führer der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1957.

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IX. Der Zerfall der alten Gesellschaft in der Luisenstadt

schon zu weit. Geradezu lächerlich mußte ihnen der Versuch von Ludwig Loewe erscheinen, der die soziale Frage durch den Ratenkauf lösen wollte. Auf nationaler Ebene schieden sich die Wege vor allem nach den Ereignissen von 1866, als der Sieg bei Königgrätz dazu führte, daß die Mehrheit der Liberalen ihre Einstellung zu Bismarcks Politik änderte. Der Berliner Arbeiterverein distanzierte sich 1868 von der Entschließung des Nürnberger Vereinstags des Verbandes deutscher Arbeitervereine, sich mit dem Programm der Ersten Internationale zu solidarisieren, als Folge erklärten Singer, Karl Hirsch, G. Boas und Alexander Jonas ihren Austritt, um einen neuen Arbeiterverein mit deutlich sozialdemokratischem Charakter zu gründen. Anfang der siebziger Jahre konzentrierte Singer - er war an Tuberkulose erkrankt, die er im Mittelmeergebiet auskurierte - seine Kräfte auf den wirtschaftlichen Aufstieg seines Geschäfts. 1883 kandidierte er mit Erfolg im 12. Kommunalwahlbezirk der Luisenstadt - der Gegend zwischen Lausitzer Platz und Schlesischer Straße - und wurde von den Wählern in die Stadtverordnetenversammlung entsandt; damit begann das öffentliche, politische Leben von Singer. Bis dahin war er nie an die Öffentlichkeit getreten, aber vielen muß er als ein demokratisch eingestellter, wohlhabender Kaufmann bekannt gewesen sein, denn er hatte sich tatkräftig bei mehreren sozialen Projekten engagiert: 1876, als Jacoby starb, wurde er Mitbegründer des Jacoby-Fonds zur Unterstützung der politisch Verfolgten, seit 1878 half er den Familien der Sozialdemokraten, die aufgrund des Sozialistengesetzes ausgewiesen worden waren, er finanzierte die Demokratische Zeitung und die Waage, Blätter der Berliner Jacoby-Anhänger; öffentliches Ansehen genoß er insbesondere als Mitbegründer der sogenannten Wiesenburg, des Asyls für Obdachlose in der Wiesenstraße im Wedding, einer liberalen Alternative zu dem durch starre Reglementierung berüchtigten städtischen Asyl. Aus dem Milieu der bürgerlichen liberalen Honoratioren des Viertels kam der erste Stadtverordnete der Arbeiterpartei. 1884 wurde Singer auch in den Reichstag gewählt. 1886 wurde er aufgrund des Sozialistengesetzes aus Berlin ausgewiesen, was seine Popularität noch steigerte. Erst 1887 schied er aus seiner Konfektionsfirma aus, um sich ausschließlich der Politik zu widmen. Als Stadtverordneter erhielt er nur in solchen Kommissionen und Deputationen einen Sitz, die rein verwaltungstechnische Fragen zu

Andere sozialdemokratische

Luisenstädter

im Stadtparlament

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behandeln hatten, nicht zum Beispiel in der Schuldeputation.13 Das zeigt das Unbehagen seiner alten liberalen Freunde, das um so größer sein mußte, als sie dank ihrer gemeinsamen ideologischen Vergangenheit nicht wenige Berührungspunkte hatten. Seine politischen Grundsätze waren die eines aufrechten Liberalen alten Schlages, der in der Arbeiterpartei eine Politik zugunsten der unteren Klassen der Gesellschaft zu machen versuchte, die bei den neuen Liberalen nicht mehr denkbar war.14 Sein Begräbnis im Januar 1911 wurde eine Massendemonstration. Vergleichbar war sie in Berlin nur mit dem Begräbnis von Karl Ludwig von Hinckeldey.

Andere sozialdemokratische Luisenstädter im Stadtparlament Der absolute Zuwachs an Wählerstimmen aufgrund der fortdauernden Zunahme der Bevölkerung verteilte sich recht ungleich. Zwischen 1890 und 1907 stiegen die Stimmenanteile der drei großen politischen Gruppen wie folgt an: Liberale 47,4 Pozent Konservative 91,1 Prozent Sozialdemokraten 160,0 Prozent. Letztere hatten also einen stärkeren Zuwachs als die beiden Konkurrenten zusammengenommen. Das zeigt, daß die Arbeiterpartei inzwischen in der Stadt solide verankert war. Unter den Stadtverordneten, die die Arbeiterpartei in den achtziger und neunziger Jahren ins Stadtparlament entsandte, befanden sich neben Singer weitere Luisenstädter. Es waren der Zigarrenhändler Otto Klein, der in der Ritterstraße und später am Kottbusser Damm wohnte, der schon genannte Schlossermeister Görcki aus der Naunynstraße, der jüdische Arzt J. Zadek aus der Annenstraße und später der Dresdner Straße, Franz Tutzhauer, Tischlermeister und später Möbelhändler aus der Köpenicker Straße 24 und schließlich der Tischlermeister und Rentier Höhne, Waldemarstraße 50. Letzterer verfügte über den typischen Lebenslauf der lokalen Honoratioren. Er 13

Kurt Wolterstädt, Paul Singer als Kommunalpolitiker im Berliner Stadtparlament 1883-1886, in: Berliner Geschichte, 4 (1983), S. 29-36. ^ Siehe dazu seine programmatischen Schriften in H. Gemkow, Paul Singer..., Anhang.

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IX. Der Zerfall der alten Gesellschaft in der

Luisenstadt

war seit 1864 zehn Jahre lang Armenkommissions- und Bezirksvorsteher gewesen. Aus dem Umstand, daß von den luisenstädtischen Stadtverordneten kein einziger den Arbeiterkreisen zugehörig war, resultierte ein charakteristischer Konflikt, den Bernstein beschreibt: Höhne, sein Kollege Tutzhauer und ein nicht weiter identifizierbarer G. Sabor waren im Juni 1892 im Leichenzug des verstorbenen Oberbürgermeisters Max von Forckenbeck mitgegangen und hatten sich auch an der kirchlichen Beerdigung beteiligt. Dieses Verhalten wurde als Verstoß gegen die prinzipielle Einstellung der Partei verurteilt. Die drei wurden aus ihr ausgeschlossen und mußten ihre Mandate zurückgeben. 15 Der Zwischenfall zeigt, daß die drei sozialdemokratischen Stadtverordneten sich mehr als Mitglieder einer dem Gemeinsinn verpflichteten Stadtverwaltung fühlten und weniger als Mitglieder einer Partei, deren Beschlüsse sie bedingungslos zu befolgen hätten. Das Verhältnis zwischen Arbeiterpartei und Honoratiorenwelt stellt ein besonderes, bisher wenig behandeltes Thema dar.16 Aus prinzipiellen Gründen hielt sich die Sozialdemokratie von der Armenpflege fern. Ihr politisches Ziel war eine revolutionäre Umgestaltung, „die Schaffung einer neuen Gesellschaft, in der soziale Benachteiligungen, die durch Fürsorge gemildert werden müßten, gar nicht mehr eintreten würden".17 Diese grundsätzliche Haltung ließ aber genügend Spielraum für eine entgegengesetzte Praxis, die die lokalen Ursprünge der Partei im liberalen Lager widerspiegelt.

15

Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung, Berlin 1910, Bd. 3, S. 214. ^ Einziger Hinweis auf einen Arbeiter, der vor dem ersten Weltkrieg ausdrücklich „Armenpfleger" und USPD-Stadtrat gewesen war (im Ruhrgebiet) in: Erhard Lucas, Vom Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung, Basel-Frankfurt/M. 1983, S. 31. Für das Jahr 1910 ergab eine Umfrage, daß sich von 71 größeren Städten mit über 50 000 Einwohnern in 41 Städten (58%) Arbeiter an der Armenpflege beteiligten. Ihr Anteil in den Armenkommissionen betrug nahezu 5%. Erst 1908 wurden in manchen Orten Sozialdemokraten zur Armenpflege herangezogen. Vgl. Adelheid von Saldern, Sozialdemokratische Kommunalpolitik in Wilhelminischer Zeit, in: Karl-Heinz Naßmacher (Hrsg.), Kommunalpolitik und Sozialdemokratie, Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 18 ff., insbes. S. 33. 17 Otto Dann, Vorwort Zu: Dietmar Niemann/Franz-Josef Göbel, Die Düsseldorfer Arbeiterwohlfahrt, Düsseldorf 1981, S. 10.

Andere sozialdemokratische Luisenstädter im Stadtparlament

287

Es war im Rahmen dieser Arbeit nicht f e s t s t e l l e n , wie viele Mitglieder der Armenkommissionen im Laufe der Zeit Sozialdemokraten waren. Zur politischen Zugehörigkeit der Mitglieder enthalten die Mitgliederlisten keinerlei Angaben. Die ersten luisenstädtischen Stadtverordneten der Arbeiterpartei, in der Mehrheit Handwerksmeister, wiesen allerdings einige Eigenschaften lokaler Honoratioren auf. Interessant ist der Fall Höhne. Dieser war als einziger nachweislich in den lokalen städtischen Strukturen tätig. Die Vermutung liegt nahe, daß sein Ausschluß aus der Partei unter Umständen mit seiner der neuen Parteimentalität inzwischen verdächtig erscheinenden Vergangenheit als einer der Honoratioren der Luisenstadt zu tun haben könnte. Ein weiteres Beispiel für Honoratioren in der Sozialdemokratischen Partei - allerdings kein Luisenstädter - war neben Singer und Höhne der jüdische Verleger Hugo Heimann, Inhaber der Guttentag'schen Verlagsbuchhandlung (Guttentag war eine Generation früher Mitglied der „Vorsehung" gewesen), die er 1898 an den Vorsitzenden der nationalliberalen Reichstagsfraktion verkaufte, um sich ganz der Politik zu widmen. Nach dem Muster der englischen Public Library stiftete er 1899 eine in der Luisenstadt, Adalbertstraße 41 errichtete große öffentliche Bibliothek für die Berliner Arbeiterschaft. 1900 wurde er in die Stadtverordnetenversammlung gewählt. 18 Nach Singers Tod, dessen Universalerben er und Bebel waren, blieb er mit seinen Vorstellungen allein; er wurde von den Parteilinken als Revisionist und in der Weimarer Republik als „Versöhnler" zwischen den Lagern kritisiert. Was mit dieser ersten Generation von Vertretern der Arbeiterpartei in der Stadtpolitik verlorenging, war das, was sie noch mit den Liberalen teilten: der Wunsch zu vermitteln und zu helfen, der persönliche Einsatz, die lokale Gebundenheit und der alte Gemeinsinn. Während die Stadtpolitik aufgrund des Dreiklassenwahlrechts weiterhin von den Liberalen bestimmt wurde, waren Sozialdemokratie Um das Problem des Hausbesitzes, das der Partei immer wieder Schwierigkeiten machte (laut Städteordnung mußte die Hälfte der Stadtverordneten Hausbesitzer sein), ein für allemal zu lösen, kaufte er mit Paul Singer ein Grundstück im Wedding und ließ darauf acht kleine Häuser bauen. Sie wurden an diejenigen Personen nominell verkauft, die die Partei als Kandidaten aufzustellen wünschte. Beiträge zur Berliner Bibliothekengeschichte, hrsg. von Bibliothekenverband der DDR, Gruppe Berlin, H. 5 (1987), S. 12 f. Heimann emigrierte 1939 in die USA und starb 1951 in New York. 18

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IX. Der Zerfall der alten Gesellschaft in der Luisenstadt

und Konservative als Massenparteien auf Reichsebene miteinander konfrontiert. Die Eigenschaft als Massenpartei ließ diese beiden Parteien auch in der Behandlung der sozialen Probleme der Massen rationaler als die alten Honoratioren reagieren.

Die Linke und die Wohltätigkeitsfrage Die soziale Fürsorge funktionierte bis zum Ersten Weltkrieg auf der Ebene der traditionellen Armenkommissionen und durch die Versicherungsgesetzgebung der Konservativen. Langfristig ersetzte die Versicherungsgesetzgebung das alte System: Statt um konkretes persönliches Eingreifen ging es jetzt zunehmend um das institutionelle Verwalten und Kontrollieren der eingegangenen Zwangsbeiträge. Eine der schwerwiegenden Folgen der Zwangsversicherungen war nämlich die Ansammlung gewaltiger Geldsummen, die investiert werden mußten. Die alte, ehrwürdige Selbstermächtigung der lokalen Honoratioren wurde von der Geldmacht eines unpersönlichen Versorgungssystems zunehmend verdrängt. Diese neue abstrakte Kräftekonstellation kam nicht ungelegen für eine Massenpartei, die das kapitalistische System bekämpfte und folglich auf Klassenkampf und Kategorien setzte statt auf persönliche Hilfe und Dankbarkeitsgefühle. Entgegen der sonstigen Abstinenz der Sozialdemokratie gegenüber den Problemen der sozialen Fürsorge - man überließ sie dem Staat und kritisierte sie um so lieber als Flickwerk - nahm sie in der Nachkriegsnot endlich eine handfeste Position ein. Die SPD schuf am 13. Dezember 1919 schließlich mit der „Arbeiterwohlfahrt" eine eigene sozialdemokratische Wohlfahrtspflege, die lokale Aufgaben und eine entsprechende Organisationsstruktur hatte; es handelte sich um eine Gründung, die ganz andere Ziele verfolgte als die Wohltätigkeitsvereine jeder Coleur im 19. Jahrhundert. Diese Gründung markiert die Wende von einer Zeit, in der sich eine Vielzahl von Vereinen um besondere Klientelen innerhalb des großen Spektrums der „Armut" bemühte, zu einer Zeit der Großorganisationen, die sich ihre finanziellen Mittel nicht durch Spenden intern beschafften, sondern untereinander in Wettbewerb um die Verwendung der staatlichen zwangsgesparten Gelder traten. Es ging also, wie es Marie Juchacz präzis formulierte, auch für die SPD darum, sich eine Organisation zu schaffen, die die Konkurrenz mit den existierenden christlichen und nicht-christlichen Organisatio-

Die Linke und die Wohltätigkeitsfrage

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nen um die Inanspruchnahme der vom Staat zur Verfügung gestellten Mittel aufnehmen konnte. In der Gründungssitzung der Arbeiterwohlfahrt berichtete der sozialdemokratische Staatssekretär im Reichsinnenministerium Heinrich Schulz: „Wir als Partei haben uns bisher um Wohlfahrtspflege wenig gekümmert. Die Wohlfahrtspflege spielt aber - je länger, je mehr - eine bedeutende Rolle. Wir haben in Preußen bereits ein Wohlfahrtsministerium, an das sich viele Institutionen angliedern. Diesem Ministerium stehen erhebliche Gelder zur Verfügung. Ich komme in große Schwierigkeiten, wenn ich von 50 katholischen und anderen konfessionellen Verbänden Anträge zur Unterstützung bekomme und der sozialdemokratischen Organisation gar nichts zuweisen kann. Wir müssen deshalb auch aus unserer Mitte eine solche Organisation schaffen." 19 Bei der Gründung der Arbeiterwohlfahrt war nie an eine rein karitative Wohltätigkeit gedacht worden. Die Organisation sollte einerseits für die Partei die Kader ausbilden, um im staatlichen Bereich bei neuen sozialstaatlichen Maßnahmen Einfluß nehmen zu können, andererseits die SPD in die Lage versetzen, von staatlichen Hilfen zu profitieren und dafür zu sorgen, daß staatliche Gelder nicht nur konfessionellen Organisationen zugute kamen.

19

A. a. o., s. 9.

ZEHNTES KAPITEL

Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat im ausgehenden Jahrhundert Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts kann als die Ära der Kongresse und der wissenschaftlichen Wohlfahrtsliteratur bezeichnet werden. Das Gesamtgebiet der sozialen Frage wurde in eine ganze Reihe von Spezialbereichen aufgegliedert, die wissenschaftlich untersucht und zum Tätigkeitsfeld von spezialisierten Verbänden gemacht wurden. Der Sprachgebrauch1 änderte sich, die Begriffe Armenwesen und Wohltätigkeit wurden durch den Begriff der Wohlfahrtspflege ersetzt. Das zeigte die zunehmende Bereitschaft der Gesellschaft, solche Probleme nicht mehr moralisch und individuell zu lösen, sondern sie nüchtern als Teil der Nationalökonomie anzusehen. Einen Wendepunkt, wie von offizieller Seite später immer wieder betont wurde, bildete dabei die Arbeiterversicherungsgesetzgebung. Mit ihr wurde die Wohlfahrtspflege „endgültig aus dem Stadium, in dem sie ein Akt der Barmherzigkeit"2 war, herausgeführt. Nunmehr galt als „Grundsatz unseres wirtschaftlichen Lebens", „daß jeder einzelne im Zusammenarbeiten der Menschen einen Teil der Verantwortung für alle anderen mitzutragen hat"3 - durch Steuergelder, die der Staat auch in die Wohlfahrtspflege investierte. Schon in Wilhelminischer Zeit vervielfachte und spezialisierte sich die Wohlfahrtspflege derart, daß das Armenwesen der Städte bald nur noch einen kleinen Teil eines komplizierten Wirtschaftszweiges bildete. Entsprechend 1

Vgl. auch die Bezeichnung „Armenarzt". Sie „scheint den Anschauungen der Jetztzeit nicht mehr zu entsprechen", liest man 1876. Der Begriff ,Armenkirchhof" wurde durch „Städtischer Begräbnisplatz" ersetzt, vgl. Communalblatt, (1876), S. 1092 Staatsminister von Möller, Die Entwicklung der Wohlfahrtspflege, in: Soziale Kultur und Volkswohlfahrt während der ersten 25 Regierungsjahre Kaiser Wilhelms II. Ein Gedenkwerk, Berlin 1913, S. 667-680, Zitat S. 667. 3 Ebda.

Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat

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schwand die Macht der lokalen Vorposten der Gemeinden, der Armenkommissionen, die ihre Monopolstellung zur Linderung von sozialer Not und der Vergabe von finanzieller Hilfe verloren und zu antiquierten Einrichtungen neben vielen anderen herabsanken. Die Frage einer Zentralisierung der Wohltätigkeitsvereine stellte sich damit auf einer neuen Ebene. Sie war, wie gezeigt, schon Mitte der vierziger Jahre aufgeworfen worden und wurde immer brisanter, je mehr die Wohltätigkeitsvereine aller Art zahlenmäßig zunahmen, sich verzweigten und spezialisierten. 1869 hatte sich bereits der Verein gegen Verarmung vergeblich dieses Ziel gesteckt. So erfolgten immer wieder Zentralisierungsversuche, bei denen zumindest Informationen über alle existierenden Vereine gesammelt wurden. Einen solchen Versuch stellte 1881 - inzwischen auf der Ebene des Deutschen Reiches die Gründung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit in Berlin durch den gleichen Dr. Straßmann dar, der 1869 den Verein gegen Verarmung ins Leben gerufen hatte und der 1893 die Berliner Centralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit schuf; der Verein übernahm die fortlaufende wissenschaftliche und archivalische Bearbeitung des Gesamtgebiets der Wohltätigkeitsvereine. Solche Gründungen reagierten nicht zuletzt auf die Institutionalisierung und einheitliche Behandlung der „sozialen Frage" auf staatlicher Ebene durch die Bismarcksche Versicherungsgesetzgebung sowie auf die Aufgliederung dieser Frage in spezielle Gebiete. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde auch die Arbeitslosigkeit als selbständiges Problem entdeckt. Unter dem Einfluß der Arbeiterversicherungsgesetzgebung trat an die Stelle der individualisierenden Praxis der Armenkommissionen ein Denken in wirtschaftlichen Kategorien, der Begriff des Arbeitslosen löste sich vom Allgemeinbegriff des Armen ab. Ein „Zentralverein für Arbeitsnachweis" wurde 1883 in Berlin vom gleichen Kreis liberaler Stadt- und Staatsbeamten gegründet, der hinter dem Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit stand.4 Daß diese beiden Vereine gleichzeitig gegründet wurden, beweist die Überzeu-

4 So war der Vorsitzende des Zentralvereins der gleiche Dr. iur. Richard Freund, der als Mitglied des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit und in dessen Auftrag eine Studie über die Auswirkung der Arbeiterversicherung auf das Armenwesen durchführte. Er war auch Vorsitzender der Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalt Berlin und seit der Gründung 1898 des Verbandes Deutscher Arbeitsnachweise. Vor der Gründung des Berliner Zentralvereins gab es bereits andere Formen des Arbeitsnachweises: gewerbsmäßige private Arbeitsnachweise und solche

292

X. Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat

gung der Organisatoren, daß Armut und Arbeitslosigkeit zwei durch getrennte Einrichtungen zu bekämpfende soziale Mißstände seien. Der Berliner Zentralverein für Arbeitsnachweis war das erste rein gemeinnützige Unternehmen in dieser Richtung. Anfangs hatte der Verein mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, da sich die Unternehmer den Arbeitsnachweis nicht aus den Händen nehmen lassen wollten, weil ihnen der öffentliche Nachweis offener Stellen als eine Beschränkung ihrer „Herr-im-Hause-Rechte" erschien. Und nicht weniger mißtrauisch waren anfangs die Arbeiterorganisationen. So wurde das Angebot erst in den neunziger Jahren wirksam.5 Zugleich nahm die Zahl der wissenschaftlichen Debatten über Rolle und Sinn des Ehrenamtes in der Armenpflege gerade in den Jahrzehnten zu, in denen das Ehrenamt seine Monopolstellung als sozialpolitische Integrationsstelle vor Ort schon eingebüßt hatte und durch die neue Versicherungsgesetzgebung weiter an Bedeutung verlor. Das ganze Gebiet entzog sich nach und nach der Initiative einzelner sowie der lokalen Ebene; die Debatte darüber war nicht mehr kommunalpolitischer, sondern nationalökonomischer Art - eine Entwicklung, die dazu beitrug, das Problem abstrakter und zentralistischer zu behandeln als bisher sowie die Aufgaben und die Selbständigkeit der Honoratioren am Ort zu beschränken.

Die Folgen der Arbeitewersicherungen für die Gemeinden In der Form, in der die Versicherungsgesetze schließlich Geltung erlangten, erhielt der Betroffene im Fall von Invalidität, Krankheit, Alter oder Unfall eine Unterstützung, die kaum höher lag als das, von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen. Auf den Berliner Versuch folgten in mehreren Städten allgemeine öffentliche Arbeitsnachweise von Kommunen und gemeinnützigen Vereinen. Vgl. Richard Freund, Der Arbeitsnachweis. Eine sozialpolitische Studie, Leipzig 1899· 5 Richard Freund, Arbeitsnachweis, in: Soziale Kultur..., S. 773 f. „Die Bewegung für die Errichtung kommunaler Arbeitsnachweise nahm ihren Ausgangspunkt von dem sozialen Kongreß, den das Freie Deutsche Hochstift im Oktober 1893 veranstaltete. Vorbereitet wurde die Bewegung durch die älteren Vereins-Arbeitsnachweise" wie den Berliner Zentralverein; vgl. R. Freund, Der Arbeitsnachweis..., S. 12. Hier betont der Verfasser, daß diese paritätisch von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern besetzten Arbeitsnachweise „eine Unmenge Zündstoff aus der Arbeiterbewegung" (S. 18) entfernten, da durch ihre Mitwirkung die Arbeiter ihr Mißtrauen gegen die Verwaltung verlören.

Die Folgen der Arbeiterversicherungen für die Gemeinden

293

was er vergleichsweise von der städtischen Armenverwaltung erhalten hätte, aber er hatte sie zusammen mit dem Arbeitgeber selber finanziert und besaß ein vom Staat anerkanntes Recht auf Unterstützung. In den Verwaltungsberichten der Stadt Berlin bis zum Jahr 1900 sucht man im Bericht über das Armenwesen vergeblich Hinweise auf eventuelle Folgen der Arbeiterversicherungen in bezug auf die Arbeit der Armenkommissionen. Quantitativ nahm die Armen Verwaltung in den achtziger und neunziger Jahren weiter zu: Jahr

Anzahl der Armenkommissionen

Ehrenamtliche Mitarbeiter

1888 1895 1900

222 259 307

2362 2812 3484

In der Zeit zwischen 1895 und 1900 stieg die Zahl der Almosenempfänger um 17,3 Prozent gegenüber einem Anstieg der Bevölkerung von 12,6 Prozent.6 Wie Untersuchungen des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit zeigen, wurde zwar die Armenpflege durch die Arbeiterversicherung von Unterstützungsfällen entlastet, aber „durch den unverkennbaren Einfluß dieser Gesetzgebung auf die gesamte Lebenshaltung der unbemittelten Bevölkerungsklassen genötigt..., ihre Leistungen dementsprechend nach Inhalt und Umfang zu erweitern und zu vermehren".7 Der Durchschnitt der gewährten Almosen pro Jahr und Person hatte 1880/81 bei 130 Mark gelegen, 1893 bei 154 Mark; das Pflegegeld war im gleichen Zeitraum von 68 Mark auf 72,50 Mark pro Jahr und Kind gestiegen. Im einzelnen waren in Berlin bis Ende 1893 2076 Alters- und 584 Invalidenrenten zugesprochen worden. Unter etwa 1600 Rentenempfängern waren 150 bis dahin in der Armenpflege erfaßt, davon blieben 42 weiter bei dieser - eine Ausgabe von 5800 Mark pro Jahr an Almosen gegenüber 5780 Mark pro Jahr an Rente lag also sogar leicht über der Rentensumme - , 25 Unterstützte, deren Almosensumme bis dahin insgesamt 2820 Mark pro Jahr betra6 Verwaltungsbericht der Stadt Berlin, 1882-1888, Bd. 2, S. 146; ...1889-1895···, Bd. 3, S. 1 f.; ...1895-1900..., Bd. 3, S. 26. 7 H. von Frankenberg, Die Gemeinden und die Arbeiterversicherung, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswrtschaft im Deutschen Reich (- Schmollers Jahrbuch), 21. Jg. (1897), S. 871-898, Zitat S. 891.

294

X. Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat

gen hatte, schieden ganz aus, 83 teilweise, so daß bei dieser Gruppe die jährliche Ausgabe von 14 000 Mark auf 8600 Mark zurückging. So führte die Arbeiterversicherung während der Untersuchungszeit für die städtische Armenkasse zu einer Ersparnis von 8000 Mark pro Jahr, ungefähr so viel, wie 80 Almosenempfänger pro Jahr erhalten hätten. 8 Das war eine lächerlich geringe Summe, die in der ständig wachsenden Gesamtleistung des Armenwesens einen verschwindend kleinen Prozentsatz darstellte. Der Bericht des Vereins zählt mehrere Gründe auf, um eine Erklärung für die Tatsache zu finden, daß trotz der neuen Versicherungen die Ausgaben für das Armenwesen in allen Städten gestiegen seien: So müsse die Armenkasse oft auch noch für Versicherte wegen der Geringfügigkeit sowohl des von den öffentlichen Krankenversicherungen bezahlten Krankengeldes als auch der Altersversicherungsrente eintreten. Diese Renten seien von der Menge der eingezahlten Beiträge abhängig, weshalb sich die Altersrente erst im Verlauf der Zeit von der in der Anfangszeit nicht zu vermeidenden Minimalrente entfernen könne. Ein neuer, wenige Jahre später erstellter Bericht des Vereins vermerkt, daß die Gewohnheit der Arbeiter, aufgrund der Krankenversicherungen häufiger als vorher zum Arzt zu gehen, eine Erhöhung der Kosten der Armenkrankenpflege mit sich bringe, weil auch deren nicht durch die gesetzliche Krankenversicherung mitversicherten Angehörigen nun häufiger zum Arzt gingen.9 Interessanterweise stellten die Schriften des von einem konsequenten Liberalen gegründeten Vereins das System der Zwangsversicherung nicht mehr in Frage, sondern betonten im Gegenteil die positive Bedeutung dieser Gesetzgebung als große kulturelle Errungenschaft Deutschlands: Die Wirkungen der Versicherungsgesetzgebung seien eben nicht an eventuellen Vorteilen für die Armenpflege zu messen, ihr „Segen" reiche vielmehr ins weitere öffentliche Leben hinaus; eine gegenseitige Ergänzung von Armenpflege und Versicherungen sei zu gewährleisten. Führte vor dem Erlaß der Sozialgesetze die Diskussion über das Zwangsprinzip auf Seiten der Liberalen zu einer sehr heftigen, aus ® Richard Freund, Armenpflege und Arbeiterversicherung ( - Schriften des Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, H. 21), Leipzig 1895, S. 199 Brinkmann, Die Armenpflege und ihre Beziehung zu den Leistungen der Sozialgesetzgebung ( - Schriften des Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, H. 29), Leipzig 1897.

Die Folgen der Arbeiterversicherungen

für die Gemeinden

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der Reaktionszeit stammenden Polemik, so stellte sich nach Inkrafttreten des Gesetzes schnell ein Konsens ein, der sowohl Brauchbarkeit als auch Zweckmäßigkeit des Prinzips der Zwangsversicherung nicht mehr in Frage stellte, die bald als „normales" Verfahren galt. Der liberale sozialpolitische Gesichtspunkt wurde einfach fallengelassen. Was der Sieg über Österreich und die deutsche Einigung machtpolitisch für das Schicksal der Liberalen bedeuteten, trat nun auch auf sozialpolitischem Gebiet mit den Arbeiterversicherungen ein: die Kapitulation. In der Praxis war die Frage des Zusammenwirkens der Armenverwaltung und des Versicherungswesens eine schwierige, durch verschiedene Paragraphen und Gesetzgebungsnovellen geregelte Angelegenheit: „Wird ζ. B. einem Invaliden die Rente im April 1897 für die Zeit vom Oktober 1896 an mit 12 Mark monatlich nachbewilligt, so ist die Armenkasse, die vom Januar 1897 ab monatlich 25 Mark Unterstützung gezahlt hat, nicht in der Lage, nach § 35 I.e. die Rente für die rückständigen sieben Monate mit 84 Mark in Anspruch zu nehmen, obwohl sie von Januar bis April 100 Mark verausgabt hat; sie darf nur für die 4 Monate Januar bis April 1897 (12 mal 4 = 48) 48 Mark fordern." 10 Die gemeindliche Armenkasse mußte aber ihre Forderungen ausdrücklich und rechtzeitig bei der Versicherungsanstalt anmelden, sonst war auch dieser Betrag verloren. Bei der Invalidenrente waren die monatlichen Beträge, die die Versicherten erhielten, so niedrig, daß die Meinungen über eine dazu eventuell noch zusätzlich zu zahlende Armenunterstützung geteilt11 und die Handhabung in den verschiedenen Städten sehr verschieden war. So erhielt in Elberfeld derjenige, der in den Genuß einer Invalidenrente kam, überhaupt keine Armenunterstützung mehr, während in Berlin „eine mildere Praxis"12 herrschte: Dort entschied sich die Η. v. Frankenberg, Die Gemeinden..., S. 893. „Die Novelle zum Inv. u. Alt.-Vers.-Ges. will den Armenverbänden die halbe Rente eines mit mindestens dem gleich hohen Betrage Unterstützten auch für die zukünftigen Monate geben, offenbar weil es socialpolitisch für bedenklich gehalten wird, solche Leute, welche durch Beiträge ein Anrecht auf Versicherungsbezüge erworben haben, beim Eintritt der Hilfsbedürftigkeit auf die Leistungen der Armenpflege Zu verweisen und somit äußerlich nicht günstiger zu stellen als diejenigen Almosenempfänger, die aus Arbeitsscheu oder anderen Gründen ungenügend zur Versicherung beigesteuert hatten." Vgl. a. a. O., S. 893. 1 2 R. Freund, Armenpflege..., S. 97. 10

11

296

X. Ehrenamt und

Wohlfahrtsstaat

Armendirektion dafür, im ersten Jahr der Rente diese nicht in vollem Maße oder überhaupt nicht in Anrechnung zu bringen, „damit Rentenempfänger von der Wirksamkeit des Gesetzes etwas verspürten". 13 Trotz der Ansicht der Armendirektion blieb es dem freien Ermessen der einzelnen Armenkommissionsvorsteher überlasssen, nach Überprüfung des einzelnen Falles zu entscheiden, ob und in welchem Maß die Unterstützung weiter erfolgen sollte.14 In der Praxis war der Unterschied zwischen einem Almosenempfänger und einem „Rentner" offenbar gering, und die Vermutung liegt nahe, daß in manchen Fällen die letzteren schlechter gestellt waren als die ersteren. Schließlich hing die Höhe des „Almosens" weiterhin von der Willkür, also auch von der Großzügigkeit der einzelnen Armenkommissionsmitglieder ab, während die Rente ein fester Betrag war. Die wesentlichste Folge für die Gemeinden und die Armenkommissionen war eine ungeheure Komplizierung des Verfahrens bei der Bewilligung der Unterstützungen, die für die Mitarbeit ehrenamtlicher Personen eine neue Hürde bedeutete. Ging es im ursprünglichen Bismarckschen Projekt darum, die öffentliche Armenverwaltung wieder unter die Kontrolle des Staates zu bringen, so führte die Form, in der die Sozialgesetzgebung realisiert wurde, nur zu einer Teilung der Interventionsfelder. Die Sozialversicherungen schufen ein großes, in wesentlichen Teilen neues Rechtsgebiet, das die Bedürftigen vor der Abhängigkeit von den lokalen Verwaltungen und vor „der Willkür der Gemeinde" schützte. 15 Die gesellschaftliche und politische Degradierung, zum Beispiel der Verlust des Wahlrechts, die bis dahin die Folge der Armenunterstützung gewesen war, wurde den Pensionsberechtigten erspart. Die Ausgaben der Kommunen verminderten sich nicht, sondern ihre finanziellen Unterstützungsleistungen wurden durch die Existenz der neuen Versicherungen in die Höhe getrieben. Wollte man die Gemeinden „von den sozialen Folgekosten der Industrialisierung entlasten", so gelang das nicht einmal auf dem Papier, statt dessen „wurde ihre eigene Bedeutung und Selbständigkeit verringert".1^ In 13

A. a. O., S. 20, und H. v. Frankenberg, Die Gemeinden..., S. 895. ^ Protokoll der Armenkommissionsvorsteher-Versammlung vom 22. 5. 1891, in: Communalblatt, (1891), S. 228. H.-P. Benöhr, Verfassungsfragen..., S. 131 u. 132. 16 A. a. O., S. 137-138.

Die Folgen der Arbeiterversicherungen

für die Gemeinden

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der Reichstagsdebatte von 1881 war die Mehrheit mit der Regierung der Ansicht, „daß auf dem Wege der Gemeindeautonomie"17 die wirtschaftliche Lage einer ganzen Bevölkerungsklasse nicht zu verbessern sei und daß es deshalb Aufgabe des Staates sei, neue Wege zu finden. Das war ein schlichtes Mißtrauensvotum gegen die alltägliche Arbeit der Armenkommissionen und der lokalen Gremien der Gemeinden, allen voran derjenigen Berlins. So stellten die Sozialversicherungen einen Machtgewinn des Reiches dar, eine Ausdehnung seiner Kompetenzen. Die Absicht Bismarcks, die Macht der städtischen, selbstverwalteten Armenkommissionen zu brechen, war in dieser Hinsicht erfolgreich. Ein weiteres Element in der Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre stellte das System der Armenkommissionen noch weit grundsätzlicher in Frage. Bis dahin hatte jede Armenfürsorge auf dem Prinzip der „Individualisierung" der Bedürftigkeit aufgebaut. Im Zuge der Sozialgesetzgebung wurde dieses Prinzip durch die Einführung ökonomischer Gesamtkategorien überholt. Damit wurde der bis dahin einzeln zu untersuchende Fall zum Teilelement einer moralisch nicht mehr bewerteten, individuell nicht zu verantwortenden ökonomischen Situation. Auf der Kontrolle und Betreuung der Individuen war aber das ganze ehrenamtliche System aufgebaut. Durch das Kategoriendenken war es in seiner raison d'être in Frage gestellt. Wie rasch und wie weit die neue Gesetzgebung das Ansehen der Armenkommissionsmitglieder verringerte, zeigt die von einem Mitglied des Vereins für Armenpflege als Mißstand empfundene Tatsache, daß die Berufsgenossenschaften, die für die Verwaltung der Versicherungen aufgebauten Gremien, es ablehnten, Informationen über eventuell versicherte Personen an die Armenkommissionen zu geben. Nur Behörden dürften Auskünfte von Berufsgenossenschaften bekommen, und es wurde von den Berufsgenossenschaften als fraglich angesehen, ob ehrenamtliche Mitarbeiter der Gemeinden überhaupt Beamte und die Institutionen, für die sie arbeiteten, Behörden seien. Wenige Jahre vorher hätte niemand diese Eigenschaft der „ehrenamtlichen Beamten" bezweifelt. Die Berufsgenossenschaften verweigerten die Auskünfte, um ihre Versicherten nicht

17

A. a. O., S. 141.

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X. Ehrenamt

und

Wohlfahrtsstaat

zu schädigen, und so kamen nicht selten Fälle von doppelter UnterIQ

Stützung vor. Die Armenkommissionen setzten gleichwohl vermehrt ihre Tätigkeit fort, und ihre Klientel unterschied sich nicht so beträchtlich, wie man es sich hätte vorstellen können, von jener, die Gegenstand der Sozialversicherungsgesetzgebung war. Sie ergänzten oft die niedrige Rente, und sie traten subsidiär ein, wenn eine Berufsgenossenschaft ihre Untersuchungen über einen besonderen Fall noch nicht abgeschlossen hatte. Außerdem blieb die umfangreiche Kategorie der Nichtversicherbaren eine treue Klientel. An die Armenkommissionen wandten sich weiterhin Witwen 19 und Waisen, verlassene Frauen mit Kindern, aber auch alle diejenigen, die keine regelmäßige Arbeit nachweisen und keine regelmäßigen Versicherungsbeiträge zahlen konnten, Arbeitslose, Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter, also die traditionelle Mehrheit der Klientelen der Armenkommissionen. Mit der Sozialversicherungsgesetzgebung der achtziger Jahre ersetzte das Recht auf Unterstützung die Wohltätigkeit der Kommissionen, aber nur für die „Armen" der Industrie. So fand man eine Lösung für die mit der Industrie aufgekommene „neue Armut" der nur potentiell armen, aber sparfähigen Industriearbeiter, die seit den vierziger Jahren den Gegenstand der Aufmerksamkeit der im Centraiverein vereinigten Liberalen gebildet hatten. Wenn es sich auch nur auf formaljuristischer Ebene um einen qualitativen Sprung handelte, so stellte diese Gesetzgebung doch die Überwindung beider Ideologien dar, der liberalen wie der konservativen, zugunsten einer neuen Synthese: Man opferte das liberale Prinzip des Verzichts auf staatliche Eingriffe in die Ökonomie zusammen mit den antikapitalistischen Ideen des alten Konservativismus, aber in die konservative Figur des autoritär-patriarchalischen Staates wurde die liberale Spar- und Selbsthilfeforderung integriert, indem man die

R. Freund, Armenpflege..., S. 97, Brinkmann, Die Armenpflege..., S. 23. Bei Betriebsunfällen erhielten die Witwen 20% vom Jahresverdienst des verstorbenen Ehemanns, das heißt etwas weniger als Zwei Monatsgehälter. Dazu bekamen sie von der Rentenversicherung die gezahlten Beiträge zurück. Die materielle Lage der Witwen war folglich sehr schlecht, sie waren weiterhin auf die Hilfe der Armenkommission angewiesen. Vgl. G. A. Ritter, Sozialversicherung..., S. 53-56, und Wolfgang Dreher, Die Entwicklung der Arbeiterwitwen-Versicherung in Deutschland nach ζ. T. unveröffentlichten Quellen, Berlin 1978. 18

Die Armenkommissionen im letzten Viertel desJahrhunderts

299

Arbeiter verpflichtete, sich an den Kosten der Unterstützung zu beteiligen.

Die Armenkommissionen im letzten Viertel des Jahrhunderts Art und Ausmaß der Unterstützung blieben unter den veränderten Bedingungen weiter dem Ermessen der Armenkommissionsmitglieder und -Vorsteher vorbehalten. Diese waren in der Ausübung ihrer Tätigkeit immer weniger frei. Die Armendirektion führte Minimalsätze für Almosen und Pflegegeld ein, und Almosenempfänger und andere Gremien konnten Beschwerde gegen die jeweilige Armenkommission bei der Armendirektion erheben - es gab zum Beispiel den Fall, daß sich ein Lokal-Komitee des Vereins gegen Verarmung bei der Armendirektion beschwerte, weil eine Armenkommission eine Extra-Unterstützung verweigert hatte.20 Ein Antrag der Armenkommissionsvorsteher, die Armendirektion möge „vorsichtiger" sein gegenüber Beschwerden von Hilfesuchenden, „um nicht den Glauben zu erwecken", die Kommissionen seien von der Armendirektion „angewiesen", die „erbetene Unterstützung zu gewähren", 21 zeigt, inwieweit die Armenkommissionen sich in ihrer Autonomie bedrängt fühlten, nicht zuletzt von einer Armendirektion, die bei Beschwerden immer wieder betonte, höhere ExtraUnterstützungen seien in besonderen Fällen zu gewähren. Die Gewährung höherer Unterstützungen wurde in Fällen empfohlen, wo sonst noch höhere Kosten zu erwarten waren: in allen Fällen, wo ohne Extra-Unterstützung die „geschlossene" Armenpflege hätte eintreten müssen. So werden Extra-Unterstützungen nicht nur als Mietunterstützungen empfohlen, um Zwangsräumungen, die Zunahme der Obdachlosen und damit eine vermehrte Inanspruchnahme des Asyls zu vermeiden, sondern auch, um Kinder bei Pflegeeltern zu belassen, statt sie mit höheren Kosten ins Waisenhaus aufzunehmen. 22

20 Monats-Konferenz der Armenkommissionsvorsteher-Versammlung vom 16. 5. 1884, in: Communalblatt, (1884), S. 320. 21 Monats-Konferenz der Armenkommissionsvorsteher-Versammlung vom 16. 11. 1894, in: A. a. O., (1894), S. 52922 Monats-Konferenz der Armenkommissionsvorsteher-Versammlung 1879, in: A. a. O., (1879), S. 190.

vom März

300

X. Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat

Das Problem wurde immer wieder behandelt. 1887 wird von der Armendirektion empfohlen, sich beim jeweiligen Polizeirevier nach den dort notierten „Haltefrauen" zu erkundigen, um die Einweisung von Kindern ins Waisenhaus zu vermeiden und bei der Aufnahme von Säuglingen schnelle Hilfe zu leisten, und diesen Frauen eventuell ein höheres Pflegegeld zu bewilligen, um sie dazu zu bewegen, das Kind anzunehmen. Solche Fälle versetzten die Armenkommissionen in die peinlichsten Situationen, so daß schnelle Abhilfe nötig war. 23 Immer mehr ging es darum, die teurere Alternative zu vermeiden. Teure „geschlossene" Pflege in Anstalten war durch billigere „offene" möglichst zu vermeiden - auch für Geisteskranke. Diese wurden bei Pflegefamilien mit Bewilligung laufender Unterstützungsleistungen untergebracht. Die Kosten der Pflege im Irrenhaus in Dalldorf (heute Wittenau) betrugen 1888 60 Mark im Monat; jede Privatpflege unterhalb dieser Summe war vorzuziehen. Die Irren bereiteten den Armenkommissionen allerdings viel Ärger - sie verließen eigenmächtig ihre Pflegefamilien, um bei anderen unterzukommen, und auch sonst waren sie begreiflicherweise nicht einfach zu behandeln. So wird oft bei den Monatskonferenzen das Problem hervorgehoben, daß Geisteskranke in einen anderen Armenkommissions-Bezirk umziehen und dort nicht sofort vom zuständigen Armenpfleger als solche erkannt werden. „Um ihnen eine nachsichtige und wohlwollende Behandlung zu sichern", mehrten sich die Vorschläge, durch einen Vermerk auf den Akten und dem Almosenschein ihre Eigenart kenntlich zu machen 24 - was darauf schließen läßt, daß eine „nachsichtige und wohlwollende Behandlung" Nicht-Irrer nicht ohne weiteres üblich war. Daß der übergeordnete Gesichtspunkt der billigsten Pflege ständig die Maßnahmen durchkreuzte, die am Ort dem gesunden Menschenverstand angemessen erschienen, trug nicht zur Stärkung der Autorität der lokalen städtischen sozialen Strukturen bei. Das zeigt sich an den immer wieder vergebens betonten erzieherischen Absichten. So wurde von einigen Armenkommissionsvorstehern kritisiert, daß Kinder von „gefallenen Mädchen" mehr Waisenkostgeld als eheliche Kinder von ehrlichen Witwen Pflegegeld erhalten sollten und dabei Protokolle der Armenkommissions-Vorsteher-Versammlung vom 21. 1. 1887 und 18. 3. 1887, in: A. a. O., (1887), S. 79 u. 18924 A. a. O., (1875), S. 407-408; (1888), S. 88; (1890), S. 426; (1892), S. 489.

Die Armenkommissionen

im letzten Viertel des Jahrhunderts

301

von der Armendirektion darauf hingewiesen wurde, daß nach Überprüfung des einzelnen Falles mindestens soviel gezahlt werden solle, wie nötig sei, um die Mütter davon abzuhalten, sich ihrer Kinder gänzlich zu entledigen und sie in die ohnehin teurere Pflege des Waisenhauses zu geben. 25 Auch wurde es als „Übelstand" angesehen, daß viele laufend unterstützte Personen ihre Kinder noch nach der Einsegnung bei sich behielten, statt sie bei Handwerkern in die Lehre oder in den Gesindedienst zu geben. Man behalte sie vielmehr, „um mehr Freiheit zu haben, (sie) auf Fabriken oder zu Hause"2^ arbeiten zu lassen. Deshalb wurde empfohlen, falls Belehrung nicht fruchten sollte, die Entziehung der Unterstützung in Erwägung zu ziehen. Dabei stand es den Armenkommissionen jedoch keineswegs frei, Hilfe aus moralischen Gründen zu verweigern. Sie wurden zum Beispiel 1884 von der Armendirektion belehrt, daß die Verweigerung eines Krankenscheins „wegen Unwürdigkeit des Kranken" 27 nicht gerechtfertigt sei. Erhebliche Folgen für die Arbeit der Armenkommissionen hatten die Arbeiterversicherungen. Schon vor dem Erlaß der Bismarckschen Sozialversicherungsgesetze wurde ihre Arbeit durch das Vorhandensein mehrerer Kranken- und Sterbekassen erschwert. Ende der siebziger Jahre diskutierten die Armenkommissions-Vorsteher in ihren Versammlungen den „Nonsens", daß viele Almosenempfänger zu einer Sterbekasse gehörten. Ihre Beerdigungen wurden dadurch viel aufwendiger als die von „besser situierten Steuerzahlern". 28 Der Anspruch der Gemeinde kraft ihres Erbrechts an der Habe gestorbener Almosenempfänger auf Ersparnisse in Form des Sterbegeldes war nicht geklärt. Als „Nachlaß-Activa", die „dem Erbrechte der Armendirektion unterworfen" waren, wurden üblicherweise nur Sparkassenguthaben und Lebensversicherungen, nicht aber Sterbekassengelder angesehen, auch wenn sie erhebliche Summen darstell-

Februar-Conferenz der Armenkommissionsvorsteher-Versammlung, in: A. a. O., ( 1 8 8 1 ) , S. 1 5 2 - 1 5 3 . 26

A. a. O., ( 1 8 7 9 ) , S. 53.

27

September-Conferenz der Armenkommissionsvorsteher- Versammlung, in: A. a. O.,

( 1 8 8 4 ) , S. 4 4 6 . 28

A. a. O., ( 1 8 7 8 ) , S. 4 0 9 -

29

A. a. O., ( 1 8 7 9 ) , S. 53-

302

X. Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat

Derartige Probleme nahmen nach dem Inkrafttreten der Arbeiterversicherungsgesetze zu. Allmählich wurde die Lage der Unterstützten zwischen Armenkommissionen, Privatvereinen, Wohltätigkeitsfonds, Versicherungs- und Hilfskassen immer unübersichtlicher. So erregten von Zeit zu Zeit Fälle von doppelt unterstützten Personen Aufsehen, die trotz der Recherchen der Armenkommissionsmitglieder, Bezirksvorsteher und der Mitglieder des Vereins gegen Verarmung immer wieder vorkamen.30 Ohnehin war es schwierig, der einmal ausbezahlten Summen erneut habhaft zu werden wie auch „alimentationspflichtige Verwandte" zur Zahlung von Unterstützung für ihre Angehörigen zu zwingen - der Fall von „Eheverlassenen" wurde in dieser Hinsicht immer wieder diskutiert, und es wurden härtere Strafen für die Ehemänner gefordert, die ihren Pflichten nicht nachkamen. So wuchs die Schreibarbeit der Armenkommissionsmitglieder, die sich ohnehin schon über die ständig zunehmende Arbeitsbelastung beschwerten, weil neue Formulare dazu zwangen, die Zugehörigkeit des Bittstellers zu Kranken- oder Sterbekassen festzustellen. Außerdem nahm die Arbeit durch die nötigen Nachfragen bei anderen Gremien zu, die manchmal auch ohne Ergebnis blieben. Nicht nur war die Monopolstellung der Armenkommissionen im LuisenstadtViertel durch die Existenz vieler anderer Unterstützungsgremien auf lokaler und auf Reichsebene für immer verloren, ihre Autorität wurde auch durch die Weigerung etwa der Berufsgenossenschaften, Informationen an Amtsträger ohne formalen Beamtenstatus weiterzugeben, erschüttert. Durch die stetige Verfestigung der Stellung sowie des Begriffs des Beamten als einzigen bezahlten Vollzeitfunktionärs mit ungeteilter Loyalität gegenüber dem Staat wurde die öffentlich-rechtliche Einschätzung des Amtes der Armenkommission und somit die Autorität der Mitglieder untergraben, ohne daß es zu irgendwelchen Debatten darüber kam. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Gemeinden wurden nicht mehr als (wenn auch unbesoldete) städtische Beamte anerkannt. Die einfache Entwicklung der städtischen Verwaltung zu einer vollberuflich ausgeübten Beamtentätigkeit entzog den ehrenamtlichen Mitarbeitern stillschweigend die Hauptstütze ihrer Legitimation. Auffällig ist dabei, daß auch in Gremien, in denen häufig

30

A. a. O., (1895), S. 223.

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im letzten Viertel des Jahrhunderts

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über die Unersetzlichkeit der ehrenamtlichen Kräfte im Armenwesen gesprochen wurde, wie im Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit, nicht Armenkommissionsmitglieder, sondern Kommunal- und Staatsbeamte diese Auffassung vertraten. Auf der überlokalen Ebene waren die ehrenamtlichen Mitarbeiter kaum vertreten. Das Problem der Arbeitslosigkeit als solches wurde nie in der Armenkommission behandelt beziehungsweise von ihr erkannt. Dadurch, daß die Arbeitslosen in den Arbeiterversicherungen logischerweise nicht erfaßt wurden, weil sie nicht in der Lage waren, Beiträge zu zahlen, bildeten sie einen großen Teil der Klientel der Armenkommission. Dieses Thema kommt in den Monatskonferenzen deswegen so selten zur Sprache, weil diesen traditionellen Gremien am Ort die notwendigen Denkkategorien fehlten, um das Problem in seiner generellen Dimension zu erkennen. So wurde Anfang der siebziger Jahre auf den Verein gegen Verarmung hingewiesen, um „Arbeitssuchenden" zu helfen, nach zehn Jahren aber zugegeben, daß die Versuche dieses Vereins ohne großen Erfolg geblieben seien. Auch überwiesen die Armenkommissionen Arbeitslose an die städtische Straßenreinigungsgesellschaft. Dabei kam es immer wieder vor, daß diese für ungeeignet erklärt wurden; schließlich bat die Stadtreinigung Ende der siebziger Jahre darum, von der Zuweisung weiterer Arbeitsloser abzusehen. 31 Im Mai 1882 schlug ein Armenkommissions-Vorsteher vor, die Armenkommission als „Arbeitsnachweisstelle" nutzbar zu machen, und hob hervor, daß schon das Elberfelder System vorsah, daß die Armenpfleger ihre Armen zur Arbeit anhalten sollten. In der daraus sich ergebenden lebhaften Diskussion wurde darauf hingewiesen, daß Versuche, Arbeit zu vermitteln, in der Vergangenheit wenig Erfolg gehabt hätten und daß das Elberfelder System mit seinem Verhältnis von zwei bis vier Armen je Betreuer in einer Großstadt undurchführbar sei. Ohnehin würden Arme auf vorhandene Arbeit hingewiesen, durch offizielle Hinweise könnten aber falsche Erwartungen bei den Unterstützungsuchenden geweckt werden. Der Vorschlag wurde abgelehnt. 32

^ Juni-Conferenz der Armenkommissionsvorsteher, in: A. a. O., (1879), S. 309-310. 32 Mai-Conferenz der Armenkommissionsvorsteher, in: A. a. O., (1882), S. 257.

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X. Ehrenamt

und

Wohlfahrtsstaat

Die Rolle des Ehrenamtes Die Frage der ehrenamtlichen Tätigkeit war ein vieldiskutiertes Thema bei wissenschaftlichen Tagungen geworden. Auf der 20. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit 1901 wurde das „Quartierssystem" mit dem „Bezirkssystem" verglichen. Beide sahen freiwillige Armenpfleger vor, das erste, bekannt als Elberfelder System, basierte jedoch auf einer viel kleineren räumlichen Gliederung als das zweite: Ein Betreuer mußte sich um ein Quartier kümmern, wo er es mit zwei bis vier Armenfamilien zu tun hatte. Ein (Armenkommissions-)Bezirk hingegen hatte einen Vorsteher, der über 10 bis 15 Mitglieder verfügte. Der Vorsteher könnte die Mitglieder produktiver einsetzen. Stadtrat Dr. Emil Münsterberg, der damalige Leiter der Berliner Armendirektion, erklärte: „Er kann den unbeschäftigten Rentner viel reicher mit Fällen belasten als den Geschäftsmann; er kann einem Pfleger, von dem er weiß, daß er etwas weich und nachgiebig ist, diejenigen Fälle geben, wo es sich um eine leicht erkennbare Notlage handelt, bei alten Leuten, bei Witwen usw. Er wird andere Pfleger haben, die die Fähigkeit besitzen, energisch einzugreifen, die die Verhältnisse des Arbeitsmarktes genau kennen; denen wird er in erster Linie arbeitslose Personen zuweisen." 33 So gut wie alle Versammlungsteilnehmer beurteilten das Quartiersystem als für großstädtische Verhältnisse ungeeignet und zogen demgegenüber das Bezirkssystem vor. Niemand bemerkte die strukturelle Gleichheit der beiden Modelle, weil für das Individualisierungsprinzip, das die Basis für beide Systeme war, offensichtlich immer noch keine Alternative gesehen wurde. Daß ehrenamtliche Armenpfleger unentbehrlich seien, besonders um „erzieherische Einflüsse" auszuüben, wurde allgemein anerkannt, doch wurde auch hervorgehoben, daß auf dem Lande davon lieber abzusehen sei, weil sich Armenpfleger und Unterstützte dort „zu nahe stehen" würden, und daß in der Großstadt auch Berufsbeamte nötig seien, um den bürokratischen Teil der Arbeit durchzuführen. Der Berliner Berichterstatter Emil Münsterberg schilderte auch die Probleme der ehrenamtlichen Tätigkeit. So war es vorgekommen, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der 20. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, 20. und 21. März 1900 ( - Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und "Wohltätigkeit, H. 51), Leipzig 1900, S. 26.

Die Rolle des

Ehrenamtes

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daß in bestimmten Bezirken überwiegend wohlhabende Leute in der Versammlung saßen. Die Folge war, daß die Unterstützungen auf „ein manchmal lächerliches Maß hinaufgeschraubt wurden, weil mancher, der 15000-20 000 Mk. zu verzehren hatte, eine Unterstützung von 10, 15, 20 Mk. für viel zu gering hielt; umgekehrt dünkte in den kleineren Verhältnissen, wo die Pfleger selbst in beschränkteren Verhältnissen lebten, eine Unterstützung, die an anderer Stelle unerheblich schien, schon außerordentlich hoch". 34 Er betonte, „daß die Leute, die wir als kleine Leute bezeichnen, doch die sehr lebendige Erfahrung haben, den Bedürfnissen auch des kleinen Mannes, mit dem wir vor allem in der Armenpflege zu tun haben, gerecht zu werden". 35 Die geeignetsten Persönlichkeiten für die Armenpflege seien Geistliche, Lehrer und Ärzte; nicht heranzuziehen sei beispielsweise ein Lebensmittelhändler. Ein solcher würde im Fall von Naturallieferungen Privatinteressen nicht zurückstellen können und die Armen aufgrund eines möglichen geschäftlichen Verhältnisses zu ihm unwillkürlich besser behandeln, wenn sie treue Klienten seien, „die ihm vielleicht schon für 60 oder 100 Mk. Waren abgekauft" 36 hätten, beziehungsweise schlechter, falls sie die Waren von der Konkurrenz bezögen. Das Problem der Kontrolle der ehrenamtlichen Mitglieder der Armenkommissionen wurde als sehr heikel angesehen. Die Armenkommissionen widersetzten sich ohnehin Maßnahmen der Armendirektion, die der Kontrolle ihrer Tätigkeit dienten, und pflegten auf entsprechende Verfügungen sehr empfindlich zu reagieren. So rief die einfache Forderung der Armendirektion, die Spalten der Almosen- und Pflegegelderliste vollständig auszufüllen, 1878 eine Flut von Protesten bei der monatlichen Konferenz der Armenkommissionsvorsteher hervor, die darin mit „Befremden" ein „Mißtrauensvotum" sahen. Solche Schreibarbeit wurde als zeitraubend und belastend abgelehnt. 37 Münsterbergs oben zitierte Bemerkungen zeigen, indem sie das Privatinteresse nicht mehr in wirtschaftsliberalem Optimismus als A. a. O., S. 27. Ebda. 36 A. a. O., S. 28. ^ Conferenzprotokoll der Armenkommissions-Vorsteher-Versammlung vom 22. 11. 1878, in: Communalblatt, 20. Jg. (1879), S. 16. 34

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X. Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat

Garantie der besseren Beförderung des Allgemeininteresses, sondern als zu vermeidendes Risiko werten, den endgültigen Durchbruch eines Mentalitätswandels an, der schon seit den siebziger Jahren in Erscheinung getreten war. Indem aber das Bedürfnis nach Kontrolle der ehrenamtlichen Tätigkeit zunahm, distanzierte man sich gleichzeitig von diesem System überhaupt.

Ehrenamt und „ angemessener Lebensstil" Immer schwieriger wurde es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, angesichts eines mit dem Umfang der Stadt ständig wachsenden Bedarfs an ehrenamtlichen Mitarbeitern - nicht nur Armenkommissionsmitglieder und -Vorsitzende, auch Schulkommissionsmitglieder und -Vorsitzende, Bezirksvorsteher, Bezirksvorsteherstellvertreter und Schiedsmänner wurden gebraucht - , geeignete Persönlichkeiten zu finden. Die Diskussion, die sich um die Jahrhundertwende in der Stadtverordnetenversammlung über den Antrag eines Schiedsmannes auf Entschädigung für Mietaufwendungen entspann, zeigt, daß dieses System wohlhabende Bürger voraussetzte und daß dessen Grenzen im Grunde schon erreicht waren. Ein Schiedsmann verfügte über eine Zweizimmerwohnung, von der ein Zimmer vor der Übernahme des Ehrenamtes an seine Schwiegermutter untervermietet war. Dieses Zimmer wurde nun angesichts eines jährlichen Durchschnitts von 165 Streitfällen je Schiedsmann und mindestens zweier Termine je Fall - gebraucht, um die streitenden Parteien zu empfangen. Infolgedessen glaubte der Schiedsmann, ein Recht auf Erstattung der ihm entgehenden Mieteinnahmen durch die Stadtgemeinde zu haben oder andernfalls Anspruch auf ein eigenes Büro in einem städtischen Gebäude, etwa einer Schule. In der Stadtverordnetenversammlung waren die Meinungen geteilt: Einige Redner erklärten, daß, wer zum Schiedsmann gewählt werde, eine ausreichend große Wohnung besitzen müsse, um das Amt auszuüben, andere, daß die Minderbemittelten ohnehin zu sehr mit dem Erwerb des Lebensunterhalts beschäftigt seien, um ein solches Ehrenamt ausfüllen zu können, wieder andere, daß, wenn ein Bürger sich zu einem solchen Amte bereit erklärt, sein guter Wille durch Einkommensprobleme nicht behindert werden dürfe. Weiter wurde die Frage gestellt, wo man hinkomme, wenn alle Inhaber von Ehrenämtern ähnliche Ansprüche erheben würden;

Die Armenkommissionen der Luisenstadt

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woraufhin bemerkt wurde, daß es sich um einen ausgezeichneten Schiedsmann handle und daß seine Fähigkeiten, nicht sein Vermögen über sein Verbleiben im Amt entscheiden müßten. Dagegen stand die Meinung, man dürfe in keinem Falle Ausnahmen machen, um nicht einem „Protektionssystem" Vorschub zu leisten.38 Der Antrag wurde schließlich mit der Begründung abgewiesen, daß nur Personen mit einem angemessenen Lebensstil Ehrenämter übernehmen dürften. Im Grunde stand keine politische Kraft mehr hinter den ehrenamtlichen Funktionen. Die Liberalen sahen sie als antiquiert an, wenn nicht gar als verdächtig, so daß sie kontrolliert werden mußten. Die Konservativen entmachteten sie durch die Einführung eines neuen obligatorischen Systems, das von lokaler Kontrolle unabhängig war und dabei den Alltag der Armenkommissionen komplizierte, wenn nicht gar boykottierte.

Die Armenkommissionen der Luisenstadt im letzten Viertel des Jahrhunderts Die Armenkommissionen sahen sich in ihrer lokalen Arbeit derartig angefeindet und behindert, daß es selbst in der Luisenstadt immer schwieriger wurde, Mitglieder zu finden, die bereit waren, gleichermaßen die erschwerten Arbeitsbedingungen und den Autoritätsverlust zu ertragen. Erscheinungen einer Selbstauflösung infolge fehlender Kontinuität ihrer Mitglieder werden augenfällig. Abgesehen von einigen wenigen uns schon bekannten Personen wie August Heckmann und Theodor Kampffmeyer, war im Stichjahr 1877 die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der Armenkommission erst seit wenigen Jahren beziehungsweise Monaten im Amt, was auf eine starke Fluktuation hindeutet. In diesem Jahr waren es in dieser Zone die neunumerierten Armenkommissionen 61 bis 99. Um mit der Verdichtung der Gegend Schritt zu halten, waren in den frühen siebziger Jahren viele Armenkommissionen geteilt worden - so gab es zum Beispiel eine Armenkommission 27,1., eine Armenkommission 27,11. usw. bis hin zur Armenkommission 27,V. Um trotz des Wachstums der Stadt übersichtliche Zonen beizubehalten, wurden LAB (STA), Protokoll der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 2. 1. 1908, Rep. 03, Bd. 2253, Stadtarchiv Berlin.

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X. Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat

1884 neue Unterteilungen und eine neue Numerierung vorgenommen, so daß die Armenkommissionen der Luisenstadt ab 1884 die Nummern 39 bis 78 erhielten. Auch in den Listen für das Jahr 1888 fällt auf, daß die Mehrheit der Mitglieder, abgesehen von einigen bedeutenden Ausnahmen, jeweils erst seit kürzerer Zeit im Amt waren. Zu den Ausnahmen zählten wiederum Theodor Kampffmeyer in der Armenkommission 42, seit 1847 im Amt (die Quelle schweigt über die Reaktionszeit, als die Liberalen aus der Armenkommission ausschieden), und der Geheime Kommerzienrat August Heckmann, seit 1869 Mitglied in der 57. Armen-kommission. In beiden Stichjahren waren die meisten Mitglieder Handwerker: Handwerker Hausbesitzer Kaufleute Industrielle Beamte Handeltreibende

1877 113 96 92 73 67 26

1888 227 98 158 119 171 39

Nach der Einführung der Arbeiterversicherungen wuchs der Anteil an Beamten als Folge der für Laien steigenden Schwierigkeiten, die diesbezüglichen gesetzlichen Bestimmungen zu überblicken. Der Prozentsatz der Hausbesitzer und der Handeltreibenden dagegen nahm ab. Insgesamt waren 1877 573 und 1888 907 ehrenamtliche Mitglieder in den Armenkommissionen der Luisenstadt tätig.

Ein Wohlfahrts-Clan in der Luisenstadt: die Heckmanns Mit der Familie Heckmann trat ein neuer Typus des lokalen Engagements auf: Die Eigentümer eines im Viertel liegenden großen Industriebetriebs benutzten die vorhandenenen traditionellen Wohlfahrtseinrichtungen, um durch die Mitwirkung bei Entscheidungen lokaler Sozialpolitik das soziale Umfeld der eigenen Arbeiterschaft zu kontrollieren. Außer dem großen Stammbetrieb in der Schlesischen Straße war in den siebziger Jahren von den Söhnen in der Wrangelstraße ein Röhrenwerk errichtet worden. Die Heckmanns waren bei weitem der größte Arbeitgeber des Schlesisches-Tor-Bezirks. So gut wie alle Mitglieder dieser Familie beteiligten sich an der ehrenamtlichen Verwal-

Ein Wohlfahrts-Clan in der Luisenstadt: die Heckmanns

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tung. Von Stadtrat Sarre, dem Schwiegersohn Carl Justus Heckmanns, war schon die Rede. Friedrich August Heckmann, der mit seinem jüngeren Bruder Friedrich Wilhelm seit 1869 den väterlichen Betrieb übernahm, gehörte jenem „feudalisierten" Bürgertum der zweiten Jahrhunderthälfte an, das sich kulturell dem Adel anzugleichen suchte und zunehmend auch ökonomisch ein Bündnis mit dem Agrarkapital einging: gemäßigt liberal, bedingungslos hinter Bismarck stehend und in das mondäne Gesellschaftsleben der Residenz und dann der Reichshauptstadt integriert. Eine seiner Töchter, Elise, heiratete Hermann Wentzel,39 den Hofarchitekten des niederländischen Kronprinzen, eine andere den Architekten Hugo Licht; sein Sohn Paul (1849-1910), als Bezirksvorsteher Vertreter des Vaters und Mitglied der Armenkommission 57 während der neunziger Jahre, gründete den Industriellenverband. Bei der ehrenamtlich durchgeführten Volkszählung von 1861 bekleidete Friedrich Wilhelm Heckmann das Amt des Revier-Deputierten, der die Revierkommissare kontrollierte (die wiederum die Zähler beaufsichtigten), sein Stellvertreter war der Kattunindustrielle Otto Stephan.40 Von der Gestalt August Heckmanns ließ sich Theodor Fontane zu seinem Roman „Frau Jenny Treibel" inspirieren, in dem er ihn zum Typus eines reichen, aber unsicheren, nach Anerkennung und politischer Macht strebenden Bürgers verdichtete. Die tatsächliche Anerkennung lag nicht eigentlich in seiner politischen Tätigkeit als Abgeordneter im Herrenhaus - Fontanes Treibel scheitert als konservativer Kandidat - , sondern konzentrierte sich auf seine Einflußzone vor dem Schlesischen Tor, wo die eigene Fabrik lag. Fontane gab der Familie den Namen des ersten Rendanten des Diakonissenhauses Bethanien, der Festung - in den Augen der Liberalen - des extremen monarchischen Konservativismus. Auch abgesehen von dieser Anspielung läßt Fontane im Roman keinen Zweifel an den konservativen Neigungen August Heckmanns.

Hans Rose, Der Baumeister Hermann Wentzel (1820-1889)· Zum Abbruch des Hauses Viktoriastraße 27, in: Zeitschrift des Vereins für die Geschichte Berlins, 56. Jg. (1939), H. 3, S. 93 f. 1868/69 baute Wentzel ein Wohnhaus für seinen Schwager Friedrich Heckmann; 1872 siedelte er von Holland nach Berlin über. 40 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 in der Stadt Berlin. Im Auftrag der städüschen Deputation für Statistik bearbeitet von Richard Böckh, Director des statistischen Bureaus der Stadt Berlin, Berlin 1878, H. 1, S. 67.

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X. Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat

Für die Familie Heckmann ging es bei der Arbeit in den ehrenamtlichen Gremien der Stadt darum, sich die Kontrolle über das soziale Umfeld ihrer Fabrik zu sichern und den sozialen Konflikten durch paternalistisch organisierte Fürsorgeleistungen zuvorzukommen. Genau ein halbes Jahrhundert lang konnte sie diese Position halten, die Männer in den Armen- und Schulkommissionen, die Frauen in den Kinderbewahranstalten und Frauenvereinen. Die erste Kleinkinderbewahranstalt im Schlesischen Viertel war keine eigentliche Neugründung. Vielmehr handelte es sich nach der durch die Stadtschuldeputation 1839 eingeführten Zählung um die Anstalt Nr. 5, eben die Gründungsanstalt des Vereins zur Beförderung der Kleinkinderbewahranstalten, die 1833 in der Stallschreiberstraße eröffnet worden war. 1856 bis 1876 betreute sie dann Bachmann in der Prinzessinnenstraße, 1878, zwei Jahre nach Bachmanns Tod, verlegte man sie ostwärts in die Wrangelstraße, 1881 noch weiter nach Osten in die Schlesische Straße 11. 1883 endete die Odyssee schließlich mit einem eigenen Neubau auf einem von Richard de Cuvry, dem ältesten Sohn des Armendirektors, aus dem väterlichen Erbe der Meierei geschenkten Grundstück in der Cuvrystraße 39. Die Cuvrystraße war damals noch größtenteils unbebaut, sie begann gerade; erst die klassische von Arbeitern bewohnte Straße zu werden 4 1 Der Verein war in den achtziger Jahren kirchlich extrem konservativ, mit einem Vorsitzenden wie dem Pfarrer Knak, der die Kopemikanische Lehre verwarf, und politisch eine Einrichtung der staatstragenden Schichten. Im Vorstand der Anstalt in der Cuvrystraße findet man jedoch die Ehefrauen von Männern unterschiedlicher politischer Richtungen. Anfangs dominierte die Familie Heckmann; Frau Mathilde geb. Heckmann, verh. Stadtrat Sarre, war erste Vorsitzende, Ida und Emma Heckmann waren zusammen mit der Geheimrätin Heckmann (der Frau von Carl Justus Heckmann) Vorstandsmitglieder, später blieb nur die Geheimrätin übrig. Vorstandsmitglied war aber auch Frau Stephan, ferner waren Frau Fabrikbesitzer Beermann 42 und die Frau des Apothekers und Besitzers einer kleinen chemischen Fabrik Dieter Η offmann-Axthelm, Vier Generationen Leben im Schlesischen Viertel, in: ders., Baufluchten... 42 C. Beermann hatte 1850 in unmittelbarer Nähe des Heckmannschen Walzwerkes jenseits des Flutgrabens eine erfolgreiche Fabrik für landwirtschaftliche Geräte angelegt.

Ein Wohlfahrts-Clan in der Luisenstadt: die Heckmanns

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in der Köpenicker Straße, Schmeisser, vertreten. Man kann davon ausgehen, daß in dieser Bewahranstalt die Kinder jener Arbeiterinnen untergebracht waren, die bei Stephan und bei Heckmann arbeiteten. Die Familie war und blieb auch in den kirchlichen Gremien präsent, die Männer im Gemeindekirchenrat von St. Thomas, die Frauen als Vorsitzende des Frauenvereins der Gemeinde. Sie verfügten dadurch für längere Zeit - ein halbes Jahrhundert - über eine gewisse Macht in allen lokalen Institutionen, und für alle Notleidenden, die nicht von anderen Organisationen unterstützt wurden, dürfte es ziemlich schwer gewesen sein, nicht mit ihnen in Kontakt zu kommen und von ihrem Urteil abhängig zu sein. Der liberale Vorwurf, die Armenkommissionen bildeten ein Cliquenwesen, könnte sich auf diesen und ähnliche Fälle stützen. Nach der Jahrhundertwende wandte sich die Familie Heckmann bei verändertem Firmeninteresse und sozialpolitischem Klima einem moderneren Träger der Wohltätigkeit zu, dem 1877 gegründeten Berliner Krippenverein. Als der Krippenverein 1903 ein Krippenprojekt der Emmauskirche übernahm, stiftete die Firma Heckmann 5000 Mark unter der Bedingung, daß die geplante Krippe „in der Nähe der Fabrik" errichtet würde. Hervorgehoben werden muß, daß sich Frau Commerzienrat Heckmann energisch für das Projekt einsetzte. Dieses Engagement wurde von dem geförderten Krippenverein mit folgenden Worten kommentiert: „Es ist ein Akt sozialer Fürsorge für die Kinder der in den Fabriken beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen, der Nachahmung verdient; aus Dankbarkeit haben wir der Krippe den Namen Heckmann-Krippe gegeben." 43 Eine weitere Kinderkrippe dieses Vereins wurde übrigens im gleichen Jahr für Emil Rathenaus neue Fabrik in Oberschöneweide, das Kabelwerk Oberspree, errichtet.44 Das Hauptwerk der Firma Heckmann, das Walzwerk, war zu dieser Zeit schon nach Duisburg verlegt worden, es arbeiteten nur zwei 43

Manfred Stürzbecher, 100 Jahre Berliner Krippenverein. Aus der Geschichte des Kinderschutzes in Berlin, Berlin 1977, S. 17. Die mit dem Architekten Wentzel verheiratete Enkelin von Carl Justus Heckmann finanzierte noch 1908 zu mehr als einem Drittel eine Anstalt, die Kurse für Säuglingspflege anbot und eine Nachtkrippe unterhielt, um kranken oder anderweitig abgehaltenen Müttern zu helfen. Sie verkaufte dem Berliner Krippenverein das infrage kommende Grundstück neben dem Pestalozzi-Fröbel-Haus (Kyffhäuser, Ecke Barbarossastraße) und lieh das Gelder für den Bau. Vgl. a. a. O., S. 20.

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X. Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat

kleine Werke in der Wrangelstraße. Stürzbecher will aus der räumlichen Verteilung der für 1911/12 bekannten Adressen der Krippenkinder schließen, daß es sich in der Tat um Kinder von Arbeitern der Heckmannschen Fabrik handelte. Damals waren allerdings die kleineren Werke in der Wrangelstraße bereits abgerissen. An ihrer Stelle wurden zu dieser Zeit die heute noch erhaltenen gutbürgerlichen Mietshäuser errichtet. 1918 stiftete Ida Heckmann, die damalige Vorsitzende der Heckmann-Krippe, einen Fonds, um diese für lange Zeit zu sichern; dieses Kapital ging aber bereits wenig später durch die Inflation verloren. 45

Ein Armenkommissionsmitglied der achtziger Jahre Nur in einem einzigen Fall ergibt sich ein kleiner Einblick in den Alltag der Besetzung eines Ehrenamtes während dieser Jahre - statt entsprechender schriftlicher Quellen dank einer mündlichen Familientradition. Von Oktober 1884 bis 1890 war der Holzhändler Max Lücke (1866-1927), Elisabethufer 4, Mitglied der Armenkommission Nr. 39 und Bezirksvorsteher für den 79. Bezirk.46 Die Holzhandlung hatten ein Onkel und der Vater Christian (geboren 1826) 1851 in der Cantianstraße (am heutigen Pergamonmuseum) gegründet. Schnell brachte die Holzhandlung der Familie ein ansehnliches Vermögen. Die Firma zog in den achtziger Jahren in die Luisenstadt und etablierte sich auf einem großen Grundstück am Engelbecken auf dem Areal des heutigen Engelbeckenhofs, die Familie zog in die Wohnung am Elisabethufer. Der einzige Sohn Max, der neben sieben Schwestern die Kinderkrankheiten überlebte, besuchte das Luisenstädtische Gymnasium bis zum Abitur. 1909 verlegte Max Lücke den Holzlagerplatz nach Treptow in die Elsenstraße47 und zog mit der Familie in eine größere Wohnung am 1882 angelegten Treptower Park (Am Treptower Park 54). In Trep45

Ä. a. O., S. 32-33. ^ Nachweisung der in der hiesigen KommunalverwaÜung beschäftigten Personen, Berlin 1870-1900. In den zwanziger Jahren nahm die Firma ihren Sitz in der Lohmühlenstraße, w o die Holzhandlung bis zur Enteignung durch die DDR-Regierung 1950 ansässig blieb. Seitdem existiert sie auf der luisenstädtischen Seite des Kanals weiter.

Ein Armenkommissionsmitglied

der achtziger Jahre

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tow setzte er seine ehrenamtliche Tätigkeit als zweiter Bürgermeister neben dem hauptamtlichen Bürgermeister Paul Schablow fort. Die Landgemeinde, eine luisenstädtische Kolonie und seit 1876 (mit damals 37 bebauten Grundstücken) unabhängige Gemeinde, hatte in dieser Zeit ein ansehliches Wachstum zu verzeichnen. 48 Lücke soll sich am Entwurf für das Rathaus und für die (danebenstehende) Schule beteiligt haben. Das Beispiel Max Luckes zeigt, wie lange der traditionelle Typ des liberalen Honoratioren bestimmend blieb. Man gehörte einem stark handwerklich orientierten Bürgertum an, war sehr belesen, aktives Mitglied der evangelischen Kirchengemeinde, politisch nationalliberal. Durch die Handelsbeziehungen mit Maklern aus Osteuropa, wo das Holz herkam, wird das Bild der Honoratiorenfamilie Lücke noch durch andere Züge bereichert: Die Familie unterhielt enge freundschaftliche Beziehungen zu jüdischen Familien und hatte kein Verständnis für den Antisemitismus jener Jahre. Die Gründe für die ehrenamtliche Tätigkeit dieser Gruppe wurzeln in einem traditionellen religiösen Lebensempfinden. Seine ehrenamtliche Tätigkeit verstand Max Lücke allerdings ebenso auch als selbstverständliche Arbeit in einem Staat, mit dem er sich selber stark identifizierte. Während des Ersten Weltkriegs zeichnete er Kriegsanleihen von beträchtlicher Höhe, um sich auf die Seite des Staates zu stellen, und weigerte sich, das angelegte Vermögen vor Kriegsende rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Es ging also verloren. Die Grundhaltung der nächsten Generation4^ war da schon anders. Kein Familienmitglied hatte mehr Ehrenämter inne: Der Staat hatte nach dem Kriege die Räume übernommen, die bislang vom lokalen Bürgertum verwaltet worden waren, aber auch die Identifikation des alten preußischen Kaufmanns mit dem Staat war bei der nachfolgenden Generation nicht mehr vorhanden.50

Erich Specht, Treptow, wie es war und wurde, Berlin 1935, S. 117-118. Der Sohn Walther Lücke übernahm die Holzhandlung, verheiratete sich mit der Tochter einer alteingesessenen, wohlhabenden Bauernfamilie; politisch war er liberaler Pazifist und später überzeugt vom Unrecht des Nazi-Kriegs. Für die freundlichen Mitteilungen (Oktober 1989) über seine Familiengeschichte danke ich Wolfram Lücke, 1921 geborener Enkel von Max Lücke. 5 0 Unklar bleibt wegen der fehlenden innerfamiliären Überlieferung die Zuordnung eines weiteren in den Nachweisungen verzeichneten Kaufmanns Lücke, der in den gleichen Jahrzehnten in der Luisenstadt, Eisenbahnstraße 12 wohnte und unun48 49

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X. Ehrenamt und

Wohlfahrtsstaat

Max Lücke bildet den Endpunkt unserer langen Reihe von Honoratioren der Luisenstadt; die Motivation seines ehrenamtlichen Wirkens steht im Gegensatz zur Motivation der ersten Honoratioren der Luisenstadt. Der Wandel zeigt, wie weit sich der Sinn der Arbeit in den ehrenamtlichen Vorposten der Stadtgemeinden unmerklich verändert hat; es ist der Wandel von der selbstbewußten Schule eines antiabsolutistischen und antibürokratischen Liberalismus zur stolzen Loyalität für den starken eigenen Nationalstaat.

Das Scheitern der Honoratiorenmentalität im Oberbürgermeisteramt Die Stadtverwaltung befand sich seit Hobrecht auf dem Wege zur Berufsverwaltung. Das mußte zu Spannungen führen zwischen den juristisch gebildeten Berufsbeamten, die ihre Verwaltungskarriere von einer Stadt zur anderen verfolgten, und den ehrenamtlichen Beamten, die durch ihre Herkunft an die Stadt und an ihr Viertel gebunden waren. Arthur Hobrecht (1824-1912) war der erste Berliner Oberbürgermeister, der vorher schon Bürgermeister einer größeren Stadt (Breslau, seit 1863) gewesen war. Jurist, politisch nationalliberal, war er der Typ des hauptberuflichen Stadtbeamten. Als Bismarck ihn 1878 im Rahmen seines Taktierens mit den Liberalen und unmittelbar vor seiner konservativen Wende zum preußischen Finanzminister berief, nahm er das Amt an und verließ die Stadtverwaltung. „Es mag dabei eine Mißstimmung gegen die mangelnde Aufgeschlossenheit der Stadtverordneten gegenüber seinen Reformplänen mitgespielt haben", 51 schreibt Ernst Kaeber. Wahrscheinlich verrät die kurze Dauer der Amtsführung Hobrechts das Unbehagen der professionellen Stadtvertreter gegenüber der Honoratiorenmentalität. Nachfolger Hobrechts wurde Max von Forckenbeck, der schon sein Nachfolger in Breslau gewesen war. Auch in diesem Fall handelte es sich um einen Berufspolitiker - Jurist, 1858 Landtagsabgeterbrochen von 1890 bis 1915 als Mitglied der AK 53, dann 54 und mindestens ein Jahrzehnt auch als Bezirksvorsteher tätig war. Nachweisung..., 1905-1915. 51 Ernst Kaeber, Die Oberbürgermeister Berlins seit der Steinschen Städteordnung, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, Berlin 1952, S. 79-

Das Scheitern der Honoratiorenmentalität

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ordneter, Mitglied des Preußischen Herrenhauses, 1874 Präsident des Deutschen Reichstags. Erst 1892, mit der Wahl seines Nachfolgers Robert Zelle, verfiel man wieder auf einen Berliner und noch dazu einen Luisenstädter. Fast sein ganzes Leben - von einigen Semestern des Jurastudenten in Bonn abgesehen - verbrachte er in seiner Heimatstadt Berlin, wo er 1829 als Sohn eines Professors am Gymnasium zum Grauen Kloster geboren wurde. Seit 1861 war er besoldeter Stadtrat, seit 1872 Syndikus, seit 1891 Bürgermeister. Seine Wahl zum Oberbürgermeister von Stettin war 1867 vom König nicht bestätigt worden - er hatte sich kurz vorher dagegen ausgesprochen, daß Bismarck zum Ehrenbürger Berlins ernannt würde. Daraus kann man auf eine linksliberale politische Einstellung schließen. Mit dem Stadtverordnetenvorsteher (1893-1908) und Fortschrittler Paul Langerhans, der Säule des Liberalismus in der Luisenstadt, war er eng befreundet. Beide lebten als Nachbarn in der Luisenstadt. Mit ihm „besprach er fast täglich die städtischen Angelegenheiten. Die Beamten der Stadt, vor allem wohl die Juristen, fühlten sich in den Hintergrund gedrängt. Die Ehrenbeamten konnten alles bei Zelle erreichen, die Stellen in der Verwaltung wurden nach ihren Empfehlungen besetzt. Einer der Magistratsräte hat darin eine ,gräßliche Korruption' gesehen." 52 Die kritischen Äußerungen einiger Stadträte gegenüber seiner Amtsführung sind als Zeichen der auf eine Entscheidung hintreibenden Spannung zwischen zwei Verwaltungsstilen zu interpretieren. Nach dem Urteil des Justizrats Cassel, des stellvertretenden Vorstehers der Stadtverordnetenversammlung, war Zelle der schlechteste Oberbürgermeister, den Berlin je gehabt hatte, während Stadtrat Meubrink seinen „Unwillen über den Schlendrian unter Zelle" einmal in die Worte gekleidet haben soll: „Wenn ich eines Tages hierherkomme und höre, das Rathaus ist verkauft, wundere ich mich gar nicht!" 53 Zelles Art, Stadtverwaltung sozusagen „über den Zaun" zu betreiben, war fast das ganze Jahrhundert über das typische Merkmal der Honoratiorenverwaltung gewesen. Jetzt wurde sie von den Repräsentanten der „beruflichen" Verwaltung mit Unverständnis betrachtet und entsprechend heftig als historisches Relikt kritisiert. Nach weni52 53

A. a. O., Ebda.

S. 8 5 .

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X. Ehrenamt und Wohlfahrtsstaat

gen Jahren reichte Zelle 1898 sein Rücktrittsgesuch ein. Man kann in diesem Datum nach Jahrzehnten einer schleichenden Krise das Ende der Epoche der Honoratiorenverwaltung sehen.

ELFTES KAPITEL

Die langwierige Auflösung des ehrenamtlichen Armenwesens in Berlin Von allen Seiten angegriffen, blieb das System der ehrenamtlichen Beamten am Ort ein ganzes Jahrhundert lang bestehen - ein Beweis für die Zähigkeit jener sozialen Schicht, die die Basis der ehrenamtlichen Arbeit war, des Kleinbürgertums. In der Tat ist das lokal engagierte ehrenamtliche Honoratiorentum am Ort, dessen Verschwinden sich jahrzehntelang hinzieht, eher eine Welt von Kleinproduzenten als von kosmopolitischen Bürgern. Auf Tagungen und in Schriften wird die Stellung der ehrenamtlichen Armenpfleger verteidigt, wobei es auffällig ist, daß es vor allem die im Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit organisierten städtischen und staatlichen Beamten waren, die die Notwendigkeit ehrenamtlicher Armenpflege am nachdrücklichsten vertraten. 1 Gleichzeitig wurde die Zahl der Personen, die wohlhabend genug waren, um sich für Ehrenämter zur Verfügung zu stellen, im Verhältnis zum stetig wachsenden Bedarf immer geringer. 1893 waren in Berlin bei einer Gesamtbevölkerung von 1 625 000 Einwohnern 2486 Personen ehrenamtlich tätig, in Armen- und Schulkommissionen, als Bezirksvorsteher und Schiedsmänner.2 Die Zahl der ehrenamtlich tätigen Personen gab Forckenbeck 1881 im Reichstag mit 11 000 bis 13 000 an. Die erhebliche Differenz zwischen beiden Aussagen ist weniger aus einem zahlenmäßigen Rückgang der ehrenamtlich Tätigen zu erklären, sondern zeigt vielmehr, daß es 1

Karl Kayser/Hildebrand, Die Stellung der ehrenamtlichen Organe in der Armenpflege ( - Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit), Leipzig 1900. 2 Brinkmann/Zimmermann, Ehrenamtliche und berufsamtliche Tätigkeit in der städtischen Armenpflege ( - Schriften des Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, H. 18), Leipzig 1894, S. 39-

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XI. Auflösung des ehrenamtlichen

Armenwesens

große Unterschiede gab, den Begriff des Ehrenamtes zu definieren. Je mehr das Kleinbürgertum seine politischen Einflußmöglichkeiten verlor, desto mehr verteidigten seine Repräsentanten die letzten Bastionen ihrer lokalen Macht. Der Erste Weltkrieg brachte den entscheidenden Einschnitt in der Behandlung der sozialen Notstände in Deutschland. 3 Die Familien der zum Kriegsdienst eingezogenen Männer blieben in der Regel ohne angemessenen Unterhalt, da Gehaltsfortzahlung nur in besonderen Fällen (Beamte) gewährt wurde. So führte der Krieg zu einer „Umschichtung von Armut"4 und brachte Gruppen der Bevölkerung mit der öffentlichen Fürsorge in Berührung, die trotz materieller Not aufgrund ihres Selbstverständnisses weit von den traditionellen Armutsgruppen entfernt waren. Um zu verhindern, daß breite Gruppen der Bevölkerung zu Klienten der Armenfürsorge degradiert wurden, wurde das neue staatliche Sozialsystem der Kriegswohlfahrtspflege geschaffen. Im Unterschied zur traditionellen kommunalen Armenpflege waren die Grundsätze andere: Finanzielle Unterstützung wurde nach wohlwollender Prüfung und ohne Aussicht auf Erstattung gewährt, es bestand ein Rechtsanspruch auf Hilfe, und sie sollte nicht nur das Minimum zum Überleben garantieren, sondern das, was nötig war, damit sich die Familien, deren Angehörige „im Feld standen", in ihrer sozialen Schicht halten konnten. Keinerlei Diskriminierung war mit der Annahme dieser Hilfe verbunden, und breite Teile der Bevölkerung erhielten Unterstützung. 5 Die Kriegswohlfahrtspflege mußte den Verdienstausfall der einberufenen Familienväter wenigstens so weit decken, daß die eingetretene Notsituation von der Allgemeinheit toleriert wurde. Die Reichsregierung wollte die Eröffnung einer „inneren Front" nicht riskieren. Ähnliche Gründe hatte die Mieterschutzgesetzgebung unmittelbar nach Kriegsausbruch, wonach Familien von Einberufenen vor Klagen auf Mietzahlung und Räumung geschützt waren; daraufhin glaubten viele, im Krieg sei es generell unnötig, Miete zu zahlen, was die Einrichtung kommunaler Mieteinigungsämter zur Folge -1 Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871-1929, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1988, S. 46 ff. 4 A. a. O., S. 49. ^ A. a. O., S. 51. Hier wird von ungefähr einem Drittel der Bevölkerung gesprochen.

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hatte.6 Die „Zwangswirtschaft" wurde für Wohnungen, Lebensmittel usw. eingeführt. Sie bewirkte eine Zentralisierung der Entscheidungsbefugnisse auf Reichsebene, die die einzelnen Stadtgemeinden zu Ausführungsorganen degradierte. Durch die Massenmobilmachung waren vermutlich viele ehrenamtliche Mitarbeiter der Armenkommissionen zum Militär eingezogen worden. Die Mittelschicht, die das System bis dahin getragen hatte, wurde jetzt ihrerseits potentieller Klient der neugeschaffenen Kriegswohlfahrtspflege. Ein derart tiefer Umbruch mußte nach dem Krieg weiterwirken. Die Kriegsheimkehrer und die darauffolgende Inflation trieben die Zahl der Unterstützungsbedürftigen in die Höhe. Die Wohlfahrtsämter aller Städte wuchsen und erweiterten ihren Aktionsradius sowohl durch neue Strategien der Armutsbekämpfung, zum Beispiel Vorbeugung, als auch um die neu hinzukommenden Gruppen der „Auslandsverdrängten", Kleinrentner, Sozialrentner, Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen. Die Wohlfahrtsämter bestanden aus verschiedenen Ämtern: dem Jugendamt, dem Gesundheitsamt, dem Arbeitsamt, der Säuglingsfürsorge, dem Sozialamt, der Tuberkulosefürsorge usw. 7 Man sprach von einer „Zersplitterung der Wohlfahrtspflege".8 Von den Armenkommissaren ist kaum noch die Rede. Obwohl die Mitarbeit der ehrenamtlichen Helfer in ihrer Bedeutung im allgemeinen anerkannt wurde, 9 findet man sie im Berliner Verwaltungsbericht nur am Rande erwähnt, und auch nur im Kapitel Mitarbeiter der freien Jugend- und Wohlfahrtspflege,10 Trotzdem existierten sie weiter. 1920, bei der Schaffung der neuen Verwaltungseinheit Groß-Berlin, wurde die gesamte Stadt in 20 Verwaltungsbezirke unterteilt. Die Bezirke 1 bis 6 bestanden aus den inneren Stadtteilen, die bereits Alt-Berlin gebildet hatten und in denen das hier untersuchte System der Armenkommissionen in Geltung gewesen war. Sie wurden 6 7

A. a. O., S. 53. Franz Memelsdorff, Der Aufbau des Wohlfahrtsamts in einer großen Stadt, Berlin

1926. 8

Erster Verwaltungsbericht der neuen Stadtgemeinde Berlin, 1920-1924, Berlin 1925, H. 4, S. 8. 9 Artikel Wohlfahrtsämter, städtische, in: Julia Dünner (Hrsg.), Handivörterbuch der Wohlfahrtspflege, 2. Aufl., Berlin 1929, S. 768-771. 10 Erster Verwaltungsbericht der neuen Stadtgemeinde..., H. 4, S. 7.

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wegen der unterschiedlichen historischen Voraussetzungen anders behandelt als die durch Eingemeindung neu hinzugekommenen Bezirke. Hier, in den Bezirken Alt-Berlins, wurde das System der Lokalkommissionen weitergeführt. Unmittelbar vor Inkrafttreten des Eingemeindungsgesetzes von 1920 gab es in ganz Berlin 452 Armenkommissionen, die von Juli 1923 an Wohlfahrts- und Jugendkommissionen hießen. Die Bezirksautonomie in der neuen Einheitsgemeinde Berlin erforderte eine Aufteilung der Armendirektion als bisheriger Zentralbehörde auf die neugebildeten Bezirke. In der Luisenstadt wurde die Verwaltungsebene der alten Armendirektion im Jahr 1922, entsprechend der Aufteilung des Stadtteils auf die Bezirke Kreuzberg und Mitte, einerseits durch das Wohlfahrtsamt Mitte, andererseits durch das neugebildete Wohlfahrtsamt Hallesches Tor, später Unterstützungsamt Kreuzberg, eingenommen. 11 Im Kreuzberger Teil der Luisenstadt wurden anstelle der vormaligen 88 Armenkommissionen 97 Wohlfahrts- und Jugendkommissionen geschaffen. Jede Kommission bestand aus etwa zwanzig Mitgliedern, die von den Fraktionen der Bezirksversammlung entsprechend ihrem Stärkeverhältnis vorgeschlagen und von der Bezirksversammlung gewählt wurden. Ein eigenes Vorschlagsrecht hatte des weiteren das Evangelische Wohlfahrtsamt, die Arbeiterwohlfahrt, der Caritasverband und der Verband der Kriegsopferverbände.12 Für die Ausbildung der ehrenamtlichen Kräfte wurde durch die Einrichtung besonderer Kurse Sorge getragen. 13 Die Spezialisierung 11

Bei der Einführung der neuen Verwaltungsbezirke, die eine größere räumliche Ausdehnung hatten als die ehemaligen Armenkommissions- bzw. Wahlbezirke, erhielt der Begriff eine doppelte Bedeutung: Bezirk hießen jetzt sowohl die neuen Großbezirke - wie Ζ. B. Mitte, Steglitz, Kreuzberg - als auch die sehr viel kleineren alten Einheiten der Selbstverwaltung am Ort, die den Armenkommissionsbezirk gebildet hatten. Erster Verwaltungsbericht der neuen Stadtgemeinde..., H. 4, S. 5-28. Hier werden die Blätter für die Berliner Armen- und Waisenpflege, Berlin, 1911-1914, die Blätter für Kriegswohlfahrt, Armen- und Waisenpflege, die 1921-1922 als Blätter für Allgemeine Wohlfahrt und Jugendwohlfahrt erschienen sind, und das Wohlfahrtsblatt der Stadt Berlin genannt. Sie wurden im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt. Das Gemeindeblatt der Hauptstadt Berlin, das als Fortsetzung der Nachweisungen der in der Armenpflege unmittelbar beschäftigten Personen ab 1921 erscheint, gibt 1924 Auskunft über die Umbenennung der Armenkommissionen in Wohlfahrtskommissionen. 12 13

Verwaltungsbericht der Stadt Berlin, 1924-1927..., H. 14, S. l6. A. a. O., S. 17

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des Wohlfahrtswesens war offensichtlich so weit fortgeschritten, daß die Arbeit nicht mehr von ungeschulten Laien getan werden konnte. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, daß das System der lokalen Autonomie des Armenwesens unter den völlig neuen Verhältnissen weiterbestand, aber nur dort, wo die historische Entwicklung es verfestigt hatte. In den zu Berlin hinzugekommenen Gebieten, wo es keine Tradition der ehrenamtlichen Armenkommissionen gegeben hatte, wurde dieses System für ungeeignet gehalten und folglich nicht eingeführt. Sicherlich wurde in die neuen Lokalkommissionen der erfahrene Kern der bisherigen Armenkommissionsvorsteher hineingewählt, denen deshalb auch Zugeständnisse gemacht werden mußten, indem ihnen versichert wurde, daß alles „wie bisher" bleiben solle. Die Bestimmung, wonach die Inanspruchnahme öffentlicher Hilfe mit dem Verlust bürgerlicher Rechte verbunden war, die schon im Kaiserreich nicht einheitlich gehandhabt worden war, wurde durch die Kriegswohlfahrtspflege außer Kraft gesetzt; nach dem Kriege blieb es dabei. 14 Auf diese Weise wurde die Inanspruchnahme von Unterstützung von jeder moralischen Diskriminierung befreit und die Bedürftigkeit endgültig als ein „normales" Vorkommnis des Lebens begriffen. Die Hauptfunktion der ehrenamtlichen Honoratioren, den einzelnen Schicksalen und Verschuldungen individuell am Ort nachzugehen, war damit überholt. Entsprechend verlor das Heer der ehrenamtlichen Mitarbeiter an Bedeutung: die Herausgabe der Personal-Nachweisungen der Berliner Gemeindeverwaltung, die seit 1823 die Armenkommissionsmitglieder mit Adresse und Beruf verzeichnet hatten, wurde 1920 eingestellt. Im nachfolgenden Nachschlagewerk, dem Amtsbuch der Stadt Berlin, werden nur noch die Vorsteher der Wohlfahrtskommissionen angegeben. 15 Die Inflation liquidierte Anfang der zwanziger Jahre auf einen Schlag die ökonomische Selbständigkeit derjenigen Klasse, die diese Siehe Artikel Wohlfahrtsämter, städtische, in: J. Dünner (Hrsg.), Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege..., S. 768-771. Arthur Scholtz, Zur Neuregelung der Berliner Wohlfahrtspflege, in: Hans Brennert/Erwin Stein (Hrsg.), Probleme der neuen Stadt Berlin. Darstellung der Zukunftsaufgaben einer Viermillionenstadt, Berlin 1926, S. 445-454. 15 Amtsbuch der Stadt Bertin 1928, hrsg. im Auftrage des Magistrats vom Nachrichtenamt der Stadt Berlin, Berlin 1931, S. 308 f.: Wohlfahrts- und Jugendkommissionen Kreuzbergs

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Form von ehrenamtlicher Verwaltung am Ort mehrheitlich ausgeübt hatte. Die neue wirtschaftliche Situation führte, wie aus einer Tagebucheintragung des Groß-Berliner Stadtrats Friedrich C. A. Lange hervorgeht, zu einer völlig veränderten Situation, und - unvermeidliche Ironie der Geschichte - die ehemaligen Helfer von gestern wurden manchmal die Hilfsbedürftigen von heute: „Eine Reihe ehrenamtlich tätiger Bürger, die sich um Alt-Berlin besondere Verdienste erworben haben, ist durch die Inflation völlig verarmt. Der Ältestenausschuß der Stadtverordneten hat uns auf unseren Vorschlag ermächtigt, ohne besondere Vorlage in solchen Fällen einen angemessenen Ehrensold und an bedürftige Hinterbliebene laufende Unterstützungen zu zahlen." 16

Das Berliner System - Cui bono? Es erwies sich als unergiebig, die zeitgenössischen Äußerungen hinsichtlich der wesentlichen Kriterien des praktizierten Sozialsystems zu untersuchen, denn ihnen waren gerade dessen wichtigste Eigenschaften nicht bewußt. Insofern hilft es wenig, die vorgetragenen Motive zu beargwöhnen und diese ideologiekritisch anders zu bewerten als ihre Autoren. Man muß vielmehr herausfinden, auf welchen sozialen Voraussetzungen und finanziellen Leistungen der Erfolg des Systems beruhte. Die ersten, indirekten Hinweise auf den sozialen Stabilisierungseffekt des Systems kommen von konservativer Seite und wurden von Otto von Gerlach mit seiner Kritik an den Zuständen in England formuliert. Gerlach übernahm Chalmers' Kritik am Kapitalismus in der Form, wie er in England zu beobachten war. Von Chalmers wurde die Armensteuer, die er mit seinem System überflüssig machen wollte, als verkappte Subventionierung der Industriellen denunziert, da sie unzureichende Löhne kompensierte (zum Beispiel, wenn ein Arbeiter 2 Schilling die Woche vom „noble Lord" und 3 Schilling dazu von der Parochie bekam). 17 16

Friedrich C. A. Lange, Groß-Berliner Tagebuch 1920-1933, 2. Aufl., Berlin-Bonn 1982, S. 63, Eintragung vom 12. 1. I925. Lange leitete im Ersten Weltkrieg die Neuköllner Kriegsfürsorge. 17 Thomas Chalmers, Die kirchliche Armenpflege..., S. 404 ff., der Zitierte Fall S. 407, Anm. 3.

Das Berliner System - Cui bono?

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Eine solche Rolle hätten an sich auch die Unterstützungen des Berliner Systems spielen können. 18 Das wäre eine faszinierende Begründung für die rege Teilnahme der Handwerker und Industriellen am System; doch dürfte dies kaum der Fall gewesen sein, da die erdrückende Mehrheit der Unterstützten nicht aus unterbezahlten Arbeitern, sondern aus vom Produktionsleben ausgeschlossenen Personen bestand. Eventuell könnte das Berliner System den Preis für Hausarbeiten aller Art (Nähen, Spinnen usw.) verbilligt haben und somit eine indirekte finanzielle Zuwendung für die Verleger der Heimindustrie gewesen sein. Das unzureichende Quellenmaterial über die unterstützten Personen läßt im Rahmen dieser Arbeit eine Beantwortung der Frage nicht zu. Mit Sicherheit stellte das Unterstützungssystem eine indirekte Förderung für die sich erst bildende Industrie dar, weil die gesamte Gesellschaft eingespannt wurde, um die Arbeiter zu ernähren und am Ort zu halten, wenn sie wegen schlechter Konjunktur von den Unternehmern entlassen wurden. Aber weit mehr war das Berliner System eine Unterstützung für die Mobilität auf dem freien Wohnungsmarkt. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als das Mietshaus zum Spekulationsobjekt wurde, waren besonders die ExtraUnterstützungen in der Praxis Mietunterstützungen und flössen in die Taschen der gleichen kleinbürgerlichen Hausbesitzer, die als unbewußte „Erfinder" dieses Systems gelten können. Es wurde damit angesichts der Wohnungsnot die personenbezogene Form der Unterstützung gewählt, die auch heute in der Bundesrepublik üblich ist („Wohngeld"). Bedenkt man, daß die Mieteinnahmen in der Praxis damals oft die Pension des sich zur Ruhe setzenden Mittelstandes beziehungsweise die Altersversorgung ihrer Hinterbliebenen darstellte, so bestand die Notwendigkeit dieses Systems in der Lösung der Frage der Altersversorgung für breitere Bevölkerungsschichten, nicht nur für die Klienten des Armenwesens im engeren Sinn. Mit der Mietunterstützung wurde die Rentabilität des Mietshauses garantiert, damit aber zugleich die Finanzierung der stetigen Erweite18

Das ließe sich auch aus der Antwort der Armenkommissionsvorsteher-Versammlung auf eine Anfrage des Ministeriums über die Ursachen der Armut im Jahre 1881 offensichtlich im Umfeld der Vorbereitungen für die Sozialgesetzgebung - schließen. Die Versammlung wies darauf hin, daß „so gut wie niemand vollständig durch Almo-

sen genährt" werde. Vgl. Septemberkonferenz der Armenkommissions-Vorsteherversamtnlung, in: Communalblatt, (1881), S. 353.

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rung der Stadt gewährleistet. Als weitgreifender Effekt wurde die Nachfrage auf dem Binnenmarkt für das Produkt Großstadtbebauung aufrechterhalten. Damit bestand ein Ausgleichsfaktor ersten Ranges, um die sich industrialisierende Stadt nach Regeln zu stabilisieren, denen noch Rudimente der Ständegesellschaft anhafteten. So fand das Kleinbürgertum im Berliner System eine soziale Rolle und verknüpfte seine Interessen indirekt mit denen seiner Schützlinge. Darauf verweist eine weitere Beobachtung. Es wurde schon auf die angebliche Freigebigkeit der Armenkommissionen aufmerksam gemacht und auf die Möglichkeit der Ausbreitung von Patronage im Bezirk statt der ursprünglich vorgesehenen Kontrolle. Es ist nicht möglich, eine Grenze zwischen diesen Extremen zu ziehen. Man kann jedoch eine rückläufige Tendenz bei den lokal durchgeführten Hauskollekten registrieren: Von 1823 bis in die sechziger Jahre nahmen die Klagen über die sinkenden Erträge der Hauskollekten zu. Bezeichnenderweise vermehrten sich ebenfalls die Klagen über die wachsende Freigebigkeit der Armenpfleger, wobei die Berechtigung der Vorwürfe heute nicht mehr zu überprüfen ist; zu vermuten ist vielmehr, daß die Klagen aus einem Vorurteil genährt wurden, denn die Armenpfleger wandten immer weniger ihr persönliches Eigentum auf, sondern es waren mehr und mehr Steuergelder, die sie verteilten. Die Art der Steuereinnahmen, aus denen man die sozialen Ausgaben auf städtischer und staaüicher Ebene bestritt, änderte sich im Laufe des Jahrhunderts mit der generellen Modernisierung im Fiskalwesen.

Gründe für die Krise des Berliner Systems Die fortschreitende Rationalisierung sowie Forderungen nach Transparenz und Kontrollierbarkeit arbeiteten von verschiedenen Seiten her während des gesamten Jahrhunderts gegen das System der ehrenamtlichen Armenfürsorge, während Stadtwachstum und soziale Segregation in einigen Vierteln Berlins die für das Funktionieren des Systems unumgänglichen räumlichen und sozialen Bedingungen verschwinden ließen. In der Luisenstadt erhielten sich infolge der sozialen Mischung die Formen der Selbstverwaltung länger. Die Verzweigung der Interessen der städtischen Bürger führte nicht zuletzt angesichts der neuen Armengesetzgebung von 1842 bereits in den vierziger Jahren einerseits zu Strategien, um die spar-

Gründe für die Krise des Berliner Systems

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fähigen „redlichen Arbeiter" als Klienten der Armenkommissionen von allen anderen Bedürftigen zu scheiden, und andererseits zu einem neuen Bedarf an Kontrollen. Sobald die ehrenamtlichen Beamten in den lokalen sozialen Strukturen nicht mehr die Repräsentanten einer homogenen Gruppe bildeten, entfiel ihre unbezweifelte Legitimation, Verwalter des Allgemeininteresses zu sein, und es verstärkten sich die Forderungen nach Kontrolle ihrer Tätigkeit. In den fünfziger Jahren übernahmen bezahlte Assessoren diese Kontrolle. Die Entscheidungsfreiheit war aber eine der wesentlichen Bedingungen der Lokalmacht der Honoratioren. Der Kontrollanspruch arbeitete gegen das System, weil auf diese Weise noch weniger Bürger für die Übernahme eines Ehrenamtes gewonnen werden konnten. Die Neigung zur Kontrolle wurde nach 1848 immer mehr durch die Politisierung der Verhältnisse beeinflußt. In dem Maße, in dem die Klienten der Armenkommissionen eine selbstbewußtere Haltung ihren Wohltätern gegenüber einnahmen, wurde die Amtsausübung zunehmend schwieriger. Ein wichtiger Krisenfaktor war der von der Reaktion erzwungene Austritt der Liberalen aus den Armenkommissionen. Nicht zufällig zeigten diese in der Reaktionszeit eine geringe Zunahme, obwohl Stadtwachstum und -Verdichtung schon in vollem Gange waren. Diese Prozesse untergruben die Funktionsfähigkeit des Systems: die auf relativ stabiler nachbarschaftlicher Bekanntschaft basierende soziale Gebundenheit. Die Spaltung der bürgerlichen Gesellschaft in Konservative und Liberale führte zur Konkurrenz beider Gruppierungen in allen politischen Gremien. Friedrich Wilhelm IV. vermochte zwar die „leidigen Armenkommissionen" nicht zu ersetzen, verhalf dafür aber orthodoxen kirchlichen Einrichtungen zur Entstehung. So bildeten sich um die Mitte des Jahrhunderts einerseits kirchliche und andererseits liberale Einrichtungen (Bezirksvereine, Konsumgenossenschaften, Krankenkassen, Sparvereine). Die Organisationen der Arbeiter entstanden erst erheblich später. Es gab auf diese Weise für die Betroffenen mehr Möglichkeiten als nur den Gang zur Armenkommission, Möglichkeiten, die man aus Gesinnungsgründen wählen konnte oder weil sie bessere Lösungen des eigenen Problems versprachen oder auch, um den für den eigenen Wohnort zuständigen Armenkommissionsmitgliedern aus dem Wege zu gehen. So lockerte sich das Band zwischen Honoratioren und Armen in dem Maße, in dem die städti-

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sehe Armenfürsorge ihre Monopolstellung als einzige Sozial„behörde" am Ort verlor. Die Überwindung der räumlichen Ordnung erfolgte also von zwei Seiten her: Sie wurde einerseits vom Wachstum der Stadt gesprengt und andererseits durch entgegengesetzte Angebote unterschiedlicher Wohlfahrtsorganisationen aufgelöst. Nach und nach zerfiel die räumliche Struktur des alten Modells. Auch in dieser Hinsicht war es eine sich jahrzehntelang hinziehende Entwicklung, während das lokale System der individuellen Kontrolle allmählich durch eine abstrakte, ortsunabhängige Struktur ersetzt wurde. Der Bedürftige wandte sich jetzt mit seinem speziellen Problem an ein dafür zuständiges Ressort in einer Verwaltung. Diese Regelungen setzten mit der Bismarckschen Gesetzgebung ein und fanden in den zwanziger Jahren ihren Abschluß. Eine weitere grundsätzliche Bedingung für das Funktionieren des Berliner Systems war eine sozial und funktionell durchmischte Stadt. Dies war eine Selbstverständlichkeit, als im 18. Jahrhundert das System zuerst geplant wurde, wie auch in der Zeit seiner Inkraftsetzung 1823; selbst das beschleunigte Stadtwachstum in der zweiten Jahrhunderthälfte hatte diese Voraussetzung noch nicht infrage gestellt. Im Bautyp des Berliner Mietshauses fand diese Mischung von Arbeit und Wohnen und von verschiedenen sozialen Schichten schließlich ihre bauliche Entsprechung. Die Liberalen im Magistrat waren Ende der sechziger Jahre diesem Bautyp gegenüber geteilter Meinung: James Hobrecht verteidigte ihn bewußt als Alternative zum Londoner Modell der reinen Trennung von bürgerlichen Wohnvierteln und Arbeitervierteln sowie als lokale Voraussetzung der Armenfürsorge. Wolfgang Straßmann und die Fortschrittler sahen in ihm das negative Ergebnis einer Bauspekulation, die es zu bekämpfen galt. Das Unverständnis der jüngeren Reformer für den Hobrecht-Plan trifft zusammen mit ihrem Unverständnis für die strukturellen Eigenschaften des Berliner sozialen Systems und seinen Zusammenhang mit dem privaten Wohnungsmarkt. Aufschlußreich ist, daß das Ende dieses Bautyps und das Ende des entsprechenden sozialen Systems zeitlich zusammenfallen: es sind die ersten Jahre der Weimarer Republik, eine Zeit, die in der Professionalisierung der Gesellschaft und in der Teilung der Großstadt in funktionale Zonen die entscheidenden Zeichen der Moderne und des Fortschritts erkannte. So wie die soziale Mischung eine Voraussetzung für das Funktionieren der offenen Armenpflege bildete, so mußte die Tendenz zur

Gründe für die Krise des Berliner Systems

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Entmischung die offene Armenpflege - also die Dezentralisierung der Hilfe in den Wohnungen - behindern; man denke nur an die Pflegekinder. Die Mehrheit der Bevölkerung war wegen der ständig steigenden Mieten gezwungen, ihre Wohnfläche zu reduzieren, folglich verminderte sich zwangsläufig die Zahl derer, die derartige soziale Dienste in ihren Wohnungen anbieten konnten. Das betraf besonders, wie Kaiisch und Zelle zu verstehen gaben, ^ Familien aus dem unteren Mittelstand, Familien, die traditionell Waisenkinder angenommen hatten. Obwohl die wachsenden Mieten die Einkünfte der Stadt aus der Mietsteuer vergrößerten, bedeutete dies doch mehr und mehr einen abstrakten Umlauf von Mietsteuergeld, denn es wurden zum Teil nur Unterstützungen umverteilt; ein Selbstbetrug des Fortschrittsdenkens der Moderne, die bereitwillig mehr Geld in institutionalisierte Dienste und aufwendige Verwaltungen steckt, anstatt die billigeren - und menschenfreundlicheren - nachbarschaftlichen Hilfen zu fördern. Den Höhepunkt dieser Entwicklung zur Abstraktion in der Armenfürsorge bildeten die Arbeiterversicherungsgesetze der achtziger Jahre. Räumliche Entsprechungen spielten in diesem neuen System ebensowenig eine Rolle wie persönliche Beziehungen zwischen ehrenamtlichen Armenpflegern und ihren Klienten. Ein mitfinanziertes Recht auf Hilfe trat an die Stelle der persönlich auf der Grundlage der Erhebung von individuellen Lebensverhältnissen bewilligten Hilfe, Fachbeamte in Zentralbüros ersetzten lokal verteilte ehrenamtliche Kräfte. Die zunehmende Kompliziertheit der Gesetze und Vorschriften sowie der Beziehungen zwischen den vielen verschiedenen Gremien, die sich mit der Wohlfahrtspflege befaßten, machte es den lokalen ehrenamtlichen Kräften immer weniger möglich, die nötigen Kenntnisse zu erwerben, um auf die altbewährte Art der Armenkommission nach einer Untersuchung des individuellen Falles angemessen Hilfe zu leisten. Das System der individualisierenden Armenfürsorge wurde zunehmend unzeitgemäß, weil der Begriff des „Armen" sich immer weiter differenzierte. Das räumliche Prinzip der Zugehörigkeit zu einem Armenkommissionsbezirk wurde in Wilhelminischer Zeit durch ein neues ersetzt: durch das Prinzip der Zugehörigkeit zu einer Armen-

Siehe hier

ERSTES KAPITEL,

Anm. 51, und

DRITTES KAPITEL,

S. 104 f.

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kategorie - ledige Mutter, verwaistes Kind, Arbeitsloser usw. Das allmähliche Aufgehen des Räumlichen in ein abstrakt-kategoriales System von Berechtigungen führte zwangsläufig zur Aufgabe des Systems der ehrenamtlichen Armenpfleger, auch wenn diese ihre Arbeit noch längere Zeit neben den hauptamtlichen Einrichtungen und Funktionären fortführten, allerdings beschränkt auf ihre zur Spezialkategorie heruntergestufte Klientel. Die Hilfeleistungen der Gemeinden spezialisierten sich in Spätwilhelminischer Zeit entsprechend. Die umfangreiche, von offizieller Seite herausgegebene Festschrift Soziale Kultur und Wohlfahrtspflege zum 25. Regierungsjahr Wilhelms II. behandelt das Armenwesen nur noch am Rande neben zahlreichen anderen spezialisierten Zweigen der sogenannten Volkswohlfahrtspflege: Bildungswesen, Gesundheitswesen, Krankenfürsorge, Säuglingsschutz, Arbeitsnachweis, Wohnungsfürsorge und anderes mehr stehen vor dem Abschnitt über Kommunale Wohlfahrtspflege; darin wiederum sind der eigentlichen Armenpflege nur zwei Seiten gewidmet.20 Merkwürdigerweise findet sich in den Quellen kaum ein Hinweis darauf, daß eine andere Ressource, die für das Funktionieren des Systems der Armenkommissionen entscheidend war, im Laufe des Jahrhunderts immer knapper wurde: die freie Zeit. Es muß sich hier aber Entscheidendes geändert haben. Die Kommissionsarbeit setzte voraus, daß jedes in Frage kommende Mitglied Zeit in die wöchentlichen Zusammenkünfte, in die tägliche Sprechstunde, in die Hausbesuche, die Monatskonferenzen, die Rechnungslegung usw. investieren konnte. Das war in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts problemlos der Fall und auch in den Fünfzigern noch möglich, also solange, wie ein gleichsam noch handwerkliches Gesellschaftsbild vorherrschte, in dem das Streben nach maximaler Auslastung der Kapazitäten und der Versuch, sich mehr Arbeit zu verschaffen, als zu einem anständigen Auskommen nötig war, auf Kosten anderer also, als Zeichen von Geiz und niedriger Erwerbssucht angesehen wurden.21 Die Armenkommissionen, in ihrem Zeitbedarf an dieses handSoziale Kultur... Jürgen Bergmann, Das „Alte Handwerk" im Übergang. Zum Wandel von Struktur und Funktion des Handwerks im Berliner Wirtschaftsraum in vor- undfruhindustrieüer Zeit, in: Otto Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg, Berlin 1971, S. 224 ff. 20

21

Das Prinzip Nachbarschaft

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werkliche Lebensmodell gebunden, mußten folglich mit ihm untergehen. Bezeichnend ist auch die Vorstellung am Ende des Jahrhunderts, daß Honoratioren einen „angemessenen Lebensstil" haben sollten - eine Vorbedingung, die auf den veränderten Sinn des Begriffs der freien Zeit als „Luxus" hindeutet.

Das Prinzip Nachbarschaft Zu Beginn unserer Untersuchung zur Geschichte der lokalen sozialen Strukturen in der Luisenstadt standen sich Honoratioren und lokale Arme als klar erfaßbare Instanzen gegenüber. Die Bedeutung der beiden Positionen änderte sich jedoch im Laufe des Jahrhunderts in dem Maße, wie sich die Motivationen der Honoratioren sowie bei den Armen Zahl und Zusammensetzung änderten. Das nützten die vielen gesellschaftlichen Kräfte, denen die Entscheidungsautonomie am Ort ein Dorn in Auge war, und entwickelten Strategien, die die autonome Stellung der Honoratioren aushöhlten. Der Begriff des „ehrenamtlichen Beamten" wird im Laufe der Entwicklung, die hier dargestellt ist, nahezu sinnlos. Das Gesellschaftssystem der Honoratioren, von dem die Untersuchung ausging, war fest in die lokalen Zusammenhänge eingebunden. Angesehener Bürger war, wer sich sorgend mit den Angelegenheiten seiner Nachbarschaft befaßte. Selbstverantwortung, Ermessensspielraum und Überschaubarkeit waren feste Bestandteile des Systems. Die graphischen Darstellungen der von den Armenkommissionen der Luisenstadt regelmäßig unterstützten Personen (siehe ANHANG) belegen durch ihre Inkongruenz den großen Ermessensspielraum der Honoratioren und ihre unterschiedliche Praxis den Notleidenden gegenüber. Insbesondere sorgte die Unkontrollierbarkeit der Extra-Unterstützung für ihre große Entscheidungsfreiheit. Das Prinzip Nachbarschaft wurde im Laufe des Jahrhunderts durch abstrakte Verwaltungsstrukturen ersetzt und der Spielraum der Honoratioren am Ort mehr und mehr von staatlichen zentralen Instanzen eingeengt, ihre konkret von den Nachbarn im Guten wie im Bösen nachvollziehbare Macht durch eine ungreifbare, zentral gesteuerte abgelöst. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts, wie sie hier skizziert wurde, erscheint wie eine fortschreitende Emanzipation der Sozialstrukturen von der Ortsgebundenheit.

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Es handelt sich nicht einfach um ein „Defizit an Bürgerlichkeit",22 sondern um die zunehmende Verengung des lokalen Spielraums der Stadtbürger gegenüber zentralistischen staadichen bürokratischen Instanzen, die nur noch die Identifikation mit dem Staat übrigläßt. Die Frage, weshalb die local heroes sich ihren lokalen Spielraum nehmen ließen, ist wenig sinnvoll. Mentalität und Spielregeln haben sich in der Massengesellschaft verändert. Die Massenparteien haben nicht zufällig die Honoratiorenpartei, die in diesem System wurzelte, beiseite gedrängt. Der Fall Luisenstadt stellt keine lokale Sondergeschichte dar. Er kann als Muster gelten, als ein exemplarischer Fall. Wie hier, so wandelten sich auch andernorts die sozialen Strukturen im Laufe des Jahrhunderts von der lockeren Zusammenarbeit einzelner Personen, die die Entscheidungen informell „über den Zaun" trafen, hin zu behördlichen Verfahren in eigens dafür eingerichteten Ämtern. Sicherlich verschaffte die besondere Stellung Berlins als Hauptstadt den lokalen Honoratioren andere Möglichkeiten als in der Provinz, um an die Öffentlichkeit und mit der „großen" Politik in den Dialog zu treten. In unserer Gesellschaft, deren obligatorische Sicherungssysteme menschliche Kontakte und Eigeninitiativen auf ein Minimum reduzieren, werden solche vormodernen Modelle wieder interessant. Man hält Ausschau nach Möglichkeiten, die Verantwortung auf den einzelnen zurückzuverlagern, und stößt dabei unweigerlich auf die Instrumentarien nachbarlicher Hilfe und lokaler Netzwerke. 23

22

Jürgen Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19- Jahrhundert. Europäische Entwicklung und deutsche Eigenarten, in: ders. (Hrsg.), Bürgertum im 19• Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, München 1988, S. 11-76, Zitat S. 7523 Vgl. Claus Offe/Rolf G. Heinze, Organisierte Eigenarbeit. Das Modell Kooperationsring, Frankfurt a. M.-New York 1990.

ANHANG

Anhang A Das Berliner System. Versuch einer systematischen Darstellung Die königliche Kommission, die das Berliner Armenwesen nach Hamburger Vorbild reformieren sollte, bezeichnete 1803 denjenigen als einen Armen, „welcher das zum Leben notwendige nicht hat, entweder weil nicht imstande es zu erwerben, oder weil er dazu nicht Lust hat". Seit den vierziger Jahren setzte sich eine strukturelle Unterscheidung durch, die für die nachfolgende Zeit maßgebend wurde, nämlich die zwischen konjunkturabhängigen und chronischen Armen. Durch die Spar- und Selbsthilfepropaganda des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen ergab sich eine Zäsur, die alle Strategien der folgenden Dezennien sowohl auf konservativer als auch auf liberaler Seite beeinflussen sollte. Die nächste entscheidende Wende stellte die Bismarcksche Sozialgesetzgebung dar. Danach waren Sparen und Selbsthilfe nicht mehr Sache des einzelnen und ein Thema für die Überzeugungskunst der Liberalen, sondern gesetzlich verordnete und bald selbstverständlich gewordene Pflicht. Die Wurzel der lokalen Systeme war die Überzeugung, daß Armut ein individuelles Schicksal sei. Die persönlichen Kontrollen sollten gerade die Eigenheiten eines jeden individuellen Armutsfalls in Erfahrung bringen. Das räumlich-nachbarschaftliche System war ein feinmaschiges Netz, das nur durch die Anwesenheit vieler freiwilliger Mitarbeiter am Ort funktionieren konnte. Da es kostensparend sein sollte, mußten die Mitarbeiter ehrenamtlich tätig sein, und jeder sollte im Prinzip nur wenige Armenfamilien kontrollieren. Deshalb wurden außerordentlich viele Armenpfleger benötigt; die Zahl dieser Personen vergrößerte sich im Laufe des Jahrhunderts infolge des Wachstums und der Verdichtung der Stadt sowie der damit zunehmenden Klientenzahl. Auf der Teilung der Stadt in kleinste Verwaltungsbezirke und der Anwesenheit und Mitarbeit ehrenamtlicher Kräfte auf der lokalen

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Anbang

Ebene aufbauend, geht das System seit Mitte der fünfziger Jahre als „Elberfelder System" in die Debatte über das Armenwesen ein, eine Bezeichnung, die seitdem in der umfangreichen Literatur bis heute beibehalten worden ist.1 Dabei hätte das System ebensogut Berliner beziehungsweise noch treffender Hamburger System heißen können, zumal es in diesen Städten viel früher als in Elberfeld eingeführt wurde. Strukturell sind die beiden Systeme die gleichen:2 der einzige Unterschied zwischen dem Berliner und dem Elberfelder System besteht in der Größe der räumlichen Einheiten - dem Elberfelder „Quartierprinzip" steht das Berliner „Bezirksprinzip" gegenüber, wie man sich um die Jahrhundertwende ausdrückte,3 ein bloßer Dimensionsunterschied, der in bezug auf die gesellschaftliche Rolle dieser Strukturen am Ort unwesentlich ist. Es handelt sich um ein Modell, das aus der Zeit der Aufklärung stammt, als die Bürger glaubten, durch eigene Initiative und nicht mehr durch ein Delegieren an Institutionen - seien es Staat oder Kirche - das Problem der Armut lösen beziehungsweise unter Kontrolle halten zu können. In Hamburg wie in Berlin und in Elberfeld teilte man die Stadt in kleinste Nachbarschaftseinheiten auf, die Quartiere beziehungsweise Bezirke genannt wurden, und ließ sie durch ehrenamtlich tätige Personen verwalten, denen nur eine begrenzte Zahl an Armenfamilien zugewiesen wurde, die sie besuchen sollten. Die Armenpfleger benutzten einen ausführlichen Fragebogen, um die Situation des Hilfesuchenden in allen Einzelheiten zu ermitteln. Dabei reichte es nicht aus, die freiwillige Tätigkeit vieler Bürger aller Schichten in allen möglichen kirchlichen und freien Gremien festzustellen. Diesen Irrtum beging in lehrreicher Weise ein deutscher Beobachter, der 1844 über die Verhältnisse in Italien berichtete. Auch hier wird zwar der enge Zusammenhang zwischen ehrenamtlicher Tätigkeit in der Armenpflege und politischen Aufstiegs1 Kathleen M. Pearle, Bibliographie zur Armut. Armenpflege und Wohltätigkeit im deutschen Kaiserreich, 1870-1914, Berlin 1978. 2 Jürgen Reulecke, Formen bürgeHich-sozialen Engagements in Deutschland und England im 19• Jahrhunden, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Arbeiter und Bürger im 19- Jahrhundert, München 1986, S. 263. 3 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der 20. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, 20. und 21. März 1900 ( - Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, H. 51), Berlin 1901.

Anhang

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chancen vermerkt,4 der Unterschied gegenüber dem Berliner beziehungsweise dem Elberfelder System ist jedoch grundsätzlich und qualitativ. In Berlin wurden die ehrenamtlich tätigen Personen als unterste Ebene der städtischen Verwaltung organisiert, die tätigen Bürger als ehrenamtliche Beamte angesehen und die Erfahrungen, die die Bürger in ihren Vereinen gemacht hatten, in den Organisationen des Armenwesens verwertet. Die Dienste, die viele Vereine auf freiwilliger Basis anboten, wurden bald zu städtischen Diensten und durch die räumlich gleichmäßige Struktur der Bezirkskommissionen auf die ganze Stadt übertragen. Allerdings dürfte der Umstand, daß das Elberfelder System schon vorher in mehreren Städten praktiziert worden war, den Mitgliedern des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit unbekannt geblieben sein, denn man hob zwar hervor, daß Hamburg der erste Fall einer ehrenamtlichen Tätigkeit der Bürger im Armenwesen gewesen sei und daß das Hamburger Modell das Beispiel für Elberfeld abgegeben habe, erwähnte aber nicht, daß es auch das direkte Vorbild des Berliner Systems bildete. 5 Daß es bereits zwei frühere Ansätze gegeben hatte, ein Armendeputierten-System in Berlin einzurichten, den Friedrich Wilhelms I. 1735 und den des Konsistorialrats von Hagen 1787, ist erstmals 1987 von Helga Schultz festgestellt worden. 6 Auf die Verbindung zu Hamburg hat sie in ihrer Arbeit nicht hingewiesen. Auch im Verständnis der Armenkommissionsvorsteher Berlins im letzten Viertel des Jahrhunderts waren das Elberfelder und das Berliner System zwei verschiedene Modelle: das Elberfelder System sei für eine große Stadt wie Berlin ungeeignet, weil dort jeder Pfleger nur zwei bis vier Arme zu betreuen habe. Daß beide Modelle auf dem gleichen Prinzip der Individualisierung bei der Bekämpfung der 4 „Je mehr er (der Bürger) an der Verwaltung von Stiftungen und städtischen Wohlthätigkeitsanstalten Theil nimmt und darin durch Uneigennützigkeit, durch Sorgfalt für die Kranken und Armen sich auszeichnet, desto mehr wird die Aufmerksamkeit seiner Mitbürger auf ihn gelenkt. Er ist gewiss, daß er, der bei solchen Anstalten sich auszeichnete, und als ein mildtätiger Freund der Armen bekannt ist, bei nächster Gelegenheit zu einer ehrenvollen Stelle in der Gemeinde gewählt wird." Carl Joseph Anton Mittermaier, Italienische Zustände, Leipzig 1844, hrsg. von Erik Jayme, Neudruck, Heidelberg 1988. 5 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der 20. Jahresversammlung des Vereins für Armenpflege..., S. 14 f. 6

H. Schultz, Berlin..., S. 316.

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Anhang

Armut beruhten, wurde nicht erkannt, weil es im Bewußtsein der Zeitgenossen hierzu keine Alternative gab. Die Individualisierung galt traditionell als die einzige Behandlungsweise der Armen und stammte aus einer Epoche, die nach dem Verhalten des einzelnen Armen statt nach den wirtschaftlichen Konjunkturen fragte. Das vorindustrielle Zeitalter kannte nur Arme und Arbeitsscheue, keine Arbeitslosen. Die Individualisierung wurde erst im Zusammenhang mit dem Denken in Armenkategorien und der Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre in Frage gestellt. Daß der Zusammenhang zwischen dem Elberfelder und dem Berliner System in der bisherigen historischen Forschung unbeachtet geblieben ist, erklärt sich gerade aus dem Umstand, daß diese weitgehend auf damaligen Darstellungen aufbaut.7 Es handelt sich um ein Modell, das immer wieder nachgeahmt wurde: In Berlin schon Mitte des 18. Jahrhunderts formuliert, wurde es dann aus der Hamburger Praxis wieder von außen übernommen - eine Praxis, die in Schotüand, zumindest was Chalmers betrifft, nicht unbekannt geblieben sein dürfte. Chalmers' System funktionierte in Glasgow ähnlich, obwohl es hier in eine kirchliche, keine städtische Initiative eingebettet war. Chalmers' Beispiel wurde in Berlin von Gerlachs Elisabeth- und Bachmanns Jakobi-Parochie übernommen. Daß sich Männer wie Otto von Gerlach, Bachmann und Wichern am Beispiel von Chalmers orientierten, um ihre Diakonieprojekte in Berlin zu verwirklichen, und dabei das ihnen so naheliegende Berliner System der städtischen Honoratioren ignorierten, läßt mehrere Interpretationen zu. Es ist einerseits durch das Gewicht erklärlich, das die Seelsorge für diese Männer hatte; andererseits aber ist das neue Ansetzen der kirchlichen Armenpflege ein Zeichen für die Bürokratisierung und schleichende Krise des bürgerlichen Systems, bei dem das Prinzip der engen Beziehung zwischen Helfer und Armen als Hauptcharakteristikum nicht mehr ohne weiteres wahrAusnahme in der neueren Literatur: Arno Herzig, Zur Organisation des Armenwesens in Deutschland in der ersten Hälfte des 19• Jahrhunderts, in: B. Mehnke (Hrsg.), Armut..., S. III-XV. Aber schon in den Quellen gibt es einige Hinweise, wie ζ. B. Knote, 50 Jahre Göttinger Armenpflege, in: Monatsschrift für Innere Mission, (1893), S. 225 f. Vgl. auch Karl Holl, Thomas Chalmers und die Anfänge der kirchlich-sozialen Bewegung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Tübingen 1928. 7

Anhang

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nehmbar war. Es ist aber nicht zulet2t auch ein Zeichen für die Selbstverständlichkeit des bürgerlichen Systems. Indem Bachmann seine Parochie in sieben Zonen unterteilte, um dort die Armenpflege durch freiwillige Helfer zu organisieren, übernahm er zwar nicht bewußt das räumliche und ehrenamtliche Prinzip der Armenkommissionsbezirke, sondern bewies damit, daß das Prinzip schon als normales, sozusagen neutrales Verfahren empfunden wurde. Der entscheidende Grund ist aber wohl in der politischen Gegnerschaft zu sehen, die das bürgerliche Verfahren eigentlich ersetzen wollte und keine Veranlassung sah, es als Vorbild zu propagieren. Strukturell identisch, sind die beiden Systeme, das städtische und das innerkirchliche Bachmanns und Wicherns, von zwei entgegengesetzten Interpretationen der Gesellschaft inspiriert. Der Kritik am Kapitalismus, dem der Begriff der „Inneren Mission" (nach Wichern) unterstellt, Ursache der „wilden" und „heidnischen" Zustände zu sein, stand der Fortschrittsoptimismus der engagierten Bürger entgegen, die daran glaubten, das kapitalistische System durch ihre erzieherische Aktivität verbessern zu können - entgegengesetzte Gesichtspunkte, die mitunter einer Zusammenarbeit, wie im Luisenstädtischen Wohltätigkeitsverein, nicht im Wege standen. Ähnlich wie die Armenpfleger in der Jakobigemeinde arbeiteten auch die Stadtmissionare Wicherns. Alle diese Modelle versuchten, die soziale Übersichtlichkeit, die man aus kleineren Städten und Dörfern kannte, aufrechtzuerhalten.8 Tatsächlich wurde diese Überschaubarkeit schon lange vor jener Zeit angestrebt, in der das Wachstum der Stadt in den städtischen Vierteln die Übersicht über das soziale Gefüge unmöglich machte. Im Falle der Berliner Luisenstadt zeigt sich, daß sie auf der lokalen Ebene nie verlorengegangen war. Sie begleitete in der ihr eigentümlichen Verkoppelung ständischer und moderner Elemente die Entwicklung des Viertels bis in die Epoche seiner städtisch-industriellen Verdichtung.

8 Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt a. M. 1986, S. 33: „Die Aufsicht, der die ländlichen Unterschichten im agrarisch-konservativen Sozialgefüge noch unterlagen, war in den städtischen Quartieren verloren gegangen und mußte nun substituiert werden."

Anhang

338

Anhang Β

Wirtschafiskonjunktur und Honoratiorenverhalten Für die Jahre 1833 bis 1859 sind die Zahlen der laufend unterstützten Personen, die jährlich im Dezember erhoben wurden, erhalten. (Siehe die TABELLE A B B . 8 . ) Die graphische Umsetzung der Zahlen für die Luisenstadt ergibt, wenn man sie Kommission für Kommission abträgt, eine Anzahl von Verläufen, die signifikant inkongruent sind. Auch weicht der Gesamtdurchschnitt der Luisenstadt vom Gesamtberliner Durchschnitt ab. Es ergibt sich ferner keine Übereinstimmung mit der Höhe der Getreidepreise als Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung. Der Vergleich der Verläufe der Roggen-, Weizen- und Haferpreise9 mit denen der laufend unterstützten Personen in der Luisenstadt zeigt, daß sich beide zum Teil gegenläufig bewegen. Die lokalen Gremien scheinen ihre eigenen Gesetze und lokalen Konjunkturen gehabt zu haben. Die statistische Auswertung aller regelmäßig von den Armenkommissionen der Luisenstadt Unterstützten kann mit einiger Vorsicht als Hinweis auf einen ziemlich großen Ermessensspielraum der Honoratioren bei ihren Entscheidungen verstanden werden. (Siehe ABB. 4-7.)

Anhang C

Die Armenkommissionen der Luisenstadt im 19. Jahrhundert. Ein Gesamtbild Versucht man, Namen, Berufsbezeichnungen und Adressen der im Laufe des Jahrhunderts ehrenamtlich tätigen Bürger der Luisenstadt quantitativ und statistisch zu verarbeiten, wird man mit Daten konfrontiert, die nicht immer eindeutig sind. Die Zahl der ehrenamtlich tätigen Lokalbeamten stieg mit der Zunahme der Bezirke und Gremien, also mit der Verdichtung und dem Wachstum der Stadt an. Zwischen 1843 und 1852 hatte sich die Zahl der Armenkommissionsmitglieder von 76 auf 145 fast verdoppelt. Zwischen 1852 und 1863 wuchs ihre Zahl nur um 30 Prozent, ein Zeichen für die Schwierig9 Vgl. Alfred Jacobs/Hans Richter, Die Großhandelspreise bis 1934, Berlin 1935, S. 52-55.

in Deutschland

von 1792

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keiten, die die Reaktion diesen Gremien bereitete. Die größten Wachstumssprünge10 registrierte man zwischen 1863 (199 Mitglieder) und 1877 (573 Mitglieder) - fast eine Verdreifachung - und zwischen 1877 und 1888 (573 und 907 Mitglieder). Später blieb das Wachstum konstant und ohne außergewöhnliche Zunahmen. (1900 waren 1123 und 1915 1282 Armenkommissionsmitglieder in der Luisenstadt tätig.) Man hat nicht den Eindruck, daß die Kommissionen in der Luisenstadt in diesen Jahren unterbesetzt sind. Der handwerkliche Mittelstand scheint immer noch zahlreich und engagiert genug gewesen zu sein. Die verschiedenen Berufe sind in den einzelnen Zeitabschnitten sehr unterschiedlich repräsentiert (ABB. 9). Daß die Beamten zu Beginn überproportional vertreten sind und ihre Zahl dann rasch zurückgeht, erklärt sich aus der Verhaltensregel, daß es am Anfang allgemein üblich war, den Vorstand mit einem Beamten zu besetzen, solange die Bürger sich mit den neuen Verfahren noch nicht vertraut gemacht hatten, sowie mit den anfänglichen Schwierigkeiten bei der Besetzung dieser Ehrenämter überhaupt. Der neuerliche Zuwachs von Beamten in den siebziger und achtziger Jahren erklärt sich vielleicht zum Teil als Folge der Wirtschaftskrise von 1873 - die Beamten blieben von deren Auswirkungen verschont. Umgekehrt zeigt sich in den späten Jahren bei den Industriellen ein ausgesprochener Rückgang. Dabei muß aber die Unsicherheit berücksichtigt werden, das Berufsbild des Fabrikanten - so die in den Quellen angegebene Berufsbezeichnung - als eine Gestalt zwischen Industriellem und Handwerker genau zu bestimmen. Man muß möglicherweise besonders für das Jahr 1823 Handwerker und Industrielle unter dieser Bezeichnung zusammenfassen. Dann würde der Nullpunkt bei den Industriellen am Beginn des untersuchten Zeitraums durch die Anzahl der Handwerker ausgeglichen. Die häufigste Teilnahme der Industriellen läßt sich 1863 in den Schulkommissionen feststellen: ein Beweis dafür, daß diese Gruppe politisch liberal orientiert und bereit war, Gremien beizutreten, von denen man sich strukturelle Veränderungen versprach, wie die Durchsetzung der allgemeinen Schulbildung, bei der sich die Stadtverwaltung erst in der liberalen Ära der sechziger Jahre die führende Rolle sicherte. 10

Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, Jg. 1865 ff-, Nachweisung..., Jg. 1843 ff.

Anhang

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Die Statistik der Handwerker zeigt neben einer dauerhaft großen Teilnahme ein besonders reges Engagement in der Reaktionszeit - ein indirekter Beweis dafür, daß die Sympathien breiter Teile der Handwerker im pietistischen und konservativen Lager zu suchen sind. Das Absinken ihrer Anzahl 1863 und 1877 wird durch das gleichzeitige Ansteigen der Industriellen- und der Hausbesitzer ausgeglichen. Ein erheblicher Teil der Handwerker ist in diese Kategorien abgewandert. Sie sind entweder zu Industriellen oder vor allem als Hauseigentümer zu „Rentiers" geworden, so daß unter die Kategorie der Hausbesitzer weitgehend die ehemaligen Handwerker zu subsumieren sind. Schwer zu interpretieren ist die zunehmende Mitwirkung der Handwerker vor dem Ersten Weltkrieg, während gleichzeitig alle anderen absinken, bis auf die Handeltreibenden, deren Zahl ebenfalls, wenn auch geringfügiger, steigt. Es scheint, daß die Handwerker ihre soziale Rolle durch das lokale Engagement zu behaupten versuchten, je mehr die strukturellen Veränderungen die Bedeutung der Mittelschicht in Frage stellten. Die Zahl der Kaufleute, die sich an Armenkommissionen beteiligten, hatte im Vormärz ihren Höhepunkt und ging in der Reaktionszeit rasch zurück, was auf eine liberale Einstellung schließen läßt, zumal ihre Beteiligung seit 1863 langsam und stetig wieder zunahm - ein Trend, der sich bis zur Jahrhundertwende fortsetzte. Im neuen Verwaltungsbezirk Kreuzberg, der den weitaus größeren Teil der alten Luisenstadt umfaßte, waren im Sommer 1923 die 88 alten Armenkommissionen aufgelöst und durch 97 Wohlfahrts- und Jugendkommissionen (1927: 105) ersetzt worden. Die Mitglieder der Wohlfahrtskommissionen gehörten in Kreuzberg folgenden Berufen an: Beruf Akademiker Kaufleute Grundeigentümer Selbständige Handwerker Sonstige Selbständige Arbeiter Lehrer Beamte Sonstige (Hausfrauen)

1922

1927

in %

in %

1 22 3 36 18 4

4 5 7

1,7 8 0,3 10 4 40 2 6 28

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341

Auffällig ist, daß die Arbeiter in den neuen lokalen Gremien die Stelle übernahmen, die früher die Handwerker innehatten, und bemerkenswert ist das Vordringen der Hausfrauen.

Anhang D Die Klienten der

Armenkommissionen

Was die Klientel der Armenkommissionen angeht, läßt sich nur schwer ein genaues Bild zeichnen. Wegen der Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse waren im Grunde alle diejenigen potentielle Arme, die ihren Lebensunterhalt mit Lohnarbeit bestreiten mußten. Runge schrieb 1844, daß die traditionelle Mehrheit der Klientel der Armenkommissionen Witwen mit Kindern seien. Die wenigen sicheren Daten bestätigen diese Aussage, die für das ganze Jahrhundert gültig zu bleiben scheint. Nur einzelne genaue Angaben über die Art der unterstützten Personen konnten aufgefunden werden. So verzeichnete zum Beispiel das Monatsblatt der Armendirektion11 für einen Monat des Jahres 1832 insgesamt 4559 regelmäßig unterstützte Personen in ganz Berlin.

Davon waren:

männlich

weiblich

unter 50 Jahren

169

438

zwischen 50 und 60 Jahren zwischen 60 und 70 Jahren

225 452

1332

zwischen 70 und 80 Jahren

287

762

78

212

80 und darüber

Davon waren: - in Berlin geboren - im Inland geboren - im Ausland geboren

604

2050 2110 399

1 1 LAB (STA), Rep. 03, Bd. 95, Monatsblatt der Armendirektion, Nr. 5 (1833), S. 37, Stadtarchiv Berlin.

342

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Es wurde geholfen: -

wegen wegen wegen wegen wegen

Blindheit Altersschwäche Verkrüppelung innerer und äußerer Schäden unheilbarer Krankheiten

157 2236 333 848 922

- wegen Eheverlassenschaft 62 Bis auf die Eheverlassenen handelt sich bei allen Unterstützten um kranke Personen und bei 85 Prozent um Alte. Die Honoratioren hatten also so gut wie keine Wahl und mußten Hilfe leisten. Dazu kamen für den gleichen Monat des Jahres 1832 außerordentliche Unterstützungen für 6023 Personen. Da zu ihnen keine Angaben gemacht wurden, bildet diese Summe, die um ein Drittel größer war als die für die laufend Unterstützten, den Spielraum für die unkontrollierbare lokale Macht der Honoratioren. Ein ähnliches Bild bietet sich auch 1852. Damals verzeichnete eine Armenkommission,12 daß im März 1884 Arme unterstützt worden seien. Davon waren 4 älter als 80 Jahre, 17 älter als 70, 23 älter als 60; 6 Personen waren Blinde, 4 Blödsinnige, 1 davon Vater einer großen Familie, 3 Gelähmte, 1 Lungenkranker, 1 Taubstummer, 1 mit Stelzfuß, zusammen 60 Personen - die anderen 24 hatten chronische Kränkelten, 57 waren Frauen. Der Versuch, die absolute Zahl der Almosenempfänger zu der Zahl der Einwohner der Luisenstadt in Beziehung zu setzen, scheiterte an dem Problem, die Einwohnerzahl des Stadtviertels vor 1861 genau festzustellen.13 In ganz Berlin lag die Zahl der unterstützten Armen auf 100 Einwohner umgerechnet zwischen 1,90 im Jahr 1832 und 1,42 im Jahr 1858 und nahm mit wenigen Schwankungen nach oben in den Jahren 1847 bis 1852 konstant ab.14 Die Luisenstadt lag 1833 geringfügig über diesem Durchschnitt (2,2 Prozent) und 1859 etwas darunter (1 Prozent). Der Etat der Armenunterstützung nahm ungleich stärker zu als die Bevölkerungszahl. Eine Darstellung dieser beiden Parameter ist schwierig, weil die gesammelten Daten im Laufe des Jahrhunderts unter verschiedenen Blickwinkeln präsentiert werden. Ein allgemeiAllerdings nicht in der Luisenstadt. Vgl. Beleuchtung der Schrift über die Reorganisation der städtischen Armenverwaltung, Berlin 1852, S. 15. 13 Vgl. hier SECHSTES KAPITEL, S. 208, Anm. 60. 14 Communalblatt, 1. Jg. (I860), Nr. 4. 12

343

Anhang

nes Bild läßt sich jedoch für die zweite Hälfte des Jahrhunderts vermitteln. Einen direkten Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Armenetat gab es, wie schon Volkmann betont,15 nicht. Von 1846 bis 1855 stieg die Einwohnerzahl Berlins von 389 400 auf 426 600 und das Armenbudget von 430 320 Thlr. auf 615 138 Thlr., eine Zunahme von 9,6 Prozent der Bevölkerung gegenüber einem Anwachsen des Armenbudgets von 42,9 Prozent. Das Problem war nicht das ständige Anwachsen der abhängig arbeitenden Bevölkerungsschichten, sondern ihre „Krisenanfälligkeit, bedingt durch niedrige Löhne und ein Höchstmaß an sozialer Unsicherheit".16 Absolute Zahlen sind nur von 1865 an kontinuierlich vorhanden und dem Statistischen Jahrbuch der Stadt Berlin zu entnehmen. Für die früheren Jahre sind sie, wenn überhaupt, in den monatlichen Berichten der Armendirektion enthalten.17 So wurden an „Almosenempfängern" beziehungsweise „laufend Unterstützung Bekommenden" in Berlin in den Jahren: 1833 1840 1843 1850 1851 1852 1853 1858 1859 1860 1861

(Oktober) (Dezember) (Dezember) (Dezember) (Dezember) (Dezember) (November) (Dezember) (Dezember) (November) (November)

4.479 5.138 5.614 7.308 7.419 7.351 7.017 6.184 6.241 6.366 6.522

1 5 G. Berthold, Armenlast und Freizügigkeit mit besonderer Bezugnahme auf die Armenpflege der Stadt Berlin. Eine statistische Untersuchung von amtlichen Quellen, Berlin 1881; H. Volkmann, Die Arbeiterfrage..., S. 92. 16 Ebda. 1 7 Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Polizeipräsidium Nr. 218, Bl. 4, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, für die Daten 1852-1861, für die früheren LAB (STA), Rep. 03, Bd. 95-101, Monatsblatt der Armendirektion Berlin, Nr. 9 (1833), S. 76, Nr. 9 (1834), S. 104, Nr. 2 (1835), S. 6, Nr. 1 (1842), S. 2, Nr. 1 (1845), S. 6-7, Nr. 6 (1852), S. 101 und Nr. 6 (1853), S. 83-84, Stadtarchiv Berlin. Die Daten bis 1861 beziehen sich jeweils auf einen bestimmten Monat (Dezember), da es aber um laufende Unterstützungen geht, kann man sie als repräsentativ genug gelten lassen.

Anhang

344

1865 1866 1867 1868 1869 1870 1873 1875 1877 1880 1887 1891

6.826 7.152 7.668 8.020 8.337 8.633 8.509 9.002 10.682 13.194 17.408 20.834

gezählt. Zu diesen Angaben kommt die Zahl derer, die laufend für Waisenkinder Pflegegeld erhielten:18 1866 2.442 Mütter für 3.780 Kinder 1868 2.565 Mütter für 4.141 Kinder 1869 2.614 Mütter für 4.168 Kinder 1871 2.905 Mütter für 4.426 Kinder 1887 4.984 (keine genaue Angabe) 1891 5.314 (keine genaue Angabe) Weiter ist die hohe Zahl der Personen hinzuzurechnen, die ExtraUnterstützung erhielten. Die Zahl der letzteren ist jedoch nicht angegeben. Man muß sich ein Bild durch den Vergleich der für die verschiedenen Arten von Unterstützung ausgegebenen Geldbeträge machen. Siehe dazu die folgende Tabelle für die Jahre 1877 bis 1887/88: 1 9 1 8 Interessant ist der Vergleich mit dem Mailänder System der Kinderpflege im Waisenhaus. Vgl. Volker Hunecke, I trovatelli di Milano, Bologna 1989- In Mailand nahm das Waisenhaus nicht nur uneheliche Kinder, sondern auch fast die Hälfte der ehelich geborenen Kinder Zeitweise auf. Es wurde von armen Familien als Hilfe zum Großziehen der Kinder besonders in den Fällen in Anspruch genommen, in denen die Mütter arbeiten mußten und ihre Kinder nicht beaufsichtigen konnten. Hunecke weist darauf hin, daß es in Berlin, anders als in Mailand, kaum Findelkinder gab, und begründet das mit der Verschiedenartigkeit der Gesetzgebung. Offensichtlich ist aber der wesentlichere Grund dafür im dezentralisierten System des Berliner Waisenhauses Zu suchen, in dem der Mutter direkt Pflegegeld gezahlt wurde, um sie davon abzuhalten, sich ihres Kindes zu entledigen. Siehe hier ERSTES KAPITEL, S. 31 ff. und

A n m . 4 7 s o w i e ZEHNTES KAPITEL, S. 2 9 9 f. 19

Statistisches Jahrbuch

der Stadt Beriin, 14. Jg. (1886-1887), S. 396.

Anhang •Aag-IFAD ρ j d o j i •jd i p i p j i u i p s i p j n a uopjoj

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