Gemeindereformation: Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil 9783486824247, 9783486528152

Die Argumentationsschritte sind in den folgenden Überlegungen angedeutet: Was verstehen Bauern und Bürger unter Reformat

268 122 10MB

German Pages 234 [260] Year 1987

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Gemeindereformation: Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil
 9783486824247, 9783486528152

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

ill

mi ra

PETER BLICKLE

GEMEINDEREFORMATION

Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil Studienausgabe

R. OLDENBOURG VERLAG MÜNCHEN 1987

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Blickle, Peter: Gemeindereformation: d. Menschen d. 16. J h . auf d. Weg zum Heil/Peter Blickle. - Studienausgabe. - München: Oldenbourg, 1987. ISBN 3-486-52815-7

© 1987 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf ISBN 3-486-52815-7

Inhaltsverzeichnis VORWORT

8

Zur Studienausgabe Ergänzungen und Corrigenda

11 12

EINLEITUNG

13

TEIL 1

STURMJAHRE DER REFORMATION?

DIE REFORMATION IN DER GESELLSCHAFT

1. Die bäuerliche Reformation 1.1 Beispiele, Zentren, Ausstrablungen 1.1.1 Zürcher Landschaft 1.1.2 „Ain ganze Gemain sol ain Pfarer selbs erwölen" - der Fall Oberschwaben 1.1.3 „Alle gotlosen menschen außreuten" - Tirol und Salzburg 1.1.4 Ausstrahlungen 1.2 Voraussetzungen und Folgen bäuerlichen Reformationsverständnisses ... 1.2.1 Die Prädisposition der ländlichen Gesellschaft für die Kommunalisierung der Kirche 1.2.2 Theologische Begründung und evangelische Logik der Gemeindereformation 1.2.3 Die politischen Konsequenzen: die ratio von Evangelium und Göttlichem Recht 1.2.3.1 Ethische Normen gesellschaftlicher und politischer Ordnungen 1.2.3.2 Die Gemeinde als Basis politischer Ordnungen 1.2.4 Die Separierung der schweizerischen und der deutschen bäuerlichen Reformation 2. Die bürgerliche Reformation 2.1 Bürger und Reformation - drei Beispiele 2.1.1 „Und sunst wird aller gotsdienst niedergelegt" - der Fall Erfurt . . 2.1.2 Die Stadt der Geblendeten - der Fall Kitzingen 2.1.3 „Die eer gottes und den frieden einer gantzen Stadt" - der Fall Basel

23 24 26 28 34 40 46 50 51 59 67 68 71 73 76 78 78 82 85

6

Inhaltsverzeichnis

2.2 Inhalte und Rahmenbedingungen bürgerlichen Reformationsverständnisses 2.2.1 Evangelium und Kirche - das Reformationsverständnis in den Städten 2.2.2 Stadt und Kirche - innerstädtische Voraussetzungen der Reformation 2.2.3 Evangelium und Gemeinde - die Träger der reformatorischen Bewegung in der Stadt 2.2.4 Folgerungen und Folgen der evangelischen Bewegung in den Städten 3. Die Gemeindereformation - zur Kohärenz bürgerlicher Reformation 3.1 Die strukturellen Gemeinsamkeiten 3.2 Die ereignisgeschichtlichen Zusammenhänge 3.3 Die Diffusion der Gemeindereformation

TEIL 2 KIRCHE REFORMATOREN

UND EVANGELIUM

von bäuerlicher

IN DER THEOLOGIE

90 92 96 101 108

und 110 110 114 117

DER 123

1. Theologie und Kommunikation - zwei Vorbemerkungen 1.1 Die Theologie der Reformatoren und ihre sozialethischen Weiterungen ein Überblick 1.2 Die Vermittlung reformatorischer Inhalte in die bürgerliche und bäuerliche Gesellschaft - methodische Vorbemerkungen

124

2. Die 2.1 2.2 2.3

133 135 138 142

Gemeinde im veröffentlichten Denken der Reformatoren Die Gemeinde in Luthers Theologie Die Gemeinde im Spektrum der Reformationstheologie Die Popularisierung des theologischen Gedankenguts

3. Evangelium und weltliche Ordnung im veröffentlichten Denken der Reformatoren 3.1 Göttliche Gerechtigkeit und Obrigkeit bei Zwingli 3.2 Göttliches Recht und Evangelium als Argument der einfachen Leute . . . . 3.3 Evangelium und soziale Veränderung bei Luther - eine Absage an Zwingli über die Adresse der Bauern

123

128

149 150 155 158

Inhaltsverzeichnis

7

TEIL 3 DIE GEMEINDEREFORMATION IN DER TRADITION DER SPÄTMITTELALTERLICHEN POLITISCHEN KULTUR

165

1. Die Kommunalisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft 1.1 Die Auflösung hochmittelalterlicher Ordnungen 1.2 Gemeindliche Administration und Rechtspflege 1.3 Tendenzen zur Kommunalisierung der Kirche

167 167 172 179

2. Gemeinde und Außenwelt 2.1 Gemeinde und Herrschaft

183 183

2.2 Kommunale Repräsentation

194

3. Werte im Kommunalismus - N o r m e n im Aneignungsprozeß des Reformatorischen? SCHLUSS TION

196

FÜRSTENREFORMATION VERSUS GEMEINDEREFORMA-

Verzeichnis der gedruckten Quellen und der Literatur Verzeichnis der Figuren, Karten und Tafeln Personen-, Orts- und Sachregister

205 217 225 227

Vorwort Gedanklich beschäftigt mich das Problem der Gemeinde, das Proprium dieses Buches, seit langem. Gleichgültig ob ich mich sachlich und methodisch über die Landesgeschichte, die Verfassungsgeschichte oder die Agrargeschichte der Vergangenheit genähert habe, die Gemeinde erwies sich immer als eine Institution von beachtlichem Eigengewicht. Erstaunlicherweise genießt sie in Deutschland und Österreich kein hohes Ansehen, jedenfalls nicht in der Historiographie, denn anders ist schwerlich zu erklären, weshalb zur Charakterisierung von Epochen und zur Markierung von Epochengrenzen die Gemeinde als Lebensform der bäuerlichen und bürgerlichen Gesellschaft nicht herangezogen wird, wo sie doch zweifellos neben der Familie die wichtigste Form der Vergesellschaftung der einfachen Leute bis weit in die Neuzeit hinein darstellte. An Faszination hat der Gegenstand für mich durch meinen Wechsel in die Schweiz gewonnen, weil es einiger Überlegungen wert ist, weshalb sich die politische Kultur der Schweiz in so starkem Maße aus den kommunalen Traditionen speist, in Deutschland hingegen nicht. Es ist nicht völlig ohne Erkenntniswert auf die Tatsache hinzuweisen, daß der Versuch von Adolf Gasser, eine europäische Geschichte von der Gemeinde her zu entwerfen, prompt das Gütesiegel des Auslieferungsverbots im nationalsozialistischen Deutschland erhalten hat. Dem Satz von Theodor Heuss, „Gemeinden sind wichtiger als Staaten", fehlt in Deutschland immer noch die wünschenswerte empirische Uberprüfung aus der Geschichte. Interesse und Methode hängen zusammen. Daß der Kompaß der Geschichtswissenschaft heute nicht mehr auf die Soziologie, sondern die Anthropologie zeigt, dürfte kaum zufällig sein. Begründbar ist dieser Orientierungswechsel wohl aus der Erfahrung, daß die Sozialgeschichte als herrschende Teildisziplin der letzten zwei Dekaden an die Grenzen ihrer Erklärungsmöglichkeit aus sich heraus gestoßen ist. Man kann zu umfassenderen Erkenntnissen und Erklärungen auf verschiedene Weise kommen. Eine ist gewiß, die Sozialgeschichte mit der Geistesgeschichte zu verknüpfen, zumal die Möglichkeiten der Begegnung beider Teildisziplinen längst nicht ausgeschöpft sind. Es bedarf nicht des Verweises auf die opulenten Publikationen des Lutherjahres 1983, um das zu beweisen. Der häufige Ruf „mehr Geistesgeschichte in der Sozialgeschichte", der sein Echo in „mehr Sozialgeschichte in der Geistesgeschichte" findet, hat zweifellos seine wechselseitige Berechtigung, vor allem dann, wenn die Gegenstände im Achsenkreuz beider Disziplinen liegen. Wo der Gegenstand die Gemeinde in Mitteleuropa ist, die ihre Blüte und Bedeutung zweifellos vornehmlich im ausgehenden Spätmittelalter und in der beginnenden Frühneuzeit hatte, ergibt sich bei nachbohrendem Fragen, daß ihre Geschichte und ihre Geschicke aus der Sozialgeschichte heraus allein unerklärbar bleiben. Die Antwort auf das Fragen liegt in der Reformationsgeschichte als Ideengeschichte.

Vorwort

9

Aus dieser Vorgeschichte erklärt sich die vorliegende Arbeit, die insoweit eine Geschichte der Reformation in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich sein will, als die Reformation ihr Gravitationszentrum in der Gemeinde besitzt, sowohl gesellschaftlich wie theologisch. Der ursprüngliche, unverfälschte, unverfremdete Charakter der Reformation - das wird hier zur Diskussion gestellt - ist ihr Ausdruck als Gemeindereformation. Man kann das für eine Episode halten angesichts des unbestreitbaren Tatbestandes, daß die reformatorische Bewegung alsbald zur obrigkeitlichen Veranstaltung wurde. Man wird das dann für keine Episode halten, wenn sich auch nur wahrscheinlich machen läßt, daß die Reformation in der Gemeinde und aus der Gemeinde das Scharnier zwischen der mittelalterlichen und der neuzeitlichen Welt in Mitteleuropa darstellt. Wo ich mit Sicherheit und Überzeugung von der Gemeinde rede, tue ich es im Hinblick auf die ländliche Gesellschaft. Insofern war es eine große Hilfe und glückliche Ergänzung, daß zeitgleich eine Forschungsrichtung in Deutschland entstand, die den Zusammenhang zwischen Reformation und Stadt untersuchte. Der anregende Wechsel von Bestätigung und Infragestellen eigener Positionen hat meinen Überlegungen eine Erweiterung gegeben, die sie anderenfalls schwerlich gewonnen hätten. Im einzelnen gibt das Buch, so hoffe ich, gewissenhaft Rechenschaft darüber, was ich vor allem Tübingen und seinen überseeischen Verbündeten verdanke. Das Konzept der Gemeindereformation wird flankiert von zwei am Institut für Europäische Geschichte, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, in Mainz gefertigten Saarbrücker Dissertationen von Franziska Conrad und Heinrich Richard Schmidt, die unter den Titeln „Die Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft" und „Reichsstädte, Reich und Reformation" einerseits den Rezeptionsprozeß des theologischen Appells in der ländlichen Gesellschaft des Elsasses und andererseits die korporative Religionspolitik der Städte verfolgt haben. Beide Arbeiten wurden in meiner Untersuchung nicht berücksichtigt, um ihnen ihr Eigengewicht zu belassen, nicht weil sie sich auch, teilweise erheblich von meiner eigenen Interpretation unterschieden. Schon durch das Gespräch über Jahre zwischen Saarbrücken, Bern und Mainz gehören sie zusammen und haben letztlich einen gemeinsamen Fluchtpunkt. Wenn schließlich aus den Überlegungen ein Buch wurde, hat das auch äußere Gründe. Die Vorform eines Teilmanuskripts diente dazu, ein Forschungsprojekt für meine Berner Mitarbeiter vorzubereiten und zu begründen. Die Bewilligung dieses Vorhabens durch den Schweizerischen Nationalfonds fiel zusammen mit der ersten Präsentation des vorliegenden Konzepts von Gemeindereformation im Rahmen eines Kongresses über „Zwingli und Europa" im Frühjahr 1984. Die Freude über die Zustimmung dort und den Widerspruch hier waren der Fortschreibung des Manuskripts äußerst dienlich. Insofern jedoch die hier thematisierten Fragen in der Präzisierung auf „bäuerliche Reformation" weitergeführt werden, markiert das Buch nicht nur ein Ende, sondern auch einen Anfang. Will man für das Konzept der Gemeindereformation werben, so muß man angesichts der fehlenden Vorarbeiten zum Thema „Bauer und Reformation" die begründenden Argumente über die ländliche Gesellschaft vorführen, die dann freilich auch

10

Vorwort

die Stadtreformation in dieser neuen Beleuchtung als Gemeindereformation deutlich werden lassen. Das freilich hat auch Folgen für die A r t der Darstellung. W o eine historiographische Tradition noch vorherrscht, die den spätmittelalterlichen Bauern durch Acker, Stall und Ungewitter konditioniert sieht, m u ß man durch Ausbreiten der historischen Belege zeigen, daß er auch einen Kopf hatte. Das - und nicht nur das auch zuzugebende Interesse an einer lebendigeren Darstellung - erklärt das teilweise breite Zitieren des Quellenmaterials. (Hier ist der formale Hinweis angebracht, daß die Quellen i m m e r getreu nach den Vorlagen gegeben werden, was ihre Lesbarkeit nicht eben erhöht - Lesehilfen oder Ergänzungen sind durchgängig in eckigen K l a m m e r n [ ] ausgebracht - , wohingegen die Ubersetzung fremdsprachiger Texte, soweit nicht gedruckt vorliegende Ubersetzungen zitiert werden, von mir vergleichsweise frei vorgen o m m e n wurde. Die Verweise vom Text auf den Tafelteil sind marginal mit T l , Τ 2 etc. ausgebracht.) Angesichts der glücklichen und anregenden Verzahnung von Lehre und Forschung vollzieht sich die Fertigstellung eines Manuskripts nicht unabhängig vom Funktionieren des universitären Betriebs. Insofern habe ich m e i n e n früheren u n d jetzigen Berner Mitarbeitern für die hilfreiche, teils engagierte Unterstützung bei diesem Buch zu danken: Dr. Peter Bierbrauer und Dr. Heinrich R. Schmidt sowie Peter Hostettler, H a n s von Rütte und Christian Stalder für Unterstützung bei der ersten Sichtung des edierten Quellenmaterials u n d das mehrfache Lesen der Reinschriften u n d der Fahnen; Herrn André Holenstein für seine hilfreiche Aufbereitung ausgewählter, besonders schwieriger Sachbereiche; Frau Ursula Schatz für die Herstellung des satzfertigen Manuskripts und der Register. Weil meine immer eiligen und damit oft unzeitgemäßen W ü n s c h e so kooperativ und kenntnisreich erfüllt wurden, ist das Buch ein Stück weit auch eine Veröffentlichung der Abteilung Neuere Geschichte des Historischen Instituts der Universität Bern. Herrn Dr. Thomas von Cornides schließlich danke ich für sein nachhaltiges Interesse am Thema, Herrn Christian Kreuzer Μ. A. für die wie i m m e r problemlose Z u sammenarbeit bei der Herstellung des Buches. Daß es in der unmittelbaren Nachbarschaft der „Revolution von 1525" seinen Platz findet, halte ich für einen ausgezeichneten Standort. Bern, im Oktober 1984

Peter Blickle

Zur Studienausgabe Der Umstand, daß die Erstauflage dieses Buches ein J a h r nach ihrem Erscheinen vergriffen ist, hat den Verlag veranlaßt, eine Studienausgabe herauszubringen. Da die bisherige Reaktion und die naturgemäß erst allmählich in Gang kommende Diskussion eine prinzipiellere Korrektur der hier vorgelegten Thesen nicht notwendig macht, mag ein solcher unveränderter Nachdruck vertretbar sein. Freilich soll auch nicht verschwiegen werden, daß seit Fertigstellung des Manuskripts vor zwei Jahren neue, noch nicht publizierte Forschungen in Angriff g e n o m m e n worden sind, welche die These von der „Gemeindereformation", soweit sie aus der spätmittelalterlichen kommunalen Bewegung abgeleitet ist, ergänzen, vertiefen und möglicherweise auch korrigieren können. Es handelt sich dabei um Arbeiten im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekts „Bäuerliche Reformation im oberdeutsch-schweizerischen Raum", die vor allem vertiefte Einsichten in das bäuerliche Verständnis von Kirche und Religion erbracht haben beziehungsweise erwarten lassen. Bern, im Januar 1987

Ergänzungen Seit der Erstauflage sind folgende, nach dem Manuskript zitierte Publikationen (siehe Literaturverzeichnis) im Druck erschienen: H.-J. KÖHLER: Meinungsprofil, in: Volker Press - Dieter Stievermann (Hgg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung 16), Stuttgart 1986, S. 244-281. P. TH. LANG: Klerus im Bistum Eichstätt, ebd., S. 219-243. H. R. SCHMIDT: Reichsstädte (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung Religionsgeschichte 122), Stuttgart 1986.

An Neuerscheinungen ist auf zwei Publikationen hinzuweisen, die einerseits im Konzeptionellen, andererseits im Detail wichtige Ergänzungen enthalten: TH. A. BRADY, Jr.: Turning Swiss. Cities and Empire 1450-1550, Cambridge 1985 (bes. Kap. 5 und 6). P. BLICKLE (Hg.): Zugänge zur bäuerlichen Reformation, Zürich 1987 (mit Beiträgen von P. Bierbrauer, R. Endres, H.-J. Goertz, P. Kamber, H.-J. Köhler, H. v. Rütte, H. R. Schmidt und C. Ulbrich).

Corrigenda vor S. 49, Tafel 6. Die Druckorte und Drucker lauten richtig: Erfurt: Matthes Maler (oben links); sonst Zwickau: Jörg Gastel. auf S. 52, 4. Zeile von oben muß es heißen: landständischer Korporation anstelle von landständischen Korporationen. auf S. 62, 17. Zeile von oben muß es heißen: Entscheidung anstelle von Enscheidung. auf S. 185, 4. Zeile von unten muß es heißen: 14. Jahrhundert anstelle von 15. Jahrhundert.

Einleitung

Sturmjahre der Reformation?

Das Heil des Menschen suchte das theologische Denken der Reformatoren - das Heil der Welt suchte das praktische Denken der einfachen Leute. Doch die Reformatoren, die Theologen, die Intellektuellen, waren sie von den einfachen Leuten, den Handwerkern, den Bauern durch unterschiedliches Denken und eigenständige Kulturwelten scharf getrennt? Verehrte nicht Kaiser Maximilian in seiner Innsbrucker Hofkapelle dieselben Heiligen mit der nämlichen Inbrunst wie der Grundholde des Vorstadtklosters Wilten? Sahen der Patrizier in Bern und der Bauer auf der Berner Landschaft nicht mit derselben inneren Anteilnahme das Weltgerichtsspiel? Saßen nicht die Adeligen, die Bürger und die Bauern Tirols im Rat Erzherzog Sigmunds über denselben politischen Problemen? Der Sinn des rhetorischen Fragens ist es, an die Zusammengehörigkeiten und Verschränkungen zu erinnern, welche die Stände des Mittelalters auch noch in dessen „Herbst" verbanden. Das Heil der Welt interessierte auch den Theologen, und das Heil des Menschen interessierte auch den Gemeinen Mann - in unterschiedlichem Maße natürlich. Aus der Konvergenz der Interessen der Theologen und der Interessen der einfachen Leute wuchs der Reformation ihre Bedeutung zu, ihr weltgeschichtlicher Stellenwert. Die Wege zum Heil des Menschen und der Welt neu zu bestimmen, erschütterte die tradierten kirchlichen, sozialen und politischen Ordnungen gleichermaßen. Die Geschichtsschreibung spricht von Sturmjahren der Reformation 1 und sie spricht vom Wildwuchs der Reformation 2 , um das zunächst Bedrohliche, Gewaltsame, Unsichere und Unfertige der reformatorischen Bewegung zu beschreiben.

1

2

IV. P. Fuchs, Das Zeitalter der Reformation, in: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 2. Bd., 9 1970. - E W. Zeeden, Deutschland von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Westfälischen Frieden (1648), in: Tb. Schieder (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, 3. Bd., 1971. - St. Skalweit, Reich und Reformation, 1967 [jeweils die Inhaltsverzeichnisse]. F. Lau, Reformationsgeschichte bis 1532, in: F. Lau - E. Bizer (Hgg.), Die Kirche in ihrer Geschichte, III K, 1964, S. 17 f. - B. Moeller, Luther und die Städte, S. 20 f.

Einleitung

14

Beide Begriffe haben freilich auch ihren eindeutigen F l u c h t p u n k t : D i e S t u r m j a h r e der Reformation werden abgelöst von den ruhigen J a h r e n einer geordneten landesfürstlichen R e f o r m a t i o n ; der W i l d w u c h s findet sein E n d e m i t der A b t r e n n u n g der von Luther abweichenden reformatorischen Theologien. In den „lutherischen Landeskirc h e n " , und das heißt in d e m auf Luther verengten reformatorischen Ansatz und d e m auf den Landesfürsten bezogenen K i r c h e n w e s e n , findet die Reformation ihr Telos. D i e Metaphorik einer solchen Begriffswahl setzt zwar einprägsame bildliche A s s o ziationen frei, doch d e m Bedürfnis einer intellektuell angemessenen Erfassung eines historischen Sachverhalts entspricht sie schwerlich. Das U n g e n ü g e n an der geläufigen T e r m i n o l o g i e läßt sich denn auch in der neueren reformationsgeschichtlichen

For-

schung erkennen - etwa im Versuch, die Sturmjahre der R e f o r m a t i o n durch die B e zeichnung „reformatorische B e w e g u n g e n " zu ersetzen 3 , den W i l d w u c h s der R e f o r m a tion durch die B e n e n n u n g „Aufstand gegen den Priester" 4 . Offensichtlich bereitet es der reformationsgeschichtlichen F o r s c h u n g Schwierigkeiten, eine allseits als abgeschlossene Phase interpretierte S e q u e n z des Reformatorischen angemessen begrifflich zu umschreiben. D e n n Einigkeit besteht sowohl in der Festlegung des terminus ante q u e m wie in der terminologischen Fixierung der folgenden Periode. Sturmjahre, Wildwuchs, reformatorische Bewegungen und Aufstand gegen den Priester enden nämlich u m 1 5 2 5 , und damit setzt die landesfürstliche, die obrigkeitliche, die staatliche Reformation ein - kurzum die „Fürstenreformation" 5 .

Um

eine begriffliche Erfassung der reformatorischen Bewegung bis 1525 geht es im vorliegenden Buch. Begriffsbildung in der Geschichtswissenschaft ist in e m i n e n t e m Maße abhängig von der historischen Detailforschung. Historische Begriffe werden im b e h u t s a m e n , abstrahierenden Verfahren von unten aufgebaut und sichern sich ihre Verbindlichkeit und Dauerhaftigkeit in d e m Maße, wie sie umfassend in der historischen W i r k l i c h k e i t verankert sind. Neue Forschungen und neue Erkenntnisse erfordern neue abstrahierende Bezeichnungen. D e r Prozeß der Begriffsbildung in der Reformationsgeschichte ist sicherlich alles andere als abgeschlossen 6 , im Gegenteil, neue Abgrenzungs- und Periodisierungsbegriffe werden getestet 7 . H i n t e r solchen Überlegungen stehen neue, vorn e h m l i c h sozialgeschichtliche Forschungen, im wesentlichen j e n e Sachverhalte, die sich u m den Begriff „Stadtreformation" lagern. D i e vor nun m e h r als 1 0 J a h r e n von Arthur

G. Dickens

herausgearbeiteten, einander ablösenden Phasen einer „städtischen"

und einer „fürstlichen" R e f o r m a t i o n 8 haben mittlerweile schon das Gütesiegel „ideal-

3 4 5

6 7

8

R. Wohlfeil, Schicksal der Reformation, S. 83. H.-J. Goertz, Aufstand gegen den Priester, bes. S. 182 ff. Der Begriff wurde von der marxistischen Forschung elaboriert, wird aber auch in der westlichen Kirchengeschichtsschreibung verwendet, beispielsweise von H. A. Oberman. Symptomatisch R. Wohlfeil, Einführung in die Reformation. Zuletzt H. A. Oberman, Die Reformation als theologische Revolution, in: P. Blickle - A. Lindt -A. Schindler (Hgg.), Zwingli und Europa, 1985, und ergänzend das Diskussionsprotokoll. A. G. Dickens, Luther, bes. S. 182,196.

Sturmjahre der Reformation?

15

typischer Alternativen" 9 erhalten. Jedenfalls wird k a u m m e h r darüber gerechtet, o b der „fürstlichen" eine „städtische" Reformation vorangehe 1 0 . Man m u ß sich in R ü c k erinnerung an den Forschungsstand der 1 9 6 0 e r J a h r e vergegenwärtigen, was das für die Einschätzung der R e f o r m a t i o n insgesamt bedeutet. W u r d e sie - grob gesprochen bislang zwischen ideeller und politischer G e s c h i c h t e verortet, zwischen der T h e o l o g i e Luthers und ihrer Realisierung durch die Landesherren, so eröffnete sich m i t der Stadtreformation eine gewissermaßen dritte D i m e n s i o n des Reformationsprozesses, nämlich die soziale G e s c h i c h t e der Reformation. Zeitlich ergibt sich seitdem eine A b folge von theologischem Appell, sozialer Rezeption und politischer Reaktion, wobei die Scharniere dieser gleichermaßen sachlich und zeitlich sich überlagernden E b e n e n alles andere als klar erkennbar sind. D i e K o m p l e x i t ä t der Z u s a m m e n h ä n g e ist erst letzthin an den Verschränkungen der städtischen und landesfürstlichen Reformation an norddeutschen Beispielen gezeigt w o r d e n " . Soweit sich die U n t e r s u c h u n g e n auf die süddeutschen Reichsstädte richteten, wurde deutlich, welch komplizierter R e z e p tionsprozeß innerhalb der Bürgerschaft stattgefunden h a t 1 2 , und zweifellos besteht u n ter den Stadthistorikern eine anerkannte Übereinkunft darüber, daß o h n e das breite Interesse „von u n t e n " die Reformation jene esoterisch-intellektuelle Veranstaltung geblieben wäre, als die sie b e g o n n e n hat. Hätte es die Städte nicht gegeben, m e i n t

Bernd

Moeller, „die Reformation wäre a u s g e b l i e b e n " 1 3 . Spätestens an dieser Stelle wird man die Frage von Hans

Rosenberg

an Heiko

A.

Oberman aufgreifen, warum er - O b e r m a n - und m i t i h m die reformationsgeschichtlic h e Forschung lediglich zwischen Städtereformation und Fürstenreformation als Idealtypen unterscheide, wo - so der Sozialhistoriker Rosenberg - „im Prinzip doch auch die sogenannte Volksreformation à la M. M. Smirin nicht übersehen werden sollte" 1 4 . W a s heißt Volksreformation? Als Smirin

mit seinem B u c h „Die Volksreformation des T h o m a s Münzer und der

große Bauernkrieg" 1 5 1 9 4 7 bzw. 1 9 5 2 den Begriff in die wissenschaftliche Diskussion einführte, lagen m i t d e m Titel auch die definitorischen Merkmale in ihren wesentlic h e n Grundzügen fest: Es gibt eine Filiation des Reformatorischen, personalisiert in T h o m a s Müntzer, die auf Volksreformation zu präzisieren ist und in e i n e m ursächlic h e n Z u s a m m e n h a n g m i t d e m Bauernkrieg von 1 5 2 5 steht. W a h r e „Erkenntnis G o t -

9

10

11 12 13 14

15

Vgl. dazu den Diskussionspunkt „Stadtreformation und Fürstenreformation als idealtypische Alternativen" in: L. W. Spitz, Humanismus und Reformation, S. 174-187. Vgl. als gewissermaßen vorläufig abschließendes Votum H. A. Oberman, Wertung der Reformation, S. 352-357. Vgl. H. Schilling, Konfessionskonflikt, und 0. Mörke, Rat und Bürger. Vgl. die Literaturübersicht zu Kap. 2 in Teil 1. B. Moeller, Luther und die Städte, S. 16. H. Rosenberg in seinem Diskussionsbeitrag in: L. W. Spitz, Humanismus und Reformation, S. 174. M. M. Smirin, Die Volksreformation des Thomas Münzer und der große Bauernkrieg, 1952 [russische Originalausgabe 1947], 2 1956; danach die folgenden Belege.

Einleitung

16

tes", so interpretiert Smirin die Lehre Müntzers, verlangt die „Errichtung der Grundlagen der menschlichen Moral und der menschlichen Vernunft", die sich als „bewußte Umsetzung der sittlichen Idee der Unterordnung der privaten Interessen unter das Ganze und Allgemeine ins praktische Leben" verwirklicht, und zwar notfalls mittels „revolutionärer Aktionen des Volkes". Die Müntzersche Theologie von der „Herrschaft Christi in dieser W e l t " findet ihre praktische Verwirklichung in der translatio imperii an das gemeine Volk. Entscheidend an der Theologie Müntzers ist, daß sie in der Smirinschen Interpretation „die Vorstellung des Volkes" zu einer kohärenten und agitatorisch verwertbaren Theorie verarbeitet. Die Vorstellungen des Volkes ihrerseits finden ihre Abstraktion im „Ideal der Gleichheit", in dem sich gewissermaßen „die konkreten Forderungen der Bauern" 1 6 bündeln. Das Gravitationszentrum des Smirinschen Begriffs der Volksreformation ist die Interdependenz von Theorie und Praxis, deren räumlicher Geltungsbereich strictu sensu auf Thüringen beschränkt bleibt. Die Bemühungen von Josef

Macek17,

für Michael Gaismair in Tirol den Begriff

Volksreformation in Anspruch zu nehmen 1 8 , oder die Überlegungen von Max

Stein-

metz, zu den „führenden Männern der Volksreformation" auch eine Reihe von Täufern und Bauernhauptleuten zu rechnen 1 9 , führen lediglich dazu, daß der Begriff Volksreformation selbst nominalistisch verkommt 2 0 . Er verliert seine Trennschärfe gegenüber der Bezeichnung Bauernkrieg 21 . Dennoch kann man an den Begriff der Volksreformation weitere Überlegungen anschließen. Zunächst - um kritisch zu fragen - ist nicht einzusehen, weshalb nicht etwa auch Zwingiis, Hubmaiers oder Bucers Theologie dem Kriterium einer Theorie der Gleichheit, Moral, Sittlichkeit und Vernunft, das der Müntzerschen Theologie zugebilligt wird, genügen sollten. Im Umkehrverfahren lautet der Satz: Es läßt sich empirisch nicht widerlegen, daß die in der ländlichen Gesellschaft entfalteten revolutionären

16 17

18

19

20

21

Die Zitate ebd., S. 97, 96, 164, 96, 294, 653, 660 [in der Reihenfolge der Erwähnungen], J. Macek, Der Tiroler Bauernkrieg und Michael Gaismair, 1965. Insgesamt verwendet Macek den Begriff Volksreformation sehr plakativ und unscharf. Vgl. auswahlweise S. 88, 109, 111, 127,245,370. M. Steinmetz, Über den Charakter der Reformation und des Bauernkriegs in Deutschland, in: R. Wohlfeil (Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution, 1972, S. 144-162; hier S. 154. M. Steinmetz, Der geschichtliche Platz des deutschen Bauernkriegs, in : G. Brendler - A, Laube (Hgg·), Der deutsche Bauernkrieg 1524/25. Geschichte, Traditionen, Lehren (Akademie der Wissenschaften der DDR. Schriften des Zentralinstituts für Geschichte 57), 1977, S. 15-33; hier S. 31. - Ob die namentlich genannten Bauernkriegsführer von Steinmetz noch zur Volksreformation gerechnet werden, bleibt etwas unklar. Zweifellos erfolgt jedoch eine personale Ausweitung über Müntzer und Gaismair hinaus. Eine ausführlichere Kritik in meiner Studie: Gab es eine Volksreformation? Überlegungen zur begrifflichen Präzisierung der reformatorischen Bewegung [erscheint in einem von G. Brendler und der Akademie der Wissenschaften der DDR herausgegebenen Sammelband über Luther], Vgl. den vorsichtigen Umgang mit dem Begriff Volksreformation bei G. Vogler, Nürnberg, S. 312, 314,316.

Tafel 1 Bildnis eines Bauern. Aquarell von Lukas Cranach d. Α., um 1522.

Tafel 2 Bildnis Kaiser Maximilians I. Holzschnitt nach einem Gemälde von Albrecht Dürer.

Sturmjahre der Reformation?

17

Kräfte auch Derivate von Zwingiis, Hubmaiers und Bucers Theologie sein könnten. Das K o n z e p t der Volksreformation geht von der A n n a h m e aus, daß das Volk selbst seine Ängste, Nöte, Bedürfnisse, Hoffnungen und Sehnsüchte nicht theoretisch verarbeiten und ideologisch nutzbar machen könne; auch sucht man beim Volk in dieser Interpretation vergeblich nach reformatorischen Vorstellungen. Dadurch erfährt das W o r t selbst eine etymologische Verfremdung. Kann man von einer Volksreformation sprechen, wo das Volk keine Vorstellungen von Reformation hat? Die Fragen an die Tragfähigkeit des Begriffs Volksreformation bringen gleichzeitig den Respekt vor dessen heuristischer Funktion zum Ausdruck. Das Volk im Sinne Smirins sind grosso m o d o die Bauern. Neben der „Stadtreformation" steht also auch das K o n z e p t einer „Bauernreformation". Daß „Stadtreformation" und „Volksreformation" etwas miteinander zu tun haben könnten, wiewohl weder die Stadtreformationsforschung die Bauern noch die Volksreformationsforschung die Stadt ernsthaft in den Blick nehmen, ist ein begründbarer Verdacht, der sich zunächst einmal ganz unabhängig von der Reformation als Hypothese verwenden läßt. Unbeschadet der Tatsache, daß es in Deutschland eine Forschungstradition gibt, welche die „zahlreichen Berührungspunkte und Verwandtschaften zwischen Stadt und D o r f " 2 2 immer betont hat - freilich ohne im wissenschaftlichen Diskurs das erwünschte E c h o gefunden zu haben - , sind in den letzten 10 J a h ren auf einer begriffsgeschichtlichen Ebene überzeugend strukturelle Gemeinsamkeiten von Stadt und Dorf herausgearbeitet worden. Dabei handelt es sich um die Redeweise vom „Gemeinen Mann". Die Breite der Diskussion 2 3 hat Interpretationsdiffe-

22

Zuletzt K.S. Bader, Das Dorf als Friedens- und Rechtsbereich, 1957, S. 230. Das Urteil Baders ist deswegen von Erheblichkeit, weil er eben auch ein Kenner der Städte ist. - Vgl. Ders., Reichsadel und Reichsstädte in Schwaben am Ende des alten Reiches, in: Aus Verfassungsund Landesgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Theodor Mayer, Bd. 1, 1954, S. 247-263. - Ders., Die Reichsstädte des schwäbischen Kreises am Ende des alten Reiches, in: Ulm und Oberschwaben 32 (1951), S. 47-70. - Für einen Versuch, das Städtewesen innerhalb der Herrschaftsformen zu lokalisieren, Ders., Der deutsche Südwesten in seiner territorialstaatlichen Entwicklung, 2 1978, bes. S. 149-160.

23

Schon der Literatur des 19. Jahrhunderts ist die Wortwahl geläufig. Reflektiert wird der Begriff wohl erstmals (nach Ausweis der Literatur) bei P. Blickle, Die Revolution von 1525, 1.Auflage, 1975, S. 177 ff. - Daran anschließend: H. Schilling, Aufstandsbewegungen in der Stadtbürgerlichen Gesellschaft des Alten Reiches, in: H.-U. Wehler (Hg.), Der Deutsche Bauernkrieg 1524-1526 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 1), 1975, S. 193-238, bes. 237 f. [Nachtrag: Bemerkungen zu Peter Blickles Interpretation des Bauernkrieges als Revolution des .gemeinen Mannes' in Stadt und Land]. - Breiter aufgegriffen 1976 von R. Wohlfeil, Der .gemeine Mann' im Bauernkrieg, in: F. Dörrer (Hg.), Die Bauernkriege und Michael Gaismair (Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs 2), 1982, S. 283-288. - Hilfreiche Präzisierungen bei W. Schulze, Theoretische Probleme bei der Untersuchung vorrevolutionärer Gesellschaften, in: J. Kocka (Hg.), Theorien in der Praxis des Historikers (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 3), 1977, S. 55-85, bes. 69 f., 83 f. - Von marxistischer Seite A. Laube, Bemerkungen zur These von der „Revolution des gemeinen Mannes", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 26 (1978), S. 6 0 7 - 6 1 4 [Versuch, den „Volks"begriff zu verteidigen], -

Einleitung

18

renzen deutlich g e m a c h t und auch Unscharfen des Begriffs selbst erkennbar werden lassen, was ihn aber n i c h t untauglich macht, weil allen Begriffen der politisch-sozialen Sprache notwendigerweise eine gewisse Unscharfe eigen ist. Als gesichert kann gelten, daß der G e m e i n e Mann ein Oberbegriff für Städter und Dörfler ist, er also zuallererst etwas „ G e m e i n e s " , Allgemeines, Verbreitetes umschreibt, wie es in analogen W o r t b i l dungen wie „gemeine C h r i s t e n h e i t " und „gemeiner N u t z e n " z u m Ausdruck k o m m t . D i e zeitgenössische Sprache k e n n t als Entgegensetzung zu G e m e i n n u t z den „Eigenn u t z " ; entsprechend gibt es ein G e g e n ü b e r zu G e m e i n e r Mann, und zwar in den Ständen Adel und Geistlichkeit, allgemeiner g e s p r o c h e n in der F o r m von personalisierter Obrigkeit. Das ist die A b g r e n z u n g nach oben. Nach u n t e n 2 4 gibt es eine Demarkationslinie, die durch Haushäblichkeit, G e m e i n d e r e c h t , Verpflichtung zur Huldigung, W e h r f ä h i g keit und andere Kriterien regional und lokal e n t s p r e c h e n d den Verfassungsverhältnissen unterschiedlich angebracht werden muß. D o c h gehören zur Kategorie des G e m e i nen Mannes gewiß nicht die K n e c h t e und Mägde, die L a n d s k n e c h t e und Söldner, die Bettler und fahrenden Leute. Ü b e r und unter d e m G e m e i n e n Mann stehen - u m eine andere W e n d u n g zu wählen - die Herrenstände und die unter- oder außerständischen Schichten. D i e zeitgenössische Begriffswahl unterstreicht also nachdrücklich eine Z u s a m m e n gehörigkeit von ländlicher und städtischer Gesellschaft. Das gilt in ganz b e s o n d e r e m Maße für die R e f o r m a t i o n s e p o c h e , wohingegen der G e m e i n e Mann schon in der zweiten Hälfte des 16. J a h r h u n d e r t s seine V e r f r e m d u n g erfährt und einerseits gegen Bauern, andererseits gegen Untertanen austauschbar wird 2 5 . D e r Erfolg, der d e m Begriff des G e m e i n e n Mannes im wissenschaftlichen Diskurs auch der Nachbardisziplinen V o l k s k u n d e , Germanistik oder R e c h t s g e s c h i c h t e

be-

schieden war - und bald darüber hinaus auch in den Medien - , hat paradoxerweise seine Verwendbarkeit auch erheblich eingeschränkt. D e n n m i t d e m G e m e i n e n Mann hatte man - u m summarisch zu verfahren - ein b e q u e m e s Surrogat für den belasteten und sperrigen Begriff des Volkes. D o c h gerade diese Ineinssetzung hat d e m G e m e i nen Mann seine Einmaligkeit geraubt. W a s an i h m unverwechselbar und charmant war, ist auf das Einheitsniveau einer Illustriertenschönheit h e r u n t e r g e s c h m i n k t worden. D e r G e m e i n e Mann ist e b e n gerade n i c h t das Volk.

24

25

Eine Zwischenbilanz bei R. Wohlfeil, Vorbemerkungen zum Begriff des „Gemeinen Mannes", in: H. Mommsen - W. Schulze (Hgg.J, Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 24), 1981, S. 139 ff. - Neue Gesichtspunkte, vor allem für den städtischen Bereich, bei II. R. Schmidt, Reichsstädte. Das ist die zentrale Frage von R, H. Lutz, Wer war der gemeine Mann? Der dritte Stand in der Krise des Spätmittelalters, 1979, der im übrigen den umfassendsten Beitrag zur Begriffsgeschichte geliefert hat. Zur weiteren Geschichte des Begriffs vgl. P. Blickle, Untertanen in der Frühneuzeit. Zur Rekonstruktion der politischen Kultur und sozialen Wirklichkeit Deutschlands im 17. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70 (1983), S. 493-497.

Sturmjahre der Reformation?

19

Die Bemerkungen zu Stadtreformation, Volksreformation und Gemeiner Mann sollten den Gegenstandsbereich dieser Arbeit präzisieren helfen : Von der reformatorischen Bewegung als sozialer Bewegung handelt das vorliegende Buch. Die Vermutung, daß Stadt und Land eng zusammengehören und in dem begrifflichen Kürzel Gemeiner Mann eine zeitgenössische Kodierung für diesen Sachverhalt vorliegt, bestätigt die jüngere „Populär religion"-Forschung. Ein Kenner des deutschen 16. Jahrhunderts und der angelsächsischen Debatte über „Volkskultur" übersetzt „popular culture" und „popular religion" mit „Kultur und Religion des gemeinen Mannes" 26 . Erheblich ist diese Aussage deswegen, weil sie mit europäischem Geltungsanspruch die Auffassung vertritt, vor dem Auseinandertreten der Kulturen in der Neuzeit könne von einer geschiedenen städtischen und ländlichen Kultur nicht die Rede sein 27 . Wie anders muß es in Deutschland zugegangen sein, denn nach dem jüngeren Urteil des Reformationshistorikers Bernd Moeller war einerseits in den Städten selbst Luthers Rechtfertigungslehre „durchaus nicht, wie man immer wieder liest, unzugänglich, schwer verständlich, kompliziert, sondern vielmehr in ihrem Kern gerade leicht zu erfassen und höchst aktuell" 28 , hingegen scheinen andererseits „die Bauern ... gegenüber der Reformation in der Geschichtslosigkeit ihrer lokalen und naturgebundenen Bezüge zu verbleiben, als hätten sie die neuen Lehren überhört - sie hatten ja kaum Anteil an der Bildung" 29 . Auch Theologen teilen heute eine solche Auffassung vom Bauern nicht durchgängig 30 , und die atheistische Schwester der Kirchengeschichte, die Volksreligionsforschung, würde, falls sie solche Urteile zur Kenntnis nähme, sagen, hier werde „der Mythos vom naturverbundenen, geschiehtslosen Bauern perpetuiert" 31 , oder sich darauf beschränken, ihren sanften Spott über solch vorwissenschaftliches Meinen auszugießen 32 . Zumal für Deutschland kann es durch die Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung als erwiesen gelten, daß der Bauernstand die Erheblichkeitsschwelle für po-

26 27

28

29 30

31 32

Κ. v. Greyerz, Sozialgeschichtliche Reformationsforschung, S. 14, 20, 26, 31. Für Spanien W. A. Christian, Religion in Spain, bes. S. 8. - R. Scribner, For the sake of simple folk. - D. Weinstein - M. Bell, Saints and Society. - P. Burke, Helden. Β. Moeller, Luther und die Städte, S. 23. Vgl. dazu folgende früher publizierte Formulierung von P. Blickle; Reformation, S. 111 : „Es kann keine Rede davon sein, daß die Bauern nicht verstanden, was die Reformatoren predigten ... Eine solche Behauptung ist auch nicht sonderlich kühn, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die reformatorische Rechtfertigungslehre - reduziert auf ihren Kern - für jedermann verständlich und nachvollziehbar war. Die Religion auf wenige Grundkategorien zurückzuführen und sie aus ihnen zu begründen, machte sie zugänglich für die gesamte Gesellschaft...". B. Moeller, Reformation, S. 91. M. Lienhard, Luther, S. 132, stellt immerhin die Frage, weshalb man von einer Stadtreformation und einer Fürstenreformation spreche, nicht aber von einer „réforme paysanne". Κ. v. Greyerz, Sozialgeschichtliche Religionsforschung, S. 25. Ν. Z. Davis, Some tasks, S. 309. - Vg. D. Weinstein - R. M. Bell, Saints and Society, S. 12. M. Scharfe, Subversive Frömmigkeit, in: J. Held (Hg.), Kultur zwischen Bürgertum und Volk (Argument-Sonderband 103), 1983, S. 117-135, bes. 130.

20

Einleitung

litische Prozesse und historische Abläufe durchaus erreicht hat 33 . Wer das verneint, bezeugt mangelhafte Kenntnis der Literatur und der Quellen, wo nicht eine absichtliche Ignoranz. Der Rundgang durch die historischen Teildisziplinen und die Musterung ihrer Beiträge zur Reformationsgeschichte kann nicht ohne einen letzten Seitenblick auf die jüngere Volkskultur- und Volksreligionsforschung beendet werden 34 , zumal sie nach einer Wendung von James Obelkevich beansprucht zu erkunden, welchen ,Sitz im Leben' die religiösen Praktiken der einfachen Leute haben 33 . Bedauerlicherweise sind solche Fragestellungen bislang überwiegend der nachreformatorischen Zeit zugute gekommen 36 , soweit sie sich auf das Spätmittelalter und die Reformationszeit beziehen, steht - zum Teil quellenbedingt - sehr stark die Erforschung der Heiligenverehrung im Vordergrund 37 . Was trotz dieses ausschnitthaften Zugriffs methodisch von diesen Arbeiten zu lernen wäre, ist die Einsicht, daß Kulturströme „nicht nur einen einzigen Weg nehmen, von oben nach unten; im Gegenteil gehen sie in verschiedene Richtungen und sind so ineinander verschlungen, daß die Struktur der Religiosität schwerlich als hierarchisch beschrieben werden kann" 38 . Gerade die Erforschung der Heiligenverehrung in Europa hat zeigen können, daß Heilskulte und Religionspraktiken von unten nach oben durchgesetzt und schließlich kirchlich-institutionell anerkannt wur-

33

Vgl. W. Schulzesand meinen Beitrag in: G. Birtscb (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, 1981. - Für breitere empirische Fundierungen vgl. neben meiner älteren Studie, Landschaften, vor allem W. Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau 6), 1980. - Für die regionale Differenzierung die Beiträge in: W. Schulze, Aufstände, und den von mir herausgegebenen Band Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, 1980. Die umfassendste kritische Würdigung des Forschungsansatzes bei W. Troßbach, Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 1 6 4 8 - 1 8 0 6 : Soziale Bewegung und politische Erfahrung, Diss. phil. Bochum 1983, S. 1 - 4 0 .

34

Forschungsberichte R. W. Scribner, Interpreting Religion in Early Modern Europe, in : European Studies Review 13 (1983), S. 8 9 - 1 0 5 . - K. v. Greyerz, Sozialgeschichtliche Religionsforschung. - G. Lottes, Popular Culture in England (16.-19. Jahrhundert), in: Francia 12 (1984), S. 6 1 4 - 6 4 1 , bes. 637 ff. J. Obelkevich, Introduction, in: Ders. (Hg.), Religion and People, 8 0 0 - 1 7 0 0 , 1979, S. 4. - Vgl. auch N. Z. Davis, Some tasks, S. 312. Entscheidende Impulse verdankt die „Populär religion"-Forschung der Arbeit von K. Thomas, Decline of Magic, die schwerpunktmäßig die Tudor- und Stuart-Zeit untersucht. Hervorzuheben sind die Studien von D. Weinstein - R. M. Bell, Saints and Society. - W. A. Christian, Religion in Spain. - Ders., Apparitions. - Für Deutschland vgl. die (beurteilt von süddeutschem Material) eher krausen Interpretationen von L. Rothkrug, Religious Practices and Collective Perceptions: Hidden Homologies in the Renaissance and Reformation (Historical Reflections vol. 7 no. 1), 1980. - Ders., Popular Religion and Holy Shrines. Their Influence on the Origins of the German Reformation and Their Role in German Cultural Development, i n : J . Obelkevich (Hg.), Religion and the People, 8 0 0 - 1 7 0 0 , 1979, S. 2 0 - 8 6 . D. Weinstein - R. M. Bell, Saints and Society, S. 12. - Besonders akzentuiert bei W. A Christian, Religion in Spain.

35

36

37

38

Sturmjahre der Reformation?

21

den39. Solche Einsichten sollten davor warnen, die Distanzen zwischen den religiösen Erfahrungen und theologischen Einsichten der einfachen und der gebildeten Leute, der Theologen, Prediger und Pamphletisten auf der einen Seite und der Händler, Handwerker und Bauern auf der anderen als allzu groß anzunehmen40. Eine andere Auskunft freilich ist als methodischer Hinweis für die deutsche Reformationsgeschichtsforschung von größerer Erheblichkeit. Geht man nämlich mit der Volksreligionsforschung davon aus, daß die Formen der Frömmigkeit und die magischen Praktiken hoch entwickelt waren, und zwar ohne erkennbare Unterschiede im Prinzipiellen in allen europäischen Ländern und Regionen41, dann läßt sich jedenfalls von der Volksfrömmigkeit her kein Zugang zu der Frage gewinnen, weshalb die Reformation in Mitteleuropa eine im Bürgertum und Bauerntum breit verankerte soziale Bewegung wurde, nicht aber in England und Frankreich, wo ja schließlich der reformatorische Appell auch zu hören war42. Nicht aus Frömmigkeitsformen und Religionspraktiken erklärt das Buch die Reformation als soziale Bewegung, sondern aus den realen Lebensbezügen der Bauern und Bürger. Damit sind die Argumentationsschritte der folgenden Überlegungen angedeutet: Was verstehen Bauern und Bürger unter Reformation, und wieweit läßt sich ein gemeinsames Reformationsverständnis feststellen (1)? Was übernimmt die bäuerlichbürgerliche Gesellschaft von den Reformatoren, und wo ist sie originär, anders gewendet, gibt es eine eigene Reformation der einfachen Leute (2)? Schließlich - wie erklärt sich der Rezeptionsprozeß in der Gesellschaft (3)? Daß die Geschichte der Reformation etwas mit der Gemeinde zu tun haben könnte, ist ein mehrfach geäußerter Verdacht43, der den folgenden Überlegungen als heuristische Wegleitung dient.

39 40

41

42

43

D. Weinstein - R. M. Bell, Saints and Society. Scharfe Unterschiede zwischen einer Kultur der Intellektuellen und einer solchen der einfachen Leute hingegen vertritt M. U. Chrisman, Lay Culture, Learned Culture. Books and Social Change in Strasbourg, 1480-1599, 1982, bes. S. X X ff., 281 ff. Κ. Thomas, Decline of Magic, S. Χ. - P. Burke, Helden, S. 12 f. - W.-E. Peuckert, Volksglaube, bes. S. 7 - 1 2 . Vgl. dazu als einprägsame Fallstudien E. Le Roy Ladurie, Les paysans de Languedoc, 1. Bd., 1966, S. 3 3 3 - 4 1 4 . - M. Bowker, The Henrician Reformation. The Diocese of Lincoln under John Longland 1 5 2 1 - 1 5 4 7 , 1 9 8 1 , S. 17-64. Dem Thema nähern sich schrittweise meine früheren Studien: Revolution, S. 2 7 4 - 2 7 8 [Kap. 3.4 Die Verstaatlichung der Gemeindereformation]. - Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, S. 124ff. - Reformation, S. 122-133.

Teil 1

Die Reformation in der Gesellschaft

Zu den bemerkenswerten Leistungen der reformationsgeschichtlichen Forschung der letzten 10 bis 15 Jahre gehört die Einsicht, daß der Reformation als „politischem" Ereignis die Reformation als „soziales" Ereignis vorausgeht, anders gesprochen, daß zeitlich vor der landesfürstlichen Reformation eine Phase der städtischen Reformation liegt. In der Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie nimmt seitdem unter den sozialen Großgruppen der Ständegesellschaft das Bürgertum einen bevorzugten Platz ein, während der Adel und die Bauern als die beiden übrigen Laienstände kaum in den Blick kommen. Rücksichtlich des Adels ist das einsichtig, weil sich in der Zeit, in der die Stadtreformation stattfindet, bei ihm ein breiteres Interesse für die Reformation nicht ausmachen läßt. Die aufsehenerregende Fehde Franz von Sickingens gegen den Erzbischof von Trier blieb doch eher eine sozial und regional begrenzte Bewegung unter einem Teil des niederen Adels im Westen des Reiches. Erstaunlich hingegen ist, daß der Blick in die Stadt nicht auch den Blick für das Dorf geschärft oder wenigstens das Interesse für die ländliche Gesellschaft geweckt hat. Läßt man das immer richtige und damit unwiderlegbare Argument von der beschränkten Arbeitskraft einer Forschergeneration beiseite, so sind Gründe für diese Ignoranz leicht zu finden, wenn auch methodisch nicht zu begründen. Wo die Reformation als vorrangig intellektuelles Ereignis verstanden wird, wie es das Kürzel „ohne Buch keine Reformation" zum Ausdruck bringt, bleibt der Bauer als Analphabet aus dem Kreis der möglichen Rezipienten ausgeschlossen. Nach Lage der Dinge empfiehlt es sich, zunächst der Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft als der numerisch stärksten Gruppe der Bevölkerung in Mitteleuropa nachzuspüren (1) und sie mit der bekannteren „bürgerlichen Reformation" zu konfrontieren (2), um schließlich aus dem Vergleich von „bäuerlicher" und „bürgerlicher" Reformation Gemeinsamkeiten und Abweichungen herauszuarbeiten (3).

24

1.

Die Reformation in der Gesellschaft

Die bäuerliche Reformation

Der methodische Zugang zum bäuerlichen Reformationsverständnis führt über die Bittschriften, Beschwerden und Artikelbriefe, die von einzelnen Gemeinden oder ganzen Regionen erstellt wurden. Sie fallen in die Zeit zwischen 1523 und 1525. Eine besondere Überlieferungsdichte ergibt sich für 1525, das Jahr der „Revolution des Gemeinen Mannes", des häufiger sogenannten Bauernkrieges. In seinem Verlauf sind Tausende von Dokumenten entstanden, die auch über die bäuerliche Theologie' Auskunft geben können. Die enge Verbindung der reformatorischen Bewegung bei den Bauern mit einer revolutionären Bewegung hat bis heute verhindert, sich den Glaubensüberzeugungen der Bauern überhaupt zu nähern, geschweige denn sie als lohnendes und die Reformationsdiskussion möglicherweise weiterführendes Problem zu erkennen. Seit Martin Luther den Aufstand der Bauern als Werk des Teufels denunziert hatte, wurde mit einer fraglosen Selbstverständlichkeit vom 16. Jahrhundert bis heute sein Verdikt über das bäuerliche Verständnis der neuen Lehre repetiert, die Bauern hätten nichts anderes im Sinn gehabt, als ,sub praetextu' des Evangeliums ihre wirtschaftlichen und sozialen Forderungen durchzusetzen 1 . Der analytische Zugriff auf bäuerliches Reformationsverständnis war damit blockiert und die gesamte Rezeptionsgeschichte unzulässigerweise verengt, wie der Nachweis einer genuin .bäuerlichen Theologie' am Beispiel des Elsaß neulich gezeigt hat 2 . Das methodische Verfahren, bäuerliches Verständnis von Reformation zu rekonstruieren, hat von der in der Geschichtswissenschaft unbestrittenen Prämisse auszugehen, daß historische Dokumente als solche zunächst ernst und für wahr zu nehmen sind, und erst der zweite Schritt der Kritik hat zu prüfen, inwieweit die Aussage der Quelle durch subjektive Interessen, äußere Einflüsse oder anderes .verfälscht' ist. Aus diesem Rückverweis auf gewissermaßen geschichtsmethodologische Banalitäten ergibt sich, daß zunächst das Reformationsverständnis der Bauern über die verfügbaren Quellen zu erfassen ist, was eine Isolierung der theologischen und religiösen Aussagen der Texte erfordert. Das Hinterfragen des rekonstruierten Reformationsverständnisses hat dem zu folgen, aber nicht als vorwissenschaftliche Meinung ihm vorauszugehen. Es geht hier erklärtermaßen nicht darum - und darauf ist, um Mißverständnisse zu vermeiden, nachdrücklich hinzuweisen - , den Bauernkrieg als solchen zu behandeln oder zu seiner Erklärung etwas beizutragen. Ihn vorab in einem gerafften Abriß gewissermaßen als ereignisgeschichtliche Rahmenhandlung darzustellen, geschieht allein in der Absicht, die Analyse bäuerlichen Reformationsverständnisses mit ihren notwendigen Rückgriffen auf die für den Bauernkrieg typische Begriffswelt verständlicher zu machen. 1 2

Die Literaturnachweise in Auswahl bei P. Blickte, Revolution, S. 244, Anm. 11. F. Conrad, Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft. - Neuerdings hat unter den Lutherforschern im engeren Sinn M. Lienhard, Luther, S. 134, gegen die These vom sozioökonomischen Reduktionismus der einfachen Leute Stellung bezogen.

Die bäuerliche Reformation

25

Der Aufstand der deutschen Bauern 1525 läßt sich summierend als die bedeutendste Massenerhebung im altständischen Europa charakterisieren. Nach ersten Unruhen im Oberrheingebiet 1524 3 trat zunächst in den ersten Monaten des Jahres 1525 Oberschwaben ins Zentrum der Ereignisse. Zwischen Ulm und Biberach, im Allgäu und am Bodensee sammelten sich Tausende, ja Zehntausende von Bauern. Soweit es noch zu Verhandlungen mit den Herren - den Fürsten, Grafen und Rittern, den Bischöfen, Prälaten und Reichsstädten - kam, entstanden rasch, auch überstürzt dörfliche und lokale Beschwerdeschriften, die alsbald auf regionaler Ebene zusammengefaßt wurden. Eines der berühmtesten, auf diese Weise entstandenen Manifeste stellen die .Zwölf Artikel' der oberschwäbischen Bauern dar, eine Zusammenfassung und Abstraktion vornehmlich der dörflichen Artikelbriefe aus dem nördlichen Oberschwaben, die mit der Hilfe des Kürschnergesellen Sebastian Lotzer und des Memminger Prädikanten Christoph Schappeler redigiert, zum Druck gebracht und in vielen Auflagen vertrieben wurden. Etwa zeitgleich schlossen sich die Bauern zwischen Ulm und Biberach, am Bodensee und im Allgäu zu einer .Christlichen Vereinigung' zusammen und gaben sich in Form einer Bundesordnung eine grobe, vorläufige Verfassung, die gleichfalls durch den Druck weitere Verbreitung im Reich fand. Diese propagandistische Tätigkeit der Oberschwaben war für die Ausbreitung und den weiteren Verlauf der Bewegung nicht unbedeutend, wie die vielfachen Rückverweise auf die Zwölf Artikel in anderen Landschaften zeigen. Ende März kam es zu größeren bäuerlichen Zusammenschlüssen um Rothenburg ob der Tauber, im Odenwald und im Hochstift Würzburg, die sich schließlich auf Franken insgesamt ausweiteten. Die fränkischen Bauernhaufen erzielten spektakuläre Erfolge: Bei Weinsberg wurde eine adelige Besatzung zur Kapitulation gezwungen und nach Kriegsrecht durch die Spieße gejagt; das Erzstift Mainz mußte sich auf die ,Zwölf Artikel' verpflichten, die die Franken mit geringen Modifikationen von Oberschwaben übernommen hatten. Unter solchen Zeichen des Sieges stellten zwei bürgerliche Parteigänger der fränkischen Bauern Überlegungen an, wie die Erzstifte Köln und Trier, die Kurfürstentümer Brandenburg und Sachsen, die von der Aufstandsbewegung bislang verschont geblieben waren, in ein umfassendes Bauernbündnis integriert werden könnten. Mitte April brach der Aufstand auch im Klettgau, Schwarzwald und Elsaß aus. Straff organisierte Erasmus Gerber die unterschiedlichsten Herren unterstehenden Bauern im Unterelsaß; die Oberrheiner erreichten mit Werbung, Drohung und militärischer Gewalt den Beitritt der Städte und schließlich auch, als letzten Erfolg, die Kapitulation von Freiburg im Breisgau. - Noch bevor Freiburg gefallen war, erhoben sich die Bauern in Tirol, zeitweise zumindest unter der ideologischen Führung von Michael Gaismair; ihrem Beispiel folgten die Knappen, Gewerken und Bauern im benachbarten Erzstift Salzburg; und im fernen Thüringen wurde Thomas Müntzer der Führer aufständischer Bauern und Bergknappen. Vom Oberrhein weitete sich der Aufstand in die Pfalz und in die Eidgenossenschaft (Basel, Solothurn, Zürich), von Oberschwaben 3

Für die Ereignisgeschichte grundlegend G. Franz, Bauernkrieg.

Die Reformation in der Gesellschaft

26

aus ergriff er St. Gallen, das habsburgische Rheintal und Graubünden, von Franken das Herzogtum Württemberg. Klosterbruch und Burgensturm gehört zum geläufigen Erscheinungsbild in allen Aufstandslandschaften - die Einnahme der Klöster diente der Verproviantierung der oft um 1 0 0 0 0 Mann starken Bauernhaufen, die Erstürmung der Burgen der Vereitelung möglicher militärischer Gegenmaßnahmen. Der Widerstand der Herren erfolgte scheinbar zögernd, dann aber energisch in der kurzen Zeitspanne von kaum mehr als drei Wochen. Nachdem der Feldherr des Schwäbischen Bundes, Georg Truchseß von Waldburg, Mitte April die oberschwäbischen Bauern durch einen Friedensvertrag militärisch hatte neutralisieren können, wurden die württembergischen Bauern am 12. Mai bei Böblingen, die Thüringer am 15. Mai bei Frankenhausen, die Elsässer am 16. Mai bei Zabern und die Franken in der ersten Juniwoche bei Königshofen geschlagen. Der Herzog von Lothringen und der Landgraf von Hessen, die Kurfürsten von Sachsen, Brandenburg, Pfalz, Mainz und Trier mit ihren Truppen vernichteten die Bauernheere. Zwischen dem Beginn der Zusammenrottungen und der militärischen Niederwerfung sind, wie kaum in einer anderen Epoche der altständischen Gesellschaft, zahllose Beschwerdeschriften und Forderungskataloge - meist in Form sogenannter Artikel auf dörflicher und lokaler, regionaler und territorialer Ebene entstanden. Mit der Ausbreitung der Bauernbewegung verbesserten sich auch die Organisationsformen. Allerorten konstituierten sich die Bauern in .Haufen', militärischen oder paramilitärischen Organisationen, die sich als solche vielfach zu umfassenderen Christlichen Vereinigungen zusammenschlossen und durch den Zusammenbruch der feudalen Herrschaft notwendigerweise den Charakter politischer Verbände annahmen. Sowohl von den Haufen als auch von den Christlichen Vereinigungen sind Feld- und Bundesordnungen überliefert. Kaum einer der lokalen Artikelbriefe und sicher keine der Regionalbeschwerden, Feld- und Bundesordnungen verzichtet darauf, zur Frage der Reformation Stellung zu nehmen. Aus ihnen läßt sich das bäuerliche Reformationsverständnis ermitteln, sowohl in seinen gemeinsamen Grundzügen wie in seinen regionalen Varianten. Die notwendige Akzentuierung des Jahres 1525 sollte freilich nicht überdecken, daß das Interesse der Bauern an der Reformation bereits früher einsetzt, auf breiterer Front seit 1524 im Elsaß 4 und in Franken 5 , seit 1523 aber schon im Zürcher Umland.

1.1

Beispiele, Zentren,

Ausstrahlungen

In der Osterwoche 1523 beschwerte sich der Abt von Wettingen bei Bürgermeister und Räten von Zürich, die Gemeinde Kloten verlange von ihm als Inhaber des Kirchensatzes, ihr einen Priester zu geben, der nach dem „Imbiss" das Evangelium ver4 5

F. Conrad, Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft, S. 86-92. G. Vogler, Nürnberg, S. 83-95.

Die bäuerliche Reformation

27

kündige - eine Forderung, die, würde sie erfüllt, seine kirchenherrlichen Rechte schmälern müßte. Der Zürcher Rat vertrat die Auffassung, die klösterlichen Rechtstitel dürften keinesfalls beeinträchtigt werden, doch stellte er es der Gemeinde frei, einen Pfarrer anzustellen und ihn auf Gemeindekosten zu besolden 1 . Etwa zwei Wochen später beschwerte sich die Gemeinde Kloten ihrerseits bei Z ü rich: Der Leutpriester u n d dessen Helfer würden ihren religiösen W ü n s c h e n nicht entsprechen; der Abt von Wettingen solle aus den Zehnteinkünften des Dorfes einen Priester anstellen, der ihnen ,das Evangelium und die göttliche Schrift' verkünde 2 . Offenbar ging es der Gemeinde nicht nur darum, mit gottesdienstlichen Handlungen nach ihren Vorstellungen angemessen versorgt zu werden, sondern es sollten dazu auch die Einkünfte des Patronatsherrn, die Zehnten, verwendet werden. Zwei weitere Wochen später entschied Zürich auf einem Verhandlungstag in Anwesenheit des Pfarrers und gemeindlicher und klösterlicher Vertreter, der Leutpriester Ulrich Kern habe einen Helfer anzustellen, ,der nach Mandat der Gemeinde das Evangelium verkünde' und vom Abt von Wettingen unterstützt werde 3 . Kloten hatte damit unter dem Schutz Zürichs zweierlei durchgesetzt: die Seelsorge den religiösen Bedürfnissen der Bauern anzupassen - in Mandatsform umschreibt die Gemeinde die Aufgaben des Helfers des Leutpriesters - und den Unterhalt des Pfarrhelfers d e m Patronatsherrn aufzubürden 4 . Wie ein solches Mandat inhaltlich ausgesehen haben kann, zeigt ein Blick auf das von Zürich weit entfernte fränkische Dorf Wendelstein. Dort war im Herbst 1524 vom Patronatsherrn, d e m Markgrafen Kasimir von Brandenburg, der Gemeinde ein Pfarrer zugeteilt worden, dem Dorfmeister und Gemeinde alsbald mitteilten, „was unser Begern und Fürnemen ist, des du dich auf fürtran halten solst" 5 . In prägnanter, ja geradezu scharfer Form weist die Gemeinde ihrem Pfarrer seine Position und seinen Aufgabenbereich zu: „So werden wir dich für kain Herren, sunder allain für ein Knecht und Diener der Gemaind erkennen, das du nit uns, sunder wir dir zu gebieten haben, und bevelhen dir demnach, das du uns das Evangelion und Wort Gottes lauter und klar nach der Warheit (mit Menschenlere unverhenkt und unbefleckt) treulich vorsagest". Dieser einleitende Artikel mit der Unterwerfung des Pfarrers unter gemeindliche Satzungshoheit und seine Verpflichtung auf die ,reine Lehre' steckt gewissermaßen den prinzipiellen Rahmen für weitere Einzelmaßnahmen der Gemeinde ab 6 : Gefordert wird der Vorbildcharakter des Pfarrers, „das du in der Gemain und Kirchen d e m Evangelion mit der Tat nachfarest als ein getreuer Diener Jesu Christi"; die 1 2

3 4

5 6

E Egli, Aktensammlung Zürcher Reformation, S. 128 Nr. 354 (1523 IV. 11). Ebd., S. 129 Nr. 359. - Einfache Anführungszeichen markieren die hochdeutsche Regestensprache des Herausgebers; normale Anführungszeichen ein direktes zeitgenössisches Zitat. Ebd., S. 129 Nr. 360 (1523 V. 9). Die Textstellen sind nach den bei Egli in Regestenform wiedergegebenen Belegen nicht ganz eindeutig; doch ergibt der sachliche Kontext, daß es um die Beteiligung oder Übernahme der Besoldung durch den Patronatsherrn geht. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 315 f. Nr. 97. Verzeichnet werden nur zentralere Punkte; das sog. „Fürhalten" selbst ist ausführlicher.

28

Die Reformation in der Gesellschaft

Spendung der Sakramente hat schriftgemäß zu erfolgen, „wie uns der Herr gelernt und bevolhen hat"; bislang übliche Anforderungen der Geistlichen „als mit Opfern, Seelgerecht, Belonungen und anderen erdichten Dingen, dadurch wir in Unkosten sein gefürt worden", wird die Gemeinde künftig verweigern, nicht aber den ordentlichen Unterhalt aus dem gemeindlichen Pfarrwiddum; Ansprüche gegenüber Mitgliedern der Pfarrgemeinde hat der Pfarrer vor dem örtlichen oder markgräflichen Gericht vorzubringen, nicht aber vor dem geistlichen Gericht in Eichstätt. Ohne Wenn und Aber verpflichtet sich der neubestellte Pfarrer auf diese ,dörfliche Wahlkapitulation': „Und auf solich christlich Fürhalten hat der Pfarrher zu Wendelstain die Posseß der Pfarr angenummen, sich auch bewilligt, demselben also, als ein getreuer Diener christlicher Gemain, so vil im Got Gnad verleiht, Volg ze tun" 7 . Drei oder vier Jahre früher, um 1520, hätte weder der Abt von Wettingen den Klotenern die Wahl eines eigenen Predigers gestattet noch der Pfarrer von Wendelstein sich in dieser Weise in die Pflicht der Bauern nehmen lassen; denn die Parochianen galten als „des Pfarrers Untertanen", die Gemeinde als „universitas subditorum parochiae" 8 . Jetzt aber beharrt die Dorfgemeinde darauf, Inhalte der religiösen Verkündigung festzulegen und den Pfarrer auf die Verkündigung dieser Inhalte zu verpflichten. Die Wendelsteiner Gemeinde hat das in einer der .Dienstaufgabenumschreibung' des Pfarrers vorgängigen Erläuterung gegenüber den markgräflichen Amtleuten so begründet: „Nach dem einer Christenlichen Gemain/nach anzaygung der heyligen geschrifft gebürt vnd zu gehôrt/got den herren zubitten/das er arbeyter in sein Emde schick/vnd dann also macht haben einhellig in sich in die Gemain zugreyffen/Nach einem Erbarn vnuerleümbten man/der jnen das wort gotes/nach der warhait schneyde/als ein getrewer diener Jhesu Christi/vnd ein gut exempel vortrag/Welchen auch die selbig Gemain macht hat/widerumb abzuschaffen/vnd ein andern an sein stat aufzustellen" 9 . Sind die räumlich weit auseinanderliegenden Beispiele Einzelfälle, oder lassen sie sich verallgemeinern? 1.1.1

Zürcher Landschaft

Das Territorium der Reichsstadt Zürich - die Zürcher Landschaft - gehört zu jenen Gebieten, wo sich die Bauern besonders früh für die reformatorische Lehre interessierten und engagierten. Erste Hinweise ergeben sich aus dem Schreiben des Notars Johannes Widmer vom Juni 1523 an Heinrich Göldli in Rom. Die Absicht des letzteren, mit einem Kantor nach Zürich zu kommen, hält Widmer für unklug, „dann es ist ein solch ding und wesen by uns, dass wir pfaffen in der statt nit wol wüssend, wie sicher 7 8

9

Dieses und alle vorgängigen Zitate bei G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 315. G. Pfeiffer, Gemeinde, S. 79. - Breiter ausholend K. S. Bader, Universitas subditorum parochiae - des pfarrers Untertanen. Zu Auffassung und Bezeichnung der spätmittelalterlichen Pfarrgemeinde, in: Den., Schriften zur Rechtsgeschichte, 1984, S. 240-254. Dorffmayster vnnd//Gemaind zu wendelstains fürhal-//ten/den Amptleüten zu Schwa-//bach vnd jrem new angeend-//dem Pfarrherrn gethan [1524]. - Ζ 1; Nr. 4765.

D i e bäuerliche R e f o r m a t i o n

29

wir sind; ich will geschwigen, wenn wir gen beizen und den puren über ire häg luffint" 1 . Der Gemeine Mann verachte die Messe als „ein abgöttery und verderbligkeit der seien", und auf den Kanzeln werde sie „für ein offen beschiss und betrug" ausgegeben. 1400 Jahre lang seien die Menschen verführt worden, würde ihnen vorgeworfen, erst in der jetzigen „luterisch und zwinglisch zit" käme das Evangelium wieder zum Vorschein. Wie heutzutage die Schrift zusammengebacken wird, das „schmöckt dem gemeinen mann, der do verhofft uss iro schryen und predigen, ... [daß] die pfruonden under den gemeinen mann geteilt werden". Da Papst, Kardinäle und Bischöfe jedoch der angefeindeten Geistlichkeit nicht zu Hilfe kämen, hätten die Priester die Alternative, „vom glouben und allem gottsdienst in kurzem ilents [zu] fallen oder von dem gemeinen man erschlagen [zu] werden". Der dreifache Vorwurf Widmers an den Gemeinen Mann, das Leben der Kleriker zu bedrohen, sich ,sub praetextu' des Evangeliums am Vermögen der Kirche bereichern zu wollen und die Zeremonien der Kirche zu verachten, kann als Frageansatz für die Darstellung reformatorischer Vorgänge und Vorstellungen auf der Zürcher Landschaft dienen. Welchen Bewußtseinsstand hatten die Bauern in religiösen und theologischen Fragen 1523? Es gibt dazu einige brauchbare Quellen, die individuelle wie kommunale Reformationsüberzeugungen sichtbar werden lassen 2 . A n Fronleichnam 1523 wird der Pfarrer am Großmünster in Zürich, Dr. Lorenz, in Zollikon in einen aufschlußreichen Disput verwickelt 3 . Nach der Predigt tritt ein alter, bärtiger Mann an ihn heran und sagt „mit scharpfen, härten, unlidenlichen Worten", er, Lorenz, „hett inen luginen und nit die warheit" gepredigt. Der weitere Disput ergibt, daß sich der .Bauer' mit der Abendmahlsauffassung von Lorenz nicht einverstanden erklärt und schließlich barsch erklärt, er ginge nur mehr dann zum Tisch des Herrn, wenn „der im ... under beiden gestalten des fleisch und bluots" gereicht werde. - Auf dem Heimweg nach Zürich wird Lorenz ein zweites Mal aufgehalten, ebenfalls wegen seiner Zollikoner Predigt, die sich am Fronleichnamsfest inhaltlich naheliegenderweise mit dem Altarsakrament befaßte. Angesprochen wird er von J a k o b Hottinger, der ihm vorwirft, gepredigt zu haben „wie im sacrament des alters under der gstalt des brots syent der war Gott, die menschheit, bluot und fleisch". Hottinger zu Lorenz: „Das ist nit; und ir söllent nit mer an der canzel lügen". Lorenz verteidigt sich und versucht mit der Schrift zu beweisen, „dass under der gstalt des brots wär warer Gott, fleisch und bluot". Hottinger besteht aber darauf „das sacrament ... in beder gstalt" zu empfangen; Lorenzens Beweisführung sei „uss der philosophy", seine „durch das Evangelium", „dann Cristus 1

E Egli, A k t e n s a m m l u n g Z ü r c h e r R e f o r m a t i o n , S. 1 3 4 f f . Nr. 3 7 2 ( 1 5 2 3 V I . 28). - Egli hat, soweit er die Q u e l l e n i m vollen T e x t u n d n i c h t in R e g e s t e n f o r m gibt, h ä u f i g u m d e r leichteren L e s b a r k e i t willen E r g ä n z u n g e n in K l a m m e r n h i n z u g e s e t z t , die h ä u f i g d e n T e x t g r a m m a t i k a lisch u n d inhaltlich m o d i f i z i e r e n . D i e s e Z u s ä t z e s i n d prinzipiell hier w e g g e l a s s e n w o r d e n .

2

D a s für die S c h w e i z edierte A k t e n m a t e r i a l (vgl. d a z u Q u e l l e n - u n d Literaturverzeichnis) übertrifft; jedenfalls für d i e hier verfolgte F r a g e s t e l l u n g , vergleichbare E d i t i o n e n für D e u t s c h l a n d u n d Österreich an Breite u n d T i e f e erheblich.

3

E Egli, A k t e n s a m m l u n g Z ü r c h e r R e f o r m a t i o n , S. 133 f. Nr. 3 6 9 ( 1 5 2 3 VI. 23).

Die Reformation in der Gesellschaft

30

neme das brot, gebe das sinen jüngern und spreche: nemet hin, das ist min lib; darnach neme er den kelch und Sprech: nemet hin, das ist min bluot". Die hier geschilderten Vorgänge, die auf Zeugenaussagen von Dr. Lorenz und des Zollikoner Frühmessers Nikolaus Billiter fußen, vermitteln einen Eindruck von der Betroffenheit der einfachen Leute durch die evangelische Predigt, wie sie vom Großmünster in Zürich durch Huldrich Zwingli ausgegangen sein dürfte; sie verweisen aber auch auf das theologische Interesse der einfachen Leute, das jedenfalls nach diesen frühen Belegen nicht am militanten Antiklerikalismus und an einer Säkularisierung des Kirchenguts zur eigenen Bereicherung ansetzt. Für das Jahr 1523 läßt sich das primär theologisch geprägte Reformationsverständnis der Bauern durch weitere Belege stützen. Im Frühjahr 1523 war die Gemeinde Witikon mit Propst und Kapitel des Zürcher Großmünsters in Streit geraten. Witikon war nach Zürich eingepfarrt und dem Großmünster zehntpflichtig, hatte aber einen eigenen Priester angestellt und damit wohl auch die Hoffnung verbunden, ihn über den Zehnt besolden zu können 4 . Im Sommer desselben Jahres unternahm Witikon gemeinsam mit Zollikon, Fällanden, Unterstrass und zwei weiteren Gemeinden einen neuerlichen Versuch, die Zehntverpflichtung gegenüber dem Zürcher Großmünster zu lösen, jetzt mit der Begründung, man sei „durch das heilig Evangelium bericht und underwist", der Zehnt sei ein Almosen, die Chorherren jedoch verwendeten ihn „zuo unnütz und liechtfertigen dingen". Es gehe nicht an, daß die Gläubigen „umb lüten, toufen, grabstein und gräbtnussen" Geld geben müßten, die Chorherren aber den Zehnten verpraßten 5 . Die jetzt gegenüber dem Frühjahr deutlichere Sprache dürfte mit der wachsenden Polarisierung zwischen Altund Neugläubigen zusammenhängen, die zu wechselseitigen Beleidigungen führte „Schmützungen und Schmähungen" zu verhören, zu bestrafen und zu verbieten, gehört in den 1520er Jahren nahezu zum täglichen Geschäft des Zürcher Rates 6 . Die Kanzel diente den Geistlichen beider Lager als Rostra. Was der in Witikon angestellte Priester Wilhelm Röubli - ein Anhänger Zwingiis, versteht sich - predigte, ist durch ein Zeugenverhör überliefert 7 . Da wird das „fromb purli" gegen den „stinkenden burgermeister", den „stinkenden Vogt" und den „mörderschen, ketzerschen und diebschen pfaff" ausgespielt. Da werden Klosterfrauen belehrt, „es wäre wäger, ir giengent herus und nemint mann, dann dass ir in klöstern sind. So ir erwachsent und üwer selbs befindet und gern mann hettent oder bi inen ze sind begertent und üwer willen mit üwern buolen nit verbringen mögent, so kratzent ir mit dem finger bim bein und bim ding, bis es üch vergat". Es bedarf keiner großen Phantasie, sich die Wirkungen solcher Predigten vorzustellen. In dieser gereizten Atmosphäre mag es der Zürcher Rat für politisch klug gehalten haben, den Witikonern Ende des Jahres 1523 weiter zu gestatten, einen Seelsorger zu

* Ebd., S. 125 Nr. 351 (1523 III. 19). 5 Ebd., S. 132 f. Nr. 368 (1523 VI. 22). 6 Die Belege verstreut bei E. Egli, Aktensammlung Zürcher Reformation. 7 Ebd., S. 137 Nr. 378.

Die bäuerliche Reformation

31

bestellen, ihn allerdings auch selbst zu versorgen, es sei denn, sie könnten sich wegen der Zehntrechte gütlich mit dem Großmünster in Zürich einigen 8 . Witikon ist kein Einzelfall. Auch anderwärts drängen die Gemeinden darauf, unter Inkaufnahme finanzieller Opfer einen reformatorischen Prediger zu erhalten 9 . Auskünfte über die Motivation der Gemeinden für ihre Forderung nach Pfarrerwahl geben die Forderungen der bei Schaffhausen gelegenen Gemeinden Marthalen, Truttikon und Benken vom Sommer 1524 10 . Wiewohl in allen Fällen die Bauern mehr oder minder deutlich auf der reinen Verkündigung beharren und keine .Fabeln' hören wollen, tritt doch das Bedürfnis, in der eigenen Gemeinde seelsorgerisch ordentlich betreut zu werden, in den Vordergrund. Die Gemeinde Marthalen hält es für beschwerlich, weiterhin ihre Pfarrei in Rheinau zu besuchen: Der Weg zum Gottesdienst sei weit, der Pfarrer oft nicht zu erreichen, wenn Sterbende versehen oder Kinder getauft werden sollten, und die Rheinauer Mönche weigerten sich, solche pastoralen Aufgaben zu übernehmen; deswegen hätten sie einen Priester angestellt, erwarteten aber auch vom Abt von Rheinau, der den Zehnt beziehe, daß er ihn unterhalte. Jedenfalls wurden dem Kloster vorläufig die Zehnten durch die Gemeinde gesperrt. Ähnlich äußern sich die Gemeinden Truttikon und Benken. Nach langwierigen Verhandlungen 1 1 wurde unter Einschaltung Zürichs Marthalen und Benken Ende 1525 gestattet, eigene Prediger anzustellen, und der Abt von Rheinau verpflichtet, zu deren Unterhalt beizutragen 12 . Bereits zur Jahresmitte 1524 brechen die Forderungen nach Pfarrerwahl durch die Gemeinde ab, und angesichts der Ausdehnung der Zürcher Landschaft sind sie auch in den Jahren 1523 und 1524 nicht eben zahlreich. Das hängt gewiß damit zusammen, daß die Reformation in Zürich unter dem Drängen Zwingiis rasche Fortschritte machte. Eine Eigentümlichkeit der Zürcher Reformation besteht darin - ganz im Unterschied zu den oberdeutschen Reichsstädten - , daß der jeweils erreichte Stand der reformatorischen Bewegung in der Stadt sofort für das ganze Territorium über Mandate zur verbindlichen, rechtlich einklagbaren Norm gemacht wurde. Im Oktober 1523 erließ der Rat ein Mandat „der mess und götzen halb" 13 , das den Bildersturm verbot, die Beibehaltung der Messe „bis uf witern bescheid und bald kommende erlütrung" anordnete und alle Pfarrer und Prädikanten in Stadt und Landschaft anwies, „das heilig Evangelium klarlich und trüwlich nach dem geist Gottes" zu predigen. Darauf lag - jedenfalls nach dem Umfang des Textes - der Hauptakzent des Mandats: eine gedruckte Unterweisung, was unter dem Evangelium nach dem Geist Gottes zu verstehen sei, sollte den Pfarrern in Kürze zugehen, „etlich gelert priester" zur Verkündigung des Gotteswortes im zwinglischen Verständnis auf die Landschaft ge8 9 10 11 12

13

Ebd., S. 179 f. Nr. 450. Ebd., S. 128 Nr. 354; 140f. Nr. 383; 178 Nr. 444. J. Strickler, Eidgenössische Abschiede 4/la, S. 450f. E. Egli, Aktensammlung Zürcher Reformation, S. 246 f. Nr. 568, 569. J. Strickler, Acten Schweizerische Reformationsgeschichte, S. 291 Nr. 839. Die Bezüge an Wein und Korn sind ausgewiesen. E. Egli, Aktensammlung Zürcher Reformation, S. 173 f. Nr. 436 (1523 X. 27).

32

Die Reformation in der Gesellschaft

schickt werden 14 . Damit wurde die bereits im Januar im Anschluß an die Zürcher Disputation ergangene, offenbar aber nicht oder kaum wirksam gewordene Verfügung des Rates bekräftigt, die Geistlichen sollten „anders nüt fürnemen nach predigen, dann was si mit dem heiligen Evangelion und sust rechter göttlicher geschrift bewären mögen" 13 . Mit den Predigtbestimmungen des Mandats war einer eigenständigen Entfaltung der bäuerlichen Reformation, die in den meisten Fällen an der reinen Verkündigung des Evangeliums ansetzte, der Boden entzogen. In den entscheidenden theologischen Positionen - Predigt, Messe, Abendmahl - hat man weder im Zürcher Rat noch unter den Zürcher Theologen daran gedacht, der Gemeinde großen Spielraum zu belassen 16 . Die Gemeindeautonomie in Religionsfragen beschränkte sich darauf, darüber zu befinden, ob die .Götzen' in den Kirchen bleiben oder entfernt werden sollten 17 , nachdem es auf der Landschaft schon früher zu Ausschreitungen einzelner gekommen war 18 . Die disziplinierte, obrigkeitlich gelenkte Einführung der Reformation entsprach der umsichtigen, von politischen Erwägungen diktierten Politik des Zürcher Rates gegenüber reformatorischen Begehren der Gemeinden. Religionsauseinandersetzungen auf der Straße, wie in Zollikon, verbot der Rat mit dem Hinweis, man solle die „predicanten die ding zuorechtleggen lassint" 19 . Gegen die Ansprüche von Witikon und anderer Gemeinden schützte der Rat die Rechtsansprüche auf den Zehnten durch das Großmünster 2 0 ; gleiches tat er zunächst zugunsten des Klosters Rheinau gegen die Gemeinden Marthalen, Benken und Truttikon 21 , freilich nicht ohne Sympathie für die bäuerlichen Forderungen. Der Konsens zwischen städtischer und ländlicher Reformation, der auf diese Weise erreicht wurde, wird meßbar in der ,Volksbefragung' vom November 1524. Der Rat von Zürich trat an die Zünfte der Stadt und die Gemeinden der Landschaft heran, um eine breitere Zustimmung für seine Außenpolitik gegenüber Frankreich und seine Religionspolitik gegenüber den katholischen Orten der Schweiz, was beides für die Eidgenossenschaft eine starke Belastungsprobe darstellte, zu gewinnen 22 . Von den überlieferten Antworten von 36 Gemeinden sprechen sich 15 explizit, die restlichen mehr oder minder implizit für die bisherige Religionspolitik von Zürich aus, gelegentlich gibt es auch etwas temperamentvollere Stellungnahmen wie die der Bauern des Neuamts, die „ir lib und guot zuo dem gottswort und zuo iren Herren und oberen und einer Stadt Zürich setzen" wollen 23 ; eigenständige Stellungnahmen zur Reformation, die

14 15

16 17 18 19 20 21 22 23

Zur Vorgeschichte des Mandats L. v. Murait, Renaissance und Reformation, S. 450 f. £ Egli, Aktensammlung Zürcher Reformation, S. 114 f. Nr. 327. Bereits 1522 hatte sich das Zürcher Landkapitel auf das Schriftprinzip festgelegt; vgl. 0. Vasella, Reformation, S. 43. Vgl. etwa E. Egli, Aktensammlung Zürcher Reformation, S. 234 ff. Nr. 543. Ebd., S. 237 Nr. 546. Ebd., S. 177f. Nr. 440; 214f. Nr. 491. Ebd., S. 134 Nr. 369. Ebd., S. 132 f. Nr. 368. Ebd., S. 246 Nr. 568. Ebd, S. 2 5 4 - 2 6 4 Nr. 589. Ebd, S. 258.

Tafel 3 Von Bilderstürmern zerkratzte Gesichter von Heiligen. Tafelbild (Ausschnitt) der Z ü r c h e r Stadtheiligen Felix u n d Regula vor d e m Martyrium von H a n s Leu d. Ä.

Die bäuerliche Reformation

33

in diesem Rahmen hätten formuliert werden können, sucht man vergeblich : vereinzelt die Bitte an Zürich um einen besseren Prediger, da und dort der Wunsch, „dass ein einigkeit in der mess, dem gottswort und bilderen angesehen wurde, damit nit einer hie hinus, der ander dert usi füere" 24 . Es bedurfte des Anstoßes von außen, um die reformatorische Bewegung auf dem Land, jetzt allerdings mit einem unüberhörbaren Tenor auf primär weltlichen Forderungen, nochmals in Gang zu setzen. Eindeutig inspiriert von den Zwölf Artikeln der oberschwäbischen Bauern, verlangt der größere Teil der Zürcher Landschaft, die Herrschaften und Amter Greifensee 25 , Kyburg, Eglisau, Andelfingen, das Neuamt, Rümlang 26 und Grüningen 2 7 , Ende April/Anfang Mai 1525 die Pfarrerwahl für die Gemeinde. Die Forderungen wurden nach bewährtem Muster in Kommissionen vorberaten 28 , deren Voten sich schließlich der Rat zu eigen machte 2 9 : man wollte Beschwerden der Gemeinden aufmerksam hören und sie nötigenfalls mit ordentlichen Predigern versorgen; die Initiative konnte damit von den Gemeinden ausgehen, die Entscheidung blieb beim Rat 30 . In der Aufbruchsphase der reformatorischen Bewegung im Jahre 1523, als die städtische Obrigkeit die reformatorische Bewegung auf der Landschaft noch nicht via Mandate geordnet hatte, bestanden die Gemeinden auf der Wahl eines reformatorisch gesinnten Pfarrers, den sie zu unterhalten bereit waren, wenngleich auch zunächst latent, dann offen die Forderung, ihn aus den Zehnten zu besolden, mitläuft. Die theologische Substanz bäuerlichen Reformationsverständnisses sollte wohl nicht zu niedrig angesetzt werden, auch wenn sie empirisch nicht in der wünschenswerten Breite abgesichert werden kann; immerhin zeigen die Ereignisse in Zollikon einige Kenntnisse der einfachen Leute über die strittigen Punkte der Abendmahlsfrage. Im Zuge der städtisch gelenkten Reformation auf der Landschaft verkümmern die Ansätze für eine eigenständige bäuerliche Theologie, und folglich gehen vom Land keinerlei Impulse für eine soziale und politische Veränderung aus. Die nach Rom übermittelten Sorgen Johannes Widmers erwiesen sich als unbegründet - der Gemeine Mann auf der Zürcher Landschaft wollte sich weder an der alten Kirche bereichern noch sich an ihren Repräsentanten gewaltsam rächen.

24 25 26 27 28

29 30

Ebd., S. 261. Ebd., S. 323-326 Nr. 710 (1525 V. 7). Ebd., S. 319ff. Nr. 703 (1525 V. 2). Ebd., S. 318 f. Nr. 702 (1525 IV. 25). Ebd., S. 332-336 Nr. 725. Zum Pfarrerwahlartikel zwei unterschiedliche Voten der Kommissionsmitglieder (die beide auch vom Rat aufgenommen werden), die aber letztlich die Stellenbesetzung dem Rat vorbehalten, wenn auch Einspruchsrechte der Gemeinde nicht ausgeschlossen werden. Ebd., S. 336-339 Nr. 726. Zum Pfarrerwahlartikel ebd. S. 338. K. Maeder, Die Bedeutung der Landschaft für den Verlauf des reformatorischen Prozesses in Zürich (1522-1532), in: B. Moeller (Hg.), Stadt, S. 91-98, akzentuiert die Bedeutung von 1525, gibt sonst eher einen kursorischen Uberblick.

34

Die Reformation in der Gesellschaft

1.1.2

„Ain ganze Gemain sol ain Pfarer selbs erwölen" - der Fall Oberschwaben

A m 6. und 7. März 1525 trafen sich in der Reichsstadt Memmingen Bauerngesandtschaften aus ganz Oberschwaben zu Beratungen 1 . Delegiert waren sie von drei Bauernhaufen, die sich im Januar und Februar im Allgäu, in Baltringen und am Bodensee gebildet hatten. Konstituiert wurde damit die ,Christliche Vereinigung' in Oberschwaben - ein landfriedensähnlicher Bauernbund, der, wie die programmatische Benennung deutlich genug ausweist, „dem almechtigen ewigen Got zu Lob und Eher und Erufung [Erhöhung] des heiligen Evangelii und götlichs Worts, auch zu Beistand der Gerechtigkeit und götlichs Rechtens" 2 geschaffen wurde. Zu den .gesetzgeberischen' Maßnahmen der Vereinigung gehört eine Predigtordnung, mit der die Geistlichen in Oberschwaben verpflichtet werden sollen, „allain das Wort Gottes fur[zu]nehmen und [zu] erkunden, auch nach rechtem Verstand [zu] erkleren"; folgt jedoch ein Priester dem „alten Wesen und Pruchen", „alsdann mag im ain Pfarmengin [Pfarrgemeinde] Urlob geben und ainen andern an sein Statt verordnen, der inen taugenlich und gefellig sei" 3 . Der Anspruch der Gemeinde, den Pfarrer selbst zu wählen, wird von den oberschwäbischen Bauern in einem weitergehenden Begründungszusammenhang in den Τ 5,6

sogenannten Zwölf Artikeln formuliert, die etwa gleichzeitig mit der Predigtordnung verfaßt wurden und mit 25 Drucken in zwei Monaten 4 eine ungemein weite Verbreitung und bemerkenswert starke Resonanz im Reich gefunden haben. Angesichts dieser Tatsache empfiehlt es sich, einleitend bäuerliches Reformationsverständnis über die Zwölf Artikel zu erschließen. „Zum Ersten ist unser diemütig Bitt und Beger, auch unser aller Will und Mainung", so eröffnen die Bauern ihren Beschwerde- und Forderungenkatalog, „das wir nun fürohin Gewalt und Macht wollen haben, ain ganze Gemain sol ain Pfarer selbs erwölen und kiesen; auch Gewalt haben den selbigen wider zu entsetzen, wann er sich ungepürlich hielt" 5 . Verpflichtet wird der Pfarrer auf die schriftgemäße Unterweisung, er soll „das hailig Evangeli lauter und klar predigen one allen menschlichen Zusatz, Leer und Gebot". Seinen Lebensunterhalt erhält der Pfarrer, „so klar das Wort Gots verkindt", durch den Getreidezehnt, den „hinfüro ... unser Kirchbröpst, so dann ain Gemain setzt, sollen einsemmlen und einnemen", deren Aufgabe es dann auch ist, „darvon ainem Pfarrer, so von ainer ganzen Gemain erwölt wird, sein zimlich, gnugsam Aufenthalt [zu] geben, im und den Seinen, nach Erkantnus ainer ganzen Gmain". Zehntüberschüsse

1 2 3

4 5

Für den geschichtlichen Hintergrund vgl. G. Franz, Bauernkrieg, S. 127-130. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 196 Nr. 51. Predigtordnung der Christlichen Vereinigung vom März 1525. Druck bei G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 198 Nr. 53. H. Claus, Druckschaffen, S. 24-29. Buchstabengetreue Wiedergabe des Textes bei A. Götze (Hg.), Die zwölf Artikel der Bauern 1525, in: Historische Vierteljahrschrift 5 (1902), S. 9-15. Leichter zugängliche, modernisierte Textwiedergabe bei G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 175-179 Nr. 43; danach die folgenden Zitate.

Die bäuerliche Reformation

35

werden wiederum „nach Gestalt der Sach und Erkantnus ainer G e m a i n " an die A r m e n verteilt, wie das als Forderung „die hailig Geschrift inhölt". W a s die oberschwäbischen Bauern hier fordern und in Zehntausenden von Flugschriften im Reich propagieren, ist eine Neufundierung der Kirche auf der Basis der Dorfgemeinde. Ausgeschaltet werden die adeligen und geistlichen Patronatsherren, die bisher die Kandidaten für die Pfarreien b e s t i m m t hatten; übergangen werden die Bischöfe, die bislang den Kandidaten des Patronatsherrn bestätigt hatten; enteignet oder entschädigt werden die Zehntberechtigten - die Fürsten, Grafen und Ritter, die Bistümer, Klöster und Spitäler. D i e G e m e i n d e tritt in deren Rechte ein; die G e meinde .kommunalisiert' die Kirche. Die argumentativ scharf geschnittenen, biblisch marginal begründeten, sprachlich prägnant gefaßten Zwölf Artikel sind Ergebnis eines langwierigen Prozesses der Formierung eines bäuerlichen Reformationsverständnisses, das sich schrittweise von einem ursprünglich rüden, nur als Negation ausgewiesenen Antiklerikalismus zu einem später geläuterten, positiven Verständnis von Gemeindechristentum entwickelt. A u s d e m Allgäu

gibt es von einem Adeligen, G e o r g von Werdenstein, einen A u -

genzeugenbericht, der wegen der persönlichen Betroffenheit und der praxisnahen Schilderung einen hohen Grad von Authentizität für sich beanspruchen k a n n 6 : Die ritterliche Familie will mit einem festlichen Gottesdienst in der Schloßkapelle den Valentinstag begehen. Ein unerwartetes Ärgernis trübt den beginnenden Tag. Bauern stehen plötzlich im Schloßhof, und ein von ihnen bestimmter Redner, ein gewisser Schmid, sagt, wie Werdenstein berichtet, „si wellen mir weder Zins, noch Steur, noch gehorsam, noch bottmessig mer sein in keinen Dingen". Auf die Frage des Ritters „Liebe Gesellen, was zeichen ir mich, oder was hab ich euch g e t a n ? " habe der Rädelsführer gesagt, er „hab nichts geton, dan was andere Herren haben geton, sie wellen kein Herren mer han, und darnach anfangen und weiter geredt, si wellen auch, daß der Pfarer predige, wie m a n zu K e m p t e n predige, und insunders, wie der auf d e m Berg (den m a n gehenkt hat) u n d der zue Sanct Martins Zell (der entloffen ist)" - ein Hinweis auf die Orte früher reformatorischer Predigt im Allgäu. Werdenstein erwidert daraufhin, „der Pfarer stat da, ich darf in nit leren predigen", und der Pfarrer erläutert, „Lieben Gesellen, ich hab euch bisher die Warhait u n d den G r u n d gesait und weiß euch änderst nit zue predigen, da will ich mein Seel für euch setzen". „ D a hat", fährt der adelige Chronist fort, „der gedacht S c h m i d angefangen und zue d e m Pfarer gesagt: ,Ich scheiß dier in dein Seel, du darfst dein Seel nit für uns setzen ...' ". Auf diese drastische Weise von ihrer W u t möglicherweise befreit, ziehen die Bauern ab, der Pfarrer und der Ritter gehen „hinauf ins Schloß und [haben] mit ainander zue Morgen geessen und [sind] beid s a m e n nit fast frelich gewesen, wie ein jedlicher selb wol ermessen mag".

6

Der Bericht bei G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 136 f. Nr. 29. Er beschreibt Ereignisse vom 14. II. 1525.

36

Die Reformation in der Gesellschaft

Hier artikuliert sich ein Antiklerikalismus, dessen kurze Reichweite von zeitgleichen bäuerlichen Quellen selbst nicht abgestützt wird. Einen Tag nach diesem Ereignis formuliert das Tigen Rettenberg, ein fürstlich-augsburgischer Herrschaftsbezirk im Allgäu, seine Beschwerden, über die sich die Zielrichtung bäuerlichen Antiklerikalismus deutlicher beschreiben läßt7 : Vom Pfarrer wird verlangt, daß er etwas von Theologie verstehe, am Ort residiere, sich an den Sakramenten nicht bereichere; diejenigen die „priesterlich Ordnung nit halten, sollen irer Empter und Pension entsetzt werden". Die Geistlichkeit soll keine Hochgerichtsbarkeit üben, in weltlichen Angelegenheiten dem weltlichen Gericht unterworfen sein, für ihre Liegenschaften der weltlichen Obrigkeit Abgaben entrichten, die Steuern mit bezahlen und sich aus weltlichen Berufen heraushalten. Wenige Tage später schließen sich die Allgäuer Bauern, unter ihnen Werdenberger und Augsburger Untertanen, zusammen. Die öffentliche Bekanntgabe der Vereinigung zum .Allgäuer Haufen' wird einleitend in summarischer Form begründet: „So wil man bei ainander bestan und bei dem heiigen Evangelio und bi dem Wort Götz und bi dem heiigen Rechten und ain ander zu Recht helfen und darzu und daran setzen Lib und Gut und alles, das uns Got verleichen hat"8. Konsequenterweise steht an der Spitze der nachfolgenden Einzelartikel als konkretes Ziel, den Pfarrer in der Gemeinde zu ersuchen, „das er das heiig Evangelium predigen und die Eplan [Episteln] und Alt und Nui Testament und was sich dazu vergleicht, und nit menstlich Trem und Ufsatzunga". Die Predigt des .reinen Evangeliums' wird als unverzichtbar mit dem Satz unterstrichen „und weller das nit ton wil und sich nit wel weisen lassen, den sol man überaus weisen und abton". Man sollte die wenigen Belege interpretatorisch nicht überfordern, so viel freilich läßt sich aus ihnen an Verallgemeinerungen gewinnen, daß aus der nicht mehr diskutierbaren Forderung nach der Verkündigung des Evangeliums notwendigerweise die Konsequenz erwächst, jene Pfarrer abzusetzen, die sich dieser Norm verweigern. Anders als im Allgäu sind aus dem Einflußbereich des Baltringer Haufens, der seinen Namen seinem Feldlager Baltringen südlich von Ulm verdankt, dörfliche Forderungen vorhanden. Sie bestätigen die Entwicklung im Allgäu, von der Bitte nach Verkündigung der .reinen Lehre' zum Recht auf Abwahl,nicht-evangelischer' Pfarrer; sie zeigen aber auch, wie aus dörflichen Beschwerden heraus die allgemeinere Forderung nach Kommunalisierung der Kirche Gestalt gewinnt. Die Mitte Februar formulierten Artikel der Dörfer des Baltringer Haufens verlangen mehrheitlich, soweit sie auf den religiös-kirchlichen Bereich überhaupt eingehen, was allenfalls bei 10% der Beschwerdeschriften der Fall ist9, lediglich die Verkündi-

7

8 9

Ebd., S. 163 f. Nr. 35. - Hier handelt es sich gewissermaßen um eine stenographische Kurzfassung (ursprünglich wohl ausführlicher gefaßter) bäuerlicher Äußerungen durch eine Stadtchronik. Die sog. .Allgäuer Artikel' gedruckt ebd., S. 166 f. Nr. 38. Vgl. die Synopse der Beschwerden bei P. Blickte, Revolution, S. 296-301.

Die bäuerliche Reformation

37

gung reformatorischer Lehre. D i e Bauern von A c h s t e t t e n bitten, „daß wir versaret [versehen] werde mit ene pfarer, der uns brege das luder klar g o t z w a r t " 1 0 , die G r u n d h o l den des Biberacher Spitals verlangen, „das man uns verkundt das wort gottes und was das evangelium a u ß w i s t " " . W e i t e r g e h e n allerdings die Dörfer E r o l z h e i m , W a l t e r s h o fen und Binnrot, die ihren Artikelbrief m i t der Forderung einleiten, „das wir prediger selbs bestellen mügen, die uns das hailig götlich wort lauter und rain o n allen mentzlic h e n zusatz verkinden, allein yr predig in der biblia und hailiger geschrift gegrindt seyen, dieselbige prediger wel wir selbs versöchen m i t aufenthaltung seiner leybsnar u n g " 1 2 . W i r d hier die Pfarrerwahl aus der Sorge u m die rechte Verkündigung des Gotteswortes begründet, die auch zu finanziellen O p f e r n bereit ist, so kehrt wenige W o c h e n später die G e m e i n d e W e i c h t in e i n e m S c h r e i b e n an ihren Patronatsherrn, das K l o s t e r Steingaden, die Argumentation gewissermaßen u m : „Die pawrn wollen d e m pfarrer klaine z e c h e n d e , opfer, seelgerett hinfüro nit m e r g e b e n ; und wa in der pfarrer nit tett, was er inen schuldig ist, so wollen sy kain z e c h e n t lassen ligen, sonder den selbs aufheben und ain priester, der inen gefellig ist, darmit a u f e n t h a l t e n " 1 3 . D e r Begründungsmodus der G e m e i n d e W e i c h t n i m m t Argumentationsfiguren des Tigens Rettenberg auf, wenn auf die Erfüllung priesterlicher Verpflichtungen g e p o c h t wird, deren Gewährleistung schlechtestenfalls durch die Pfarrerwahl erzwungen wird. D e u t l i c h e r und entschiedener als die Allgäuer und Baltringer formulieren die Bodensee-Bauern

ihr Reformationsverständnis. D i e nach M e m m i n g e n entsandten D e l e -

gierten werden mit einer Instruktion ausgestattet, die - begrenzt auf drei Artikel

-

Vorstellungen von e i n e m G e m e i n d e c h r i s t e n t u m entwickelt, das m i t der Predigtordnung der Christlichen Vereinigung und den Zwölf Artikeln eng verwandt s c h e i n t : „ Z u m 1. b e g e m und wellen wir, das uns das hailig Ewangelium und W o r t Gottes ciar und luter, unvertunkelt und unvermischt m e n s c h l i c h e r Ler und G u t b e d u n k e n m i t seinen F r u c h t e n und cristenlichem Verstand und A n h a n g durch G e l e r t der Hailigen G e schrift, so darzu tugenlich und gut sind, allain zu unser Sei Hail geprediget, angezaigt und underwisen werden, auch dieselbigen uns mit allen cristenlichen C e r m o n i e n und Nodturften umbsonst und nit u m b s Gelt, wie bisher g e s c h e h e n ist, mittailen und fursehen wollen. I t e m zum 2., das wir dieselbigen alle m i t zwifacher Narung, wie uns der Hailig P o lus anzaigt, si und die iren gnugsam versehen wollen. Item zum 3., das wir alle, so also unsere Pfarer und Underweiser des W o r t Gotts, denen wir, wie obstat, B e l o n u n g tund, selbs m i t unser G e m a i n d bestellen, setzen und entsetzen Maht haben s o l l e n " 1 4 .

10

" 12 13 14

G. Franz, Bauernkrieg Aktenband, S. 147 Nr. 26 a. Ebd., S. 150 Nr. 26 d. Ebd., S. 154 Nr. 26n. Ebd., S. 165 Nr. 31. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 190 Nr. 47.

Die Reformation in der Gesellschaft

38

Aus dem oberschwäbischen Quellenmaterial lassen sich bei behutsamer Zuordnung der Fakten einige verallgemeinerbare Einsichten in den prozessualen Charakter der Herausbildung eines bäuerlichen Reformationsverständnisses aufzeigen, die freilich in ihrer Gültigkeit zunächst strikt auf Oberschwaben begrenzt werden müssen. Offensichtlich sind zwei Ausgangspositionen denkbar (vgl. Figur 1): - die Forderung nach Verkündigung des ,reinen Evangeliums', der .reinen Lehre' ohne .menschlichen Zusatz' und - die Forderung nach pflichtbewußter Amtsführung des Pfarrers (Residenzpflicht, kostenlose Sakramentenverwaltung etc.).

Verkündigung des ,reinen Evangeliums' ohne ,menschlichen' Zusatz

Pflichtbewußte Amtsführung des Pfarrers

Absetzung des Pfarrers durch die Gemeinde falls er sich dem Evangelium verschließt

Unterhalt des Pfarrers durch die Gemeinde

Figur 1

falls er sich der pflichtbewußten Amtsführung widersetzt

Unterhalt des Pfarrers aus (ursprünglichen) Kircheneinkünften (Zehnt) nach Maßgabe der Gemeinde

Stufen bäuerlichen Reformationsverständnisses in Oberschwaben

Wurde das Wünschbare zur unaufgebbaren Bedingung, ergab sich daraus die Frage nach den Konsequenzen, wenn der Pfarrer sich der Verkündigung der neuen Lehre versagte oder seine laxe Amtsführung nicht aufgab. In beiden Fällen erwuchs daraus der Anspruch der Bauern auf Absetzung des Pfarrers, die natürlich weder vom Patronatsherrn noch vom Bischof zu erwarten war und folglich von den Parochianen, also der Gemeinde, vorgenommen werden mußte. Naheliegenderweise ergaben sich damit rasch Weiterungen, wie etwa ein abgewählter Pfarrer ersetzt bzw. neben dem alten

Die bäuerliche Reformation

39

Pfarrer ein der neuen Lehre verpflichteter Geistlicher ins Amt gebracht werden könne. Die Antwort hieß: Pfarrerwahl durch die Gemeinde, was sogleich Fragen der angemessenen Versorgung des Pfarrers aufwarf, die auf zweierlei Weise von den Bauern beantwortet wurden: Teils waren sie bereit, den Pfarrer selbst zu unterhalten und zu versorgen, teils forderten sie dafür die Verwendung der Zehnten, die von ihnen als ursprüngliche Kirchensteuern interpretiert wurden und nun, kommunal verwaltet, zur Versorgung der Geistlichen dienen sollten. Hier handelt es sich um eine Rekonstruktion von Stufen bäuerlichen Denkens über religiöse Verkündigung und ihre Folgerungen, die aus der Chronologie von lokalen und regionalen Artikeln und Ordnungen gewonnen wurden, wobei es für weitere Fragestellungen und Folgerungen nicht völlig belanglos sein dürfte, daß die Zeitspanne, in der sich die Belege nachweisen lassen, äußerst knapp bemessen ist; der Argumentationszeitraum erstreckt sich über vier bis sechs Wochen in den Monaten Februar und März des Jahres 1525. Frühere Zeugnisse liegen nicht vor. Der Vergleich der Quellen in ihrer zeitlichen Abfolge zeigt die allmählich sich formierende Vorstellung, die zu bessernde Kirche könne nur eine in der Gemeinde und auf der Gemeinde gründende Kirche sein : Pfarrerwahl durch die Gemeinde, Unterhalt des Pfarrers durch die Gemeinde bzw. durch die Rekommunalisierung des Zehnten und seine Aufteilung durch die Gemeinde bezeugen mehrfach die organisatorische Engführung der reformatorischen Bewegung durch die Bauern auf ihr Dorf. Dabei ist am religiösen Ernst, der tiefen Frömmigkeit und der Heilssehnsucht gar nicht zu zweifeln. „Das Evangelion zu hören und demgemeß zu leben" 1 5 , verlangen die Oberschwaben in ihren Zwölf Artikeln; für das Evangelium wollen die Allgäuer „bi ain andern verlieren Lib und Leben, wan wir sein Gebrieder in Christo" 1 6 ; die Bodenseer wollen das Evangelium „allain zu unser Sei Hail geprediget" 1 7 haben; die Biberacher Spitalbauern verlangen die reine Predigt, weil Christus „sein ewigs wort uns yetz zu letze [Stärkung] gelassen hat, mit wölchem und durch wölches mir leben sollen und regieren, auch im nachvalgen" 1 8 . Die praktischen Konsequenzen, die die Bauern aus solchem Verständnis von Christentum ziehen, unterstreichen die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens; sie sind bereit, finanzielle Opfer für ihre Uberzeugung zu bringen, wenn sie selbst den evangeliumsgemäß predigenden Pfarrer versorgen. Der von den Bauern mehrheitlich gebrauchte Argumentationsstrang führt von der reinen Verkündigung, über die Absetzung des Pfarrers, die Pfarrerwahl durch die Gemeinde bis zum Unterhalt des Pfarrers durch die Gemeinde. Dieser Leitgedanke prägt auch die am 7. März 1525 verabschiedete Bundesordnung der Christlichen Vereinigung der oberschwäbischen Bauern: „Item wo Pfarrer oder Vicari sein, sollen sie freuntlich ersucht und gebetten werden, das heilig Evangelium zu verkünden und zu

15 16 17 18

Ebd., S. 175 Nr. 43. Ebd., S. 166 Nr. 38. Ebd., S. 190 Nr. 47. G. Franz, Bauernkrieg Aktenband, S. 150 Nr. 26 d.

40

Die Reformation in der Gesellschaft

predigen. Und welche das tun wollen, den soll dieselb Pfarr ein gepürliche Underhaltung geben. Welche aber solichs nicht tun wollen, die sollen geurlopt werden, und die Pfar mit einem andern versehen werden" 1 9 . Von dieser dreigliedrigen Bestimmung - reines Evangelium, Pfarrerwahl durch die Gemeinde, Versorgung des Pfarrers durch die Gemeinde - , die über den mehrfachen Druck der Bundesordnung 2 0 weit über Oberschwaben hinaus verbreitet wurde, unterscheiden sich die in ihrer Resonanz noch weitergehenden Zwölf Artikel in einem Punkt: die Versorgung des Pfarrers erfolgt durch den Zehnt. Damit werden im landschaftlichen Rahmen Oberschwabens regionale Differenzen deutlich, die zunächst einmal näher präzisiert werden sollen, wobei erst nach Aufarbeitung eines weiteren Vergleichsmaterials aus anderen Regionen der Versuch gemacht werden kann, dies interpretatorisch auszuwerten. Offenkundig haben die Baltringer Bauern die Rekommunalisierung des Zehnten, aus dem der Pfarrer besoldet werden soll, in die Zwölf Artikel gebracht. Näherungsweise 5 0 % aller lokalen Artikel des Baltringer Haufens 2 1 fordern die Aufhebung des Kleinzehnten und die Abschaffung bzw. Umwandlung des Großzehnten - Forderungen, die im Allgäu und am Bodensee nicht oder kaum nachweisbar sind 2 2 . Daraus ergibt sich für das weitere heuristische Verfahren die Notwendigkeit der räumlichen Differenzierung. Von einem einheitlichen bäuerlichen Reformationsverständnis wird man ohne weiteres nicht sprechen können.

1.1.3

„Alle gotlosen menschen außreuten" - Tirol und Salzburg

„Daz ir alle gotlosen menschen, die das Ewig wort gottes verfolgen, den gemainen armen Man beswaren und den gemainen nuz verhindern, außreutten und von dannen thuen wellet", fordert Michael Gaismair von den Tiroler Bauern in seiner Landesordnung von 1526 und verknüpft das mit der Aufforderung, „das ir daran sein wellet und ain ganz christenliche Satzung, die allein in allen dingen aus dem heyligen Ewigen wort gottes begründet ist, aufrichten und der gennzlich geieben wellet" 1 . Gaismair, der unermüdliche Propagandist einer Verchristlichung von Staat und Gesellschaft, der bei Zwingli und Zürich, bei Venedig und den Salzburger Bauern für die Durchsetzung seiner Ziele warb 2 , hat mit seiner radikal-egalitären, biblizistisch-alttestamentlichen Landesordnung eine Verfassung für Tirol konzipiert, die in ihren Einzelforderungen eine starke Verankerung in den regionalen Beschwerden der Tiroler Bauern erkennen 19 20 21

22 1 2

G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 197 Nr. 51. H. Claus, Druckschaffen, S. 29 ff-, verzeichnet acht Drucke. Berechnungsschwierigkeiten ergeben sich daraus, daß nicht bei allen Orten eindeutig festzulegen ist, ob sie zum Baltringer Haufen gehören. Im Gesamt der verfügbaren Beschwerdeschriften verlangen 4 4 % die Aufhebung des Kleinzehnten, 4 1 % die Abschaffung oder Umwandlung des Großzehnten. Vgl. P. Blickle, Revolution, S. 38. Vgl. die Synopse der Beschwerden ebd., S. 2 9 6 - 3 0 1 . J . Bücking, Gaismair, S. 154. Ebd., S . 9 6 - 1 0 5 .

Die bäuerliche Reformation

41

läßt. Für Tirol liegen vier regionale Beschwerdeschriften vor, je zwei aus Nord- und Südtirol, die jeweils Verbindlichkeit für mehrere Dörfer und Weiler beanspruchen können. Es handelt sich dabei um Artikel der Landgerichte Thauer-Rettenberg 3 und Sonnenburg 4 sowie um solche der .Bauern an der Etsch' 5 - vermutlich der Gemeinden südlich von Meran - und von Untertanen des Hochstifts Brixen 6 . Der Zeitpunkt der Niederschrift der Artikel erlaubt es nicht, fremde Einflüsse, etwa aus Oberschwaben und dem Allgäu, ganz auszuschließen, er hat aber den unbestreitbaren Vorzug, daß eine wechselseitige Beeinflussung der Texte ausscheidet: sie sind am 14., 15. und 16. Mai niedergeschrieben worden. Das bäuerliche Reformationsverständnis in Tirol läßt sich im wesentlichen in vier Punkten zusammenfassen (vgl. die Synopse der Tiroler Regionalbeschwerden S.42): - Verlangt wird die freie Predigt des reinen Evangeliums. Daraus erklärt sich der Appell an den Landesfürsten, Erzherzog Ferdinand von Osterreich, die gefangenen Prädikanten freizulassen, eine im unteren Inntal (Thauer-Rettenberg und Sonnenburg) verständliche Forderung, waren doch die naheliegenden Bergbaugebiete mit den Minen, Pfannen und Hütten um Schwaz, Hall und am unteren Inn schon seit 1520 Zentren reformatorischer Predigt, die von der Innsbrucker Regierung immer wieder, offensichtlich aber auch mit nur geringem Erfolg, unterdrückt wurde 7 . - Zur Gewährleistung der evangelischen Predigt verlangen die Bauern die Pfarrerwahl durch die Gemeinde. - Zur Versorgung des Pfarrers dient wie anderwärts der Zehnt, mit der bemerkenswerten Modifikation, daß er ganz (Sonnenburg) oder hälftig (Brixen) dem Landesfürsten zugestellt wird mit der Begründung, er gewähre dem Land Schutz und Schirm. - Durchgängig wird in allen vier Regionalbeschwerden eine tiefgreifende Reform der Ordens- und Kapitelgeistlichkeit verlangt. Die Minimalforderung besteht in der Aufhebung der weltlichen Herrschaft von Klöstern und Hochstiften, die Maximalforderung in ihrer Enteignung (Bauern an der Etsch) oder Säkularisierung (Brixener Bauern). Auffallend ist der ausgeprägtere antiklerikale Affekt in Südtirol, was sich unschwer damit erklären läßt, daß hier die politische und wirtschaftliche Bedeutung der Kirche durch die Hochstifte Brixen und Trient sehr viel ausgeprägter war als in Nordtirol, wo sich nur einige Klöster mit bescheidenen Herrschaftsrechten hatten behaupten können. 3 4 5 6

7

H. Wopfner, Quellen Bauernkrieg Deutschtirol, S. 7 0 - 7 8 Nr. 18. Ebd., S. 7 8 - 8 2 Nr. 19. Ebd., S . 6 8 f . Nr. 17. J . Bücktng, Gaismair, S. 149-152. Die Brixener Beschwerdeschrift wird von Bücking Michael Gaismair zugeschrieben und als dessen „erste" Landesordnung ausgegeben, womit die bislang einzig bekannte Gaismairsche Landesordnung vom Frühjahr 1526 unterscheidend als 2. Landesordnung bezeichnet wird. A n einem breiteren K o n s e n s der Bauern ist freilich nicht zu zweifeln, wie auch die einzelnen Teile nicht durchweg zwingend Gaismair zugeschrieben werden können. Ebd., S. 63, 149. A. Laube, Der Aufstand der Schwazer Bergarbeiter 1525 und ihre Haltung im Tiroler Bauernkriege, in: F. Dörrer (Hg.), Die Bauernkriege und Michael Gaismair, 1982, S. 171-184, bes. S. 175.

42

Die Reformation in der Gesellschaft Synopse der Tiroler Regionalbescbwerden

Thauer-Rettenberg 1525 V. 15 H. Wopfner, Quellen Bauernkrieg Deutschtirol, S. 71 Nr. 18

Sonnenburg 1525 V. 16 H. Wopfner, Quellen Bauernkrieg Deutschtirol, S.79 Nr. 19

Bauern an der Etsch Brixener Bauern 1525 V. 14 1525 V. 15 H. Wopfner, Quellen (Gaismairs 1. LandesBauernkrieg Deutsch- ordnung) tirol, S. 68 f. Nr. 17 J. Bücking, Gaismair, S. 149-152

Evangelium frei predigen lassen

„das heilig ewangeli in dem rechten gütlichen verstand predigen und auslegen"

„Es soll auch der pfarrer mit tauf und Sacramenten die pfarr versorgen, das Heylig Evangeli predigen und die Heylig geschrift göttlicher warheit nach auslegen, verkhünden und mess halten nach aufsatzung der selbigen pfarr"

Die um des „heyligen ewangeliums" willen Gefangenen freilassen

„und ob auch etlich personen in gefenngknus legen von wegen des gotsworts, das [die] der gefenngknus ledig werden"

Anspruch der Bauern, „unnser pfarrer und prediger selbs nach rat der verstendigisten pfarrleut on menigklichs irrung zu setzen und enntsetzen"

Weltliche Herrschaft der Geistlichkeit soll abgestellt werden, vielmehr sollen sie auf das verpflichtet werden, „zu denen sy von got verordnet"

„das ain yede pharr iren pharrer zu setzen und zu endtsetzen gewalt haben" „Kain Vicari sol mer gehalten werden"

„so soll auch die pfarr menig zu yeder zeit einen pfarrer, so oft noth thuet, zu setzen und entsetzen haben, albeg nach Rat der gemain und ratgeber"

„ob man aber die zins und zehend zu thun war, wer man williger E.F.D. ze geben, lieber bewilligen und zusagen als unnserm beschirmer und Schützer"

„Kornzehend sol ein Gemain einnemen, ain pharrer davon zu ennthalten, all annder zehend sollen ab sein"

Zehnt hälftig an Landesfürst (zum Schutz des Landes), hälftig an die Gemeinde (zum Unterhalt des Pfarrers)

„die geistlichen Unordnungen und beschwer abstellen, damit sy unns in kainer weltlichen hanndlung oder regierung nichts betrieben"

Unterstellung der Geistlichkeit unter weltliches Gericht; Verrechnung aller Einnahmen der Klöster durch die Gemeinde zugunsten des Fürsten oder der Gemeinde

Konvente und Kapitel werden auf Pension gesetzt und damit langfristig säkularisiert; geistliche Gerichtsbarkeit geht an den Landesfürsten über

Die bäuerliche Reformation

43

Die Artikel verzichten in der Regel auf eine weitergehende Begründung. Eine Ausnahme machen allein jene von Thauer-Rettenberg, deren Präambel eine genauere Vorstellung des bäuerlichen Reformationsverständnisses vermittelt 8 . Der Mensch lebt nicht allein vom Brot, sondern von dem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt, so eröffnen die Landgerichte Thauer-Rettenberg ihre Artikel an den Landesfürsten. Weil aber das göttliche Wort „bisher mit menschenlern dermassen vertunckelt worden ist, das wir dardurch des einganngs unnser seligkait in gross geferlichait komen sein", muß das Gotteswort wieder „lautter, klar und unvermüscht" an den Tag kommen. Dies um so mehr, als die unterschiedlichen und sich widersprechenden Theologien dazu führen, daß „der ainfeltig mensch nit ways, welhem er anhanngen und nachfolgen soll und also dardurch in consperation und zu aufrur wider sein willen (das er nit waiss, was er thun oder lassen soll) bewegt wirdet". Nur die Predigt des reinen Evangeliums gewährleiste die Wiederherstellung von „frid und rue". Das Seelenheil des einzelnen und der politische Friede der Gemeinschaft sind die leitenden Kategorien, denen sich die Einzelforderungen unterordnen - und sie scheinen nur gewährleistet bei Verkündigung des reinen Wortes Gottes. Die Einzelartikel der Regionalforderungen wurden von den zwei Wochen später konzipierten Meraner Artikeln aufgenommen und weiterentwickelt 9 und am 22. Juni dem Landesfürsten auf dem Innsbrucker Landtag als verbindliches Programm der Bauern und Bürger Tirols vorgelegt 10 . Grundlegend bleibt die mehrfach vorgetragene Forderung nach Verkündigung des „wort gots an allen aigennutzigen zusatz" 11 oder „ungegrundtn zuesatz" 1 2 ; das Begehren, „das ain iede Stadt unnd gericht ieren pharrer selb zu erweln, besetzn unnd entsetzn gwalt hab" 1 3 und dieser über den Zehnten versorgt werde 1 4 . Ausführlicher in der Darstellung und breiter in der Begründung sind die Bestimmungen über die Ordens- und Kapitelgeistlichkeit gehalten. Die Klöster im Land sind auf höchstens drei zu reduzieren, die Bistümer aufzulösen, die Frauenklöster abzuschaffen und die Bettelorden zu verbieten. Soweit Klöster bestehen bleiben bzw. neu eingerichtet werden, steht ihnen keinerlei weltliche Herrschaft zu, ihre materielle Ausstattung ist auf einen bescheidenen Lebensunterhalt auszurichten, die Zahl der Konventualen ist zu beschränken und deren Aufnahme in das Kloster von einer theologischen Qualifikation im Sinne der Reformation abhängig zu machen 1 5 . 8

9 10

11 12 15 14 15

H. Wopfner, Quellen Bauernkrieg Deutschtirol, S. 70 f. Wopfner hat die diakritischen Zeichen über Vokalen vereinheitlicht; vgl. ebd., S. XXIV. Um der leichteren Lesbarkeit der Texte willen sind sie hier aufgelöst: soweit sie nur ,u' von ,n' unterscheiden sollen, sind sie weggelassen, soweit sie einen Umlaut andeuten nach ,ä', ,ö' und ,ü' aufgelöst. Ebd., S. 35-47 Nr. 15 a. Ebd., S. 50-67 Nr. 16. Weitgehend identisch mit den Meraner Artikeln, erweitert um die sogenannten Innsbrucker Zusätze auf insgesamt 96 Artikel. Ebd., S. 35. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd., S. 44. Ebd., S. 36 f., mit geringfügigen Varianten S. 51 f.

44

Die Reformation in der Gesellschaft

Die Bauern begründen das damit, daß allen voran die Geistlichkeit den Maximen christlicher Lehre zu entsprechen habe : „das sy nit so hohen Stadt, als bisher beschehen, fuern" 16 , sich mit „zimbliche(r) narung mit essen, trincken unnd klaidung" 17 bescheiden und „sich auch erlichen haltn und nit in den wiertzheusern ligen" 18 . Denselben Kriterien wird auch der Weltklerus unterworfen: Der Pfarrer wird ordentlich versorgt mit einer Pfründe, doch Pfründenhäufung und das Einheben von „todtfal, selgrat, peichtgelt, verkündtgelt" sowie Gebühren für „kindlpetterin unnd preutleut einzusegnen" 19 wird strikt abgelehnt. Für den Gläubigen hat die Kirche nicht nur wohlfeil zu sein, sie muß auch präsent sein - der Pfarrer wird zur Residenz gezwungen. Der bescheidene, aber standesgemäße und auskömmliche Unterhalt der Pfarrer und die Säkularisation des Kirchenguts stellen bisher verschwendete Mittel bereit, die, dem christlichen Liebesgebot folgend, den Armen zuzuwenden sind. Spitäler sind nicht nur in jeder Stadt, sondern auch in jedem Landgericht einzurichten, „darin ain iedes gericht seine arme leut, nit allain die lamen unnd die krumpen, sonnder auch den hausarmen, so sich mit trewen, frumkait unnd erberkait enthaltn ..., versehen und helffen" 20 . Das Problem des Bettels und der Armut scheint damit landesweit gelöst. Die Meraner Artikel entfalten ein Verständnis von Reformation, das schließlich weit in den sozialen und politischen Bereich hineingreifen konnte. Der evangeliumsgemäßen Reform der Kirche (mit der Verpflichtung des Geistlichen auf die christliche Botschaft und einen ihr entsprechenden Lebenswandel der Auskömmlichkeit und Mäßigkeit) kongenial war die evangeliumsgemäße Reform der Welt zu mehr Nächstenliebe und Gemeinnutz. Das öffnete der Argumentation des Gemeinen Mannes in Tirol ein weites Feld für Reformforderungen im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich. Es ist nicht ohne Belang festzustellen, daß das ,reine Wort Gottes' das Thema abgibt, das in den folgenden 96 Artikeln fugai verarbeitet wird; dementsprechend wird der umfassende Anspruch bäuerlichen Reformationsverständnisses in der Präambel klar umrissen: „Demnach, damit die eer und das wortgots an allen aigennutzigen zusatz gepredigt, prüederltche lieb gehalten und gmainer nutz gefürdert werde, ist an die F[ürstliche] D[urchlaucht] zu begern, all nachvolgend artiggl zu fürdrung ierer F.D. und gmains nutz aufzerichtn und ain newe lanndßordnung zu machen" 21 . Ziel ist eine neue Landesverfassung, die sich an den Parametern Gotteswort, Nächstenliebe und bonum commune auszurichten hat. Die neue Landesordnung aus reformatorischer Gesinnung wird auch das Ziel der Salzburger Bauern und Bergknappen. Die im Mai oder Juni verfaßten „24 Artikel gemeiner Landschaft Salzburg" ersuchen „all und jedlich Liebhaber ewangelischer Warhait und göttlicher Gerechtigkhait mit Fueg aller Oberigkhait Ratt zu phlegen, Mittl 16 17 18 19 20 21

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd. Ebd.,

S. 36. S. 36. S. 37.

S. 35; entsprechend S. 50f.

Die bäuerliche Reformation

45

und Weeg furzenemen, wie man götlichs Lob, cristenliche Ordnung erhalten solle, und so solhes durch die Veindt Gottes in dem Mißprauch gepraucht ist, wider reformiern und in rechtmessige Ordnung und Wesen zu pringen" 22 . Die Feinde Gottes, die „antichristischn Wuetriche(n), Seelmörder(n), Verfuerer(n)" haben „die Menig des gemeinen Volgks mit ganz verfuerlichen Stuckhn weit von dem Weg ewangelischer Warhait und zu dem Teufl gefuert und darneben gemein Nutz vertilgt" 23 . In der argumentativen Symmetrie der Artikel sind der Verlust des Seelenheils und das Chaos in der Welt Folgen der Unterdrückung der evangelischen Wahrheit. Aus ihr heraus sind kirchliche und weltliche Ordnungen zu reformieren. Die Vorschläge der Salzburger sind nicht neu, aber die Begründungen legen den abgrundtiefen Haß gegen die römische Kirche offen, der durch die reformatorische Bewegung freigesetzt wurde : - Das lautere Gotteswort muß „on allen Menschen Tandt und Gebott und verbliembten Zuesatz bredig^)" 24 werden. Und dies wird begründet mit der Simonie, der Betrügerei und dem Wüten gegen die evangelische Wahrheit, mit den verkehrten Konzilien und Dekreten, die „der warhaftigen Geschrift damit ain Tuech fur die Augen gehenkht" haben 25 . - Die Pfarrerabsetzung und dementsprechend die Pfarrerwahl durch die Gemeinde 2 6 wird gerechtfertigt mit dem Mißbrauch Roms, Kurtisanen auf die Pfarreien zu setzen, die zudem ihre Verpflichtungen nie wahrgenommen hätten, die „khainen Predig nie getan", sich von unfähigen Vikaren vertreten ließen und „ire Mätzen und Khünden" dem Almosen der Gemeinde überließen. Gegenüber den Geistlichen dieser Art darf es keinerlei Rücksichten mehr geben, „sonder man mueß dem Sackh das Bant aufreißen und den Unfladt heraus schütten und sölh Simonei und Wuecherei auch Rauberei an die Sun sehen" 2 7 . - Zur Versorgung der Pfarrer dient der Zehnt, der künftig von den Kirchenpflegern eingesammelt und nach dem Befinden der Gemeinde dem Pfarrer für Wohnung, Kleidung und Nahrung dienen soll. Abzuschaffen sind die Mißbräuche, die damit bislang in wucherischer und betrügerischer Absicht getrieben wurden und allein zur „Fullerei der Reichen und Sterkhung in irer Hochfart" beigetragen haben; wenn der Zehnt jedoch eine Gabe für Gott sein soll, was er nicht ist, dann gehört der den Armen; folglich gehen auch die Zehntüberschüsse, die für die Besoldung des Pfarrers nicht benötigt werden, an die Armen 2 8 .

22

G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 297 Nr. 94. - Die Belege für den Stellenwert der Artikel in den Beratungen auf den nachfolgenden Landtagen im Erzstift Salzburg bei P. Blickte, Revolution, S. 268 f. - Für den Entstehungshintergrund der 1526 erarbeiteten (vorläufigen) Landesordnung (mit Textwiedergabe) jetzt F. V. Spechtler - R. Uminsky (Hgg.), Die Salzburger Landesordnung von 1526 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 305), 1981.

23

G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 295 f. Ebd., S. 299. Ebd., S. 297. Ebd., S. 298 f. Ebd., S. 298. Ebd., S. 300 f.

24 25 26 27 28

46

Die Reformation in der Gesellschaft

Diese wortgewaltige Pfaffenschelte stammt vermutlich aus der Feder eines Prädikanten 29 , doch bezeugen die Beschwerden von Gastein 30 , daß die skizzierte Stimmung und die Forderungen im Lande weiter verbreitet waren, was schließlich auch durch den Umgang der Gemeinde Gastein mit ihrem Pfarrer im Juni 1525 31 bestätigt wird, dem unter Gewaltandrohung befohlen wurde, seine außerhalb des Tals in Sicherheit gebrachten Vermögenswerte wieder in die Pfarrei zu bringen. 1.1.4

Ausstrahlungen

Die Zürcher Landschaft, Oberschwaben, Tirol sind Zentren bäuerlicher Reformation. Von ihnen gingen Impulse in die Nachbarlandschaften und beförderten die Vorstellung von einer neuen Form der Kirche. Allerdings kommt Oberschwaben eine herausragende Bedeutung zu, weil die hier verabschiedeten Zwölf Artikel durch den mehrfachen Druck eine besonders weitreichende Resonanz hatten. Im fernen Ichtershausen bei Gotha fordern die Bauern Ende April von Herzog Johann von Sachsen, „das wir einen Priester, der uns das Wort Gottes ciar, unvormischet menschlicher Lere vorkunden sal, nach unserm Gefallen kiessen wollen, demselben ein zimlich Einkomen zu geben, auch wu er sich ungeburlichen hielde, denselben widerumb zu entsetzen" 1 . Daß diese Forderung von den Zwölf Artikeln inspiriert ist, läßt sich über den Kontext sichern 2 . Die Bauern um Fulda verlangen zur selben Zeit, „nachdem die Selen der Mentschen zu enthalten von Noiten ist, das Evangelion lutter, ciar, on mentschliche Zusetze zu predigen, sie mit evangelischem Prediger und Caplanen zu versehen", und verweisen implizit auf die Herkunft ihrer Forderung mit dem Satz, „das die 12 Artikel, so itzund von den Bauern des swarzen Haufens usgangen sein, auch bei iren Kreften bliben" 3 . Die Beschwerdeschrift des Rheingaus steht in der Kontinuität des Rheingauweistums von 1324 4 , okuliert jedoch wirkt die Forderung, „das wir nun hinfurters Macht haben wollen, ein ganz Gemein soll ein Pfarher selb erwelen, der die Warheit... verkundige, und wo solichs nicht geschehe, sol solich Gemein iren Pfarher widerumb zu 29 30

31

1 2 3 4

F. Leist, Quellen-Beiträge Bauern-Aufruhr, S. 6 - 1 0 Nr. 1. Notiert sei hier wenigstens der Pfarrerwahlartikel (F. Leist, Quellen-Beiträge Bauern-Aufruhr, S. 6f.): „... haben wir in disen unsern beschwerungen für den: ersten punkten vnd nöttigisten artici geacht, das wir mit gebürlichen gotz förchtigen pfarrherrn vnd seelsorgern, die das göttlich wort on aller menschen forcht vnd troung in mas, wie obstett, predigen vnd wissen, wellen auch ernstlich, wo wir der massen ainen pfarrer oder seelsorger vnder vns erwellen oder fürnemen, das vns der von khainer weder geistlicher oder weltlicher obrigkait on grosse merkhliche oder redliche vrsach entsetzt, sonder von erst genugesam erfarn werde, wie sich derselb pfarrherr gebürlich wol oder vbel gehalten habe". F. Leist, Quellen-Beiträge Bauern-Aufruhr, S. 19 f. Nr. 13. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 504 Nr. 170. G. Franz, Bauernkrieg, S. 244. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 466f. Nr. 155. Zur Einordnung des Pfarrerwahlartikels vgl. A. Waas, Die Bauern im Kampf um Gerechtigkeit 1300-1525, 2 1976, S. 155 f.

Die bäuerliche Reformation

47

entsetzen Macht haben und einen andern erwelen" 5 . Wenige Wochen zuvor hatten an der Westgrenze des Reiches die Bauern der Grafschaft Hanau-Lichtenberg eine paraphrasierte und verkürzte Fassung der Zwölf Artikel der Reichsstadt Straßburg mit dem Bemerken übersandt, „daz Ewangelium solcher Moß zu erheben" 6 . Im Territorium der Stadt Basel taucht anfangs Mai 1525 die dreiteilige Argumentationsfigur auf: Pfarrerwahl, Versorgung des Pfarrers über den Großzehnt, Aufhebung des Kleinzehnt 7 , die schließlich im August ein schwaches Echo auf der Berner Landschaft findet 8 . In Basel und Bern kreuzen sich wohl Einflüsse aus Zürich und Oberschwaben. Immer sind die Impulse in der jeweiligen Region aber auch eigenständig weiterentwikkelt worden. Franken erlaubt es, diese allgemeine Feststellung etwas detaillierter zu belegen. Die Amorbacher Artikel halten sich bis in die Wortwahl hinein an ihr oberschwäbisches Vorbild 9 . Daß unter den Zwölf Artikeln der Pfarrerwahlforderung ein besonders hoher Stellenwert zukommt, könnte aus der Eidesformel geschlossen werden, die die fränkischen Adeligen zu beschwören hatten, wenn sie den bäuerlichen Vereinigungen beitraten oder beitreten mußten: neben einer allgemeinen Verpflichtung zur Einhaltung der Zwölf Artikel wird eigens hervorgehoben, „wa in aines [Adeligen] Flecken oder Gebieten Pfarrer weren, die nit gelert und das Wort Gottes zu predigen ungeschickt, soll derselbig abgesetzt und ain anderer von ainer Gemaind angenommen werden, der taugenlicher und inen leidenlich ist" 10 . In der Tat läßt sich zeigen, daß regional enger begrenzte Bauernartikel, wie etwa die der Rothenburger Dörfer von Ende März 11 , einen Pfarrerwahlartikel noch nicht kennen, doch sollte daraus nicht generell gefolgert werden, in Franken hätten die Bauern keine ähnlichen reformatorischen Vorstellungen entwickelt; das Gegenteil darf mit dem Rückverweis auf das einleitend zitierte Beispiel der Gemeinde Wendelstein vermutet werden, was durch die Tatsache bestätigt wird, daß im Sommer 1524 in und um Forchheim und im Nürnberger Landgebiet proreformatorische Bewegungen in umfassenden Zehntverweigerungen ihren Niederschlag fanden 12 . Anzunehmen ist damit, auch wenn lokale Beschwerden weitestgehend fehlen, daß die Zwölf Artikel auf eine latente Prädisposition der Bauern für eine Gemeindereformation stießen. Von Franken gingen auch die Impulse aus, solchem Reformationsverständnis generelle Geltung im Reich zu sichern. Im Reichsreformentwurf von Friedrich Weygandt ist die Bestimmung eingerückt, „das ain jede gemain sich guter hirten, die allein die schefflin mit dem wort gots in der schrifft gegrundt weiden, befleyß; die 5 6 7 8 9 10 11 12

G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 447 Nr. 147. Ebd., S. 238 f. Nr. 71. E Dürr- P. Roth, Aktensammlung Basler Reformation I, S. 246. G. Franz, Bauernkrieg Aktenband, S. 323 Nr. 153. Druck bei G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 342 f. Nr. 107. Ebd., S. 370 Nr. 121. Ebd.,S. 328 f. Nr. 101. G. Vogler, Nürnberger Landgebiet 1524, S. 4 9 - 6 6 .

48

Die Reformation in der Gesellschaft

hab zu setzen vnd entsetzen" 13 , woraus der Gemeinde die Pflicht erwächst, den Pfarrer zu unterhalten. Prinzipiell hat Weygandt immer daran festgehalten, daß eine „Reformación" des Reiches der Hilfe der Theologen bedürfe, ging es doch bei der in Franken weitverbreiteten Forderung nach der „Reformación" um eine Verchristlichung der Gesellschaft in Fortsetzung der reformatorischen Lehre. Doch dürfte der Pfarrerwahlartikel kaum zu jenen Materien gehört haben, die noch zur Diskussion zu stellen waren, denn vor den vorgesehenen Beratungen sollten die geistlichen und die weltlichen Fürsten, Kurköln und Kurtrier, Brandenburg und Bayern, der Adel und die Reichsstädte auf die Annahme der Zwölf Artikel eidlich verpflichtet werden, und zwar notfalls mit Gewalt, wozu die fränkischen Bauern das Beispiel geliefert hatten, als sie im Mai 1525 das Erzstift Mainz gezwungen hatten, die Zwölf Artikel anzunehmen 1 4 . Mit einer solchen Verpflichtung aller Reichsstände auf die Zwölf Artikel, so schreibt Weygandt an Wendel Hipler, „wer dem andern anfang" - gemeint ist die .Reformación' - „ein mittel gemacht, vnnd solichs mittel trug das ende vff seim rucken. Dann welcher fürst oder her das nit halten, sein brieff vnd sigel vergessen vnnd brechen, den wurt sunder zwifel sein eigen volck totschlagen" 15 . Eine bedrohliche politische Perspektive der bäuerlichen Reformation für die Fürsten wird hier sichtbar. Sie allerdings an dieser Stelle zu diskutieren ist verfrüht. Ausreichend ist der Hinweis auf die Verankerung der Weygandtschen Vorstellungen in der fränkischen Reformationslandschaft: er hatte sich in Amorbach dem „Hellen lichten Hauffen" der Bauern angeschlossen und als Rentamtmann in der kurmainzischen Landstadt Miltenberg engagiert für einen reformatorischen Prediger geworben 16 . Trotz Varianten im Einzelnen hat das bäuerliche Reformationsverständnis sein Zentrum - das ist als Ergebnis festzuhalten - in der Pfarrerwahl durch die Gemeinde; nachgeordnet sind damit die regional unterschiedlich weit gezogenen Folgerungen. Die südliche Grenze der Pfarrerwahlforderung läuft von Solothurn über die Zürcher Landschaft 17 nach St. Gallen 18 und von dort über Churrätien 19 ins Trentino 2 0 und schließlich ins Salzburgische 21 .

13 14 15 16 17

18

19 20

21

Kritischer Text neuerdings bei K. Arnold, Hiplers und Weygandts Pläne, S. 297. Vgl. G. Franz, Bauernkrieg, S. 195. K. Arnold, Hiplers und Weygandts Pläne, S. 309. Zur Biographie Weygandts neuerdings ebd., S. 278 f. Vgl. E. Egli, Aktensammlung Zürcher Reformation, S. 318f. Nr. 702; 319f. Nr. 703; 323ff. Nr. 710. Für St. Gallen etwa die Beschwerden von Gossau (/. Strickler, Eidgenössische Abschiede 4, 1 a, S. 716 f. Nr. 289), die mit großer Wahrscheinlichkeit die Kenntnis der Zwölf Artikel voraussetzen; dazu P. Blickle, St. Gallen, S. 279 f. C.Jecklin, Urkunden Graubünden, S. 97. U. Corsini, La guerra rustica nel Trentino e Michael Gaismair, in: Studi Trentini di scienze storiche 59 (1980), S. 164. Vgl. auch die italienische Version der Meraner Artikel bei H. Wopfner, Quellen Bauernkrieg Deutschtirol, S. 48 Nr. 15 b. F. Leist, Quellen-Beiträge Bauern-Aufruhr, S. 7.

e= βtí· «s 4o«χ

* - 5

8 ßäi

f*"·





a s

TT S.y r .2 2 ¡¿ 1 ^L* S t Η ο ﻫΛ-δ t β . S'slefri «

•g b 0 s — I fù I—-

ω

öJflt g î< -.HÎSâ y

S i tT;>c ν & 5 ï " =

iï s* 1 £ " 2 t > t ί -iî S ε .a ¿lü-g-e a a .5 >·•£ a •e ε 1 J g I I feg g «ι s i l f i l i

Ν

A

r i s « S e ? fesasusisiiisiyilis

CP-S A VX SA A

— c Ν< ùo-σ cC c oc < I ep s 3 T? (6 Λ0 Ο — δ a C s

«

r> « . » ¡ g Sô1 3iî £5 O

ε s -SS cd •a od κ ω ΐ1 o £» •A S ^ ^ §> ri^ -S is

S



¿i

© g S J B

S W J ΓΝ ^ "S =2 Q -g Β S λ?J4Jt -s h> o

Tafel 6 Die Zwölf Artikel der oberschwäbischen Bauern, Titelblätter. Druck: Conrad Kern, Rothenburg o.d. Tauber

Die bäuerliche Reformation

A

regional verbindliche Artikel (mit Pfarrerwahlforderung)

'·"·

Grenze der Pfarrerwahlforderung (stark vereinfacht)

#

Karte 1

49

Orientierungsorte

Verbreitungsgebiet der Pfarrerwahlforderung

in der ländlichen Gesellschaft

Mitteleuropas

50

Die Reformation in der Gesellschaft

Im Norden zieht die Linie von Erfurt über Fulda und Mainz an die Westgrenze des Reiches 2 2 . Im Westen markieren Lothringen u n d Burgund die Grenze. Bayern wird zum Sperriegel einer weiteren Ausbreitung nach Osten u n d eines direkten Schulterschlusses von Franken und Salzburg.

1.2

Voraussetzungen und Folgen bäuerlichen

Reformationsverständnisses

W o immer Bauern sich zur reformatorischen Bewegung bekennen, bestehen sie auf der Pfarrerwahl durch die Gemeinde, die ihrerseits den Unterhalt des Pfarrers übernimmt, sei es freiwillig, sei es durch Kommunalisierung des Zehnten. Das ist der Kern bäuerlichen Reformationsverständnisses, der sich in den unterschiedlichsten Regionen Mitteleuropas feststellen läßt. U m diesen Befund richtig einschätzen zu können, müssen die bislang eher beiläufigen Notizen über die Reichweite und Verbindlichkeit einer solchen bäuerlichen Reformation auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin überprüft werden. Für Oberschwaben genügt es, daran zu erinnern, daß dessen Bundesordnung den Pfarrerwahlartikel aufgenommen hat, womit der Raum zwischen Lech und Schwarzwald, Donau und Bodensee abgedeckt wird. Versuchsweise in Zahlen ausgedrückt: 3 0 0 0 0 Bauern standen hinter d e m Programm der Oberschwaben 1 . Gleichermaßen umfassend wurde die Gemeindereformation im Herzogtum Württemberg 2 und in Franken 3 vertreten. Das an Oberschwaben und Württemberg angrenzende Gebiet des Oberrheins - der Schwarzwald, der Breisgau, der Sundgau - hatte in einer Bundesordnung festgelegt: „Item wo pfarrer werenn (dann der vicarien wollen wir gar nit), sollenn frunttlich ersucht vnnd gebetten werdenn, das heylig Evangelium furohin zuverkünden vnnd Irenn Irsal bekennenn vnnd abstellenn. Welche das thun wollenn, denenn soll dieselbige Pfarr zimlich u n d Irem ampt gepurliche vnnderhaltung gebenn, wellichi aber sollichs nit thun wollenn, die selbigen gevrlobt werdenn vnnd die pfarr durch die wal der pfarrgenossenn mit einem anndern versehenn werdenn" 4 . Rund 10000 Bauern - den Sundgau ausgeschlossen, für den Zahlen fehlen - dürften hinter dieser Forderung ge-

22

1 2

3 4

Die einschlägigen Belege bei O, Merx - G, Franz, Akten Bauernkrieg Mitteldeutschland, S. 122 f., 341, 406 und W. P. Fuchs, Akten Bauernkrieg Mitteldeutschland, S. 34, 71 f., 101 f., 110, 113, 115 f., 118-120-127, 144, 168, 250, 265, 315 £. Die Zahlen geschätzt nach G. Franz, Bauernkrieg, S. 118, 133 und II-Al. Maurer, Massenerhebung, S. 256. 6. ¡ 'ranz, Aus der Kanzlei der württembergischen Bauern im Bauernkrieg, in: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte 41 (1935), S. 304f. Nr. 90. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 369 f. Nr. 121. P. Blickte, Nochmals Zwölf Artikel, S. 288; zur Rekonstruktion der bislang nicht bekannten oberrheinischen Bundesordnung ebd., S. 288-300.

Die bäuerliche Reformation

51

standen haben 5 . Die Meraner Artikel, zunächst nur verbindlich für die Südtiroler Bauern, wurden durch ihre Vorlage auf dem Innsbrucker Landtag verbindliches Programm aller Landgerichte und Städte Tirols; gleiches gilt für die „24 Artikel gemeiner Landschaft Salzburg", die von den Städten, Märkten und bäuerlichen Gerichten den Landtagsverhandlungen mit dem Erzbischof Matthäus Lang zugrunde gelegt wurden 6 . Für die Drei Bünde in Churrätien legte der sogenannte Zweite Ilanzer Artikelbrief von 1526 fest, es solle „ain yede gemaindt gwalt haben, alle zit ainem pfarrer ze setzen und entsetzenn, wan es sy gutt bedunckt" 7 . Die skizzierte Vorstellung der Bauern von Religion und Kirche reicht flächendekkend vom Elsaß bis nach Salzburg und von Graubünden bis nach Franken und unterstreicht damit die ungemein breite Resonanz des reformatorischen Aufbruchs in der ländlichen Gesellschaft. An dieser Stelle scheint es angezeigt zu fragen, welche Voraussetzungen die reformatorische Bewegung in der ländlichen Gesellschaft vorfand, um sich in einer solchen Breite entfalten zu können. 1.2.1

Die Prädisposition der ländlichen Gesellschaft für die Kommunalisierung der Kirche

Will man die Voraussetzungen der Kommunalisierung der Kirche erfassen, bietet sich als besonders ergiebiges Beispiel Graubünden an und das aus zweierlei Gründen : Zum ersten wurde in Graubünden das Recht der Gemeinden auf die Pfarrerbestellung nicht unlösbar mit der reformatorischen Lehre verknüpft, was den Vorzug hat, die Konfliktbereiche zwischen der bäuerlichen Gesellschaft und der alten Kirche gewissermaßen isolieren zu können; zum anderen wurde in Graubünden der Problemhorizont des Themas Kirche und Frömmigkeit sehr weit gezogen und kann damit der hier zu erörternden Thematik eine präzisere Fragestellung geben. Die folgende Argumentation fußt auf zwei Verfassungsdokumenten, den beiden sog. Ilanzer Artikelbriefen von 1524 1 und 1526 2 . Ausgestellt sind sie von „lanndrichter unnd gemein drü pünth ... für unns unnd alle, so in unnsseren dryen pünthen gesessen unnd wonnhafft sind" 3 . Das bedarf einer kurzen Ausleuchtung des verfassungsund herrschaftsgeschichtlichen Hintergrundes. Bei den genannten Drei Bünden handelt es sich um den Gotteshausbund, den Zehngerichtebund und den Grauen Bund, die sich im Laufe des Spätmittelalters herausgebildet hatten. Charakteristisch für alle

5

6 7

1 2 3

H.-M. Maurer, Massenerhebung, S. 255 f. - Maurer hat, worauf hier eigens hinzuweisen ist, die Zuverlässigkeit der zeitgenössischen Schätzungen mit,objektiven' Quellen bestätigen können. Zur Rekonstruktion der Zusammenhänge P. Blickte, Landschaften, S. 5 2 6 - 5 3 2 . CJecklin, Urkunden Graubünden, S. 93. CJecklin, Urkunden Graubünden, S. 7 8 - 8 3 Nr. 37 (1524 IV. 4). Ebd., S. 8 9 - 9 8 Nr. 38 (1526 VI. 25). Zitat nach dem Protokoll des Ersten Ilanzer Artikelbriefs, ebd., S. 78; ähnlich der 2. Ilanzer Artikelbrief, ebd., S. 89.

52

Die Reformation in der Gesellschaft

Bünde ist die starke Vertretung des bäuerlich-kommunalen Elements 4 , die allerdings deutlich unterscheidbare Intensitätsgrade aufweisen konnte: vom Zehngerichtebund als exklusiv bäuerlichem Zusammenschluß bis zum Gotteshausbund als eher landständischen Korporationen mit dem Churer Bischof als Landesherrn. Der entwicklungsgeschichtliche Prozeß Graubündens wurde von der älteren landesgeschichtlichen Forschung mit den Stichworten „vom Feudalismus zur Demokratie" umschrieben 5 . Die sicher problematische Begriffswahl bringt eine richtige Tendenz zur Darstellung, den zunehmenden Einfluß ländlicher Gemeinden. Die Verlagerung der politischen Gewichte innerhalb der Stände wird durch die Tatsache angezeigt, daß der Churer Bischof den ersten umfassenderen Bundesbrief der Drei Bünde, mit dem sich umrißhaft ein staatliches Gemeinwesen ,Graubünden' erkennen läßt, nicht mehr siegelt 6 . Bei den im folgenden zu besprechenden Quellen handelt es sich damit um Texte, die klar den Stempel von bäuerlichen Gemeinden tragen 7 . Weil sie für Churrätien insgesamt gelten, kann angenommen werden, daß die in ihnen formulierten Probleme und angebotenen Lösungen einen hohen Grad von Verbindlichkeit besaßen. Der erste der Ilanzer Artikel von 1524 verfügt, „darmit... dem gemeinen man das wortt unnd Leer cristi dester trülicher fürgehalten unnd [er] nit in irrung gefürt werd, das man hinfüro niemandt, er sige pfarrer, capplan, münch, curtisan oder was stands aid namens der were, khain absent von den pfruonden in unseren pünthen weder annämen noch usgeben soll, Sonnders ein ieder priester sin pfarr oder pfruond, ob er aine hette und darzuo geschickt ist, die selbig selbs versechen unnd aida wonen" 8 . Kann ein Geistlicher aus triftigen Gründen seiner Residenzpflicht nicht nachkommen und sollen die seelsorgerischen Aufgaben von einem anderen Geistlichen wahrgenommen werden, hat das zu erfolgen „mitt der gemeind oder kilchgenossen, darin die pfruond ist, gunst und willen". Wer heimliche Verträge hinter dem Rücken der Gemeinde abschließt, „der hatt sin pfruond verloren, unnd mögend die kilchgenossen ain andren, der sy geschickt unnd guott bedunckt darzuo annemen". Diesem Tenor entspricht auch die Festlegung, bei Neubesetzung einer Stelle habe der Lehenherr der Kirche - eine in der Schweiz übliche Bezeichnung für den in Oberdeutschland geläufigeren Begriff des Patronatsherrn - im Einverständnis mit den „Kilchgenossen" zu handeln. Die Pfarrgemeinde will ihren Pfarrer im Dorf, und sie will darüber mitentscheiden, wer Pfarrer im Dorf wird. In erster Linie geht es um die Sicherung der seelsorgerischen Betreuung, und dementsprechend „sol ouch ein ieder pfarrer in todtnötten by sinen undertanen beliben, die selbigen trulichen nach sinem vermögen versächen und trösten by verlierung siner pfruond"; in zweiter Linie geht es aber auch um

4

5 6

7

8

Zur Verfassung der einzelnen Bünde und der Stellung der Gemeinden vgl. 0. Vasella, Bündnerische Bauernartikel, S. 66 ff. P. Liver, V o m Feudalismus zur Demokratie in den graubündnerischen Hinterrheintälern, 1929. Es handelt sich dabei um den Bundesbrief vom 23. IX. 1524. Druck bei CJecklin, Urkunden Graubünden, S. 8 3 - 8 9 Nr. 38. Für den mühsam zu erhellenden Redaktionsvorgang im Detail vgl. 0. Vasella, Bündnerische Bauernartikel, S. 68 ff. C.Jecklin, Urkunden Graubünden, S. 79. - Ebenda auch die nachfolgenden Zitate.

Die bäuerliche Reformation

53

das Vorbild christlichen Lebenswandels, „darmit der gemein mensch guot exempell von inen nemen und lernen möge". Zwei Jahre später liest sich die Forderung nach besserer seelsorgerischer Betreuung so: „Ist unser meynung, das nun fiiro hin ainem yecklichem Pfarrer solle ain zimliche und erliche narung nach ains yedenn verdienen gegeben werden, usz welchem guott dan ain yedliche gemaind gutt sin bedunckt, nach billichait, und sol ouch dar by ain yede gemaindt gwalt haben, alle zit ainem pfarrer ze setzen und entsetzenn, wan es sy gutt bedunckt" 9 . Der Pfarrer wird damit völlig abhängig von der Gemeinde, sowohl in seiner materiellen Ausstattung als auch in seiner beruflichen Sicherheit. Eine solche Zuspitzung liegt in der ratio einer Bewegung, die den Geltungsanspruch tradierter kirchlicher Normen und wachsende kirchliche Mißstände nicht mehr zu akzeptieren bereit war. Zur Verschärfung der für Graubünden erlassenen Gesetzesmaßnahmen im kirchlichen Bereich hatte gewiß die reformatorische Bewegung beigetragen, die 1525 einen gewissen Höhepunkt erlebte, wie das Ilanzer Glaubensgespräch, die minder attraktive Schwester der Zürcher Disputation, zeigt. Unter Leitung der Abgeordneten der Drei Bünde wurde im Januar 1526 in Ilanz disputiert, das Unternehmen jedoch ergebnislos abgebrochen 10 . Eine theologische Einigung erfolgte nicht, aber der Antiklerikalismus verschärfte sich offensichtlich erheblich, was sich aus dem Zweiten Ilanzer Artikelbrief nachweisen und mit dem Religionsgespräch erklären läßt, das den Durchbruch der reformatorischen Lehre offensichtlich wegen der doch nicht unbedeutenden Position der Churer Domherren nicht gebracht hatte. Geht man zum Vergleich der beiden Artikelbriefe zurück, so zeigt sich die zunehmende Aggression gegen die römische Kirche auch in einer restriktiven Gesetzgebung gegen das geistliche Gericht des Churer Bischofs. 1524 wird durch „Satzung" festgelegt, daß man „messen und andre christenlich Ordnung halten soll", und zwar auch dann, wenn Gemeinden oder das Land mit dem Interdikt belegt sind", weil mit dem Interdikt leichtfertig und unangemessen umgegangen werde. Auch seine angeblich ungerechtfertigte Kompetenzerweiterung wird deutlich, und zwar zugunsten der Gemeinden, eingeschränkt: „So haben wir verordnet und ze hallten vestenklich beschlossen, das füro hin kein geistlicher ain weltlichen oder ein weltlicher ein geistlichen, noch kein lay den andren uff das geistlich gericht nitt eitleren, laden, noch mit dem pann beschweren sol khains wegs, weder umb geldschulden, zuoredung fräffel noch keinerley händell" 12 , ausgenommen Ehesachen und Rentenforderungen der Kirchen und Pfründen; zuständiger Gerichtsort wird das Gemeindegericht des Beklagten. Dem Churer geistlichen Gericht wird verboten, überhöhte Prozeßgebühren einzuhe9 10

11 12

Ebd., S. 93. Vgl. dazu den zeitgenössischen, allerdings parteiischen Bericht des Teilnehmers Hofmeister. Der Bericht erschien als Flugschrift und ist unter dem Titel: Sebastian Hofmeisters Akten zum Religionsgespräch in Ilanz von der Religiös-freisinnigen Vereinigung des Kantons Graubünden und der Stadt Chur 1904 herausgegeben worden. Vgl. auch 0. Vasella, Reformation, S. 42 f. CJecklin, Urkunden Graubünden, S. 79 f. Ebd., S. 80.

54

Die Reformation in der Gesellschaft

ben, und geboten, die Verhandlungen in deutscher Sprache zu führen 1 3 . - Der Zweite Ilanzer Artikelbrief 1526 verkürzt diese weitläufige Argumentation in den bündigen Satz, d e m Bischof sei jedwede Gerichtsbarkeit zu entziehen 1 4 . 1524 werden mehrfach Maßnahmen ins Auge gefaßt, die auf eine ,wohlfeile' Kirche orientieren: Die Pfarrer sollen „sich priesterlich, wie dan irem stat gepürtt" 1 5 halten; weil den „armen biderben lüten mit wichen, es sy kilchen, cappellen, alltter, messgewender oder anders, grossen costen uffgeloffen", reduzieren die Bundesherren für die Weihbischöfe die bisherigen Sondereinnahmen auf Verpflegung und ein angemessenes Geschenk. - 1526 ist die wohlfeile Kirche kein Problem mehr: Die weltliche Herrschaft des Bischofs wird beseitigt, die Klöster werden langfristig säkularisiert, und damit verfügen die Gemeinden über hinreichende Einkünfte zu einer angemessenen Versorgung ihrer Geistlichen. Graubünden ist ein interessanter Modellfall deswegen, weil die reformatorische Bewegung keine besonders profilierten theologischen Exponenten aufzuweisen hat und die Kommunikation zwischen der reformationsfreundlichen Stadt Chur u n d den Gerichten durch die exponierte Lage jenseits oft monatelang nicht begehbarer Pässe enorm erschwert war. Das bietet eine gewisse Sicherheit für die Annahme, daß die Fremdeinflüsse durch starke horizontale Mobilität oder profilierte Theologen vergleichsweise gering blieben. So ergeben sich aus d e m Bündner Material drei Problemfelder, die es als Fragen zu thematisieren gilt: die religiöse Versorgung der Gemeinde (1), die wohlfeile Kirche (2) u n d das geistliche Gericht (3). (1) Z u den wiederholt reklamierten Ansprüchen der Bauern gehört die Residenzpflicht des Pfarrers u n d die Beseitigung der Vikare als Voraussetzung einer angemessenen religiösen Versorgung der Gemeinde. Der Affekt gegen das Vikariat richtet sich nicht gegen die Institution als solche, sondern - wie die oberrheinische 1 6 und oberschwäbische 17 Bundesordnung und die Tiroler 18 und Salzburger 19 Artikel ausweisen gegen den Mißbrauch, Pfarreien nicht ordentlich zu besetzen, vielmehr wegen Inkorporationen, Absenzen oder Pfründenhäufung die seelsorgerischen Aufgaben einem, auch noch unzureichend besoldeten Vikar zu überlassen. Das dem Fürststift St. Gallen 13 14

15 16 17 18 15

Ebd., S. 81. Zum 17. „So ist unser maynung, das khain Comun noch gericht im gotzhus khain appellatz mer für ain byschoff zu Chur noch für sine anweit züchen solle", vielmehr sollen als Appellationsinstanzen andere unparteiische Gerichte dienen; C. Jecklin, Urkunden Graubünden, S. 93. Zweifellos orientiert der Artikel auf die weltliche Gerichtsbarkeit des Bischofs, doch wird man nicht gänzlich ausschließen können, daß die geistliche Gerichtsbarkeit in diesen Artikel eingeschlossen ist. Das ergibt sich aus dem antibischöflichen Kontext des ganzen Dokuments und aus der Tatsache, daß vom geistlichen Gericht ansonsten 1526 nicht die Rede ist. C. Jecklin, Urkunden Graubünden, S. 81. P. Blickte, Nochmals Zwölf Artikel, S. 298. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 197. H. Wopfner, Quellen Bauernkrieg Deutschtirol, S. 69. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 271.

Die bäuerliche Reformation

55

unterstehende Gossau beschwert sich 1525 bei den Schirmorten des Klosters, „die pfarr mit ir nutzung (werde) nit mer einem rechten pfarrer verliehen, der uf der pfrund sitze, sonder werde die pfarr durch vicari versehen und inen ein genampts geben, das ander zu des gotzhus handen ingezogen" 2 0 . Am Gossauer Beispiel wird der Hintergrund der oft unverständlich erscheinenden, weil nicht begründeten Vikarsablehnung offenkundig. Gossau wirft dem Kloster vor, der vorgängige Abt, Franz Gaisberg, habe „durch bäpstlichen gewalt" die Pfarrei „zu des gotzhus hand bracht und erobert, mit zins, zechenden, rent, gült und glegnen güter der pfarr zugehörende ins gotzhus gwalt gezogen" 2 1 . Verliehen war sie an den Dekan des Klosters, der seinerseits aus den Einkünften einen Vikar besoldete. Nach dem glaubwürdigen Zeugnis des ortskundigen Chronisten der Reichsstadt St. Gallen hatte der Abt des Klosters 1516 „ein bull vom papst [erworben], daß er al sein eingeleibt und incorporiert pfrunden möchte seinen conventzherren leichen; dieselben möchtend dan die pfarren mit leienpriestern versehen, die man nach irem gefallen zu verendern hett, und also die herren im closter und diener bei den leutkirchen werind" 2 2 . In diesem Zitat verbirgt sich möglicherweise das wahre Motiv der bäuerlichen Ablehnung der Vikare: Eine ordentliche Gemeinde hat Anspruch auf einen ordentlichen Pfarrer. Und ein ordentlicher Pfarrer hat Anspruch auf eine ordentliche, standes- und amtsgemäße Versorgung aus einer Pfründe und den kirchlichen Einkünften - etwa dem Zehnten. Schultheiß und Rat von Liestal verlangen von ihrem Zehntherrn, dem Hochstift Basel, „unnser kilchen und unns mit dem gottswort uss den dryen teilen des zenndens, den wir geben und dorumm sy unsz nützt tund, erlich zuo unnderhalten, domitt unns daran kein manngell und gebrest entstände und sunderlich, so der yetzig unnser lütpriester, der unns angenam, vergnügen, domitt er by unns plyben unnd nitt von unns getrendt werde" 2 3 . Exspektanzen, Absenzen, Inkorporationen und Pfründenhäufung führten dazu, daß die Kirche dem Dorf entfremdet wurde. Im Fürststift St. Gallen wurden seitens der Kurie päpstliche Exspektanzen auf zahlreiche Pfarreien erworben, freilich nur auf jene, die ein besonders hohes Jahreseinkommen abwarfen. Das konnte sich im Einzelfall dann so auswirken, daß in Henau der seit 1502 amtierende Pfarrer Schindelin auf Befehl des Abtes von St. Gallen 1506 zugunsten des Kurtisanen Jakob Stäbiner die Pfarrei räumen mußte und, weil er sich zunächst weigerte, auch noch exkommuniziert wurde 2 4 . Absenzen erteilte gegen eine Gebühr der jeweilige Diözesanbischof; welchen Umfang sie annahmen, ist schwer abzuschätzen 2 5 . Daß sie die Seelsorge stark beeinträchtigen und für die Gemeinde kränkend sein konnten, zeigt das Beispiel Ganters-

20 21

22

23 24 25

W. Müller, Rechtsquellen St. Gallen, Alte Landschaft, S. 189. Ebd. J. v. Watt [Vadian], Chronik der Äbte des Klosters St. Gallen, 2. Hälfte, 1875, S. 398. - Der Gesamtzusammenhang auch bei J. Strickler, Eidgenössische Abschiede 4, 1 a, S. 716 f. Nr. 289. E Dürr - P. Roth, Aktensammlung Basier Reformation I, S. 215 Nr. 367. E Egli, Toggenburg, S. 70 f. Aus dem engeren Untersuchungsraum liegen keine Zahlen vor. - Aus dem Osnabrückischen ist für die Frühzeit der Reformation bekannt (1517-1534), daß von 100 Landpfarreien 43 länger als ein Jahr durch Vizekuratoren versehen wurden (23 über 10 Jahre lang, 16 fünf bis sie-

56

Die Reformation in der Gesellschaft

wil, dessen Pfarrer Gebhard am Hof sich von 1479 bis 1482 Absenzen erkauft hatte 26 . Von weiterreichender Bedeutung waren sicher Inkorporation und Pfründenwesen. Durch die Inkorporation wurde eine Pfarrkirche mit ihrem Einkommen einer geistlichen Institution einverleibt - einem Kloster, einem Hochstift, einem Spital. Die ursprünglich dem Pfarrer zugehenden Einkünfte aus der Pfründe - Widdumgut, Anteile am Zehnten oder bestimmten Zehntarten, Stiftungen - flössen jetzt dem inkorporierenden Institut zu, und die Seelsorge wurde fortan von Kaplänen, Vikaren oder auch Mönchen übernommen. In jedem Fall zeitigte das negative Folgen für die seelsorgerische Betreuung der Gemeinde. Vikare und Kapläne bezogen in der Regel ein sehr geringes Einkommen, woraus sich erklärt, daß sie versuchten, über die Bezahlung einzelner Amtshandlungen eine Aufbesserung zu erzielen; Konventualen waren naturgemäß als Mitglieder eines Klosters nicht residenzpflichtig, versahen häufig nur den sonntäglichen Meßgottesdienst und standen den Gläubigen für unaufschiebbare sakramentale Handlungen, etwa die letzte Ölung, nicht zur Verfügung. 5 7 % der rund 1000 Pfarreien im Bistum Augsburg sind am Vorabend der Reformation inkorporiert 27 ; für die Diözesen Worms, Konstanz und Straßburg könnte der Prozentsatz möglicherweise noch höher liegen 28 ; in Württemberg wurde das Verhältnis von Pfarrern zu Vikaren mit 1:5 geschätzt 29 . Die Pfründenhäufung zeitigte den nämlichen Effekt: Kumulierte ein Geistlicher mehrere Benefizien, konnte er die damit verbundenen seelsorgerischen Aufgaben nicht selbst wahrnehmen, sondern mußte sie einem Vikar oder Stellvertreter übertragen, der natürlich weniger an Einkommen erhielt - das liegt in der Logik des Systems - , als die Pfründe abwarf. Der Umfang der Pfründenhäufung ist naturgemäß quellenmäßig kaum zu erfassen, doch muß man sich das Spektrum wohl recht breit denken, von den drei Pfründen Wattwil, Henau und Jonschwil des Dr. Anton Thalmann im sanktgallischen Toggenburg 30 bis zu den 100, in ganz Europa verstreuten Benefizien eines holländischen Kardinals 31 . Das erklärt die bäuerliche Forderung nach Residenzpflicht eines Pfarrers im Dorf bei standesgemäßer Ausstattung. (2) Damit sollte die als ursprünglich gedachte, reinere Form der Seelsorge wieder hergestellt werden, die wohlfeile Kirche. „Und so wir durch das Evangelion bericht

26 27

28

29 30 31

ben Jahre); H. Stratenwerth, Osnabrück, S. 22. - Für das Bistum Eichstätt ist nachgewiesen, daß es mancherlei Absenzen gab, in der Regel die Pfarren aber wohl ordentlich versorgt wurden. Vgl. P. Th. Lang, Klerus im Bistum Eichstädts S. 29. E Egli, Toggenburg, S. 74. R. Hobl, Die Inkorporationen im Bistum Augsburg während des Mittelalters, Masch. Diss, phil. Freiburg I960, S. 8 1 - 9 8 . H. Cohn, Anticlericalism in the German Peasants' War 1525, in: Past and Present 83 (May 1979), S. 21. W. Andreas, Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende, 6 1959, S. 91. E. Egli, Toggenburg, S. 70 f. B. Moeller, Reformation, S. 40.

Die bäuerliche Reformation

57

werden", daß gottesdienstliche Handlungen „der Herr umbsunst gibt und nit umb Gelt sol verkauft werden" 32 , verweigern die Bauern im fränkischen Wendelstein alle Zahlungen für Leistungen des Pfarrers. Der Pfarrer der oberschwäbischen Gemeinde Langenerringen, der „kain aigen Haus" hat und vom Kornzehnten so wenig erhält, „das er kaum und hart seinen Hennen zu essen geben" kann, soll seine „zimbliche Underhaltung" aus dem Großzehnten erhalten, zu welchem Zweck die Gemeinde den Zehnt sperren wird, falls ihr Pfarrer vom Zehntherrn nicht ordentlich versorgt wird 33 . Die Salzburger beschweren sich über die Geistlichen, sie hätten „ainfeltig Leut an der Beicht angehalten, Gelt zu geben"; „wo ain Mensch krank ist worden, so haben die Peichtväter den Kranken angehalten, und dem Beichtvater ainen Gulden schaffen"; schließlich hätten sie „das geweicht Ertrich teurer umb vili Gelt verkhauft, als von ainer todten Leich 4, 5, 6 und je in die 8 oder 10 Gulden wellen haben" 34 . In Hochheim bei Mainz ist es üblich, „wan eyn armer man ader knecht sich in elichen standt geben will, so muß er gelt geben dem pfarher 6 albus und 1 wachskirczen" 35 . Die Dörfer der oberrheinischen Stadt Schaffhausen verlangen die Verwendung des Zehnten zu ausschließlich kommunalen Belangen; zunächst soll davon „sin Narung han der, so ainer Gmaind diene, das Gotzwort verkünde und die helgen Sacramenta dem Volk mittaile, ouch sie zum Leben und Todt furseche, damit wir demnach andrer Beschwärden, als do sind Seelgret, Bannschätz, Bichtgeld, Richtgelt, Toufgelt, Opfer und all ander Schinderien, vertragen und ledig sien". Außerhalb des Pfarrdorfes, in Weilern und Einöden „sölte zu Zitten, so groß Ongewitter ... Wasser oder Schnee" den Kirchgang unmöglich machten, „us dem Zehenden on derselbigen armen Lutten aignen Kosten und sondre Besoldung ein Meß gehalten werden" 36 . Soweit die Obrigkeiten die reformatorische Bewegung mittrugen, wie die Stadt Zürich, hat man solche Klagen abgestellt und damit auch ihre Berechtigung anerkannt. Im gleichen Sinn verspricht die Reichsstadt Basel den Ämtern auf ihrer Landschaft darauf hinzuwirken, daß „die lütpriester ... von dem großen zeahenden versechen (werden), also daß si ir zimliche narung haben und nit, wie bisher bescheen, ir narung mit beschwerd der undertonen suochen müessend" 37 . Ja selbst der oberrheinische Adel und die Städte konnten sich dem berechtigten Anspruch der Bauern offensichtlich nicht entziehen und konzedierten in einem Vertrag mit ihren Bauern, „das die Pfarrher von solchem Zehenden ire zimliche erliche und genügsame Underhaltung haben, und dermaßen, daß ein Pfarrher (wie es auch sin solte) sich keiner andern Nebenschinderei in der Kirchen, es si Opfer-, Bicht- oder ander Nebengelt, gebrüche, sonder das er eim jeden sinem Pfarrkinde one alle sonder Belonung gewertig sei" 38 .

32 33 34 35 36 37 38

G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 316 Nr. 97. Ebd., S. 201 f. Nr. 56. Ebd., S. 299 f. Nr. 94. W.-H. Struck, Bauernkrieg am Mittelrhein, S. 177. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 263 f. Nr. 87. J. Strickler, Eidgenössische Abschiede 4, 1 a, S. 641. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 565.

58

Die Reformation in der Gesellschaft

Die Forderung nach d e m residierenden Pfarrer und der wohlfeilen Kirche sind komplementär, wie die Beispiele hinreichend zeigen. Der ordentlich aus den Einkünften der Kirche versorgte Pfarrer hat es nicht nötig, die Untertanen mit Sondergebühren für die Seelsorge zu belasten u n d die Amtshandlungen wie Krämerwaren zu verkaufen. Freilich - durch die Kontrolle der Gemeinde scheint die Gewährleistung dieses Anspruchs am ehesten gesichert. Der kommunalistische Grundzug, der sich hier zeigt, trägt teilweise auch den enorm starken Widerstand gegen das geistliche Gericht. (3) Die Wirksamkeit des geistlichen Gerichts m u ß regional sehr unterschiedlich gewesen sein : aus Oberschwaben und Tirol sind kaum entsprechende bäuerliche Gravamina bekannt, im Elsaß 39 , im vorarlbergisch-bündnerischen Rheintal 4 0 , in Salzburg scheinen sie weit verbreitet und richten sich gegen die geistlichen Gerichte der Bischöfe von Straßburg, Chur und Salzburg. Die Salzburger werfen den Geistlichen vor, „umb Schulden, zeitlicher Gueter, u m b Jniuri, Schmachworte, Raufen, Schlahen, Unzucht und leiblich oder weltlich Sachen" vor dem geistlichen Gericht belangt zu werden, obwohl „daz nit den Gelauben noch ewangelisch Sachen betrifft"; dem stellen sie die Forderung gegenüber, in solchen Fällen vor d e m ordentlichen Gericht vernomm e n zu werden 4 1 . Genau dasselbe verlangen die Stadt Forchheim und die umliegenden Dörfer; Zins- und Schuldforderungen sollen die Geistlichen vor ordentlichen, weltlichen Gerichten einklagen 4 2 . Die Rheingauer wollen hinfort „kein Citation, Inhibition, Banbrief oder dergleichen u m b weltliche Sachen, als weltliche Güter, Schult u n d dergleichen Handlung betreffen ... annemen" 4 3 . Der Widerstand der Bauern gegen die geistlichen Gerichte hat zwei Aspekte : Nicht mehr geduldet wird die Sonderstellung der Geistlichkeit, ihr eigener Gerichtsstand, ihre Abgehobenheit von der Gesellschaft - eine Beobachtung, die sich gut mit der allgemein feststellbaren Tendenz zur Kommunalisierung der Kirche synchronisieren läßt; nicht mehr akzeptiert werden Kirchenstrafen für weltliche Vergehen, das heißt der Ausschluß oder vorübergehende Ausschluß aus der Kirche. Die geistlichen Gerichte im Reich standen in Konkurrenz zur weltlichen Gerichtsbarkeit, waren personal zuständig für Kleriker, sachlich für kirchenrechtlich einschlägige Fälle wie Ehebruch, Eidbruch oder Zehntfragen. W o i m m e r die Kirche an Rechtsgeschäften beteiligt war, seien es ihre Vertreter persönlich, seien es Klöster, Hochstifte oder Spitäler als Rentenempfänger, konnte der Prozeßweg über das geistliche Gericht führen mit Appellationsmöglichkeiten zunächst an das zuständige erzbischöfliche Gericht, dann bis nach Rom. Der W e g zum geistlichen Gericht war für den Bauern in der Regel weit, entsprechend hoch waren die Kosten, und ziemlich sinnlos war das ganze Verfahren wegen der häufigen, zumindest gelegentlichen Pro-

39 40 41 42 43

Zahlreiche Belege bei A. Rosenkranz, Bundschuh. 0. Vasella, Reformation, S. 9 ff. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 299 f. Ebd., S. 315 Nr. 96. Ebd., S. 448 Nr. 147.

Die bäuerliche Reformation

59

zeßführung in lateinischer Sprache. V o m geistlichen Gericht des Bischofs von Straßburg wurden nach Ausweis einer der wenigen Spezialuntersuchungen zu diesem Gegenstand „die Leute ohne Einhaltung der vorgeschriebenen oder gebührlichen Termine wegen jeder Nichtigkeit mitten vom Felde von ihrer Arbeit herausgeholt, um vor Gericht, sei es als Beklagter, sei es als Zeuge, Rede zu stehen; im Handumdrehen waren die schwersten Urteile gefällt, Fröhnungen, ohne daß Fluchtverdacht oder sonst eine Gefahr vorlag, angeordnet, und trotz der schweren Verbote in den Statuten in den geringfügigsten Dingen Bann, Expulsion, Einstellung des Gottesdienstes und Interdikt über den zahlungsunfähigen Schuldner und die ganze Gemeinde verhängt und ersterer ohne Gnade und Barmherzigkeit von Haus und Hof ins Elend verjagt" 4 4 . Derart ausgedehnte Mißstände hat es offensichtlich nicht überall gegeben. Das eingangs notierte Fehlen von Beschwerden gegen das geistliche Gericht in Tirol dürfte davon herrühren, daß durch die Landesordnung von 1404, deren Bestimmungen I 4 8 6 republiziert wurden, die geistlichen Gerichte in ihrer sachlichen Zuständigkeit streng auf Zehnt-, Seelgerät- und Ehefragen beschränkt worden waren. Dabei verdient ergänzend der Hinweis der Präambel beachtet zu werden, der von vorgängigen Beschwerden der Landstände als Motiv für die Redaktion spricht 4 5 .

1.2.2

Theologische Begründung und evangelische Logik der Gemeindereformation

Die Vernachlässigung der seelsorgerischen Betreuung, die Fiskalisierung gottesdienstlicher Handlungen, der Mißbrauch des geistlichen Gerichts - aus der Sicht der Bauern waren das Fehlentwicklungen und Verirrungen der Kirche, die es rückgängig zu machen galt. Naheliegenderweise mußte eine bäuerliche Reformation der Kirche von ihren Einsichten und Bedürfnissen her an der Basis der kirchlichen Hierarchie, der Pfarrei, ansetzen. In der Gemeinde mußten die kirchlichen Verhältnisse wieder in Ordnung gebracht werden; das ließ sich natürlich am ehesten dann bewerkstelligen, wenn die Gemeinde selbst weiterreichenden Einfluß als bislang auf die Bestellung des Pfarrers erhielt und die Verwaltung der von der Gemeinde aufgebrachten Leistungen für die Kirche - Zehnt, Widdum, Stiftungen - wieder in ihre Verfügungsgewalt brachte. Die Sorge um das Seelenheil gibt diesen Absichten gewiß die entscheidenden Impulse, und es ist ja auch bekannt, daß die ländliche Gesellschaft sich schon im Mittelalter, verstärkt im Spätmittelalter, darum bemühte, durch ein engermaschiges Netz von Pfarreien eine bessere seelsorgerische Betreuung zu erhalten, wie sie generell nach Ausweis der wenigen Visitationsakten des ausgehenden 15.Jahrhunderts an Messe 44

45

K. Stemel, Die geistlichen Gerichte zu Straßburg im 15.Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 29 (1914), S. 404. - Vgl. dazu auch den der Stenzelschen Untersuchung zugrundeliegenden Text, jetzt ediert von P.-J. Schuler, „Reformation des geistlichen Gerichts zu Straßburg". Eine Reformschrift aus der Mitte des 15.Jahrhunderts, in: Francia 9 (1981), S. 177-214. H. Wopfner, Beiträge zur Geschichte der freien bäuerlichen Erbleihe Deutschtirols im Mittelalter (Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 67), 1903, S. 203-209.

60

Die Reformation in der Gesellschaft

und religiösen Unterweisungen nachhaltig interessiert war1. Das primär religiöse Bedürfnis erklärt auch, daß nur eine primär theologische Legitimation den Anspruch auf Pfarrerwahl zum Durchbruch kommen lassen konnte. Die reine Verkündigung des Evangeliums ,ohne menschlichen Zusatz' - ein zeitgenössisches Kürzel für die Abwehr römisch-kirchlicher Lehrtradition - bleibt die exklusiv verwendete Begründung, die in ihrer inneren Logik zur Pfarrerwahl und zum Gemeindechristentum führt. Dies durch Belege nochmals abzusichern, hieße die regionalgeschichtlichen Ausführungen repetieren. Summierend und erinnernd sei lediglich wiederholt, daß der nicht mehr diskutierbare Imperativ des ,reinen Evangeliums' den Pfarrer in Pflicht nahm, seinen Obliegenheiten in diesem Sinne nachzukommen, bzw. die Patronats- und Lehensherren verpflichtete, ihre Pfarreien mit evangelischen Prädikanten zu versorgen. Wo das nicht statthatte, mußte die Gemeinde, wollte sie ihr Seelenheil nicht verlieren, eigenverantwortlich eingreifen unter Umgehung und Mißachtung bestehender Rechtstitel. Das freilich war immer die letzte Konsequenz - es gibt, soweit sich sehen läßt, keinen bekannten Fall, wo die Bauern nicht versucht hätten, zunächst über Bitten bei ihren Patronatsherren und Obrigkeiten zu einem reformationsgemäßen Seelsorger zu kommen. Die Mißstände in der Kirche sensibilisierten und prädisponierten die Bauern für eine Erneuerung der Kirche auf gemeindlicher Grundlage; erst die Theologie des ,reinen Evangeliums' brachte die Engführung auf Pfarrerwahl, ja die umfassende und totale Kommunalisierung der Kirche. Das läßt sich über die Zehntfrage nochmals aufrollen und empirisch absichern. Rekommunalisierung des Zehnten und Pfarrerwahl bedingen sich gewissermaßen wechselseitig. Entsprechend kommt dem ,reinen Evangelium' als Begründungsmodus in beiden Fällen der gleiche Stellenwert zu. Vorauszuschicken ist, daß zu den am meisten inkriminierten Herrschaftsrechten seitens der Bauern der Zehnt gehört 2 . Das liegt wohl nicht primär daran, daß er in der Form des Großzehnten von Getreide im Gesamt der bäuerlichen Reallasten an erster Stelle steht und im Regelfall die Gülten an den Grundherrn, von Steuern an den Landesherrn ganz zu schweigen, deutlich übersteigt3. Vielmehr muß die ständige Ausweitung des Zehnten - in der Regel unter der Bezeichnung „Kleinzehnt" - in den Vordergrund gerückt werden. Die Hochheimer bei Mainz müssen den Kleinzehnt von Lämmern, Schweinen, Hühnern, Gänsen, Äpfeln, Birnen und Nüssen4 geben, die Salzburger von allem Vieh 5 , die Oberrheiner von 1

2

3 4 5

Vgl. D. Kurze, Pfarrerwahlen, und P. Th. Lang, Klerus im Bistum Eichstätt, S. 23 f. - Lang (ebd., S. 19) kann auch über die Visitationsakten für Eichstätt nachweisen, daß die ländliche Gesellschaft ausgangs des 15.Jahrhunderts regelmäßig den sonntäglichen Gottesdienst besuchte und zur jährlichen österlichen Beichte und Kommunion ging. Vgl. dazu die Register der einschlägigen Quelleneditionen, etwa G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 635f. - Den., Bauernkrieg Aktenband, S. 443. - H. Wopfner, Quellen Bauernkrieg Deutschtirol, S. 213. Gesichert für Südwestdeutschland durch W. v. Hippel, Bauernbefreiung, bes. S. 209 f., 292. W.-ÌÌ. Struck, Bauernkrieg am Mittelrhein, S- 175. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 293.

Die bäuerliche Reformation

61

Vieh und Obst, aber auch von Holz, Flachs, Rüben und Zwiebeln6. Der Verzehntung schienen offensichtlich keine Grenzen gesetzt7. Die Bauern im schweizerischen Truttikon sahen keine Logik in diesem System: wenn sie Schweine und Hühner verzehnten müßten, sei das unbillig, da sie die Futtermittel für Schweine und Hühner schon verzehntet hätten; um Weihnachten schicke der Abt von Rheinau einen Knecht, der von jedem Kalb und jedem Krautgarten von jedem Hausgenossen einen Pfennig als Zehnt einziehe8. Erklärt sich so die starke affektive Ablehnung des Zehnt an sich, so mußte sie wachsen, wo die Vorstellung an Boden gewann, „dass der zechend nüt anders dann ein almuosen war"9, das den Armen zustünde, bzw. dem Zehnten eine Gegenleistung entsprechen müsse, und zwar eine seelsorgerische10. Diese Vorstellung ist in der ländlichen Gesellschaft wohl nie gänzlich verlorengegangen, denn anders ist schwer zu erklären, daß noch bevor das ,reine Evangelium' Umfang und Verwendung des Zehnten diktierte, die oberschwäbischen Bauern in 44% ihrer Beschwerdeschriften die Aufhebung des Kleinzehnten und in 41% der Fälle die Umwandlung bzw. Umwidmung des Großzehnten fordern 11 . Der prinzipielle Angriff auf den Zehnten erfolgt eindeutig über das ,reine Evangelium'. Elsässer Bauern bestreiten, mehr als den Kornzehnten geben zu müssen, „daß wir uns bezugen uf die Geschrift" 12 ; Bauern im schwäbisch-fränkischen Grenzgebiet stellen fest, den Kleinzehnt „seien si den Ewangelium nach zu ton nit schuldig"13; die Dörfer der Reichsstädte Memmingen und Solothurn 14 verweigern jeden Rechtsanspruch auf alle Arten von Zehnten, „dieweil", wie die Memminger sagen, „uns das hailig Neu Testament nit darzu verbindt" 13 , erklären sich aber bereit, den Pfarrer zu unterhalten; für die Salzburger wird der Zehnt geradezu zum Teufelswerk, weil er „aus der Geschrift khainen Grundt" hat 16 . Durchgesetzt hat sich schließlich eine vergleichsweise uniforme Vorstellung von Zehntverpflichtung und Zehntverwendung, die weitgehend von den Zwölf Artikeln beeinflußt sein dürfte, aber nicht sein muß 17 . Der Kleinzehnt wird prinzipiell nicht mehr entrichtet. Der Großzehnt wird (mit oder ohne Entschädigung) den Berechtigten

6 7

8 9 10

11

12 13 14 15 16 17

Ebd., S. 564. Eine monographische Behandlung des Zehnten im Spätmittelalter fehlt. Vgl. vorläufig G. Zimmermann, Zehntenfrage, S. 20-30. J. Strickler, Eidgenössische Abschiede 4 , 1 a, S. 451. E. Egli, Aktensammlung Zürcher Reformation, S. 132. Vgl. als Beleg etwa die Argumentation der Rothenburger Dörfer; G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 329. P. Blickle, Revolution, S. 38. - In diesem Zusammenhang verdient der Hinweis über individuelle Zehntverweigerungen in den Visitationsakten des Bistums Eichstätt Beachtung. Vgl. P. Th. Lang, Klerus im Bistum Eichstätt, S. 25. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 239. Ebd., S. 410. Ebd., S. 265 f. Ebd., S. 169. Ebd., S. 300. Artikel 2 der Zwölf Artikel ebd., S. 176.

62

Die Reformation in der Gesellschaft

(Stiften, Klöstern, Spitälern, Adeligen) entzogen und einer neuen Zweckbestimmung unterworfen: zum Unterhalt des Pfarrers, zur Versorgung der Dorfarmen und gegebenenfalls zur Bestreitung von Steuern. Verfügungsberechtigt wird die Gemeinde, die den Zehnt einsammelt und über die Höhe der Zuteilung an Pfarrer und Arme befindet. Durch Pfarrerwahl und Rekommunalisierung des Zehnten wurde die Zuständigkeit der Gemeinde erheblich erweitert; der Autonomiezuwachs hing aber einzig und allein an der bäuerlichen Interpretation des ,reinen Evangeliums'. Die praktische Anwendung des theoretischen Prinzips ,reines Evangelium' zeitigte offenkundig für die Bauern äußerst rasch Unsicherheiten und Schwierigkeiten. Wie war zu verfahren, wenn ein Priester behauptete, evangeliumsgemäß zu predigen, und es in den Augen der Gemeinde doch nicht tat? W e r sollte entscheiden, ob die Abendmahlsauffassung der römischen Kirche oder die Luthers oder die Zwingiis die evangeliumsgemäße war? Welcher Geistliche interpretierte die Botschaft des Neuen Testaments richtig? Auf eine schiere Bibelphilologie konnte es ja nicht hinauslaufen - die Bergpredigt, beim Buchstaben genommen, konnte die Menschheit dem Verhungern aussetzen. Die Verknüpfung der beiden Prinzipien ,reines Evangelium' und ,Pfarrerwahl durch die Gemeinde' mußte letztendlich die Enscheidung über die richtige Lehre in die Hände der Gemeinde legen - eine Konsequenz, die die Bauern nur zögernd, ungern, mehr unter dem Zwang der Umstände zogen. Entsprechend selten sind klare Formulierungen, die mit gleicher Kompromißlosigkeit die Lehrentscheid.ung beanspruchen wie die Pfarrerwahl. Vergleichsweise entschieden wirkt hier noch die Aussage der oberrheinischen bzw. oberschwäbischen Bundesordnung, die bei Lehrstreitigkeiten zwischen Alt- und Neugläubigen festlegt, es „sollent die Priester der selben Lantschaft oder Flecken mit iren Biblien zusamen beruft werden und die Handlung nach Inhalt der heiigen Geschrift und nit nach menschlichem Bedunken entscheiden und entlich usgesprochen werden, in Biwesen gemeiner Kirchgnossen der selben Enden" 1 8 . In Zweifelsfällen findet also ein Religionsgespräch statt, das offensichtlich unter der Prämisse steht, die Bibel sei sui ipsius interpres und - hier bereits beginnen die Unsicherheiten der Interpretation - die Gläubigen, die Parochianen, seien in der Lage, wahre und falsche Theologie zu sondern. Die Tiroler dachten wohl daran, solche Entscheidungen durch die verfassungsmäßigen Organe des Landes, den Landesfürsten und den Landtag, entscheiden zu können; jedenfalls ließe sich so die Unterbreitung der Forderungen an Erzherzog Ferdinand interpretieren 1 9 . Das einzige Religionsgespräch, das tatsächlich von Bauern veranstaltet wurde, stellt die Ilanzer Disputation 2 0 dar, wobei sich freilich mit Dringlichkeit die Frage stellt, ob die Drei Bünde nicht qua Obrigkeit das Gespräch veranlaßten. Die fränkischen Bauern hinge-

18

19 20

Text nach G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 194; verbessert (von Kriegsgenossen auf Kirchgenossen) nach archivalischen Quellen bei P. Blickte, Nochmals Zwölf Artikel, S. 290. H. Wopfner, Quellen Bauernkrieg Deutschtirol, S. 50-67 Nr. 16. 0. Vasella, Reformation, S. 42 f.

Die bäuerliche Reformation

63

gen neigten dazu, „was das hailig Evangelium aufricht" „durch die Hochgelerten der hailigen, göttlichen, warn Schrift" 21 entscheiden zu lassen. Trotz solcher Unsicherheiten setzte der reformatorische Imperativ des .reinen Evangeliums' eine soziale Dynamisierung der evangelischen Bewegung frei, deren Formen eine aufmerksame Prüfung verdienen. Die Transformation des reinen Evangeliums in den weltlichen Bereich vollzogen die Bauern mit der Absicht - um es in der Sprache der Zwölf Artikel zu sagen - , „das Evangelion zu hören und demgemäß zu leben"22. Das Evangelium soll nicht nur gepredigt, sondern „demselben nachkomen und gelept werden", sagen die Württemberger 23 . Für die Bauern der Gerichte Thauer und Rettenberg in Tirol ergibt sich als Folgerung aus dem Evangelium, „hinfür in seinem götlichen willen seinen Satzungen und gepotten gemes zu leben" 2 4 . So gewinnt das Evangelium normativen Charakter für den innerweltlichen Bereich - die evangelische Logik der Gemeindereformation beginnt sich zu entfalten. Soziale und politische Ordnungen werden am Parameter des Evangeliums gemessen. Die Dörfer der Reichsstadt Rothenburg schreiben an den städtischen Rat, aus dem „ewig Wort Gottes befinden wir ..., das wir an vilen Stucken hochlich beschwert sein" und präsentieren unter diesem Begründungsmodus ihre Beschwerden 25 , und die Klettgauer Bauern verlangen von Zürich als Schiedsrichter in den Streitigkeiten mit ihrem Grafen von Sulz ein Urteil „nach der eizigen Richtschnur (das ist nach dem Gotzwort)" 26 . Diese Deduktion aus dem Evangelium als legitimierender Ausweis für Forderungen an die Obrigkeiten ist weit verbreitet 27 . Klassisch geworden durch die vielen Kopien ist schließlich die Wortwahl der Zwölf Artikel mit ihrer argumentativen Doppelstruktur: Alle Forderungen der Herren sind berechtigt, soweit sie sich mit der Schrift sichern lassen, und alle Beschwerden der Bauern sind berechtigt, soweit sie durch Bibelstellen belegt werden können 28 . Soweit sich sehen läßt, handelt es sich dabei um eine sprachliche und begriffliche Präzisierung einer schon früher am Oberrhein nachweisbaren Version, die Maßnahmen „zum lands frydenn vnnd ruw der armenn" in dem Umfang vornehmen will, als das „mit der geschrifft besteen mag", und auf alle Forderungen verzichtet, die „mit der geschrifft vnformlich oder gar zu nichten erkennt werden" 2 9 . In der Kanzlei der Baltringer Bauern wurde, gewissermaßen die Wortwahl der Zwölf Artikel antizipierend, die Wendung gebraucht: „Was uns dann daselbig göttlich wort nymbt und gibt, dabey woll wir allzeit gerne beleyben und uns bey demselben

21 22 23 24 25 2i 27

28 29

G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 368. Ebd., S. 175 Nr. 43. Ebd., S. 4 2 0 Nr. 137. H. Wopfner, Quellen Bauernkrieg Deutschtirol, S. 70. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 328 Nr. 101. Ebd., S. 226. E. Egli, Aktensammlung Zürcher Reformation, S. 319, 324. - G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 168. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 178 f. Text bei P. Blickle, Nochmals Zwölf Artikel, S. 297.

64

Die Reformation in der Gesellschaft

wol und wee g e s c h e h e n lassen" 3 0 . - Das Evangelium weist n i c h t m e h r nur den W e g z u m Seelenheil, sondern gleichermaßen auch zu einer weltlichen Ordnung. Das eigentliche

P r o b l e m lag für die Bauern naheliegenderweise

darin, wider-

spruchsfreie Leitsätze für ein evangeliumsgemäßes L e b e n aus der Schrift zu entwikkeln. D i e anfängliche Hilflosigkeit der ländlichen Gesellschaft schildert anschaulich der Bericht des St. Galler J o h a n n e s Kessler über die Vorgänge im Lager der Baltringer Bauern im Februar 1 5 2 5 , der aufgrund enger persönlicher Beziehungen Kesslers zu den Oberschwaben als ein D o k u m e n t von hoher Authentizität gilt. Als eine Delegation der Herren zu Verhandlungen im Lager erscheint, werden sie v o m Führer der Baltringer Bauern, Huldrich S c h m i d , „umb g n a d " gebeten, es bedürfe keines Rechtstages, denn „hie wer kain clag". D i e Herren allerdings beharren auf d e m rechtlichen Austrag der bäuerlichen Forderungen und schlagen das R e i c h s k a m m e r g e r i c h t als Instanz vor; auf die Gegenfrage der Herren, welches R e c h t die Bauern in A n s p r u c h n e h m e n wollten, „antwurt H u l d r i c h : dass gottlich recht, das iedem stand ußspricht, was im gebürt ze thun oder ze lassen. Sprachend die herren m i t spottlichen Worten: Lieber Huldrich, du fragest nach g o t t l i c h e m recht. Sag an, wer wirt sollich recht ußsprechen? G o t t wirt ja langsam von himel k o m e n herab und uns ainen rechtstag anstellen". Huldrich S c h m i d zögert nicht m i t seiner A n t w o r t : er will alle Priester e r m a h n e n , zu G o t zu beten, „das er uns gelerte, frome männer, die disen span nach lut gottlicher gschrift wissen urtailen und ze entschaiden, anzaigen und verordnen w e l l e " 3 1 . D i e Trennschärfe zwischen Evangelium und G ö t t l i c h e m R e c h t ist zuzugebendermaßen gering 3 2 . D e n n o c h wurde das G ö t t l i c h e R e c h t neben d e m Evangelium zum gleichwertigen Schlagwort, o h n e dessen Ausleuchtung d e m bäuerlichen

Reforma-

tionsverständnis nicht b e i z u k o m m e n ist. D i e T r e n n l i n i e zwischen Evangelium und G ö t t l i c h e m R e c h t verläuft, o h n e daß die wechselseitige V e r k l a m m e r u n g , ja V e r k e t tung jemals aufgegeben worden wäre, zwischen H i m m e l und Erde, zwischen J e n s e i t s und Diesseits, zwischen K i r c h e und W e l t . Anders gewendet, des Evangeliums bedarf der M e n s c h für sein Seelenheil, des G ö t t l i c h e n R e c h t s für sein diesseitiges Leben. „Was man geistlicher oder weltlicher O b e r k e i t von g ö t l i c h e m R e c h t e n zu tun schuldig" ist, soll nach A u s k u n f t der oberschwäbischen Bundesordnung geleistet w e r d e n 3 3 . „ O h n Unterrichtung des göttlichen R e c h t e n " wird für die Klettgauer jede Leistung gegenüber ihrer Herrschaft fragwürdig 3 4 . D i e Allgäuer verwenden in e i n e m kurzen, 40zeiligen Schreiben an Erzherzog Ferdinand von Österreich n i c h t weniger als n e u n -

30 31

32

33

34

W, Vogt, Correspondenz Artzt, Nr. 883. E. Egli - R. Schoch (Hgg.J, Johannes Kesslers Sabbata mit kleineren Schriften und Briefen, 1902, S. 175. Die Austauschbarkeit von Evangelium und Göttlichem Recht läßt sich denn auch an vielen Quellen zeigen. Vgl. etwa G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 153 f., 167 f. - Den., Bauernkrieg Aktenband, S. 148. - W. Vogt, Correspondenz Artzt, Nr. 883,893. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 196. - Ahnliche Formulierungen der Oberschwaben in den Schwörartikeln und Korrespondenzen; ebd., S. 191, 197f. Ebd., S. 231 Nr. 66.

J2>en bunticfrucfc fc^miereir. TOie

lutÇerfcertffantrfenfñ îScubtfefti 5\otcm í>«!8es»tm: ffoetimi« Cuchar: ÏXHctflnbirg. pfalm. rff. Stmt ttkf Kcrbei;n fHb»mf» fra/ it:f.

Tafel 18

Flugschriften von Martin Luther, 1520-1525.

Evangelium und weltliche Ordnung im Denken der Reformatoren

161

quenz, ihre Handlungen als teuflisch zu brandmarken. Das Teuflische am Handeln der Bauern ist deren Verkehrung des Evangeliums für eigene Interessen und deren durch den Aufstand um ein Vielfaches größere Schuld als die der tyrannischen Herren : „Die oberkeyt nympt euch unbillich ewr gut, das ist eyn stuck. Widderumb nemet yhr der selben yhre gewallt, darynne alle yhr gut, leyb und leben stehet, drumb seyt yhr viel grösser reuber denn sie und habts erger fur, denn sie gethan haben. Ja, sprecht yhr, wyr wôllen yhn leyb und gut gnug lassen, Das gleube, wer do wôll, ich n i c h t . . . Wenn ewr furnemen sollt recht seyn, So wurde eyn iglicher widder den andern richter werden und keyne gewalt noch oberkeyt, Ordnung noch recht bleyben ynn der weit, sondern eytel mord und blutvergissen" 11 . Luthers Vermutung, die Bauern würden den Herren weder Leben noch Auskommen lassen, war eine Unterstellung, die sich in der Realität bislang nicht bewahrheitet hatte und auch später nicht bewahrheiten sollte. Verfiel Luther einem Konstruktionszwang, indem er die Praxis der Bauern mit der Theorie der Mordpropheten gewaltsam parallelisierte? Luther jedenfalls interpretiert die Zwölf Artikel nicht im Rahmen seines Konzepts von den Zwei Regimenten, demzufolge die weltlichen Ordnungen ihrer eigenen Logik und Vernünftigkeit folgen, sondern eindeutig eschatologisch. In seiner Optik ist der Bauernkrieg entweder das Werk Gottes - eine Lesart, die er schließlich verwirft - oder das Werk des Teufels - eine Lesart, die er letztendlich verficht. Luther kämpft folglich in der .Ermahnung zum Frieden' nicht gegen die Bauern, sondern gegen eine ihm bedrohlich scheinende Theologie. Zwei unversöhnliche Konzepte von Evangelium standen sich hier gegenüber: Luthers auf die Rechtfertigung orientiertes Evangeliumsverständnis, das im Prinzip den weltlichen Bereich seiner Eigengesetzlichkeit überließ, und der Bauern symmetrisch strukturiertes Evangeliumsverständnis, das in der Schrift gleichermaßen die Wegleitung zum ewigen Heil wie zu einer christlichen und gerechteren Welt erblickte. Was Luther den Bauern abverlangte, war die duldende Unterwerfung unter den Willen der Herren und Obrigkeiten, war die Preisgabe einer jahrzehntelangen Tradition bäuerlichen Widerstandes, war der Verzicht auf Selbstbewußtsein und Identität. Kein Wunder, daß sie diesen Weg nicht gehen konnten und auch nicht gehen wollten. Als der Bauernkrieg seine größte räumliche Ausdehnung erreichte und mit dem Aufstand in Mitteldeutschland in seinen unmittelbaren Erfahrungsbereich hineinreichte, verfaßte Luther seine zweite grundsätzlichere Bauernkriegsschrift „Wyder die rewbischen und mördischen rotten der anderen bawren" 12 . Das Entsetzen, das selbst unter Freunden Luthers diese Schrift auslöste, resultiert nicht aus der Einschätzung und Analyse des Bauernkriegs, sondern aus den Gebrauchsanweisungen, die Luther daraus für die Obrigkeiten zog. Analytisch bietet .Wider die räuberischen Rotten' gegenüber der .Ermahnung zum Frieden' kaum Neues. 11 12

Ebd., S. 305 Z. 30 - S. 306 Z. 27. Ebd., S. 3 4 4 - 3 6 1 ; d e r T e x t im engeren Sinn (ohne einleitenden Kommentar) S. 3 5 7 - 3 6 1 .

Τ 18

162

Kirche und Evangelium in der Theologie der Reformatoren

Der Vorwurf gegenüber den Bauern bewegt sich auf drei bekannten Ebenen : Sie kündigten ihren Obrigkeiten den Gehorsam auf, sie raubten und plünderten, sie bemäntelten ihr Vorgehen mit dem Evangelium. „Blutdurstige bawren und mord propheten" 1 3 sieht Luther am Werk. Mit dem Hinweis, „das sie [die Bauern] yhrer oberkeyt trew und huid geschworen haben, unterthenig und gehorsam zu seyn", verurteilt er die Aufständischen als „trewlose, meyneydige, lugenhafftige, ungehorsame buben und bosewicht" 1 4 . Dabei freilich übersieht Luther - ob wissentlich oder unwissentlich sei dahingestellt - , daß dem Huldigungseid der Bauern das Versprechen der Herren komplementär war, die Untertanen bei ihren alten Rechten und Freiheiten zu schützen, die Normen von Recht und Billigkeit einzuhalten und die wirtschaftlichen Belastungen über ein ethisch vertretbares Maß hinaus nicht zu steigern. Gerade der von Luther angezogene Huldigungseid ist ein hervorragendes Beweismittel für das prinzipielle Widerstandsrecht von Bauern 1 5 . Huldigungen konnten von den Untertanen verweigert werden. Zahlreich sind die Huldigungsverweigerungen und die unter Vorbehalt geleisteten Huldigungen in der Vorreformationszeit. Obrigkeit in der Tradition des Mittelalters war keine absolute Obrigkeit, und es entbehrte jeder Objektivität und Realität, wenn Luther die Bauern auf seinen, auf absoluten Gehorsam orientierten Obrigkeitsbegriff verpflichtete. Das argumentative Verfahren Luthers bleibt in ,Wider die räuberischen Rotten' und in der .Ermahnung zum Frieden' das nämliche. Um die Kongenialität von Praxis und Theorie zu erweisen, anders gesprochen: um das Handeln der Bauern mit der Theologie der .Mordpropheten' in eins setzen zu können, porträtiert Luther die Phasen des Bauernkriegs in einer Schärfe, die ihnen nicht eigen ist. Nicht Objektivität, sondern Subjektivität prägt Luthers Bild vom Bauernkrieg. Nur so freilich wird es möglich, ihn nicht im Rahmen des weltlichen Rechts als Ausdruck unterschiedlicher Interessen zu belassen, sondern in ihm den Teufel in actu zu sehen. Nur so lassen sich die Konsequenzen erklären, die Luther aus seiner Analyse für das Handeln der Fürsten entwikkelt. Mit dem einschränkenden Appell an „christliche" Obrigkeiten, es nochmals mit Verträgen und Urteilssprüchen zu versuchen, werden christliche wie nichtchristliche Obrigkeiten von Luther mit Hinweis auf ihr Amt verpflichtet, die Bauern niederzuwerfen. „Eyn Fürst und herr mus hie dencken, wie er Gottes amptmann und seyns zorns diener i s t . . . Denn wo er kan und strafft nicht, es sey durch mord odder blutvergiessen, so ist er schuldig an allem mord und u b e l . . . So soll nu die oberkeit hie getrost 13 14 15

Ebd., S. 361 Z. 16. Ebd., S. 357 Z. 23 f., 28 f. Zur Problematik vgl. Saarbrücker Arbeitsgruppe, Huldigungseid und Herrschaftsstruktur im Hattgau (Eisass), in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 6 (1980), S. 117-155. Für zwei ausführlicher dokumentierte Fälle von Huldigungsverweigerungen im vorreformatorischen Oberdeutschland sei verwiesen auf Ochsenhausen 1498 (E. Gruber, Geschichte des Klosters Ochsenhausen, Masch. Diss. phil. Tübingen 1956) und Kempten 1523 (F. L. Baumann, Akten zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges in Oberschwaben, 1877, S. 336).

Evangelium und weltliche Ordnung im Denken der Reformatoren

163

fort dringen und mit gutem gewissen dreyn schlahen, weyl sie eyne ader regen kan ... Also kans denn geschehen, das, wer auff der oberkeyt seyten erschlagen wird, eyn rechter merterer fur Gott sey ... Drumb, lieben herren, loset hie, rettet hie, helfft hie, Erbarmet euch der armen leute, Steche, Schlahe, würge hie, wer da kan, bleybstu drüber tod, wol dyr, seliglichern tod kanstu nymer mehr uberkomen" 16 . Es steht außer Frage, daß Luther Aufstand immer bekämpft, die göttliche Stiftung von Obrigkeit durchgängig betont hatte und insoweit sich treu geblieben ist. Diese Treue ist von Historikern wie Theologen als Größe gerühmt worden: „Niemals war Luther großartiger in seinem Kampfeszorn als in solchen Augenblicken. Er ... blieb furchtlos wie nur je ... Er blieb sich treu in jedem Zug" 1 7 , hat Gerhard Ritter gesagt, und Paul Althaus führt als zweite Stimme kanonisch fort, was Ritter begonnen hatte: „Der Luther, der hier alles einsetzte, seine Stellung beim Volke, ja sein Leben, um des Gewissens willen, ist von nicht geringerer Größe als der Luther in Worms, vor Kaiser und Reich" 18 . Größe und Treue haben häufig ihren hohen Preis. Luther entrichtet ihn, indem er die Menschen verteufelt, im buchstäblichen Sinn des Wortes. „Ich meyn", heißt es in seinem Aufruf,Wider die räuberischen Rotten', „das keyn teuffei mehr ynn der helle sey, sondern allzumal ynn die bawrn sind gefaren ... 19 . Da sihe, wilch eyn mechtiger fürst der teuffei ist, wie er die wellt ynn henden hat und ynneynander mengen kan, Der so bald so viel tausent bawrn fangen, verfuren, verblenden, verstocken und empören kan und mit yhn machen, was seyn aller wutigester grym fur nympt" 20 . Das Proprium von Luthers Interpretation des Bauernkriegs ist dessen eschatologische Verortung. Er sieht darin nicht die Auseinandersetzung um zwei gegensätzliche Konzepte von Obrigkeit - hier das feudal-traditionale, aus dem Mittelalter überkommene der fürstlichen Herrschaft, dort das kommunal-moderne, in der Neuzeit weisende der Partizipationsherrschaft - , vielmehr dechiffriert Luther den Bauernkrieg als innerweltliche Verwirklichung des regnum diaboli 21 . Des Teufels Werkzeug sind die falschen Propheten, die Mordpropheten. Wer sind die Mordpropheten? In ,Wider die räuberischen Rotten' benennt Luther ohne Umschweife Roß und Reiter. „Eyttel teufels werck treyben" die Bauern, „und ynn sonderheyt ists der ertzteuffel, der zu Môlhusen regirt und nichts denn raub, mord, blutvergissen anrieht" 22 . Die Invektiven Luthers richten sich in ,Wider die räu16 17 18 19 20 21

22

WA 18, S. 360 Z. 1 f., 5 f , 11 f., 28 f., S. 361 Z. 24 ff. Zitiert nach H. Lehmann, Luther und der Bauernkrieg, S. 134. P. Althaus, Luthers Haltung, S. 39. WA 18, S. 359 Z. 11 f. Ebd.,S. 358 Z. 28-32. Vgl. dazu die spätere Interpretation Luthers bei S. Bräuer, Luthers Beziehungen zu den Bauern, in: H. Junghans (Hg.), Leben und Wirken Martin Luthers von 1526 bis 1534, 1. Bd., 1983, S. 457-473, hier S. 462. - M. Edwards, Luther, S. 199. WA 18, S. 357 Z. 12-14.

164

Kirche und Evangelium in der Theologie der Reformatoren

berischen Rotten' eindeutig gegen Thomas Müntzer. Gegen jenen Müntzer, für den die Herrschaft Christi in der Welt ihre Verwirklichung in der translatio imperii an das gemeine Volk findet; gegen jenen Müntzer auch, dem in Thüringen die Bauern zu Tausenden folgten, während Luther von ihnen verspottet, ja bedroht wurde. Bleibt zu fragen, wer die Mordpropheten in der .Ermahnung zum Frieden' sind. Daß es sich nicht um Müntzer handelt, legt schon der vollständige Titel von .Wider die räuberischen Rotten' nahe; es ist nämlich die Rede von „rotten der anderen bawren". Der einzige Luther-Druck, der beide Bauernkriegsschriften zusammenbindet, bringt noch deutlicher zum Ausdruck, daß Luther seine beiden Schriften unterschiedlich adressiert: „Ermanungen zum fride auff die zwelff artickel der Bawrschafft ynn Schwaben. Auch widder die reubischen und mêrdisschen rotten der andern bawren" 23 . Die .Ermahnung zum Frieden' verweist auf Oberschwaben,,Wider die räuberischen Rotten' auf Thüringen. Wer ist der Mordprophet in Oberschwaben, den Luther hinter den Zwölf Artikeln sucht, aber nicht benennt? Luthers Argumentation in der .Ermahnung zum Frieden' richtet sich zentral gegen das Apriori der Zwölf Artikel, das Evangelium könne und müsse Parameter zur Ausgestaltung innerweltlicher Ordnungen werden. Sucht man nach der theologischen Herkunft dieser politischen Theorie der Bauern, so stößt man auf Huldrich Zwingli. Ein Vergleich von Zwingiis Ethik und Staatsauffassung mit der politischen Theorie der Zwölf Artikel erweist die-hohe Kompatibilität beider. Die Zwölf Artikel gehören, wenn man sie denn schon theologisch lokalisieren will, nach Zürich. Luther hat mit seinen Bauernkriegsschriften nicht gegen die Bauern eigentlich argumentiert, sondern gegen jene Theologen der Reformation, die das Wort Gottes anders interpretierten, als er es tat. Mit der dem genialen Theologen eigenen analytischen Schärfe traf er mit Müntzer und Zwingli genau jene Filiationen des Reformatorischen, die durch die Stringenz ihres alternativen Entwurfs und durch die Konsistenz ihres theologischen Systems eine ernsthafte Gefährdung seiner eigenen Theologie und Ethik darstellten und - was schlimmer war - auch die nötige Gefolgschaft fanden. Die Bauern und Bürger Thüringens standen im Lager Müntzers, jene Oberdeutschlands im Lager Zwingiis. Der Einfluß Luthers war 1525 auf Sachsen und Hessen geschrumpft. Der Erfolg Luthers ist offenkundig: Mit der Hinrichtung Müntzers 1525 war entschieden, daß es keine Kirche Müntzers geben würde. 1525 wurde aber auch entschieden, daß es im Römischen Reich deutscher Nation keine Kirche Zwingiis geben würde. Luthers Vorgabe vom Mordpropheten in Zürich wurde von Kaiser und Reichsständen gewissenhaft eingelöst: Seit 1525 ist im Reich die Verknüpfung von Zwinglianismus und Aufruhr üblich 24 ; der Zwinglianismus muß folglich eine Bastion nach der anderen räumen.

23

24

Vgl. dazu die Vorworte der Herausgeber e b d , S. 2 7 9 - 2 9 0 , bes. S. 282, und S. 3 4 4 - 3 5 5 , bes. S. 3 4 5 - 3 4 8 . Breites Belegmaterial bei H. R. Schmidt, Reichsstädte.

Teil 3

Die Gemeindereformation in der Tradition der spätmittelalterlichen politischen Kultur

Die einfachen Leute auf dem Land und in der Stadt entwickeln ein in den wesentlichen Grundzügen gemeinsames Reformationsverständnis. Sie übernehmen von den Reformatoren deren Kirchenbegriff, deren Vorstellung von einer auf die Gemeinde zu gründenden Kirche - aber sie fügen dem Kirchenbegriff der Theologen etwas hinzu, indem sie ihn in der politischen Gemeinde konkretisieren. Die einfachen Leute auf dem Land und in der Stadt übernehmen von den Reformatoren deren Kategorie vom reinen Evangelium, allerdings in der oberdeutschen Spielart einer auch sozial und politisch relevanten Größe - aber sie fügen dem Evangeliumsverständnis der oberdeutschen Theologen etwas hinzu, indem sie auf dem verpflichtenden Charakter eines solchen Evangeliumsverständnisses beharren. Von Zwingli und anderen oberdeutschen Reformatoren allein gelassen, die die Dichotomie von Unabdingbarkeit einer weltimmanenten Verankerung des Evangeliums einerseits und Friedensgebot des Evangeliums andererseits nicht lösen können, konkretisieren sie das reine Evangelium in einer Theorie der christlichen Republik, in der das Göttliche Recht normativen Charakter hat. Die einfachen Leute auf dem Land und in der Stadt hören auf die Reformatoren, wo es um die Übersetzung von ecclesia geht, sie hören auf die oberdeutschen Reformatoren, wo es um die Ubersetzung von Evangelium geht, aber sie sind keine Kopisten. Ihr Einsatz für die christliche Republik ist der qualitative Sprung von der verantwortungsscheuen Theorie der Intellektuellen zur existenziellen Praxis der einfachen Leute. Und diese Praxis speist sich schwerlich aus der Frömmigkeit, sie erklärt sich aus den realen Lebensbezügen, sie erklärt sich aus dem Dorf und der Stadt, sie erklärt sich aus der politischen Kultur des Spätmittelalters. Die politische Kultur des Hochmittelalters wird bestimmt durch den Adel und die Kirche. Im Spätmittelalter verschaffen sich Bürger und Bauern Gehör, treten mit ihren eigenen Organisationsformen und Wertvorstellungen in Konkurrenz zur adeligkirchlichen Welt, ja bedrohen und gefährden sie. Ausgangs des 13. Jahrhunderts entstehen im Norden und Süden des Reiches mit der Universitas terrae Dithmarciae und

166

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

der Confoederatio von Uri, Schwyz und Nidwaiden neue politische Verbände, fußend auf bäuerlichen Gemeinden, denen sich später Städte anschließen. Vornehmlich das Experiment im Süden scheint von einer großen Faszination zu sein. Teils mit Erfolg, teils ohne Erfolg proben die Bürger und Bauern den Aufstand gegen ihre Herren - erfolglos zu Beginn des 15. Jahrhunderts zwischen Bodensee und Tirol, erfolgreich in den Hochstiften der Bischöfe von Chur und Sitten. Der Wandel freilich geht nicht nur gewaltsam vonstatten: die Bischöfe verlassen ihre ehemaligen Domhöfe und die Adeligen ihre Fronhöfe, und so gewinnen die Städte und Dörfer einen wachsenden politischen Bewegungsspielraum. Die Aristotelesrezeption von Thomas von Aquin und seinen Schülern bringt eine neue Sinnstiftung des Lebens in die spätmittelalterliche Welt. Hatte Thomas schon zweierlei Seinsweisen, die des Bürgers und des Adeligen, unterschieden, so meinen seine Schüler, der Mensch verwirkliche sich in der Urbanen Welt: „si non es civis, non es homo"; die „felicitas politica" steht über der „felicitas contemplativa". Von hier führen Brücken zum Humanismus als einer auch in hohem Maße bürgerlichen Kultur, die von der städtischen res publica auf das bonum commune reflektiert. Doch auch die bäuerliche Welt kommt zunehmend in den Blick, vor allem im Reich. Die Literatur eines Johannes Tauler, Peter Suchenwirt und Hans Rosenplüt beginnt den Bauern zu achten und seine moralischen Vorzüge zu preisen, in der Reichsreformdebatte wird immerhin diskutiert, was der Bauer für das Reich bedeutet, bei Peter von Andlau, dem oberrheinischen Revolutionär und schließlich in den utopischen Entwürfen der reformatorischen Frühzeit. Das alles ist bekannt. Doch zu wenig im historischen Bewußtsein verankert sind die solchen Erscheinungen zugrundeliegenden Voraussetzungen: das Aufkommen der Städte und Dörfer - ein Prozeß, den man als Kommunalisierung der Gesellschaft bezeichnen kann, weil nun das alltägliche Leben der Menschen durch die Stadtgemeinde und die Dorfgemeinde bestimmt wird (1). Das hat weitreichende Folgen, weil die in Gemeinden verfaßten niederen Stände ein Bewußtsein ihrer selbst entwickeln, das dem Mittelalter abging: Gemeinden praktizieren Widerstand gegen ihre Herren, und sie drängen in hochpolitische Entscheidungsgremien, die Landtage und Reichstage. Beides tun sie nicht ohne Erfolg (2). Aus den Sorgen und Freuden im Alltag des dörflichen und städtischen Lebens und in der Auseinandersetzung mit Herrschaft, sei es kämpferisch im Konflikt, sei es kooperativ in den Ständeversammlungen, entstehen eigenständige Normen und Werte bei den einfachen Leuten (3). Das sind die Voraussetzungen, um die Reformation als gesellschaftliches und politisches Phänomen zu verstehen.

Die Kommunalisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft

1.

167

Die Kommunalisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft

Die Kommunalisierung der Gesellschaft hat ihre Wurzeln in wirtschaftlichen Veränderungen im ausgehenden Hochmittelalter. Plakativ läßt sich dieser Prozeß im Bild von der Auflösung der Villikationsverbände (1) einfangen. Die in die wirtschaftliche Verantwortung entlassenen ehemaligen Unfreien entwickeln politisch-rechtliche Sonderverbände in Form der Stadt- und Landgemeinden mit weitgehender Autonomie (2). In der Ausbildung gemeindlicher Verwaltung und Rechtspflege greift man den Prozeß der Kommunalisierung besonders deutlich, der schließlich auch die Kirche in seinen Sog zieht (3).

1.1

Die Auflösung hochmittelalterlicher Ordnungen

Unbestritten gilt das Spätmittelalter als eine Umbruchzeit, die sich als solche etwa in den Reichsreformbewegungen, den konziliaren Bestrebungen oder den territorialstaatlichen Bemühungen der Reichsfürsten darstellt. Einen in seiner Bedeutung bislang unterschätzten Prozeß stellt die Auflösung der hochmittelalterlichen Sozialordnung dar, die, negativ formuliert, in der Zersetzung der hofrechtlichen Verbände zum Ausdruck kommt, positiv ausgedrückt in der Herausbildung zweier neuer Sozialformationen: des Dorfes und der Stadt als primären politisch-sozialen Ordnungsgebilden für die überwiegende Mehrheit der Menschen 1 . Ein kursorischer Hinweis auf das Funktionieren des Villikationssystems

kann den

Blick für das Neue, das Dorf 2 und Stadt 3 darstellen, schärfen. Die Bezeichnung Fron1

2

3

Den nachfolgend zu erörternden Sachverhalt bzw. die daraus entwickelten interpretatorischen Hauptlinien habe ich schon früher zur Darstellung gebracht und beschränke mich hier auf Modifikationen, wie sie sich aufgrund der vorliegenden Fragestellung ergeben. In den kursorischen Bemerkungen zum Dorf folge ich in Grundzügen meiner Studie: Les communautés villageoises en Allemagne (Fiaran 4), 1982, S. 130-142, für den städtischen Bereich dem von meiner Frau und mir bearbeiteten Band: Schwaben, S. 115-119. Die Frage nach der Herkunft der Dorfgemeinde hat in Deutschland zu scharfen Forschungskontroversen geführt. Die Entstehung der Dorfgemeinde aus der Villikation vertritt A. Dopsch, Herrschaft und Bauer in der deutschen Kaiserzeit, 1939, bes. S. 107 ff. - Als Parzellierung größerer Gerichtsverbände des Früh- und Hochmittelalters versteht die Dorfgemeinde F. Steinbach, Ursprung und Wesen der Landgemeinde nach rheinischen Quellen, in: Th. Mayer (Hg.), Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen (Vorträge und Forschungen 7), 1964, S. 245 bis 288, bes. S. 205. - Schließlich wird die Vogtei als Ausgangspunkt der Dorfgemeindebildung vertreten von K. S. Bader, Dorfgenossenschaft, S. 88, 91, 101; ergänzend für den vorliegenden Zusammenhang Ders., Entstehung und Bedeutung der oberdeutschen Dorfgemeinde, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 1 (1937). Die jüngste, erheblich weiterführende Studie für den schweizerischen Raum, die vermutlich umfassendere Geltung beanspruchen dürfte, von R. Sablonier, Dorf im Übergang, S. 727-745. Herausgearbeitet vor allem in Studien von Karl Bosl. Zusammenfassend K. Bosl, Staat, Gesell-

168

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

hof- oder Villikationssystem will zum Ausdruck bringen, daß die landwirtschaftliche und handwerkliche Tätigkeit auf einen Wirtschaftshof des Herrn (Fronhof) oder seines Vertreters, des villicus (Villikationssystem), ausgerichtet ist 4 . Z u diesem System gehört, daß umfangreiches Eigenland des Herrn (Salland) mit den Diensten (Fronen) von Unfreien bewirtschaftet wird. Ausgangs des H o c h m i t t e l a l ters geriet dieses System in einen tiefgreifenden Umwandlungsprozeß, dessen K e r n und Ergebnis für die Organisation der Landwirtschaft darin bestand, daß das Salland an die Unfreien zur selbständigen Bewirtschaftung in der G r ö ß e n o r d n u n g von F a m i lienbetrieben aufgeteilt wurde. Natural- und Geldabgaben ersetzten die vormaligen D i e n s t e ; die Rentengrundherrschaft verdrängte die Villikation. D e r G r u n d h e r r zog sich aus der Organisation der Landwirtschaft zurück, und soweit er Adeliger war, baute er in exponierter Lage seine Burg. Hier liegen die A n f ä n g e der A u t o n o m i e der Landgemeinde, die sich besonders gut über die Sonderform des Dorfes beschreiben lassen, der allerdings verbreitetsten F o r m der Landgemeinde. Mit dem Desinteresse des Adels an der Landwirtschaft beginnt notwendigerweise die Aufteilung der Flur unter den Berechtigten. Flursysteme und Rotationssysteme, verbreitet die Drei-Felder-Wirtschaft, bilden sich aus, unterwerfen die Hofinhaber ein e m Flurzwang und verweisen sie auf kooperatives Verhalten, weil die Flur nur g e m e i n s a m eingesät und abgeerntet werden k o n n t e und die A l l m e n d e kollektiv durch das Vieh des ganzen Dorfes genutzt wurde. Dieses vergleichsweise komplizierte W i r t schaften konnte nicht auf Vorbilder zurückgreifen; es m u ß t e organisatorisch von den Betroffenen selbst bewältigt werden. Begünstigend und beschleunigend kam hinzu, daß das gleichzeitig e n t s t e h e n d e D o r f eine neue soziale Formation darstellte. D i e V e r d i c h t u n g sozialer Beziehungen und die K o m p l i z i e r u n g wirtschaftlicher O r d n u n g e n erforderten eine

Reglementie-

rung und Sicherung der für die ländliche Gesellschaft existenziell wichtigen B e r e i c h e : N o r m e n für das Z u s a m m e n l e b e n m u ß t e n erstellt, Organe für die Einhaltung dieser N o r m e n mußten geschaffen werden, Institutionen zur Klärung über Verletzung solc h e r N o r m e n mußten ausgebildet werden. D e r Bezugsrahmen für derartige Maßnahm e n - von denen gleich n o c h ausführlicher zu sprechen ist - wurde nach Auflösung des Fronhofs notwendigerweise das D o r f : Z u r Normierung des Z u s a m m e n l e b e n s e n t wickelte die D o r f g e m e i n d e ein k o m m u n a l e s Gesetzgebungsrecht; administrative O r gane zur Durchsetzung der dörflichen Gesetze wurden mit den dörflichen Ä m t e r n geschaffen; die Klärung etwaiger Normverletzungen erfolgte über das Dorfgericht.

4

Schaft, Wirtschaft im deutschen Mittelalter, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 1. Bd., '1970, S. 807-814. - Die Herkunft aus der Villikation noch schärfer betont in Ders., Gesellschaftsprozeß und Gesellschaftsstrukturen im Mittelalter, in : K. Bosl - E. Weis, Die Gesellschaft in Deutschland I. Von der fränkischen Zeit bis 1848, 1976, S. 79 ff. Die letzte zusammenfassende Darstellung von F. Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 3), 2 1967, bes. S. 50-56, 83-94. - Neuerdings L. Kuchenbuch, Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9-Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm (Beihefte der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 66), 1978.

Die Kommunalisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft

169

Aus den Wandlungen, welche die Gesellschaft an der W e n d e zum Spätmittelalter durchgemacht hat, ergibt sich zweierlei: ältere herrschaftliche Bindungen, wie sie bis zur Bauernbefreiung des 19. Jahrhunderts etwa in der grundherrlichen Gebundenheit der Güter (mit der in der Regel auch Gerichtsrechte verknüpft sind) zum Ausdruck kommen, bestimmen auch die Lebensweise des Dorfes, und insofern ist das Dorf alles andere als ein von feudaler Herrschaft freier Raum; andererseits entsteht mit dem Dorf in Form der Dorfgemeinde etwas Neues: eine soziopolitische Formation aufgrund neuer Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens, für deren Organisation die ländliche Gesellschaft selbst verantwortlich wird. Die ältere Fremdbestimmung von Menschen wird ersetzt durch eine, wenn auch eingeschränkte Selbstbestimmung. Das Entstehen der Dorfgemeinde markiert somit eine qualitative Veränderung für die agrarische Gesellschaft. Es ist wohl nicht zufällig, daß jetzt erst der Begriff Bauer in den Quellen begegnet 5 und Freiheit und Unfreiheit als Kriterium der sozialen Differenzierung durch Tätigkeitsmerkmale verdrängt werden: die Gesellschaft differenziert sich in Betstand, Nährstand und Wehrstand, in Geistlichkeit, Adel und Bauern 6 . Der Unfreie ist zum Bauern geworden. W a s bedeutet das für die ländliche Gesellschaft? Die hochmittelalterliche feudale Welt ist bestimmt durch vertikale Bezüge, durch eine ausgeprägte, differenzierte hierarchische Ordnung, die nach der Heerschildordnung sechs bzw. sieben Kategorien vom Kaiser bis zum Ritter umfaßt 7 . Der Position in der Hierarchie entsprechen bestimmte abgestufte politische Rechte. Für die ländliche Gesellschaft folgt daraus, daß ihr keine politischen Rechte zukommen, sie vielmehr in einem rechtlichen oder faktischen Stand von Unfreiheit bleibt. Empirisch belegen läßt sich dieser Satz etwa an Ostdeutschland, wo seit dem 15./16. Jahrhundert deutlich ein Prozeß der Refeudalisierung zu konstatieren ist, mit der Folge, daß im Bereich der Rittergutsherrschaft die Gemeinde als politischer Verband aufgelöst wird und mit Erbuntertänigkeit (Leibeigenschaft) und Gesindezwangsdienst für die Bauernkinder Formen der Unfreiheit wieder eingeführt werden, wie sie für das Villikationssystem charakteristisch sind 8 . Hingegen ist die Dorfgemeinde bestimmt durch horizontale Bezüge, durch die Gleichwertigkeit der Hofinhaber innerhalb des kommunalen Verbandes und ihre poli5

R. Wenskus, H. Jankuhn,

K. Grinda (Hgg.), Wort und Begriff „Bauer" (Abhandlungen der Aka-

demie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse, 3. Folge 89), 1975. - Ergänzend W.

Conze, Bauer, Bauernstand, Bauerntum, in: 0. Brunner, 6

7

8

W. Conze, R. Koselleck (Hgg.), Ge-

schichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon, 1. Bd., 1972, S. 408 ff. Die jüngste Debatte kritisch aufgearbeitet (mit anderer Akzentsetzung) bei 0. G. Oexle, Die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft' bei Adalbero von Laon, in: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 1-54, bes. S. 50. Handbuchzusammenfassung H. Mitteis - H. Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 1 6 1981, S. 169. Vom verfassungsgeschichtlichen Aspekt vgl. F. Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2 1967, S. 1 1 9 - 1 5 8 ; vom wirtschaftsgeschichtlichen Aspekt W. Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 2), 1 1978, S. 165 ff., 210 ff.

170

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

tische Selbstverantwortung. Dieser Kommunalismus ist dort am stärksten ausgeprägt, wo der Feudalismus schwach ausgebildet ist oder an Substanz verloren hat. Das gilt vor allem für Südwestdeutschland und die Schweiz, wo der Adel quantitativ und qualitativ von erheblich geringerer Bedeutung ist als im Osten. Es ist gleichzeitig jener Raum mit einem auffallend engen Netz von Städten. Der vergleichende Blick auf die Stadt soll das bisher gezeichnete Bild nur vervollständigen. Die breitere und länger betriebene Stadtgeschichtsforschung hat dafür gesorgt, daß die spätmittelalterliche Entwicklung der Stadt ohnehin bekannter ist als die des Dorfes, so daß hier eine grobe Skizzierung genügen kann, wobei es vor allem darauf ankommt, die Vergleichbarkeit der Entwicklungen im Dorf und in der Stadt verständlich und plausibel zu machen. Die Emanzipation der städtischen Gemeinden von der Herrschaft des Stadtherrn zur Autonomie einer Stadtrepublik ist ein langwieriger Prozeß, der sich in Einzelfällen über Jahrhunderte hinziehen konnte, in der Regel mit dem Ende der Stauferzeit einsetzt und im Verlauf des 15. Jahrhunderts seinen Abschluß findet. Besonders deutlich läßt sich dieser Vorgang an den ehemaligen staufischen, weifischen, zähringischen und bischöflichen Städten Oberdeutschlands zeigen, die als Freie oder Reichsstädte um 1500 einen Status erreicht hatten, der es erlaubt, sie als Träger politischer Herrschaft mit anderen reichsunmittelbaren Gewalten auf eine Stufe zu stellen. Die Etappen des städtischen Gemeinwesens auf dem W e g zu weitestgehender politischer Unabhängigkeit sind, will man sie nur summarisch beschreiben, die Eximierung von fremden Gerichten, die Zurückdrängung der königlichen oder bischöflichen Vögte, die Mitwirkung der Stadt bei der Wahl des Ammanns zunächst und schließlich seine ausschließliche Benennung durch die Stadt, die Verleihung der Hochgerichtsbarkeit und die Zurückdrängung der Leibeigenschaft zugunsten der persönlichen Freiheit 9 . In Augsburg, um eine Bischofsstadt zur Illustrierung des Gesagten zu wählen, kam es bereits im späteren 13. Jahrhundert zu fehdeähnlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Bischof und den ,cives' bzw. der ,universitas', die schließlich mit Zustimmung des Königs dazu führten, daß die „eltesten unde ... witzigsten ratgaeben von Auspurch" ein Rechtsbuch erstellten und vom König konfirmiert erhielten 1 0 , das drei Rechtssphären deutlich voneinander trennte : die des Bischofs, repräsentiert durch den Burggrafen, die des Königs, vertreten durch den Vogt, und die der Stadt. Das wachsende Interesse der deutschen Könige und Kaiser an den aufsteigenden Städten führte 9

10

Für einen größeren Überblick vgl. noch immer K. 0. Müller, Die oberschwäbischen Reichsstädte, 1912. - Für Gemeinsamkeiten und Abweichungen gegenüber der angrenzenden Schweiz vgl. H. C. Peyer, Schweizer Städte des Spätmittelalters im Vergleich mit den Städten der Nachbarländer, in: Oers., Könige, Stadt und Kapital. Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters, 1982, S. 262-270. R Liedl, Gerichtsverfassung und Zivilprozeß in der Freien Reichsstadt Augsburg (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 12), 1958; das Zitat S. 20.

Die Kommunalisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft

171

in Augsburg zu einer unaufhaltsamen Schmälerung der burggräflichen Rechte, so daß schließlich die Entscheidung über den Autonomiegrad der Stadt zwischen Stadtgemeinde und Vogt ausgetragen wurde. Spätestens im 15. Jahrhundert hatte Augsburg diese labile Situation zu seinen Gunsten entschieden : Wenn die Augsburger „uns", so urkundet König Sigmund 1426, „oder unser Nachkomen am Reiche, umb ainen Vogte anruffen, oder einen andern zu geben bitten, den sy uns denne benennen werden, und haben wollen, so wôllen und sullen wir in denselben one Verziehen geben ... und in auch bey solicher Vogtey sein Lebtag, oder uff der vorgenanten von Augspurg Wolgefallen und Widerruffen, dabey handthaben, schützen und schirmen." Der Landvogt seinerseits „mag dann seinem Vnder-Vogt, den man nennet Statt-Vogt, den denne dieselben von Augspurg auch darzu wellen werden, den Ban, an unser Statt bevelhen und geben, ze richten über schedlich Leut und ander Sach, was im denne ze tun gepurt, nach der Statt Recht daselbs" 1 1 . Damit waren die königlichen Rechte in der Stadt gewissermaßen kommunalisiert. Das von den Weifen gegründete und von den Staufern übernommene Memmingen - Beispiel für einen zweiten Typus von Stadt - zeigt in seinem Entwicklungsgang weniger komplizierte Züge als Augsburg, weil die in Augsburg geteilte Oberherrschaft zwischen Bischof und königlichem Vogt hier in einer Hand zusammenfiel. War noch in nachstaufischer Zeit der Landvogt in Oberschwaben im Namen des Königs mit der Gerichtshoheit über die Stadt betraut, so änderte sich das im Verlauf des H . J a h r h u n derts: 1312 erwirkte Memmingen ein Einspruchsrecht bei der Einsetzung des A m manns, die bislang durch den Landvogt erfolgte, 1350 wurde der Stadt die Ernennung des Ammanns zugebilligt und schließlich wurden 1403 seine bislang niedergerichtlichen Kompetenzen um den Blutbann erweitert 1 2 . Die königlichen Rechte waren damit in der Hand der Stadt. Diesem Prozeß lief eine ständige Aushöhlung und Verdrängung feudaler Rechtstitel in der Stadt parallel, wie sie in einer ursprünglich von welfisch-staufischen Ministerialien verwalteten Stadt selbstverständlich waren. Unter der Rubrik „Umb aigen lut uss ze triben" hält das Rechtsbuch der Stadt fest: „Es ist ouch besetzt und von alter recht, wer unser burger wirt, die herren haben ... so sol er [der Herr] siniu recht suchen e das jar und tag fürkom ... Lies aber der her daz hin schliffen als lang untz sich daz jar verrukt als sy burger wurdent, so sol er fürbas kainiu recht zu in haben" 1 3 . Was hier an allgemeinen Entwicklungslinien skizziert und an Augsburg und Memmingen flüchtig illustriert wurde, soll lediglich die Aufmerksamkeit auf einen für Stadt und Land verbindlichen Prozeß lenken, der ausgangs des Hochmittelalters einsetzt und zu Beginn der Reformationsepoche abgeschlossen ist. Was den Bauern und den Bürger vom hochmittelalterlichen Unfreien zuallererst unterscheidet, ist seine Möglichkeit, seine Arbeit selbst organisieren und über die Er11 12

13

J. C. Lünig, Teutsches Reichs-Archiv, 24 Bde., 1710-1722, hier Bd. 13, S. 99 f. Vgl. die Daten in: Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Heft 4: Memmingen, 1967, S. 49-54. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abteilung 1, Reichsstadt Memmingen, Literalien 8, fol. 24'.

172 Τ 19

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

träge seiner Arbeit relativ frei verfügen zu k ö n n e n . Man kann das A b g a b e n s y s t e m des Spätmittelalters auch, u m einen m o d e r n e n Vergleich zu wählen, als ein modifiziertes Steuersystem sehen. Das Bild hat den Sinn, auf den fundamentalen Unterschied aufmerksam zu m a c h e n , der zwischen der Arbeitsverfassung des Hochmittelalters und jener des Spätmittelalters besteht. I m H o c h m i t t e l a l t e r arbeitet der Unfreie auf den G ü tern seines Herrn und wird von i h m verpflegt, gekleidet, behaust, vertreten und beschützt - im Prinzip. Soweit er eigenständig Land bewirtschaftet, fällt es bei seinem T o d an seinen Herrn heim, wie auch sein fahrendes V e r m ö g e n , soweit er sich ein solches während seines Lebens hat erwerben k ö n n e n . „Eigenschaft" ist der dafür in Oberdeutschland weitverbreitete Begriff 1 4 , der den umfassenden Verfügungsanspruch des Herrn zum Ausdruck bringt. N a c h d e m der Zugriff des Adels (und der K i r c h e ) auf die Arbeit der n i c h t herrschaftsfähigen S c h i c h t e n weggefallen ist, k o m m t auch das gesamte Ordnungssystem ins W a n k e n - es atomisiert sich in unterschiedlichste Herrschaftsberechtigungen: von der Leibherrschaft über die Grundherrschaft bis zur G e richtsherrschaft, und es entstehen m i t Dorf und Stadt F o r m a t i o n e n , die für die spätmittelalterlichen M e n s c h e n völlig neue D i m e n s i o n e n h u m a n e r Existenz erschließen. Sie werden nämlich, was jetzt zu zeigen ist, für sich selbst verantwortlich.

1.2

Gemeindliche Administration und Rechtspflege

D e r Dorf und Stadt, bäuerlichem und bürgerlichem Siedlungsverband g e m e i n s a m e Fluchtpunkt ist die G e m e i n d e . G e g e n ü b e r den hofrechtlichen Verbänden des H o c h mittelalters unterscheidet sich die G e m e i n d e einerseits durch ihren flächenhaft-lokalen Bezug auf die Dorf- oder Stadtmark (im Gegensatz zu den personalen V e r b i n d u n gen älterer Villikationen), andererseits durch die Ü b e r n a h m e ehemals herrschaftlicher Funktionen. W a s Landgemeinde heißt, läßt sich a m raschesten über die G e m e i n d e v e r s a m m l u n g erfassen 1 . Mindestens einmal jährlich treten im Dorf, im G e r i c h t oder Tal die Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe, die H o f i n h a b e r zur Beratung der dörflichen A n g e l e g e n heiten zusammen. In die Zuständigkeit dieser G e m e i n d e v e r s a m m l u n g g e h ö r e n zweifellos wichtigere politische E n t s c h e i d u n g e n - so etwa, o b die G e m e i n d e gegen den Grundherrn einen Prozeß führen oder i h m gar m i t Gewalt zur D u r c h s e t z u n g eigener 14

Einen späten, in Auflösung begriffenen, aber noch rekonstruierbaren Realtypus der Eigenverfassung beschreibt Renate Blickle, „Spenn und Irrung" im „Eigen" Rottenbuch, in : P. Blickle (Hg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, 1980, S. 69-145. - Unter methodischen Vorbehalten vgl. auch die ideenreiche Monographie von H. Rabe, Das Problem Leibeigenschaft (Beihefte der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 64), 1977.

1

Grundlegend K. S. Bader, Dorfgenossenschaft, S. 292-319, 367 ff. - Für die regionale Differenzierung unentbehrlich Th. Mayer (Hg.), Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen (Vorträge und Forschungen 7/8), 2 Bde., 1964.

Die Kommunalisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft

173

Ansprüche begegnen soll2. Dieses Beispiel beleuchtet schlaglichtartig das Selbstverständnis der Gemeinde, die sich als politisch handlungsfähiger Verband versteht. Noch besser kommt freilich die Zuständigkeit der Gemeinde in den alljährlich wiederkehrenden üblichen Beratungsgegenständen zum Ausdruck. Die wichtigsten Geschäfte der Gemeindeversammlung sind die Rechtsweisung und die aus ihr entwikkelte dörfliche Gesetzgebung sowie die Wahl der dörflichen Organe. Die in die Tausende gehenden Weistümer des deutschen Sprach- und Kulturraums zeigen, daß der Rechtsgenossenschaft die Weisung zukommt und die daraus abgeleitete Rechtssetzung sich immer stärker auf das Dorf, das ländliche Gericht oder die Talschaft bezieht, kurzum Alltagsprobleme via Satzung des Siedlungsverbandes selbst gelöst werden. Der Gemeindebrief von Pfalzen in Tirol von 1471, der Holznutzung, Wässerung und Allmendprobleme regelt, kann für den skizzierten Sachverhalt als durchaus repräsentativ eingestuft werden: „Chund sei gethan allen den, die disen offen prief an sehent, horent oder lesent, das wir die nachgepauren gemainklich, als wir in dem dorf zu Pfalzen heuslich gesessen sein, ainmüetiklich und mit guter betrachtung williklich und geren ain ainung gesazt, gethan und gemacht haben, besunder durch unser und aller unser nachkömen eren, frumen und nutzes willen, und haben nämlichen ... erfunden, gesazt und gemacht ..." 3 . Im oberschwäbischen Mähringen „vereinigt sich ein Gemeind" 1484 und 1506 ohne herrschaftliche Beteiligung über Holzschlag, Viehschaden, Überzäunen, -ackern und -mähen 4 . Solche gemeindlichen Kompetenzen wurden im Spätmittelalter von den Obrigkeiten selbst dann noch respektiert, wenn die Herrschaften die politische Macht und die moralische Kompetenz besaßen, kommunale Rechte einzugrenzen: Trotz des Auf standes der St. Galler Bauern von 1490 räumte der nachfolgende Schiedsspruch ein, „wie oder wenn sich aber fugen und begeben würde, das einiche gegni [Gemeinde] besetzen oder ordnen weit der selben irer gegni sachen mit efaden [Flurbann] uszegon, marchen zesetzen und anderm derglich, das mag die selb gegni wol tun mit einer versamelten gemeind dero, so in die selben gegni gehörent, so oft das not ist"5. Beschreibt man die Kompetenzen der dörflichen Organe, erfaßt man noch detaillierter das Spektrum gemeindlicher Zuständigkeiten. Ein wichtiges Verwaltungsorgan der Gemeinde war ein kollegialisch arbeitendes Gremium, das in unterschiedlicher Zusammensetzung und damit verschiedenen Bezeichnungen begegnet: Zweier, Dreier, Vierer, Sechser, Zwölfer oder Rat sind die Be2

3

4 5

G. Heitz - G. Vogler, Agrarfrage, bäuerlicher Klassenkampf und bürgerliche Revolution in der Übergangsphase vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 28 (1980), S. 1060-1078. - H. Harnisch, Landsgemeinde, feudalherrlicher bäuerlicher Klassenkampf und Agrarverfassung im Spätfeudalismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 26 (1978), S. 887-897. I. v. Zingerle-J. Egger, Die Tirolischen Weistümer IV, S. 451. - Weitere ähnliche Beispiele verbreitet in diesem Band. P. Gehring, Oberschwaben Rechtsquellen, S. 97-100. W. Müller, Rechtsquellen St. Gallen, Alte Landschaft, S.271.

174

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

nennungen für dieses Organ, das dementsprechend von zwei, drei, vier, sechs oder zwölf Bauern besetzt wurde. Seine Kompetenzen bestanden in der Sicherung der Grenzen der Dorfmark und der einzelnen Grundstücke in der Flur, in der Überwachung feuerpolizeilicher Bestimmungen, in der Beaufsichtigung der gewerblichen Betriebe wie Schmiede, Mühle, Badstube und Taverne sowie in der Kontrolle von Maßen und Gewichten. Zur effektiven Wahrnehmung seiner Aufgaben war es nicht selten mit einer Gebots- und Verbotsgewalt ausgestattet, die sich etwa mit dem heutigen Verordnungsrecht vergleichen läßt. Mit wachsender Größe des Dorfes konnten die Aufgaben dieses Gremiums funktionsspezifischen Ämtern zugewiesen werden, die Begehung und Überwachung der Flur und Allmende einem eigenen Flurpolizisten, die Beaufsichtigung des Dorfes während der Nacht zur Verhütung von Bränden einem eigenen Wächter. Zur Überprüfung von Verletzungen der Normen, die kodifiziert sein konnten, aber nicht mußten oder von der Gemeinde bzw. ihren Amtsträgern erlassen worden waren, gab es das gemeindliche Gericht 6 . Als Schöffengericht war es mit sechs bis 24 bäuerlichen Schöffen besetzt und erstreckte seine Zuständigkeit auf die freiwillige Gerichtsbarkeit in Form der Grundstücksfertigung, der Mitwirkung bei der Anlage von Grundbüchern, der Ausstellung von Geburtsbriefen oder der Errichtung von Testamenten sowie auf Zivil- und Strafsachen wie Verletzung der Grundstücksgrenzen, Störung des dörflichen Friedens durch Beleidigungen, Schlägereien oder Körperverletzungen - auf jenen Bereich also, der in der zeitgenössischen und der wissenschaftlichen Terminologie als „niedere Gerichtsbarkeit" bezeichnet wird. In Ulten in Tirol wird dieser Sachverhalt 1521 mit der Bestimmung umschrieben, „was ciain sachen sein, die nit inzicht oder malefiz berüern, dieselben mögen die gedachten underthanen hinlegen und vertragen" 7 . Die Hochgerichtsbarkeit über Mord, Diebstahl und Brandstiftung blieb in der Regel herrschaftlichen Organen vorbehalten, doch auch in diesem Bereich verstärkte sich die Beteiligung der Gemeinden im Spätmittelalter gelegentlich. Im bündnerischen Engadin arbeiten 1519 die Räte Kaiser Maximilians und des Bischofs von Chur sowie die Gemeinden eine Hoch- und Niedergerichtsordnung aus, wie aus dem Schlußpassus deutlich hervorgeht: „Dise statut brieve sein zwen in gleicher form und laut geschrieben, der Königlichen Majestet und Wirde und dem Bischove von Chur ainer und der ander allen commeunern des under Engadeins gegeben" 8 .

6

1 8

Im Gegensatz zu den administrativen Organen des Dorfes ist das Dorfgericht wenig untersucht. Die Weistümer des 14.-16. Jahrhunderts enthalten relativ wenig Bestimmungen über das Gerichtsverfahren; erst ausgangs des 16. Jahrhunderts wird mit der zunehmenden Rezeption des römischen Rechts auch das dörfliche Prozeßverfahren genauer fixiert; Rückschlüsse von hier auf das Spätmittelalter sind kaum zulässig. Da die sachliche Zuständigkeit des Dorfgerichts oft nicht fixiert war, ist es schwer, die herrschaftlichen und kommunalen Wurzeln des Dorfgerichts freizulegen. I. v. Zingerle-J. Egger, Die Tirolischen Weistümer IV, S. 163. A. Schorta (Hg.), Die Rechtsquellen des Kantons Graubünden, 1. Teil: Der Gotteshausbund, 2. Bd.: Unterengadin (Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen 15), 1981, S. 6 0 0 - 6 1 8 ; das Zitat ebd., S. 618.

Die Kommunalisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft

175

An der Spitze der gemeindlichen Administration und Rechtspflege stand der Ammann, Schultheiß oder Vogt. Er leitete die Gemeindeversammlung, war üblicherweise der Vorsitzende im Gericht und fungierte schließlich als Vorgesetzter der übrigen administrativen Organe. Gemeinsam ist allen gemeindlichen Organen, daß es sich durchweg um Bauern selbst handelt. Herrschaftliche oder staatliche Beamte kennt die Landgemeinde nicht oder kaum. Wo immer individuelle und Gemeinschaftsinteressen sich berührten, griff die Gemeinde durch eigene, von ihr bestellte Organe ordnend, verwaltend, rechtsetzend, rechtsprechend und strafend ein. Die Landwirtschaft und die mit ihr verbundenen Probleme sowie das Zusammenleben in einem engeren, geschlossenen Siedlungsraum waren und blieben im allgemeinen der Ausgangspunkt bäuerlicher Selbstverwaltung. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß sich die dörflichen Interessen häufig mit denen der Dorfobrigkeit, dem Dorfherrn, überschnitten. Grundstücksstreitigkeiten beispielsweise mußten auch die grundherrlichen Interessen berühren. An der Überprüfung von Maßen und Gewichten war angesichts der Naturalabgaben, die der Grundherr aus dem Dorf bezog, auch ihm gelegen. Das erklärt, weshalb die Ortsobrigkeit bei der Bestellung der gemeindlichen Organe beteiligt war. Den größten Einfluß nahm der Ortsherr zweifellos auf die Bestellung des Gemeindevorstehers; zumindest behielt er sich ein Bestätigungsrecht vor, häufiger jedoch wählte er aus einem Dreieroder Vierervorschlag der Gemeinde den ihm besonders geeignet erscheinenden Kandidaten. Im Tiroler Gericht Stubai wird 1421 unter Eid bekräftigt, „wenn man in Stubay ainen richter setzen wolt, so heten die nachpaurschaft daselbs den gwalt und recht, das si drey nachparn aus in erweiten und die ainem phleger [Vertreter des Landesfürsten] fürwurfen; der het dann die wal, ainen richter aus denselben drei zu nemen, welich im am peste geviel" 9 . Dasselbe Verfahren begegnet auch in der Schweiz und anderwärts in Süddeutschland: „Item die von Altlicken", heißt es in einem Weistum dieses Ortes auf der Zürcher Landschaft, „söllent mir [dem Herrn] einen vogt gëben, wänn ich des begëren und sin notturfftig bin, so soll ich ein gmeind beruffen und inen sollichs fürhalten, die söllent demnach runen [wählen] umb einen vogt ... und mir dryg fürschlahen; da mag ich under den drygen nëmmen, welchen ich will" 10 . Vergleichsweise selten dürfte es vorgekommen sein, daß die Gemeinde den Ortsvorsteher selbst ernennen konnte wie im Zürcherischen Birmensdorf, wo eine Kundschaft des späten 15. Jahrhunderts den Gemeindemitgliedern bestätigt, „das sy ein undervogt mit der meren hand zu nemen gehebt haben" 11 . Sehr viel schwächer blieb der Einfluß der Herrschaft bei der Einsetzung der Schöffen; zwar mußten auch sie in der Regel vom Gerichtsherrn bestätigt werden, doch die 9 10 11

N. Grass - K. Finsterwalder (Hgg.), Tirolische Weistümer V/1,1966, S. 339. R. Hoppeler, Zürich Offnungen, 1. Bd., S. 212. R. Hoppeler, Zürich Offnungen, 2. Bd., S. 50.

176

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

Besetzung erfolgte für die Obrigkeit bestenfalls in der Weise, daß alternierend Dorfgemeinde und Herrschaft je einen Schöffen benannten. Am geringsten waren die obrigkeitlichen Eingriffe bei den administrativen Organen im engeren Sinn, deren Wahl durch die Gemeinde im allgemeinen von der Herrschaft akzeptiert wurde. Häufig wird den „gemein nachpuren" bestätigt, „dz sy jerlich ... sollend zwen nu fierer setzen" 1 2 oder daß es „unsers hoffs recht und alt harkommen [sei], das wir sollent setzen dri dorffmeyer ... Dieselben dorffmeyer sôllent zu gebieten haben, stêg, wêg und die eefaden [Flurbann] ze machen"' 3 . Im oberschwäbischen Ersingen werden „die gemeindspfleger und vierer und die undergänger gewehlt, welche wähl in beysein der herrschaft von der gemeind und jettlichem gemeindshaber insonderheit beschicht, da die merer vota uffgeschrieben werden, und wer alsdann von dem merern zue einem vierer oder undergänger erwölt worden, der bleibt bey solchem ampt zway jar lang" 14 . Als Ergebnis kann man festhalten: Es gibt eine politische Autonomie der Gemeinde, aber sie ist eine durch die Ortsherrschaft beschränkte. Die Verbreiterung und Vertiefung der Handlungsmöglichkeiten der ländlichen Gesellschaft findet ihre Parallele in der bürgerlichen Gesellschaft in den spätmittelalterlichen Veränderungen der Stadtverfassungen 15 . Die Entwicklung darf als hinreichend bekannt gelten, so daß für den oberdeutschen Raum eine flüchtige Skizze genügt, die sich zudem auf die Generalisierbarkeit der Entwicklung in den Reichsstädten beschränkt, da die erheblich bescheideneren Vorarbeiten für die landesherrlichen Städte Verallgemeinerungen bislang verbieten. Die ältere Forschung hat mit dem nicht eben glücklichen Begriff der „Zunftdemokratie" eine an sich richtige Entwicklung in den deutschen, vornehmlich den oberdeutschen Städten beschrieben, nämlich den Abbau alter, aus der Zeit der .feudalen' Stadtherrschaft überkommener, vom Patriziat dominierter Verwaltungs- und Regierungsstrukturen zugunsten des in seiner Zunft korporativ gebundenen Haus- und Familienvaters mit vollen bürgerlichen Rechten. Zeitlich fällt dieser Prozeß - einsetzend in der Mitte des 14. Jahrhunderts und endend oft erst um 1500 - eben in jene Epoche, in der sich auch die politischen Rechte der ländlichen Gemeinden entfalten und stabilisieren.

12 13 14 15

R. Hoppeler, Zürich Offnungen, 1. Bd., S. 204. Ebd., S. 359. P, Gehring, Oberschwaben Rechtsquellen, S. 78. Zur Skizzierung stütze ich mich auf meine und meiner Frau Vorarbeiten in: Schwaben, S. 1 2 2 - 1 2 7 . - Einige Wendungen, die durch eine Reformulierung auch nicht präziser und auskunftsreicher würden, sind dieser Vorlage wörtlich entnommen. - Für einen umfassenden Uberblick über die Entwicklung in Deutschland insgesamt vgl. E. Maschke, Deutsche Städte am Ausgang des Mittelalters, in : W. Rausch (Hg.), Die Stadt am Ausgang des Mittelalters (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 3), 1974, S. 1 - 4 4 .

Tafel 19 Der Bauer des Spätmittelalters gebt vermehrt auf den Markt und der Städter wird zunehmend von der Zulieferung der Bauern abhängig. Oben: Bauer und Bäuerin beklagen offensichtlich den schlechten Verkauf ihrer Erzeugnisse. Kupferstiche von Sebald Beham. Unten: Bauern bringen Gemüse und Geflügel ins Haus des Bürgers. Die Bäuerin scheint enttäuscht über den geringen erzielten Preis. Bemalte Glasscheibe nach einem Entwurf von Jörg Breu d. Ä.

Tafel 20 Das „torechte Leben" von 1411 in der Scbiveiz. Die innerschweizerischen „torechten Leute" werden auf ihrem Z u g nach Genf in die Stadt Bern eingelassen „von der kelte wegen". Der Berittene im Vordergrund führt das „Saubanner" mit dem Kolben, Symbol der Selbsthilfe. Kolorierte Zeichnung in Diepold Schillings Berner Chronik.

Die Kommunalisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft

177

V o n rund 1 3 5 0 bis 1 5 5 0 beherrscht die Z u n f t als Ordnungsprinzip das städtische politische L e b e n 1 6 ; ihr paßt sich das Patriziat an, soweit es auf die politische Verfassung der Stadt Einfluß n e h m e n will und kann. D i e Z u n f t als korporativ-genossenschaftlicher Z u s a m m e n s c h l u ß von Handwerkern und Gewerbetreibenden merkmalsgleicher Berufe erwuchs zwar aus e i n e m primär ö k o n o m i s c h e n Interesse, sie vertiefte ihren Seinsgrund freilich wie alle mittelalterlic h e n K o r p o r a t i o n e n dadurch, daß sie ihre Mitglieder auf ein g e m e i n s a m e s

Ethos

(Qualität, Preis) verpflichtete und sie durch kultisch-gesellige F o r m e n über die beruflichen Interessen hinaus verband (Zunftmahl, Krankheitsvorsorge, Sterbekassen). E n t scheidend bleibt, wenn man den Vergleich zum Land sucht, daß die Zunftmitgliedschaft, die den Besitz eines Hauses zur Voraussetzung hatte, das Bürgerrecht konstituierte, wie auf d e m Land das G e m e i n d e r e c h t an d e m Besitz eines Hofes hing, z u m i n dest a m „eigen R a u c h " . D a in der Stadt nur die Z u n f t als Korporation das R e c h t auf politische Repräsentation besaß, waren politische Z i e l e nur über die Z u n f t zu erreichen. D u r c h die Willensbildung in der Z u n f t und durch die Beteiligung an der W a h l der Zunftgenossen k o n n t e der Bürger seinen A n s p r u c h auf politische Mündigkeit verwirklichen. W o über die Z ü n f t e der Rat und das G e r i c h t besetzt wurden, mußte sich das Patriziat gleichfalls organisieren: in Gesellschaften wie in Lindau und Augsburg, in Z ü n f ten wie in Kaufbeuren, K e m p t e n und M e m m i n g e n . Besondere Privilegien k o n n t e n die patrizischen Vereinigungen nicht für sich in A n s p r u c h n e h m e n , wohl aber besaßen sie die nötigen finanziellen Mittel und die erforderliche Z e i t , u m sich den politischen und administrativen Geschäften der Stadt zu widmen. D a städtische A m t e r ehrenamtlich versehen wurden, blieben sie u m so m e h r den R e i c h e n vorbehalten, je umfassender und damit zeitaufwendiger die Geschäfte wurden. Auf diese W e i s e verstärkte sich v o r n e h m l i c h seit der zweiten Hälfte des 15. J a h r h u n d e r t s der oligarchische Charakter des städtischen Rates wieder. D i e von den Z ü n f t e n errungenen Positionen ließen sich aus G r ü n d e n der Praktikabilität n i c h t uneingeschränkt b e h a u p t e n 1 7 . Es kann freilich k e i n e m Zweifel unterliegen, daß bis z u m V o r a b e n d der R e f o r m a tion der Rat als Schlüsselorgan städtischer politischer E n t s c h e i d u n g e n vornehmlich aus den Z ü n f t e n heraus und unter Beteiligung der G e m e i n d e gewählt wurde. W o Patrizier in Ratspositionen kamen, bot der W a h l m o d u s und die damit gegebene A b h ä n gigkeit v o m Wählerwillen doch eine gewisse Sicherheit, daß die Magistrate nicht völlig ihren eigenen politischen K o n z e p t e n und allein den Interessen ihrer eigenen sozialen S c h i c h t folgten. A u c h wenn m i t der Ausbildung sogenannter G e h e i m e r Räte T e n d e n zen der Oligarchisierung und Loslösung von der G e m e i n d e gefördert wurden, so war 16

17

Als größere Überblicksdarstellung noch immer brauchbar P. Eitel, Die oberschwäbischen Reichsstädte im Zeitalter der Zunftherrschaft. Untersuchungen zu ihrer politischen und sozialen Struktur unter besonderer Berücksichtigung der Städte Lindau, Memmingen, Ravensburg und Überlingen (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 8), 1970, bes. S. 18-37. Für den europäischen Kontext jetzt A. Black, Civil Society, bes. S. 66-75. E, Naujoks, Obrigkeit und Zunftverfassung in den süddeutschen Reichsstädten, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 33 (1974), S. 61 ff.

178

Die Genieindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

doch in der bestehenden Institution des Großen Rates ein Gremium von höchster politischer Wirksamkeit vorhanden. Es trat bei besonders wichtigen Angelegenheiten zusammen - in Augsburg etwa bei der Änderung der Ratswahlordnung 1476, in Zürich bei der Disputation zwischen Zwingli und den Vertretern des Konstanzer Bischofs 1523. Die Belege zur Illustration der weitgehenden Rechte der ländlichen Gemeinden stammten aus jenem Raum, in dem die Reformation auch eine bäuerliche Bewegung gewesen ist. Sicherlich wäre es auch nicht einfach gewesen, ähnliche Quellenzitate aus dem westlichen oder mittleren Deutschland für die vorreformatorische Zeit beizubringen. Was seit den Arbeiten Karl Siegfried Baders18 hinreichend bekannt ist, nämlich der hinsichtlich seiner kommunalen Autonomie besonders hoch entwickelte oberdeutsche Raum, konnte von allen nachfolgenden Studien außerhalb des Baderschen Untersuchungsraumes bestätigt werden. Für den Saar-Mosel-Raum ließ sich nachweisen, daß die Verwaltung und Rechtspflege in viel höherem Maße älteren Traditionen des Fronhofssystems verwachsen blieb und es folglich „allein Herrenrecht (war), Schöffen und Gerichtsleute auszusuchen und zu bestellen" 19 . Der Siedlungsverband Dorf konnte unter diesen Rahmenbedingungen kein erkennbares Eigenleben entwickeln. Eine neulich für Hessen vorgelegte Untersuchung über die Dorfgemeinde beschreibt eindrucksvoll deren auf Bagatellfälle beschränkten Zuständigkeitsbereich 20 . Auf die Verkümmerung der ost- und teilweise der mitteldeutschen Gemeinde zum reinen Wirtschaftsverband schon im 14. und 15. Jahrhundert muß nicht eigens hingewiesen werden 21 . Innerhalb der deutschen ländlichen Rechtskultur sondert sich so der fränkisch-alemannische sowie der schweizerisch-österreichische Siedlungsraum im Spätmittelalter ab, indem sich hier Administration und die mit ihr verbundene Rechtspflege vom älteren herrschaftlichen Hof auf die jüngere genossenschaftliche Gemeinde verlagern, mit allen logischen Folgeerscheinungen, die dieser Wechsel hervorbringt: kommunale Satzungshoheit, kommunale Verwaltung und kommunale Rechtspflege. Auch ein vergleichender Blick auf Westeuropa unterstreicht die Sonderstellung, wo nicht Einmaligkeit des oberdeutschen Raumes. Zwar sind die Parallelen zur Landge18 19

20

21

Hauptsächlich K. S. Bader, Dorfgenossenschaft. I. Eder, Die saarländischen Weistümer - Dokumente der Territorialpolitik (Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 8), 1978, das Zitat S. 125. - Vgl. ergänzend R. Hinsberger, Die Weistümer des Klosters St. Matthias/Trier. Studien zur Entwicklung des ländlichen Rechts im frühmodernen Territorialstaat, Diss. phil. Saarbrücken 1984. H. Reyer, Die Dorfgemeinde im nördlichen Hessen. Untersuchungen zur hessischen Dorfverfassung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Schriften des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde 38), 1983. Vgl. K. Blaschke, Grundzüge und Probleme einer sächsischen Agrarverfassungsgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, germanistische Abteilung 82 (1965), S. 223-287. - H. Heibig, Gesellschaft und Wirtschaft der Mark Brandenburg im Mittelalter (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 41), 1973, S. 11 ff., 41 ff.

Die Kommunalisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft

179

meinde in Frankreich beachtlich, denn auch sie nimmt teil „à la législation, à la police, à l'administration" 22 , doch fehlt ihr offensichtlich die juridische Kompetenz, die wesentlich zur oberdeutschen Landgemeinde gehört und damit deren eminent politischen Charakter unterstreicht. Noch deutlicher ist der Abstand zu England, wo sich in Form des manor der mittelalterliche Typus der Organisation von Landwirtschaft und agrarischer Gesellschaft erhalten hat, jedenfalls „das englische D o r f . . . rein formal nie eine Gemeinde in dem Sinne (war), wie dies die deutschen Dörfer ... gewesen sind" 23 . Für die Stadt gilt diese Beobachtung nicht im gleichen Umfang, wie der Städtereichtum im Norden und vornehmlich im Nordwesten des Reiches (Niederlande) beweist. Dennoch läßt sich nicht bestreiten, daß das Netz der Städte in Franken, Schwaben, im Elsaß und in der Schweiz dichter ist, vor allem aber die Autonomie der Stadt hier weiter reicht - die Reichsstädte belegen das. Im Blick auf Europa insgesamt wird man nicht bestreiten können, daß das Reich - neben Italien - eine städtische Kultur hervorgebracht hat, die hinsichtlich ihrer politischen Komponenten wegen der weitreichenden Autonomie der zünftisch fundierten Gemeinde einmalig ist 24 . Der umfassende Kommunalisierungsprozeß in der bäuerlichen und bürgerlichen Gesellschaft Oberdeutschlands hat schließlich auch auf die Kirche übergegriffen.

1.3

Tendenzen zur Kommunalisierung der Kirche

Bereits Hans Erich Feine hat darauf hingewiesen, „daß in den Landgemeinden der Innerschweiz erst im 15.Jahrhundert nach der politischen Emanzipation die kirchliche begann. Damals setzte die Entwicklung ein, die in den zwanziger Jahren des 16-Jahrhunderts ihrem Höhepunkt zustrebte und die Schweiz zum .klassischen Land der Pfarrwahlrechte und der Gemeindepatronate' machte" 1 . Hier wird ein Zusammenhang zwischen politischer und kirchlicher „Emanzipation" unterstellt, der - mit einem zunächst räumlich auf die Schweiz beschränkten Geltungsanspruch - schließlich in der Reformationszeit zum Abschluß kommt. Karl Siegfried Bader hat etwa gleichzeitig festgestellt, daß „ein Dorf ohne eigene Pfarrkirche ... eben doch kein richtiges, voll zu nehmendes Dorf" war, und das mit den Bemühungen der Dorfgenossen belegt, „zunächst einmal in den Besitz einer Kaplanei oder Vikarie zu gelangen, die ihnen wenigstens eine Kapelle beschert. Mit Recht ist festgestellt worden, daß das mittelalterliche Dorf mehr an der eigenen, nur ihm gehörigen Kapelle hing als an den entfernten, unpersönlichen Pfarrkirchen eines größeren Pfarrverbandes" 2 . Zwei Motivationslinien

22

23

24

Das Zitat nach R. Mousnier, Les institutions de la France sous la monarchie absolue, Bd. 1, 1974, S. 428. C. S, L. Davies, Die bäuerliche Gemeinde in England (1400-1800), in W. Schulze, Aufstände, S.41-59; das Zitat ebd., S. 52. Vgl. die Grundkonzeption von A. Black, Civil Society.

' So die Einschätzung von D. Kurze, Pfarrerwahlen, S. 308. K. S. Bader, Dorfgenossenschaft, S. 198, 200.

2

180

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

kreuzen sich in einem Prozeß, den man als Kommunalisierung oder Lokalisierung der Kirche bezeichnen könnte - eine Anpassung der Kirche an die bestehende politische Kultur der ländlichen Gesellschaft und ein Ineinssetzen des politischen und des kirchlichen Verbandes. Diese Tendenzen sind vor allem in Oberdeutschland nachzuweisen und hier auch besonders erfolgreich. Dietrich Kurze hat in diesem Prozeß drei Niveaus unterschieden: das Recht der Gemeinde, sich über den Pfarrer oder Seelsorger beschweren und um seine Abberufung bitten zu dürfen; das Recht der Gemeinde, bei der Besetzung einer Stelle durch den Kirch- bzw. Patronatsherm gehört zu werden; das Recht der Gemeinde, den Pfarrer frei zu wählen3. Das Beschwerderecht der Gemeinde war sehr weit verbreitet und in der Einrichtung der Kirchenpfleger gewissermaßen institutionalisiert. Bei ihnen handelt es sich meist um aus der Gemeinde gewählte Vertreter zur Verwaltung des Kirchenvermögens, der Kirchen„fabrik", des Guts des „Heiligen". Pfarrer und Heiligenpfleger wachten über das sittliche und religiöse Leben der Gemeindemitglieder, aber mit wachsendem kommunalem Selbstbewußtsein wachten Kirchenpfleger und Gemeinde auch über das sittliche und religiöse Leben des Pfarrers4. In aller Regel wurden die Kirchenpfleger zeitlich befristet gewählt und waren der Gemeinde gegenüber rechenschaftspflichtig. Häufig finden sich Wendungen, wie sie etwa in den Statuten der Südtiroler Gemeinde Kaltem gebraucht werden: „Item, wenn ain gemain ain kirchprabst setz, wenn sein jar aus ist, so sol er verraiten den tschiniken [Gemeindevorsteher], gesworn und der ganz gemain und anders niemant, bei ainer peen X Pfund" 5 . Von einer in Oberdeutschland generellen Verbreitung der Institution kann ausgegangen werden6. Insofern sich die Wahl der Kirchpröpste zunehmend durchsetzte und ihre Kontrollfunktion über die Kirche vor Ort sich weitete, bezeugen sie auf einer gewissermaßen untersten Stufe den vordringenden Prozeß der Kommunalisierung und Lokalisierung der Kirche. Die vielfältigen Formen der Beteiligung der Gemeinde bei der Besetzung einer Seelsorgerstelle sind noch nicht hinreichend erforscht 7 . Das die bäuerliche Reformation einleitende Beispiel der Gemeinde Wendelstein ist freilich kein Einzelfall. Wenn die Tiroler Gemeinde Villanders ausgangs des 15. Jahrhunderts in ihren Statuten festhalten kann, „wer chirchherre ist ze der pfarr auf Vilanders, wil er ainen vicari setzen,

3 4 5 6

7

D, Kurze, Pfarrerwahlen, S. 315. - Die Ausführungen gelten für das Spätmittelalter. Vor allem betont von K. S. Bader, Dorfgenossenschaft, S. 210. I. v. lingerie-J. Egger, Die Tirolischen Weistümer IV, S. 314. Belege bei D. Kurze, Pfarrerwahlen, S. 273, 302 u.a. sowie K. S. Bader, Dorfgenossenschaft, S. 2 0 7 - 2 1 1 . Wie kompliziert die Dinge im einzelnen liegen (ohne sie hier faktographisch auszubreiten), belegt das Beispiel der Gemeinde Baltringen, die bekanntermaßen im Bauernkrieg zu einigem Ruhm gekommen ist. Vgl. dazu die in ihrer Interpretation divergierenden Auffassungen von D. Kurze, Pfarrerwahlen, S. 2 8 0 und H. Tüchle, Kirchliche Verhältnisse im Laupheimer Raum, in: Laupheim 7 7 8 - 1 9 7 8 , 1979, S. 81.

Die Kommunalisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft

181

den sol er setzen mit der gemain willen und wort, und ob der vicari der gemain nit gemei, so sol er ainen anderen setzen" 8 , so kommt darin ein Sachverhalt zum Ausdruck, der von der Forschung auch anderwärts festgestellt werden konnte 9 . Hier wird eine Tendenz erkennbar, die besonders in den Pfarrerwahlen verdeutlicht werden kann, die als höchste Form kommunaler Einflußnahme auf die Kirche auch eine besondere Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen. „Das Wichtigste, was die Pfarrwahlgeschichte der beiden Perioden" des Hoch- und des Spätmittelalters „unterscheidet, ist die Ausbreitung kommunaler Mitbestimmung auf Landschaften, die das Pfarrwahlrecht ehedem nicht kannten oder nicht durchzusetzen vermocht hatten, auf Dithmarschen, auf den schwäbisch-alemannischen Raum in Südwestdeutschland und auf die Schweizer Urkantone sowie die österreichischen Alpengebiete" 1 0 . Sieht man von Dithmarschen ab, dann wird hier ein Raum abgesteckt, der faktisch mit dem Verbreitungsgebiet der Gemeindereformation identisch ist. V o m Oberrhein bis nach Tirol sind Pfarrerwahlen belegt, die die Gemeinden in der Regel im 15. Jahrhundert durchsetzen konnten. Das Dorfrecht des nahe Nördlingen gelegenen Ehringen hält fest, „daz ein gemaind zue Ehringen macht hat einen pfarrer zu wöhlen ... und wo ein pfarrer einer gemaind nicht gefällig, mag sie immer ein viertheil jähr das urlaub verkünden" 1 1 ; die Graubündner Gemeinde Davos stellt um 1500 fest, „item des ersten so hand wir ain frye pfar kilchen, die lichent wir ainem pfarrer alle jar" 1 2 . Mit der hier, vor allem aber auch in der Innerschweiz zu beobachtenden Praxis, „daß die Gemeinden ihren Geistlichen nicht nur beriefen, sondern auch ebenso wieder absetzten, ja sogar eine jährliche Wieder- oder Neuwahl vornahm e n " 1 3 , war das Amt des Seelsorgers dem des Ammanns zumindest im Modus der Bestellung und Kontrolle sehr nahegerückt. Die Gemeinden erwarben das Patronatsoder Präsentationsrecht entweder durch Kauf oder durch dos, fundus und aedificatio einer eigenen Kirche 1 4 . Ersteres bezeugt das Interesse, über die „Kirche im Dorf" verfügen zu können, letzteres die Absicht, die „Kirche im Dorf" haben zu wollen und nicht außerhalb. In beiden Fällen waren bedeutende finanzielle Mittel nötig, über die vermutlich nur wenige Gemeinden verfügten, in beiden Fällen fielen aber auch hohe politische Kosten' an, weil sich die Patronatsherren immer energisch gegen das Vordringen der gemeindlichen Rechte wehrten und ebenso gegen die Abtrennung von etwaigen Filialen von der Mutterpfarrei - denn allemal waren damit für die alten Pfarrherren finanzielle Einbußen verbunden. Daß mit einem enger geknüpften Netz von Pfarrkirchen auch die Seelsorge verbessert wurde, war dagegen offensichtlich ein Argument, das bei der etablierten Kirche wenig verfing. 8 9

10 11 12

I. v. Zingerle-J. Egger; Die Tirolischen Weistümer IV, S. 251. Vgl. die wenigen Belege bei K. S. Bader, Dorfgenossenschaft, S. 202 ff., und D. Kurze, wahlen, passim. D. Kurze, Pfarrerwahlen, S. 323. Das Zitat in der erweiterten Fassung ebd., S. 280. Ebd., S. 310.

13

Ebd., S. 319.

14

Die nötigen Einzelheiten ebd.; zusammenfassend S. 323 und K. S. Bader, S. 198 f.

Pfarrer-

Dorfgenossenschaft,

182

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

Es ist wichtig, den Eindruck nicht aufkommen zu lassen, als hätte es in irgendeiner größeren Region Oberdeutschlands das Pfarrerwahlrecht verbreiteter gegeben. Gemeindliche Patronats- und Präsentationsrechte waren und blieben die Ausnahme. Für Vorarlberg, für das genauere Zahlen vorliegen, konnte errechnet werden, daß unter Einbezug der noch im 16. und 17. Jahrhundert von den Gemeinden erworbenen Patronate lediglich 20% der Gemeinden (und das auch nur zeitweise) über das Présentations· und Nominationsrecht in den Pfarreien verfügten 15 . Aus all dem läßt sich immerhin die wichtige Einsicht gewinnen, daß die Gemeinden auf dem besten Weg waren, ihre Rechte auf die Kirche energisch auszuweiten, aber auch weit davon entfernt, dieses Ziel auch nur annähernd erreicht zu haben. Dietrich Kurze als bester Kenner der pfarrlichen Verhältnisse des Mittelalters hat in diesem Zusammenhang ein generalisierendes Urteil gefällt, das geeignet ist, das Konzept der Gemeindereformation zu untermauern : „Richtig ist, daß alle genannten Erscheinungen denselben Geist gemeindlicher Selbstverwaltung atmen, daß dieser Geist am stärksten dort war, wo diese Rechte zusammen auftraten, und daß eben dort auch der Drang zur Pfarrerwahl am mächtigsten war"16. Darüber hinaus bleibt es verführerisch - was angedeutet, aber im Moment nicht weiter verfolgt werden soll - , darüber zu spekulieren, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen den Beobachtungen besteht, daß die Innerschweiz einerseits die größte Dichte von Gemeindepatronaten aufzuweisen hat, andererseits an der Reformation Zwingiis vergleichsweise wenig Interesse zeigte. Wirft man abschließend noch einen Blick auf die Pfarrerwahlen in den Städten, so zeigt sich, daß bis an die Schwelle der Reformation kaum 100 Städte das Pfarrerwahlrecht durchsetzen konnten 17 . Das scheint nicht viel angesichts einer geschätzten Zahl von 3000 Städten im Reich um 1500. Freilich muß man für die Stadt die zahllosen Stiftungen von Zünften, Bruderschaften, Patriziern und Kaufmannsfamilien hinzuzählen, welche die Seelsorge im Sinne einer Lokalisierung der Kirche erheblich verbesserten. Das mag ein in diesem Zusammenhang wichtiges Urteil von Dietrich Kurze abstützen, der aus seinen Untersuchungen das Fazit zieht, daß die „Übereinstimmungen zeigen, daß die Grundzüge der Pfarrerwahlgeschichte in Stadt und Land im wesentlichen die gleichen sind" 18 . Und diese Grundzüge münden nach dem Urteil von Karl Siegfried Bader in die Reformation : „Die Reformation hat, mit typischen Unterschieden nach den Bekenntnissen, lediglich als grundlegende Rechtsform anerkannt, was aus Verfassung und Volksfrömmigkeit des Spätmittelalters, überwiegend als wilder Zweig, längst am Baum der Kirche emporsproßte" 19 . Eine vergleichende orientierende Umschau in Westeuropa zeigt, daß die mittlere und höchste Stufe gemeindlicher Verfügung über die Kirche weder in Frankreich 15

Ρ Blickle, Landschaften, S. 314. D. Kurze, Pfarrerwahlen, S. 315. 17 Ebd., S. 340. 18 Ebd., S. 489 f. " K. S. Bader, Dorfgenossenschaft, S. 183.

16

Gemeinde und Außenwelt

183

noch in England erreicht wurde. Lediglich die Institution der Kirchenpfleger hat sich auch in Westeuropa ausgebildet und damit die niederste Form der Mitwirkung der Gemeinde am religiösen Leben. Solche Beobachtungen profilieren die Gemeinde in Deutschland, insbesondere in Oberdeutschland, in ganz besonderer Weise. Denn es ist nach neuesten, bislang allerdings noch auf Spanien begrenzten, vermutlich jedoch generalisierbaren Forschungen nicht zu bestreiten, daß es offensichtlich ein wesentliches Charakteristikum der römischen Kirche im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit ist, daß sich die Gläubigen um eine Lokalisierung des Numinosen bemühen, was die vielen Kapellen, die als kultische Zentren außerhalb der Pfarrkirchen und der Klöster stehen, zum Ausdruck bringen. Immerhin kommen auf die für Kastilien untersuchten rund 500 Dörfer und Städte mehr als 9 0 0 Kapellen 2 0 . Das freilich ist nur ein besonders signifikanter Aspekt des generellen Phänomens, daß innerhalb der katholischen Kirche die Gläubigen neben dem Gebrauch universaler Riten und Praktiken (Messe, Glaubensbekenntnis) auf die Lokalisierung des Heiligen drängten 2 1 .

2.

Gemeinde und Außenwelt

Naturgemäß war die Gemeinde kein isolierter politischer Verband. Ihre schiere Existenz wie ihre expansive Entwicklung hatten gleichermaßen Auswirkungen auf die Fürstentümer, Grafschaften, Hochstifte, Stifte und Stadtstaaten, denen sie integriert waren. Die neuen Organisationsformen von Wirtschaft, Gesellschaft und Recht führten naheliegenderweise zu Reibungen, Differenzen, wo nicht Zusammenstößen mit den feudalen Herrschaften (1), die langfristig und dauerhaft nur gedämpft oder beseitigt werden konnten, wo es gelang, die politischen Aspirationen der ländlichen und städtischen Gesellschaft im territorialen Staatsverband institutionell aufzunehmen (2).

2.1

Gemeinde und

Herrschaft

Gemeinde und Obrigkeit standen in einem eigentümlichen, freilich erklärlichen Spannungsverhältnis. Die Gemeinde mit ihren horizontalen Strukturen der Gleichwertigkeit aller Gemeindemitglieder konkurrierte mit Herrschaft, die im Spätmittelalter hauptsächlich als feudale Herrschaft und damit als vertikale Struktur in Erscheinung trat. Auch der Stadtstaat nördlich der Alpen folgt in der Art, wie er sein Territorium 20 21

IV. A. Christian, Religion in Spain, S. 71. Für Spanien überzeugend W. A. Christian, Religion in Spain, 1981. Ders., Apparitions, S. 12 ff., 204 ff. - Für England, allerdings mit weitergehendem Geltungsanspruch K. Thomas, Decline of Magic, S. 28. - Für die Schweiz hat neuerdings R. Sablonier, Dorf im Ubergang, S. 736, in m. E. treffender Weise von der „Verdörflichung der Kirche" gesprochen.

184

Τ 20

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

verwaltet, durchaus diesen mittelalterlichen Traditionen. Das erklärt, weshalb einerseits die Gemeinde in ihrer Existenz nie ganz ungefährdet war, andererseits ihre Suspendierung auch nicht ratsam schien, nachdem sie sich einmal konstituiert hatte. Einprägsame Ereignisse in der Schweiz können das illustrieren: 1477 hatten jüngere Leute vornehmlich innerschweizerischer Orte gegen den Willen ihrer Obrigkeiten einen Kriegszug nach Genf beschlossen, um gewaltsam die von Genf noch nicht bezahlte Brandschatzung aus den Burgunderkriegen einzufordern 1 . Als „torechte Leute", wie sie sich selbst ironisierend nannten, rückten sie, annähernd 1800 Mann stark, kriegsmäßig unter einem Banner mit Kolben und Eber aus, was dem gesamten Unternehmen die Bezeichnung „das torechte Leben" oder „Saubannerzug" eintrug. Das Unternehmen verlief glimpflich, das heißt schließlich ohne militärische Konfrontation, doch beunruhigte es die Obrigkeiten der eidgenössischen Orte zutiefst. Die Antwort lieferte das Stanser Verkommnis von 1481. Mit ihm versicherten sich die eidgenössischen Orte wechselseitiger Hilfe bei „mutwilliger gwalt" und verboten künftig „sunderbare gefarliche gemeinden, samlungen oder anträg", soweit sie „äne willen und erleben" der Obrigkeiten stattfanden. Offensichtlich machte es allerdings in den bäuerlichen Länderorten der Innerschweiz größte Schwierigkeiten, diese Bestimmungen in der Praxis durchzusetzen. Jedenfalls beantragte Schwyz 1489 auf der Tagsatzung der eidgenössischen Orte, daß der Artikel, „so in der verkomniß von Stans stat, dz sich die gemeinden nit sollen sammeln", gestrichen werde; denn es sei durchaus ein dringliches Erfordernis, „das sich sollich sunderbare gemeinden besamlent", zumal es „bishar der Eidgnoschaft nit ubel erschossen" 2 . Hier manifestiert sich ein fundamentaler Konflikt: Inwieweit waren Gemeinden, die ja durchweg immer auch eine Obrigkeit hatten, befugt, eigenmächtig Beschlüsse zu fassen? Anders und ins Prinzipielle gefragt: lagen die Prioritäten bei politischen Entscheidungen allgemeiner Art letztlich in der Kompetenz der Gemeinde oder der Obrigkeit? Zu den auffälligeren Erscheinungen des Spätmittelalters gehört der Widerstand der niederen Stände, der Bauern und Bürger. Marc Bloch hat die Bedeutung dieses Sachverhalts damit gewürdigt, daß er die Bauernrevolte im altständischen System dem Arbeiterstreik in den Industriegesellschaften parallelisiert 3 . Diese summarische, für Europa insgesamt fraglos erhellende Kurzformel bedarf für das Reich einiger Präzisierungen 4 . Vier Momente verdienen es, unter einem auf die Gemeinde gerichteten Blickwinkel hervorgehoben zu werden. Erstens springt eine zeitliche Sequenz in die Au1

2

3 4

E. Walder, Das torechte Leben von 1477 in der bernischen Politik 1477 bis 1481, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 45 (1983), S. 74-134; die Zitate S. 113 ff. E. Walder, Zu den Bestimmungen des Stanser Verkommnisses von 1481 über verbotene Versammlungen und Zusammenschlüsse in der Eidgenossenschaft, in: Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65.Geburtstag von Ulrich im Hof, 1982, S. 80-94, die Zitate ebd., S. 92 f. M. Bloch, Caractères originaux de l'histoire rurale française, Bd. 1, 1952, S. 175. Hier werden lediglich ältere Forschungen meiner Mitarbeiter und eigene Studien zusammengefaßt. Auf Einzelbelege wird (Zitate ausgenommen) verzichtet. Vgl. P. Blickte, P. Bierbrauer, R.

185

Gemeinde und Außenwelt

Aufstandsgebiet

Gebiet mit mehreren Aufständen

Frankfurt

Worms 1431

Nürnberg

Untergrombachs



Donau

Schlettstadt S. 1 4 9 3 , ;

M j ^ p

smxm^xm^.

Steiermark

1515 'm-.

ÍKIagernurtJ^^

1

m ^kriin ^ ;1503/13/15';

Karte 2

Bauernaufstände

im spätmittelalterlichen

Reich

gen: Es gibt - beispielsweise - keine Bauernrevolte vor der Ausbildung bäuerlicher Gemeinden. Zweitens fallen räumliche Konkordanzen auf: Von den gesicherten Aufständen und Unruhen - approximativ handelt es sich um 60 - findet nur eine nicht im Süden des Alten Reiches statt; und etwa 50 liegen innerhalb jenes geographischen Raumes, in dem die Gemeindereformation stattfindet. Drittens läßt sich unschwer eine aufsteigende Linie der Unruhen belegen: Gibt es ausgangs des 15.Jahrhunderts innerhalb einer Generation (von 25 Jahren) einen Aufstand, so steigt die Zahl im Zeitraum von 1500 bis 1525 auf 18. Viertens zeigt sich deutlich, daß man es im spätmittelalterlichen Reich keinesfalls überwiegend mit separierten bäuerlichen und bürgerli-

Blickle, C. Ulbrich, Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, 1980. - P. Blickle, Bäuerliche Erhebungen im spätmittelalterlichen Reich, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 27 (1979), S. 208-231. - Die auf Österreich, die Schweiz und Süddeutschland sich beziehenden Beiträge in W. Schulze, Aufstände.

186

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

chen Widerstandsaktionen zu tun hat, wiewohl es auch sie gibt, im Gegenteil. Das verbreitete Erscheinungsbild ist der gemeinsame Aufstand von Stadt und Land, in Europa wie im Reich: Der englische Bauernkrieg von 1381 und die Kett's Rebellion von 1450 verdanken ihren Charakter auch und nicht zuletzt der Beteiligung der Städte wie der Appenzeller Krieg des beginnenden 15.Jahrhunderts, der Salzburger Aufstand von 1462 oder der Arme Konrad in Württemberg von 1514. Aus diesen Beobachtungen folgt, daß es eine räumliche, zeitliche und sachliche Konkordanz von Gemeinde und Widerstand gibt. Der Widerstand ist gewissermaßen die Fortsetzung der Emanzipation der Gemeinde mit anderen Mitteln. 1401 vereinigen sich die vier Gemeinden im Land Appenzell mit der Stadt St. Gallen zu einem Bündnis, als dessen Folge die adeligen Burgen im Rheintal zerstört, Angriffe nach Tirol und ins Allgäu vorgetragen werden und schließlich der Bund ob dem See als Schwestergründung zur schweizerischen Eidgenossenschaft entsteht. 1462 verbünden sich (bäuerliche) Landgerichte und Märkte im Hochstift Salzburg gegen den Erzbischof und erreichen auf diese Weise schließlich ihre zumindest temporäre Eingliederung in die Salzburger Landstände. 1496 schließen sich alle Dörfer des Klosters Ochsenhausen zusammen, um ihre Interessen durchzusetzen, was schließlich 1502 zum militärischen Eingreifen des Schwäbischen Bundes führt. Solche Beobachtungen zwingen dazu, der Gemeinde einen hohen Stellenwert im Spätmittelalter einzuräumen. Durch seine gemeindliche Organisation -

und nur

durch sie - lernt der Bauer und der Bürger das Neinsagen, den Widerspruch, das Infragestellen herrschaftlicher Forderungen und obrigkeitlicher Ansprüche. Der Widerspruch der Gläubigen gegen die Kirche in Rom wird im Widerspruch der Untertanen gegen die Herren geprobt. Seitdem die jüngere Volkskunde die unter Intellektuellen emphatisch aufgenommene Interpretationsfigur vom Dorf als einer „Not- und Terrorgemeinschaft" in Umlauf gesetzt hat 5 , muß jeder Versuch, der Gemeinde positive Werte zuzuordnen, damit rechnen, auf dem Sperrmüll wissenschaftlicher Nierentische und intellektueller Plastikstühle zu landen. Die Brauchbarkeit und Verwertbarkeit, wo nicht Ästhetik eines positiven Gemeindemodells muß nachhaltiger belegt und begründet werden, als dies vielleicht früher noch der Fall war. Es wäre ein fundamentales Mißverständnis, würde angenommen, die auf den vorangegangenen Seiten porträtierte Gemeinde wäre ohne innere Spannungen gewesen. Aber ein fundamentales Mißverständnis ist es sicherlich, die auf schmaler empirischer Basis der jüngeren Geschichte Württembergs elaborierten negativen Vorstellungen von Gemeinde auf die spätmittelalterlichen Verhältnisse zu übertragen. In jüngster Zeit gilt es - Zeichen für die Kurzlebigkeit wissenschaftli-

3

A. Ilten - U. Jeggle, Leben auf dem Dorf. Zur Sozialgeschichte des Dorfes und Sozialpsychologie seiner Bewohner, 1978. - Ergänzend für Westeuropa K. Thomas, Decline of Magic, S. 527.

Gemeinde und Außenwelt

187

eher Moden - wieder als chic, „Heimat" als Dorf zu buchstabieren und zu schreiben, und zwar in goldenen Lettern. Was läßt sich für das Spätmittelalter sagen 6 ? Selbstverständlich kennt die Gemeinde, wie jede Form menschlicher Sozialisation, Spannungen, Rivalitäten und Konflikte. Für das Spätmittelalter jedoch ist der Tatbestand mit Nachdruck hervorzuheben, daß die solidarisierenden Effekte des Verbandes Gemeinde höher sind als die sprengenden divergierender sozialer Gruppen. Die, soweit sich sehen läßt, einzige Quelle der Vorreformationszeit, wo Bauern als einzelne ihre Nöte und Sorgen beschreiben, der schon erwähnte Kemptener Beschwerderodel mit seinen 335 Einzelklagen, läßt nicht die Spur eines Verdachtes aufkommen, daß innerdörfliche soziale Spannungen bestanden hätten. Generell sei auf den Umstand verwiesen, daß es das Denkvermögen der Menschen des Spätmittelalters überstiegen hätte, einen Gemeindebeschluß durch eigenmächtiges Handeln zu torpedieren. Im 17. und 18.Jahrhundert hingegen ist es durchaus möglich, daß sich Teilgemeinden in den Dörfern bilden, gewissermaßen Interessengemeinschaften in Form von „Syndikaten", die ihre Ziele auf prozessualem Weg bis vor die höchsten Reichsgerichte tragen 7 . Man weiß aus den wenigen besser dokumentierten Einzelfällen, daß es der Gemeinde oft schwerfiel, ihren Ammann etwa zum Beitritt zu einem Bündnis mit Nachbargemeinden zu bewegen, wie es umgekehrt Fälle gibt, in denen der Ammann selbst seine Gemeinde überzeugen und überreden mußte, mit anderen Gemeinden gemeinsame Sache zu machen 8 ; immer jedoch wurde der Gemeindebeschluß exekutiert, und wer sich gegen ihn zu stellen wagte, mit dem gemeindlichen „Bann" bedroht - das bedeutete Ausschluß von den gemeindlichen Einrichtungen Allmende, Badhaus, Brunnen und so weiter. Erinnert man daran, daß der Ammann auch herrschaftlicher Vertreter im Dorf war, bringen die gemeinsamen Aktionen von Gemeinden und ihren Amtleuten die Integrationskraft der Gemeinde zum Ausdruck. Das läßt sich damit bestätigen, daß die verschiedenen sozialen Gruppen im Dorf angemessen bei der Vergabe dörflicher Ämter beteiligt waren. In schwäbischen Dörfern etwa war es üblich, das Amt der Vierer so zu besetzen, daß zwei aus der Bauernschaft und zwei aus der Seidnerschaft gewählt wurden 9 . Auch für den bayerisch-österreichischen Rechtsbereich kann als gesichert gelten, daß von einer Übereinstimmung von A m t und Besitz keine Rede sein kann, vielmehr die Amtsinhaber vergleichsweise getreu die dörfliche Sozialstruktur spiegeln 10 . In der Forschung ist die Auffassung von einer Prädominanz der innerdörflichen sozialen Spannungen gegenüber den integrierenden Fähigkeiten des Verbandes

6

7

8 9 10

Prinzipiell sei auf Karl Siegfried Baders Arbeiten verwiesen, der als bester Kenner des spätmittelalterlichen Dorfes keineswegs die „Konfliktgemeinschaft" in den Vordergrund rückt. Wegweisend zu dieser Frage: W. Troßbach, Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 1648-1806: Soziale Bewegung und politische Erfahrung, Diss. phil. Bochum 1983. Den., Bauernbewegungen in deutschen Kleinterritorien zwischen 1648 und 1789, in: W. Schulze, Aufstände, S. 233-260, bes. 2 50 f. Vgl. als Beispiel etwa J. Häne, Klosterbruch zu Rorschach, S. 73,86, 97. Vgl. dazu P. Blickle - Renate Blickle, Schwaben, S. 96. Renate Blickle-Littwin, Besitz und Amt, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 40 (1977), S. 278-290.

188

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

Gemeinde für die Vorreformationszeit allein von David Sabean vertreten worden 11 , allerdings mit der äußerst schmalen empirischen Absicherung von zwei, zudem noch umstrittenen Quellenbelegen 12 . Nichts erlaubt es bis heute, der spätmittelalterlichen Gemeinde ihre integrierende und solidarisierende Funktion zu bestreiten. Das ist um so einsichtiger, als die Gemeinde die Institution war, in deren Gehäuse sich individuelle, persönliche Rechte entfalten konnten 13 . Die Gemeinde lieferte den nötigen institutionellen Rahmen mit dem erforderlichen politischen Gewicht auch gegenüber der Herrschaft, um der Obrigkeit bisher von ihr besessene Rechte abzukaufen, abzutrotzen oder zu entfremden. Schon Konrad Beyerle hat 1919 in der Weimarer Nationalversammlung darauf hingewiesen, daß es „positive geschichtliche Vorbilder der neuzeitlichen Grundrechte" gäbe, und er hat sie mit seinem Schüler Robert von Keller in den mittelalterlichen Stadtfreiheiten gesucht 14 . Insonderheit sind es danach die „Freiheitsgarantien", die zum Grundbestand der Rechte der Bürger gehören und sich im korporativ-genossenschaftlichen Verband der Stadt entfalten können, wie es auch in der Redeweise von der „Stadtluft", die „frei mache", zum Ausdruck kommt. Der Merksatz „Stadtluft macht frei" erinnert freilich nur an eine in den Städten besonders früh einsetzende und rasch zum Erfolg kommende Entwicklung, die es fraglos auch auf dem Land gegeben hat. Denn die logische Umkehrung des Satzes müßte heißen „Landluft macht eigen", was in dieser apodiktischen Form zweifellos falsch wäre. Es läßt sich nämlich zeigen, daß sich im Spätmittelalter gerade im Süden des Reiches ein Prozeß anbahnt, der schließlich in der Reformationszeit in der theologisch begründeten Forderung nach Aufhebung der Leibeigenschaft seinen logischen Abschluß findet. Stückweise erobert sich die ländliche Gesellschaft die persönliche Freiheit, ohne sie ganz zu erreichen, aber immerhin erzielt sie - zugegebenermaßen unter wiederholten Rückschlägen - bemerkenswerte Positionsgewinne, die es erlauben, die Divergenz zur Stadt eher als graduell denn prinzipiell einzustufen. Offensichtlich bildet nicht die „Stadt" die Voraussetzung der persönlichen Freiheit, sondern die „Stadtgemeinde", woraus folgt, daß dort, wo Gemeinden hoch entwickelt sind - also auch auf dem Land - , Möglichkeiten der Emanzipation aus der älteren Unfreiheit, Eigenschaft und Leibeigenschaft gegeben waren.

11

D. W. Sabean, Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkriegs. Eine Studie der sozialen Verhältnisse im südlichen Oberschwaben in den Jahren vor 1525 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 26), 1972. - Der Ansatz verallgemeinert in: Ders., The Communal Basis of Pre-1800 Peasant Uprisings in Western Europe, in: Comparative Politics (April 1976), S. 3 5 5 - 3 6 4 .

12

H.J. Cohn, Rezension in English Historical Review 92 (1977), S. 8 5 5 - 8 5 8 . Das Problem mit den damit verbundenen Implikationen behandelt P. Bierbrauer, Freiheitsvorstellungen in der ländlichen Gesellschaft, Diss. phil. Saarbrücken 1984. R. v. Keller, Freiheitsgarantien für Personen und Eigentum im Mittelalter, 1933; vgl. dazu auch das Vorwort S. 7 mit den entsprechenden Hinweisen von K. Beyerle.

13

14

Gemeinde und Außenwelt

189

In der chronikalischen Überlieferung der Schweiz liest sich die Desintegration des Landes Appenzell aus der Klostergrundherrschaft von St. Gallen und seine Emanzipation zum schließlich achten Ort der schweizerischen Eidgenossenschaft so: E h e die Appenzeller „zü d h e i m O r t der Eidgenossen kernen, dü was ein abt zii sant Gallen, der meint, wenn zü Appenzell einer sturbi, so sölt er j n n erben. Das fügt sich, das ein arm m a n starb, den begrüben die Appenzeller jn sim besten kleid. D e r abt für zü und twang sy, das sy den m a n müsten wider us graben und j m m das kleid g e n " ; aufgrund der leibherrlichen A n s p r ü c h e des Klosters auf die Verlassenschaft eines E i g e n m a n n e s seien „der abt und die Appenzeller . . . stössig" g e w o r d e n 1 5 . In der Interpretation des Chronisten stellen sich die Ereignisse in Appenzell zu Beginn des 15.Jahrhunderts als „Freiheitskrieg" dar. R i c h t i g daran ist, daß unbeschadet notwendiger K o r r e k t u r e n an einer derart monokausalen Erklärung in der Tat Freiheitsvorstellungen in h o h e m Maße der Widerstandsbewegung der Appenzeller R i c h t u n g und Ziel gaben. D e n n Ausgangspunkt der bäuerlichen Forderungen war die Freizügigkeit, die m i t d e m Herrschaftstitel Leibherrschaft verweigert werden konnte. D i e Appenzeller begründeten ihren Anspruch auf Freizügigkeit d e m A b t gegenüber m i t d e m A r g u m e n t , sie hätten freien Z u g in die Stadt St. Gallen. Das war sicher richtig, da St. Gallen ursprünglich z u m stiftischen Territorium gehörte. Mittlerweile war es allerdings Reichsstadt geworden, und daraus schlossen die Appenzeller zunächst auf Freizügigkeit in alle R e i c h s städte und schließlich auf generelle Freizügigkeit, eine zweifellos gewaltsame bäuerliche Logik. 1 4 5 1 ging das K l o s t e r St. Gallen ein Burg- und Landrecht m i t vier eidgenössischen O r t e n ein, hatte aber offensichtlich Schwierigkeiten, den erstaunlicherweise notwendigen K o n s e n s seiner Bauern auf der Landschaft zu erhalten. D e r e n Z u s t i m m u n g erkaufte sich das K l o s t e r schließlich dadurch, daß es „hinfür ze ewigen zyten die g e rechtikait des gwandfalls und der erbschafft oder des lasses, so wir und unser gotzhus zu den obgenannten unsern gotzhuslüten gehept hand, gantz tod und ab sin s o l " 1 6 . Das K l o s t e r begnügt sich künftig m i t d e m besten S t ü c k V i e h i m Stall (Besthaupt), woraus folgt, daß „ain jeglich der vorgeschriben gotzhuslüt, m a n n oder frow, sin ligend und varend gut ordnen, schaffen, geben und vermachen [mag] ..., wie und w e m m es will" 1 7 . E i n e der wesentlichen Rechtsfolgen der Unfreiheit und Leibeigenschaft, n i c h t vermögensfähig zu sein, wird hier beseitigt. D e r Bauer kann den L o h n seiner Arbeit vererben. I m U m k r e i s der Ereignisse von 1 4 8 9 auf der St. Galler Landschaft, die als R o r s c h a c h e r K l o s t e r b r u c h b e k a n n t geworden sind, werden militärische A k t i o n e n gegen das Kloster m i t d e m A r g u m e n t gefordert, nur so „fry gotzhuslüt b e l i b e n " zu k ö n nen „und aller beschwerden ledig" zu werden. D i e Freiheitsvorstellung verknüpft sich schließlich

mit d e m

Traum vom

republikanischen

Staatswesen: „Wir wend

der

Aidgnossen nütz, weder zu vôgten, herren oder ze h o p l ü t e n ; wir wend hie herren sin

15

16 17

H. G. Wirz (Hg.), Das Weiße Buch von Samen (Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft Abt. III, Bd. 1), 1947, S. 31. W. Müller, Rechtsquellen St. Gallen, Alte Landschaft, S. 259. Ebd., S. 260.

190

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

und uns frygen" 1 8 . Nicht der naheliegende Anschluß an die St. Gallen benachbarte Eidgenossenschaft Wird gesucht, sondern die Freiheit, verstanden als politische Autonomie. Die drei Beispiele aus dem Herrschaftsgebiet des Reichsklosters St. Gallen sollen lediglich eine Tendenz dokumentieren, die Zitate selbst müßten in ihrem jeweils komplexeren Kontext verordnet werden 1 8 . Diese Tendenz orientiert - summarisch gesprochen - auf Freiheit oder - vorsichtiger formuliert - auf Abbau der Leibeigenschaft, wobei der entscheidende Gesichtspunkt zu ergänzen ist, daß nicht wachsender herrschaftlicher Druck die Bewegung in Gang setzt, vielmehr sind es die klösterlichen Hintersassen, die die leibherrlichen Ansprüche des Klosters Schritt für Schritt schmälern. Ist es erlaubt, diese Beobachtungen zu verallgemeinern? Die mittelalterliche Unfreiheit definiert sich dadurch, daß der Herr - beschränkt allerdings durch ethisch verbindliche Normen - Anspruch auf die Arbeit und den Arbeitsertrag seines Hintersassen hat; das Erbrecht des Herrn im Todesfall und die Fronpflicht erklären sich aus diesem Herrschaftstitel. U m diesen Anspruch auch sichern zu können, muß gewährleistet sein, daß sich der Bauer seinem Herrn nicht entfremdet; das Freizügigkeitsverbot und das Verbot, Ehen außerhalb der Genossenschaft der Eigenleute einzugehen, erklären sich aus diesem abgeleiteten Rechtstitel. Wenn die Herren im Spätmittelalter einen Holden als „leibeigen" reklamieren, dann meinen sie genau diese Herrschaftstitel. Mit der Auflösung der herrschaftlichen Eigenwirtschaften wurde das Problem der Fronen vergleichsweise marginal, um Freizügigkeit und Erbrecht drehten sich fortan die Konflikte. Daß das Freizügigkeitsverbot seitens der Bauern gröblich mißachtet wurde, belegt allein die Beobachtung der trotz verheerender Pestumzüge langfristig enorm steigenden Bevölkerungszahlen in den Städten, die nicht auf einem natürlichen Bevölkerungswachstum in der Bürgerschaft selbst fußen können. Es war eine notwendige, wenn auch widerwillig vollzogene Anpassung an reale Gegebenheiten, wenn das Freizügigkeitsverbot seitens der Herren aufgehoben wurde - 1451/59 in St. Gallen, 1502 in Ochsenhausen und 1514 im Herzogtum Württemberg 1 9 . Die Klosterleute von Ottobeuren erreichten 1298 von König Albrecht ein Mandat, das dem A b t verbot, die „Erbschaft" von seinen Eigenleuten einzuziehen, vielmehr dessen Rechte auf das Besthaupt beschränkte. Gleiches gelang zwischen 1370 und 1455 schrittweise den Bauern des Schwarzwaldklosters St. Blasien, 1423 den aufständischen Klosterleuten von Steingaden und 1502 den Bauern des Reichsklosters Ochsenhausen 2 0 . Die Erbschaftsansprüche der Herren, das zeigen diese Beispiele, ließen sich immer weniger durchsetzen. 18 19

20

J . Häne, Klosterbruch zu Rorschach, S. 83 f. [für beide Zitate]. W. Müller, Rechtsquellen St. Gallen, Alte Landschaft, S. 259ff., 263 ff. - G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 2 8 - 3 6 . - W. Näf (Hg.), Herrschaftsverträge des Spätmittelalters, 1951, S. 71-77. Die Belege, in der Reihenfolge der Nennungen, in: Monumenta Boica, Bd. 33b [Neudruck 1964], S. 205 ff. - C. Ulbricb, Leibherrschaft am Oberrhein im Spätmittelalter (Veröffentli-

Gemeinde und Außenwelt

191

Diese Entwicklung findet auch ihren begrifflichen Niederschlag: Die Bauern wollen nun nicht mehr Eigenleute oder Leibeigene heißen, sondern „freie Gotteshausleute" oder „freie Herrschaftsleute", wobei der Akzent selbstverständlich auf dem Attribut frei liegt. Keines der aus dem Mittelalter überkommenen feudalen Herrschaftsrechte ist von der Gesellschaft so angegriffen worden wie die Leibherrschaft. Das hat seinen guten und einsehbaren Grund. Denn wo Arbeit selbst verantwortet und organisiert wird, läßt sich schwer einsehen, weshalb man ihr nicht dort nachgehen soll, wo sie den höchsten Ertrag verspricht - in der Stadt beispielsweise; und als schlechterdings unvereinbar mit dem neuen Arbeitssystem erwies sich das beanspruchte Erbrecht der Herren, der Zugriff auf das, was der Bauer während eines Lebens erarbeitet hatte. Daraus erklären sich die vielen Klagen über den Einzug von „Erbschaft", „Teil" und „Laß". Vermutlich exekutierte der Fürstabt von Kempten ein überkommenes Recht, wenn er von seinen Eigenleuten den „Halbteil" im Todesfall einzog. Doch dieser Anspruch wurde jetzt von den Bauern als unbillig angefochten: „Deß Ciagen sich die Leut", heißt es im Kemptener Leibeigenschaftsrodel, „so Ir vatter gestorben sey, so hat mein gnädiger herr allweg dem halbthail durch aus genomen, am gut und waß da gewesen Ist, darnach die muter starb, da hat er aber mit Inen gethailt, vnnd hat mein herr allweg das gut halb genomenn" 2 1 . Es gehört wohl zu den bemerkenswertesten agrargeschichtlichen Entwicklungen des Spätmittelalters, daß das Erbrecht der Bauern zunehmend an Boden gewinnt. Bei aller notwendigen Differenzierung 22 kann heute doch die generelle Aussage getroffen werden, daß „für das 15.Jahrhundert ... eine deutliche Verschiebung von der Zeit- zur Erbleihe" zu beobachten ist 23 . Der Anspruch des Bauern, die Früchte seiner Arbeit seinen Kindern oder nächsten Verwandten vererben zu können, beschränkt sich nicht auf die Fahrhabe, sondern auch auf das liegende, üblicherweise grundherrlich gebundene Gut. Dieser Prozeß einer elementaren Verbesserung bäuerlicher Lebensverhältnisse ist ohne die Existenz der Gemeinde schlechterdings nicht denkbar, wiewohl es individuelle Regelungen gegeben hat. Wo immer man den Transformationsprozeß von der auf Jahre oder Lebenszeit befristeten Leihe zum Erbrecht genauer nachweisen kann, handelt es sich um Vorgänge, in welche die Gemeinden in irgendeiner Weise involviert sind, sei es, daß sie die Landtage als Foren zur Durchsetzung solcher Interessen nutzen wie in Tirol, sei es, daß sich alle Gemeinden einer Herrschaft petitionierend an

21

22

23

chungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 58), 1979, S. 5 9 - 9 5 . - G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 9 - 1 2 . - Ebd., S. 2 8 - 3 6 . Der Kemptener Leibeigenschaftsrodel, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 42 (1979), S. 591. Vgl. die Einzelbeiträge in H. Patze (Hg.), Die Grundherrschaft im späten Mittelalter (Vortrage und Forschungen 26/27), 2 Bde., 1983. Ebd., 2. Bd., S. 341 [Zusammenfassung von A. Haverkamp],

192

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

die Herrschaft wenden und notfalls mit Androhung von Widerstand und militärischer Gewalt die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens unterstreichen wie in Süddeutschland24. Es ist bis heute schwer abzuschätzen, welcher mentale Wandel mit den beschriebenen Veränderungen, die ihren agitatorischen und organisatorischen Brennpunkt in der Gemeinde haben, eigentlich verbunden war. Zweifellos war die einst kohärente Lebensordnung des Hochmittelalters noch nicht durch eine neue, allseits akzeptierte Weltordnung und -deutung ersetzt. Der prinzipielle Wandel, der mit der Transformation der Villikation zum Dorf und zur Stadt, vom Unfreien zum Bauern und Bürger, von der fremdbestimmten Fronarbeit zur eigenverantworteten Arbeit des Bauern und Handwerkers stattgefunden hatte, erforderte eine prinzipielle Neuordnung. Der neuralgische Begriff, um dessen Ausgestaltung und inhaltliche Füllung es geht, heißt, wenn nicht alles trügt, „Eigentum". Wiewohl das Wort in der Form von „Eigenschaft" einen hochmittelalterlichen Vorgänger hat, bedeutet „Eigentum" doch etwas völlig anderes. Eigenschaft umschreibt eine Lebensordnung, in der Bauer und Herr gleiche Rechte haben - an den Gütern, am Wald, an den Gewässern, aber auch an der Ausgestaltung der Herrschafts- und Rechtsordnung. Das Urbar des Mittelalters bringt das sinnfällig zum Ausdruck, indem es verzeichnet, was die Bauern ihrem Herrn an Abgaben und Rechten „gewiesen", „geöffnet" haben. Diesen Sachverhalt reflektiert Thomas von Aquin theoretisch, wenn er die Eigentumsfrage erörtert 25 : Es gibt Eigentum, aber nur zur Verwaltung, nicht zum privaten Gebrauch; die potestas procurandi steht unter dem Vorbehalt, die res ut communes zu behandeln. Eigentum ist das Gegenteil von Eigenschaft. Eigenschaft meint gemeinsamen Gebrauch und gemeinsamen Besitz; Eigentum meint privaten Gebrauch und privaten Besitz. Die Anfänge dieser Entwicklung haben in der Reformationszeit mit aller Schärfe Thomas Müntzer und Thomas Morus gegeißelt. „Die grundtsuppe des Wuchers, der dieberey und rauberey", sagt Müntzer, „sein unser herrn und fürsten, nemen alle creaturen zum aygenthumb. Die visch im wasser, die vôgel im lufft, das gewechß auff erden muß alles ir sein" 26 . Morus entwickelt seine Gesellschaftsordnung in Utopia aus der bissigen Kritik des Eigentums. Was Morus nämlich attackiert, ist ein seiner gesellschaftlichen Bindung und Verpflichtung entkleidetes Eigentum, ist das Eigenmachen des Bodens in Form von „enclosures" zum Aufbau einer kapitalistisch organisierten Landwirtschaft, die die Menschen vom Land vertreibt, sie jedenfalls ihrer bisherigen Nutzungsrechte beraubt. Eine unter der Kategorie der Eigenschaft betriebene 24

25

26

H. Wopfner, Beiträge zur Geschichte der freien bäuerlichen Erbleihe Deutschtirols im Mittelalter (Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 67), 1916. - P. Blickle, Grundherrschaft und Agrarverfassungsvertrag, in: H. Patze (Hg.), Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, l.Bd., 1983, S. 2 4 1 - 2 6 1 . Thomas von Aquin, Summa theologica II, 66, 2 (Die deutsche Thomas-Ausgabe 18), 1953, S. 196-199. G. Franz (Hg.), Thomas Müntzer. Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 33), 1968, S. 329.

Tafel 21 Bäuerliche Arbeit. a) Der Boden wurde mit Harke und Spaten umgebrochen, b) Eggen, c) Säen. Das Feld ist begrenzt durch einen Etter zum Schutz der Kulturen vor Wildschaden, d) Getreideernte mit der Sichel, e) Heuernte mit der Sense. Kataloge zu Gebetbüchern Martin Luthers.

Gemeinde und Außenwelt

193

Landwirtschaft erlaubt es prinzipiell nicht, den Bauern vom Hof zu vertreiben, allenfalls kann er auf einen anderen Hof im Eigen gesetzt werden. Hätte Morus deutsch geschrieben, er würde die Rückkehr der Gesellschaft zur „Eigenschaft" gefordert haben 27 . Das Eigenmachen im Sinne von Privatisieren wird denn auch von den spätmittelalterlichen Zeitgenossen mit äußerster Sensibilität wahrgenommen und entsprechend kritisiert. Wenn die Reformatio Sigismundi den Herren vorwirft, sie legten unberechtigterweise Wälder und Gewässer in Bann, dann meint sie, die Herren würden sich Forsten und Flüsse als Eigentum vindizieren. Und das tun sie auch mit dem Menschen: „Es ist ein ungeherte sach, das man es offen müß in der cristenheyt, das groß unrecht ist, das vorget, daz einer vor.got also durstig ist, das er sprechen tar[f] zu einem menschen: ,Du bist mein eigen!'" 2 8 . Erasmus von Rotterdam gibt schließlich dieser Kritik ihre naturrechtliche Begründung, „die wyl die natur alle menschen fry hat geborn", sei die Leibeigenschaft widernatürlich 29 . Hinter der Eigentumsdiskussion des Spätmittelalters steht das Faktum, daß Arbeit und Herrschaft nicht mehr wechselseitig aufeinander angewiesen waren, Arbeit und Herrschaft werden vielmehr „zwei eigentumstiftende Prinzipien" 30 . Arbeit war, sobald sie sich im Schutz von Stadt, Dorf und unbeeinflußt von herrschaftlicher Weisung organisieren konnte, nicht mehr herrschaftsgebunden. Bauern und Bürger verschaffen zunehmend der Auffassung Geltung, Arbeit stifte Eigentum. Wo der Hof de jure oder de facto über Generationen hinweg vom Vater auf den Sohn vererbt wird, konnte und mußte sich eine solche Vorstellung verfestigen. Es lag in der Logik dieser Entwicklung, daß auch die Herren die Welt mit Verbotsschildern „Privat - Zutritt verboten" ausstatteten - den Forst und die Allmende, die Gewässer und schließlich die Menschen. Niemand wird bezweifeln wollen, daß die Rechtsordnung in hohem Maße von der Eigentumsordnung abhängt, die heutigen politischen Systeme beweisen das zur Genüge. Das frühe 16.Jahrhundert war der Sicherheit der hochmittelalterlichen Eigenschaftsordnung entwachsen, hatte aber die Sicherheit der neuzeitlichen Eigentumsordnung noch nicht gefunden. Ein hohes Maß von Rechtsunsicherheit war die Folge. Billigkeit, Herkommen, gutes Recht, altes Recht standen unter dem Bewährungsdruck prinzipieller Veränderungen aller Lebensverhältnisse und zeigten sich ihnen schließlich nicht gewachsen. Das erklärt den Ruf nach einem neuen, durch Dignität und Autorität ausgewiesenen Recht - dem Göttlichen Recht. 27

28

29 30

Für die entscheidende Textstelle in der Utopia vgl. Κ Wurtz -J. H. Hexter (Hgg.J, The Complete Works of St. Thomas More, vol. 4, 111979, S. 102 Z. 2 0 - 2 6 . - Die Überlegungen zum Problemkreis Eigenschaft - Eigentum gründen im wesentlichen auf der Arbeit von Renate Blickle, Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern 1 4 0 0 - 1 8 0 0 , in: W. Schulze, Aufstände, S. 1 6 6 - 1 8 7 und ergänzendem schwäbischen Material. H. Koller (Hg.), Reformation Kaiser Sigmunds (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters 6), 1964, S. 276 Z. 13-15, Textfassung N. Zitiert bei W. Müller, Widerstand gegen die Leibeigenschaft, S. 25. Renate Blickle, Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern 1400-1800, in: W. Schulze, Aufstände, S. 176.

Τ 21

194

2.2

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

Kommunale Repräsentation

Der spätmittelalterliche Diskurs um grundsätzliche Fragen menschlicher Befindlichkeit und sozialer Ordnung setzt die Existenz der Gemeinde voraus. Die Innovationen, die von ihr ausgehen konnten, haben schließlich auch die spätmittelalterliche Kultur erheblich beeinflußt. Naheliegenderweise konnte die Gemeinde es nicht dabei sein Bewenden haben lassen, ihre inneren Angelegenheiten zu ordnen, sondern mußte auch dafür sorgen, daß die Prinzipien ihrer Existenz und ihre Interessen innerhalb der politisch-staatlichen Verbände respektiert wurden. So dringen die Gemeinden in eine der wichtigsten politischen Körperschaften des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staates ein - in die Reichstage und Landtage Deutschlands, die états généraux und die états provinciaux Frankreichs und das Parlament Englands. Sie alle waren ursprünglich Versammlungen des Fürsten mit seinen Magnaten. Im Spätmittelalter sitzen in all diesen Organen die städtischen Vertreter. Man mag nun, wie die Forschung es verbreitet tut, diesen Tatbestand mit dem kruden Faktum des Finanzbedarfs der Monarchen und Fürsten erklären. Steuern mußten prinzipiell bewilligt werden; die Städte jedoch waren die finanziell leistungsfähigsten Verbände. Richtiger dürfte es sein, dem Steuerbewilligungsrecht sekundäre Bedeutung gegenüber der in ganz Europa verbreiteten Rechtsfigur „quod omnes tangit ab omnibus approbari debeat" zuzuweisen. Daß von allen gebilligt werden müsse, was alle betreffe, hat einen weitausgreifenden Anspruch. „Gebilligt" werden müssen nicht nur die Finanzoperationen der Fürsten, sondern auch deren gesetzgeberische Vorhaben; „betroffen" sind nicht nur der Adel, die Prälaten und die Bürger, sondern auch die Bauern. Auf diese beiden Aspekte - die sachliche Reichweite der bäuerlichen Repräsentation in ständischen und ständegleichen Versammlungen - soll hier ein kurzes Licht geworfen werden 1 . Zu den Auffälligkeiten ständischer Repräsentation im Reich gehört, daß in Oberdeutschland die Bauern Vertreter auf die Landtage oder in eigens konstituierte Landschaften schicken. Zwar gibt es ähnliche Erscheinungen auch an der Nordseeküste, doch fehlen Analogien zu so stattlichen Besitzkomplexen wie denen der Erzherzöge von Österreich oder der Herzöge von Württemberg, der Erzbischöfe von Salzburg und der Bischöfe von Basel in Mittel- und Norddeutschland. Wieso das so ist, beantworten die Vollmachten und Instruktionen der bäuerlichen Vertreter für die Landtage. Es handelt sich nämlich, um präzise zu sein, nicht um eine Repräsentation der Bauern, sondern um eine solche der Gemeinden. Und zwar müssen diese Gemeinden dem Adel und der Kirche verwandte Funktionen ausüben; sie müssen also einen hohen Grad politischer Autonomie erreicht haben. Das erklärt, weshalb häufig Bürgermeister, Rat und Gemeinde in der Stadt oder Ammann und Gemeinde im Dorf die Voll1

Ausgeblendet bleiben Steuer- und Wehrfragen, die Gleiches lediglich von anderer Seite beleuchten würden. Soweit Einzelbelege nicht aufgeführt werden, sind sie meiner Arbeit .Landschaften' zu entnehmen und über die Register vergleichsweise leicht zu erschließen.

Gemeinde und Außenwelt

195

machten siegeln. W o es keine ständische Repräsentation der ländlichen Gemeinden gibt, wurden ihnen ihre politischen Rechte bereits im Spätmittelalter entzogen wie in Brandenburg, oder sie haben kaum eine über Bagatellsachen hinausgehende Autonomie erreicht wie in Hessen. Es ist evident, daß die bäuerliche Repräsentation mit einer Zone hochentwickelter Gemeinden zusammenfällt. Die Gemeindereformation spielt sich genau in dem Raum ab, wo man von politischer Repräsentation der Gemeinden sprechen kann, zwischen dem Elsaß und Salzburg, zwischen Franken und der Innerschweiz. Es ist weiterhin augenfällig, daß die bäuerliche Repräsentation auf territorialer Ebene sich im wesentlichen in den drei Generationen vor der Reformation ausbildet, jene der städtischen Gemeinden nur wenig zeitlich früher. Das bedeutet zunächst einmal eine bislang ungekannte Ausdehnung des politischen Erfahrungshorizontes der Bauern und natürlich auch der Bürger. Die auf den Landtagen verhandelten Gegenstände müssen in der Stadt und im Dorf beraten werden. Kein städtischer und kein dörflicher Landtagsdeputierter hat ein freies Mandat, Rechtskraft erlangen die Entscheidungen des Landtages in einem Territorium mit bäuerlich- bürgerlicher Repräsentation nur dann, wenn sie von den Gemeinden ratifiziert werden. Politik innerhalb eines Territoriums wird damit abhängig von einer „Öffentlichkeit". Diese Öffentlichkeit bringt nun auch deutlich ihre Vorstellungen zur Geltung. Beweisen läßt sich das über die Landes- und Polizeiordnungen, die weit davon entfernt sind, Artikulationen fürstlichen Machtstrebens zu sein, jedenfalls im Süden des Reiches. Denn was die Landes- und die frühen Polizeiordnungen an positivem Recht fixieren, wird von den ländlichen und städtischen Gemeinden auf den Landtagen in Form von Beschwerden eingebracht. W o die Quellenlage den Redaktionsvorgang zu rekonstruieren erlaubt, bestätigt sich diese Aussage - beispielsweise in der Grafschaft Tirol. Unter solchen Voraussetzungen entstehen die Kodifikationen, Verordnungen und Mandate über Steuerwesen und Rechtspflege im Erzstift Salzburg 1462, über Landesverteidigung, Abgabenwesen und Erbrecht im Fürststift Berchtesgaden 1506, über das Gerichtsverfassungsrecht der bischöflich-augsburgischen Pflege Rettenberg 1518, über Bewirtschaftung der Güter, Leibeigenschaftsfragen, gerichtlichen Instanzenzug, Friedewahrung und Wehrpflicht in der badischen Herrschaft Rötteln-Sausenberg 1517. Die Beispiele stellen eine Auswahl dar und bringen nicht hinreichend zum Ausdruck, daß beispielsweise eine Reihe von Tiroler Landesordnungen seit dem frühen 15.Jahrhundert wenig mehr sind als redaktionelle U m arbeitungen von Gravamina des „dritten Standes" durch die Innsbrucker Regierung. „In bey wesen unnd nach rath des usschutz von un[serer] Landtgrafschafft Susenberg und herrschafft [Rötteln] sonderlich darzu verordnet und gesezt", entsteht die Rötteln-Sausenberger Ordnung. „Uff verhöre und vleissige beacht ewes [der Untertanen] zugesannten Anzaigens unnd Rhatschlags" wird die Rettenberger Gerichtsordnung erstellt. Landrechtsänderungen im Hochstift Sitten (Wallis) „sollen die, so von einem gemeinem man zue räthen diser zeit bestimbt werden ... beschliessen" 2 . 2

D. Imesch (Hg.), Die Walliser Landratsabschiede, 1. Bd., 1916, S. 378 ff.

196

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

Bislang wurde nur für Territorien mit ständischer Verfassung die Bedeutung der Bürger und Bauern für die territorialen Ordnungen, Erlasse und Mandate belegt. Doch gleiches läßt sich auch in anderen Herrschaften nachweisen. So beschweren sich etwa die St. Galler Klosterleute, es „sig vorhar der bruch gsin, wenn ein herr von Sant Gallen von gmeiner gotzhuslüten wegen etwas handien weit, das er sine gotzhuslüt darzfi beruft" 3 , und verweisen damit auf die Konsenspflichtigkeit aller die Herrschaft insgesamt betreffenden Maßnahmen. Auch in kleineren Klosterherrschaften Schwabens läßt sich die Beteiligung der Untertanenschaft bei umfassenderen, für das ganze Territorium verbindlichen Ordnungen über Erbrecht, Leibeigenschaft und Güterrecht nachweisen. Die „Undertan vnd armen lute gemainlich und sunder" sind 1456 der Vertragspartner des Abtes von Rot an der Rot 4 , die „Undertanen, Undersäßen und aigen Gerichtslütte" jene des Abtes von Ochsenhausen 1502 5 . Zwölf weitere, bisher nachgewiesene, ähnlich gelagerte Fälle belegen die Breite bäuerlicher Beteiligung an weiterreichenden Kodifikationen. In der Beteiligung der einfachen Leute an Landrechten, Landesordnungen, Polizeiordnungen oder an Einzelbestimmungen über Fragen des Erbrechts, des Güterrechts, der Leibeigenschaft oder der Straf- und Zivilrechtspflege dokumentiert sich eindeutig der Wille der Gesellschaft, über den städtischen und dörflichen Bereich hinaus die eigenen Interessen und Ziele durchzusetzen. Nicht die Obrigkeit legt ihre Vorstellungen zur Beratung vor, sondern mehrheitlich drängen die Untertanen darauf, daß deren Vorstellungen innerhalb des Territoriums positives Recht werden. Das war naturgemäß nur bedingt und nur mit Abstrichen zu erreichen. Aber war es nicht nur mehr ein kleiner Schritt, die Ordnungsfunktion, die traditionsgemäß den Herren zukam, selbst zu beanspruchen? Ließ sich die überkommene Ordnung nicht auf den Τ 22

Kopf stellen und damit in die richtige Ordnung bringen?

3.

Werte im Kommunalismus - Normen im Aneignungsprozeß des Reformatorischen?

Der „zivilen Preise" rühmt sich noch heute gelegentlich die „gutbürgerliche Küche". „Bauernschläue" erleichterte noch im 20.Jahrhundert manchem Dienstmädchen den Umgang mit der „gnädigen Herrschaft". Solche noch heute geläufigen umgangssprachlichen Wendungen deuten darauf hin, daß Normen und Werte auch ihre „standesgemäße" Herkunft haben. Unterstellt, es gibt den Kommunalismus als Lebensform - was bewiesen sein dürfte - , dann muß er auch Normen und Werte entwikkelt haben, die ihn vom Feudalismus, der adeligen Welt und deren Normen und Wer3 4 5

IV. Müller, Rechtsquellen St. Gallen, Alte Landschaft, S. 181 f. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Β 486 Urkunde 154. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 28.

Werte im Kommunalismus

197

ten sondern und unterscheiden. Sie zu elaborieren ist in mehrfacher Hinsicht schwierig, einmal aufgrund der historiographischen Situation, aber auch wegen methodischer Probleme: W o man sich angesichts einer langen und reichen Forschungstradition vergleichsweise mühelos über Normen und Werte des Adels verständigen kann, ist es mit dem Wertsystem der Bürger schon erheblich schlechter bestellt, von den Bauern zu schweigen 1 . Insofern das Kommunalismuskonzept neu ist - anders gesprochen, die Zusammengehörigkeit von Bauern und Bürgern bislang kaum gesehen wurde - , fehlen entsprechende Vorarbeiten völlig 2 . Methodisch ergibt sich das bekannte Problem, daß die einfachen Leute ihre Wertvorstellungen und Normen nicht explizit zur Darstellung bringen, schon gar nicht in der vorreformatorischen Zeit. Daß beispielsweise persönliche Freiheit unter Bauern eine handlungsrelevante Wertkategorie darstellte, wird vor 1525 ausdrücklich so gut wie nie gesagt, läßt sich aber aus den Aktionen gegen die Leibherrschaft erschließen. Das gesamte Normen- und Wertgefüge der einfachen Leute erschließt sich methodisch eher auf dem W e g der Decodierung von Handlungsweisen als im unmittelbaren Zugriff auf artikulierte Normen und Werte. Unter den geschilderten Voraussetzungen ist vorläufig nur ein erster Entwurf möglich, der auch durch die leitende Frage bestimmt wird, wie der Aneignungsprozeß des Reformatorischen in der Gesellschaft im letzten erklärt werden kann. Ausgegangen wird heuristisch von der Annahme, daß sich Werte und Normen sowohl innerhalb eines Systems (hier Kommunalismus) wie auch in Auseinandersetzung dieses Systems mit der Außenwelt entwickeln. Als „geschlossenes System" zeichnet sich der Kommunalismus aus durch die aus der selbstverantworteten Arbeit resultierende eigene Organisation des Daseins und der Daseinsvorsorge (vgl. Figur 3). Die Organisation des Alltags, der wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Probleme der kleinen Gemeinschaft Dorf und Stadt, drückt sich in der kommunalen Administration, der kommunalen Satzungshoheit und der kommunalen Gerichtsbarkeit aus. Diese Zusammenhänge sind bereits breit erörtert worden, so daß nur mehr die Frage nach den Folgen für die Wertvorstellungen zu beantworten bleibt. Einsehbar dürfte sein, daß das Funktionieren des Dorfes und der Stadt nur bei einer ausgeprägten Nachbarschaft

möglich war im positiven Sinn einer

wechselseitigen Hilfsverpflichtung bei einer anerkannten individuellen Bedürftigkeit. Nur zwei Hinweise sollen das nochmals illustrieren: Das Verteidigungswesen in der Stadt und die gemeinsame Weide auf der dörflichen Allmende leben von der funktio-

1

2

Vgl. dazu die Beiträge von 0. Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2 1968. Für die bäuerliche Gesellschaft die noch immer wichtigen Arbeiten von A. Tschayanoff, Zur Frage einer Theorie der nichtkapitalistischen Wirtschaftssysteme, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 59 (1924), S. 577-613, und allgemeiner R. Redfield, The Little Community, 1 0 1973. Für die stadtbürgerliche Gesellschaft die anregende Arbeit von A. Black, Civil Society. - Die Verbindung von der Stadt zum Land bzw. umgekehrt fehlt in diesen Arbeiten allerdings weitgehend.

198

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters Eigenverantwortete Arbeit

eigene Organisation des Daseins

Selbstverwaltung der aus der Arbeit erwachsenden Probleme (kommunale Administration)

Normierung der täglichen Probleme (kommunale Gebots-/Gesetzgebungsgewalt)

eigene Organisation der Daseinsvorsorge

Aburteilung der Normverletzungen (kommunales Gericht)

Sicherung der Allmendund Forstnutzung

Erbrecht (Sicherung der Lebens fähigkeit der Nachkommen)

restriktives Heiratsverhalten (spätes Hei rats alter)

Auskömmlichkeit

Nachbarschaft

gemeiner Nutzen

Figur 3

Organisationsformen und Wertvorstellungen des Kommunalismus bungen

in seinen Innenbezie-

nierenden Nachbarschaft und so alle deren institutionellen Derivate - Administration, Gesetzgebung, Rechtspflege. Zu sprechen bleibt allerdings noch von der bislang unberührt gebliebenen Daseinsvorsorge. Erinnert sei an die bekannte Tatsache, daß die Ressourcen in der vorindustriellen Gesellschaft und damit naturgemäß auch in der spätmittelalterlichen Gesellschaft äußerst beschränkt waren. „In dieser Gesellschaft gilt" nach dem Urteil von Peter Laslett „die feste Regel, daß ein neuer Haushalt ausschließlich dann gegründet werden darf, wenn entweder ein bestehender Haushalt aufgelöst worden ist oder zusätzliche Mittel geschaffen worden sind, die eine Ausdehnung der gesamten Gesellschaft in der Art gestatten, daß ihr ein neuer Haushalt, also eine neue Grundeinheit, hinzugefügt werden kann. Solch eine Hausgründungsregel ist ebenso ein Prinzip der Familienstruktur wie ein Regulator des Heiratsalters und der Heiratsbedingungen für beide Geschlechter" 3 . Die „Hausgründungsregel" hat sich dahingehend ausgewirkt, daß die Familien mit durchschnittlich fünf Personen verhältnismäßig klein gehalten wurden - die Un-

Werte im Kommunalismus

199

terschiede zwischen Stadt und Dorf sind hier wegen ihrer Geringfügigkeit im Vergleich zur Größe adeliger Familien zu vernachlässigen - und das Heiratsalter hoch lag. Man kann solches Verhalten „primär den wirtschaftlichen Notwendigkeiten"4 anlasten, man kann aus einer anderen Optik aber auch von einer verantwortungsvollen Daseinsvorsorge sprechen. Sie drückt sich vor allem in den skizzierten Bemühungen um die Sicherung des Erbrechts aus, die ja erst der nachfolgenden Generation zugute kommen konnte, keinesfalls aber der lebenden Generation, die nicht selten hohe Opfer brachte, um solche Verbesserungen gegenüber der Herrschaft durchzusetzen. Um ihr Erbrecht zu verbessern, zahlten in der Mitte des 15.Jahrhunderts die Grundholden des Klosters Weissenau 1550 fl, die des Klosters Schussenried ein Geldäquivalent in Höhe von 5 0 % der jährlichen Gesamtabgaben 3 , um zwei Beispiele zu nennen. Ein flankierendes Argument für diese generationenübergreifende Daseinsvorsorge liefert der prinzipiell pflegliche Umgang der Gemeinden mit Wald und Allmende. Allein aus der Tatsache, daß ein ordentliches Dorf in der Regel einen Holzwart hielt, ergibt sich, daß sich nicht jedermann nach Belieben im Gemeindeforst mit Bau-, Brenn- und Zaunholz versorgen konnte, sondern daß es ihm in Hinblick auf die Sicherung dieses wichtigen Rohstoffs auch für die Kinder und Kindeskinder möglichst sparsam zugemessen wurde. Die leitende Kategorie der Daseinsvorsorge ist die Auskömmlichkeit für die Gegenwart und die Zukunft. Aus Nachbarschaft und Auskömmlichkeit entwickelt sich - man darf sagen notwendigerweise - die Vorstellung vom gemeinen Nutzen, der das gedeihliche Zusammenleben in Dorf und Stadt überhaupt erst ermöglicht. Die feste Verankerung dieses Wertes in der bäuerlich-bürgerlichen Gesellschaft drückt sich in der Reformationszeit darin aus, daß er nun gewissermaßen nach außen gekehrt und als Meßlatte an die großen Hansen und Herren gelegt wird. Auch sie haben sich - so der reformatorische Imperativ des Gemeinen Mannes - dem gemeinen Nutzen zu unterwerfen. Jeder mit den Quellen des frühen 16.Jahrhunderts halbwegs vertraute Historiker wird bestätigen, daß in den Korrespondenzen, Beschwerden und Forderungskatalogen der einfachen Leute der Gemeinnutz einen ungemein hohen Stellenwert einnimmt, wie schon aus seiner häufigen Verwendung hervorgeht. Den naheliegenden Einwand, daß es sich hier um eine vage und ungefähre Redensart handle, die zu allen Zeiten zur Legitimation politischer Ordnung herangezogen worden sei, kann man damit widerle-

3

4

5

P. Laslett, Familie und Industrialisierung: eine „starke Theorie", in: W. Conze (Hg·), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas (Industrielle Welt 21), 1976, S. 13-31, das Zitat S. 13. M. Mitterauer - L. Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie, 1977, S. 146. D.W. Sabean, Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkriegs. Eine Studie der sozialen Verhältnisse im südlichen Oberschwaben in den Jahren vor 1525 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 26), 1972, S. 89. - Saarbrücker Arbeitsgruppe, Die spätmittelalterliche Leibeigenschaft in Oberschwaben, in : Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 22 (1974), S. 29.

200

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

gen, daß es in der Adelsgesellschaft des Mittelalters den Gemeinnutz als anerkannten gesellschaftlichen Wert oder als Norm politischen Handelns nicht ausdrücklich gibt. Kein Herrschaftsverhältnis, welcher Art auch immer es sein möge, rechtfertigt sich damit, daß es den Gemeinnutz fördere 6 ; ihre Legitimität gewinnt Herrschaft vielmehr aus ihrer Schutz- und Schirmfunktion, in concreto aus der Rechtsicherung und Friedewahrung nach innen und außen, aus nichts anderem. Mag das Mittelalter das Gemeinwohl als natürliches Beiprodukt von Frieden und Recht verstanden haben, gesichert jedenfalls ist nur, daß die politisch-soziale Sprache das Gemeinwohl oder verwandte Formulierungen kaum kennt, abgesehen von dem unpräzisen und hier wohl auch nicht hilfreichen Titel des Kaisers als „Mehrer des Reiches". Obschon das bonum commune in der theologischen und staatstheoretischen Diskussion seit Thomas von Aquin durchaus seinen Stellenwert hat, in der praktischen Politik fehlt es als normierende Kategorie. Bis zum Beweis des Gegenteils wird man behaupten dürfen, daß der Gemeinnutz eine im Bauerntum und Bürgertum entwickelte Kategorie ist, die erst im Verlauf des 1 Ö.Jahrhunderts auch von den deutschen Fürsten aufgenommen wird und in der Figur der Wohlfahrt, später des Glücks 7 als vornehmlicher Staatszweck ausgegeben wird, den man mittels der „guten Polizei" zu erreichen sucht. Ironischerweise dient der neuzeitliche Staatszweck des Gemeinnutzes den Fürsten als legitimierender Ausweis für ihre polizeilichen Veranstaltungen, die aus dem Gemeinen Mann schließlich den Untertanen machen. Seine theoretische Begründung fand er, wiederum ironischerweise, über die von Melanchthon verantwortete Aristotelesrezeption im lutherischen Protestantismus. - Für die Bauern und Bürger, die den Gemeinnutz als einen Wert von äußerster Dignität herausarbeiteten, gab es in der vorreformatorischen Zeit für ihn keine vorfindbare theoretische Begründung. Der gemeine Nutzen hat eine hohe Paßfähigkeit zur Figur der Nächstenliebe des Neuen Testaments. Bauern und Bürger bestätigen das in der kontrahierenden Redeweise vom „gemeinen Nutzen und der christlichen brüderlichen Liebe", die es jetzt, nachdem das „reine Evangelium" wieder an den Tag gekommen sei, zu verwirklichen gelte. Nächstenliebe konkretisiert sich nicht mehr vorrangig am Armen, wie in der Praxis der alten Kirche, sondern am Nächsten im buchstäblichen Sinn von Nachbar. Blendet man nochmals zurück auf die Kategorien von Nachbarschaft und Auskömmlichkeit, die den gemeinen Nutzen konstituieren, so läßt sich auch deren normprägende Kraft für die Aneignung reformatorischer Elemente wahrscheinlich machen. D e m Nachbarschaftsprinzip entsprach es, daß der Pfarrer am Ort residierte und seine seelsorgerischen Aufgaben persönlich und gewissenhaft wahrnahm; dem Auskömm6

7

Vgl. 0. Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 6 1970. - Brunner, dem es ja vornehmlich auf die zeitgenössischen Begriffe ankommt, bringt das bonum commune, den Gemeinnutz nicht ins Spiel. - Die wenigen Belege bei A. Diehl, Gemeiner Nutzen, S. 297-300, und J. W. Pichler, Necessitas, 1983, bes. S. 58,64. H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2 1980, S. 159-163. - Ganz vereinzelte Hinweise für das späte 15.Jahrhundert bei A. Diehl, Gemeiner Nutzen, S. 311.

W e r t e im Kommunalismus

201

lichkeitsprinzip entsprach es, daß er ein ordentliches Einkommen aus den in der Regel soliden Benefizien bezog und sich nicht über Stolgebühren seinen Lebensunterhalt sichern mußte. Die durchgängige Vorstellung der Bauern und Bürger, der Seelsorger habe sein Amt vorzuleben und seiner Aufgabe würdig zu sein, gewinnt ihren Sinn vor dem Hintergrund der verbindlichen Normen Nachbarschaft und Auskömmlichkeit. Das geschlossene System des Kommunalismus war kein isoliertes System. Es trat mit einer Außenwelt in Verbindung, die prinzipiell anders strukturiert war und in ihrer konkreten Erscheinungsform der Adelswelt auch anderen Normen und Werten folgte. In der Auseinandersetzung mit der Außenwelt entwickeln die Bauern und Bürger über Nachbarschaft, Auskömmlichkeit und gemeinen Nutzen hinaus weitere Werte. Adel definiert sich durch Herrschaft. Herrschaft als etwas von einem einzelnen Ausgeübtes konfligiert mit Nachbarschaft im beschriebenen Sinn. Die Gemeinde als politische Organisationsform grenzt adelige Herrschaft in Verwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung im lokalen Rahmen immer mehr aus, schwächt sie also. Dieser Entwicklung parallel läuft der beschriebene Vorgang der Integration in territoriale Repräsentationskörperschaften. Partizipation wird zum Anspruch von Bauern und Bürgern, und zwar im territorialen Rahmen8. Herrschaft bleibt nicht mehr konkurrenzlos. Herrschaft konfligiert aber auch mit Auskömmlichkeit. Denn Herrschaft in ihrer mittelalterlichen Ausprägung ist umfassend, unbeschränkt in einem positiv-rechtlichen Sinn, wenn auch nicht in einem ethischen. Die Auskömmlichkeit - eine ja durchaus variable Größe - wird von der Herrschaft immer wieder bedroht, etwa wo sie in die Forsten und die Allmenden eingreift, wo sie ihre leibherrlichen Rechte wahrnimmt und dem Bauern die Erbschaft entzieht oder die Freizügigkeit unterbindet. Nur in der Negation, zumindest Eingrenzung solcher herrschaftlicher Rechte und Positionen läßt sich die Auskömmlichkeit sichern. Dahinter steht der Wert der Freiheit, der durch die Reformation manifest werden kann. Die theologisch in der Tat fragwürdige Begründung der persönlichen Freiheit mit dem Verweis auf den Erlösungstod Christi unterstreicht nur den hohen Stellenwert der Freiheit in der Wertehierarchie der Gesellschaft, nicht nur in der bäuerlichen, denn es kann natürlich keine Rede davon sein, daß in der Stadt generell Freiheit geherrscht hätte, wie jeder Blick in das Stadtrecht einer landsässigen Stadt zeigen kann. Aus Partizipation und Freiheit speist sich die Norm der Mündigkeit. Mündigkeit hat eine hohe Paßfähigkeit zu den reformationstheologischen Kategorien des Priestertums aller Gläubigen oder - negativ gewendet - zur Abwehr des altkirchlichen Monopolanspruchs auf Heilsvermittlung und Schriftexegese. 8

W a s für den vorliegenden Argumentationszusammenhang mit Partizipation umschrieben wird, ist weitgehend austauschbar mit dem „Prinzip des institutionellen Pluralismus" von Löwenthal. Vgl. R. Löwenthal, Kontinuität und Diskontinuität: Z u r Grundproblematik des Symposiums, in: K. Möckl - K. Bosl (Hgg.J, Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, 1977, S. 3 4 1 - 3 5 6 , bes. S. 3 4 6 f .

202

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

Der Versuch, Normen und Werte der einfachen Leute zu zentralen theologischen Kategorien des Reformatorischen in Beziehung zu setzen, bedarf zweifellos einer differenzierenderen empirischen Absicherung. Er ist aber ausreichend zu zeigen, daß hier der Königsweg zur Rezeptionsgeschichte der Reformation liegt. Das läßt sich unter ganz anderem Blickwinkel weiter abstützen. Keith Thomas hat mit dem einprägsamen Bild, daß der Bauer sich beim Ernten des Getreides oder beim Melken einer Kuh keiner magischen Praktiken bedient, wohl aber, wenn er den Bang im Stall hat, zum Ausdruck gebracht, daß mit wachsender Einsicht in die Zusammenhänge und Mechanismen von alltäglichen Erscheinungen Magie überflüssig wird9. Diese Einsicht war naturgemäß dort weitergehend, wo Bürger und Bauern Einblick in das politische Getriebe insgesamt hatten. Auf dem Landtag konnte man hören, daß der heimische Wein keinen Absatz mehr fand, weil er mit so zweifelhaften Mitteln konserviert worden war, daß die fröhlichen Zecher daran starben; der zuvor mysteriöse Tod in der eigenen Familie war unter Umständen damit erklärlich geworden. Die Hungersnot erwies sich durchaus als hausgemacht, wenn der Bürger aus Hall im Innsbrucker Rat Maximilians erfuhr, daß die letzte gute Ernte bis auf den letzten Scheffel an venezianische Aufkäufer veräußert worden war. Unter solchen Vorzeichen macht die Beobachtung einen Sinn, daß Legenden im 1 S.Jahrhundert von den Laien nicht mehr in dem Maße geglaubt wurden wie in früheren Zeiten 1 0 oder die Wunder unter Bewährungsdruck gerieten und der notariellen Beglaubigung bedurften, um anerkannt zu werden". Es soll damit an der ausgeprägten Volksfrömmigkeit der Vorreformationszeit nicht gezweifelt werden, doch darf auch das Magische für die Bewältigung des Alltags nicht überschätzt werden. Auswertungen von vorreformatorischen Visitationsakten jedenfalls zeigen, daß sich die Religiosität im wesentlichen wohl doch im Gehäuse der Kirche bewegte und nur sektoral, etwa in der Verehrung der Wetterheiligen, in einen theologisch und kirchlich nicht gesicherten Bereich abtriftete 12 . Die zunehmende Kreuz- und Christusverehrung in Deutschland wie in Europa insgesamt 13 deutet darauf hin, daß die einfachen Leute sich dem Zentrum des Christentums näherten. Wenn die immer wieder zitierte Beschreibung der religiösen Verhältnisse in der Reichsstadt Biberach unmittelbar vor der Reformation 14

9 10

11 12

13

14

K. Thomas, Decline of Magic, S. 648. W. Williams - Krapp, Laienbildung und volkssprachliche Hagiographie im späten Mittelalter, in: L, Grenzmann - K. Stackmann (Hgg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, 1984, S. 6 9 7 - 7 0 9 . W. A. Christian, Religion in Spain, S. 103. P. Th. Lang, Klerus im Bistum Eichstätt; für die Verehrung der Wetterpatrone bes. S. 17, 22, 25. W. A. Christian, Religion in Spain, S. 185. - Vgl. generell J. Lortz, Zur Problematik der kirchlichen Mißstände im Spätmittelalter, in: Trierer Theologische Zeitschrift 58 (1949), S. 1 bis 26, 2 1 2 - 2 2 7 , 2 5 7 - 2 7 9 , 3 4 7 - 3 5 7 . A. Schilling (Hg.), Die religiösen und kirchlichen Zustände der ehemaligen Reichsstadt Biberach unmittelbar vor Einführung der Reformation. Geschildert von einem Zeitgenossen, in: Freiburger Diöcesan-Archiv 19 (1887), S. 1-191.

Werte im Kommunalismus

203

für Oberdeutschland repräsentativ sein sollte, was die Literatur offensichtlich annimmt 1 5 , dann war die katholische Frömmigkeit jedenfalls in der Vorreformationszeit nicht wesentlich anders als in der vorkonziliaren Ära des Vaticanums II 1 6 . Gewarnt wird damit vor einer Überschätzung theologisch fragwürdiger, magischer und heidnischer Praktiken vor der Reformation. Wären sie zur Lebensbewältigung unentbehrlich gewesen, entzöge sich der Rezeptionsprozeß der Reformation jeder einleuchtenden Erklärung. Furcht und Angst als Fluchtstraßen in die Reformation anzunehmen scheitert am fehlenden empirischen Material und auch an der geringen Plausibilität bislang vorliegender Interpretationsmodelle 17 . Erklärungswert besitzt allerdings die Beobachtung des verstärkten Einflusses der Laien auf die Religion im Spätmittelalter schlechthin 1 8 . Es ist, um mit William A. Christian zu sprechen, die „paganization of Christianity" im Sinne einer Verchristlichung des flachen Landes mittels Kapellenstiftungen, Wallfahrten und Wunderverehrungen 19 , was in Oberdeutschland in den Bemühungen der Gemeinden um das Pfarrerwahlrecht seinen Ausdruck und eine Ergänzung findet. Solche und ähnliche Erscheinungen mag auch Natalie Z. Davis im Blick haben, wenn sie den einfachen Leuten bestätigt, sie seien „in der Tat innovatorisch im Umgang mit dem Heiligen" gewesen 20 . Die Religiosität der einfachen Leute in Mitteleuropa spielt sich in der Kirche und am Rande der Kirche, aber kaum außerhalb der Kirche ab. Das ist eine Voraussetzung, daß die Reformatoren überhaupt auf Resonanz stoßen konnten. Die andere, wichtigere Voraussetzung und gleichzeitig die innovatorische Leistung der einfachen Leute im frühen 16.Jahrhundert besteht darin, daß sie die Reformation „einführen", indem sie den theologischen Appell der Reformatoren über die bürgerlich-bäuerliche Lebensform der Gemeinde verarbeiten. Gemeinde heißt - um es ein letztes Mal zu wiederholen - , daß im Prinzip jedes Gemeindemitglied für die politische Ordnung verantwortlich ist, was in der Institution der Gemeindeversammlung zum Ausdruck kommt, die über weitreichende Entscheidungen wie Stadtrechtserneuerungen oder Dorfsatzungen bestimmt und durch Wahl die gemeindlichen Ämter vergibt. Die Kommunalisierung der Kirche in der zweifachen Ausformung der weitreichenden Entscheidung über das Bekenntnis und die Wahl des Pfarrers durch die Gemeindeversammlung bringt diese spätmittelalterliche Entwicklung zu ihrem konsequenten Abschluß (vgl. Figur 4). Der 15

Die Quelle ist etwa die Grundlage des Kapitels „Kirchliches Leben und Frömmigkeit" bei M. Brecht - H. Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte. Zur Einführung der Reformation im Herzogtum Württemberg, 1984, S. 4 0 - 4 7 . - R. W. Scribner, Ritual and Popular Religion in Catholic Germany at the Time of the Reformation, in: Journal of Ecclesiastical History 35 (1984), S. 4 7 - 7 7 .

16

Die Aussage fußt auf persönlichen Erfahrungen der Jahre 1 9 4 5 - 5 0 in Biberach. Vgl. L. G. Duggan, Fear and Confession on the Eve of the Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 75 (1984), S. 153-175. Ό. Weinstein - R. M. Bell, Saints and Society, S. 167 ff. - Κ. Thomas, Decline of Magic, S. 28. W. A. Christian, Religion in Spain, S. 181. W. A. Christian, Apparitions, S. 181. Ν. Ζ. Davis, Some tasks, S. 309.

17

18

19 20

204

Figur 4

Die Gemeindereformation in der Tradition des Spätmittelalters

Zur Spiegelbildlichkeit von Ideologie und Wirklichkeit der Gemeindereformation

Verarbeitungsmodus des Reformatorischen setzt voraus, daß dieser Appell in hohem Maße dem Kommunalismus kongenial war. Damit stellt sich die Frage, ob die reformatorische Theologie ohne den vorgängigen Kommunalismus überhaupt denkbar wäre. Rhetorisch gefragt: Ist es theologisch zwingend, daß die Reformatoren ecclesia nicht mit Kirche übersetzen, sondern mit Gemeinde? Ist es theologisch zwingend, daß sie die Gnadenvermittlung der Kirche bestreiten, vielmehr einen mündigen Christen unmittelbar an seinen gnädigen Gott verweisen ? Aus solchem Fragen speist sich der Verdacht, daß der Kommunalismus das Vehikel ist, dessen sich die fortschrittlichen Theologen des 16.Jahrhunderts bedienten, u m als Intellektuelle gehört zu werden, unbewußt versteht sich. Das Zündeln der Theologen mit der gesellschaftlichen Bewegung des Kommunalismus machte die Reformation so bedrohlich - die Fürsten mußten sich gegen die Gemeindereformation stellen.

Schluß

Fürstenreformation versus Gemeindereformation

Der Kommunalismus als Lebensform zeigt eine ausgeprägte Affinität zum Republikanismus als Staatsform. Ohne die hohe kommunale Autonomie wären die nördlichen Teile Burgunds schwerlich auf die Idee verfallen, sich als Vereinigte Niederlande zu konstituieren. Ohne die ausgeprägten Gemeinderechte der Dörfer und Täler wären aus den Hochstiften Chur und Sitten kaum die Republiken Graubünden und Wallis geworden, von der schweizerischen Eidgenossenschaft nicht zu reden. Nicht umsonst wird „Schweizer werden" und eine „Eidgenossenschaft aufrichten" zum allseits in Europa verstandenen Kürzel für alternative politische Lebensweisen, jenseits der fürstlichen und monarchischen Traditionen des Mittelalters. Als „Demokratien" hat solche europäischen Anomali täten schon Martin Luther bezeichnet: „Ubi plures regunt, als in Schweitzen" habe man es mit einer „democratia" zu tun, und es drückt wohl nicht gerade Sympathie aus, wenn es in der Nachschrift präzisierend heißt „wo der gemeine Mann regiert"1, der anderwärts von Luther so genannte Herr Omnes. Indem der Gemeine Mann die Ideen der Reformation über seine existenzielle Einbindung in einen kommunalen Verband wahrnimmt und sich aneignet, erfährt die Lebensform des Kommunalismus ihre ideologische, in der Theologie verankerte Begründung. Die Bedrohung für die alte Ordnung potenzierte sich damit, wie immer wenn amorphe Massenbewegungen zu bewußten Klassenbewegungen werden. Kritisch wurde die Masse um 1525 - aus der Gemeindereformation wird die Fürstenreformation. Aus vielen Einzelurteilen speist sich die kaum mehr bestreitbare, wiewohl immer noch bestrittene Einsicht, daß 1525 auch eine reformatorische Wende stattfindet. „Als Bewegung erfuhr die Reformation seit den Vorgängen von 1525 einen entscheidenden Schlag", urteilt Ernst W. Zeeden-, „sie wurde geknickt und verlor vieles von ihrem 1

Der Beleg bei H. Maier, Demokratie, in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 2. Bd., 1972, S. 53.

206

Schluß

ursprünglichen Elan" 2 . Von einem „Einschnitt" spricht Bernd Moeller: auf der einen Seite lasse sich teilweise „Ernüchterung, Klärung und auch Enttäuschung" feststellen, auf der anderen Seite habe sich im „Einflußbereich Luthers ... die Tendenz zur Institutionalisierung der Kirche mit Hilfe des Staates" 3 durchgesetzt. Heinrich Lutz umreißt die „Situation nach 1525" mit dem Verweis auf eine Hinwendung Luthers und seiner Mitarbeiter zu den Fürsten. „An die Stelle der ursprünglichen Konzeption, ,daß die Erneuerung der Kirche sich möglichst aus der eigenen Kraft der Gemeinden heraus vollzöge' (Karl Holl), trat Schritt um Schritt ein ausgearbeitetes System obrigkeitlicher Landeskirchen" 4 . Jetzt war, wie der Lutherkenner Marc Lienhard urteilt, „die Zeit der Kirchenordnungen gekommen und auch die Zeit, die als zu revolutionär eingeschätzten Prediger zurückzupfeifen"5. Auch speziellere Untersuchungen, die weniger handbuchartigen Überblickscharakter haben, bestätigen diese globalen Einschätzungen. „Mit der Niederlage der Bauern wurde auch die Reformation auf dem Lande zerschlagen"6 und damit „die Entscheidung über die politische Zukunft der Reformation im Dreieck von Elsaß, Schweiz und Süddeutschland gefällt" 7 . Auf diese Weise blieb „das Prinzip der Gemeindekirche, das der Bekenntnisbildung und der personalistischeren Auffassung des Christentums entsprochen hätte" 8 , auf der Strecke. Rainer Wohlfeil stellt nicht nur das Faktum der Wende im Reformationsverlauf fest, sondern liefert dafür auch eine Begründung. Die für ihn mit der Niederlage der Bauern einsetzende „Phase obrigkeitsgelenkter bzw. obrigkeitlicher evangelischer Reformation" 9 ist motiviert durch „die Furcht vor sozialen Umwälzungen" 10 . Unverkennbar ist nun das Bestreben der Reichsstände, die „evangelische Reformation unter Abkoppelung gesellschaftsverändernder Implikationen als obrigkeitliche Maßnahme zu begreifen und durchzuführen" 11 . Zwar erlosch „mit der Zurückweisung der Mitspräche· und Mitwirkungsforderung des .gemeinen Mannes' seine Beteiligung an der evangelischen Bewegung nicht völlig ..., aber sie war auf die Dauer nicht mehr geschichtsmächtig" 12 . An diesem von Wohlfeil bezeichneten neuralgischen Punkt wird 2

3 4

5 6 7 8

9 10 11 12

E. W. Zeeden, Deutschland von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Westfälischen Frieden (1648), in: Tb. Schieder (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 3, 1971, S. 445-580, hier S. 519. B. Moeller, Reformation, S. 101. H. Lutz, Reformation und Gegenreformation (Oldenbourg Grundriß der Geschichte 10), 1979, S. 37. M. Lienhard, Luther, S. 427. H.-J. Goertz, Aufstand gegen den Priester, S. 208. H. A. Oberman in: L.W. Spitz, Humanismus und Reformation, S. 183. W. Becker, Reformation und Revolution (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 34), 1974, S. 40. R. Wohlfeil, Einführung in die Reformation, S. 27 f. R. Wohlfeil, Schicksal der Reformation, S. 85. R. Wohlfeil, Einführung in die Reformation, S. 28. R. Wohlfeil, Schicksal der Reformation, S. 85. - Das kann schließlich auch als Antwort auf die entgegengesetzte Meinung von F. Lau, Reformation als spontane Volksbewegung, verstanden werden. Meine eigene Position muß mit Rückverweis auf die .Revolution', S. 274-278, nicht eigens wiederholt werden. - Gegen die Lau-These sprechen die neuesten Untersuchungen

Fürstenreformation versus Gemeindereformation

207

man weiterdenken müssen. In der Tat läßt sich der dialektische Umschlag von der Gemeindereformation zur Fürstenreformation mit weiteren Argumenten sichern, und zwar im nochmaligen Rückgriff auf die spätmittelalterlichen Entwicklungslinien vom Kommunalismus zum Republikanismus bzw. der Reaktion der Obrigkeiten und Geistlichen, der Praktiker und der Theoretiker, auf solche Veränderungen. Die Zeitgenossen der Reformation und ihre Väter und Großväter machten eine eigentümliche, früheren Generationen fremde Erfahrung - den bewaffneten Widerstand der einfachen Leute gegen ihre Herren. Die Revolten in den großen Territorien wie Salzburg, Innerösterreich und Württemberg, in der Mehrzahl der süddeutschen Klosterherrschaften und in den Stadtstaaten Zürich und Bern belegen die Massenhaftigkeit des Widerstandes, die Bundschuhaufstände seinen bedrohlichen Charakter für die tradierte fürstliche, adelige und kirchliche Herrschaft, fanden doch hier die Bauern und Städter mit der Figur des „Göttlichen Rechts" eine aggressive Formel für mögliche grundlegende soziale und politische Veränderungen, die das bisherige Rechtsund Ordnungssystem in Frage stellen konnten. Bäuerlichen Widerstand zu verhindern, ihn mindestens einzuhegen, mußte zu einer Überlebensfrage für das politische System des Reiches werden. Der Reichslandfriede von 1495 hat in seinen Einzelbestimmungen offensichtlich dieses Problem nicht hinreichend erfaßt, wenn es denn überhaupt schon ins allgemeine Bewußtsein der Reichsstände getreten war, was angesichts der regionalen Beschränkung auf den oberdeutschen Raum bezweifelt werden kann. Mit den beiden Zentralbestimmungen von 1495, „das von zeit diser verkundigung nyemants, von was wirden, standes oder wesens der sey, den andern bevehden, bekriegen, berauben, fallen, uberziehen, belegern" und „alle offen vehde und verwarung durch das ganz Reich aufgehebt und abetan" 13 sein sollte, hatten die Reichsstände offensichtlich ausschließlieh die Fehde und damit allein den Adel im Blick. Die Ausführungsbestimmungen zum Reichslandfrieden auf den folgenden Reichstagen bis in die 1520er Jahre bestätigen 14 , daß sich die Argumentation in den 1495 vorgezeichneten Bahnen bewegt. Vorbeugende bzw. dämpfende Maßnahmen mußten damit zunächst auf regionaler und territorialer Ebene getroffen werden. Das erste bekannte Beispiel für eine Kriminalisierung eigenständigen, widersetzlichen Handelns gegen die Obrigkeit stellt das bereits mehrfach berührte Stanser Verkommnis von 1481 dar, mit dem sich die eidgenössischen Orte wechselseitiger Hilfe

13

14

von Strauss, der zeigen konnte, wie wenig die kirchlich-staatliche Indoktrination des Luthertums die einfachen Leute erreichte, und diese Reserviertheit mit 1525 in Verbindung bringt. G. Strauss, Luther's House of Learning. Indoctrination of the Young in the German Reformation, 1978, S. 301 ff. Zitiert nach H. Angermeier (Hg.), Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., 5. Bd.: Reichstag von Worms 1495 (Deutsche Reichstagsakten, Mittlere Reihe 5), 1. Bd., Teil 1, 1981, S. 363 f. E A. Koch, Reichs-Abschiede, S. 30f. [zu 1497], 39-42 [1498], 63-66 [1500], 102 [1505], 133 [1510], 136f. [1512], 194-203 [1521], 229f. [1522],

Τ 23

208

Schluß

bei „mutwilliger gewalt" und „uffrur" versicherten 15 . Die lebhafte diplomatische Aktivität in der gesamten Eidgenossenschaft, die dem Verkommnis vorausging, dürfte ein Echo auch im benachbarten Süddeutschland gefunden haben, selbst wenn das bis heute quellenmäßig nicht nachgewiesen ist. Doch der Zwang zur Unterbindung gewaltsamer Maßnahmen durch die Obrigkeiten mußte nicht von außen kommen. Bedrohliche Konflikte begannen sich mit den Bundschuhaufständen am Oberrhein abzuzeichnen. Es ist wohl nicht zufällig, daß als erste umfassendere territoriale Landesordnung die badische, die auf etwa 1495 datiert wird 16 , einen „Aufruhrartikel" enthält: „Item die unsern sollen auch bei iren verpflichten und bei schwerer strafe leibs und guts kein büntnus, einung oder gesellschaft zusamen verschreiben, verpflichten oder verbinden, die in einichem wege wider uns, unsere erben oder die unsern weren oder sein möchten" 17 . Dieses einmalig frühe Stück im Reich mit dem oberrheinischen Bundschuh von 1493 in Verbindung zu bringen liegt nahe, wiewohl davon die badische Markgrafschaft nicht direkt betroffen war 18 , wohl aber waren durch ihn alle oberrheinischen Herrschaften zu fieberhaften vorbeugenden Maßnahmen veranlaßt worden 19 . Was dem Stanser Verkommnis und der badischen Landesordnung fehlt, die Präzisierung der Strafen nämlich, erfolgte 1502 mit einem kaiserlichen Mandat. Den ereignisgeschichtlichen Hintergrund liefert der Untergrombacher Bundschuh von 1502. Um Maßnahmen gegen die Aufständischen ergreifen zu können, hatten sich die oberrheinischen geistlichen und weltlichen Fürsten unter Führung des Kurfürsten Philipp von der Pfalz zu gemeinsamem Vorgehen entschlossen und ein entsprechendes Mandat von Maximilian erwirkt. Es teilt allen Reichsständen mit, „das etlich inwoner des heiligen Richs mit iren anhengen ... sich ufwerfen und das ... arm gemein volk (zu) verfuren zu einer samlung, conspiración und verstentnis eins zusamenthuns, zu irer zeit wider die obristen hewbter, alle oberkeit, geistlicheit, cristenlich Ordnung (das recht und den friden offenbarlich zaigent) zu sin, der meinung, das der fursten, hern und stett undertan ... in [ihnen] bisteen sollen, sich irer undertenigkeit fri zu machen". Daraus wird in dem Mandat der Schluß gezogen, „das sollichs zu einem usdilgen alles frides, aller Ordnung, zuerstörung gemeins nutz und der geistlicheit, aller göttlichen, menschlichen, geistlichen und weltlichen rechten, aller oberkeit, regiment, der fursten, adels stette und ander erwachsen ... möcht" 2 0 . Als ein für das ganze Reich verbindli15

16

17 18 19

20

E. Walder, Das torechte Leben von 1477 in der bernischen Politik 1477 bis 1481, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 45 (1983), S. 74-134; die Zitate ebd., S. 113 ff. Die Datierung selbst ist fraglich. Die Argumente für 1495 bei G. K. Schmelzeisen (Hg.), Polizeiund Landesordnungen, 1. Halbband: Reich und Territorien (Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands 2), 1968, S. 34. Der Text nach R. Carlebach, Badische Rechtsgeschichte, 1. Bd., 1906, S. 109. A. Rosenkranz, Bundschuh, 1. Bd., S. 9-136. Hervorzuheben ist besonders das Bündnis des „Niederen Vereins" (das Gegenstück des .oberen Vereins' der Schweizerischen Eidgenossenschaft), das die oberrheinischen Stände anläßlich des Schlettstadter Bundschuhs am 12. VIII. 1493 erneuerten. Vgl. A. Rosenkranz, Bundschuh, 1. Bd., S. 221. A. Rosenkranz, Bundschuh, 2. Bd., S. 110.

Tafel 23

Raubritter

überfallen

ein Dorf

Zu den Formen adeliger Fehde, unter denen die Dörfer besonders zu leiden hatten, gehörte das Wegtreiben des Viehs und das Verbrennen der Höfe der Bauern des Gegners. Brandstiftung, Mord und schweren Diebstahl zeigt das Bild, über dem Mars mit eingelegter Lanze reitet. Federzeichnung aus dem Hausbuch des Truchsessen von Waldburg, Ende 15. Jahrhundert.

Fürstenreformation versus Gemeindereformation

209

ches Mandat erläßt Maximilian eine Strafordnung. Zusammengefaßt ergibt sich folgendes: Kriminalisiert wird die Bundschuhbewegung - und nur sie, wie die mehrfache Nennung im Mandat selbst hinreichend deutlich macht - , nicht aber Widerstand schlechthin, und zwar durch präzis umschriebene Strafen : Todesstrafe für Mitglieder, insbesondere Rädelsführer, Strafe nach herrschaftlichem Ermessen für unterlassene Denunziation. Schwierigkeiten ergaben sich offensichtlich aus dem Erfordernis, den strafrechtlichen Tatbestand des Bundschuhs eindeutig zu definieren. Addition, nicht Präzision kennzeichnet in diesem Punkt das Mandat. In den Vordergrund gerückt werden drei Argumente: Umsturz der bestehenden politischen Ordnung, Konspiration und Eidbruch gegenüber der Herrschaft. Die Aufzählung ist deshalb wichtig, weil sie gewisse Unsicherheiten im Umgang mit dem Problem erkennen läßt 21 . Einen weiteren entscheidenden Schritt in die eingeschlagene Richtung tat Württemberg im Anschluß an den Aufstand des , A n n e n Konrad" von 1514. Der Tübinger Vertrag enthält, was in der wissenschaftlichen Diskussion oft übergangen oder übersehen wird, eine „Empörerordnung", die immerhin knapp ein Drittel des gesamten Textes in Anspruch nimmt. „Ob sich begebe fürohin, das jemands, wer der were, ainich uflöff und embörung machen oder fürnemen würde wider die herschafft, irer fürstlichen gnaden rät, amptleut, diener, prelaten, gaistlichait, burgermaister, gericht, rat oder sunst wider die erberkait, die niderzudrücken ... der soll sein lyb und leben verwirckt haben und ime daruf sein verschulte straf ufgelegt und an im vollstreckt werden, es sy mit viertaylen, radbrechen, ertrencken, enthoupten, mit den strick

richten,

die hend abhowen und derglychen" 2 2 . Die Strafmaßnahmen sind im übrigen die nämlichen, die 1502 durch das maximilianeische Mandat getroffen wurden; die Begründung für die Kriminalisierung - 1502 mit Umsturz der politischen Ordnung umschrieben - wird in der Sprache des Tübinger Vertrags die Empörung wider die Herrschaft. Nun ist unbestreitbar, daß der „Arme Konrad" in Württemberg in seiner Zielsetzung keineswegs dem radikalen Programm des Bundschuhs folgt, von einem Umsturz der politischen Ordnung schlechterdings nicht gesprochen werden kann, vielmehr beschränkte sich die politische Perspektive der württembergischen Bürger und Bauern auf eine angemessenere Repräsentation auf den württembergischen Landtagen, denn das passive Wahlrecht war ganz, das aktive weitgehend auf die führende Ehrbarkeit der Städte beschränkt. Dieser Tatbestand muß dem Landesfürsten und den Ständen bekannt und bewußt gewesen sein. Dessenungeachtet wurde von offizieller Seite ein ganz anderes Bild nach außen vermittelt, indem Herzog und Stände in einer gedruckten Rechtfertigungsschrift an alle Reichsstände den „Armen Konrad" als Bundschuh auszugeben suchten, und zwar mit Hinweis auf das von den Württemberger Bauern 21 22

A. Rosenkranz, Bundschuh, 1. Bd., S. 230ff. Text leicht zugänglich bei W. Näf(Hg.), Herrschaftsverträge des Spätmittelalters (Quellen zur neueren Geschichte, hg. vom Historischen Institut der Universität Bern 17), 2 197 5, S. 71 bis 77; das Zitat S. 74.

210

Schluß

angeblich geforderte „göttliche Recht" 2 3 . Die Propaganda scheint ihr Ziel erreicht zu haben; jedenfalls wird auf einem vorderösterreichischen Landtag des Breisgaus und Sundgaus der „Arme Konrad" ausdrücklich „Bundschuh" genannt 2 4 , und in den Gravamina der Reichsritterschaft von 1523 wird unter Empörung „ein Bundschuh oder armer Cuntz" 2 5 verstanden. Bemerkenswert ist an der Empörerordnung innerhalb des Tübinger Vertrags, daß sie vollinhaltlich sowohl der herzoglich-ständischen Rechtfertigungsschrift an die Reichsstände inseriert wie auch in die württembergische Landesordnung von 1 5 1 5 2 6 und in die Huldigungsformel der Untertanen übernommen wurde. Die Bundschuhaufstände und der Arme Konrad sowie die von Seiten der Obrigkeiten ergriffenen Maßnahmen der Gegenpropaganda sorgten anscheinend dafür, daß Aufruhr als äußerst bedrohliches Problem eingestuft wurde. Dafür spricht beredt die Wahlkapitulation von 1519, mit der die Kurfürsten Karl V. verpflichteten, „alle unzimbliche, hessige pundnus Verstrickung und zusamenthun der underthanen des adels und gemeinen volgs, auch die emporung, aufrur und ungeburlich geweit gegen den churfursten, fursten und andern ... ab[zu]schaffen" 27 . Der angesprochene Adel, die Ritterschaft, wehrte sich sogleich, mit Untertanenungehorsam in Verbindung gebracht zu werden. Die Ritterschaft würde man auf Seiten der Reichsfürsten finden, falls „sich ein Bundschuch oder armer Cuntz entpören solt". Das war 1523. Zwei Jahre später wurde wahr, was kaiserliche Mandate, fürstliche Propaganda, territoriale Landesordnungen und kurfürstliche Wahlkapitulationen verhindern wollten - es kam zur R e v o lution von 1525'. Der Bauernkrieg hat Widerstand erstmals auch zu einem Verhandlungsgegenstand für den Reichstag werden lassen. Der Abschied des Augsburger Reichstags von 1525 hält fest: Es „sollen sich alle Churfursten, Fürsten und Stande mittlerzeit in ihren Fur23

24

25

26

27

Wahrhafftig vnderrichtung der vffrurn vnnd Handlungen sich im furstenthum Wirtemperg begeben, Tübingen 1514. - Weiteres Belegmaterial für das Bemühen der Obrigkeit, dem Reich gegenüber den „Armen Konrad" als Bundschuh auszugeben, bei W. Ohr, Die Entstehung des Bauernaufruhrs vom armen Konrad 1514, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte NF 22 (1913), S. 1-50, bes. S. 46. - H. Ohler, Der Aufstand des Armen Konrad im Jahre 1514, in: Ebd. 38 (1932), S. 467-482, bes. S. 474f. Archives départementales du Haut-Rhin Colmar, C7, fol. 161. Den Ständen sei bekannt, heißt es hier, „das sich kurtzverruckten tagen von den Underthonen und Innwonern deß herzogthumbs wyrrtemberg ein Embörung Züsammenrottung und unbillich Furnämen den Buntschüch genannt", ereignet habe. (Den Beleg verdanke ich Frau Dr. C. Ulbrich, Wiebelskirchen.) H. H. Hofmann (Hg.), Quellen zum Verfassungsorganismus des heiligen römischen Reiches deutscher Nation 1495-1815 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte 13), 1976, S. 71. Druck bei A. L Reyscher (Hg.), Sammlung der württembergischen Gesetze, 12. Bd., 1841, S. 26 f. A. Kluckhohn (Hg.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., 1. Bd. (Deutsche Reichstagsakten, jüngere Reihe 1), 1893, S. 868. - Zur Entstehungsgeschichte vgl. die Vorakten ebd., S. 770,822.

Fürstenreformation versus Gemeindereformation

211

stenthumen, Oberkeiten und Gebieten, auffs starckst bey guter Rüstung, Versehung und Verwahrung halten, ob sich einige Empörung, Auffstand und Ungehorsam von den Unterthanen gegen ihren Oberkeiten erregen und zutragen wolt, damit sie, und ein jeglicher derselben förderlich im Anfang, ohn Weiterung und Versammlung der Ungehorsamen stattlichen Widerstand und Gegenwehr thun und gebrauchen mögen, auch sich sonst in andere Weg dem Kayserlichen und des Reichs Land = Frieden gleichmaßig gehalten und erzeigen"28. Damit war die Verknüpfung von ,Empörung, Aufstand und Ungehorsam' in der Präzisierung auf Ungehorsam gegen die Obrigkeit als Delikt gegen den Reichslandfrieden erfaßt. Die Interpretation des hier noch sehr summarisch gehaltenen Passus brachte schließlich der Speyerer Reichstag von 1526. Aufgrund der Instruktion Karls V. 29 beschäftigten sich die Reichsstände sehr ausführlich mit den Vorgängen von 1525 und brachten in ihrem Abschied die Strafbestimmungen des Reichslandfriedens auf die Aufständischen zur Anwendung: Sie verfielen seitdem der Reichsacht, „also das ir leib und gut allermeniglich erlaubt und nyemant daran freveln oder verhandeln soll oder mag". Was zwischen 1481/1502 und 1525/26 an Rechtsbestimmungen zur Verhütung widerständischen Handelns von Seiten der Fürsten und des Reiches elaboriert wurde, verdient unter zweifachem Aspekt Beachtung. Einmal wird innerhalb einer Generation der Tatbestand des Hochverrats geschaffen. Zum anderen wird die Zunahme des Hochverrats als Folge der Reformation interpretiert. .Aufruhr und Empörung", wie die Zeitgenossen sagten, war als Massenphänomen eine Erscheinung besonders des frühen 16. Jahrhunderts. Einer vom Adel beherrschten Gesellschaft war es offensichtlich unvorstellbar, daß Untertanen den bewaffneten Aufstand erwogen - jedenfalls spricht dafür die Ignoranz des Wormser Reichslandfriedens gegenüber den Untertanenunruhen. Im Gegensatz zum Verbot der Fehde, das Personen schützen soll, will das Verbot des Hochverrats Institutionen und Verfassungen schützen. Nicht der Fürst, der Herr, wird durch die neugeschaffenen strafrechtlichen Normen abgeschirmt, sondern die Obrigkeit, der Staat wird gesichert. Vorsätzlicher Angriff auf den inneren Bestand und die verfassungsmäßige Ordnung des Staates gilt nach heutigem deutschem, österreichischem und schweizerischem Recht als Hochverrat. Die strategische Leistung des Reiches und der Reichsfürsten bestand

28 29

E. A. Koch, Reichs-Abschiede, S. 271. Ebd., S. 274 (§ 5). - Die Behandlung des Bauernkriegs auf dem Reichstag 1526 hat in den letzten Jahren eine ziemlich breite Darstellung erfahren, so daß für die Argumentation im einzelnen auf diese Literatur (wenngleich sie auch andere Fragestellungen verfolgt) verwiesen werden kann. - Die Diskussion setzt ein mit G. Vogler, Der deutsche Bauernkrieg und die Verhandlungen des Reichstags zu Speyer 1526, in: R. Vierhaus (Hg.), Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 56), 1977, S. 173-191, und endet (unter Aufarbeitung der mittlerweile erschienenen Literatur) mit H. Gabel - W. Schulze, Folgen und Wirkungen, in: II. Buszello u.a. (Hgg.J, Der deutsche Bauernkrieg, 1984, S. 322-349, bes. S. 335-340.

212

Schluß

darin, daß sie - wie das Beispiel des Armen Konrad lehrt - passiven Widerstand ohne die Perspektive der Verfassungsänderung dem Tatbestand des Hochverrats subsumierten. Damit war Widerstand erheblich erschwert, wo nicht unmöglich geworden. Zugespitzt formuliert: jede Beschwerde, wenn sie energisch genug vorgetragen wurde, konnte unter Hochverratsverdacht fallen. Es ist kein Wunder, daß es im Verlauf des lé.Jahrhunderts mit einer Ausnahme in Österreich im Reich zu keinen Bauernunruhen mehr kommt. Ein Wunder ist schon eher, daß der Bauernstand im 17. und 18-Jahrhundert nochmals so viel Vitalität entwickelt, daß er mit seinem widerständischen Handeln - nach Ausweis der jüngeren Forschung 30 - zu einem entscheidenden Faktor der Modernisierung werden konnte. Folgenreich für die Reformation wurde die Verknüpfung des Hochverrats mit der evangelischen Bewegung. Wo Untertanen programmatisch ein neues Rechtsprinzip zur Geltung bringen wollten, war der Tatbestand des Hochverrats am leichtesten nachweisbar. Deswegen argumentierte der Herzog von Württemberg mit der falschen, zumindest gewagten Behauptung, Legitimation und Ziel des Armen Konrad seien das Göttliche Recht und dessen Verwirklichung. Offenkundig war das beanspruchte neue Rechtsprinzip dann mit dem Göttlichen Recht des Bauernkriegs. Das war für Karl V. die Berechtigung, im Ausschreiben zum Speyerer Reichstag von 1526 zu behaupten, „der Zwyspalt", und zwar „in Sachen den Heil. Christlichen Glauben und Religion ... betreffend", sei „nicht die geringste Ursach ... der vergangenen Empörung des gemeinen Mannes" 31 ; und der Berner Chronist Anshelm bestätigt diese Interpretation als verbreitete Sehweise im Reich: wie die Purschaft und ir Anhang hat fürgenomen, durch Ufrur das Evangelium und sich selbs ze fríen, also ist ir Fürnemen durch Ufrur umgestürzt worden, also dass die evangelische Ler und Predi, unders Luthers und Zwingiis und der Töuferen Namen .evanhellisch' und ufrüerisch gescholten ... worden" 3 2 . Nie mehr werden in der deutschen Geschichte Forderungen der Untertanen mit dem Göttlichen Recht begründet. Dafür haben die Reformatoren gesorgt. Wie Widerstand von den Herren als Hochverrat interpretiert wurde, so von den Reformatoren als Verrat am Evangelium durchgängig und ohne Ausnahme 3 3 . Keiner unter ihnen hat es sich 1525 versagt, gegen den Gemeinen Mann Position zu beziehen - von Martin Luther über Philipp Melanchthon, Johannes Brenz, Urbanus Rhegius, Johannes Lachmann, Johann Eberlin von Günzburg, Johann Agricola, Wolfgang Capito, Matthias Zell und Martin Bucer bis 30

31 32 33

J . Blum, The End of the Old Order in Rural Europe, 1978, S. 332-353. - W. Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau 6), 1980, bes. S. 128-142. Ε Α. Koch, Reichs-Abschiede, S. 273. G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 582. H. Kirchner, Freunde Luthers, S. 300. Die Arbeit für das Nachfolgende grundlegend. Ergänzend J . Maurer, Prediger, bes. S. 2 6 3 - 2 7 5 . - Nicht näher eingegangen wird auf die Studie von R. Kolb, The Theologians and the Peasants: Conservative Evangelical Reaction to the German Peasant Revolt, in: Archiv für Reformationsgeschichte 49 (1978), S. 103-131, die über die Arbeit von Kirchner (die von K o l b nicht benutzt wurde) wenig hinausführt.

Fürstenreformation versus Gemeindereformation

213

zu Huldrich Zwingli. Wieder einmal war den einfachen Leuten mit ihrem gesunden Menschenverstand klargemacht worden, daß das Evangelium für soziale und politische Ordnungen nicht angemahnt werden dürfe, also im Grunde nicht handlungsrelevant sei. Die Reformatoren als Theologen machten sich mit dem Laien nicht gemein bei der Interpretation der göttlichen Offenbarung, das haben Theologen nie getan, und die Reformatoren als Intellektuelle machten sich nicht gemein mit den politischen Aspirationen des Haufens, das haben Intellektuelle selten getan. Insofern bleibt das Verhalten der Reformatoren durchaus im Rahmen des Üblichen. Allerdings besteht der begründete Verdacht, daß die Reformation über die klösterlichen Mauern und die universitären Hörsäle nicht hinausgekommen wäre, hätte ihre Theologie und Ethik nicht eine so hohe ideologische Paßfähigkeit zur konkreten Realität des Kommunalismus aufgewiesen. Wie sonst will man sich erklären, daß die Reformation als soziale Bewegung nicht eine solche der Fürsten, des Adels, der Bischöfe und der Prälaten war, sondern zuallererst eine Veranstaltung der Bauern und Bürger, genauerhin der Gemeinden. Daran könnte die Überlegung geknüpft werden, was die Reformationstheologie eigentlich der persönlichen religiösen Betroffenheit der Reformatoren verdankt - das freilich wäre ein eigenes Buch - , daran muß aber die Überlegung geknüpft werden, was aus den Axiomen der reformatorischen Theologie, dem Gemeindechristentum und dem reinen Evangelium, eigentlich wurde. Parallel zum wachsenden Bewußtsein der Obrigkeiten von der Bedrohung der Ordnung stieg auch das Bedenken der Reformatoren, die Verantwortung für die Reformation auch den Laien zu überlassen. Luther wußte das seit den Wittenberger Unruhen von 1521, Zwingli seit den Zürcher Unruhen von 1523. Die Reformatoren verboten den einfachen Leuten, mit dem Fingerzeig auf das Evangelium das Heil der Welt einzufordern. In diesem Punkt war man sich spätestens 1525 einig, wiewohl das ursprünglich so eindeutig gar nicht feststand, der Rückverweis auf die Zwinglischriften des Jahres 1523 mag als Begründung genügen. Im Detail freilich blieben Unsicherheiten und Divergenzen. Im Süden des Reiches waren die Reformatoren denn doch erheblich irritierter als im Norden - berechtigterweise, denn sie hatten schließlich auch deutlicher für die Diesseitsrelevanz des Evangeliums votiert. So gutachteten dann auch die Zürcher Leutpriester für den Rat, „dass wir unsere libeigen lüt sölicher eigenschaft fry sagend", mit der Begründung, als „Kinder Gottes" sollten alle „brüederlich einander leben", doch fußt eine solche Entscheidung keineswegs darauf, daß Zwingli das Argument der Zürcher Bauern anerkannt hätte, die Leibeigenschaft ginge „schnuorrichtig wider den göttlichen willen und sin unbetrogenlich wort" 3 4 . Das Evangelium gibt keine konkrete Handlungsanweisung, sagt Brenz, aber es steckt durchaus einen Rahmen ab, innerhalb dessen man sich zu bewegen hat. „Es leyt got dem obersten Herrn nichtz daran, ob die Herschaft allein oder die vnderthon allein die wolder [Wälder] besitzen ..., aber daran leyt Im, das die 34

Die Belege und eine eindeutige Korrektur bisheriger positiver Interpretationen von Zwingiis Votum bei W. Müller, Widerstand gegen die Leibeigenschaft, S. 21 f.; die Zitate S. 15 und 21.

Τ 24

214

Schluß

herschaft den vnderthon helff zu gemeinem nutz" 3 5 . Das ist eine Formulierung, die auch Rhegius gebraucht haben könnte 3 6 . In der Gesinnung der Nächstenliebe, die inhaltlich durch das Evangelium definiert wird, sollte nach den Vorstellungen von Zwingli, Brenz und Rhegius der Interessenausgleich zwischen Herren und Untertanen erfolgen. In Oberdeutschland versteht man die einfachen Leute „aus der sozialen Situation heraus und beschränkt den theologischen Aspekt auf die Abwehr mißbräuchlicher Benutzung des Evangeliums" 3 7 . Wie anders Luther und sein engerer Kreis - Melanchthon, Agricola, Poliander, zum Teil auch Lachmann - , für die das Jahr 1525 eschatologische, ja apokalyptische Züge gewinnt. Das ist selbst nach Auskunft von Theologen der am wenigsten beschwerliche Weg, den man gehen konnte 3 8 . Melanchthon sagt es noch deutlicher als Luther: Was das Evangelium fordert, ist die Erhaltung des politischen status quo; wer Forderungen, u n d mögen sie noch so berechtigt sein, mit d e m Evangelium begründet, der ist des Teufels 39 . Hier begegnet wieder Luthers Argum e n t von den falschen Propheten, was denn auch in Melanchthons Argumentation eindeutige Konsequenzen hat. „Das die Kirchen allenthalb selb Macht hetten, Pfarrer zu welen und ruffen", gilt nur dort, wo „ein gotsfürchtige Oberkeit das Evangelium wil predigen lassen", und mit der Einschränkung, daß „bei solcher Wal ein Fürst auch sein (muß) ..., das man nichts Aufrürisch predige oder fürneme" 4 0 . Damit war die Entscheidung der Gemeinde über die richtige Lehre suspendiert u n d die Wahl des Pfarrers zu einem belanglosen Akt des Konsenses geworden. Theoretisch war damit der Punkt erreicht, wo praktisch die Kirchenvisitationen und die Kirchenordnungen beginnen konnten. Melanchthon hat einem deutschen Kurfürsten, d e m Pfalzgrafen bei Rhein, eingeredet, „es wer von Nötten, das ein solch wild, ungezogen Volk als Teutschen sind, noch weniger Freiheit hette, dann es hat" 4 1 . Zweifellos waren die Fürsten der nämlichen Auffassung. Melanchthon und andere Freunde Luthers sind in ihren Stellungnahmen wenig mehr als mäßige Kopisten des Wittenbergers, aber sie haben mit dafür gesorgt, daß sich Luther im Reich durchgesetzt hat, mit schwer kalkulierbaren Rückwirkungen auf den mitteleuropäischen Raum. Selbst aus einer europäischen Perspektive stellt sich die Niederwerfung der Bauern, Bürger und Bergknappen als „eine trostlose Paraphrase der ganzen Reformation dar" 42 . Die „Empörerordnungen", die von den Fürsten vor, während und nach 1525 erlassen, in Landesordnungen eingearbeitet und Huldigungseiden inseriert wurden, sind gewissermaßen die politische Orchestrierung des von den Theologen angeschlagenen Themas. Allerorts wurde - u m 35 36 37 38

39 40 41 42

Zitiert nach H. Kirchner, Freunde Luthers, S. 93. Vgl. ebd., S. 154. Ebd., S. 307. So die ausgesprochene Interpretation von H. Kirchner, Freunde Luthers, S. 84, dem nach der obigen Analyse von Luthers Bauernkriegsschriften prinzipiell zuzustimmen ist. Die Belege bei G. Franz, Quellen Bauernkrieg, S. 185, 187. Ebd., S. 182. Die Belege ebd., S. 185. H. Diwald, Anspruch auf Mündigkeit um 1400-1555 (Propyläen Geschichte Europas 1), 1975, S. 342. Vgl. F. Seibt, Revolutionen in Europa. Ursprung und Wege innerer Gewalt. Strukturen, Elemente, Exempel, 1984, S. 243.

Fürstenreformation versus Gemeindereformation

215

summarisch zu argumentieren - die Gemeinde mindestens unter obrigkeitliche Kuratel gestellt. Man kann im Umfeld dieser Ereignisse die Heraufkunft einer neuen, allerdings nicht notwendigerweise besseren Zeit begründet sehen 4 3 ; das ist jedenfalls eine auch außerhalb Mitteleuropas durchaus nicht ungeläufige Einschätzung. Im Spätsommer 1525 waren - um Ernstes salopp zu sagen - die Obrigkeiten und die Reformatoren „über dem Berg", es ging bergab, jedenfalls mit dem Kommunalismus. Angesichts der spätmittelalterlichen Entwicklung des Kommunalismus lag es für die Bauern und Bürger nahe, eine Ideologie zu suchen, die geeignet war, die gemeindlichen Lebensprinzipien harte Arbeit, soziale Gleichheit und politische Mündigkeit in einer noch stark adelig geprägten Welt zu sichern. Dazu nahmen sie das „reine Evangelium" der Reformation in Anspruch. Das hat ihnen Luther schließlich verboten. Was aber tat Luther, wenn er feststellte: „Welltlich reich kan nicht stehen, wo nicht vngleicheyt ist, ynn personen, das etiliche frey, ettliche gefangen, etiliche herrn, etiliche vnterthan" 4 4 ? Er berief sich auf die Schrift! Die Interessen der Obrigkeiten und der Reformatoren fanden in einem Dokument von vortrefflicher Anschaulichkeit ihre zukunftsweisende Formulierung, im „Unterricht über die Predigt des Evangeliums" der Markgrafen Kasimir und Georg von Brandenburg vom August 1525 4 5 . „Nachdem die vergangen Empörung und Aufrurn den merern Tail durch ungelert und ungeschickte Prediger und Predig entstanden sind, ist ... meiner gnedigen Herren, Bevelh und Mainung, ... das das heilig Evangelion und Wort Gottes Alts und Neus Testaments allenthalben in irer F. G. Fürstentumben, Landen und Gebieten lauter und rain gepredigt werden ... sol". Und was heißt „reines Evangelium" jetzt? Es wäre ein Mißverständnis anzunehmen, „das der Glaub allain in Got und Jesum Christum ... zu Erlangung der ewigen Seligkeit genug sei", die guten Werke sind für das Heil unverzichtbar, „dann wo dieselben guten Werk nit volgen, da sei auch kein warer, rechter, liebreicher, seligmachender Glaub". Auch was christliche Freiheit sei, wird den Geistlichen eingeschärft. Christliche Freiheit heißt „aus einem freien, willigen Herzen und mit Lust die Gebot Gottes halten und gute Werke tun und ... der Oberkait gehorsam sein".