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German Pages 276 Year 2004
-jheatron
Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 41
Bettina Conrad
Gelehrtentheater Bühnenmetaphern in der Wissenschaftsgeschichte zwischen 1870 und 1914
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
D19 Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-66041-4
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Susanne Hallwich, tamTAM communications, München Druck und Einband: Digital PS Druck AG, Birkach
Beim Verfassen dieses Buchs wurde ich von vielen freundlichen Menschen unterstützt. Jetzt, da es abgeschlossen ist, möchte ich ganz besonders danken: Meinem Doktorvater, Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdörfer, der die Entstehung dieser Arbeit angeregt und fachkundig begleitet hat; Kathrin Weber-Sterling, die mir mit wachem Blick und konstruktiver Kritik zur Seite stand; meiner Mutter, Isolde Conrad, die das Korrekturlesen übernommen hat, und Susanne Hallwich, die die Drucklegung vorbereitet hat. Für großzügige finanzielle Unterstützung möchte ich meinem Großvater, Dr. Jakob Conrad, danken. Dominik Weber schließlich danke ich für sehr vieles, unter anderem für seinen Beistand bei der Schlusskorrektur.
VI
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung: Historische und methodische Vorüberlegungen 1.1.
2.
1
Metaphorik und Begriffsbildung im wissenschaftshistorischen Kontext des späten 19. Jahrhunderts
2
1.2.
Die bisherige Verwendung von Theatermetaphern
6
1.3.
Ende der bisherigen Tradition des >Welttheaters< und ein Neuanfang
8
1.4.
Methodische Vorüberlegungen
1.5.
Die >Retheatralisierung< des Theaters am Ende des
12
19. Jahrhunderts
15
1.6.
Theatermetaphorik um 1900
17
1.7.
Vorliegende Untersuchungen zur Theatermetaphorik
19
Hysterieforschung, Katharsis und Körperkunst Hysterieforschung und Theatermetaphorik um 1900 im Kontext von Kultur- und Wissenschaftsgeschichte 2.1.1. Hysterietheorie und Theatermetaphorik 2.1.2. Entwicklung der Hysterieforschung im 19. Jahrhundert 2.1.3. Hysterie im kulturgeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende
23
2.1.
2.2. Das psychotherapeutische Neuverständnis der Katharsis 2.2.1. Bedeutung des Begriffs >Katharsis< in den Studien über Hysterie und der Psychoanalyse 2.2.2. Der kulturhistorische Nährboden der Metapher: Die tragische Katharsis in der zeitgenössischen Philologie 2.2.3. Rückführung der psychotherapeutischen Katharsis in die Theatertheorie: Bahrs Dialog vom Tragischen 2.2.4. Katharsis, Dionysoskult und die >Hysterie der Griechen< 2.3.
Hysterie und Tan2geschichte: Vom klassischen Bewegungsmuster zum affektiven Ausdruck
23 23 26 33 36 36 41 49 54
63
2.3.1. Hysterie und xiie ganze leibliche Symbolik< der dionysischen Erregung
63
2.3.2. Antikenreminis2enzen und >hysterische< Körperbilder in der Tanzreform um 1900
73
2.4.
3.
Hysterie und Schauspielgeschichte: Vom artifiziellen Spiel zur körperlichen Offenbarung der >Seele
Dramatisierung< und Traumelemente auf der Bühne und im Drama 3.1.
Die Traumdeutung und ihre Theatermetaphorik im Kontext von Wissenschafts- und Kulturgeschichte
105
3.1.1. Freuds Traumdeutung und ihre Theatermetaphern
105
3.1.2. Theaterbegriffe in der philosophischen und naturwissenschaftlichen Traumlehre des 19. Jahrhunderts
111
3.1.3. Ästhetische Züge des Freudschen Traumverständnisses
117
3.2.
3.3.
Ist der Traum dramatisch? Von der lyrischen Form< zur >Dramatisierung
dramatische Urphänomen
Zur Philosophie der Schauspielerin
198
4.4.
5.
Die Schauspielmetapher als Allegorie des modernen Menschen in philosophischen und literatischen Texten 4.4.1. Schauspielerei als Überwindung des Ich: Nietzsche 4.4.2. Der Schauspieler als impressionistisches Idol: Bahr und Schnitzler 4.4.3. Kritik des Ästheten und Feier des Lebens: Hofmannsthal
224 232
4.5. Rollentheorie und Theaterpraxis 4.5.1. Rollenarbeit im Naturalismus: Brahm 4.5.2. >Ein Theater, das dem Schauspieler gehörte Reinhardt
235 235 237
Schlußbemerkungen
249
5.1.
249
Hysterielehre, Katharsis und Körperkunst
217 217
IX
5.2. 5.3.
6.
X
Traumdeutung, >Dramatisierung< und Traumelemente auf der Bühne und im Drama
250
Rollentheorie, Schauspielmetaphorik und Bühnenspiel
251
Literaturverzeichnis
253
1. Einleitung: Historische und methodische Vorüberlegungen
Verwendet man heute in einem soziologischen Kontext den Begriff der »Sozialen Rolle«,1 so kaum in dem Bewußtsein, dabei auf den Wortschatz der Theatersprache zurückzugreifen. Ähnliches gilt auf dem Gebiet der Psychoanalyse für die Begriffe der »Kathartischen Methode«2 und der »Dramatisierung des latenten Trauminhalts«.3 Ihnen kommt heute eine im Vokabular der jeweiligen Fachsprache festgelegte Bedeutung zu. Dagegen belegen die Anführungszeichen, in denen die Wiener Ärzte Josef Breuer (1842-1925) und Sigmund Freud (1856-1939) die »>kathartische< Wirkung«4 ihrer neu erfundenen Psychotherapie schildern, oder die langen schauspieltheoretischen Ausführungen, in deren Kontext der Sozialwissenschafder Georg Simmel
Georg Simmel gilt heute als Urheber des soziologischen Rollenmodells. Mit ihm erhob der Gesellschaftswissenschafticr einen Schauspielbegriff zum »namengebenden [...] Motiv einer sozialwissenschaftlichcn Theorie«. Ralf Konersmann: Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher. In: Karlfried Gründer und Gunter Scholtz (Hrsg.): Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. 30. Bonn 1986/87, S. 84-137, hier S. 134. Die Begründer der Psychoanalyse, Josef Breuer und Sigmund Freud, führen in den 1895 veröffentlichten Studien über Hysterie ihre neu gefundene Behandlungsform hysterischer Symptome im Rückgriff auf einen Begriff des antiken Theaters als >kathartische Methode< ein. Vgl. Josef Breuer und Sigmund Freud: Studien über Hysterie (1895). Hrsg. v. Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1991, darin: Vorwort zur ersten Auflage, S. 23f., hier S. 23. In der 1899 erschienenen Traumdeutung greift Freud eine Formulierung von Heinrich Spitta auf, um zu zeigen, was den Traum wesentlich vom begrifflichen Gedanken unterscheidet: »Die Verwandlung der Vorstellung in Halluzination ist nicht die einzige Abweichung des Traumes von einem etwa ihm entsprechenden Wachgedanken. Aus diesen Bildern gestaltet der Traum eine Situation, er stellt etwas als gegenwärtig dar, er dramatisiert eine Idee, wie Spitta (...) sich ausdrückt. Die Charakteristik dieser Seite des Traumlebens wird aber erst vollständig, wenn man hinzunimmt, daß man beim Träumen (...) nicht zu denken, sondern zu erleben vermeint, die I Ialluzinationen also mit vollem Glauben aufnimmt.« Sigmund Freud: Die Traumdeutung, zugleich: Ders.: Studienausgabe. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1972, S. 74. Der Begriff wird 1901 als die »Verwandlung eines Gedankens in eine Situation« definiert und in den Wortschatz der Psychoanalyse übernommen werden. Vgl. Sigmund Freud: Über den Traum (1901). In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Anna Freud (u.a.). Bd. 2/3. London 1942, S. 645-700, hier S. 666. (im folgenden: GW). Josef Breuer und Sigmund Freud: Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene (Vorläufige Mitteilung) (1893). In: Breuer/Freud (Anm. 2), S. 32. 1
(1858-1918) seinen Rollenbegriff thematisiert, 5 daß den >Vätern< der entsprechenden Begriffe deren metaphorische Verwendung noch durchaus präsent war. Aus der Theatersprache entliehen, stellt ihr wissenschaftlicher Gebrauch, der sich um die Wende zum 20. Jahrhundert vermehrt abzeichnet, diese Wörter in einen »konterdeterminierenden Kontext«/' Dieser Definition, die der Linguist und Literaturwissenschaftler Harald Weinrich vorgeschlagen hat, folgend, lassen sich die entsprechenden Begriffe als Metaphern untersuchen. 7 Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, diese metaphorischen Ursprünge aufzudecken und so die vergessenen Zusammenhänge zwischen Wissenschaftssprache und Theaterdiskurs nachzuvollziehen.
1.1.
Metaphorik und Begriffsbildung im wissenschaftshistorischen Kontext des späten 19. Jahrhunderts
Der Metaphernreichtum, der das Werk der genannten Forscher aus2eichnet, 8 liegt unter anderem in der wissenschaftsgeschichtlichen Revolution des 19. Jahrhunderts begründet, in deren Verlauf sich die sogenannten Geisteswissenschaften methodisch etablieren konnten.
5
6
7
8
9
Das Konzept der wozialen Rolle< steht bei Simmcl im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Phänomen der schauspielerischen Rollengestaltung, denn »Was für die gewöhnliche Vorstellungsweisc das Rätsel des Schauspielers ist: wie jemand, der eine bestimmte, eigene Persönlichkeit ist, auf einmal zu einer ganz anderen, zu vielen anderen werden konnte - wird |unter dem Gesichtspunkt einer soziologischen Rollenphilosophie, Anmerkung der Verfasserin! zu dem tieferen Problem: daß ein Tun, getragen von einer körperlich-seelischen Individualität, aus deren produktiver Genialität hervorbrechend und von ihr geformt, zugleich doch Wort für Wort, im ganzen wie im einzelnen, gegeben ist!« Georg Simmel: Zur Philosophie des Schauspielers (1908). In: Georg Simmel: Gesamtausgabe. Bd. 8. Hrsg. v. Otthein Rammstedt (u.a.). Frankfurt a. M. 1989ff. (im folgenden: GA). Frankfurt a. M. 1993, S. 424-432, hier S. 428. Zu Harald Weinrichs Definition der Metapher vgl.: »Line semantische Definition der Metapher ist nur in einer Textsemantik möglich [...]. Flin Wort in einem Text setzt eine gewisse Kontexterwartung, die von dem tatsächlichen Kontext enttäuscht werden kann. Die Metapher ist defxnierbar als ein Wort in einem konterdeterminierenden Kontext.« Harald Weinrich, Ulrich Suerbaum und Heinz 1 leckhausen: Bochumer Diskussion >Die Metaphen. In: Poetica 2 (1968), S. 100-131, hier S. 100. Über den aktuellen Stand der Forschung auf diesem Gebiet informiert Anselm I Iaverkamps Nachwort >Nach der Metapher< in: Ders. (I Irsg.): Theorie der Metapher. 2., um ein Nachwort zur Neuausgabe und einen bibliographischen Nachtrag ergänzte Auflage. Darmstadt 1996, S. 499-505. Zum Metaphernreichtum, der die wissenschaftliche Sprache Sigmund Freuds im allgemeinen auszeichnet, vgl.: Heinz Politzer: Über Sigmund Freuds Stil. In: The German Quarterly 42 (1969), S. 739ff. Über die Linzelstudie hinausgehend verweist auf dasselbe stilistische Phänomen im Werk Georg Simmeis: Hans Blumenberg: Geld oder Leben. Line metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmeis. In: Hannes Böhringer und Karlfried Gründer: Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel. Frankfurt a. M. 1976, S. 105— 114.
Der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) hat bereits im ersten Band seiner nie zum Abschluß gekommenen "Einleitung in die Geistesmssenschafien (1883) diesen Ausdifferenzierungsprozeß beschrieben, der mit dem Aufkommen eines historischen Bewußtseins an der Wende zum 19. Jahrhundert beginnt und gegen Ende des Jahrhunderts auf seinem Höhepunkt angekommen ist. In dieser Zeit bildet sich parallel zur bisher uneingeschränkten szientistischen Dominanz des naturwissenschaftlichen Denkens ein spezifisch geisteswissenschaftlicher Modus der Fragestellung heraus. Während die Naturwissenschaften ihren Gegenstand als gesetzmäßigen Zusammenhang abstrakt und hypothetisch erschließen, wird — so Dilthey — in den Geisteswissenschaften die kulturell-geschichtliche Welt dem Individuum von seinem eigenen Erleben her unmittelbar zugänglich: Es gibt da keine hypothetischen Annahmen, welche dem Gegebenen etwas unterlegen. Denn das Verstehen dringt in die fremden Lebensäußerungen durch eine Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse [ein].9
Geisteswissenschaftliche Ansätze nähern sich ihrem Objekt in einem schöpferischen Prozeß der Sinnproduktion durch Einfühlung. Dies rückt sie in die Nähe der künsderischen Praxis und ästhetischen Rezeption, muß doch das forschende Subjekt den Vorgang der kulturellen Bedeutungserzeugung quasi retrospektiv nachvollziehen. Laut Dilthey [...] läßt sich der objektive Zusammenhang geltender Symbole, in den eingebettet wir uns immer schon vorfinden, nur durch erlebende Rekonstruktion verstehen, so also, daß wir in den Prozeß der Hervorbringung von Sinn zurückgehen. Jedes Erlebnis von kognitiver Bedeutung ist poetisch - wenn Poiesis Sinnschöpfung, eben den Produktionsvorgang meint, in dem der Geist sich selber objektiviert. 10
In seiner hermeneutischen »Theorie des Ausdrucksverstehens«11 hat Dilthey eine spezifisch geisteswissenschaftliche Methode formuliert, der unter anderem auch die Psychoanalyse, deren Grundlagen Freud gemeinsam mit dem älteren Kollegen Josef Breuer gelegt hat, sowie die >verstehende< Soziologie Georg Simmeis verpflichtet sind. Diese Denker haben sich mit ihr von der kausalnaturwissenschaftlich argumentierenden Tradition ihrer Vorgänger in der experimentellen Psychiatrie12 bzw. der positivistischen Soziologie nach Auguste Comte und Herbert Spencer deutlich emanzipiert.13 9
10 11 12
13
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Stuttgart 1927, S. 90. Zitiert nach Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. Μ. 1968, S. 183. Dilthey (Anm. 9), S. 187. Dilthey (Anm. 9), S. 178ff. Das bis dato uneingeschränkt gültige anatomisch-physiologische Erklärungsmodell der medizinischen Psycholojgie des 19. Jahrhunderts läßt sich mit den Worten einer ihrer Koryphäen auf die Uberzeugung zurückführen, daß »das Irresein [...] eine Hirnkrankheit ist.« Der hier zitierte Psychiater Richard von Krafft-Ebing ( 1 8 4 0 1902) lehrte und arbeitete seit 1889 in Wien. Zitiert nach Erna I-esky: Die Wiener medizinische Schule. Wien 1965, S. 285. Zum wissenschaftlichen Stand der einzelnen Disziplinen im fraglichen Zeitraum informieren: Heinrich Ballmer (Hrsg.): Geschichte der Psychologie. 2 Bände. Wein3
In der gemeinsam mit Breuer entwickelten Psychotherapie sowie in der später entwickelten Traumdeutung faßt Freud Symptom und Traumbild als semiotische Gebilde auf, die es im Hinblick auf dahinter liegende unbewußte Botschaften zu verstehen gälte.14 Die hier eingesetzte Methode basiert, wie Alfred Lorenzer gezeigt hat, auf einer Theorie des »szenischen Verstehens« 15 und weist damit eine hohe Affinität sowohl zur Hermeneutik als auch zum Theater auf. Beide Bezüge kennzeichnen auch Georg Simmeis Soziologie, die menschliche Verhaltens formen nicht mehr dahingehend untersucht, >was sie sindwas sie darstellend16 Der in meiner Arbeit zu behandelnde Gebrauch einer Metaphorik aus dem Bereich von Kunst und Kultur hat vor diesem Hintergrund ebenso wie die Selbstidentifizierung Sigmund Freuds mit Dichtern 17 oder die Vorliebe Simmeis für literatur- und kunsttheoretische Themen programmatische Bedeutung.1 s
14
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4
heim 1982; l,esky (Anm. 12); Hans Jürgen Helle: Dilthey, Simmel und Verstehen. Vorlesungen zur Geschichte der Soziologie. Frankfurt a. M. 1986; Wolf I xpemes (Hrsg.): Gcschichtc der Soziologie. Frankfurt a. M. 1981. Zum geisteswissenschaftlichem Neuverständnis der Psychc in der Psychoanalyse vgl. Paul Ricoeur: Die Interpretation. Hin Versuch über Freud. Frankfurt a. M. 1969. Vgl. auch: Habermas (Anm. 9), S. 262-331. Lorenzer erklärt das »szenische Verstehen |zum| |./.| Hauptweg des psychoanalytischen Verstehens. Iis stützt sich auf die Mitteilungen des Patienten, nimmt also vor allem logisches Verstehen< in seinen Dienst. Das szenische Verstehen verläuft analog dem logischen Verstehen und dem Nacherleben. Iis wird im Analytiker gesichert durch ein Evidenzerlebnis. So wie das logische Verstehen in der formalen Rezeption des Satzes, so wurzelt das szenische Verstehen im Erfassen der >Szene< |= Vorstellungen, Erlebnisse, Einfälle des Patienten als szenisches Arrangement der frühen Objektbeziehungen des Ich, Anmerkung der Verfasserin). Die verstandene Szene entspricht einem Erwartungsmuster im Analytiker, dem >Interaktionsmuster< - das der Interaktionsstruktur des Patienten entspricht. Die >BedeutungenRollenbedeutungenLebensspiels< des Patienten zu läge wobei sich zeigt, daß die Sinnzusammenhänge, auf die logisches Verstehen, Nacherleben und szenisches Verstehen sich beziehen, nicht unverbunden nebeneinander stehen.« Alfred Lorenzer: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1970, S. 115. Zum geisteswissenschaftlichen Ansatz Simmeis, der seine Soziologie des öfteren in Analogie zum Kunstverstehen gesetzt hat, vgl. Murray S. Davis: Georg Simmel and the Aesthetics of Social Reality. In: Social Forces 51 (1973), S. 320-329. Vgl. auch: Helle (Anm. 13). Vgl. auch: Sibylle I Iübner-Funk: Asthetizismus und Soziologie bei Georg Simmel. In: Böhringer/Gründer (Anm. 8), S. 44—59. Vgl. etwa Freuds kokette Klage darüber, »daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren«. Sigmund Freud. In: Breuer/Freud (Anm. 2), S. 180. Um nur eine kleine Auswahl entsprechender 'l'itel zu nennen: Einige Bemerkungen über Goethes Verhältnis %w Ethik (1888), Gerhard Hauptmanns >Weber< (1892/93), Kant und Goethe (1906), Rembrandt (1916), vgl. Bibliographie der Werke Simmeis (deren geplante Gesamtausgabe bei Suhrkamp bislang noch nicht vollständig vorliegt). In: Kurt Gassen, Michael Landmann: Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Er-
N e b e n der allgemeinen Affinität, die ihre W i s s e n s c h a f t zur p o e t i s c h e n Praxis aufweist, erklärt sich die große A n z a h l m e t a p h o r i s c h e r A u s d r ü c k e in d e n Werk e n B r e u e r s , F r e u d s u n d S i m m e i s d u r c h d e n terminologischen N e u e r u n g s b e d a r f der v o n ihnen gestifteten Disziplinen. 1 9 T h e o r e t i s c h e I n n o v a t i o n e n m ü s s e n notwendigerweise sprachliche Anleihen bei vertrauten Vorstellungsbereichen m a c h e n , u m eine neue D e n k w e i s e z u veranschaulichen. I n s b e s o n d e re die M e t a p h e r erlaubt es, - d u r c h die Ü b e r t r a g u n g in einen konterdeterminierten Kontext< aus ihrer ursprünglichen s e m a n t i s c h e n Fixierung gelöst — assoziativ neue B e d e u t u n g s g e b i l d e z u erstellen. Mit H a n s B l u m e n b e r g ist deshalb v o n e i n e m sinn- u n d s p r a c h s c h ö p f e r i s c h e n Potential dieser rhetorischen F i g u r a u s z u g e h e n , in der »sich der G e i s t in seinen Bildern selbst v o r a u s « 2 0 ist. M e t a p h o r i s c h e S p r a c h e wird z u einer N o t w e n d i g k e i t für F ä c h e r , die nicht a u f v o r g e g e b e n e Begrifflichkeit zurückgreifen k ö n n e n , s o n d e r n diese erst » i m M u t zur V e r m u t u n g « 2 1 e n t w e r f e n m ü s s e n . Mit dieser begriffsgeschichtlichen F u n k tion ist die M e t a p h e r weit d a v o n entfernt, bloßer S p r a c h s c h m u c k zu sein, i m Gegenteil: Die Metapher [...] ist das Primäre, sie erschließt den Zugang zu den höheren Abstraktionsgraden, in denen sie sich als Orientierung zunehmend verbirgt und endlich verschwunden ist. 22
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21 22
innerungen, Bibliographie. Berlin 1958, sowie deren Ergänzung durch Hans-Martin Sass in: Böhringer/Gründer (Anm. 8). Institutionalisierungsprozesse »werden [...] üblicherweise als Stabilisierungsvorgänge beschrieben: in ihnen erlangen Theoriegruppen, Spezialgebiete und wissenschaftliche Disziplinen eine organisatorische Absicherung: soziale und kognitive Identität stützen und verstärken einander. Zugleich handelt es sich aber - und dies wird seltener untersucht — auch um Disziplinierungen: wissenschafdiche Fächer gewinnen und bewahren ihre Identität nicht nur dadurch, daß sie sich auf bestimmte Traditionen berufen, sondern auch dadurch, daß sie sich von bestimmten Traditionsbeständen distanzieren. Im Verlauf solcher Aneignungs- und Abstoßungsprozesse sind Transformationsleistungen notwendig, durch die historische und aktuelle Problemstellungen, Erklärung«- und Interpretationsvarianten umformuliert werden, um die kognitive Identität eines bestimmten Theorieprogramms zu bewahren.« Wolf 1-epenies (Hrsg.): Geschichte der Soziologie, Einleitung, S. 9. Bei der zu beschreibenden Neuverwendung von Theatermetaphern handelt es sich um eine derartige >Umformulierung< einer >Erklärungsvariante< im Rahmen eines Institutionalisierungsprozesses. Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Erich Rothacker (Hrsg.): Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. 6. Bonn 1960, S. 7-142, hier S. 11. Das Zitat im Ganzen umreißt den Standpunkt von Blumenbergs Metaphorologie: Diese »sucht an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen, aber sie will auch faßbar machen, mit welchem >Mut< sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist, und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft.« Ebd. Blumenberg (Anm. 8), S. 123. 5
1.2.
Die bisherige Verwendung von Theatermetaphern
Mit dem Eintritt v o n Theatermetaphern in die Wissenschaftssprache um 1900 beginnt ein grundlegend neues Kapitel innerhalb ihrer Jahrtausende langen Begriffsgeschichte. Den metaphorischen Gebrauch von Theaterbegriffen an sich kennt die Menschheit schon seit Urzeiten. Bereits Piaton veranschaulicht im Bild der Bühne seine Vorstellung vom >Spiel des Lebens< als bloßer Mimesis der göttlichen Idee. Er spricht v o m Menschen als Puppe eines allmächtigen Marionettenspielers. 23 Bis ins 19. Jahrhundert hinein wird der Einsatz der Theatermetapher durch ihre verschiedensten religiösen und philosophischen Auslegungen hindurch diesem Ursprung im platonischen Weltbild weitgehend verbunden bleiben. Der »ehrwürdige Topos v o m großen Welttheater«, 24 in dem die christliche und nachchristliche Tradition das Modell Piatons fortschreibt, findet seine Legitimation in der Vorstellung eines sinnhaften Zusammenhangs des Weltganzen, in einer Instanz, die in wechselnden Gestalten — sei es als >GottNaturGeschichteCharaktcrmasken< auftreten. Marx beerbt nicht nur die idealistische Geschichtsphilosophie, sondern auch die Rollenkritik, wenn er die theatralischen Züge der kapitalistischen Gesellschaft und damit ihre ideologische Einkleidung aufzeigt.« Konersmann, Ralf: >Rollespracharchäologische Spurensuche< in der Absicht, im Zuge der Begriffsgeschichte über das reflexionsleitende Potential der »Sprache in ihrer >Leitfunktion< für unser Denken«61 aufzuklären. Notwendige Voraussetzung hierfür wie für jede Formulierung geschichtlicher Entwicklungen ist die Einzelanalyse, in diesem Fall die Untersuchung bestimmter Metaphernfelder innerhalb einer Epoche: Das Material verlangt [...] eine Interpretation aus dem gedanklichen Zusammenhang, innerhalb dessen es steht und fungiert und seine Konturen wie sein Kolorit empfängt. 62
Im Sinne Blumenbergs wird die vorliegende Untersuchung ihren kulturhistorischen Blick auf den >gedanklichen Zusammenhang*, aus dem heraus die fraglichen Theorien und ihre Metaphern zu verstehen sind, und aus
55 56 57 58 59 60 61 62
14
Blumenberg (Anm. 20), S. 10. Ebd., S. 12 f. Ebd.,S. 13. Ebd., S. 13. Ebd.,S. 20. Ebd., S. 13. Ebd., S. 20. Ebd., S. 38.
dem heraus sie >ihie Konturen wie ihr Kokrafc empfangen, durch die Brille theaterästhetischer Bezüge richten. Sie wird sich dabei stets in Engführung zu den für den Untersuchungszeitraum gültigen Bestimmungen der entsprechenden Theaterbegriffe bewegen. >Theater< nämlich ist — aufgrund der transitorischen Qualität dieser Kunstform vielleicht noch mehr als andere ästhetische Begriffe — niemals als historisch stabile Größe, sondern stets nur als variable Aktualisierung innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens existent.63 So ist auch die Theatermetaphorik bestimmter Autoren stets auf den Vorstellungsrahmen zu beziehen, den ihre Epoche und ihr soziokulturelles Umfeld vorgeben.
1.5.
Die >Retheatralisierung< des Theaters am Ende des 19. Jahrhunderts
In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die den historischen Ausgangspunkt dieser Ubedegungen darstellen, wurde allgemein die ermüdende geistige Leere und ästhetische Flachheit der Theaterpraxis beklagt.64 Doch bedeutete hier wie so oft — der Höhepunkt dieser Krise zugleich ihr Ende: Das angestaute Unbehagen begünstigte zugleich den »ungeheueren, beispiellosen, noch nie dagewesenen Erfolg« 65 des Herzog Georg II. von Sachsen Meiningen, der der >Theatermisere< mit neuartigen Inszenierungsprinzipien - weitgehende Texttreue, Subordination der schauspielerischen Einzelleistung in ein strukturiertes Ensemblespiel sowie die neue Sorgfalt, die er auf eine sozial und historisch korrekte Ausstattung verwandte — entgegentrat.66
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Vgl. etwa Arno Paul, der im Zuge seiner methodologischen Grundsatzüberlegungen zur Theaterwissenschaft festhält: »Theater existiert geschichtlich nur als Begriff [man könnte auch sagen: als Entwurf oder Vorstellung] und als Gefühl [man könnte auch sagen als Erfahrung oder Erlebnis]«. Arno Paul: Theaterwissenschaft als Ix'hrc vom theatralischen Handeln. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpychologie 1 (1971), S. 4 8 - 7 6 , hier S. 56. Erika Fischer-Lichte schreibt in ihrer Geschichte des Dramas: »Je weiter das Jahrhundert voranschritt, desto desolater wurde der Zustand des Theaters überall in Europa. Um das Jahr 1880 herum hatte sein literarisches Niveau einen kaum mehr zu unterbietenden Tiefpunkt erreicht. Dies war die Zeit, in der das seichte, kommerzielle Unterhaltungstheater seine größten Triumphe feierte. Daneben wurde bildungsbürgerlichem Anspruch mit hohlem Deklamationstheater Genüge getan, das den Klassikern mit tötender Langeweile die letzten Reste an Aktualität und geistiger Brisanz austrieb, nachdem die Zensur bereits jeden möglichen Stein des Anstoßes — in politischer, religiöser, sittlicher und moralischer Hinsicht - unnachsichtig entfernt und jeglichen Ansatz zur Provokation mit Stumpf und Stiel ausgerottet hatte.« Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Bd. 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart. Tübingen 1990, S. 84. Max Grube: Jugenderinnerungen eines Glückskindes. I^eipzig 1917, S. 85. Vgl. Grube (Anm. 65). 15
Der Herzog gilt heute allgemein als »erster verantwortlicher Regisseur nach heutigen Maßstäben« 67 und wurde damit zum Ahnherrn einer neuen Generation von Theatermachern, die der Sprechbühne — nachdem auf dem Musiktheater Entscheidendes durch Richard Wagner geleistet worden war 6 8 — ihren ästhetischen Anspruch zurückgaben: Das Verständnis für die Bedeutung der Bühnenausstattung im weitesten Sinne |für die dramatische Inszenierung als ganze und die Hinsicht in das dynamische Verhältnis zwischen Schauspieler und Dekor] bereitete den Weg für die Theorien eines Appia und die Praxis eines Reinhardt vor, das heißt auch für jene nicht-realistische Regie, die die vorherrschende Tendenz im Theater des frühen 20. Jahrhundert werden sollte. Die unmittelbaren Nachfolger des Herzogs von Meiningen und 1 -udwigs Chronegks waren jedoch die großen Vorkämpfer des Naturalismus auf dem europäischen Theater: Antoine, Brahm und Stanislavskij. 69 In der Folge lassen sich für den Zeitraum von 1887 bis 1899 ein Dutzend Neugründungen künsderisch bedeutender Bühnen in Europa verzeichnen. Erika Fischer-Lichte betont die breite öffentliche Wirkung dieser sogenannten Kunsttheater-Bewegung: Auf diesen Bühnen gelangten die Werke Ibsens, Björnsons, Strindbergs, Turgenjevs, Tolstois, Chechovs, Gorkis, Hauptmanns, Hofmannsthals, Maeterlincks, Wildes, Yeats', Galsworthys, Shaws zur Aufführung. Fast jede dieser Aufführungen rief bei Publikum und Kritik die heftigsten Reaktionen hervor - sei es in Form begeisterter Zustimmung, sei es als dezidierte, kompromißlose Ablehnung. Die bedeutendsten Kritiker der Zeit - wie Fontane in Berlin und Sarcey in Paris berichteten in den maßgeblichen Tageszeitungen über Stücke und Inszenierungen und setzten damit die im Theater begonnene Diskussion innerhalb einer größeren Öffentlichkeit fort. 70 Zunehmend gewinnt die Bühne ihre verloren geglaubte ästhetische und gesellschaftliche Relevanz zurück. 71 Das neue Selbstbewußtsein gipfelt in den Retheatralisierungstendenzen der sogenannten Theaterreformen der Jahrhundertwende. Entgegen der ästhetischen Vereinnahmung des Theaters durch Dramentext und soziale Wirklichkeit, wie sie noch im Naturalismus bestimmend war, beruft man sich jetzt auf dessen Status als »eigenständige Kunst mit eige-
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Monika Sandhack: >RegieDramatisierung< kleidet, dem zeitgenössischen Verständnis von Drama und Theater als Projektionsraum subjektiver Innenwelten. Und Simmeis Rollenbegriff ähnelt mit seiner Entgrenzung von Persönlichkeit und sozialem Verhaltensmuster bestimmten schauspielästhetischen Reflexionen, die die Verschmelzung von Schauspielerpersönlichkeit und Rollenfigur einfordern. Diese Parallelen lassen sich — wie zu zeigen sein wird — nicht immer auf direkte Anschauung oder Einflußnahme zurückführen. Sie finden ihre Erklärung vielmehr häufig in der gemeinsamen Bezugnahme auf gewisse theater- oder kulturtheoretische Modelle des späten 19. Jahrhunderts.
72 73
Fischer-Lichte (Anm. 27), S. 263. Vgl. Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus. In: Ders.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1 8 8 7 - 1 9 0 4 . Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Gotthart Wunberg. Stuttgart u.a. 1968, S. 3 3 - 1 0 2 . 17
Für die hier genannten Entwicklungen von Theatermetaphorik und Theatergeschichte war die Orientierung an Friedrich Nietzsches Entwurf einer neuen Ästhetik ein gemeinsamer Ausgangspunkt. Der erwähnte Tragödienaufsatz wird deshalb innerhalb der folgenden Ausführungen eine zentrale Rolle spielen.74 Darüber hinaus sind für das Theaterverständnis der Epoche — zumindest was jenes bürgerliche Milieu angeht, dem Josef Breuer und Sigmund Freud ebenso wie Georg Simmel angehören — nicht so sehr die avantgardistischen Schriften bestimmter Theaterreformer von Bedeutung als die über meinungsbildende akademische, literarische und kulturkritische Medien vermittelten Interpretationen von Theaterformen und -begriffen, die es anhand entsprechender Quellentexte zu ermitteln gilt.75 Ziel dieser Übedegungen zur >Theatermetaphorik und Begriffsbildung< ist es, das >kulturelle SystemKntlarvungspsychologie< an, die eine radikale Moralkritik zum Inhalt hat. Die im Zarathustra ausgerufenen These >Gott ist tot< leitet zur letzten Phase im Denken Nietzsches über - zur Prophezeiung des Nihilismus und der Umwertung aller Werte. Vgl. Wiebrecht Ries: Nietzsche zur Einführung. 5. überarbeitete und erweiterte Auflage. Hamburg 1995. Alle drei Autoren waren ausgesprochen kulturintercssiert und nahmen an der entsprechenden Diskussion ihrer Zeit regen Anteil. Gegen die mancherorts vertretene Ansicht, Sigmund Freud vertrete ein im Vergleich zu seiner Zeit rückständiges Kunstverständnis, wendet Michael Worbs ein: »Faßt man [...] den Begriff Fin de sikle als Epochenbegriff, der die gesamte Kunst gegen linde des 19. Jahrhunderts — naturalistische wie gegen-naturalistische Strömungen - gleichermaßen beeinflußt, dann zeigt sich Freud wenn nicht als Kenner, so doch als jemand, der auch die Modernismen zur Kenntnis nimmt; dann wäre auf Jacob Julius David, Theodor Her/1, Fontane, Nietzsche, Oskar Panizza und Arthur Schnitzicr, auf Swinburne und Tennyson als Vorläufer, auf Zola, Maupassant, Daudet, France, Paul Bourget, Alexandre Dumas fils sowie Victorien Sardou, auf Ibsen und Jens Peter Jacobsen, auf Richard Wagner und nicht zuletzt auf Arnold Böcklin hinzuweisen.« Worbs, Michael: Nervenkunst, S. 99f. Dieser Autor schildert auch das entsprechende Interesse Josef Breuers, dem 1 lausarzt und gerngesehenen Gast der Josephine von Wertheimstcin, deren Salon »Hofmannsthal für das geistige Zentrum Wiens hielt«. Ebd., S. 92. Jürgen Habermas charakterisiert Georg Simmel bezüglich seiner Kultur- und Kunstauffassung als typisches »Kind des fin de siecle«. Jürgen Habermas: Simmel als Zeitdiagnostiker. Nachwort. In: Georg Simmel. Philosophische Kultur. Gesammelte Essais. Berlin 1983, S. 243-253, hier S. 246. Der hierbei zugrunde liegende Kulturbegriff folgt den Ansätzen von Clifford Geertz. Er »ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungssysteme verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.« Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983, S. 9. Zitiert nach Yehuda Elkana: Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft. Frankfurt a. M. 1986, S. 17f. Vgl. auch Elkanas eigenen Standpunkt, »daß die verschiedenen Kulturdimensionen - Religion, Kunst,
Nachbarsystemen zu verorten und damit die historischen Prämissen seiner Sinnproduktion herauszuarbeiten. Dabei ist — auch mit einem Seitenblick auf die aktuelle Situation — die grundlegende Determination wissenschaftlicher Theatermetaphern durch den ästhetischen Theaterbegriff ihrer Epoche darzustellen.77
1.7.
Vorliegende Untersuchungen zur Theatermetaphorik
Die diachrone Untersuchung von Theatermetaphern in poetischen Texten wurde von der älteren Literaturwissenschaft als Teil übergreifender motivgeschichtlicher Abhandlungen geleistet, z.B. innerhalb der monumentalen literaturhistorischen Studie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von Ernst R. Curtius.78 Daneben widmen sich verschiedene Untersuchungen Einzelaspekten oder auch bestimmten historischen Phasen des Motivkomplexes.79 Hinsichtlich des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit ist vor allem Manfred Karnicks umfangreiche und detaillierte Arbeit über Rollenspiel und Welttheater hervorzuheben. Anhand von Untersuchungen zu Dramen Calderons, Schillers, Strindbergs, Becketts und Brechts gelingt es Karnick, die historisch unterschiedliche Ausprägung der Thematisierung von >Rolle< in dramatischen Texte vom Barock bis in die Moderne herauszuarbeiten. Zum Kriterium seiner Analyse wählt der Autor den soziologischen Begriff der Rollenstruktur als »Zusammenhang der Struktur der Gesamtgesellschaft mit der sozialen Position und psychischen Disposition der Individualität«.80 Den Wandel dieses Zusammenhangs belegt er einleuchtend aus dem »Reflex seiner literarischen Darstellung«81 heraus, geht jedoch — wie im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht weiter verwunderlich — nicht explizit auf die theatergeschichtlichen Entstehungszusammenhänge des zugrunde gelegten Begriffs ein. Eine ähnliche
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Wissenschaft, Ideologie, Alltagsdenken, Musik - einander korrelieren, sie alle sind kulturelle Systeme.« Ebd., S. 16. Vgl. die grundlegenden Bemerkungen von Elkana: »Ob wir unter Wissenschaft nun die Gesamtsumme aller Weltauffassungen oder enger die geordnete Erkenntnis oder aber >Wissenschaft< im üblichen Wortsinn meinen, so gilt meines Erachtens für sie doch jedenfalls, daß die Wissenschaft historisch aufgebaut ist, daß sie historisch definierten Beurteilungsmaßstäben unterliegt, außerdem kann die Wissenschaft in Frage gestellt, diskutiert, bestätigt, formalisiert, überdacht und gelehrt werden, und vor allem unterscheidet sie sich drastisch zwischen verschiedenen Völkern; sie kann sich in einigen Aspekten drastisch von einer Disziplin zur nächsten unterscheiden, und sicher unterscheidet sie sich drastisch von einem Zeitalter zum nächsten.« Elkana (Anm. 76), S. 18. Vgl. Ernst R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 10. Auflage. Bern, München 1984. Vgl. Rusterholz (Anm. 26), vgl. Rudolf Drux: Marionette Mensch. Ein Metaphernkomplex und sein Kontext von Hoffmann bis Büchner. München 1986. Karnick (Anm. 46), S. 11. Ebd. 19
Konzentration auf literaturästhetische Fragestellungen kennzeichnet auch andere Untersuchungen in diesem Bereich, etwa Peter Rusterholz' Überlegungen zum Theatrum vitae humanae als poetischem Bild. 82 Eine Untersuchung zur Theatermetaphorik in wissenschaftlichen und philosophischen Texten dagegen liegt als Teil einer übergreifenden begriffsgeschichtlichen Abhandlung in Demandts Untersuchung von Sprachbildei\ri\ und Gleichnisse[n] im historisch-politischen Denket vor. Daneben finden sich Einzeluntersuchungen zu bestimmten Teilgebieten dieses Motivkomplexes, wie z.B. Konersmanns detaillierte Ausführungen zur Geschichte des Rollenbegriffs84 oder Rudolf Münz' Untersuchung des Theatergleichnisses bei Marx.85 Was das 20. Jahrhundert angeht, so findet man aufgrund der erwähnten Prominenz der Rollenmetapher innerhalb der Soziologie eine ganze Reihe begriffsgeschichtlicher Untersuchungen, die allerdings allesamt fachspezifisch strukturelle und nicht metaphorologische Interessen in den Vordergrund ihrer Ubedegungen stellen.86 Unter theatergeschichtlicher Perspektive hat sich vor allem Helmar Schramm dem >Theater als metaphorischen Modell* genähert, die Untersuchung dieses >TheatralitätsmodellsWelttheaters< im 16. und 17. Jahrhundert beschränkt.87 Die vorliegende Betrachtung wissenschaftlicher Theatermetaphorik aus der Perspektive theaterhistorischer Bezüge widmet sich also einem bislang vernachlässigten Bereich der Metapherngeschichte, dem gerade im Hinblick auf die aktuelle interdisziplinäre Diskussion große Relevanz zukommt. Das Theatergleichnis gilt darin häufig nicht als diskursiv erstelltes Ergebnis eines durch die Brille der Metapher gerichteten Blickes auf die Welt, sondern scheint eine quasi-ontologische Qualität des menschlichen Miteinanders nur auszudrükken.88 Dabei versäumt man es häufig, auf dessen »metaphorische [n] Unter82 83 84 85
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Rusterholz (Anm. 26), S. 144-155. Demandt (Anm. 23), Seite V I . l . A . Konersmann (Anm. 1), S. 8 4 - 1 3 7 . Vgl. Rudolf Münz: Charaktermaske und Theatergleichnis bei Marx. In: Das >andere< Theater. Studien zu einem deutschsprachigen Teatro dell'arte der I -essingzeit. Berlin 1979, S. 19-59. Vgl. Uta Gerhardt: Georg Simmeis Bedeutung für die Geschichte des Rollenbegriffs in der Soziologie. In: Böhringer/Gründer (Anm. 18), S. 7 1 - 8 9 , vgl. Heinrich Popitz: Der Begriff der sozialen Rolle als Klement der soziologischen Theorie. Tübingen 1968. Die mir bekannten theatersoziologischen Ansätze, die wie z.B. Dieter Langer: Die Rolle in Gesellschaft und Theater. Tübingen 1996. Das Theater als Vergleichsgröße für die soziologische Kategorie heranziehen, tun dies von einem Standpunkt aus, der die historische Dimension dieser Analogie vernachlässigt. Vgl. Schramm (Anm. 51), S. 21 Iff. Zum Gegenstandpunkt vgl. etwa Konersmann (Anm. 1), S. 87. Vgl. die Ansätze von Uri Rapp: I landein und Zuschauen. Untersuchungen über den theatersoziologischen Aspekt in der menschlichen Interaktion. Darmstadt u.a. 1973 und Gottfried Kisermann: Rolle und Maske. Tübingen 1991. Aber auch Krving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1969. Oder auch Victor Turner: V o m Ritual zum Theater. Der Krnst des menschlichen Spiels. Frankfurt a. M. 1989.
boden [, der] [...] sich auch in der Sprache der Sozialtheorie erhalten [konnte]«,89 zu reflektieren. Einen Beitrag hierzu möchte die vorliegende Untersuchung leisten. Schwerpunktmäßig untersucht werden im Kontext dieser Fragestellung die psychotherapeutische Verwendung der Theatermetaphern >Katharsis< durch Josef Breuer und Sigmund Freud sowie die psychoanalytische der >Dramatisierung< durch Freud alleine, zuletzt die soziologische des >RollenHysterie< faßt er bestimmte körperliche und psychische Funktionsstörungen sowie auffallige Verhaltensmuster und Charakterzüge, die sich auffassen lassen als »szenische Darstellungen«, »in denen etwas quasi edebt wird, was sonst nicht edebt werden kann und darf«.1 Der Autor stellt sich mit seiner These, am Ende des 20. Jahrhunderts existierten hysterische Krankheitsbilder, gegen die Meinung einer Mehrzahl seiner Kollegen. Diese halten die als Hysterie bezeichnete Neurose für ausgestorben, da sich deren um die Wende zum 20. Jahrhundert epidemieartig aufgetretenes klinisches Bild Ende des Jahrhunderts kaum noch auffinden lasse. Nicht so Stavros Mentzos, der nicht vom Verschwinden der Krankheit, sondern lediglich von einer grundsätzlichen Veränderung ihres Erscheinungsbildes ausgeht. Diesen Symptomwandel erklärt er mit der oben beschriebenen Theatralität hysterischer Phänomene, denn wenn sie unbewußte >tendenziöse< Inszenierungen sind, (...) ist auch die Annahme nicht abwegig, daß die hysterischen Formen von heute sich genauso von denjenigen der Jahrhundertwende unterscheiden, wie das moderne Theater vom Theater des ausgehenden 19. Jahrhunderts. 2
Die Bezugnahme dieses Vergleichs auf die Jahrhundertwende ist nicht willkürlich, denn als Psychoanalytiker befindet sich der Autor in einer inzwischen über hundertjährigen wissenschaftlichen Tradition. Begründet wurde sie im Jahr 1893, als der Wiener Arzt Josef Breuer gemeinsam mit dem jüngeren Kollegen Sigmund Freud im Neurologischen Zentralblatt eine Vorläufige Mitteilung über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene veröffentlichte.3 Ihre dort nur thesenhaft skizzierte Theorie stellten
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Stavros Mentzos: I Iysterie. Zur Psychodynamik unbewußter Inszenierungen. Frankfurt a. M. 1986, S. 21. Ebd ·
Vgl. Josef Breuer und Sigmund Freud: Über den psychischen Mechanismus hystericher Phänomene (Vorläufige Mitteilung) (1893). In: Dies.: Studien über Hysterie 23
sie — um fünf lange Krankengeschichten ergän2t — in den 1895 erschienenen Studien über Hysterie in aller Ausführlichkeit dar. Artikel und Buch beinhalten eine neuartige Erklärung zur Entstehung und Heilung bestimmter periodisch auftauchender neurotischer Erregungszustände, Sinnestäuschungen und alienatorischer Anfälle sowie jener körperlichen Krämpfe und Zuckungen, Schmerzen und Lähmungen, für die sich selbst nach eingehender Untersuchung der Kranken keine somatische Ursache finden ließe. All diese rätselhaften Symptome, die man bislang als den Ausfluß einer unbestimmten morbiden Anlage, einer >Degeneration< des Nervensystems begriffen hatte, wurden seinerzeit unter dem Begriff der Hysterie zusammengefaßt. Der Ansatz der beiden Wiener zeichnet sich gegenüber der bis dahin vorwiegend neurophysiologischen Auseinandersetzung mit diesem Krankheitsbild durch seine klar psychologische Orientierung aus. Die hysterischen Erscheinungen stehen ihrer Ansicht nach manchmal offensichtlich erkennbar, manchmal in symbolischer Verkleidung mit einem psychischen Trauma in Verbindung. Eine seelische Verletzung, auf die aus irgendeinem Grunde — sei es aufgrund intimer Bindung an die verursachende Person, sei es aufgrund gesellschaftlicher Normen — nicht angemessen reagiert werden konnte, habe zur Erkrankung geführt. Während die Kränkung selbst aus dem Bewußtsein verschwunden sei, habe sie das Symptom als ihren Stellvertreter sichtbar manifestiert. Breuer ist es — erstmals im Fall seiner berühmten Patientin >Anna 0.< - gelungen, die Hysterie zu heilen, indem er mittels Hypnose und langen Gesprächen das Trauma bewußt werden, und es sich durch verbalen Affektausdruck endaden ließ. Die so gefundene Therapie bezeichnete er als >kathartische Methode< und lieferte so das erste und vielleicht zugleich gewichtigste Beispiel für eine Vielzahl von Theaterbegriffen, auf die Breuer und Freud im Zuge ihrer Theoriebildung zurückgreifen werden. Stavros Mentzos' Definition, die hysterische Erscheinungen als unbewußte theatrale Arrangements bestimmt, ist also in der wissenschaftlichen Tradition bereits durch ein entsprechendes Metaphernfeld vorgezeichnet. In der für die Psychoanalyse wegweisenden Fallgeschichte der >Anna 0.< etwa greift Breuer eine Formulierung seiner Patientin auf, mit der diese die eigene phantastische Vorstellungswelt bezeichnet, die nach Annahme des Mediziners den Keim für eine hysterische condition seconde bildet:4 Dieses Mädchen von überfließender geistiger Vitalität führte in der puritanisch gesinnten Familie ein höchst monotones Ix-ben, das sie sich in einer für ihre Krankheit wahrscheinlich maßgebenden Weise verschönerte. Sie pflegte systematisch das Wachträumen, das sie ihr >Privattheater< nannte.5
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(1895), hrsg. v. Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1991, S. 27-41. Als Textvorlage für diese hier benutzte Neuausgabe der Studien über Hysterie diente die zweite Auflage von 1909, die - mit Ausnahme einiger Druckfehicrkorrekturen, der Modernisierung der Orthographie und eines neuen Vorwortes - einen unveränderten Nachdruck der ersten Auflage darstellt. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 51. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 42.
Dieses Bild überzeugt den Mediziner offensichtlich derart, daß er, nachdem er den Ausdruck schon innerhalb der Krankengeschichte an exponierter Stelle wiederholt hat,6 ihn im theoretischen Teil seiner Abhandlungen erneut aufgreift, um die realitätsabgewandte Vorstellungswelt seiner Patientinnen, die sich unter pathogenen Umständen zur »hysterischen Spaltung der Psyche«7 verschärfen könne, zu beschreiben.8 Darüber hinaus sind die hysterischen Symptome selbst häufig unter Rückgriff auf Schauspielvergleiche geschildert.9 Die Erkrankung selbst wird Freud später allgemein als »dramatische Wiedergabe einer Szene, deren Erinnerung während der Attacke unbewußt wirksam war«, 10 definieren und so den später zentralen psychoanalytischen Begriff der >Urszene< vorbereiten. 11 Die Geschichte des Faches wird also bis weit über die Anfänge hinaus von Theatermetaphorik geprägt. Zunächst ist deren Verwendung in bezug auf neurotische Phänomene jedoch keine Besonderheit Breuers oder Freuds. Die Beschreibung des hysterischen Anfalls mittels Schauspielmetaphern ist in der Forschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Gemeinplatz und reicht bis zur Diffamierung der Hysterika als Komödiantin. In den einschlägigen medizinischen Lehrbüchern lassen sich dahingehend zahllose Beispiele finden.12
Vgl.: »Als disponierend zur hysterischen Erkrankung finden wir bei dem noch völlig gesunden Mädchen [zwei] psychische Eigentümlichkeiten: den in (...) monotonem Familienleben unverwendeten Überschuß von psychischer Regsamkeit und Energie, der [...] das habituelle Wachträumen (>PrivattheaterPrivattheaterUrszene< kommt in einem Manuskript von Freud aus den Jahren 1897 vor und bezeichnet die traumatisierenden infantilen Erfahrungen, die in Szenarien, in Szenen angeordnet sind, ohne daß es sich dabei eigens um den elterlichen Koitus handeln müßte.« J. Laplanche und J. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1972, S. 576f. 12 Vgl. z.B. Otto Binswangen Die Hysterie. Wien 1904 (= Spezielle Pathologie und Therapie. 12. Bd., 1. Hälfte, 2. Abteilung, S. 92-137). Weiter unten wird auf diesen Sachverhalt ausführlich einzugehen sein. 6
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2.1.2. Entwicklung der Hysterieforschung im 19. Jahrhundert Als die Studien über Hysterie im Jahr 1895 in ihrer ersten Auflage erschienen, war die Auseinandersetzung mit dieser rätselhaften Krankheit bereits Jahrtausende alt.13 Schon die altägyptische Zeit hatte Ansätze entwickelt, einen Symptomkomplex zu erklären, der dem oben beschriebenen in wesentlichen Punkten ähnelt. Damals glaubte man, die Beschwerden hätten ihren Auslöser in der vernachlässigten Fortpflanzungsfähigkeit einer Frau: Die unbefriedigte und ausgetrocknete Gebärmutter beginne in diesem Fall auf der Suche nach Spermienflüssigkeit durch den Körper zu wandern und verursache jenes Krankheitsbild, das man später nach dem griechischen Wort >hystera< ^Gebärmutter) als >Hysterie< bezeichnete. Im Mittelalter dann führte man die betreffenden Anfälle, Schmerzen oder Lähmungen auf dämonische Besessenheit zurück. Ihr wurde mit Austreibungsritualen begegnet, die die Betroffenen häufig nicht übedebten. Die vorangegangene Bindung an die weibliche Sexualität schrieb sich in diesem Konzept insofern fort, als es die stigmatisierten Frauen eines Geschlechtsverkehrs mit dem Teufel bezichtigte. Mit fortschreitender Aufklärung löste ein gynäkologisches Verständnis diese Erklärung ab. Die Therapie verlagerte sich ab dem 18. Jahrhundert auf den operativen Eingriff. Nach wie vor waren die Folgen für die Patientin oft tödlich, drastisch waren sie in jedem Falle.14 Das spätere 19. Jahrhundert schließlich faßt die Hysterie, welche es weiterhin im wesentlichen als ein Frauenleiden begreift,15 als neurologische Erkrankung auf, verursacht durch eine erblich übertragene Schwäche des Nervensystems. Wenngleich Sigmund Freud schon in frühen Schriften gegen diese Hereditätsthese und ihre physiologischen Implikationen argumentiert,16 so kann er doch nicht verleugnen, daß er — wie auch Josef Breuer — »nicht immer Psychotherapeut gewesen [ist], sondern [...] bei Lokaldiagnosen und Elektrodiagnostik erzogen worden [ist] wie andere Neuropathologen«.17 Die Autoren
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Zur Geschichtc der wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Hysteriekonzepte vgl. Ilza Veith: I Iysteria. The History of a Disease. Chicago 1965. Vgl.: »The aspersion of >moral obliquitySchule der SalpetriereMeisters< war es — so Freud in seinem Nachruf von 1893 - der Hysterie zur Anerkennung als >echte Krankheit* verholfen zu haben: Diese rätselhafteste aller Nervenkrankheiten, für deren Beurteilung die Arzte noch keinen tauglichen Gesichtspunkt gefunden hatten, war gerade damals so recht in Mißkredit geraten, der sich sowohl auf die Kranken als auf die Arzte erstreckte, die sich mit der Neurose beschäftigten. Es hieß, bei der I lysterie ist alles möglich, und den Hysterischen wollte man nichts glauben. Erst unter dem Hinfluß Charcots gewöhnte [man] sich allmählich das höhnische Lächeln ab, auf das die Kranke damals sicher rechnen konnte; sie mußte nicht mehr eine Simulantin sein, da Charcot mit seiner vollen Autorität für die Echtheit und Objektivität der hysterischen Phänomene eintrat. 19
Durch den wissenschaftlichen Ernst, in dem er seine Studien betrieb, ebnete Charcot den Weg für eine ganze Generation nachfolgender Forscher, u.a. für die Wiener Ärzte Breuer und Freud.20 Weitreichende Auswirkungen hatte vor 18
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Erna Lesky berichtet verallgemeinernd von den »nosographierenden, mikroskopierenden und elektrisierenden Nervenärzte[n|« der Universität Wien, in deren Kreis erst Breuer und Freud die psychologische Seite der Hysterielehre einführten. Vgl. Erna Ixsky: Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Wien 1965, S. 395. Sigmund Freud: Charcot. In: GW I, S. 21-35, hier S. 30. Daß sich Charcot - entgegen dieser Einschätzung Freuds — noch nicht restlos von der >Simulationshypothese< befreit hat, belegt seine Bezeichnung der Hysterikerin als »grande simulatrice«. Vgl. Marianne Schuller: Weibliche Neurose und Identität. Zur Diskussion der Hysterie um die Jahrhundertwende. In: Dieter Kamper und Christoph Wulf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt a. M. 1982, S. 180-192, hier S. 183. Vgl.: »From the preceding accounts it can be seen that Charcot's influence extended to a group of brilliant pupils who inherited their master's interest in hysteria. They included Janet and Babiski in France and, especially Freud in Austria. Beyond this, however, Charcots tremendous renown gave the subject of hysteria a dignity that resulted in the publication of voluminous treatises not only by Charcot's disciples
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allem seine Theorie des hysterischen Anfalls, den er als erster im Rahmen einer detaillierten Beschreibung der verschiedenen Phasen schematisierte sowie photographisch und zeichnerisch dokumentierte.21 Diesem deskriptiven Ehrgeiz untergeordnet blieb Charcots Interesse an der Entstehungsgeschichte der Symptome. Der streng naturwissenschaftlich orientierte Nervenarzt war der unumstößlichen Uberzeugung, daß das Leiden seiner Patientinnen (und Patienten) auf einer genetischen Schwäche des zentralen und des peripheren Nervensystems beruhe.22 In den psychischen Traumata innerhalb der Entstehungsgeschichte der meisten von ihm untersuchten Hysterien, auf deren Existenz er als einer der ersten hingewiesen hatte, konnte er dagegen nur ein auslösendes Moment sehen. Seine Arbeit stand unter dem Leitgedanken, dass die Principien, welche im Reiche der Pathologie herrschen, auch für die Neurosen Geltung haben, und dass man auch bei diesen trachten muss, die klinische " 1 1 ' durch anatomische und physiologische Denkweisen zur Vollendung
Anders als Charcot, der der Dokumentation einer angeblich spezifisch hysterischen Symptomatik einen Großteil seiner Aufmerksamkeit widmete, vertrat der französische Psychiater Hippolyte Bernheim die Auffassung, daß es sich bei dieser Neurose weniger um eine qualitative Aberration als vielmehr eine quantitative Uberreaktion auf ein emotionales Trauma handle. Mit hypnotischer Suggestion strebte er eine Korrektur des Reaktionsmusters an. Zwischen Bernheim, der in Nancy lehrte, und der Schule der Sapetriere bestand offene Rivalität und Gegnerschaft. Freuds Studienaufenthalt an der Klinik Bernheims im Jahr 1889 darf unter diesen Umständen als Anzeichen einer fortschreitenden Abwendung von Charcot interpretiert werden.
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but also by such famous authorities as Kraepclin, Moebius, and Kretschmcr in Gemany, and Daniel Hack Tuke in England.« Veith (Anm. 13), S. 257. Zu den entsprechenden 1 Experimenten und Studien an der Salpetriere sowie den dabei entstandenen Bild- und Schriftarchiven vgl. Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographischc Klinik von Jean-Martin Charcot. Aus dem französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Silvia Henke, Martin Stingelin und I lubert Thüring. München 1997. Charcot war einer der ersten, der sich von der gängigen Klassifizierung der 1 Iysterie als reiner >Frauenkrankheit< löste, wenngleich er die männliche 1 Iysterie stets in Analogie zu ihrem weiblichen >Grundmuster< beschrieben hat: »Charcot was among those who knew, that the same symptoms could be found in men as well as women, l ie wrote in one of his lectures: >Keep it well in mind and this should not require a great effort, that the word >hysteria< means nothing, and little by little you will acquire the habit of speaking of hysteria in man without thinking in any way of the uterus.«< Veith (Anm. 13), S. 232. Jean-Martin Charcot: Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems insbesondere über Hysterie. Autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Sigmund Freud. Wien 1886, S. 13.
Neben Bernheim, den Freud als einen — wenngleich längst überwundenen — Lehrer in den Studien erwähnt,24 erfahrt ein weiterer französischer Forscher — auch er ein >abtrünniger< Schüler Charcots — im Schlußkapitel seine Würdigung, wo Breuer die Auffassung »[Pierre] Janet[s], dem die Lehre von der Hysterie so ungemein viel verdankt, und mit dem wir in den meisten Punkten übereinstimmen« wiedergibt.25 Dieser meinte, daß die Hysterischen an einer »originären geistigen Schwäche [insuffiance psychologique]«26 litten, die ihnen die psychische Integration bestimmter Vorkommnisse unmöglich mache. Die betreffenden Erlebnisse seien deshalb geistig nicht zu relativieren und bildeten so einen unbewußten Anlaß für das übertriebene Gebaren der Hysterischen. Eine Psychotherapie könne dazu beitragen, die unterbewußte >idee fixe< [Janet] ins Bewußtsein zurückzubringen und dem hysterischen Zwangsverhalten damit ein Ende zu bereiten. Tatsächlich läßt sich eine Reihe von Entsprechungen zwischen den Schriften Janets und den Studien nicht leugnen.27 Den entscheidenden Unterschied zum eigenen entwicklungsgeschichtlichen Ansatz jedoch findet Breuer in dem neurologisch-deterministischen Modell, an dem Janet — wie übrigens auch Bernheim — unbeirrt festgehalten hatte: Janet hält eine bestimmte Form angeborener geistiger Schwäche für die Disposition zur Hysterie. Demgegenüber möchten wir unsere Anschauung kurz im folgenden formulieren: Die Spaltung des Bewußtseins tritt nicht ein, weil die Kranken schwachsinnig sind, sondern die Kranken erscheinen schwachsinnig, weil ihre psychische Tätigkeit geteilt ist, und dem bewußten Denken nur ein Teil der Leistungsfähigkeit zur Verfügung steht.28
Die Bewußtseinsspaltung — von den französischen Forschern als double conscience beschriebenes Stigma der Hysterie — wird erstmals in der Vorläufigen Mitteilung nicht länger im Sinne einer pathologischen Veranlagung aufgefaßt. Breuer und sein Co-Autor sehen deren Ursache in einem vorangegangenen, unbefriedigenden, schmerzhaften, peinlichen Erlebnis, welches durch Abspaltung ins Unbewußte dem Bewußtsein entzogen sei. Als zentrale These formulieren sie in der Vorläufigen Mitteilung über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene die Behauptung, »der Hysterische leide größtenteils an
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Über die hypnotische Heilmethode schreibt Freud: »Auf der Klinik Bemheims schien es fast, als gäbe es wirklich eine solche Kunst und als könne man sie von Bernheim lernen. Sobald ich aber diese Kunst an meinen eigenen Kranken zu üben versuchte, merkte ich, daß wenigstens meinen Kräften in dieser Hinsicht enge Schranken gezogen seien und daß, wo ein Patient nicht nach 1-3 Versuchen somnambul wurde, ich auch kein Mittel besaß, ihn dazu zu machen. Der Prozentsatz der Somnambulen blieb aber in meiner Krfahrung weit hinter dem von Bernheim angegebenen zurück.« Breuer/l;reud (Anm. 3), S. 127. (Hervorhebungen im Original], Breuer/Freud (Anm. 3), S. 248. Ebd. Im Zusammenhang mit dem Katharsisbegriff wird darauf weiter unten näher einzugehen sein. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 249f. 29
Reminiszenzen«.29 In dieser Erkenntnis sind die Autoren, wie sie selbst zugeben müssen, nur eingeschränkt originell. Laut ihrer Anmerkung läßt sich nur mühsam sondern, was am Inhalte derselben neu ist, und was sich bei anderen Autoren wie Möbius und Strümpell findet, die ähnliche Auffassungen für die Hysterie vertreten haben. Die größte Annäherung an unsere theoretischen und therapeutischen Ausführungen fanden wir in einigen gelegentlich publizierten Bemerkungen Benedikts®
Der in den Studien über Hysterie letztgenannte Vorläufer Moritz Benedikt sah die Hysterie als Verschleierungsmanöver an, dem ein uneingestandenes pathogenes Geheimnis zugrundeliegt.31 Mittels hypnotischer Suggestion glaubte er diese Krankheit, die in seiner Auffassung der Simulation recht nahe kommt, heilen zu können. Benedikt etablierte diese Therapieform in Wien Mitte der siebziger Jahre. Bestärkt sah er sich durch entsprechende Experimente Charcots, den er 1887 auf einem Kongreß in Paris zu einem persönlichen Gespräch traf.32 Auch Paul Möbius hatte sich in seinem Hysteriebegriff, dem er all »diejenigen krankhaften Veränderungen des Körpers, die durch Vorstellungen verursacht sind«,33 subsumierte, auf Charcot berufen.34 Hieraus erklärt sich der streng deterministische Charakter seiner Theorie, die zwar einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Symptom und Trauma anerkennt, eine Zeichenbe2iehung, wie sie Breuer und Freud in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen werden, jedoch strikt leugnet.35 Ebenso entwirft der Neurologe Adolph Strümpell in seiner Edanger Antrittsvorlesung Über die Entstehung und Heilung von Krankheiten durch Vorstellungen ein Modell der Hysterie als einer psycho-physischen Störung, ohne sich vom naturwissenschaftlichen Kausalitätsprinzip grundsätzlich zu verabschieden.36
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Breuer/Freud (Anm. 3), S. 31. Breuer/Freud (Anm. 3), Anmerkung 2. Vgl. Henry F. Fllenberger: Die Fntdeckung des Unbewußten. Bd. 1 und 2. Bern 1973, hier Bd. 2, S. 418. Vgl. dazu Lesky (Anm. 18), S. 392. Paul J. Möbius: Über den Begriff der Hysterie (1888). In: Ders.: Neurologische Beiträge. Heft 1. Leipzig 1894, S. 1-7, hier S. 2. Vgl.: »Den Schluß dieser kleinen Arbeit möge die Bemerkung machen, daß der Verf. hofft, in der Hauptsache sich in Ubereinstimmung mit dem Manne zu finden, dem die 1 .ehre von der Hysterie mehr verdankt, als allen anderen, mit Charcot.« Möbius (Anm. 33), S. 7. »Wenn man sagt, daß diese hysterischen Symptome psychisch vermittelt, von Vorstellungen abhängig sind, so kann man verständigerweise dies nur so verstehen, daß vermöge der abnormen Beschaffenheit der 1 fysterischen, bei ihnen Vorstellungen, die den Willen lebhaft erregen, nicht nur diejenigen nervösen Störungen (z.B. Gefäßkrampf) bewirken, die bei allen Menschen eintreten, sondern auch noch andere, nur den Hysterischen eigenthümliche. [...] für uns besteht kein inhaltlicher Zusammenhang mehr zwischen den Vorstellungen und den in Rede stehenden körperlichen Veränderungen, sondern nur ein ursächlicher.« Möbius (Anm. 33), S. 27. »Immer ist hier die Vorstellung des Primäre, der körperliche Zustand die notwendige Folge. Nicht von eingebildeten Krankheiten dürfen wir da sprechen, sondern
Der Überblick über die vorangegangene Forschung zeigt, daß wichtige Positionen der Studien über Hysterie seinerzeit bereits vorweggenommen waren. Bekannt war die Rolle von psychisch traumatischen Edebnissen innerhalb der Krankheitsgeschichte ebenso wie die Existenz unbewußter Vorstellungen. Dennoch geht Henry Ellenberger zu weit, wenn er in der Vorläufigen Mitteilung nichts als ein Konglomerat überkommener Theorien sehen will. Er meint, daß darin Charcots Hinweise auf die Rolle von traumatischen Faktoren in der Entstehungsgeschichte bestimmter Hysterien lediglich verallgemeinert und durch ein therapeutisches Konzept ergänzt worden seien. Dieses beurteilt er kritisch »als eine Kombination von Benedikts Theorie vom pathogenem Geheimnis und Janets Methode, >unterbewußte fixe Ideen< ins Bewußtsein zurückzubringen«37 und übersieht dabei den wesentlichen Perspektivenwechsel, durch den sich die Autoren von allen Vorgängern absetzen. Gegenüber den bislang neugierig beobachteten physiologischen Prozessen im Umfeld der Erkrankung bekunden Freud und Breuer offenes Desinteresse. Schon in den ersten Sätzen des Theorieteils, der die Studien abschließt, erklärt Breuer, in diesen Erörterungen werde »wenig vom Gehirne und gar nicht von den Molekülen die Rede sein«.38 Dagegen hebt sein Bekenntnis zur Psychologie als Geisteswissenschaft das Buch aus dem Kreis der Fachliteratur heraus: Psychische Vorgänge sollen in der Sprache der Psychologie behandelt werden, ja es kann gar nicht anders geschehen.31-'
Freud, der »eigentümlich berührt« hatte zugeben müssen, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren,'®
wendet sich in seiner Haltung zur Hysterie vom positivistischen Geist seiner Zeit ab.41 Stattdessen stilisiert er sein wissenschaftliches Selbstverständnis nach ästhetisch-poetischem Vorbild.42
von Krankheiten, die durch Einbildung, d.h. durch Vorstellungen entstanden sind.« Adolph Strümpell: Über die Entstehung und Heilung von Krankheiten durch Vorstellungen. Erlangen 1892, S. 8. 37 Ellenberger (Anm. 31), Bd. 2, S. 670. 38 Breuer/Freud (Anm. 3), S. 203. 39 Ebd. 40 Breuer/Freud (Anm. 3), S. 180. 41 Ein frühes Zeugnis einer derartigen Würdigung findet sich im Forschungsüberblick bei Willy I lellpach: Grundlinien einer Psychologie der Hysterie, l^eipzig 1904. In der Einleitung zur Taschenbuchausgabe der Studien über Hysterie von 1991 spricht Stavros Mentzos von einer »revolutionäre[n] wissenschaftliche [n| Hypothese«. Breuer/Freud (Anm. 3), darin: Einleitung von Stavros Mentzos, S. 7 - 2 0 , hier S. 8. 42 Mancherorts zeichnen sich seine Krankengeschichten durch fast groschenromanhaft plakativen Stil aus, z.B. »in dem selben Momente hatte ein anderer Gedanke Elisabeths Hirn durchzuckt, der sich jetzt unabweisbar wieder eingestellt hatte, der Gedanke, der wie ein greller Blitz durchs Dunkel fuhr: Jetzt ist er wieder frei, und ich kann seine Frau werden.« Breuer/Freud (Anm. 3), S. 176. Und Breuer entschuldigt seine, wie er meint, ungenügenden »Darstellungen komplizierter psychischer Vorgänge« mit einem Shakespearewort »Von ihnen gilt immer, was Theseus im
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Ich muß mich damit trösten, daß für dieses lirgebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewöhnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Hinsicht in den Hergang einer I Iysterie zu gewinnen. 4 1
Nachvollziehende Einfühlung ist an die Stelle experimenteller Erklärungsversuche getreten. Die Methode Breuers und Freuds entspricht damit denjenigen Kriterien, die Wilhelm Dilthey im Zuge seiner wissenschaftstheoretischen Abhandlungen als das Charakteristikum geisteswissenschaftlicher Systeme dargestellt hat. Ziel der Wiener Arzte ist die verstehende Annäherung an die psychische Störung. Der interpretatorische Ehrgeiz der Forscher schlägt sich in ihrem Interesse am symbolhaften Charakter von Krankeitszeichen nieder.44 Erklärt Möbius noch 1888, hinsichtlich des hysterischen Symptoms sei »von einer Motivierung gar keine Rede« 45 verstehen seine Nachfolger das Krankheitszeichen als »Erinnerungssymbol für [...] schmerzliche psychische Erregungen«.46 Dessen Sinn gilt es innerhalb der individuellen Krankengeschichte aufzuspüren, denn diesen bringt das hysterische Symptom nicht mit, er wird ihm verliehen, gleichsam mit ihm verlötet, und er kann in jedem Fall ein anderer sein, je nach der Beschaffenheit der nach Ausdruck ringenden unterdrückten Gedanken. 4 '
Hysterieforschung wird damit zur Hermeneutik, und Freud betont fast ein bißchen trotzig in einer Anmerkung: Ich könnte hier den Iiindruck erwecken, als legte ich den Details der Symptome zuviel Gewicht bei und verlöre mich in überflüssige Zeichendeuterei. Allein ich habe gelernt, daß die Determinierung der hysterischen Symptome wirklich bis in deren feinste Ausführung hinabreicht, und daß man ihnen nicht leicht zuviel Sinn unterlegen kann. 48
Im Zusammenhang mit dieser geisteswissenschaftlichen Durchdringung der Hysterie verändert sich auch der Behandlungsansatz. War die hypnotische Beeinflussung der Symptomatik bei Erscheinen der Studien unverzichtbarer
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Sommernachtstraum von der Tragödie sagt: >Auch das Beste dieser Art ist nur ein Schattenspiele Und auch das Schwächste ist nicht wertlos, wenn es sucht, in 'l'reue und Bescheidenheit die Objekte festzuhalten, welche die unbekannten wirklichen Objekte an die Wand werfen. Dann ist doch immer die Hoffnung berechtigt, daß irgendein Maß von Übereinstimmung und Ähnlichkeit zwischen den wirklichen Vorgängen und unserer Vorstellung davon bestehen werde.« Breuer/Freud (Anm. 3), S. 270. Breuer/Freud (Anm. 3), S.180. Ausführlich dargestellt ist diese Entwicklung bei Katharina Kaminski-Knorr: Zur Problematik der psychoanalytischen Symbol- und Mythentheorie. Berlin 1990. Möbius (Anm. 33), S. 4. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 195. Sigmund Freud: Zur Ätiologie der I Iysterie. In: GW 1, S. 200. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 112.
Bestandteil der gängigen Therapie gewesen, tritt die Suggestion bei Breuer und Freud zunehmend in den Hintergrund. Anstelle dieses Verfahrens, das seine Prominenz einem deterministischen, in Analogie zur Naturgesetzlichkeit geformten Verständnis der menschlichen Psyche verdankt hatte, 49 propagieren sie die Wiederentdeckung verschütteter Gefühle im Rahmen einer neu entwikkelten Psychotherapie. Sie trägt einen Schlüsselbegriff des antiken Theaters im Titel: die kathartische Kur. Nicht die zeitgenössische Medizin, sondern die griechische Tragödie steht Pate für die neue Methode. Die methodische Nähe zu nicht-medizinischen Diskursen hat zur vermehrten Aufnahme von Anregungen aus Kunst und Kulturtheorie geführt. 50 Das Neuverständnis von Hysterie innerhalb eines kulturwissenschaftlichen Bezugsrahmens darf als Innovation Breuers und Freuds gelten.
2.1.3.
Hysterie im kulturgeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende
Nicht nur innerhalb der medizinischen Fachwelt gibt die Hysterie um die Jahrhundertwende ein >Modethema< ab. In der gebildeten Bevölkerung, besonders aber unter Literaten und Künsdern, stößt das Phänomen mit seinen unerklärlichen Störungen und spektakulären Anfällen auf enormes Interesse, was zu einem großen Teil auf deren öffentliche Präsentation zurückzuführen ist. U m die Jahrhundertwende bildet der medizinische Diskurs die Hysterie eher als Artefakt denn als ein psychisches Leiden ab. 51 Die Patientinnen wur-
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Exemplarisch genannt sei hier die Auffassung Oppenheims, der die Entstehung des hysterischen Symptoms in Analogie zu einer Störung des physikalischen Kräftegleichgewichts setzt. Bei der Hysterie sei der Widerstand des Nervensystems gegen äußere Einflüsse krankheitsbedingt herabgesetzt, meint er, und: »Sei der einwirkende Reiz nicht nur im Verhältnis zur >Labilität< des Nervensystems zu groß, sondern absolut zu groß, so entstehe auch beim Gesunden ein Analogon >der hysterischen Lähmung [traumatische Neurose]«< zitiert nach: Paul J. Möbius: Tatsächliches und Hypothetisches über das Wesen der Hysterie. In: Ders.: Neurologische Beiträge. 1. Heft, 1894, S. 21. Kenneth lxvin erklärt den Erfolg der Freudschen Schriften aus der Tatsache heraus, daß »a number of Freud's basic concepts converged with currendy popular cultural and social themes and with concepts prominent in various nonmedical disciplines such as nonmedical psychology and anthropology.« Kenneth Ixvin: Freuds Early Psychology of the Neuroses: A Historical Perspektive. University of Pittsburg Press 1978, S. 12. Vgl. dazu: Marianne Schuller: Hysterie als Artefaktum. Zum literarischen und visuellen Archiv der Hysterie um 1900. In: Dies.: Im Unterschied. Lesen, Korrespondieren, Adressieren. Frankfurt a. M. 1990, S. 81-94. Daß vor allem der »Grosse [vollständige und regelmäßige] Anfall der Charcotschen Schule« [Binswanger] bereits von Zeitgenossen als eine Art Kunstwerk rezipiert wurde, zeigt das folgende Zitat: »Charcot und seine Schüler, vor allem P. Richer und Gilles de la Tourette, stellten bei der systematischen Bearbeitung der Anfallserscheinungen der grossen I lysterie in den Mittelpunkt ihrer klinischen Forschungen eine kleine Zahl von Beobachtungen, in welchen der hysterische Anfall sich kunstvoll aus drei voneinander getrennten Perioden aufbaut. Innerhalb dieser Perioden werden wieder einzelne Phasen unterschieden, in welchen sich ganz bestimmte motorische und physische 33
den nicht nur öffentlich vorgeführt, sie wurden photographiert, ihre verkrampften Glieder wurden in Gips gegossen, ihre Anfalle wurden mit Strom und Äther künstlich ausgelöst, und die hypnotischen Experimente, in denen die Mediziner sie ihrem Publikum vorführten, wurden häufig gleich einem spannenden Theaterabend in Szene gesetzt. 52 Dies galt insbesondere für die >VorstellungenDrama des Anfällst 4 ist da etwa die Rede, von seiner >Possen-Phase< und von der >klassischen Regelmäßigkeit seines Ablaufs, den Charcot nach dem Vorbild des klassischen Dramas in vier Phasen oder >Akte< einteilt. 55 Die Forschung geht heute angesichts dieser inszenatorischen Praxis davon aus, daß es sich bei dem verschwundenen klassisch-hysterischen Anfallsbild der Jahrhundertwende um eine >Erfindung< der Forscher handelte, deren Suggestion ihre nach Aufmerksamkeit vedangenden Patientinnen unbewußt folgten. 56 Diese Annahme erlaubt es, die Hysterie als ein diskursives Konstrukt
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Krankheitserscheinungen in gesetzmässiger Weise vereinigen. Kin Zweifel an der Richtigkeit ihrer Forschungen ist unstatthaft im Minblick auf die mit bewunderungswertem Scharfsinn ausgeführten Darstellungen, welche in dem Werke von P. Richer einen classischen Ausdruck gefunden haben.« Binswanger (Anm. 12), S. 749. Vgl. Didi-l luberman (Anm. 21), S. 78-80. Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900. Gießen 1989, S. 75. Vgl.: »Dieser erste Teil des Dramas vom großen hysterischen AnfallXixift in einem ziemlich kurzen Zeitraum mit kaum einer Minute für die beiden ersten Phasen, zwei bis drei Minuten bisweilen für die abschließende Auflösungs-Phase ab.« Jean-Martin Charcot und Paul Richer: Die Besessenen in der Kunst. I Irsg. und mit einem Nachwort von Manfred Schneider. Aus dem Französischen von Will Hendrichs. Göttingen 1988, S. 119. »Mit der Regelmäßigkeit eines Mechanismus folgen im ganz ausgebildeten Anfall vier Perioden aufeinander: 1. die epileptische, 2. die großen [widerspruchsvollen, sinnlosen] Bewegungen, 3. die der leidenschaftlichen Stellungen und Gebärden, 4. das terminale Delirium.« Charcot (Anm. 23), S. 12. Vgl. auch: »Wir sahen jedesmal die verschiedenen Acte der epileptoiden Phase mit Beginn an der Zunge und im Gesicht sich in derselben Reihenfolge und mit einer bis ins I Einzelne gehenden Treue abspielen und darauf die verschiedenen Szenen des Deliriums folgen [...].« Charcot (Anm. 23), S. 232. Vgl.: »Jahrhundertelang hatte kein Bedürfnis bestanden, die Hysterien oder Besessenheiten einer optischen Kvidenz preiszugeben; doch plötzlich wollten die Pariser Avantgarde-Mediziner auf diesem Wege eine Zukunft erobern. Iis ging darum thesenhaft gesagt - ein neues Wissen [von der Hysterie|, das einer neuen Reproduktionstechnik entsprungen war [der Fotografie], an Patienten zu ratifizieren. Und was geschah? Das Reale von Symptomen bildete sich [für kurze Zeit] ganz gemäß den wissenschaftlichen Annahmen. Nichts ist trügerischer als die Wirklichkeit. Die kurze Allianz von |fotografischer/künstlerischer| Ästhetik und Pathologie schenkte
kulturgeschichtlich zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit stellt dabei den Aspekt der Theatermetaphorik in den Mittelpunkt. Der diskursiven Produktion von >Hysterie< als ästhetischem Gebilde steht ihre Rezeption durch breite Teile der künsderischen Szene gegenüber — ganz besonders auch im Bereich der Bühne. Die Studien über Hysterie etwa kamen schon bald nach ihrem Erscheinen in den Genuß einer breiten öffentlichen Resonanz. Vor allem in Wiener Literatenkreisen wurde das Buch gierig verschlungen.57 Der in den Studien geleisteten Verflechtung der Hysterielehre mit außermedizinischen Diskursen ist zu verdanken, daß deren Grundideen in die Werke Hofmannsthals, Schnitzlers oder Hermann Bahrs harmonisch implementiert werden konnten. Kulturgeschichtlich betrachtet verschmelzen die psychoanalytischen Innovationen unlösbar mit zeitgenössischen theater- und literaturtheoretischen Impulsen. Dabei ist dieses Amalgam, wie Michael Worbs herausgearbeitet hat,58 keinesfalls eindimensional im Sinne einer eindeutigen Einflußnahme von Seiten der einen oder der anderen Disziplin her zu analysieren. Vielmehr sind es bestimmte kulturübergreifende Entwicklungen, die sich in Wien um 1900 sowohl in der Psychoanalyse als auch in Kunst und Literatur in ganz ähnlicher Art und Weise manifestieren. Das Beobachtungsfeld für die gemeinsamen historischen Hintergründe der psychoanalytischen Theatermetaphorik und Theatergeschichte sowie ihrer verblüffenden Kongruenzen ist im Falle der Hysterieforschung durch jenen Tragödienbegriff abgesteckt, nach dem die Gründerväter der Psychoanalyse ihre neu gefundene Behandlungsform benannt haben. Die ausschlaggebende Rolle, welche der Begriff der Katharsis, der, von Aristoteles stammend, schon vor Freud in der Altphilologie der Zeit eine psychologisch-medizinische Deutung erfahren hatte,59 in der kulturgeschichtlichen Diskussion spielt, legt die Spur zu einem Neuverständnis des Altertums, welches das geistige Klima in Wien maßgeblich beeinflußt hat. Nicht von ungefähr wurde das bestimmende lokale Antikenbild der Jahrhundertwende von dem Theaterwissenschafder Ekkehard Stärk auf das Schlagwort von der »Hysterie der Griechen« gebracht.60 Dieses entsteht im Umfeld der Veröffentlichung von Nietzsches Geburt der Tragödie und soll im Folgenden in seinem Einfluß auf Bühne und
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ihren Regisseuren einen historischen Augenblick der [Erleuchtung und Verblendung zugleich.« Manfred Schneider: Nachwort zu Die Besessenen in der Kunst, S. 143. Vgl. Manfred Schneider Hysterie als Gesamtkunstwerk. Aufstieg und Verfall einer Theorie der Weiblichkeit. In: Alfred Pfabigan (Hrsg.): Ornament und Askese im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende. Wien 1985, S. 2 1 2 - 2 2 9 , hier S. 218. Vgl. Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. 1983. Worbs erwähnt als Vorläufer des psychoanalytischen Katharsis-Begriffes die Auslegung Jacob Bernays, der bereits 1857 »eine die moderne Exegese der Aristotelischen Poetik inaugurierende medizinische Auslegung der Katharsis [gibt] und damit Lessings moralische Interpretation widerlegt.« Worbs (Anm. 58), S. 323f. Ekkehard Stärk: Herrmann Nitschs >Orgien Mysterien Theater* und >Hysterie der Griechen*. Quellen und Traditionen im Wiener Antikenbild seit 1900. München 1987. 35
Drama einerseits sowie auf entsprechende Metaphern und Begriffe der Hysterieforschung andererseits eingehend untersucht werden. Im Blickfeld stehen dabei vor allem zwei Kapitel der Theatergeschichte: Da ist zum einen die Entwicklung eines neuen Ausdrucksideals im Tanz mit seinen interessanten Parallelen zur psychoanalytischen Körpersemantik. Die symbolische Auffassung der hysterischen >Ausdrucksbewegung< bei Breuer und Freud findet nämlich zeitgleich zur Emanzipation des Neuen Tanzes von den vorgegebenen Formen des klassischen Balletts statt. Den Hintergründen dieser interdisziplinären Individualisierung und Semantisierung des Körperausdrucks soll im Verlauf der weiteren Übedegungen zur Hysteriethematik nachgegangen werden. Ebenfalls als Psychologisierung des Ausdrucks läßt sich eine schauspieltheoretische Entwicklung überschreiben, die im folgenden in ihren Parallelen zur Begriffsgeschichte zu untersuchen ist. Sie ist — insbesondere was die Wiener Rezeption angeht — gegeben durch die Ablösung des Pariser Bühnenstars Sarah Bernhardt durch die Ära ihrer Rivalin Eleonora Duse. Stand im Falle der Französin die virtuose Tücke weiblicher Verstellungskunst — die eine Vielzahl von Autoren auch der hysterischen >Simulantin< unterstellte — im Fokus des Interesses, so verdankt die Duse ihre Faszination einer >SeelenkunstKatharsis< in den Studien über Hysterie und der Psychoanalyse In ihrer Vorläufigen Mitteilung ging es Breuer und Freud darum, in aller Schnelle eine Entdeckung bekanntzugeben, in die sie größte Hoffnung für die künftige Hysteriebehandlung setzten. Im Umgang mit hysterisch Kranken hatten sie eine neue Form der Psychotherapie entwickelt, die sie der Fachwelt wie folgt präsentierten: Wir fanden anfänglich zu unserer größten Überraschung, daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekte Worte gab. Affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos; der psychische
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Prozeß, der ursprünglich abgelaufen war, muß so lebhaft als möglich wiederholt, in statum nascendi gebracht und dann >ausgesprochen< werden. 61
Den hier beschriebenen Heilungserfolg bezeichnen die Autoren im Rückgriff auf einen Begriff des antiken Theaters als »kathartische< Wirkung«62 des Verfahrens. Im Rahmen der Weiterentwicklung ihrer therapeutischen Versuche werden sie dieses zur »kathartischen Methode«63 ausarbeiten. Welch ausschlaggebende Rolle der nunmehr terminologisierte Begriff in der Entstehungsgeschichte der Freudschen Theorie gespielt hat, veranschaulicht dieser rückblickend, wenn er im Vorwort zur zweiten Auflage der Studien aus dem Jahr 1908 seinen eigenen wissenschaftlichen Weg als »Entwicklung der Katharsis zur Psychoanalyse«64 bezeichnet. Schon zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung war Freud dazu übergegangen, die kathartische Heilungsmethode nicht nur bei der Hysterie anzuwenden, sondern auch alle anderen in Frage kommenden Neurosen ähnlich wie die Hysterie zu behandeln [und] überall nach der Ätiologie und nach der Art des psychischen Mechanismus zu forschen [...]. So gelangte ich, von der Breuerschen Methode ausgehend, dazu, mich mit der Ätiologie und dem psychischen Mechanismus der Neurosen überhaupt zu beschäftigen.*"
Sicherlich ist die spätere psychoanalytische Therapie nicht mehr mit dem in den Studien beschriebenen Verfahren identisch, stellt sie doch die Rolle der Bewußtwerdung des inneren Konfliktes weit über die der affektiven Entladung. In seinem Grundgedanken ist jedoch auch das Moment des Erinnems in Freuds Auffassung der »Wirkung der kathartischen Methode Breuers« bereits angelegt. Er erklärt sich diese damit, daß sie eine (...) Zurückleitung der Erregung aus dem Körperlichen ins Psychische zielbewußt erzeugt, um dann den Ausgleich des Widerspruches durch Denkarbeit und die Abfuhr der Erregung durch Sprechen zu erzwingen. 66
So gesehen trägt die Methode bereits deutliche Züge des »Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens«,67 mit dem er später die Hauptmerkmale der psychoanalytischen Behandlungsform benennen wird. Nicht nur auf dem Gebiet der Therapie, auch in ihren psychologischen Modellen zeigt sich die Freudsche Theorie durchgehend beeinflußt von der Entdeckung Breuers. So führt ihn die Anwendung der >kathartischen Methode< schließlich zu der folgenreichen Entdeckung der besonderen Bedeutung von Träumen innerhalb des Seelenlebens, und bildet so den Anlaß zur Nieder61 62 63 64 65 66
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Breuer/Freud (Anm. 3), S. 30. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 32. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 23-24. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 26. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 273. Sigmund Freud: Die Abwehr-Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der acquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser hallucinatorischer Psychosen (1894). In: G W 1, S. 59—74, hier S. 64. Vgl. Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1914). In: G W 10.
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schrift der Traumdeutung/'8 Dieses Buch wiederum enthält in sich die Keimzelle zum zukünftig so einflußreichen psychoanalytischen Subjektmodell. Mit einiger Berechtigung also kann man - wie Freuds oben zitierte Formulierung nahelegt - von der Breuerschen Methode als dem Grundstein des späteren Theoriegebäudes sprechen/'^ Deren >Entdeckung< allerdings ist bei weitem nicht so originell, wie es die Vorläufige Mitteilung in ihrem euphorischen Uberschwang suggeriert. Tatsächlich hat Janet bereits 1889 »die Beschreibung einer Heilung, welche bei einem hysterischen Mädchen durch Anwendung eines dem unseren analogen Verfahrens erzielt wurde«70 geliefert. Breuer und Freud erwähnen diesen Vorgänger eher beiläufig in einer Fußnote. Janet selbst wird dagegen 1913 zur größten Entrüstung der psychoanalytischen Gemeinde auf einem Londoner Kongreß die Priorität für die Entdeckung der >unterbewußten fixen Ideen und der kathartischen Therapie< für sich beanspruchen und sich dabei auf seine Krankengeschichte berufen. Er hatte in ihr den Fall einer 19jährigen geschildert, die aufgrund einer ihr unerträglichen Vorstellung im Zusammenhang mit ihrer ersten Menstruation hysterisch geworden war. Dem Arzt gelingt es in der Hypnose, sie zum Aussprechen ihrer fixen Idee, die Blutung >sei etwas Schändliches< zu bewegen. Erst jetzt gelingt die Heilung mittels der suggestiven Auslöschung der Erinnerung an das traumatische Edebnis; das Mädchen hatte sich in ihrem Verlangen, die peinliche Blutung zu stoppen, in einen Eimer mit eiskalten Wasser gehockt, bis sie ernsthaft krank wurde.71
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Vgl.: »Seit Jahren beschäftige ich mich mit der Auflösung gewisser psychopathologischer Gebilde, der hysterischen Phobien, der Zwangsvorstellungen u.a. in therapeutischer Absicht; seitdem ich nämlich aus einer bedeutsamen Mitteilung von Josef Breuer weiß, daß für diese als Krankheitssymptome empfundenen Bildungen Auflösung und Lösung in eines zusammenfällt. I lat man eine solche pathologische Vorstellung auf die I lernente zurückführen können, aus denen sie im Seelenleben des Kranken hervorgegangen ist, so ist diese auch zerfallen, der Kranke von ihr befreit. [...] Im Verlaufe dieser psychoanalytischen Studien geriet ich auf die Traumdeutung. Die Patienten, die ich verpflichtet hatte, mir alle Hinfalle und Gedanken mitzuteilen, die sich ihnen zu einem bestimmten Thema aufdrängten, erzählten mir ihre Träume und lehrten mich so, daß ein Traum in die psychischc Verkettung eingeschoben sein kann, die von einer pathologischen Idee her von rückwärts in der Erinnerung zu verfolgen ist. Ks lag nun nahe, den 'l'raum selbst wie ein Symptom zu behandeln und die für letztere ausgearbeitete Methode der Deutung auf ihn anzuwenden.« Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Studienausgabe, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Bd. 2, S. 120f. Welch überragende Rolle die Katharsis als Abfuhr von Krregungsüberschüssen innerhalb der späteren Theorie weiterhin spielen wird, verdeutlicht das folgende Zitat aus Freuds Abhandlung über den und seine Begehung vpm Unbewußtem »Die Begriffe >psychische Energien, >Abfuhr< und die Behandlung der psychischen Knergie als einer Quantität sind mir zur Denkgewohnheit geworden, seitdem ich begonnen habe, mir die Tatsachen der Psychopathologie philosophisch zurechtzulegen [...]« Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, GW 6, S. 165. Breuer/Freud (Anm. 3), Anmerkung 1 auf S. 31. Zu dieser Fallgeschichte vgl. Pierre Janet: L'Automatisme Psychologique. Paris, Alcan 1889, S. 436ff. Mein Referat folgt der Übersetzung in: KUenberger (Anm. 31), Bd. 1, S. 492ff.
Wahrscheinlich blieben Janets Ausführungen nicht ohne Einfluß auf die Überlegungen Breuers und Freuds. Trotzdem, und das ist entscheidend: So unübersehbar die Parallelen sind, die dessen Verfahren zu dem von den Wiener Ärzten praktizierten aufweist, so deutlich sind auch die Unterschiede in den zugrunde liegenden Ansätzen. Bei Janet ist die geisteswissenschaftliche Wende, die der Tragödienbegriff >Katharsis< bei Breuer und Freud anzeigt, noch nicht vollzogen. Den Zusammenhang zwischen Symptom und Trauma versteht er streng naturwissenschaftlich im Sinne einer Kausalbeziehung. Janet kommt deshalb — und das gilt genauso für die in derselben Fußnote erwähnten Anreger Delboef und Binet — letztendlich nicht ohne eine suggestive Korrektur der Erinnerung aus. Diese >psychische Amputation< erscheint ihm als das geeignete Mittel, die unbewußte Ursache zu beseitigen, die der Erkrankung zugrunde liegt. Erst nach dem Erscheinen der Studien wird auch er vorsichtig einräumen, daß »die psychologische Analyse [...] auch einen therapeutischen Erfolg haben (kann)«.72 Breuer und Freud sind die ersten, die Hysterie als symbolische Umdeutung und Umleitung eines unterdrückten Affektes deuten.73 Die hermeneutische Wahrnehmung des Krankheitszeichens ermöglichte es ihnen, die Chance zur Heilung im adäquaten Ausleben der bislang fehlgeleiteten Emotion zu suchen. Der Schritt zur >kathartischen Methode< ist daher - bei all den Anregungen, die die beiden von Seiten Janets erhalten haben mögen — wohl letztendlich als ihr eigenes Verdienst anzusehen. Trotzdem dürfte angesichts der insgesamt überwältigenden Anzahl von Entsprechungen und Einflüssen die Frage,74 warum die Wiener und insbesondere Sigmund Freud zu Weltruhm gelangten, während der Franzose heute nahezu in Vergessenheit geraten ist, kaum mit der herausragenden Originalität von deren medizinischer Forschung zu beantworten sein.75 Die Antwort dürfte vielmehr auf kulturgeschichtlichem Gebiet zu suchen sein, zumal die Bedeutung Freuds die Grenzen seines Faches längst gesprengt hat. Eine metaphorologische Untersuchung des Katharsisbegriffs ist diesbezüglich von größtem Interesse, führt sie doch von der medizinischen Psychologie unmittelbar zu einem Gegenstand der Geisteswissenschaft: Der Bezug des künftigen
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Janet zitiert nach Ellenbcrger (Anm. 31), S. 508. Zum Unterschied zwischen der Auffassung des Traumas bei Janet und Freud vgl. Ian Hacking: Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne. München 1996, S. 249: »Weil Janets Traumen [z.B. das Bad im eiskalten Wasser, B.C.| unpersönlich waren, forderten sie nicht zu einer Umdeutung heraus, besonders wenn es um das Wirken der Erinnerung ging. Weil Freuds Traumen menschliche Handlungen umfaßten, forderten sie zu einer Neuinterpretation der Erinnerung auf.« Freuds Theorie des Traumas ist eine Theorie des kommunikativen Handelns und seiner Erinnerungssymbole, sie impliziert eine kulturwissenschaftliche Auffassung. Vgl. dazu EUenberger (Anm. 31), Bd. 1, S. 557ff. Dieses Urteil stimmt mit der Selbsteinschätzung der Autoren überein, die dem Theorieteil ihrer Abhandlung folgende Vorbemerkung vorangestellt haben: »Auf Originalität macht das wenigste von dem Anspruch, was auf den folgenden Seiten dargelegt werden soll.« Breuer/Freud (Anm. 3), S. 204. 39
psychotherapeutischen Terminus zur Tragödientheorie ist innerhalb der Studien deutlich erkennbar. 7 6 In den Überlegungen zur >kathartischen KurDie Natur wollte in ihrein durchaus tragisches Wesen bilden; sie hatte keine komische Faser an sich«. Im großen linsemble der Burg gab es 'Talente, die unendlich vielseitiger waren als die Wolter; es gab auch geistig viel bedeutendere Köpfe und viel liebenswürdigere Naturen. Aber die Wolter allein hatte die letzte, die alles überwältigende Macht genialer Menschendarstellung. I leinrich Laube, dessen nüchterne Grundnatur sich allem mehr als Verständigen ja so zögernd näherte, mußte es von ihr sagen und konnte es im ganzen Umkreis seines Burgtheaters nur von ihr sagen: >Sic hat den Dämon.« Bab selbst belegt ihr Spiel mit dem Attribut: »Wilde Naturkraft« (S. 251), einen Zeitgenossen zitiert er mit den Worten: »>Sie fiel wie eine Hlementarkraft ins BurgtheaterKatharsis< - verstanden als eine Reinigung des Gemütslebens beim Betrachten tragischer Ereignisse - ist in der Neuzeit v.a. im Zusammenhang mit der aristotelischen Dramentheorie geläufig. 8 0 In seiner berühmten
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tierhaft im Gegensatz zu dem »>Haus des Stils« (S. 249) empfunden wird v.a. ihr exzentrischer Sprechstil [Der Theaterkritiker Speidel wird auf S. 252 mit den Worten zitiert: »Sie konnte nicht reden - aber donnern« und auf S. 253f.: »Volle Blüte des groben Naturalismus! Grelle Naturschreie, wie sie den Gipfel der Lust und die Spitze des Schmerzes bezeichnen, vor denen aber die Muse, welche auch die Leidenschaft schön will, die Ohren verstopft.«], der bis zum berühmten »Wolterschrei, [dieser Aufschrei einer verzweifelnden Seele], der ja eine sprichwörtliche Geltung, selbst außerhalb der Theatersphäre erreicht hat« (S. 257f.). Daneben war die Wolter berühmt für ihre emotional zur äußersten Ausdrucksgrenze gesteigerte Darstellung der Hauptthemen Liebe und Tod, in der sie wie eine »große Naturerscheinung« (ebd.) wirkte. Dies hält die neuere Forschung übereinstimmend fest, vgl. u.a. Schneider (Anm. 57), S. 212-229; Schuller (Anm. 51), S. 8 1 - 9 4 ; Worbs (Aran. 59). Eine ältere, von Sokrates überlieferte platonische Definition - der rationalistische Theaterverächter Piaton verstand unter Katharsis eine von der tragischen Erregung der Affekte unabhängige Läuterung des Gemüts - ist dagegen weitgehend in Vergessenheit geraten. In Anbetracht der später untersuchten Anklänge an Jacob Bernays Aristoteles-Auslegung, die sich innerhalb der Breuer/Freudschen Katharsis-Theorie finden lassen und hinsichtlich der exponierten Rolle, die dem Affekt darin zukommt, muß wohl Walter Riese widersprochen werden, w o er die These aufstellt: »Only the Socratic or Platonic definition could have served as a mold for the Freudean use of the concept.« Walther Riese: The Pre-Freudian Origins of Psychoanalysis. In: Science and Psychoanalysis. Vol. I. ed. by Jules I I. Wassermann. New York/I xmdon 1958, S. 2 3 - 7 2 , hier S. 30. Vielmehr scheinen Breuer und Freud mit dem Einbringen der Katharsis in die Psychotherapie eine Denkbewegung nachzuvollziehen, die derjenigen zu vergleichen ist, die laut Bernays einen Abgrenzungsprozeß Aristoteles' von Piaton ausmacht. Jener konnte »dort, wo er die Sollicitationstheorie [= Theorie der heilsamen Entladung durch heftige Affektbewegung] durchführte [...] die offene Polemik gegen Piaton, welcher auch die behutsamste Aufregung der Affekte für so gefährlich wie Olguss ins Feuer erklärt, mit dem besten Willen nicht vermeiden«. Jacob Bernays: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie. In: Ders.: Zwei Ab41
Schrift zur Poetik äußert sich Aristoteles am Anfang des sechsten Kapitels kurz über die Wirkung der Tragödie: Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen I landlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden - Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer [griech: E/eos\ und Schaudern [griech: Pbobos] hervorruft und hierdurch eine Reinigung |griech: Katharsis) von derartigen Erregungszuständen bewirkt.81 Um die Interpretationshoheit bezüglich dieser Zeilen wird seit der Wiederentdeckung der >Poetik< in der Renaissance erbittert gekämpft.82 Zur Debatte steht dabei vor allem die vermeintlich richtige Übersetzung der Begriffe Εleos und Pbobos sowie die Frage nach der Auslegung des Verhältnisses der >Reinigung< zu den Erregungszuständen^ die in der syntaktischen Konstruktion des Aristoteles durch einen Genitiv angeschlossen sind. Die klassizistische Interpretation übersetzt diesen - anders als der oben zitierte Manfred Fuhrmann — im Sinne eines Genitivus objectivus, d.h. als eine Reinigung und Sublimation der Affekte selbst. Etabliert vor allem in der Nachfolge von Corneilles Dramentheorie hat sich diese Auffassung bis in den hier untersuchten Zeitraum hinein halten können. So lobt es Johannes Volkelt noch 1898 als Wirkung der »tragische [n] Entladung der Affekte«, daß auch unsere Gefühle im künstlerischen Anschauen eine Fntstofflichung erfahren; es wird ihnen das Aufregende, Anstachelnde, Erhitzende, Beängstigende des Begehrens und Wollens genommen, es geht in sie etwas von der hohen Ruhe der Kontemplation ein.83 Daneben ist seit dem 18. Jahrhundert der Ansatz Lessings prominent, welcher der Tragödie eine moralische Wirkung zuschrieb. Diese sollte durch die von ihr ausgelösten Emotionen zur Verbesserung des Publikums beitragen. Mideid und Furcht [als solche übersetzte er Eleos und Phobos], sollten — verursacht durch die Betrachtung des leidvollen Schicksals der Bühnenfiguren — den Zuschauer zur Reflexion auch des eigenen Handelns bewegen und so eine Läuterung im moralischen Sinne bewirken.84
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handlungen über die aristotelische Theorie des Drama. Berlin 1880, S. 1-118, hier S. 48. Aristoteles: Poetik. Übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 19. Zur Begriffsgeschichte vgl.: Friedrich Wilhelm Wodtke: Katharsis. In: Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr (I Irsg.): Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. 2. Auflage. Berlin 1958, S. 811-817. Johannes Volkelt: Die tragische Entladung der Affekte. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 112 (1898), S. 16. Die moralisch-ethische Übersetzung >Furcht und Mideid< hat sich seit Ixssing durchgesetzt und wird erst in neuerer Zeit von den Ausdrücken >Jammer und Schreckenc, die auf den seelisch-leiblichen Aspekt der Affekte abzielen, verdrängt. Vgl. dazu: Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid (1955). In: Ders.: Hellas und Hesperien. Zürich/Stuttgart 1970, S. 194-236.
Im deutschen Idealismus des frühen 19. Jahrhunderts wurde die philologische Annäherung an Tragödie und Katharsis von der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Tragischen zunehmend verdrängt. Hegel hatte in seiner Ästhetik die Tragödie in den Dienst der metaphysischen Weltordnung gestellt. Der Zuschauer sollte in der kathartischen Erfahrung angesichts des tragischen Untergangs der sterblichen Figuren die Vorherrschaft der idealen Werte bestätigt sehen. Die Vernichtung des Helden stand hier für die dialektische Bekräftigung eines höheren Prinzips ein: Über der bloßen Furcht und tragischen Sympathie [des Zuschauers, B.C.] steht das Gefühl der Versöhnung, das die Tragödie durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit gewährt... 85
Noch 1891 argumentiert Theodor Lipps bezüglich der Wirkung der Tragödie in bewährter dialektischer Manier vom >höchsten sittlichen Standpunkt aus. Katharsis versteht er als eine Möglichkeit zur Erkenntnis der Beständigkeit innerer Werte im Angesicht der Vernichtung materieller Güter und der Verweigerung irdischer Gerechtigkeit. Lipps sieht es als erwiesen an, daß die ganze Bedeutung des Konfliktes darauf beruht, durch sein Vorhandensein und das daraus entspringende Ixidcn unmittelbar ein sittlich Schönes zu vergegenwärtigen. Daß die Tragödie nichts weiß vom glücklichen Ausgang, daß ihr der äußere Erfolg des Handelns so gar nichts bedeutet, die Begriffe der >Belohnung< des Guten und der >Bestrafung< des Bösen im äußerlichen Sinne ihrer Natur so völlig fremd sind, vielmehr statt dessen alles in ihr abzielt auf die Vergegenwärtigung des Guten im Menschen, der inneren Macht dieses Guten und des Wertes, den es an und für sich hat -, dieser höchste sittliche Standpunkt ist es, der erst die Tragödie als solches konstituiert, der ihr zugleich ihre besondere sittliche und damit ästhetische Bedeutung gibt. 86
Die Diktion dieses Abschnitts vermag bei all seiner idealistischen Distanz zum Alltäglichen nicht die Verinnerlichung und Vermenschlichung des tragischen Konfliktes zu verbergen, die hier eingesetzt hat. Offenbar ist der Autor bereits ergriffen von jener starken psychologistischen Strömung, welche die deutsche Philosophie um die Jahrhundertwende ergriff und die Metaphysik des deutschen Idealismus in Zentralbegriffen wie >LebenSeeleGefuhl< oder >Bewußtsein< aufhob.87 Von >Tragik< im hegelianischen Sinne wird sich die Moderne in diesem Zuge mehr und mehr verabschieden.88 Dagegen gewinnt eine nun psychologisch verstandene Katharsis in der Literatur- und Theaterästhetik des ausgehenden 19. Jahrhunderts wieder vermehrt an Bedeutung. Entsprechend kennzeichnet der Freud-Schüler und Literaturwissenschafder Otto Rank Katharsis in seiner 1906 entstandenen, aber erst 1912 publizierten Schrift über Das In^estmotiv in Dichtung und Sage, die
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Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik (1817-1820), zitiert nach: Wodtke (Anm. 82), S. 816. Theodor Lipps: Der Streit über die Tragödie. Hamburg und Ixipzig 1891, S. 70. Vgl. Dietrich Mack: Ansichten zum Tragischen und zur Tragödie. Ein Kompendium der Deutschen Theorie im 20. Jahrhundert. München 1970, S. 16. Vgl. Peter Szondi: Versuch über das Tragische. Frankfurt a. M. 1961. 43
wohl den ersten systematischen \ r erweis auf die Zusammenhänge zwischen Psychonalyse und antiker Tragödientheorie enthält, als das wohl einzige Element der aristotelischen Poetik, das seinen Geltungsanspruch nahezu ungemindert in die Moderne hinein tragen konnte, ja überhaupt erst hier, im Lichte unserer heutigen Erkenntnis ihre volle Geltung und Würdigung erlangen [konnte]. So sind wir mehr denn je von dem tiefen psychologischen Wahrheitsgehalt der Aristotelischen Lehre von der Katharsis überzeugt. 89
Was den Rest des antiken Regelwerks angeht, so erscheint es dem Autor, der den subjektivistischen Maßstab seiner Kunstauffassung von Wilhelm Dilthey übernommen hat, 9 0 weit überholt zu sein. Da Aristoteles das Wesen aller Kunsttätigkeit in einem dem Menschen angeborenen Nachahmungstrieb sieht, muß ihm das Schöpferische in der Kunst als das eigentlich Problematische fremd bleiben, und er kann zur psychologischen Fragestellung nach dem Wesen der dichterischen Triebkraft gar nicht kommen. 9 1
Daß Rank die Katharsis aus diesem zeitgemäßen ästhetischen Verdikt gegen die Regelpoetik ausnimmt, hat mit ihrer vorangegangenen philologischen Neudeutung zu tun. Seit dem späten 19. Jahrhundert wird neben den oben genannten Auffassungen der Katharsis als Reinigung der Affekte bzw. durch Affekte eine dritte Ubersetzungsmöglichkeit des griechischen Originals herangezogen. Von nun an mehren sich diejenigen Deutungsansätze, die unter der aristotelischen Katharsis die Befreiung des Zuschauers von den in der Tragödie ausgelösten Affekten durch ihr ungehemmtes Ausleben verstehen.92 Dabei reicht die erhoffte Wirkung von bloßer Mäßigung bis hin zur völligen Beseitigung negativer Emotionen im Sinne eines psychotherapeutischen Effekts. In der modernen Theatertheorie spielt der Begriff in diesem Sinne bis heute eine wichtige Rolle.93 Als erster vertrat Jacob Bernays die Auffassung, Aristoteles habe eine therapeutische Katharsis im Auge gehabt, die nach einer pathologischen Erregung der Affekte die Seele heilt und ihr die Ruhe gibt, die den Geist befreit. 1857 veröffentlicht dieser Altphilologe die kleine Schrift Grundf^ige der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie?4
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Otto Rank: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Zweite Auflage Leipzig und Wien 1926, S. 4. Wilhelm Dilthey hat die Wende der Ästhetik, die zur Ablehnung jeder Regelpoetik führen mußte, folgendermaßen beschrieben: »Die Poetik hatte zuerst einen festen Punkt in dem Mustergültigen, aus dem sie abstrahierte, dann in irgendeinem metaphysischen Begriff des Schönen: nun muß sie diesen im Seelenleben suchcn.« Zitiert nach Rank (Anm. 89), S. 335. Rank (Anm. 89), S. 4. Dieser Auffassung entspricht auch die oben zitierte Aristoteles-Übersetzung Fuhrmanns. lebendig ist dieser bis heute z.B. im Theater Hermann Nitschs, das Ukkehart Stärk überzeugend innerhalb der Tradition der Wiener Moderne ansiedelt. Vgl. Stärk (Anm. 60). Diese gelangte zu größerer Berühmtheit erst mit ihrer Neuauflage als ein Teil von Bemays (Anm. 80). Die Zitate folgen dieser Ausgabe.
Sie beinhaltet den Versuch, die Rolle der Katharsis in der Aristotelischen Poetik neu zu bestimmen. Dabei handelt es sich um eine detektivische Aufgabe, denn die antike Abhandlung ist — wie aus uneingelösten Ankündigungen Aristoteles' in der Vorrede hervorgeht — entweder unvollendet geblieben oder wurde — wie Bernays annimmt — der Nachwelt nur in Teilen überliefert. Das vorhandene Fragment führt den Terminus >Katharsis< im Zuge der Tragödiendefinition im sechsten Kapitel nur sehr flüchtig ein. Der Gelehrte vermutet daher, die in der verlorene Hälfte dieser Schrift enthaltenen Ausführungen zur Komödie hätten die vermissten ausführlichen Erläuterungen zur Katharsis, die wohl auch in der Komödientheorie eine Rolle gespielt habe, enthalten. Ziel seiner kleinen Studie ist es, den Inhalt der fehlenden Bestimmungen zur rätselhaften Reinigung des Gemüts im Theater in Grundzügen zu rekonstruieren. Bernays greift hierzu auf die vielfach übersehene, ausführliche Definition der Katharsis zurück, die Aristoteles in seiner Politik formuliert hat.95 Der Philosoph verwendet dort den Begriff mit Verweis auf dessen Herkunft aus der Medizin, wo man unter >Katharsis< die Austreibung eines Krankheitsstoffes aus dem Körper verstand. Mit einer solchen Kur vergleicht Aristoteles die innerhalb des antiken Geisterkults praktizierte >Heilung< von enthusiastisch Besessenen durch Musik und Tanz. 96 Indem die Betroffenen durch die aufpeitschenden Rhythmen zum Ausbruch ihres Übels getrieben würden, erlebten sie nach einem heftigen Anfall eine zeitweilige Erleichterung. Beim hier verwendeten Begriff der Katharsis handle es sich, so Bernays, um eine vom Körperlichen auf Gemüthliches übertragene Bezeichnung für solche Behandlung eines Beklommenen, welche das ihn beklemmende Element nicht zu verwandeln oder zurückzudrängen sucht, sondern es aufregen, hervortreiben und dadurch Erleichterung des Beklommenen bewirken will. 97
Die therapeutische Wirkung auf bestimmte krankhafte Zustände, die Medizin und Kultus dem Vorgang zuschrieben, werde von Aristoteles im Hinblick auf das gesamte Gefühlsleben verallgemeinert, meint Bernays: Pathologisch ist gleich das erste, auf der allgemein griechischen Erfahrung über Verzückte ruhende, thatsächliche Beispiel einer Katharsis, aus welchem der Philosoph dann auch für alle übrigen Gemütsbewegungen die Möglichkeit einer ähnlichen kathartischen Behandlung folgert. 98
Die psychotherapeutische Bedeutung der Katharsis bestimme nun auch ihre Funktion innerhalb der aristotelischen Dramentheorie, meint Bernays. Zur Bestätigung zitiert er erneut ein Textstück aus Aristoteles' Politik, wo
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Die Stelle ist zitiert bei Jacob Bernays: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie. In: Bernays (Anm. 80), S. 1 - 1 1 8 , hier S. 7 - 9 . Bernays erwähnt die »von dem mythischen Sänger Olympos hergeleiteten, phrygischen Lieder [..., die] sonst ruhige Menschen in Verzückung [versetzen]; dagegen von Verzückung Besessene empfinden, nachdem sie jene rauschenden Lieder gehört oder gesungen haben, eine Besänftigung.« Bernays (Anm. 80), S. 11. Bernays (Anm. 80), S. 16. Bernays (Anm. 80), S. 10f. 45
in unverkennbarem Hinblick auf die Tragödie, von allen leicht affizierbaren Personen, denen eine der orgastischen ähnliche Katharsis in Aussicht gestellt ist, mit Namen nur die >Mitleidigcn und l'urchtsamen< erwähnt [...] [sind]. [I lier] weiss Aristoteles kein passenderes Nebenwort [zu Katharsis] aufzuspüren als Erleichterung* [...], die, wie jedermann sieht, nichts mit Moral zu schaffen haben kann [...]. Kr kann also mit >Erleichterung< abermals nur eine Vcrsinnlichung des Vorgangs im Gemüt durch I Iindeutung auf analoge körperliche Erscheinungen bezwecken wollen. 09
Die von der Tragödie bewirkte Katharsis sei deshalb in Analogie zur medizinischen Grundbedeutung des Begriffs aufzufassen und benenne nichts anderes als eine Austreibung beklemmender Affekte. Bernays schlägt aufgrund seiner Ausführungen folgende Ubersetzung der erhaltenen Poetik-Passage zur Wirkung der Tragödie vor: die Tragödie bewirkt durch [Erregung von] Mitleid und l'urcht die erleichternde Entladung >solcher [mitleidigen und furchtsamen] (lemüthsaffektioncm.
Er benennt offen den Widerspruch, in den seine Begriffsbestimmung damit gegenüber traditionellen Deutungen tritt, und rechtfertigt seine Haltung, indem er sowohl Lessings moralische als auch die harmonisierend >hedonische< Auffassung des Klassizismus als nachträgliche Umdeutungen verwirft, denn wozu auch die theatralische Katharsis vom moralischen oder hedonischen Gesichtspunkt aus ansehen, bevor man es mit dem Gesichtspunkte versucht, unter welchen Aristoteles die Katharsis überhaupt in der Stelle der Politik gerückt hat? Das ist aber nicht der moralische, so wenig wie der rein hedonische; es ist ein pathologischer G esichtspunkt. 101
Während vorhergehende Interpreten die Mäßigung, welche die Tragödie laut Aristoteles auf den Betrachtenden ausübe, gleichzeitig als dramenimmanentes Strukturmerkmal — manifestiert in ihrer moralische Botschaft oder klassischen Form — aufgefaßt haben, entfaltet sie laut Bernays diese Wirkung gerade durch das orgiastische Aufstacheln der Gefühle. 102 Die >Wohltemperiertheitausgesprochen< werden
Die entscheidende Überschneidung zwischen philologischem und psychotherapeutischem Ansatz besteht in der beiderseitig positiven Bewertung des Affektausdrucks, die sich von der rationalistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts deutlich abgrenzt. Exemplarisch für den damaligen common sense sei 103 104
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Bernays (Anm. 80), S. 59ff. Vgl. etwa: Rank (Anm. 89). Juan Dalma: La Catarsis en Aristoteles, Bernays y Freud. In: Revista de Psiquiatria y Psicologia Medical, Bd.6, 1963, S. 253-269; Ders.: Reminiscencias Culturales Cläsicas en Algeas Corrientes de Psicologia Moderna. In: Revista de la Facultad de Medicina de Tucumän, Bd.5, 1964, S. 3 0 1 - 3 3 2 ; Worbs (Anm. 58), S. 323ff., Stärk (Anm. 60), S. 73. Bernays (Anm. 80), S. 16. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 30. 47
hier die Affektlehre Johann Friedrich Herbarts genannt, die zur Entstehungszeit der Studien zum Bildungskanon gehörte.107 Das Wesen alles Geistigen fiel für Herbart zusammen mit den begrifflichen Vorstellungen, die er von ihrem affektiven Gehalt vollständig losgelöst betrachtet. Ihnen gegenüber konnte er in den Affekten lediglich »leichte Krankheiten eines ansonsten gesunden Geistes«108 erkennen. In diesem Punkt weichen Freuds und Breuers Auffassung ebenso wie Bernays Aristoteles-Auslegung grundlegend von der Tradition ab. loy Das Affektleben spielt nach Ansicht der Mediziner bei der Verarbeitung intensiver Erlebnisse eine so wesentliche Rolle, daß Unterdrückung bis zur hysterischen Erkrankung führen kann. So wird verständlich, wieso die [kathartische] Methode heilend wirkt. Sie hebt die Wirksamkeit der ursprünglich nicht abreagierten Vorstellung dadurch auf, daß sie dem eingeklemmten Affekte derselben den Ablauf durch die Rede gestattet. 110
Der therapeutisch ausgelöste Gefuhlssturm trägt die Erleichterung bereits in sich, einmal ausgebrochen beruhigt er sich hier wie in der Tragödientheorie Bernays' von alleine. Angesichts dieser Kongruenz der Kernthesen setzt die Forschung heute einhellig voraus, daß die Autoren der Studien bei ihrer >kathartischen Kur< vom Bemaysschen Verständnis des Terminus ausgehen. Daß ihnen die bewußte Abhandlung zumindest dem Inhalt nach bekannt war, darf schon deshalb angenommen werden, weil ihre Wiederauflage 1880 innerhalb der gebildeten Kreise Wiens ein wahre >Katharsis-Manie( nach sich zog. Juan Dalma hat wahrscheinlich als erster auf die Zusammenhänge zwischen der Behandlungsgeschichte Anna O.'s, die sich von Ende 1880 bis in die Sommermonate des Jahres 1882 hinzog, und dem gleichzeitig durch die Vermitdung Bernays ausgelösten allgemeinen Interesse an der aristotelischen Katharsis hingewiesen.111 Michael Worbs erklärt diesen Komplex gar zu einem »der [seinerzeit] am meisten erörterten Themen unter Gelehrten und das aktuelle Gesprächsthema in den Wiener Salons«.112 Darüber hinaus besteht eine Verbindung des Arzteteams zu Jacob Bernays auch auf verwandschaftlicher Ebene. Sigmund Freud ist mit der Nichte des Gelehrten, Martha Bernays, seit 1882 verlobt und seit 1886 verheiratet. Ekke-
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Vgl. I xvin (Anm. 50). Zitiert nach Maria Dorer: Historische Grundlagen der Psychoanalyse. Leipzig 1932, S. 95. Noch der I Iysterieforscher Oppenheim, mit dem Breuer und Freud in wesentlichen Zügen übereinstimmen, hatte die Wirkung des Affekts, nicht seine 1 Icmmung für das Entstehen der Krankheit verantwortlich gemacht: Kr fand, »das krankhafte Moment liegt keineswegs allein darin, daß die .Affekte abnorm leicht ausgelöst werden, sondern besonders darin, daß ihr Hinwirken auf die motorischen, vasomotorischen, sensorischen oder sekretorischen Funktionen erleichtert oder gesteigert ist.« Zitiert nach Möbius (Anm. 49), S. 20. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 40. Vgl. Dalma (Anm. 104). Vgl. Worbs (Anm. 58), S. 324.
hardt Stärk hat hierauf ebenso wie auf Freuds reges wissenschaftliches Interesse an Aristoteles und den Studien seines Schwiegeronkels hingewiesen.113 Für die Frühformen der modernen Neurosenlehre hat die aristotelische Katharsis also offensichtlich nicht nur namentlich Pate gestanden. Die Entwicklung einer Theorie durch Breuer und Freud steht auch inhaltlich unter dem Einfluß altphilologischer Forschungen. Die Wissenschaftsgeschichte verbindet sich von diesem Punkt an unlösbar mit der Geschichte von Theaterbegriffen. Den Auswirkungen, die die Verschwisterung von Psychoanalyse und antiker Tragödie in den folgenden Jahren theatertheoretisch wie -ästhetisch hatte, sind die folgenden Kapitel gewidmet.
2.2.3. Rückführung der psychotherapeutischen Katharsis in die Theatertheorie: Bahrs Dialog vom Tragischen Die literatur- und theaterwissenschaftliche Forschung betont die entstehungsgeschichtlichen Verbindungen, in denen die Anfange der Psychoanalyse und die Begriffsgeschichte der >Katharsis< stehen, vor allem aufgrund ihrer Relevanz für jenen ästhetischen Aufbruch, den die Wortführer des sogenannten >Jung Wien< propagierten. Dieser Zirkel, dem Kritiker und Schriftsteller wie Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Felix Saiten, Peter Altenberg, Richard Beer-Hofmann oder Leopold von Andrian zugerechnet werden, versammelte sich in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts um den Theater- und Literaturtheoretiker Hermann Bahr. In seiner energischen Abwendung vom Naturalismus, dem er bis dahin nahegestanden war, forderte dieser von der Literatur der Moderne,114 ihr Darstellungsinteresse in eine grundlegend neue Richtung zu lenken. An die Stelle der getreuen Dokumentation des sozialen Milieus, die im naturalistischen Programm angestrebt wurde, habe die - nicht weniger minutiöse — Widerspiegelung der seelischen Innenwelten zu treten, erklärte Bahr in seinem künstlerischen Manifest Die Überwindung des Naturalismus Auf der Suche nach authentischen und unverfälschten künstlerischen Ausdrucksmitteln für die Welt der Empfindungen wurden bald Anleihen bei außereuropäischen und außerliterarischen Darstellungsformen gemacht.115 113
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Mit der Nichte Jacob Bernays' seit 1882 verlobt und seit 1886 verheiratet, beteiligte sich Freud später an der Herausgabe von dessen Briefen, und sein Interesse für die aristotelische Poetik wird allein schon durch die Nachlaßbibliothek bezeugt, in der sie gleich durch zwei Ubersetzungen — eine davon ist die Gomperzsche — vertreten ist, während sonst hier die griechischen Autoren eher unterrepräsentiert erscheinen.« Stärk (Anm. 60), S. 73. Der Begriff >ModerneJung Wien< wird die Bewegung, die er anführt, deshalb auch als W i e ner Moderne< bezeichnet. Z.B. zum Exotismus Hugo v. Hofmannsthals vgl.: Gabriele Brandstetter: Der Traum vom anderen Tanz. I lofmannsthals Ästhetik des Schöpferischen im Dialog >FurchtTriebMeisters< nur unzureichend verborgen — die innere Verwandtschaft dieser psychotherapeutischen Behandlung z u m griechischen Theater als eigene Entdeckung aus. Er erklärt, daß er über der Lektüre der Studien wieder die ungeheure Kraft der Griechen bewundern gelernt habe, welchen gegeben war, bedenkliche oder unbequeme Leidenschaften, ja I .aster des Menschen, statt sie, wie wir tun, abzuleugnen, wodurch sie nicht besser werden, lieber mit weiser I land allmählich umzubiegen, bis sie aus einer Not so zum Segen ihrer Polis wurden. Wie sie etwa die Eitelkeit in der Agonistik veredelt und darauf dann ihre höchsten Tugenden gelegt haben, sind sie ebenso der Tücke ihrer eigenen Kultur entronnen und haben ihr noch den Ausdruck des griechischen Wesens abzugewinnen gelernt: die Tragödie. 124 Die griechische Tragödie präsentiert sich bei Bahr — durch die Brille der Studien gelesen — wie eine Vorform der modernen Psychotherapie. Sein Dialog nennt die Quelle, die ihm den Analogieschluß nahelegt. Der Hauptredner ist davon überzeugt, die Poetik des Aristoteles »edaubt keine andere Deutung als Bernays gegeben hat«, und bei der »es denn auch, soviel ich weiß, in der Wissenschaft geblieben« 1 2 5 ist. Seiner Auffassung nach haben die Griechen die Katharsis erfunden, u m sich von den Bedrohungen der eigenen Kultur zu bewahren. Das Gefuhlsbad, in das sie den Zuschauer stürzt, schützt ihn vor der Hysterie des Rationalisten. Bahr ist mit seiner Theorie des Tragischen keine echte Pioniedeistung gelungen. Abgesehen davon, daß die Analogie zwischen griechischer Tragödie und kathartischer Kur bereits durch den Terminus selbst nahegelegt wird, hat bereits 1897 ein Wiener Ästhetik-Professor, Alfred Freiherr von Berger, anläßlich einer Neuübersetzung der Poetik durch Theodor Gomperz die Tragödienauffassung Aristoteles' mit der kathartischcn Behandlung der Hysterie, welche die Arzte Dr. Josef Breuer und Dr. Sigmund Freud beschrieben haben (...] verständlich zu machen gesucht. 126
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Bahr (Anm. 119), S. 18f. Neben den Hinflüssen, die sie aus den Studien über Hysterie erhalten hat, zeigt Bahrs Theorie des Griechentums und der Tragödie auch ganz klare Anklänge an Nietzsches Tragödientheorie. In seiner Zeichnung des aufgeklärten Zeitgenossen z.B., der »den früheren Menschen in uns, den überwundenen, den bösen der Urzeit« immer in sich trägt, erkennt man deutlich Nietzsches Dialektik von dionysisch und sokratisch wieder, die bei Bahr nun wiederum im psychoanalytischen Gewand daherkommt: »Erblicken wir ihn, den zu verleugnen, zu vergessen unseren ganzen Wert ausmacht, so graut uns, wir erschrecken, wie jene I lysterischen erschrecken, wenn man sie an das Ereignis erinnert, dessen Spur auszuwischen sie vor Scham krank geworden sind. Aber indem die Tragödie stärker als unsere Furcht ist und uns im Verbrechen unseren eigenen Trieb, unseren eigenen Wunsch zu erkennen zwingt, leiden wir mit und dies ist es allein, was uns heilt.« Bahr (Anm. 119), S. 24. Ganz offensichtlich liest Bahr hier die Studien über Hysterie durch die Brille Nietzsches. Bahr (Anm. 119), S. 20. Aristoteles: Poetik. Übers, u. eingeleitet von Theodor Gomperz. Mit einer Abhandlung: Wahrheit und Irrtum in der Katharsistheorie des Aristoteles von Alfred Freiherr von Berger. I,eipzig 1897, S. 69-98, hier S. 81. Gomperz selbst übersetzt
Seine kleine Abhandlung soll darlegen, wie >Aristoteles sich die Katharsis dachte< und beschreibt doch viel eher, wie sich diese aus Sicht der Studien über Hysterie darstellt: Durch die Tragödie wird all dieser schleichenden Sorghaftigkeit, mit denen sich die Menschen herumtragen und die ihnen das Ixbensgefühl verleidet, ein Anlaß zum Ausbruch gegeben. Es kommt einerseits zum kräftigen Empfinden und andererseits zum lebhaften affectvollen sich vom Herzen Sprechen der Empfindungen. Namentlich im Letzteren liegt das Kathartische. Der Dichter, der seinen Helden in machtvoller Weise sagen läßt, was er leide, spricht damit auch dem Hörer befreiend aus der Seele. 127
Sowohl von Berger als auch Gomperz, zu dessen weitgespanntem Bekanntenkreis Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal wie Sigmund Freud gehörten,128 standen dem Jungen Wien nahe, so daß vermutlich von dieser Seite her wichtige Anregungen in die späteren psychoanalytisch gewendeten Griechendramen Hofmannsthals wie die Tragödientheorie Bahrs einflössen. Offenbar war also der >Dialog vom Tragischem weniger originell, als es sein Autor glauben lassen möchte. Dennoch kommt Bahrs Text aufgrund der exponierten Stellung, die sein Verfasser in Literatur- und Theaterszene besetzte, eine Schlüsselfunktion zu, macht er doch im poetologischen Bereich, am Beispiel der Tragödientheorie, am Beispiel des zwischen Medizin und Poetik changierenden Begriffs der Katharsis noch einmal die Wechselwirkung von Dichtung und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende deutlich. 129
Bahrs Rolle für die Vermittlung von Altphilologie, Wissenschaft und dramatischer Literatur darf vor allem hinsichtlich der aufzuzeigenden weiteren Korrespondenzen dieser Systeme nicht unterschätzt werden. Die exemplarische Stellung, die dem Dialog vom Tragischen vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Tendenzen zukommt, hat Johannes Volkelt 1917 unfreiwillig verdeutlicht, indem er den Text verallgemeinernd abkanzelt als einen für das Fühlen gewisser allermodernster Kreise bezeichnenden Versuch, die Entladungstheorie mit den mehr als fragwürdigen Vorstellungen des bekannten Doktor Freud zu verbinden [...]. 110
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Aristoteles' Tragödiendefinition im Sinne Bernays' als »eine Darstellung, welche durch Erregung von Mitleid und Furcht die Entladung herbeiführt.« Ebd., S. 11. Aristoteles (Anm. 126), S. 80. Das recht innige Verhältnis Freuds zu Gomperz, dessen Frau seine Patientin war und später ihren Einfluß geltend machte für die Vergabe einer Professur an Freud, hat Garfield I'ourney dokumentiert: Freud and the Greeks: Α study of the influence of Classical Greek Mythology and Philosophy upon the Development of Freudian Thought. In: Journal of the History of the Behavioural Sciences 1, 1965, S. 67-85, hier S. 69f. Worbs (Anm. 58), S. 324. Das Zitat lautet im Zusammenhang. »Einen für das Fühlen gewisser allermodernster Kreise bezeichnenden Versuch, die Endadungstheorie mit den mehr als fragwürdigen Vorstellungen des bekannten Doktor Freud zu verbinden, finde ich 53
Im Folgenden wird hinter der metaphorischen Anleihe Breuers und dem ästhetischen Rückgriff Bahrs ein breites Netz von Korrespondenzen sichtbar werden, das sich zwischen der Hysterieforschung und der Theorie des antiken Theaters um die Jahrhundertwende aufspannt.
2.2.4. Katharsis, Dionysoskult und die >Hysterie der Griechen< Entgegen einer intellektuell-distanzierenden, moralischen oder ästhetischen Deutung der Katharsis betonte Jacob Bernays vor allem die Wucht des dabei hervorbrechenden Affekts. Beim Erscheinen 1857 blieben seine Grundlage der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie nahezu unbeachtet, während sie bei ihrer Neuauflage 1880 eine wahre Katharsis-Manie auslösten. Daß die Schrift zu diesem Zeitpunkt eine solche Wirkung entfalten konnte, hat seinen Grund in einem grundlegenden Wandel des Griechenlandbildes. Dieser vollzieht sich in der Altertumskunde in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts und bereitet so den Boden für die verspätet euphorische Aufnahme der entidealisierenden Thesen Bernays'. Die ersten Impulse für ein neues Verständnis der Antike gingen von der Universität Basel aus, wo Johann Jakob Bachofen mit seiner Abhandlung über das Mutterrecht (1861), Friedrich Nietzsche mit seiner berühmten Schrift zur Geburt der Tragödie (1871) und nicht weniger folgenreich Jakob Burckhart mit seinem Aufsehen erregenden Vorlesungszyklus über Griechische Kulturgeschichte von 1872 (im Druck postum erschienen 1898-1902) ein Antikenverständnis formulierten, das der bisherigen, klassizistischen Auffassung diametral
bei Hermann Bahr (Dialog vom Tragischen. Berlin 1904). Der griechische Mensch habe als I Erbschaft vergangener Geschlechter allerhand schlechte, rohe, wilde Affekte versteckt und verhalten in sich getragen. Durch diese verhaltenen, unterhalb des Bewußtseins wühlenden Affekte sei seine Natur vergiftet worden; die ganze Kultur der G riechen sei rings von Hysterie beschlichen und umstellt gewesen. Da habe sich nun der Genuß der Tragödie als höchst zweckmäßige Kur erwiesen. Die Tragödie habe das durch Kultur kranke Griechenvolk an seine schlechten Affekte erinnert und durch diese I Erinnerung das Schlechte und Böse ausgelöscht, abgespannt, abgetrieben. Mehr als einen geistreichen Kinfall wird man in diesen Gedanken kaum sehen dürfen. Und dasselbe gilt auch von der Wendung, die Bahr diesem (Einfall in dem weiteren Verlauf des Dialoges gibt: die Tragödie tauche den Kulturmenschen vorübergehend und unschädlich in das überwundene, aber immer noch lüstern ersehnte >Chaos< der schmutzigen Triebe, um ihn auf diesem Umwege das G utc der erreichten Kulturverfeinerung um so lebhafter fühlen zu lassen. In jedem, auch dem veredeltsten Menschen stecke das Bedürfnis, zeitweilig dem Laster zu huldigen. Dazu sei nun eben die Tragödie gut, daß sie >bisweilen das Chaos wieder an die Wand malec Um so seliger werden wir uns dann preisen, in geordneter Sitte leben zu können. Der Mensch gilt dem Verfasser als ein emporgezüchtetes Tier mit starken Rückfalltendenzen ins Grob- Tierische. Und da sei dann die Tragödie eine Art Sicherheitsventil.« Johannes Volkelt: Ästhetik des Tragischen. 3. Auflage. München 1917, S. 346. 54
entgegensteht.131 In dem entscheidenden Gewicht, das den dunklen, irrationalen, entgrenzenden Seiten der alten Mythen und Riten beigemessen wird, gleicht es dagegen der affektzentrierten Katharsis-Auffassung.132 Die Schriften der Baseler Gelehrten widmen sich explizit oder implizit dem Versuch, die vorhomerische Frühzeit Griechenlands, aus der selbst keine schriftlichen Dokumente überliefert sind, anhand von alten Mythen zu rekonstruieren. Deren Archaik wird der von Winckelmann beschworenen klassischen Harmonie des Griechentums entgegengesetzt in der Absicht, verklärtes Schwelgen in der Schönheit griechischer Kulturzeugnisse mit der verdrängten irrationalen Vorzeit, die ihr Weiterwirken in der oft ungezügelten Grausamkeit der Uberlieferung noch zu erkennen gibt, zu konfrontieren. In Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur (1861) zieht der Philosoph und Religionsgeschichder Johann Jakob Bachofen mythologische Quellen heran, um zu belegen, daß die patriarchale Grundkonstellation des Abendlandes die ältere Form des Matriarchats abgelöst habe. In griechischer Zeit durchaus noch spürbar sei die archaische Vorherrschaft des >Weiblich-Stofflichen< erst infolge der römischen Staatsidee durch das >Männlich-Geistige< vollständig verdrängt worden. Zur Unterstützung seiner Thesen zieht Bachofen die zahlreichen Stellen der Uberlieferung heran, welche die Bevorzugung von Prinzipien belegen, die er in romantischer Tradition als weiblich konnotiert begreift: Etwa des Mondes vor der Sonne, der empfangenden Erde vor dem befruchtenden Meere, der finsteren Nachtseite vor dem lichten Tag. An die Faszination, die schon die Romantiker für die mythische Vorzeit hegten, knüpft auch Jakob Burckhardt an. Das klassische Ideal der Goethezeit stuft er dagegen als »eine der allergrößten Fälschungen des geschichtlichen Urteils, welche jemals vorgekommen« ein und kritisiert insbesondere, »daß man [das Leben der griechischen Nation] nur von den ansprechenden Seiten nahm«. 133 Gegen die nach seiner Ansicht unzulässige bürgerliche Vereinnahmung der Antike spielt er deren zahlreiche Leidens- und Schreckensmotive in den Vordergrund, die bislang, wo nicht ganz verschwiegen, doch einer abmildernden Deutung unterzogen worden waren. 134 Nur der Ausblendung dieser düsteren Seiten verdanke sich überhaupt das falsche klassische Ideal, das der Kulturhistoriker Burckhardt, wie vor ihm Bachofen, von der geschärften Aufmerksamkeit für die irrationalen >Nachtseiten< der Antike abgelöst sehen
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Zu der hier beschriebenen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung vgl. Theo Girshausen: Ursprungszeiten des Theaters. Das Theater der Antike. Berlin 1999, S. 70ff. Vgl. Worbs (Anm. 58), S. 275. Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte. Nach dem Text der Erstausgabe durch Jacob Oer», Berlin und Stuttgart 1 8 9 8 - 1 9 0 2 . 4 Bände. München 1977. Bd. 1, S. 75. Karl Phillip Moritz z.B. behandelt in seiner Götterlehre die Überlieferung von blutigen Elementen des Dionysoskults als eine >Göttererzählungstiller Einfalt, edler Größe< sondern vom Glauben an Geister und Dämonen sowie von blutig-wilden Riten und Kulten erzählten. Wachsende Faszination kam im Zuge dieser Entdeckungsgeschichte auch dem Gott des Rausches und des Selbstverlusts zu. Die für die Jahrhundertwende bezeichnende umfangreiche 155 vgl.: »Iis hat also eine Nation [die griechische, Anm. B.C.] gegeben, welche ihren Mythos als ideale Grundlage ihres ganzen Daseins mit höchster Anstrengung verteidigt und um jeden Preis mit den sachlichen Verhältnissen in Verbindung gesetzt hat. Nicht nur die Geschichte hatte es schwer, dagegen aufzukommen, dieselbe Nation hat auch kein historisches Drama auf ihrer Szene dulden mögen und das historische Kpos, d.h. die epische Behandlung einer relativ nahen Vergangenheit nur wenig gepflegt. Diese Nation gilt nun für >klassisch< im Gegensatz zu aller >Romantiko Wenn aber Romantik soviel ist als ständige Zurückbeziehung aller Dinge und Anschauungen auf eine poetisch gestaltete Vorzeit, so hatten die Gricchcn in ihrem Mythus eine ganz kolossale Romantik zur allherrschenden geistigen Voraussetzung.« Burckhardt (Anm. 133), Bd. 1, S. 35f. 1 3 6 Das Zitat im Ganzen: »Sodann fällt in diese Zeit (koloniales und agonales Zeitalter von den dorischen Wanderungen bis fast zum linde des VI. Jahrhundert v. Chr., Anm. B.C.] jedenfalls eine starke Zunahme des Dionysoskultus samt seinen kolossalen Pesten und seinen Weihen, eine I Erscheinung, für die es freilich an festen chronologischen Daten fast gebricht. Wenn auch nicht der Tempelkult, so müssen doch die Feste dieses Gottes in dieser Zeit allen üblichen f esten allmählich über den K o p f gewachsen sein; sonst hätte nicht dieser Kult allein z.B. in Athen die kolossalen Veranstaltungen hervorgerufen, welche dann zur Entwicklung des Dramas führten; das Drama ist aber wirklich eine Disziplinierung des dionysischen Impetus durch ein formales Prinzip, welches gar wohl apollinisch heißen mag.« Burckhardt (Anm. 133), Bd. 4, S. 156. 56
Auseinandersetzung mit dem Dionysoskult ist — so wird sich zeigen — von besonderem Interesse hinsichtlich der neuen Popularität des Katharsisbegriffs und dessen Zusammenhang mit dem Hysteriediskurs. Dionysos, den Zeus in einem außerehelichen Abenteuer mit der Menschenfrau Semele gezeugt hat, wurde laut der Überlieferung im Schenkel seines Vaters ausgetragen, nachdem dessen eifersüchtige Gattin Hera an der Mutter des Knaben Rache genommen hatte. Als Kind auf dem Parnaß ausgesetzt, von einem Stier und von blutdürstigen Frauen zerrissen und dennoch immer wiederkehrend ist er das Urbild des unzerstörbaren Lebens, nicht im Sinne der persönlichen Vita, sondern des überpersönlichen und unendlichen, des kosmischen Lebens. Er wird deshalb etwa ab der Jahrhundertwende zum >Schutzheiligen< einer Philosophie, die eben diesen Lebensbegriff in ihr Zentrum stellt.137 Zunächst aber wird Dionysos im Rahmen einer Fülle von Abhandlungen zur >Nachtseite< des Altertums als Gott der Totenwelt relevant, denn so führt ihn eine frühe Version des Mythos ein. Er repräsentiert also das Reich des Todes ebenso wie die Wiederkehr des Lebens, stellt den Kreislauf zwischen Leben und Tod, das Hervorgehen des Lebens aus dem Tode und des Todes aus dem Leben dar. Alle rationalen Grenzen werden durch ihn, den Gott des Rausches und des Realitätsvedusts, aufgehoben. Seine Anhänger(innen) entrückt er in singenden, tanzenden Wahnsinn. Er selbst wird von Tieren und von rasenden Frauen, den sogenannten Mänaden, begleitet.138 Dem Gott der Verwandlung zu Ehren wurden in der Antike die sogenannten Dionysien gefeiert, die aus der Urform primitiver Maskentänze schließlich das griechische Theater hervorgebracht haben. Diese kultischen Ursprünge hat Friedrich Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie hervorgehoben. Das >Dionysischeder Meister< als Zeichen seiner höchsten Zustimmung zu einem jungen Gesprächsteilnehmer »langsam, fast ein wenig feierlich« sagt: »Bist Du auch schon so weit? Gelobt sei Dionysos!« Vgl. Bahr (Anm. 119), S. 68. 137
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n o c h nicht befestigte Selbstbewusstsein d e n M e n s c h e n zu einer äußerten V e r z ü c k u n g entließ«. 1 4 0
selbstent-
L a u t Bernays seien in der Antike Medizin u n d Religion n o c h untrennbar v e r s c h m o l z e n gewesen. Z u r Zeit ihres U r s p r u n g s i m G e i s t e r g l a u b e n stellten die r a u s c h h a f t e n G e s ä n g e u n d T ä n z e des späteren D i o n y s o s k u l t e s »priesterliche Mittel zur Stillung der E k s t a s e « dar, da sie dieser die Möglichkeit b o t e n , sich selbst z u verausgaben: Wie kathartische Mittel dem Körper dadurch Gesundheit schaffen, dass sic den krankhaften Stoff zur Aeusserung hervordrängen, so wirken die rauschenden Olymposweisen sollicitierend auf das ekstatische Dement, welches wider die Fessel des Bewußtseins anschäumt, ohne sie aus eigener Kraft sprengen zu können; in unablässigem Wühlen würde es die Grundfesten des Gemüths untergraben, fände es nicht einen Beistand an der Gewalt des Gesanges, von dessen Zuge hingerissen es nun hervorrast, sich der Lust hingiebt, aller Fugen und Bande des Selbst ledig zu sein, um dann jedoch, nachdem diese Lust gebüsst worden, wieder in die Ruhe und Fassung des geregelten Gemütszustandes sich einzuordnen. 141 Mit d e m sozialen A u s d i f f e r e n z i e r u n g s p r o z e ß der griechischen Polis sei die ekstatische E r r e g u n g i m R a h m e n der D i o n y s i e n in die g e o r d n e t e n B a h n e n der T r a g ö d i e n a u f f ü h r u n g g e b a n n t w o r d e n . T r o t z Säkularisierung und Sublimier u n g sei j e d o c h i m antiken T h e a t e r die enthusiastische E n t g r e n z u n g in F o r m der tragischen K a t h a r s i s erhalten geblieben. D i e >Geburt der Tragödie< erklärt Bernays aus d e m G e i s t der dionysischen Raserei: Nun hatte, längst bevor ein Philosoph ästhetische Theorien ersann, der in den Dichtern sich aussprechende Geist des hellenischen Stammes zu Feier und Lhre des Gottes, dessen erstes Nahen die Menschen in wirkliche Verzückung versetzte und dem daher orgiastische Ceremonien für immer geweiht blieben, eine Dichtgattung ausgebildet, welche die ursprüngliche bakchantische likstase für den inzwischen veränderten socialen Zustand festhielt und zugleich veredelte, indem sie die Stelle des objectlos enthusiastischen Taumels ersetzte durch eine auf ekstatische Tirrcgung universal menschlicher Affecte angelegte Darstellung der Welt- und Menschengc schicke. Nicht bloss der Dichter, wenn er überdachte, was er in begeisterter Stunde geschaffen hatte, auch der gewöhnliche, lediglich empfindende Zuschauer war sich auf das Bestimmteste bewusst, welche Affecte es seien, die das tragische Schauspiel errege. 1 4 2 D e m Aristoteles rechnet es Bernays als sein eigentliches Verdienst an, die allgegenwärtige E r f a h r u n g dionysischer Selbstentäußerung in seiner T h e o r i e der K a t h a r s i s als d e n G r u n d z u g des T r a g i s c h e n festgehalten z u h a b e n . 1 4 1 I n F u r c h t u n d Mitleid tritt der Z u s c h a u e r hier aus sich selbst heraus u n d verschmilzt f ö r m l i c h mit d e m tragischen Helden. D i e Tragödientheorie, die
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Bernays (Anm. 80), S. 64. Bernays (Anm. 80), S. 64f. Bernays (Anm. 80), S. 70. Vgl.: »Aus der offenliegenden Tatsache |dass auch der gewöhnlichste Zuschauer sich von Furcht gleich sehr wie von Mitleid erschüttert wusste) das Geheimnis der tragischen Kunst herauserkannt und es, so weit dergleichen Mysterien Gemeingut werden können, durch Definition und Regeln den Denkenden zugänglich gemacht zu haben, ist das f...| eigenthümliche und unvergängliche Verdienst des Aristoteles« Bernays (Anm. 80), S. 71 f.
Bernays Aristoteleslektüre aus dem Blickwinkel des Dionysoskults heraus entwirft, entdeckt so einen Rezeptionsvorgang, der, beschrieben als ekstatischer Grenzverlust, Nietzsches späterer Idee von der Überwindung des Individuationsprinzips in der dramatischen Vision bereits sehr nahe kommt.144 Höchstwahrscheinlich von Bernays Ansatz inspiriert war Nietzsches Freund und Verteidiger Erwin Rohde, der in seiner vielgelesenen Schrift Psyche (1890-1894), einer Abhandlung über Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, den Zusammenhang zwischen dionysischer Erregung und Katharsis im oben angeführten Sinne beschreibt.145 Wie der Vorgänger wendet er sich explizit gegen eine moralische Deutung des Begriffes, den er ebenfalls von seiner therapeutischen Funktion, die ihm innerhalb des frühen Geisterglaubens zukommt, her auffaßt.146 Der pathologisierende Duktus, mit dem sich Rohde 144
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»Denn wenn das Mitleid so universalisiert wird, dass der Zuschauer mit dem tragischen Helden zusammenfliesst, so verschwindet vor der Wonne, welche dieses Heraustreten aus dem eigenen Selbst begleitet, das Gefühl der Pein, welches die bemideidete nackte Tatsache an sich erregen könnte [...] und wenn die sachliche Furcht durch das persönliche Mideid vermittelt ist, kann der rein kathartische Vorgang im Gemüth des Zuschauers so erfolgen, dass, nachdem im Mitleid das eigene Selbst zum Selbst der ganzen Menschheit erweitert worden, es sich den furchtbar erhabenen Gesetzen des Alls und ihrer die Menschheit umfassenden unbegreiflichen Macht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstelle, und sich von derjenigen Art der Furcht durchdringen lasse, welchc als ekstatischer Schauder vor dem All zugleich in höchster und ungetrübter Weise hedonisch ist.« Bernays (Anm. 80), S. 73f. »Schon hesiodische Gedichte erzählen, wie die Töchter des Königs Proitos von Tiryns in dionysischem Wahnsinn durch die Gebirge des Peleponnes schweiften, zuletzt aber, samt den zahlreichen Weibern, die sich ihnen angeschlossen hatten, geheilt und >gereinigt< wurden durch Melampus, den sagenberühmten pylischen Seher. Die Heilung geschah durch eine Steigerung der dionysischen Erregung mit Jauchzen und begeisternden Tänzen und Anwendung gewisser kathartischer Mittel« Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Zwei Bände in einem Band. Darmstadt 1991 (Nachdruck der 2. Auflage von 1898). Bd. 2, S. 50f. »Die Welt unsichtbar den Menschen umschwebender Geister, den Gewöhnlichen nur in ihren Wirkungen empfindlich, ist dem ekstatisch wahrsagenden Mantis, dem Geisterseher vertraut und zugänglich. Als Geisterbanner wirkt er da, wo er Krankheiten zu heilen unternimmt. Abwehrung gefährlicher Wirkungen aus dem Reich der Geister ist ihrem Ursprung und Wesen nach auch die Kathartik. (...) Denkt man vorzugsweise daran, daß nun auch solche Handlungen eine Reinigung fordern, die, wie Mord und Blutvergiessen, eine moralische Bedrückung des Täters voraussetzen lassen, so ist man leicht versucht, in der Entwicklung der Kathartik ein Stück der Geschichte der griechischen Moral zu sehen, als ihren (5 rund sich eine zartere und tiefere Ausbildung des >Gewissens( zu denken, das von den 1'lecken der >Sünde< durch religiöse Hilfe rein zu werden sich gesehnt habe. Aber eine solche (sehr beliebte) Auslegung der Kathartik verschließt sich selbst die Einsicht in deren wahren Sinn und wirkliches Wesen. [...] Es begleitet und fordert ihre Ausübung kein Gefühl der Schuld, der eigenen inneren Verschuldung, der eigenen Verantwortlichkeit. [...] die >BefleckungMcnschen im HerzenReinigung< dienten die mit Tanz und Musik (...) begangenen Weihefeste der phrygischen Gottheiten. Das Ekstatische sollte in diesem Verfahren nicht unterdrückt und ausgerottet werden; es wird nur in eine priesterlich-ärztliche Zucht genommen und wie ein belebender Trieb dem Gottesdienst eingeführt. 148 D a s hier v o n R o h d e e n t w o r f e n e K o n z e p t des >Korybantiasmus< ähnelt ganz offensichtlich e i n e m zur Zeit der V e r ö f f e n t l i c h u n g seines B u c h e s vergleichbar >epidemisch< auftretenden Krankheitsbild. Wie die Hysterie, s o ist der antike E r r e g u n g s z u s t a n d in seiner R e k o n s t r u k t i o n d u r c h d e n Völkerkundler d u r c h >periodische W i e d e r k e h » sowie einen unwiderstehlichen B e w e g u n g s d r a n g gekennzeichnet. Hier wie da leiden die B e t r o f f e n e n , O p f e r einer >morbide[n] Anlage< unter Anfällen, h y p n o i d e n Z u s t ä n d e n , S i n n e s s t ö r u n g e n u n d Halluzinationen. D e n hier bereits anklingenden p s y c h o p a t h o l o g i s c h e n Vergleich, der R o h d e s medizinisch-anthropologischen D e u t u n g des D ä m o n e n k u l t s z u g r u n d e liegt, zieht der A u t o r an anderer Stelle g a n z explizit: D e n antiken Geisterglaub e n mit seinen » E k s t a s e n der Seele« versucht er mit Verweis a u f J a n e t s Studien als eine altertümliche F o r m der hysterischen Persönlichkeitsspaltung z u deuten.1«
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^ 14i)
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Rohde (Anm. 145), Bd. 2, S. 47ff. Fibd Vgl.: »Die Ekstasen der Seele, von denen Hermotimos selbst und dies ganze Zeitalter der verzückten Scher so vielfache Erfahrung machte, wiesen als eine stark bezeugte Thatsache hin auf die Trennbarkeit der Seele vom l-eibe, auf höheres Dasein der Seele in ihrem Sonderdasein. In jenen tief erregten Zeiten müssen die Griechen vielfach die Erfahrung von jenen abnormen, aber keineswegs seltenen Erscheinungen des Seelenlebens gemacht haben, in denen eine Spaltung des Bewußtseins, ein Auseinandertreten des persönlichen Daseins in zwei [oder mehr] Kreise mit gesonderten Centren eintritt, einander ablösend oder auch gleichzeitig neben einander zwei Persönlichkeiten, ein doppelter Intellect und ein doppelter Wille in einem Menschen sich geltend und bemerklich machen. Selbst voraussetzungslose psychologische Beobachtung unserer Zeit weiß solche, bei gewissen
Mit seiner Gleichsetzung von antikem Dämonenglauben und moderner Neurose ist Rohde nicht allzu originell. Schon 1887 hatten Jean-Martin Charcot und sein Mitarbeiter Pierre Richer eine Abhandlung über Die Besessenen in der Kunst veröffentlicht, in der sie eine ganze Reihe von kunsthistorischen Zeugnissen einer psychiatrischen Diagnose unterziehen. In den malerischen Fratzen und Verrenkungen der alten Abbildungen wollen sie dabei die vertraute Symptomatik der Hysterie wiedererkennen. Ihr Buch handelt von all diese[n| hysterischen oder konvulsivisch Besessenen, für die sich die Ärzte nicht zuständig fühlten und die daher Priestern und Richtern in die Hände fielen, die dann nur von Dämonen gequälte Seelen wittern konnten: Heute verstehen wir sie als Kranke. 1 5 0
Nicht umsonst nannte Charcot eine Sonderform des hysterischen Anfalls die Attaque demoniaque, ein Ausdruck, den sein Bewunderer Leopold Loewenfeld kurzerhand als »Anfall von Besessenheit«151 übersetzt. Medizin und Altertumskunde projizieren gegen Ende des 19. Jahrhunderts den neuesten Wissenstand der Psychiatrie auf die magische Heilkunde der Antike.152 Die Analogie zwischen dämonischer Besessenheit und Hysterie
neuropathischen Zuständen oft |freiwillig oder unter dem Zwang experimenteller Veranstaltung] hervortretende Erscheinungen nicht anders zu beschreiben denn als eine Verdoppelung oder Vervielfältigung der Person, Bildung eines zweiten Ich, eines zweiten Bewußtseins nach oder neben dem ersten und normalen Bewußtsein, dem das Dasein seines Doppelgängers regelmäßig verborgen bleibt.« Eine Anmerkung Rohdes ergänzt: »Wohl am vollständigsten und höchst besonnen stellt diese Dinge dar Pierre Janet, L'automatisme psychologique, Paris 1889. Wo solche Erscheinungen sich einer mit religiös spiritualistischen Voraussetzungen erfüllten Vorstellungsweise darbieten, werden sie nothwendiger Weise eine diesen Voraussetzungen entsprechende Auslegung finden. Das Auftauchen eines intelligenten Willens in einem Menschen, ungewollt und unbemerkt von der sonst in diesem Menschen waltenden Persönlichkeit, wird als das Einfahren eines fremden Geistes in den Menschen oder das Verdrängen der eigenen Seele des Menschen durch solchen fremden dämonischen oder seelischen Gast aufgefasst werden.« Rohde (Anm. 145), Bd. 2, S. 101. 150 151
152
Charcot/Richer (Anm. 54), S. 118. »Der vollständig entwickelte grosse Anfall ist eine relativ seltene Erscheinung [...] Häufiger begegnen wir Varianten oder Modifikationen der grande attaque; solche können nach Charcot [...] durch Ausdehnung einer Anfallsperiode auf Kosten der übrigen (...) zu Stande kommen. J e nach der Anfallsphase, welche prädominiert oder isoliert auftritt, haben wir es mit einem epileptoiden Anfall (erste Periode), einem Anfall von Besessenheit (Attaque demoniaque, zweite Periode), einem Anfall von Ekstase (dritte Periode) oder von Delirium (vierte Periode) zu tun.« Leopold Loewenfeld: Pathologie und Therapie der Neurasthenie und Hysterie. Wiesbaden 1894, S. 492. Eine weitere derartige Interpretation frühzeitlicher Phänomene aus dem Geist moderner Psychiatrie findet sich in Alfred Freiherr von Bergers Abhandlung über »Wahrheit und Irrtum in der Katharsistheorie des Aristoteles« wo Enthusiasmus mit einer Nervenkrankheit gleichgesetzt wird. Die in Bernays Abhandlung über die Wirkung der Tragödie untersuchte Stelle der Politik referiert er in voller Ubereinstimmung mit dem Altphilologen: Hier »vergleicht Aristoteles mit dieser körper61
bildet zum Entstehungszeitpunkt der Studien über Hysterie ebenso wie die Kenntnis der therapeutischen Bedeutung von Katharsis schon beinahe einen Gemeinplatz. Von diesen Deutungsmustern ausgehend konnte Breuer zu seiner Formulierung der >kathartischen Kur< gelangen, indem er die Heilmethode des antiken Geisterglaubens in die psychotherapeutische Praxis seiner Gegenwart verlagerte. Angesichts des im ausgehenden Jahrhundert die Wissenschaft beherrschenden Positivismus erforderte dieser Schritt neben intellektueller Gewitztheit vor allem eine gewiß nicht unerhebliche Portion Mut. Inhaltlich war er längst vorbereitet. Wie nahe Breuers Krankenauffassung ihren ungenannten Quellen steht, wird noch in der Beschreibung deutlich, die er von seiner Patientin Anna O. abgibt. Diese, die selbst der Vermutung Ausdruck gibt, von einem bösen Geist beherrscht zu werden,153 gibt mit ihren grausigen Visionen und dramatischen Alienationen oft genug ein Ebenbild der Besessenen ab, wie Rohde oder Bernays sie schildern.154 Über den Katharsis-Begriff hinaus werden die Anregungen, die die Freud/Breuersche Theorie von Seiten einer neuen antiklassizistischen Altertumskunde erfährt, wirksam in dem Körperkonzept, das die Studien über Hysterie entwickeln, und das später zum psychoanalytischen Symptomverständnis ausgebaut werden wird. Jenes kommt, insbesondere mit Aufhebung der hergebrachten Leib-Seele-Trennung, den Vorstellungen, die Autoren wie Rohde oder Nietzsche von Enthusiasmus und Ekstase der Griechen entwikkeln, sehr nahe.155 Den entsprechenden Verbindungen, die zur gleichen Zeit auch innerhalb der Schauspiel- und Tanzästhetik wirksam werden, ist das folgenden Kapitel gewidmet. Daneben wird die dramaturgische Bedeutungskomponente des Katharsis-Begriffs innerhalb der psychoanalytischen Theoriebildung ebenso wie in der Theatertheorie der Jahrhundertwende wirksam bleiben. Am einleuchtendsten läßt sich dies durch einen Vergleich der Freudschen Metapher >Dramatisierung< mit bestimmten Strömungen der zeitgenössischen Dramentheorie zeigen. Der Begriff, dem bereits in der Freud-
lichen Cur die Heilung jener Nervenkrankheit, die er >Fnthusiasmus< nennt, durch Musik.« Bernays (Anm. 80), S. 73. 1 5 3 »In ganz klaren Momenten beklagte sie die tiefe Finsternis ihres Kopfes, wie sie nicht denken könne, blind und taub werde, zwei Ichs habe, ihr wirkliches und ein schlechtes, das sie zu Schlimmem zwinge usw.« Breuer/Freud (Anm. 3), S. 45. 1 5 4 Vgl.: »Sie hatte die ganze Zeit vollständig abstiniert, war voll Angstgefühlen, ihre halluzinatorischen Absencen erfüllt von Schreckgestalten, Totenköpfen und Gerippen. Da sie, diese Dinge durchlebend, sie teilweise sprechend tragiertc, kannte die Umgebung meist den Inhalt dieser Halluzinationen.« Breuer/Freud (Anm. 3), S. 48. 155 V g l Freud-Paraphrase Flisabeth Bronfens: »[...] die Hysterie erweist sich als die einzige Neurose, die eine Überflutung des psychischen Apparats durch Vorstellungen zum Ausdruck bringt, einen pathologischen Überfluß an Umbildungen, an Phantasien, die schiefgehen, dies aber dadurch bewerkstelligt, daß sie ihre Botschaft des wiedergekehrten Begehrens am Körper festmacht.« FJisabeth Bronfen: Sigmund Freuds Hysterie - Karl Jaspers Nostalgie. In: Jörg Huber und Alois Martin Müller: Die Wiederkehr des Anderen. Basel, Frankfurt a. M., Zürich 1996, S. 1 4 5 - 1 6 8 , hier S. 146. Vgl. auch Freud selbst, der die Hysterie als einen »rätselhaften Sprung aus dem Seelischen ins Körperliche« (Sigmund Freud: Vorlesungen zur Iiinführung in die Psychoanalyse, G W 11, S. 265) bezeichnen wird.
62
sehen Hysterielehre, mehr aber noch in der späteren Traumlehre eine zentrale Funktion zukommt, wird an geeigneter Stelle dieser Arbeit eingehend zu untersuchen sein.
2.3.
Hysterie und Tanzgeschichte: V o m klassischen Bewegungsmuster zum affektiven Ausdruck
2.3.1. Hysterie und >die ganze leibliche Symbolik< der dionysischen Erregung Für die Literatur hat Gabriele Brandstetter gezeigt, daß in zahlreichen Texten der Jahrhundertwende Inhalte, die jenseits der Sprachfähigkeit anzusiedeln sind, poetisch mittels bestimmter Körperbilder vermittelt werden. Auf diese Körperbilder ließe sich der Begriff der Pathosformel anwenden, der gemäß dem Anthropologen Aby Warburg jene >Urworte menschlicher Leidenschaft bezeichne. Die Ikonographie der Mänade wird von Brandstetter im Zusammenhang der Darstellung in Literatur und Tanz eingehend untersucht. 156 Doch auch die psychiatrische Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts reproduziert, so wird zu zeigen sein, in ihren Schilderungen von Hysterikerinnen und deren übersteigerter Expressivität ein entsprechendes Körperbild. Die Mänaden faszinierten allgemein durch ihre ausschweifend exzentrische Bewegungs- und Gebärdensprache. Der Überlieferung zufolge zogen Frauen zur Zeit der Bacchanalien, die dem Dionysos zu Ehren jedes Frühjahr gefeiert wurden, in die Wälder oder Berge. Sie ehrten dort den Gott, der sie beseelte, in ekstatischen Tänzen, einer Art naturreligiöser Hingabe. Auf antiken Vasenbildern sind ihre Requisiten der mit Efeu umkränzte Thyrsosstab und das Raubtierfell [der Leopard ist das Symboltier des Dionysos], 157 wilde Tiere begleiten sie, Schlangen umkränzen ihr Haupt. Häufig — wie z.B. in den Bakchen des Euripides — sind ihre ausschweifenden Kulte mit einer blutrünstigen Komponente versehen worden: In diesem Drama zerstückelt, mit übermenschlichen Kräften ausgestattet, die Königsmutter Agaue mit bloßen Händen und Zähnen den Sohn Pentheus, den sie — von Dionysos in einen unmenschlichen Wahn entrückt — mit einem wilden Tier verwechselt. Zur Hochzeit ihrer Erforschung durch das ausgehende 19. Jahrhundert interessiert man sich für die Mänade vor allem hinsichtlich des ihr unterstellten Erregungszustandes, der sich in einer ekstatisch-expressiven Form der Körperbewegung Bahn bricht. Sie wird zur Symbolfigur für den Bildersturm gegen das klassizistische Griechenland-Ideal. Die um diese Zeit wiederentdeckten Darstellungen der Mänaden wurden gleich einer Trophäe gegen die Mäßigung des gestischen Vokabulars, das frühere Denker als höchstes Gut der Alten hervorgehoben hatten, ausgespielt. Allgemein gewahrt man in den nun geschätz156 vgl. Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1995. 157
Zu diesen Abbildungen und ihrer Rezeption vgl. Brandstetter (Anm. 156), Körperbildcr I: Das Modell der Antike. Der Tanz der Mänade, S. 182-206. 63
ten archaischen Elementen der antiken Kunst »das Bestreben, Leidenschaft und Gefühl zum unmittelbaren Ausdruck zu bringen«. 158 Erwin Rohde schildert mit besonderer Hingabe die leidenschaftliche Erregung, die die tanzenden Bacchantinnen an die Grenzen des Rationalen führt: dies war nicht der gemessen bewegte Tanzschritt, in dem etwa I lomers Griechen im Paean sich vorwärts schwingen. Sondern im wüthenden, wirbelnden, stürzenden Rundtanz eilt die Schar der Begeisterten über die Berghalden dahin. Meist waren es Weiber, die bis zur Erschöpfung in diesen Wirbcltänzen sich umschwangen; seltsam verkleidet: sie trugen >Bassarenheiligen Wahnsinn* stürzen sie sich auf die zum Opfer erkorenen Tiere, packen und zerreissen die eingeholte Beute, und reissen mit den Zähnen das blutige Fleisch ab, das sie roh verschlingen. 159 D e n >heiligen Wahnsinn* der Mänade, den Rhode hier nahezu lüstern ausmalt, hat die Psychopathologie seiner Zeit vermehrt mit der traditionellerweise ebenfalls sexualisierten Hysterie gleichgestellt. Die Forscher ließen sich in Metaphorik und Bildsprache ihrer Krankheitsbeobachtungen v o n den schrecklich faszinierenden Dionysosdienerinnen inspirieren, ja angesichts ihrer enormen Faszination für entsprechende Figuren der Antike und der großen Suggestibilität ihrer Patientinnen ist ebenso vorstellbar, daß sie entsprechende Bewegungsmuster geradezu >inszeniertengroßcn Anfalls* nach Charcots wurde in der Nachfolgczeit zum Erkennungszeichen des I lysterischen. Noch in der zeitgenössischen Kunst kann es in diesem Sinne signalförmig eingesetzt werden, z.B. im Werk der feministischen Bildhauerin Louise Bourgoise, deren Bronzeplastik einen männlichen Torso in der beschriebenen Beugung zeigt und damit eine Position, die vornehmlich der Stigmatisierung weiblicher Sexualität diente, dem männlichen Körper zuordnet. Vgl. hier/u sowie allgemein zur Ikonographie des I lysterischen in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts: Silvia Fiblmayr, Dirk Snauwaert, Ulrich Wilmes und Matthias Winzen (Hrsg.): Die verletzte Diva. Hysterie, Körper, 'Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 4. März bis 7. Mai 2000 im Kunstbau München u.a.). Köln 2000. Auf S. 170ff. findet sich eine Beschreibung sowie Abbildung der bewußten Bourgeois-Plastik. 1 6 1 Vgl. Maurice Emmanuel, der eine Fxtremform dieser Haltung ausdrücklich dem Bewegungsmuster der Hysterikerin zuordnet: »Ici la Cambrure s'accompagne du renversement de la Tete: c'est la crise bachique Si cette danseuse n'est qu'une hysterique, il est certain qu'elle peut conserver indefinement sa posture genante.« 158
64
Die bereits erwähnte Schrift über Die Besessenen in der Kunst diagnostiziert anhand der bacchantischen Erregungszustände der Mänaden eine historische Spielform der Hysterie. Mit dem Hinweis, daß die Körperzeichen der Hysterie historisch und kulturell universal vertreten seien, hatte Charcot seine These gestützt, die expressive Gestik des klassischen hysterischen Anfalls entspräche einem bestimmten, durch eine >Entartung des Nervensystems< verursachten, krankhaften Muster und sei damit frei von individueller Bedeutung. Dabei sei »nichts der Willkür des Zufalls überlassen; im Gegenteil, alles geht nach Regeln vor sich, die immer die nämlichen sind, für die Spital- sowie für die Privatpraxis, für alle Länder, für alle Zeiten, für alle Racen, die also wirklich universelle Gültigkeit besitzen«162, meint Charcot und will von dieser Gewißheit ausgehend eine morphologische Formel kreieren, die es trotz aller »Mannigfaltigkeit [...] [ermöglicht], alle Bilder [des individuellen Anfalls] auf den Grundtypus zurückzuführen«.163 Einen Beitrag zu dieser klassifikatorischen Universalkunde der Hysterie sollte zweifelsohne auch der Band über Die Besessenen in der Kunst liefern. Wie Manfred Schneider im Nachwort der 1988 besorgten Neuauflage des Buchs urteilt, stellt dieses ebenso wie das klinische und fotografische Archiv der Iconographie photographique de la Salpetriere den Versuch dar, das Gesetz psychisch verursachter körperlicher Dysfunktionen, die unter dem Namen Hysterie, Besessenheit, Neurose durch die Kultur- und Medizingeschichte geistern, mit den Kräften des Auges und der optischen Apparaturen zu erkennen.16"*
Die ungeheure Faszination, die die Charcotsche Schule für die äußere Erscheiung der Hysterie aufbringt, geht einher mit einem totalen Desinteresse an psychologischen Zusammenhängen. Der experimentalmedizinische »Blick, der sich als ein visuelles Abtasten von Oberflächen und Bewegungen definiert, entwickelt [...] eine Theorie der Krankheiten als reine Oberflächenerscheinungen«.165 Der wissenschaftliche Eifer, von dem Charcot wie seine Nachfolger besessen waren, gipfelte häufig in einer bemerkenswerten Gleichgültigkeit gegenüber dem Empfinden der Kranken.166
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Maurice Emmanuel: La Danse Grccque antique d'apres les monuments figures (1895), zitiert nach Brandstetter (Anm. 156), S. 188. Allgemein zu Parallelen zwischen dem Körperbild der Mänade und der Hysterikerin: Brandstetter (Anm. 156), S. 188ff. Charcot (Anm. 23), S. 12. Charcot (Anm. 23), S. 13. Schneider: Nachwort, in: Charcot/Richer (Anm. 54), S. 140. Charcot/Richer (Anm. 54), S. 145f. Vgl. z.B. die Haltung des Arztes Bourneville im Vorwort zur Iconographie photographique de la Salpetriere, I (1876/1877): »Mehrere Male im Verlauf unserer Forschungen haben wir es bedauert, nicht die Mittel zu haben für eine Zeichnung, um die Erinnerung an die Fälle zu bewahren, die in verschiedener Hinsicht interessant waren, und die zu beobachten wir Gelegenheit hatten. Dieses Bedauern wurde umso lebhafter, als wir am Beispiel Charcots sahen, wie beträchtlich der Verdienst solcher Darstellungen ist. Später, während unserer Mitarbeit an der Revue photographique, hatten wir die Idee, die kranken Epileptiker und Hysteriker photographieren zu lassen, deren häufiger Besuch der Spezialdienste uns erlaubte, sie
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In diesem Rahmen sind die antiken Zeugnisse v o n ekstatischem Körperausdruck lediglich ein weiteres Beweisstück für die Existenz der >hysterischen Formek Sie erlaubt den Forschern die alle Unterschiede nivellierende und damit distanzierende Feststellung: Die hysterische Ekstase an sich unterscheidet sich kaum etwa durch besondere Merkmale von anderen Spielarten der Ekstase. 167 Die Form absorbiert den Blick des Mediziners Charcot total. Dies wird auch da deutlich, w o er — immer in Bindung an seine Grundthese v o n der klassischen Regelmäßigkeit des Anfalls — die exaltierten Bewegungen seiner Anfallspatientinnen mit Metaphern aus dem Bereich des künstlerischen Tanzes belegt. 168 Die Beschreibung der Körperdynamik erfolgt hier losgelöst v o n jeglichem Deutungsversuch. V o n seinen Schülern ist dementsprechend zuallererst der ästhetisierende Ballettbegriff der >Attitüde< ins Deutsche übernommen worden. 1 6 9 Erst Breuer und Freud erkennen hinter der Pose des hysterischen Exzesses die symbolische Botschaft. Ausgehend v o n den Charcotschen attitudes passionelles, jenen expressiven Körpergesten, in denen »das wesentliche Stück des hysterischen Anfalles [...] enthalten ist«, 170 formulieren sie erstmals eine rein psychologische Auffassung in der thesenhaften Theorie des hysterischen Anfalls (1892). Hier heißt es kategorisch:
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häufig während einer Attacke zu sehen. [...] Was wir benötigten, um das Ziel, das wir verfolgten, zu erreichen, war, in der Salpetriere selbst einen Mann bei der Hand zu haben, der sich in der Photographie auskannte und der gewillt war, auf unsere Aufforderung hin immer dann zur Stelle zu sein, wenn die Umstände es verlangten.« Zitiert nach: Anhang 5. In: Didi-Huberman (Anm. 21), S. 315—316. Charcot/Richer (Anm. 54), S. 131, zitiert nach Brandstetter: Tanzlektürcn (Anm. 156), S. 190. »Bei der rhythmischen Chorea also [Choree rhythmee] halten (die Bewegungen] einen bestimmten Rhythmus ein, sie sind taetmässig. |...J Man kann diese Bewegungen auch systematische heißen, weil sie nach einem bestimmten Plan geordnet zu sein scheinen. Sie ahmen z.B.: 1. gewisse Ausdrucksbewegungen nach, wie die des Tanzes, besonders Charaktertänze [Chorea saltatoria], oder 2. gewisse professionelle Verrichtungen, wie die Bewegungen beim Rudern oder Schmieden |Chorea malleatoria|. Mit einem Wort, es handelt sich immer um eine mehr oder minder getreue Nachbildung logischer, gewollter, beabsichtigter I tandlungen. Die in Rede stehende Krankheit scheint zumeist an Hysterie geknüpft oder hysterischen Ursprungs zu sein, obwohl sie in manchen Fällen selbstständig und unabhängig von allen gewöhnlich für Hysterie charakteristischen Symptomen vorkommt.« Charcot (Anm. 23), S. 176. Vgl.: »Die Kranken nehmen durch Verdrehung der Glieder und Verkrümmung des Rumpfes die sonderbarsten Attitüden an und bekunden in ihren Bewegungen eine Kraft und Gelenkigkeit, die man ihnen oft nicht zutrauen würde. Von den in Frage kommenden Attitüden ist der Kreisbogen [arc de cercle| die bekannteste und häufigste.« Loewenfeld (Anm. 151), S. 481. An die Phase der großen Bewegungen anschließend beschreibt Löwenfeld die »Periode der leidenschaftlichen Attitüden« Ebd., S. 483. Josef Breuer und Sigmund Freud: Zur Theorie des hysterischen Anfalls. In: GW 17, S. 9-13, hier S. 10.
Die motorischen Erscheinungen des Anfalles sind nie ausser Zusammenhang mit dem psychischen Inhalt desselben; sie stellen entweder den allgemeinen Ausdruck der begleitenden Gemütsbewegung dar oder entsprechen genau jenen Aktionen, welche der halluzinatorische Erinnerungsvorgang mit sich bringt. 171
Das hysterische Körperzeichen repräsentiert in dieser Perspektive einen ganz spezifischen Inhalt von individualgeschichtlicher Bedeutung, dessen affektive Besetzung in der >kathartischen Kur< zur Entladung kommen soll. Die Methode Breuers hatte bekanntlich darin bestanden, »die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken [und] damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen«.172 Die Symptomatik verschwand, sobald »der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekte Worte gab«.173 Dem emotionalen Ausdruck wird im Sinne des psychischen Gleichgewichts eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Dabei sind die Grenzen zwischen Wort- und Körpersprache fließend. Was Breuers Kur auf der verbalen Ebene löst, hatte sich zuvor in der Hysterie körperlich manifestiert. Der Affekt, dem das unmittelbare Abreagieren verwehrt war, hatte sich zunächst seinen Weg ins Somatische gebahnt. Die Ausbildung einer hysterischen Symptomatik ist Folge dieser »Konversion«,174 häufig zeigt sich diese - wie im Falle von Freuds Patientin Emmy ν. Ν. - in Form von exzentrischen Bewegungsmustern. Frau v. N. war, »wenn nicht im hysterischen Zustande, gemessen, fast steif in ihren Ausdrucksbewegungen«.175 Während ihrer Anfalle dagegen zeigte sie auffällige Bewegungserscheinungen, [...] [die] einfach Ausdruck von Gemütsbewegung und leicht in dieser Bedeutung zu erkennen [waren], so das Vorstrecken der Hände mit gespreizten und gekrümmten Fingern als Ausdruck des Grausens, das Mienenspiel u. dgl. 1 7 6
Das Körperbild, dem die Autoren der Studien über Hysterie in ihren Beschreibungen der hysterischen Exaltationen folgen, hat sich äußerlich gegenüber dem der Vorgänger nicht gewandelt: Bemerkenswerte Parallelen zur dionysischen Ekstase finden sich auch innerhalb der Krankengeschichten Breuers und Freuds. Da sind etwa die Schlangenvisionen der Anna O. — »ängstliche Halluzinationen von schwarzen Schlangen, als welche ihre Haare erscheinen« - 1 7 7 die Tierhalluzinationen sowie die beschriebenen exzentrischen Bewegungsmuster der Emmy ν. Ν., die Vergleiche mit wild-blutdürstigen Frauengestalten wie z.B. der Lady Macbeth.178
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Breuer/Freud (Anm. 3), S. 10. Ebd., S. 30. Ebd. Zu diesem Begriff vgl. u.a. Freuds Ausführungen zur Psychotherapie der Hysterie. In: Breuer/Freud (Anm. 3), S. 2 7 1 - 3 2 2 . Breuer/Freud (Anm. 3), S. 110. Ebd. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 45, vgl. dazu das schlangenumkränzte Haupt der Mänade. »Einige Beobachtungen lassen uns glauben, daß die Berührungs- eigentlich Beschmutzungsfurcht, welche die Frauen zwingt, sich alle Augenblicke die Hände zu 67
Neu jedoch ist gegenüber der älteren Forschung — und dies entspricht der wissenschaftshistorischen Sonderstellung der Psychoanalyse als geisteswissenschaftlicher Erneuerung der Neurosenlehre — der hermeneutische Deutungsversuch, dem vor allem Freud die Beobachtungen unterzieht, die er während seiner Konsultationen anstellt. Zwar hatte schon vor ihm eine ganze Reihe von Wissenschaftlern, wie der von Breuer in den Studien zitierte Oppenheim, in der Hysterie einen »anomalen Ausdruck der Gemütsbewegung«179 gesehen, diese jedoch — Wilhelm Wundts Grundidee des psychophysischen Parallelismus folgend - als pathologischen Störfall innerhalb eines neurologischen Reflexmodells verstanden, das nach Reiz-Wirkungs-Schema die angemessene Quantität einer körperlichen Reaktion in ihrem Verhältnis zur Affektgröße bestimmte.180 Die Studien über Hysterie räumen den Ausdrucksgesten der Patientinnen eine demgegenüber deutlich herausgehobene Position ein, weil sie den Schlüssel zum Verständnis und der erfolgreichen Behandlung der Hysterien bereithalten. So beginnen im Verlauf der Behandlung der Elisabeth v. R. »die schmerzhaften Beine [...], bei [...] Analysen >mitzusprechenAlleinstehen< sei, welches Elisabeth v. R. so schmerzhaft empfinde. Der Arzt kommt so zu der Vermutung, »daß sie direkt einen symbolischen Ausdruck für ihre schmerzlich betonten Gedanken gesucht und ihn in der Verstärkung ihres Leidens gefunden habe«.183 Der körperliche Schmerz wird hier zum Medium der unbewußten psychischen Befindlichkeit. In einer weiteren Krankengeschichte wird in Folge ähnlicher Beobachtungen »die hysterische Symptomatologie mit einer Bildersprache verglichen, die wir nach Entdeckung einiger bilinguer Fälle zu verstehen verstünden«.184 Dem
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waschen, sehr häufig [...] demselben Ursprung [entspringt] wie bei I.ady Macbeth.« Breuer/Freud (Anm. 3), S. 264, Anmerkung 2. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 221. Z.B. Gustav Aschaffenburg definiert diese Störung im Zuge seines Überblicks über »Die neueren Theorien der 1 lysterie« - der u.a. eine totale Absage gegen Breuer und Freud formuliert, deren kathartische Methode ihm »für die meisten Fälle unrichtig, für viele bedenklich und für alle entbehrlich« erscheint - als »Mißverhältnis zwischen Reiz und Reaktion« Gustav Aschaffenburg: Die neueren Theorien der Hysterie (Nach einem auf einem internationalen Kongreß für Psychiatrie und Psychologie in Amsterdam am 4. September 1904 erstatteten Referat). In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 332, Nummer 44, S. 1 8 0 9 - 1 8 1 3 , hier S. 1812. Breuer/Freud (Anm. 3),S. 167. Hbd. F;bd.,S. 171. Rbd.,S. 147.
Hobbyarchäologen Freud, dessen Jahrhundert auf die Entschlüsselung von Funden prähistorischer Bilderschrift viel Zeit und Mühe verwandte, ist die Assoziation, die von der hysterischen >Bildersprache< zu archaischen Ausdrucksformen fuhrt, anzumerken. 185 Es ist bezeichnenderweise das Bergbauernmädchen Katharina, die ihn in der Analyse durch die unverstellte Direktheit ihrer Mitteilungen beeindruckt und ihn den oben angeführten Gedanken fassen läßt. 186 Die darin sich andeutende Verbindung zwischen archaischer Lebensform und Körpersprache wird dort explizit, wo Freud die somatische Symbolisierung zum primären Ausdruck erklärt, von dem der wörtliche Terminus erst im Laufe der Entstehungsgeschichte abgeleitet wurde. Eine alte Periode der Menschheitsgeschichte legt er der Semantik des hysterischen Körpers zugrunde, wenn er über jene Elisabeth v. R. schreibt: Indem sie den sprachlichen Ausdruck wörtlich nimmt, den >Stich ins I Ierz< oder den >Schlag ins Gesicht< bei einer verletzenden Anrede wie eine reale Begebenheit empfindet, übt sie keinen witzigen Mißbrauch, sondern belebt nur die Empfindungen von neuem, denen der sprachliche Ausdruck seine Berechtigung verdankt. all diese Sensationen und Innervationen gehören dem »Ausdruck der Gemütsbewegungen an, der, wie uns Darwin gelehrt hat, aus ursprünglich sinnvollen und zweckmäßigen Leistungen besteht; sie mögen gegenwärtig so weit abgeschwächt sein, daß ihr sprachlicher Ausdruck uns als bildliche Übertragung erscheint, allein, sehr wahrscheinlich war das alles einmal wörtlich gemeint, und die Hysterie tut recht daran, wenn sie für ihre stärkeren Innervationen den ursprünglichen Wortsinn wiederherstellt. Ja, vielleicht ist es unrecht zu sagen, sie schaffe sich solche Sensationen durch Symbolisierung; sie hat vielleicht den Sprachgebrauch gar nicht zum Vorbilde genommen, sondern schöpft mit ihm aus gemeinsamer Quelle.187
Vgl. auch die inhaltlichen wörtlichen Entsprechungen zu der Archäologenmetapher, mit der Freud in einem späteren Vortrag die Suche des Psychoanalytikers nach der Entstehungsgeschichte der Hysterie beschreibt: »Nehmen Sie an, ein reisender Forscher käme in eine wenig bekannte Gegend, in welcher ein Trümmerfeld mit Mauerresten, Bruchstücken von Säulen, von Tafeln mit verwischten und uniesbaren SchrifReichen sein Interesse erweckte. Er kann sich damit begnügen zu beschauen, was frei zutage liegt, dann die in der Nähe hausenden, etwa halbbarbarischen Einwohner ausfragen, was ihnen die Tradition über die Geschichte und Bedeutung jener monumentalen Reste kundgegeben hat, ihre Auskünfte aufzeichnen und — Weiterreisen. Er kann aber auch anders vorgehen; er kann Hacken, Schaufel und Spaten mitgebracht haben, die Anwohner für die Arbeit mit diesen Werkzeugen bestimmen, mit ihnen das Trümmerfeld in Angriff nehmen, den Schutt wegschaffen und von den sichtbaren Resten aus das Vergrabene aufdecken. Lohnt der Erfolg seine Arbeit, so erläutern die Funde sich selbst; die Mauerreste gehören zur Umwallung eines Palastes oder Schatzhauses, aus den Säulentrümmer ergänzt sich ein Tempel, die zahlreich gefundenen, im günstigsten Falle bilinguen Inschriften enthüllen ein Alphabeth und eine Sprache, und deren Entzifferung und Übersetzung ergib! ungeahnte Aufschlüsse über die Ereignisse der Vorzeit, zu deren Gedächtnis jene Monumente erbaut worden sind.« Sigmund Freud: Zur Ätiologie der Hysterie, in GW 1, S. 425^159, hier S. 426f. [Ilerv. B. C). 186 »Ich bin ihr [...] Dank dafür schuldig, daß sie soviel leichter mit sich reden läßt als die prüden Damen in meiner Stadtpraxis, für die alle naturalia turpia sind.« Breuer/Freud (Anm. 3), S. 150. 187 Breuer/Freud (Anm. 3), S. 202. 185
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Die sprachphilosophischen Erwägungen Freuds haben sich von der Psychophysik des Ausdrucks, welche seine Vorgänger betrieben hatten, sehr weit entfernt. Das naturwissenschaftliche Paradigma wird offenbar durch ein geistesgeschichtliches ersetzt, drängt sich doch angesichts der hier zitierten Passage über neurotische Symptomatik der Eindruck auf, »als fungiere die Symbolisierung als eine pantomimisch-kreative Ausdrucksleistung«.188 Die archaische Expressivität der hysterischen Gestik und Mimik, bislang als Störfall vernachlässigt oder als klassischer Archetyp desemantisiert, tritt in den Focus interpretatorischer Aufmerksamkeit. Die scheinbar exaltierte Geste ist letztlich der adäquate Ausdruck einer unbewußten Befindlichkeit. Diese Erkenntnis wird 1896 Sigmund Freud, der sich inzwischen von seinem noch stärker in physiologischen Denkweisen verhafteten Kollegen Breuer zu distanzieren beginnt, explizit formulieren: Die Reaktion der I Iysterischen ist eine nur scheinbar übertriebene; sie muß uns so erscheinen, weil wir nur einen kleinen Teil der Motive kennen, aus denen sie erfolgt. In Wirklichkeit ist diese Reaktion proportional dem erregenden Reiz, also normal und psychologisch verständlich. 185
Diese Deutung beinhaltet eine innovative Perspektive auf die hysterischen Exaltationen, die den >Pathosformeln< der Jahrhundertwende folgend als ein Synonym zur dionysischen Ekstase aufgefaßt werden. Sie hat wesentliche Impulse erhalten von Seiten jener antiklassizistischen Strömung der Altertumskunde, die bereits hinsichtlich ihres Katharsisbegriffs in der Breuer/Freudschen Theorie wirksam geworden war. Der Jüngere war in seinem Denken erheblich beeinflußt von den Erkenntnissen der Archäologie, die sich seinerzeit mit neu erstarkendem Selbstbewußtsein den stummen Zeugnissen der Vorzeit zuwandte. Freud selbst hat bekanntlich seine Methode mit dieser Disziplin verglichen. Die Archäologie ist eines der Fächer, die zur zunehmenden >Entliterarisierung< der antiken Uberlieferung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beitragen.190 Anthropologie und Ethnologie rücken gleichzeitig im Zuge der Wiederentdeckung alter Riten und ihrer performativen Kraft vor allem mimetische Elemente und expressive Gesten in den Mittelpunkt der Forschung.191 Das beschriebene Interesse am Theatergott Dionysos ist in diesen Zusammenhang einzuordnen. 188 189 19(1
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Kaminski-Knorr (Anm. 44), S. 24. Vgl. Sigmund Freud: Zur Ätiologie der IIysterie, in: G W 1, S. 4 2 5 ^ 5 9 , hier S. 454. Vgl. hierzu: »Archäologie, Anthropologie, Knthnologie steuerten, indem sie sich den kultisch-mythischen, vor allem den stummen, materiellen Zeugnissen der Antike zuwandten, andere Kulturbefunde bei, als sie die vertraute Sprache, die liebgewordenen Texte bereitgehalten hatten.« Girshausen (Anm. 131), S. 74. Diesen performativen Aspekt bringt die sogenannte Ritualtheorie, wie sie die Völkerkundler Harrison, Frazer und Smith um 1890 in Cambridge entwickelten, in die Auseinandersetzung ein. Indem die Ritualtheorie den Mythos auf ein zugrunde liegendes Ritual rückbezieht, tritt »dem [narrativen, Anm. B.C.] Zeichensystcm des Mythos ein anderes Kommunikationssystem zugeordnet oder vorgeordnet an die Seite.« Walter Burkert: Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne. In: Lcs etudes classiques aux XIXe et XXe siecles: Leur place dans 1,'histoire des idees (Fod. Hardt. Τ. XXVI). Genf 1980, S. 1 5 9 - 1 9 9 , hier S. 175. In Deutsch-
In der wohl folgenreichsten der damals entstehenden Studien zum Thema, der Tragödienschiift des jungen Friedrich Nietzsche, findet sich eine Schilderung der mänadischen Raserei, die wegen der darin hervorgehobenen Symbolkraft des dionysischen Körperausdrucks an dieser Stelle ausfuhrlich zitiert werden soll. Gefeiert wird hier das irrationale, grausig-wonnevolle Wesen des D i o n y s i s c h e n , das uns am nächsten noch durch die Analogie des R a u s c h e s gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Gerankes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sanct-Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder [...]. Es giebt Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder Stumpfsinn, sich von solchen Erscheinungen wie von >VolkskrankheitenGesundheit< sich ausnimmt, wenn an ihnen das glühende Leben dionysischer Schwärmer vorbeibraust. Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. [...] Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege tanzend in die Lüfte emporzufliegen. 192 Man erkennt in diesen Zeilen deutlich das Körperbild der Mänade wieder: In ekstatischem Gesang und Tanz, in Realitäts- und Sprachverlust und in der affektiven Erregung geben sich dieselben Züge zu erkennen, die sich in der medizinischen Literatur als Merkmale der Hysterie wiederfinden. 1 9 3 Demge-
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land hatte Wilamowitz-Moellendorf [dessen Vorstellungen auf die AntikenInszenierungen Max Reinhardts ausschlaggebenen Einfluß gewinnen sollten] bereits 1889 in seiner Herakles-Schrift ähnliche Gedanken geäußert. Allgemein ist die Aufnahme der These von den rituellen Wurzeln der Kultur innerhalb der Literatur um 1900 gewaltig. Frazers Schriften bildeten z.B. die Grundlage auch für Freuds spätere Auseinandersetzung mit dem Mythos. V.a. wurden Harrison, Frazer und Smith einflußreich für diejenige soziologisch-ethnologische Schule, die sich nach 1900 in Frankreich etablierte und, indem sie die rituelle Handlung als Keimzelle jeglicher Kultur verstand, heute noch einflußreich in den genannten Fächern wirkt. Die aktuelle Theatralitätsdebatte in den genannten Fächern hat in ihnen ihre Gründerväter. Friedrich Nietzsche: Geburt der Tragödie. In: Ders. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Zweite, durchgesehene Auflage. München, Berlin, New York 1988 (im folgenden zitiert als KSA) Bd. 1,S. 11-156, hierS. 28ff. Sogar die Analogie zum mittelalterlichen Veitstanz findet sich hier. So beschreibt z.B. ein deutscher Neurologe die »Chorea major hysterica« oder »grosser Veitstanz« Ix>ewenfeld (Anm. 151), S. 529. Es ist durchaus denkbar, daß in der Geburt der Tragödie direkt auf den im 19. Jahrhundert gängigen psychiatrischen Analogieschluß zwischen Besessenheit und seelischer Erkrankung angespielt wurde, denn wie Ian Hacking nachweist, war Nietzsche am entsprechenden Fachdiskurs durchaus interessiert: Später hat er »mit Sicherheit Ribot gelesen, denn in der 71
genüber sind diese hier ganz eindeutig positiv konnotiert. Im beschriebenen Körperbild offenbart sich eine »neue Welt der Symbole [...] einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde«.194 Es ist aufgrund der breiten Rezeption, die Nietzsches Werk zur Entstehungszeit der frühen Neurosenlehre fand, sehr unwahrscheinlich, daß Breuer und Freud den Inhalt der Tragödienschrift nicht gekannt haben sollten. Anzunehmen ist vielmehr, daß den an antiker Seelenkunde hoch interessierten Medizinern die betreffenden Zeilen sogar im Wortlaut bekannt waren; und die Namensgebung ihrer Methode im Rückgriff auf die griechische Tragödie macht eine geistige Anleihe bei Nietzsches früher Schrift um so wahrscheinlicher. Sie fanden darin ein Verständnis des Dionysischen vor, welches das mänadische Rasen — diese Chiffre der Hysterie — nicht länger als sinnlose Gebärde abtut. Den ekstatischen Körper erklärt Nietzsche — wie nach ihm Freud — zum Medium einer psychischen Bedeutungsebene, die sich hinter dem aufklärerischen, dem apollinischen Bewußtsein verbirgt und diesem unzugänglich bleibt.195 In der großen Innovationsleistung ihrer Hysteriestudien, der Semantisierung der hysterischen Gebärde als Ausdruck des Unbewußten, zeigen sich Breuer und Freud von diesen Vorstellungen Nietzsches beeinflußt. Dieser Befund liefert zugleich die Erklärung für die erwähnten Übereinstimmungen zwischen Freudscher Theorie und gewissen theaterästhetischen Entwicklungen. Die Schlüsselstellung, die Nietzsches Tragödienschrift einnimmt, kann z.B. gewisse Assoziationen klären, die Freuds Semiotisierung des Körpers mit der Tanzreform der Jahrhundertwende verbindet, denn diese beruft sich in ihren ästhetischen Forderungen ausdrücklich auf »Nietzsches Philosophie am
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»Genealogie der Moral< paraphrasierte er beinahe Wort für Wort Stücke aus Ribots >Ix'S maladies de la memoireLeitfaden des Leibes< [und] seine zarathustrische Beschwörung des Tanzes wider den >Geist der Schwere««.196 2.3.2. Antikenreminiszenzen und >hysterische< Körperbilder in der Tanzreform um 1900 Kurz nach dem Erscheinen der entscheidenden Hysterie-Schriften Breuers und Freuds entwickelt sich auf den deutschen Bühnen eine Tanzästhetik, die wie diese das semiotische Potential der menschlichen Körperbewegungen ins Bewußtsein rückt.197 Der sogenannte Ausdruckstanz [auch German Dance oder Freier Tan%\ entsteht als entschiedene ästhetische Abwendung von formalen und inhaltlichen Gestaltungsmitteln des klassischen Balletts. Sein Bewegungsvokabular befreit sich aus dessen fixierten, festgelegten Abläufen und Figuren und erhebt die natürliche Bewegung zum neuen Formideal. Gleichzeitig ersetzt er die klischeehaften Handlungsinhalte des Balletts durch individuell bedeutsame Themen und kreiert in der Folge ein neues subjektivistisch-psychologisch aufgefaßtes Tanzideal.198 Die »Sprache des Tanzes« 199 soll kommunizierbar machen, was die Wortsprache scheinbar nicht auszudrücken vermag: die irrationalen Empfindungen und triebhaften Inhalte der Seele, die nun als Gegengewicht zum Zivilisationsgeschädigten rationalistischen Geist verstanden werden. Dies ermöglicht — so die These — insbesondere der ekstatische und tranceartige Tanz. In ihm erschließen sich für Künsderin und Publikum unbewußte Quellen, die im Prozeß der Zivilisation verschüttet worden waren.200 Die archaisierende Semiotisierung des (meist weiblichen) Körpers zeigt auffällige strukturelle Ähnlichkeit zum Freudschen Symptomverständnis. Auch in der Hysterie artikuliert der
Gabriele Brandstetter: Tanz und Literatur I. Körperbilder der Jahrhundertwende. In: Ballett-Journal. Das Tanzarchiv 4 0 (4, 1992), S. 1 0 - 1 5 , hier S. 10. 1 9 7 Gesamtkulturell steht diese Bewegung in Deutschland im Kontext zeitgenössischer Reformbestrebungen wie z.B. Freikörperkult, Wandervogel, Rhythmik- und G y m nastikbewegung, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Körper aus dem Korsett erstarrter bürgerlicher Konventionen zu befreien und damit eine verschüttete Dimension menschlichen Erlebens und Zusammenlebens wiederzuerwecken. Zu Begriff und Historie des Ausdruckstanzes vgl. Gabriele Klein: FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes. Berlin 1992, S. 181 ff. 198 Y g ] h j c r z u : Hedwig Müller: V o n der äußeren zur inneren Bewegung. Klassische Ballerina - moderne Tänzerin. In: Renate Möhrmann (Hrsg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Frankfurt a. M. 1989, S. 2 8 3 299. 196
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Vgl. Mary Wigman: Die Sprache des Tanzes. München 1986. »Es gilt, das im Prozeß der Zivilisation >Verschüttetezum Ort und zur Praxis der Herstellung des Präkulturellen in der KulturAusdruck< im Titel des neuen Tanzstils signalisiert darüberhinaus dessen Nähe zur expressionistischen Bewegung, die sich in der Bildenden Kunst um die Jahrhunderwende herum durchzusetzen beginnt. Auch auf dem Gebiet der Tanzästhetik halten Reformerinnen und Reformer der fortschreitenden Technisierung der Lebenswelt in der Industriegesellschaft eine autonom gültige Wahrheit des psychisch Subjektiven und Imaginären entgegen. Aufgabe der Kunst sei nicht, dieses Ideal darzustellen, sondern vielmehr es in einem mystisch überhöhten Vorgang >zum Erscheinen zu bringen. Der Tanz konnte mit seinen rituellen Wurzeln, wie sie Anthropologie und Ethnologie der Zeit herausstrichen, das Medium zur Realisierung dieses utopischen Epiphanieideals abgeben. 202 Die Pionierin der Tanzreform, die Amerikanerin Isadora Duncan, deren Auftritte 1902/03 in Berlin eine Welle der aufgeregten Kritik — von euphorisch bis entsetzt — auslöste, beruft sich denn auch ausdrücklich auf kultische Traditionen: Übelwollenden Kritikern, die die provokante Frage — >Can Miss Duncan Dance?< - aufgeworfen hatten, erwidert sie: The danccr to whom I refer is the statue of the dancing Maenad in the Berlin Museum. N o w will you kindly write again to the admirable masters and mistresses of the ballet and ask them, >Can the dancing Maenad dance?< 203
Sie macht nicht nur die entsprechenden Bewegungsmuster zum wiederholt variierten Teil ihrer Choreographien, sondern thematisiert auch in Vorträgen das Dionysische vermehrt und erhebt es in Bezug auf ihr Liebesleben sogar zu einer Lebensmaxime. Sie tanzt im Dionysostempel, gibt ihren Tanzfiguren Titel wie Ekstase, Rage oder Frenesie I-IV und legt bereits einen ihrer ersten
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Vgl. auch die Parallelen in der Diktion: Was der Protagonistin des Ausdruckstanzes die »Sprache des Tanzes« ist [vergleichbare Begriffe finden sich in der Literatur der Bewegung zuhauf], ist dem Krfinder der Psychoanalyse »die Bilderschrift der hysterischen Symptomatologie« Breuer/Freud (Anm. 3), S. 147. Unter dem Aspekt der von der feministischen Literaturwissenschaft behaupteten patriarchalen Gleichsetzung von Schrift und weiblichem Körper (vgl. u.a. Claudia Ohlschläger [Hrsg.]: Körper, Gedächtnis, Schrift. Der Körper im Medium kultureller Lrinncrung. Berlin 1997) ist neben der beobachteten Analogie auch die Differenz zwischen der Bilderschrift des hysterischen Körpers bei Freud und der (K.ötpci)sprache der Tänzerin bei Mary Wigman von Interesse. Gabriele Brandstetter: Der l'raum vom anderen Tanz. I lofmannsthals Ästhetik des Schöpferischen im Dialog >Fürchtunbeschreiblichenunpcrsönlichen mythischen Rituals«Geburt der Tragödie< entwickelten Philosophie des Leibes nennt sie ihren »Tanzlehrer«. 205 Ihre einflußreiche Ästhetik orientiert Duncan also an der Basler Schule und deren antiklassizistischen Haltung. Gabriele Brandstetter hat herausgearbeitet, daß nach Isadora Duncan, die ihre Tanzstudien an Skizzen der Bacchantinnen ausrichtete, die sie zuvor im British Museum angefertigt hatte, 206 sich eine ganze Reihe von Künsderinnen bei den Bewegungselementen und Darstellungscharakteristika der Mänade bedient hat. »Der bewegte, oft weit ausholende Schritt; die tiefe Beugung des Oberkörpers nach rückwärts, manchmal verbunden mit einer Torsion aus der Körpermitte; der weit zurückgebogene, in den Nacken geworfene Kopf mit fliegenden Haaren« 207 findet sich ebenso bei La Belle Otero, Ruth St. Denis, Grete Wiesenthal, Rosalia Chladek und Mary Wigman 2 0 8 Die Selbststilisierung der Tänzerin nach dionysischem Vorbild wurde so bereits für die frühe Theorie des Ausdruckstanzes entscheidend, wenngleich
Vgl. dessen bereits im Zusammenhang mit der hysterischen Ausdrucksgeste erwähnte Charakterisierung in der Geburt der Tragödie: »Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Äußerung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm.« KSA 1, a.a.O., S. 33f. 205 v g i . Brandstetter (Anm. 156), S. 72. Zum weitreichenden Kinfluß, den Nietzsche auf die gesamte Tanzästhetik und -metaphorik der Jahrhundertwende ausübt, vgl. folgende Ausführungen Brandstetters: »Hugo von Hofmannsthal schreibt in seinen >AufzeichnungenDas Analogon zu den kontemporanen Zweifeln an der Sprache, corollar hierzu: die Bemühungen um Ballett und Pantomimen Daß er diese Notiz im Hinblick auf Friedrich Nietzsches >Unzeitgemäße Betrachtungen* formuliert, ist symptomatisch für den Mentalitätswandel finde des 19. Jahrhunderts. Nietzsches Philosophie am >Leitfaden des LeibesGeist der Schwere* hatte ein weites Echo, in der I^ebensphilosophie ebenso wie in der Lebensreformbewegung, im Enthusiasmus des Festes der Schwabinger Boheme wie in der Philosophie eines dionysischen >Tanzes der Zukunft* in den Schriften Isadora Duncans und - später - Rudolf von Labans. >Im Tanze nur weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden.* Nietzsches Tanzmetaphorik setzt sich fort in der zeitgenössischen Gleichsetzung von Leben und Tanz - >Dance of Life* — so der Titel des vielgelesenen Buches von Havelock Ellis. Die vitalistische Auslegung des Tanzes als Bild für den xülan vital* [Henri Bergson], für den ewigen Rhythmus des Lebens und die Sehnsucht nach rauschhafter Entgrenzung wurde schon von Zeitkritikern wie etwa Karl Kraus als >Tanzwut* diagnostiziert.« Brandstetter (Anm. 196), S. 10f. 204
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Vgl. Brandstetter (Anm. 156), S. 72. Vgl. Brandstetter (Anm. 156), S. 188. Vgl. Brandstetter (Anm. 156), S. 192-198. 75
nicht unterschlagen werden darf, daß die Umsetzung der allgemein thematisierten tänzerischen >Raserei< in die Körpersprache der Tänzerinnen sehr unterschiedlich konsequent vollzogen wurde. So hatte etwa der Tanz der Isadora Duncan von den erwähnten Stilmitteln abgesehen eher idealistischklassischen Charakter, Ruth St. Denis spezialisierte sich auf den formstrengen und langsamen indischen Tanzstil, lediglich Mary Wigman ist in den ekstatischexpressiven Bewegungsstudien der späten 1 Oer und der 20er Jahre im eigentlichen Sinne >dionysisch< zu nennen. Nichts desto trotz beginnt die in Wigmans »Hingabe des Individuums an die Bewegung«209 gipfelnde Entwicklung theoretisch bereits mit den Griechenlandstudien der Jahrhundertwende, muß doch bezüglich dieser Epoche besonders für den Tanz betont werden, daß nicht etwa das Klassische |in l'orm eines NeoKlassizismus oder einer Neo-Renaissance) als bevorzugtes ästhetisches Modell herangezogen wird, sondern daß vielmehr der von Nietzschc geprägte Dualismus des Apollinischen und des Dionysischen in formelhafter Weise die Antiken-Rezeption steuert. 210
Für den späteren Ausdruckstanz wird diese Ausrichtung insgesamt programmatisch bleiben, so für Alexander Sacharo ff, der 1910 in München ein Stück mit dem Titel >dionysischer Gottesdienst zelebrierte. In Berufung auf den tragischen Tanz der Griechen strebte er danach, die Trennung zwischen Leib und Seele im bacchantischen Rausch der tänzerischen Bewegung aufzuheben.211 Wie einflußreich das Konzept des dionysischen Bewegungsrausches auch dort war, wo es nicht — wie bei Duncan oder Sacharoff — explizit genannt wurde,212 mag das folgende Zitat aus Hugo von Hofmannsthals Dialog Furcht belegen. Das Gespräch zweier Tänzerinnen, Hymnis und Laidon, hatte der Dichter — inspiriert durch seine Freundschaft mit Ruth St. Denis - 1907 verfaßt. Das Programm der neuen Tanzästhetik vedegt er darin auf den Schauplatz der Antike — und folgt damit ganz den Intentionen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten. Hofmannsthal läßt die Hetäre Laidon ihren >Traum vom anderen TanzTraumtänzerin Madeleine G.AusdruckstanzSeele
Sie oder ichschauspielertSchauspiel des Anfalls< entgegenbringt 235 In beiden Fällen hebt die Metaphorik ganz im Sinne des
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Sigmund Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905). In: G W 5, S. 163-286, hier S. 216. »Da sie, diese Dinge durchlebend, sie teilweise sprechend tragierte, kannte ihre Umgebung meist den Inhalt dieser Halluzinationen.« Breuer/Freud (Anm. 3), S. 48. Breuer/Freud (Anm. 3),S. 166. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 124 (Anmerkung: Zusatz 1924). Breuer/Freud (Anm. 3), S. 296. Daß sich auch Charcot von der Simulationshypothese noch nicht restlos befreit hatte, hat Claudia Öhlschläger betont »Auch wenn Freud in seinen Erinnerungen an Charcot davon spricht, daß die I Iysterikerin rnicht mehr eine Simulantin< sein mußte, da der >Meister< dank seiner vollen Autoriät für die lichtheit und Objektivität der hysterischen Phänomene eintraft, so war sich Charcot, der die Hysterikerin als >la grande simulatrice< bezeichnete, doch >bewußt, daß sich die Hysterie in der spektakulären Dramatik von Imitationen erschöpfte« Claudia Ohlschläger: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg im Breisgau 1996, S. 124. Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 2.1.2. Neben dem bereits wiederholt zitierten Didi-I luberman und der oben genannten einschlägigen Dissertation von Claudia Öhlschläger verweisen auf die >Lust des Schauensgroßen Welttheater< Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit der hysterischen Krankheit hervor. Die darin zum Ausdruck kommende verächtliche Haltung gegenüber der Hysterikerin hängt mit der Fixierung auf Anatomie und Physiologie zusammen, die die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts beherrscht. Die unerklärliche Tatsache, daß sich die hysterischen Symptome auf keine zugrunde liegende somatische Störung zurückführen lassen wollten, bildete seinerzeit den Stachel im Fleisch der Neurologen, deren wieder und wieder frustrierte Erklärungsversuche den französischen Mediziner Pitres 1891 zu dem resignativen Schluß bringen: es ist unmöglich, eine präzise nosologische Definition der I lysterie zu geben, diese Krankheit zeigt weder erkennbare Beschädigungen noch konstante pathognomische Symptome. 2 ·"' Eine Vielzahl v o n Wissenschaftlern hat sich der Kränkung, die das Phänomen >Hysterie< für den positivistischen Forschergeist darstellt, zu wehren gewußt; allerdings auf Kosten der Patientinnen. Löwenfeld berichtet: Bei vielen Ärzten kennzeichnet sich die Hysterie als etwas Unfaßbares, Launisches, ewig Wechselndes und die ideogene Entstehung verschiedener Symptome führt gerne zu der Deutung, dass es sich um lediglich >eingebi]dete< oder durch Einbildung gesteigerte, wenn nicht gar simulierte Leiden handelt.2-17 Allgemein dominiert diese Auffassung den wissenschaftlichen Tenor des 19. Jahrhunderts. Charcot hat zwar die Krankheit als ein ernstzunehmendes neurologisches Leiden definiert, sich letztlich trotzdem nicht vollständig v o m Bild der hysterischen Simulantin verabschiedet: Die Neigung zur Täuschung erhebt er selbst zum Krankheitsmerkmal: Sie wissen, meine Herren, dass der Kliniker jedes Mal, wenn er vor einer I lysterischen steht, sich die Möglichkeit der Simulation vor Augen halten soll, sei es in dem Sinne, dass die Kranken vorhandene krankhafte Erscheinungen übertreiben, oder dass sie aus ihrer eigenen Phantasie eine vorgebliche Symptomatologie erschaffen. Es ist ja allgemein bekannt, daß das Bedürfnis zu belügen und zu täuschen, manchmal ohne bestimmten Zweck in einer Art von uneigennütziger Pflege dieser Kunst, andere Male in der Absicht, Aufsehen zu machen, Mideid zu erregen u.s.w., bei den Hysterischen ein weit verbreitetes ist. 238
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Grund des Vergnügens an neurotischen Gegenständen. In: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1983, S. 197-216 und Schuller (Anm. 51), S. 81-94. Zitiert nach Didi-Huberman (Anm. 21), S. 87. Loewenfeld (Anm. 151), S. 9. Charcot (Anm. 23), S. 89. Vgl. »Ein erster hervorstechender Zug des Charakters der Hysterischen ist die Beweglichkeit, die Veränderlichkeit. Freude und Trauer, Weinen und Lachen wechseln bei ihnen von Stunde zu Stunde, selbst von Minute zu Minute. Man kann von ihnen mit Sydenham sagen, dass bei ihnen nichts beständig ist als ihre Unbeständigkeit. Sie finden ein besonderes Vergnügen darin, ihre Umgebung - Gatten, Kitern, Kinder - nicht minder aber auch die Arzte zu täuschen, und es gibt kein Mittel der Verstellung, auf welches sie nicht verfallen, um sich interessant zu machen«. Loewenfeld (Anm. 151), S. 556.
Der Simulationsverdacht, dem die Hysterikerin unterliegt, schlägt sich in einer Vielzahl von Schauspielmetaphem nieder. Den hysterischen Anfall bezeichnen Charcot und seine Schüler entsprechend häufig als »Schauspiel«, »Vorstellung« oder ähnliches.239 Dabei stets enthalten ist ein Vorwurf, der sich gegen den übertriebenen und unangemessenen Charakter des >Theatralismus< - dies war ein Beiname der Krankheit — wendet; den - wie schon erwähnt - die Erwartungshaltung der Ärzte bei ihren nach Zuwendung und Aufmerksamkeit bedürftigen Patientinnen häufig erst auslöste und verstärkte. So gelangt Jules Falret, zeitweise als Kollege Charcots in der Salpetriere tätig, [...] zu folgendem vernichtenden Urteil: >diese Patientinnen sind wahrhafte Schauspielerinnen, sie kennen kein größeres Vergnügen als den Betrug [...]. In einem Wort, das Leben der Hysterischen ist nichts als eine ununterbrochene Falschheit; sie geben sich den Anschein der Frömmigkeit und lassen sich gar als Heilige betrachten, während sie sich zugleich heimlich den schamlosesten Handlungen widmen; und zuhause, vor Kindern und Ehemann, spielen sie die heftigsten Svenen, wobei sie sich in Flüchen und obszönen Ausdrücken ergehen, und sich in der haltlosesten Weise aufführen. 240
Auch der weitaus einfühlsamere Nervenarzt Janet spricht von einem hysterischen Anfall, in dem die Kranke ihre Halluzinationen stimmlich äußert, als von einem »bewundernswerten dramatischen Schauspiel«.241 Von ihm stammt zugleich die Definition der Hysterie als »maladie par representation«,242 und der berühmte Neurologe Gilles de la Tourette, auch er ein Schüler Charcots, schreibt: »Nichts kann die Hysterie nachahmen, weil Nachahmen das Symptom der Hysterie selbst ist«.243 Dieses und ähnliche Zitate vermitteln den Eindruck, in der Salpetriere werde »die Hysterie als eine >eigene Kunst< betrachtet, [...] eine Kunst, mit deren Großtuerei mitzuhalten keine Theatralität die Kraft hat«.244 Das Bild der Hysterikerin als Schauspielerin, das die Arzte im Rahmen der Simulationshypothese entwerfen, prägt auch die Terminologie in jenen wissenschaftlichen Beschreibungen, die, wie Charcot versichert, »gewissermaßen am Krankenbett der Patienten«245 entstanden sind. Der Mediziner hat den hysterischen Anfall bekanntlich in vier Phasen unterteilt:
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Vgl. Charcots Schilderung eines hysterischen Anfalls, die mit den Worten schließt: »Dann kommt er zu sich, der Anfall ist vorüber, häufig aber nur, um gleich wieder zu beginnen, bis endlich nach drei- oder viermaliger Wiederholung des ganzen Schauspieles der Zustand des Kranken wieder völlig zur Norm zurückkehrt«. Charcot (Anm. 23), S. 212. Vgl. auch S. 216: »Einige epileptoide Zuckungen [...] leiten [...] das Schauspiel ein.« Vgl. auch den zu Charcot sich bekennenden Loewenfeld, der die einleitende Phase des hysterischen Anfalls als »Ouverture zur Vorstellung« bezeichnet. Zur Pathologie und Therapie der Neurasthenie und I Iysterie, vgl. Charcot (Anm. 23), S. 478. Schneider: Nachwort zu Die Besessenen in der Kunst (Anm. 57), S. 151. [Herv. B. C.]. Zitiert nach Ellenberger (Anm. 31), Bd. 1, S. 506. Zitiert nach Bronfen (Anm. 155), S. 147. Zitiert nach Didi-I Iuberman (Anm. 21), S. 186. Ebd. Charcot (Anm. 23), S. 129. 83
1. die epileptische, 2. die großen [widerspruchsvollen, sinnlosen| Bewegungen, 3. die der leidenschaftlichen Stellungen und Geberden, 4. das terminale Delirium 24f> Der zweiten Phase hat er den theatralen Beinamen »Possen-Phase«247 gegeben. Auch in Charcots Beschreibung der nun anschließenden Phase mit ihren leidenschaftlichen Gebärden< oder auch »sprechenden Stellungen«24" häufen sich die Theaterbegriffe: Die Begebenheiten dieser dritten Phase tragen nunmehr überdeutlich halluzinatorische Züge. Der Kranke selbst tritt auf und berichtet höchstpersönlich in seiner ausdrucksstarken, bewegten Mimik und den hervorgestoßenen Satzfetzen von den Stationen des Dramas, in dem er sich eingeschlossen fühlt, beziehungsweise gar die Hauptrolle spielen meint. Bei einer Frau zeigen sich die I Ialluzinationen von zwei sehr verschieden gearteten Gefühlen belebt, denn auf dem Theater dieser Kranken werden ebenso oft Lust- wie Trauerspiele aufgeführt. Die Kulissen der ersteren Gattung geben nicht selten wundersame Gärten I.den ab, wo die Blumen von roter Farbe und die Menschen rot gekleidet sind. Dort erklingt Musik, der die Kranke das Objekt ihrer Träume oder früheren l Leidenschaften wiedertrifft. Liebess^enen folgen auch bisweilen, obwohl diese erotische Seite doch auf dem weitläufigen Plan des großen hysterischen Anfalls recht oft ganz wegfällt, immer jedoch zumindest - wie wir noch sehen werden - eine absolut untergeordnete Rolle spielt. Kulissen und Svenen der angesprochenen Trauerspiele sind dagegen mannigfaltige Brände, Kriege, Revolutionen und so weiter, in denen fast durchweg sehr viel Blut fließt.249 Im Rahmen einer Projektion — denn letztendlich entzieht sich die >innere Bühne» seiner Patientinnen selbstverständlich seiner Einsicht — macht der Mediziner die Kranke zur Protagonistin einer Aufführung, die in ihrem Prunk und Pathos dem zeitgenössischen Unterhaltungstheater um nichts nachsteht. Allgemein läßt sich die Stilisierung der Krankheit zum theatralen Ereignis, die sich innerhalb der Wissenschaftssprache der Salpetriere niederschlägt, als Folge einer groß angelegten Inszenierung werten. Diese vollzieht sich im Zusammenhang mit jener experimentellen Ausrichtung der Hysterieforschung, die Charcot in die Psychiatrie einbrachte. Nicht im pathologischen Befund, sondern in der exakten Beobachtung und Interpretation klinischer Symptome suchte der französische Neurologe die Lösung des Rätsels >Hysterie< und wen-
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Kbd., S. 13. »Ein kurzer Moment der Ruhe nach dem Stertor leitet die zweite Phase der Verrenkungen und großen Bewegungen ein. Diese beiden eigentlich ganz verschiedenartigen Erscheinungen gehorchen doch stillschweigend einem einzigen, in dieser Phase nun vorherrschenden Prinzip: dem der möglichst vollständigen Verausgabung der Muskelkraft. In dieser Periode des Anfalls, die wir wohl nicht zu Unrecht die Possen-Phase genannt haben, legen sich die Kranken unglaubliche Muskelanstrengungen auf. 1 läufig läßt sich folgendes Schauspielbcohachtcn·. Der Kranke erhebt sich vom Bett bis in eine sitzende Stellung und neigt den Kopf zu den Knien, um dann plötzlich wieder nach hinten auf sein Lager zurückzuschnellen. Diese Gestik wiederholt sich daraufhin noch mehrere Male wie in einer Art übertrieben ausgeführter Grußbewegung. Es sind dies oft - in dem Pur^elbaumschlagen und emporschnellen - gan£ akrobatische Bewegungen, die da aufgeführt werden.« Charcot/Richer (Anm. 54), S. 121 [Ilerv. B.C.|. Ebd., S. 126. Charcot/Richer (Anm. 54), S. 125f [I lerv. B.C.|.
det sich damit ab von der bislang populären hirnanatomischen Spekulation über die Krankheitsursache.250 In der Folge verläßt seine Forschung den Seziersaal und wendet sich der experimentellen Versuchsanordnung zu. In den Mittelpunkt des Interesses rückt die Systematik und Dynamik des hysterischen Anfalls, wie er sich vor den Augen des Mediziners vollzog und ordnete. 251 Daß die Vorführungen dieses Vorgangs — mit denen der >visuelle< Charcot, seinerzeit zu erheblicher Prominenz gelangt war - den »Vorwurf des Theatralischen«252 nicht zu unrecht auf sich zogen, erwähnt schon Sigmund Freud im Nachruf. In Charcots >Amphitheater< — so nannte sich bezeichnenderweise der große Hörsaal in der Salpetriere - wurde der Arzt gleichsam zum Theatermacher. Ein gebanntes Publikum edebte, wie der Mediziner in der Rolle des Conferenciers seine Kranken auf die >Bühne< rief,253 wie er bestimmte Symptome mit Hilfe von Suggestion >inszeniertees müsse etwas dran seine 2 5 7
Als direkte Nachfolger der Bühnenhypnotiseure inszenierten Charcot und seine Schüler das >Theater der Hysterien Charcot selbst jedoch war überzeugt, das große Pathos, das ihm in den Krankensälen begegnete, sei ein originär neurologisches Phänomen, ein körperlicher Effekt, der den trügerischen Eindruck einer psychischen Affektion erwecke. Die Hysterikerin sei — so meinte der Nervenarzt — bloße Nachahmerin des Affekts: Emotional unbeteiligt, erwecke sie den Eindruck der großen Gefühle allein durch ihr >künstliches Spiek Sie entspricht so einem gängigen Ideal rein >äußerlicher< Schauspielkunst, das der Philosoph Denis Diderot 1778 in seinem Paradox über den Schauspieler festgelegt hat, und das besonders in Frankreich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein maßgeblich war.
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leichten Traumas suggerieren kann, und es steht ganz in der Macht des Beobachters, diesen suggerierten Schmerz in irgendeinen Theil eines Gliedes zu verlegen.« Charcot (Anm. 23), S. 326. Z.B.: »Hypnose und Hypnose-Szenen waren damals [um die Jahrhundertwende, Anm. B. C.| in allen Bereichen von Schauspiel und Schaustellerei en vogue, in der Pantomime der Jahrhundertwende, etwa bei Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler, ebenso wie im frühen expressionistischen Film, z.B. in Robert Wienes Dr. Caligari; natürlich auch in Music Halls und Revuen, wo populäre, zumeist satirisch gefärbte I lypnose-Szenen zum Programm gehörten, beispielsweise der Auftritt einer Künstlerin namens Agnes Charcot [sic!|, die im Januar 1892 im >Worths Museum< in New York als >hypnotist< angekündigt war.« Brandstetter/Ochaim (Anm. 115), S. 98. Vgl. Max Dessoir: Das Doppel-Ich. 1 -cipzig 1896, S. 1: »Wenn man vor vierzig Jahren auf den Jahrmarkt ging, konnte man die Massen mit Vorliebe in zwei Buden strömen sehen. Die eine trug stolz den Namen >Museum wilder VölkerMagnetisches Kabinette Trat man ein, so fand man in jener eine mehr oder weniger gut geordnete Sammlung von allerhand Kuriositäten, in dieser eine scheinbar schlafende Frauensperson, welche Diagnosen stellte und die Zukunft voraussagte. Sicherlich achtete keiner der Besucher, hier die Anfänge zweier Wissenschaftsbezirke, der Ethnologie und eines Zweiges der Psychologie vor sich zu sehen; und doch haben sich beide aus diesen bescheidenen Anfängen heraus entwickelt.« Ellenberger (Anm. 31), Bd. 2, S. 998f.
Charcot tritt den Beweis für seine These, welche das Leiden der Kranken zum bloßen Gaukelspiel herabwürdigt, paradoxerweise wieder im Rahmen einer Inszenierung an. Er führte hierzu zahlreiche Experimente mit Hysterikerinnen durch, deren Mimik im hypnotisierten Zustand eine Manipulierbarkeit zeigte, die man als >Epiphänomenismus< oder cerebralen Automatismus< bezeichnet hat: Eine dem hypnotisierten Subjekt eingeprägte [d.h. durch Zurechtbiegen der Glieder hergestellte] Geste löst spontan einen konkommitierenden Gesichtsausdruck aus 258 und dient damit den Ärzten zur Bekräftigung ihrer Behauptung, daß gewisse Posen des hysterischen Anfalls, den sie in Analogie zur Hypnose setzten,259 entsprechend dieser mechanisch induzierten Mimik von jeglichem seelischen Inhalt losgelöst zu betrachten seien 2 6 0 Derselben Argumentationslinie folgten jene Versuche, mit denen die hysterischen Stigmata experimentell ausgelöst wurden — sei es mittels elektrischer Ströme oder Hypnose —, um damit zu beweisen, daß diese auch dort, wo sie spontan auftraten, auf eine Störung innerhalb des neurophysiologischen Systems zurückzuführen seien.261
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Didi-Huberman (Anm. 21), S. 224. Die Experimente der Salpetriere fußen auf der Annahme, daß die »Hypnose ein pathologischer Zustand und zwar [...] eine Modifikation der Hysterie« sei und daß »die Hypnotisierbarkeit [sich] auf Hysterische oder zur Hysterie Disponierte beschränkt« I^oewenfeld (Anm. 151), 8. 541. Als Beispiel für derartige Experimente sei hier eine Stelle aus Charcots Neuen Vorlesungen angeführt. Die Hypnose erscheint hier als diejenige Veränderung des neurophysiologischen Gleichgewichts, in dem — wie in der Hysterie — eine außergewöhnliche Durchlässigkeit zwischen psychischem Inhalt und physischem Ausdruck gegeben sei: »Nur durch die Geberde und die Stellung, die wir der Hypnotisierten geben, können wir eine Vorstellung in ihr wachrufen. Schließt man ihr z.B. die Fäuste zur Drohung, so sieht man, wie sie das Haupt nach rückwärts wirft, und wie Stirne, Augenbrauen und Nasenwurzel von Falten, die ihr einen drohenden Ausdruck geben, besetzt werden. Nähert man im Gegentheile ihre ausgestreckten Finger ihrem Munde, so öffnen sich die Lippen, ein Lächeln tritt auf, und das Gesicht nimmt einen freundlichen Ausdruck an, der im entschiedensten Gegensatz zu der eben vorhin getragenen Miene steht.« Charcot (Anm. 23), S. 276. Besonderen Wert legt Charcot auf die Betonung des seelenlosen Charakters dieser mechanistisch hergestellten Posen. Triumph der experimentellen Wissenschaft über den Psychologismus schwingt mit, wenn er sagt: »Worauf ich heute ganz bestimmt Ihre Aufmerksamkeit lenken will, ist der Umstand, dass jeder in solchem Falle vermittels des Muskelsinnes erweckte Hindruck auf sich selbst beschränkt bleibt, ohne in weitere psychische Verknüpfungen einzugehen, sozusagen starr während eines Zeitraums verharrt, der nur durch die Dauer der Muskelaktion bestimmt ist, welche die Extremitäten in der künstlich erzeugten ausdrucksvollen Stellung erhält.« Ebd., S. 276f. Als mechanistische Schreckreaktion auf ein traumatisches iirlebnis versteht Charcot die hysterischen Körperbilder, die er in Analogie zu den suggerierten setzt: »Wir haben also bei unserer Hypnotisierten mit Hilfe der Suggestion künstlich eine täuschend ähnliche Nachahmung der Monoplegie erzeugen können, welche bei unseren beiden Männern durch einen anscheinend ganz verschiedenen Mechanismus, durch eine traumatische I Einwirkung zu Stande gekommen ist.« Hbd., S. 285. 87
Mit den Worten des Historikers der Hysterie, Georges Didi-Huberman, laßt sich die Auffassung der Arzte in der Salpetriere als modernes >Paradox der Schauspielerin< bezeichnen: [...] wir wissen, zu wclch zweifelhafter Schlußfolgerung uns der >erste Sprechen von Diderot bringen wollte: >Zu allem in gleicher Weise befähigt, >allzu beschäftigt mit Schauen, Erkennen und Nachahmern, sind die Körper der Schauspieler die Empfindungsärmsten, die am wenigsten >heftig in ihrem Innern ergriffenen^ sie haben so wenig Seele, daß Nun, in einem gewissen Sinn wollen uns auch die Neurophysiologen der Salpetriere gerne zu dieser Schlußfolgerung führen. Die I Iysterikerin deklamiert [declame| so gut. Vielleicht ist also auch der Schmerz, den sie anderswo laut herausschreit \clame\, nur ein Mime!? [...(Die I lysterikerinnen der Salpetriere >reüssierten< in den Rollen, die man ihnen suggerierte, so erfolgreich, daß sie dabei so etwas wie eine elementare Glaubwürdigkeit des 1-eidens einbüßten. Sie >rcüssierten< als Subjekte der Mimesis so erfolgreich, daß sie in den Augen ihrer Arzte, die zu den Regisseuren ihrer Phantasmen wurden, als Subjekte in höchster Not alles verloren. Da steckt ein anderes, weniger klassisches, ganz einfaches Paradox der Schauspielerin.2''2 Die Ausschließlichkeit, in der sich die tradierte Verwendung von Begriffen des Theaterspiels auf den reinen Augenschein fixiert, bezeichnet — hier ins Bild eines Diderot-Vergleichs gefaßt — die entscheidende Differenz zur psychoanalytischen Metaphorik. Fungierte einst die Theatralität der Krankheit als Argument, ihr jegliche psychische Grundlage abzustreiten, so erkennen Freud und Breuer in hysterischen Szenen den symbolischen Ausdruck für etwas wahrh a f t Empfundenes, der die eigentliche Krankheitsursache verschlüsselt offenbart. Die Simulationshypothese darf damit als endgültig überholt gelten, von >Anna 0.< als ein Selbstvorwurf gegen die eigene Person gerichtet, wird sie von Breuer als >kindische Behauptung< abgetan. 261 Ausschlaggebend wird nun der Bedeutungsgehalt der leidenschaftlichen Gebärden< (franz. attitudespassionelles):
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Didi-Hubermann (Anm. 21), S. 257 |I Iervorhebungen im Original). Der betreffende Abschnitt handelt von der Spaltung der Persönlichkeit der Patientin: »Aber so scharf die beiden Zustände getrennt waren, es ragte nicht bloß der >zweite Zustand< in den ersten herein, sondern es saß, wie die Patientin sich ausdrückte, mindestens häufig auch bei ganz schlimmen Zuständen in irgendeinem Winkel ihres Gehirns ein scharfer und ruhiger Beobachter, der sich das tolle Zeug ansah. Diese Fortexistenz klaren Denkens während der Psychose gewann einen sehr merkwürdigen Ausdruck; als die Patientin nach Abschluß der hysterischen Phänomene in einer vorübergehenden Depression war, brachte sie unter anderen kindischen Befürchtungen und Selbstanklagen auch die vor, sie sei gar nicht krank und alles sei nur simuliert gewesen.« Breuer/Freud (Anm. 3), S. 65. Zum Niedergang der Simulationshypothese vgl. auch Möbius, der 1894 schreibt: »Über die Simulation, die Zuflucht der unwissenden Beobachter, ist schon wiederholt gesprochen worden; je mehr man Einsicht erlangt in das Wesen der hysterischen Störungen, umso seltener findet man Simulation.« Paul J. Möbius: Weitere Erörterungen über den Begriff der Hysterie, wieder in: Ders.: Neurologische Beiträge. U-ipzig 1894, S. 25-31, hier S. 25.
Unser Erklärungsversuch knüpft an die dritte Phase, die der attitudes passionelles an. Wo dieselbe ausgeprägt ist, liegt in ihr die halluzinatorische Reproduktion einer Erinnerung bloß, welche für den Ausbruch der Hysterie bedeutsam war [...]· 204
Die hysterische Gebärdensprache, von Charcot als pathologisches Trugbild beiseite geschoben, gewinnt für das psychologische Verständnis Freuds tragende Funktion. Von deren Theatralik geleitet, faßt er die expressiven Gesten [nicht nur] von Hysterischen später allgemein als die »Rolle in der dramatische[n] Wiedergabe einer Szene aus ihrem Leben [...] [auf], deren Erinnerung während der Attacke unbewußt wirksam war«,265 und setzt sich mit diesem Interesse an der semantischen Logik der Erkrankung von seinen Vorgängern deutlich ab. Weder Charcots schlechtverhohlene Verachtung für >la grande simulatrice< noch seine Schaulust bestimmen die Hysterielehre Freuds. Der Zusammenhang zwischen Schauspielerei und Krankheit, den sein Werk in zahlreichen Metaphern weiterhin konstruiert, ist demgegenüber wesentlich differenzierter gezeichnet. Im Vordergrund des Bildes steht nicht länger die äußerliche Theatralik des Anfalls. Der große Theaterdonner, mit dem sich das Schauspiel der Neurose auf der Bühne, die die Vorlesungen Charcots ihm boten, präsentierte, ist im >Privattheater< der Wiener Behandlungszimmer offenbar verstummt. Dagegen werden nun die psychischen Hintergründe der theatralen Aktionen focussiert. Die Psychoanalyse sieht im hysterischen Rollenspiel vor allem das Ergebnis eines krankheitsbedingten Identifikationsprozesses, der sich in Analogie zur Rollenübernahme im Theater verstehen läßt.266 Die Hysterie, wie andere Neurosen auch, kommt einem Vedust der Ich-Grenzen gleich. Unbewußt agierend versetzt sich die betroffene Person in die Position einer realen oder imaginierten Figur, deren Platz ihr in der Realität — etwa im prominenten Beispiel des
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Breuer/Freud (Anm. 3), S. 37. »Das Seelenleben des hysterischen Patienten ist erfüllt mit wirksamen, aber unbewußten Gedanken; von ihnen stammen alle Symptome ab. Es ist in der Tat der auffälligste Charakterzug der hysterischen Geistesverfassung, daß sie von unbewußten Vorstellungen beherrscht wird. Wenn eine hysterische Frau erbricht, dann kann sie dies wohl infolge der Idee tun, daß sie schwanger sei. Dennoch hat sie von dieser Idee keine Kenntnis, obwohl dieselbe durch eine der technischen Prozeduren der Psychoanalyse leicht in ihrem Seelenleben entdeckt und für sie bewußt gemacht werden kann. Wenn sie die Zuckungen und Gesten ausfuhrt, die ihren Anfall ausmachen, so stellt sie sich nicht einmal die von ihr beabsichtigten Aktionen bewußt vor und beobachtet sie vielleicht mit den Gefühlen eines unbeteiligten Zuschauers. Nichtsdestoweniger vermag die Analyse nachzuweisen, daß sie ihre Rolle in der dramatischen Wiedergabe einer Szene aus ihrem Leben spielte, deren Erinnerung während der Attacke unbewußt wirksam war. Dasselbe Vorwalten wirksamer unbewußter Ideen wird durch die Analyse als das Wesentliche in der Psychologie aller anderen Formen von Neurose enthüllt.« Sigmund Freud: Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse (1912). In: GW 8, S. 430-439, hier S. 433. Diese Auffassung vertritt auch Günther Langer: Die Rolle in Gesellschaft und Theater. Tübingen, Basel 1996, S. 7f. 89
Ödipuskomplexes durch das In2estverbot — versagt bleibt. 267 Freud erläutert in seiner Traumdeutung den Vorgang wie folgt: Die Identifizierung ist ein für den Mechanismus der hysterischen Symptome höchst wichtiges Moment; auf diesem Wege bringen es die Kranken zustande, die Erlebnisse einer großen Reihe von Personen, nicht nur die eigenen, in ihren Symptomen auszudrücken, gleichsam für einen ganzen Menschenhaufen zu leiden und alle Köllen eines Schauspiels allein mit ihren persönlichen Mitteln darzustellen,268 So leidvoll die hysterische Symptomatik auch sein mag, sehr häufig steht die beschriebene Rollenübernahme im Dienste einer Wunscherfiillung. Erlaubt sie es doch — wenn auch nur in der Phantasie — die pathogene Affekthemmung zu durchbrechen und damit kulturelle Reglements und deren innerpsychischen Repräsentanten, das Uber-Ich, zu umgehen. Freud hat den Wunscherfüllungscharakter des Symptoms, den er 1899 in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ erstmals erwähnt, 269 an zahlreichen Beispielen aus der Praxis verdeutlicht. Folgende Anekdote gibt er in der Traumdeutung zum Besten; sichtlich nicht ohne Lustgewinn: Ein Konsilium im Vorjahre führte mich zu einem intelligent und unbefangen blikkenden Mädchen. Ihre Hauptklage lautet wörtlich: Sie hat ein Gefühl im Leib als ob etwas darin stecken würde, was sich hin und her bewegt und sie durch und durch erschüttert. Manchmal wird ihr dabei der ganze I-eib wie steif. Mein mit anwesender Kollege sieht mich dabei an; er findet die Klage nicht mißverständlich. Das Mädchen selbst hat keine Ahnung von dem Belang ihrer Rede, sonst würde sie dieselbe nicht im Munde führen. Wer ist es gelungen, die Zensur so abzublenden, daß eine sonst im Vorbewußten verbleibende Phantasie me harmlos in der Maske einer Klage %um Bewußtsein zugelassen wird.210 Das Ich spaltet sich in der Hysterie in einen unbewußten und bewußten Teil, wobei sich ersterer hinter der >Maske einer Klage< verbirgt. Einzig in seiner
267 Vgl.: »Sie klagte eines Tages über ein angeblich neues Symptom, schneidende Magenschmerzen, und als ich fragte: >Wen kopieren Sie damit?« hatte ich es getroffen. Sie hatte am Tage zuvor ihre Cousinen, die Töchter der verstorbenen Tante, besucht. Die jüngere war Braut geworden, die ältere war zu diesem Anlaß an Magenschmerzen erkrankt. Sie meinte, das sei bei der Alteren nur Neid, die werde immer krank, wenn sie etwas erreichen wolle, und jetzt wolle sie eben von zu I lause weg, um das Glück der Schwester nicht mit anzusehen. Ihre eigenen Magenschmerzen sagten aber aus, daß sie sich mit der für eine Simulantin erklärten Cousine identifiziere, sei es, weil sie gleichfalls die Glücklichere um ihre Liebe beneide, oder weil sie im Schicksal der älteren Schwester, der kurz zuvor eine Liebesaffäre unglücklich ausgegangen war, das eigene gespiegelt sah.« Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse. In: GW 5, S. 163-286, hier S. 197. 268 269
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Freud (Anm. 68), S. 165 |Hcrv. B. C). Vgl. Brief vom 19. Februar 1899 an Wühelm Fließ: »Nicht der Traum allein ist eine Wunscherfüllung, auch der hysterische Anfall. Das hysterische Symptom ist es, wahrscheinlich jedes neurotische 1 Ergebnis, da ich es früher schon vom akuten Wahnsinn erkannt habe. Realität - Wunscherfüllung, aus diesen Gegensätzen sprießt unser psychisches Leben.« Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ. Ungekürzte Ausgabe, hrsg. v. Jeffrey Moussaieff Masson. Frankfurt a. M. 1986, S. 377. Freud (Anm. 68), S. 585 |I Ierv. B. C.|.
Verhüllung durch die neurotische Inszenierung vermag sich das abgespaltene erotische Begehren der Patientin zu artikulieren.271 Offenbar ermöglicht am Ausgang des vorletzten Jahrhunderts das hysterische >Privattheater< jungen Frauen, die Schranken, die gesellschaftliches Reglement und der bewußte Teil der eigenen Persönlichkeit gebieten, zu durchbrechen, wenn auch um den Preis einer psychischen Erkrankung.272 Indem es die Grenzüberschreitung von Rationalität und Sozialisation in Szene setzt, erinnert das hysterische Rollenspiel nun ganz auffällig an die Praxis des dionysischen Kults, der bereits über den Katharsisbegriff mit der psychoanalytischen Hysterielehre in Verbindung geraten war. Bekanntlich hat Rhode das träumerische Aus-Sich-Heraus-Treten der Hysterikerinnen, jenes >Doppel-IchPrivattheater< inszeniert wird, mit der dionysischen Verzückung verglichen.273 Das Konzept der Ich-Spaltung findet sich bereits in einer Schrift Nietzsches, die für die Entwicklung der Psychoanalyse folgenreich war. Marianne Schuller vergleicht Freuds Konzept eines in vielerlei identifikatorische Rollen sich aufspaltenden Subjekts mit dessen antimetaphysischem Entwurf eines substanzlosen Ich. Sie verweist dabei auf eine bestimmte Stelle aus der Göt^etidämmerung, jener von Nietzsche 1888 abgeschlossenen Schrift, in der er im Zuge einer »Umwerthung alle Werthe«274 den Glauben »ans >Ichdionysischen MenschenTraumdeutungTheatergöttinnen< Sarah Bernhardt (18+4—1922) und Eleonora Duse (18581924) um die Publikumsgunst und deren entgegengeset2ter Stilisierung durch Kritiker, Literaten und Biographen. Beide Schauspielerinnen genossen zu Lebzeiten eine derart weitreichende Verehrung, daß die sukzessive Entthronung der 14 Jahre älteren Französin durch die Jüngere einem epochalen Wandel der gesamten Schauspielästhetik gleichkam. Die Biographen der Sarah Bernhardt, Arthur Gold und Robert Fizdale, nennen diese darum auch »die letzte große Schauspielerin des 19. Jahrhunderts, Eleonora Duse die erste große Schauspielerin des 20. Jahrhunderts«.278 Der Stafettenwechsel zeichnete sich schon mit dem Durchbruch der Duse in Italien am 10. Januar 1883 ab. Diese erfuhr ihren ersten großen Erfolg ausgerechnet als Kameliendame, in einer Rolle also, mit der die Bernhardt geradezu identifiziert worden war. 279 Der Vergleich zur französischen Rivalin bestimmte von nun an die Hauptperspektive der Kritik.280 Spätestens ein Londoner Auftritt 1895, der zeitgleich zu einem Gastspiel der Bernhardt stattfand, spaltete Presse und Publikum in zwei unversöhnliche Lager. Der naturalistisch-nuancierte psychologische Stil, den Eleonora Duse einführte, brachte der Italienerin seinerzeit eine nahezu kultische Verehrung ein. Er bezeichnete den Schlußstrich, mit dem sie die Ära der Bernhardt, dieser letzten großen Virtuosin eines dezidiert artifiziellen Theaters, beendete. Zeichnete sich die Italienerin in den Augen ihrer Zeitgenossen gerade dadurch aus, daß sie »auch die Kunst besitzt, ihre Kunst zu verbergen« 281 so urteilte Anatol France über seine Landsmännin Sarah Bern278
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Arthur Gold und Robert Fizdale: Der eigensinnige Engel. Das leidenschaftliche Leben der Sarah Bernhardt. Übersetzt von Verena Koch und Cornelia Stoll. München 1992, S. 345. Vgl. Claudia Balk: Theatergöttinnen. Inszenierte Weiblichkeit. Clara Ziegler, Sarah Bernhardt, Iileonora Duse, Katalog zu den drei Ausstellungen: »Jungfrau in Waffen« Clara Ziegler 2.9.-16.10.1999, »Femme fatale« Sarah Bernhardt, 23.10.1994-8.1.1995, »Femme fragile«, Eleonora Duse, 20.1.-12.3.1995 im Deutschen Theatermuseum München. Frankfurt a. M. 1994. Die Autorin ist der Meinung, daß die »männermordende Sarah das Image der Inkarnation der Kameliendame« hatte. Ebd., S. 104. Er prägt z.B. die hymnische Kritik, die Hugo von Hofmannsthal anläßlich des Wiener Auftritts der Duse als Kameliendame und Fedora verfaßt hat. Eine »geniale Künstlerin, wie die Duse« wird darin »einer großen Virtuosin, wie die Sarah Bernhardt« gegenüber gestellt. Hugo von Hofmannsthal: Fjleonora Duse. Eine Wiener Theaterwoche (1892), wieder in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf I Iirsch. Reden und Aufsätze I (1891-1913). Frankfurt a. M. 1979, S. 469^174, hier S. 469. Simon Moldauer: Über moderne Schauspielkunst, (1893), zitiert nach Christopher Balme: Das Theater von Morgen. Texte zur deutschen Theaterreform. Würzburg 1988, S. 105-112, hier S. 108. Moldauer bezieht sein Urteil auf den Eindruck des unmittelbaren Affektausdrucks, den das Spiel der Duse vermittelte. Er erwähnt unter anderem den Tränenfluß auf der Bühne, der einen Gegensatz zum kontrollierten Schauspielideal des 19. Jahrhunderts bildet. Die Kunst der Duse sei darum eine >echte Fin de Ä/i-Kunstfemme fatale< stilisiert,285 die zunächst noch uneingeschränkte Verehrung des Publikums in ganz Europa.
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Zitiert nach Balk (Anm. 279), S. 91. Zu den Details dieses Stils vgl. Matthias Müller: Sarah Bernhardt - Eleonora Duse. Die Virtuosinnen der Jahrhundertwende. In: Renate Möhrmann: Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Frankfurt a. M. 1989, S. 228—260, bes.: »Die an der Comedie gültige darstellerische Grundregel - eine einfache, unterstützende Geste hatte dem gesprochenen Wort voranzugehen — eignete sich für das klassische Repertoire, nicht aber zur Darstellung der feineren Psychologie, die Figuren und Handlungen des Melodrams erforderten. Die unterstützende Geste ihrerseits mußte, so erkannte die Bernhardt, vorbereitet werden durch ihr vorausgehende Veränderungen der Mimik: So schuf sie einen neuen Darstellungsstil; und auch sie >psychologisierte< ihre Figuren, freilich in höchst artifizieller Weise: oft genug erstarrte in Momenten der emotion forte, in denen die I leidin ihre ganze I-eidenschaft äußerte, das szenische .Arrangement zum Tableau, sorgfältig inszeniert, jedoch allemal illusionsdurchbrechend.« Kbd., S. 256. »In diesem rasenden Willen zu wirken, zu wirken bis zum letzten I Iauch, steckt das Geheimnis dieser erstaunlichen Frau; das ist die Kraft, die die gräßlichen Geschmacklosigkeiten ihrer ständigen Reklame und die tiefsten Wirkungen ihrer Kunst verbindet. Wirklich, die Sarah Bernhardt erscheint zuweilen wie die Königin im Reklame-Prater. Und dennoch: sie, die fast bis zum letzten Augenblick und unter der furchtbarsten Bedingung auf der Bühne gestanden hat, erinnert nicht wenig an Molicrc, der starb, indem er den »Eingebildeten Kranken« spielte.« Bab (Anm. 78), S. 143 f. Zu den entsprechenden Projektionen der Kritik und den Selbststilisierungen der Bernhardt vgl. Claudia Balk: >Femme fatale< Sarah Bernhardt. In: Balk (Anm. 279), S. 60-129. Balk zeigt u.a., daß die Darstellung der Bernhardt auf Gemälden und Szenenphotos ein Modell kopiert, in dem um die Jahrhundertwende Femme fatale und Hysterika verschmelzen: Die Salome. Diese Figur, die Sarah Bernhardt selbst nie gespielt hat - eine bereits geprobte Aufführung wurde von der englischen Zensur verboten - war dennoch »die Inkarnation der [Projektionsvorstellungen] [...], die Sarah Bernhardt auf der Bühne des Fin de siecle verkörperte Die Salome ist das konzentrierte Symbol aller Vorstellungen von der Verderben bringenden, sinnlichen Frau!« Kbd., S. 65. Kritiker haben die Bernhardt mit Gustave Moreaus SalomeGestalten verglichen und Oscar Wilde widmet ihr seinen Roman Salome. Damit wird sie zur Inkarnation eines Weiblichkcitstypus, der seinerseits des öfteren mit der llysterikerin gleichgesetzt wurde: In seinem 1884 erschienenen Roman Gegen den Strich legt der symbolistische Autor Joris-Karl Iluysman seiner Hauptfigur, einem begeisterten Verehrer von Gustave Moureaus Salome-Darstellungen, den Satz in den Mund: »Sie wird unter Moreaus Händen das Symbol der Wollust, die Göttin der unsterblichen I Iysterie.« zitiert nach Balk (Anm. 279), S. 66.
Auch Sigmund Freud, dessen spätere Praxis ein Bild der Schauspielerin schmücken wird, nutzt seinen Studienaufenthalt an der Salpetriere 1885 zum Besuch einer Vorstellung der Diva. In einem Brief an seine Verlobte berichtet er begeistert: Ich habe nie eine komischere Figur gesehen als Sarah Bernhardt im zweiten Tableau, wo sie im einfachen Kleid erscheint; ich übertreibe gar nicht, und doch mußte man bald aufhören zu lachen, denn jeder Zoll an dem Figürchen lebte und bezauberte. Dann ihr Schmeicheln und Umarmen: es ist unglaublich, was sie für Stellungen annimmt, wie sie sich um eine Person schmiegt, wie sie mit jedem Glied und jedem Gelenk agiert. liin merkwürdiges Wesen, und ich kann mir denken, daß sie im lieben gar nicht anders zu sein braucht als auf der Bühne.286
Denkbar, daß sich der junge Stipendiat zur letzteren Vermutung von der Traumfabrik der zeitgenössischen Presse hat hinreissen lassen, die das Leben der Bernhardt zu einer Fortsetzung ihrer meist frivolen Rollen stilisierte. Denkbar aber auch, daß ihm sein eigenes Leben, das er seinerzeit hauptsächlich in den Krankensälen der Salpetriere zubrachte, das Anschauungsmaterial bot, welches ihm die »leidenschaftlichen Stellungen und Gebärden«287 der Diva so merkwürdig vertraut erscheinen ließ. Thomas Medicus zählt in seinen Überlegungen zu Freud, Charcot, Sarah Bernhardt und der Salpetriere eine ganze Reihe von Parallelen auf, die Freuds Theater-Eindruck einer lebensweltlichen Nähe erklären können. Das Bewegungsvokabular der Bernhardt verbindet auffallige Ähnlichkeit mit den Posen der Charcotschen Hysterikerinnen 288 Für die als >coup de theätre< berühmte Bühnenhaltung des Verzückungszustandes etwa, mit »in den Nacken geworfene[m] Kopf, wobei der himmelwärts gerichtete Blick fast nur noch das Weiße des Augapfels erkennen läßt«289 findet sich in den photographischen Archiven der Salptriere eine Unmenge von Vergleichsmaterial. Der vor der Kamera wie auf der Bühne behebig reproduzierbaren Pose der Bernhardt entsprechen die — teilweise ebenfalls artifiziell im Experiment hervorgerufenen und abphotographierten — stereotypen Stellungen der Kranken Charcots, die, wie Richer zu berichten weiß, [in) Gestik und Mimik [...] eine überraschende Ähnlichkeit mit solchen Heiligendarstellungen aufwiesen, wie sie durch die vollkommensten Kunstwerke bekannt seien: die Hysterischen zeigten sich als Muttergottes der >Unbefleckten Empfängnis* oder auf dieselbe Weise wie es der >coup de Theatre* Sarah Bernhardts auf der Bühne gezeigt hatte, nämlich im Zustand der Verzückung als heilige Theresa.290
Ein weiteres Markenzeichen der Starschauspielerin waren laut Medicus die kunstvoll in Szene gesetzten Exaltationen, in denen sie auf der Bühne Sigmund Freud: Brief an Martha Bernays, Paris, 8. November 1885. In: Freibeuter 41. Berlin 1989, S. 89-91, hier S. 91. 287 Yg[ j e n Charcotschen Begriff der attitudes passioneltes und Freuds Ubersetzung »leidenschaftliche Stellungen und Gebärden« Charcot (Anm. 23), S. 13. 288 Ygi Thomas Medicus: Das Theater der Nervosität. Freud, Charcot, Sarah Bernhardt und die Salpetriere. In: Freud (Anm. 286), S. 93-103. 2 8 9 Freud (Anm. 286), S. 96. 2 9 0 Ebd., S. 101 f. 286
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von einem nervösen Affekt in den nächsten (verfiel|, von einer Emotion, von einer Leidenschaft in die andere, wobei all dies in einer von l'ocsie und Harmonie geprägten, rhythmischen Abfolge von Posen, Stellungen und 1 laltungen zum Ausdruck kam. 2 '-" In unmittelbaren Vergleich setzt er dieses »hysterische Spektakel« — »mänadenhafte Schreie, halluzinierende Rede, tranceartiges Rasen, Suggestivität v o n G e s t e und G e b ä r d e , T r a u m w e l t und erotisches R a f f i n e m e n t « 2 9 2 -
mit der
hysterischen Attacke, wie sie C h a r c o t seinem Publikum w ä h r e n d der öffentlic h e n V o r l e s u n g e n v o r z u f ü h r e n pflegte: Vor der ersten Phase zunächst die Vorzeichen: wilde, an das Gebaren von Mänaden erinnernde Gestikulationen, Schreie wie diejenigen eines wilden Tieres, lüsterne Tanzbewegungen; sodann die Verenkungen der Possen- bzw. epileptoiden Phase mit wut- und schreckensverzerrten Physiognomien. Hin Kreisbogen möglicherweise, dann aber endlich die attitudes passionelles, die zum Zweck der besseren Beobachtung durch die Inhalation von Äther nach Belieben verlängert und zur Erstarrung gebracht werden konnten. 29 ·' Ü b e r die bei Medicus so einleuchtend dargestellten Parallelen hinaus entsprec h e n sich das Spiel der B e r n h a r d t und das hysterische Spektakel, das Charc o t in seiner Klinik — häufig mittels eines D r u c k s a u f die E i e r s t ö c k e der P a tientin - auslöst, grundsätzlich in der beiden g e m e i n s a m e n diskursiven Stilisierung zur s p e z i f i s c h weiblichen Täuschungskunst*. D e m d u r c h die Hysteriestudien transportierten Klischee v o n >Weiblichkeit< — die Simulationsmanöver in der Salpetriere sind schließlich i m m e r und zuallererst a u c h eine F r a u e n k r a n k h e i t — entspricht das Selbstverständnis, das die Schauspielerin in i h r e m 1 9 0 7 erschienenen E r i n n e r u n g s b u c h Ma double vie zu erkennen gibt, 2 9 4 e b e n s o wie ihre Charakterisierung d u r c h Kritiker wie H u g o v o n H o f m a n n s t h a l , der i m J a h r 1 8 9 2 über die B e r n h a r d t schreibt: sie spielt in der Kokotte die Kaiserin, in der Kaiserin die Kokotte, in beiden das Weib. |...J sie individualisiert nicht, sie gibt das Geschlecht als solches. Das ganz große Sensationsstück für sie dürfte nicht >Theodora< heißen und nicht >La Tosca< und nicht >Marguerite (iautierc es müßte heißen: >Die Frau von 1890, Unsere 1 j e b e Frau von den bebenden Nerven.* 2 9 5
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Freud (Anm. 286), S. 97. Ebd. Ebd., S. 102. »Ich denke, daß die dramatische Kunst im wesendichen eine weibliche Kunst ist. Sein Gesicht schminken, seine wahren Gefühle verbergen, zu gefallen versuchen, die Blicke auf sich ziehen zu wollen, das alles sind tatsächlich die Unarten, die Frauen oft vorgeworfen werden, denen man aber Nachsicht entgegenbringt. Dieselben Fehler wirken bei einem Mann abstoßend. Vielleicht verleiht diese unablässige Verleugnung seiner selbst dem Darsteller ein weiblicheres Naturell. Fest steht aber, daß der Schauspieler die Schauspielerin beneidet.« Sarah Bernhardt: Mein doppeltes Leben. Übersetzt von Reginc Halter. München 1983, S. 340f. Hugo von Hofmannsthal: Eleonora Duse. Eine Wiener Theaterwoche (1892). In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979. Reden und Aufsätze I (1891-1913), S. 469^174, hier S. 470. Parallelen in der Wortwahl bestärken den Verdacht, das
Die Bernhardt, die »mit jedem Zoll des Leibes« 296 spielt, ohne sich dabei auch emotional von der Rolle affizieren zu lassen — die Virtuosin hatte sich ausdrücklich auf Diderots Schauspielideal berufen - gibt sich in dieser emotionalen Distanzierung von der Rolle und in den stilistischen Merkmalen ihres Spiels geradezu als ein Ebenbild der >grande simulatrice< zu erkennen.297 Angesichts dessen kommt auch Medicus zu dem Schluß, daß die Bernhardt »unter den Auspizien der Schule der Salpetriere >Nervenkunst< [zelebriere]«.298 Es wird sich in diesem Zusammenhang nicht endgültig klären lassen, welche Richtung der Fluß der Inspirationen zwischen experimenteller Psychiatrie und Schauspielkunst hauptsächlich genommen hat. Obwohl der Einfluß, den Charcot mit seinen populären Inszenierungen der Hysterie auf die Theaterästhetik seiner Zeit hatte, gewiß nicht zu unterschätzen ist, so dürfen umgekehrt auch die Anregungen, die der kunstinteressierte Mediziner aus Literatur und Theater in seine experimentellen Tableaus einbrachte, nicht übersehen werden. Gewiß war dem Mediziner das Spiel der >göttlichen< Sarah Bernhardt bekannt, als er bestimmte Stellungen suggerierte, sie elektro-mechanisch induzierte oder sie zum Zwecke der besseren Photographierbarkeit nachstellen ließ. Von den mannigfaltigen Möglichkeiten der direkten gegenseitigen Einflußnahme zwischen Theater und Klinik einmal abgesehen, ist durch die genderForschung der letzten Jahrzehnte sichergestellt worden, daß den künstlerischen wie den medizinischen Entwürfen von Weiblichkeit im 19. Jahrhundert ein gemeinsames Gestaltungsmuster ungenannt zugrundeliegt. Als symbolischen Effekt eines allgemeinen misogynen Klischees erklärt man sich allgemein die Tatsache, daß die Epoche »auf den Frauengestalten aus Literatur und Drama jene Symptomatik [häuft], die sich in den medizinischen Schriften als hysterische Zeichen aufgeführt finden«.299
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Freudsche Bernhardt-Porträt sei von der IIofmannsthal-Kritik beeinflußt, vgl.: Sarah Bernhardt »spielt mit jedem Zoll des I-eibes; sogar die Zehen in Sandalen spielen mit und das wehende Haar über der Stirn, das Stimmungen abtönen hilft. Wundervoll ist die Beredsamkeit ihres steil ausgereckten Armes, ihres schmiegenden Nackens, ihres Ixhnens, ihres Kauerns, ihres Gleitens, ihres Fallens, ihres Zuckens, ihres Erschlaffens.« Ebd. Vgl. Anm. 295. Vgl. >Diderot: Paradoxe sur le comedienfemme fragilehysterischen Inszenierungen^ die Freud beschrieben hat. Offenbar macht gerade dieses Image für die Vertreter der Wiener Nervenkunst den besonderen Attraktivitätsgrad der Schauspielerin aus. Nicht anders als im Falle der Bernhardt beobachtet, überblendet auch im Fall der Duse ein Klischee hysterischer Weiblichkeit das öffentliche Bild der Künstlerin. Wie die Hysterikerin in ihrer unbewußten Selbst-Inszenierung bei Freud, so agiert auch die Duse am Rande von Rationalität und Selbstbewußtsein; jedenfalls sehen es ihre Wiener Anhänger so: Wie einer, der auf sich nicht mehr achtet, der »außer sich< ist, der nichts mehr beherrscht, sondern, sich selbst entrückt, überwältigt von losgerissenen Trieben, dampfend innere Gewalten ausspeit, von welchen er selbst in den Tod erschrocken und wie betäubt ist, 314
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Vgl. das von D'Annunzio in Feuer kolportierte >Julia-ErlebnisEs tagt, es tagt!< schrie das Entsetzen in mir. Ich sprach von den Schrecken des Tages, aber in Wahrheit fühlte ich schon die >Larve der Nacht< auf meinem Gesicht. Wir waren schon tot, schon in das Dunkel eingetreten. [...] Als ich auf Romeos Leiche niedersank, brach die Menge in der Dunkelheit in so gewaltiges Beifallsbrüllen aus, daß ich erschrak. Irgend jemand hob mich auf und zerrte mich nach der Seite, von der das Rufen ertönte. Man beleuchtete mit der Fackel mein beträntes Gesicht...Und ich mußte aussehen wie der Tod...So...wurde an einem Maiabend dem Volke von Verona eine von den Toten erstandene Julia gezeigt.« Zitiert nach Balk (Anm. 279), S. 175. Paul Schienther: Der Frauenberuf im Theater. In: Der Existenzkampf der Frau. Hrsg. von Gustav Dahms. Berlin 1895, S. 35-60, hier S. 58. »[...] ich weiß nicht wie sie aussieht. Die Worte schön oder häßlich haben für sie keinen Sinn. Ihr Körper ist nichts als die wechselnde Projektion ihrer wechselnden Stimmungen.« Hofmannsthal (Anm. 306), S. 471. Zitiert nach Bab (Anm. 78), S. 193. 101
erschien sie Hermann Bahr in ihrem Spiel. In dem hier entworfenenen künstlerischen Rauschzustand wird das ikonographische Modell sichtbar, dem der Duse-Mythos seine Ähnlichkeit zu Freuds Krankengeschichten ebenso verdankt wie seine Beliebtheit in Wiens Literaten-Kreisen. Ein Vergleich der von Bahr imaginierten Schauspiel-Ekstase mit zeitgenössischen Darstellungen des dionysischen Festspiels macht unzweifelhaft deutlich, wie eng die wunderbare »Fähigkeit [der Eleonora Duse, ihrer] erfüllten Seele mit körperlichen Mitteln den entsprechenden Ausdruck zu geben«,'15 mit der wohlbekannten nietzscheanisch geprägten Auffassung von der Hysterie der Griechen und ihrer heilsamen Lösung in der antiken Tragödie verbunden ist, und Gabriele d'Annunzios Duse-Roman Feuer ist geradezu durchtränkt von kunsttheoretischen Reflexionen im Sinne des vom Autor heißverehrten Philosophen. Die Vergleichbarkeit von antikem Kult und modernem Spiel ist für die Zeitgenossen durch die identifikatorische Selbstüberschreitung im Spiel der Duse gegeben, denn die Identifikation des Schwärmers mit dem Gott hatte als wesentliches Merkmal den dionysischen Zustand ausgezeichnet.31ganze psychophysiologische Kreignis, das dem Werden eines Wortes vorausgehe durch ihre Physiognomie auszudrücken vermag; auf der anderen Seite die unvergleichliche TänzerinunbeschreiblichenDramatisierung< und Traumelemente auf der Bühne und im Drama
3.1. Die Traumdeutung und ihre Theatermetaphorik im Kontext von Wissenschafts- und Kulturgeschichte 3.1.1. Freuds Traumdeutung und ihre Theatermetaphern Sigmund Freuds Traumdeutung, laut Impressum 1900 erschienen,1 ist im wahrsten Sinne des Wortes ein >Jahrhundertwerkkathartischen Kur< überraschten, hat Freud dazu verleitet, »den Traum selbst wie ein Symptom zu behandeln und
Tatsächlich lag die Druckfassung bereits Ende 1899 vor. Hermann Beland: Nachwort für die limitierte Sonderausgabe der Traumdeutung, veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt a. M. 1996, S. 6 2 9 - 6 5 4 , hier S. 629.
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die fur letztere ausgearbeitete Methode der Deutung auf ihn anzuwenden.«3 Daneben besteht auch methodisch eine enge Verbindung zu den Studien über Hysterie. Wie diese basiert auch die Traumdeutung auf der Idee von der Verdrängung des unbewußten Wunsches und seiner Wiederkehr in symbolischer Verkleidung. Und angesichts der »vollen Identität zwischen den Eigentümlichkeiten der Traumarbeit und der psychischen Tätigkeit, welche in die psychoneurotischen Symptome ausläuft«, hält sich Freud schließlich ganz allgemein »für berechtigt [...], die Schlüsse, zu denen uns die Hysterie nötigt, auf den Traum zu übertragen«.4 Dies hat Auswirkungen auch auf den Gebrauch von Metaphern in beiden Theorien: Die Sinnbilder und Modelle, in denen Freud den Traum schildert, sind ganz nach dem Vorbild des hysterischen >Privattheaters< gestaltet. In der Traumdeutung und anderen Schriften über den Traum greift Freud viele der aus dem Zusammenhang der Hysterielehre vertrauten Theatermetaphern erneut auf.5 Da ist zunächst die Metapher der Maske oder Rolle, die hier wie da die Verstellung veranschaulicht, in welcher sich der unbewußte Gedanke zu erkennen gibt. Die Traumdeutung macht, wo sie sich ihrem Objekt als »verkleidete[m] Sinn«6 hermeneutisch nähert, dieses aus dem Zusammenhang der vorfreudianischen Hysterietheorie entliehene und in den Studien über Hysterie weiterentwickelte Bild weiterhin fruchtbar. Wurden im Falle der Hysterieforschung die »als Betder verkleideten Prinzen der Oper«7 für die zaghafte Verlautbarung der verdrängten Botschaft bemüht, läßt die Traumdeutung den Prinzen Hamlet in seiner Narrenkappe auftreten, um die codierte Nachricht des Unbewußten zu überbringen. Freud spielt auf die >EulenspiegelGradiva< (1907). Sigmund Freud: Der Wahn und die Träume in Jensens >GradivaIch bin nur toll bei Nord-Nord-West, weht der Wind aus Süden, so kann ich einen Reiher von einem Falken unterscheiden.^ D i e W a h l v o n S h a k e s p e a r e d r a m e n als Vergleichsgröße, die die F r e u d s c h e T h e a t e r m e t a p h o r i k weit ü b e r dieses Beispiel hinaus b e s t i m m t , 9 erklärt sich nicht allein aus seiner bildungsbürgerlichen V e r e h r u n g dieses D i c h t e r s , der i m a u s g e h e n d e n 19. J a h r h u n d e r t s d e n L e s e k a n o n i m d e u t s c h s p r a c h i g e n R a u m allgemein beherrschte. 1 0 Z u d e m war bereits die i m W e r k des B a r o c k d i c h t e r s h ä u f i g in F o r m v o n Spiel-im-Spiel-Einlagen, binnendramatischer T h e m a t i s i e r u n g der Darstell u n g s e b e n e o d e r der m e t a d r a m a t i s c h e n R e f l e k t i o n der D i f f e r e n z v o n Schauspieler u n d Rolle realisierte T h e a t e r m e t a p h o r i k 1 1 weit ü b e r die Polarisier u n g v o n >Sein< u n d >Schein< i m Welttheater-Gleichnis hinausgegangen. D i e d u r c h diese Stümittel erzeugte » S p a n n u n g zwischen Illusion u n d Realität« 1 2 zielt stattdessen » a u f die T h e m a t i s i e r u n g einer der F i k t i o n i n n e w o h n e n d e n K r a f t « 1 3 ab. F r e u d , der in dieser u n d in weiteren Veranschaulichungen a u f S h a k e s p e a r e s D r a m e n zurückgreift, ü b e r n i m m t aus ihnen zugleich die A m b i valenz einer Metaphorik, die d e n Schein des Theaterspiels thematisiert, u m darin zugleich die D o p p e l b ö d i g k e i t der bewußten, vermeintlich unhintergehbaren E d e b n i s e b e n e z u kennzeichnen.
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I ; reud (Anm. 3), S. 429. Vgl. »Dieser Löwe ist also vergleichbar dem Löwen im Sommernachtstraum, der sich als Schmock, der Schreiner, demaskiert, und so sind alle Traumlöwen, vor denen man sich fürchtet.« Freud (Anm. 3), S. 446. Vgl. auch: »Iis heißt mich nun etwas darauf achten, daß in der Traumdeutung eine feindselige und eine zärtliche Gedankenströmung gegen meinen Freund P. zusammentreffen, die erste oberflächlich, die letztere vcrdeckt, und in den nämlichen Worten: Non vixit ihre Darstellung erreichen. Weil er sich um die Wissenschaft verdient gemacht hat, errichte ich ihm ein Denkmal; aber weil er sich eines bösen Wunsches schuldig gemacht hat [der am Ende des Traumes ausgedrückt ist], darum vernichte ich ihn. Ich habe da einen Satz von ganz besonderem Klang gebildet, bei dem mich ein Vorbild beeinflußt haben muß. Wo findet sich nur eine ähnliche Antithese, ein solches Nebeneinanderstellen zweier entgegengesetzter Reaktionen gegen dieselbe Person, die beide den Anspruch erheben, voll berechtigt zu sein, und doch einander nicht stören wollen? An einer einzigen Stelle, die sich aber dem Ix-ser tief einprägt; in der Rechtfertigungsrede in Shakespeares >Julius Cäsarc >Weil Cäsar mich liebte, wein' ich um ihn; weil er glücklich war, freue ich mich; weil er tapfer war; ehr' ich ihn, aber weil er herrschsüchtig war, erschlug ich ihn.< Ist das nicht der nämlichc Satzbau und Gedankengegensatz wie in dem Traumgedanken, den ich aufgedeckt habe? Ich spiele also den Brutus im Traum.« Freud (Anm. 3), S. 411. Vgl. Günther Erken: Shakespearekritik und Rezeption Shakespeares in Deutschland. In: Ina Schabert (Hrsg.): Shakespeare-Handbuch. Stuttgart 1978, S. 735. Vgl. Katharina Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, 'Tübingen 1998, S. 18. Keim (Anm. 11), S. 18. Ebd. 107
Auf ein weiteres Begriffsfeld aus der Hysterielehre greift der Autor zurück, wo er den Traum definiert »als [den] durch die Übertragung auf Rezentes veränderte [n] Ersatz der infantilen Szene«.14 Als Umschreibung für bildliche Erinnerungen war die >Szene< bereits in der Hysterietheorie eingeführt worden, etwa im Rahmen eines höchst eigenständigen Kommentars, den Freud einer Übersetzung von Charcotschen Vorlesungen hinzufügt: Der Kern des hysterischen Anfalls, in welcher Form er sich immer zeigen mag, ist eine Erinnerung, das halluzinatorische Wiederdurchleben einer für die Krkrankung bedeutungsvollen Szene.15 Die hiermit umrissene lebensgeschichtliche Erklärung, die die Psychoanalyse von der Hysterie- auf die Traumforschung überträgt, ist eine ihrer größten Errungenschaften. Noch der populärwissenschaftliche Seelenforscher Max Dessoir hatte in seinem um die Jahrhundertwende vielgelesenen Buch über Das Doppel-Ich die Herkunft unbewußter Phänomene im Rahmen der Darwinistischen Evolutionstheorie erklärt.16 Dort heißt es: 14
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Freud (Anm. 3), S. 522. Der Theaterbegriff >Szene< wird im Zusammenhang mit dem Traum unzählige Male bemüht. Als besonders eindrückliches Beispiel sei die folgende Passage einer Traumschilderung wiedergegeben, die sich wie die Bühnenanweisung einer Antikeninszenierung liest: »Die Szene ist dann vor einem Tore, Doppeltor nach antiker Art [Die Porta Romana in Siena, wie ich noch im Traume weiß]. Ich sitze auf dem Rand eines Brunnens und bin sehr betrübt, weine fast...« Freud (Anm. 3), S. 427. Die Assoziation zur Theaterszene ist in diesem Fall besonders deutlich, denn der Traum, der von der Sorge Freuds bezüglich antisemitischer Entwicklungen seiner Zeit bestimmt ist, »baut sich auf einem Knäuel von Gedanken auf, die durch ein im Theater gesehenes Schauspiel Das neue Getto angeregt wurden.« Freud (Anm. 3), S. 427. Auszüge aus Freuds Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Charcot's 1 x^ons du mardi. In: GW. Nachtragsband. Frankfurt a. M. 1987, S. 158. Ebenfalls in: JeanMartin Charcot: Poliklinische Vorträge, 1. Bd.: Schuljahr 1887/88, übersetzt von Dr. Sigmund Freud. Leipzig, Wien 1892, S. 107. Vgl. die folgende Passage aus der Freudschen Behandlungsgeschichte einer hysterisch erkrankten Gouvernante: »In der Tat tauchte unter meinem Drängen ein Bild in ihr auf, anfangs zögernd und nur stückweise. Iis war das Speisezimmer ihres Hauses, in dem sie mit den Kindern wartet, bis die I Icrren aus der Fabrik zum Mittagsmahl kommen. - Jetzt sitzen wir alle um den Tisch herum: die Herren, die Französin, die Haushälterin, die Kinder und ich. Das ist aber wie alle Tage. - Sehen Sie nur weiter auf das Bild hin, es wird sich entwickeln und spezialisieren. - Ja, es ist ein Gast da, der Oberbuchhalter, ein alter Herr, der die Kinder liebt wie eigene Fnkel, aber der kommt so oft zu Mittag, das ist auch nichts Besonderes. - Haben Sie nur Geduld, blicken Sie immer auf das Bild, es wird gewiß etwas vorgehen. - Iis geht nichts vor. Wir stehen vom Tische auf, die Kinder sollen sich verabschieden und gehen dann mit uns wie alle Tage in den zweiten Stock. - Nun? - Iis ist doch eine besondere Gelegenheit, ich erkenne die Szene jetzt. Wie die Kinder sich verabschieden, will der Oberbuchhalter sie küssen. Der Herr fährt auf und fahrt ihn geradezu an. >Nicht die Kinder küssem. Dabei gibt es mir einen Stich ins I Ierz, und da die 1 Icrren schon rauchen, bleibt mir der Zigarrenrauch im Gedächtnis. Dies war also die zweite, tieferliegende Szene, die als Trauma gewirkt und ein Frinncrungssymbol hinterlassen hatte.« Breuer/Freud (Anm. 7), S. 13. Die Darwinistische Prägung des Autors und seine evolutionstheoretische Auffassung von >Unterbewußtsein< zeigt sich an verschiedenen Stellen ganz explizit, z.B.: »Fs hat sich [...] herausgestellt, daß sowohl in tiefen Hypnosen, als auch bei Hysteri-
Den triebkräftigen Mutterboden unseres Innenlebens bildet eine Seelenregion, die uns dem Naturmenschen und dem Kinde mit ihrer Beeinflußbarkeit und instinktmäßigen Gefühlsart nähert; über ihr erhebt sich der erworbene Zusammenhang der Hemmungszentren als regulierender Apparat, dessen Wirksamkeit in allen jenen Zuständen versagt, die von der Norm des wachen Lebens abweichen. 17
Die naturgeschichtliche Iinearität einander ablösender Entwicklungsstufen ersetzt Freuds Konzept des Unbewußten durch die simultane Struktur eines mehrdimensionalen psychischen Raums.18 Während bei Dessoir das sogenannte »Unterbewußte«19 einen rudimentären Uberrest einer evolutionär überwundenen Vorstufe darstellt, dessen Entdeckung »die Lehre von der Einheit des Bewusstseins [...] in keiner Weise berührt«,20 beginnt erst Freud die andauernde Durchdringung des Bewußten von unbewußten Erinnerungen anzuerkennen. Für das angemessene Verständnis theatraler Metaphern in der Traumdeutung gilt es im folgenden zwei Aspekte genauer zu untersuchen: erstens Freuds Distanzierung von der Tradition der Traumforschung, zweitens die strukturelle Nähe zwischen seiner Traumdeutung und zeitgenössischen theaterästhetischen und dramatischen Konzepten. Die bereits in den Studien über Hysterie konstatierte Akzentverschiebung weg von der traditionellen Abwertung der spektakulären Oberfläche bestimmter psychischer Phänomene hin zu deren hermeneutischer Durchdringung spiegelt sich in der Umschreibung des Traums als »Inszenierung [...] eines Gedankengewebes« wider.21 Freud hat sich »vorgesetzt zu zeigen, daß Träume einer Deutung fähig sind«,22 und setzt sich in der konsequenten Systematisierung der
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kern die Schmerzempfindlichkeit schwinden kann ohne Verlust der Druckempfindlichkeit, und diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass beide Empfindungsarten ursprünglich geschieden gewesen sein mögen. Unsere ältesten Vorfahren haben vielleicht die Berührung gefühlt, indessen selbst bei stärkster Reizanschwellung keinen körperlichen Schmerz gehabt, wie ja auch Tiere, Neugeborene, Naturmenschen, Idioten und Gewohnheitsverbrecher in weit geringerem Maße als der Kulturmensch für Schmerzen zuganglich zu sein pflegen. Je höher sich die seelische Organisation im Kampfe ums Dasein entwickelt hat, desto stärker hat sich die Schmerzhaftigkeit ausgebildet [...]«. Max Dessoir: Das Doppel-Ich. I-eipzig 1896, S. 63. Dessoir (Anm. 16), S. 34f. Die Bedeutung der Kindheit für die Persönlichkeitsentwicklung hatte Dessoir im Einklang mit der Forschung seiner Zeit als ganz unerheblich angesehen: »die Beobachtung des Kindes während der Erziehung gewährt, wie Wundt richtig hervorgehoben hat, geringe Aufschlüsse«. Dessoir (Anm. 16), S. 74. In diesem Paradigmenwechsel, der sich bereits in den Studien über Hysterie abzeichnet, liegt gewiß einer der I Iauptgründe für die Beliebtheit szenischer Metaphern in der Psychoanalyse. Vgl.: »All unserem Denken drängen sich als Begleiter und Helfer räumliche Vorstellungen auf, und wir sprechen in räumlichen Metaphern«. Josef Breuer Theoretisches. In: Breuer/Freud (Anm.7), S. 203—270, hier S. 246. Dessoir (Anm. 16), S. 55. Ebd. Freud (Anm. 6), S. 50. Freud (Anm. 3), S. 117. 109
entsprechenden Methode von der Lehre nahezu aller seiner Vorgänger radikal ab. 23 Laut Freud hat die bisherige Traumforschung das Traumgebilde schlicht als Unsinn abqualifiziert: Der Traum ist unzusammenhängend, vereinigt ohne Anstoß die ärgsten Widersprüche, läßt Unmöglichkeiten zu, läßt unser bei Tag einflußreiches Wissen beiseite, zeigt uns ethisch und moralisch stumpfsinnig. Wer sich im Wachen so benehmen würde, wie es der Traum in seinen Situationen vorführt, den würden wir für wahnsinnig halten; wer im Wachen so spräche oder solche Dinge mitteilen wollte, wie sie im Trauminhalt vorkommen, der würde uns den Lindruck eines Verworrenen oder Schwachsinnigen machen. Somit glauben wir nur dem Tatbestand Worte zu leihen, wenn wir die psychische 'Tätigkeit im Traum nur sehr gering anschlagen und insbesondere die höheren intellektuellen I Leistungen als im 'Traum aufgehoben oder wenigstens schwer geschädigt erklären. Mit ungewöhnlicher Kinmütigkeit [...] haben die Autoren solche Urteile über den 'Traum gefallt, die auch unmittelbar zu einer bestimmten Theorie oder Krklärung des 'Traumlebens hinleiten. 24 V o n dieser Haltung seiner Zeitgenossen zum Traum, die er in einem einleitenden Überblick in der Traumdeutung referiert, rückt Freud entschieden ab. Als erster unter den neuzeitlichen Medizinern macht er sich auf die Suche nach dem Sinn der Träume. Diese sind für ihn nicht länger das sinnendeerte Andere des rationalen Ichs, sondern Teil eines interpretativ verstehbaren Gesamtsystems. Für Freud ist
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Vgl.: »Iis lassen also alle in der Literatur vertretenen 'Traumerklärungen - mit Ausnahme etwa der zu erwähnenden von Scherner - eine große Lücke offen, wo es sich um die Ableitung des für den 'Traum am meisten charakteristischen Materials von Vorstellungsbildern handelt.« libd., S. 65. Und: »Der originellste und weitgehendste Versuch, den 'Traum aus einer besonderen Tätigkeit der Seele, die sich erst im Schlafzustand frei entfalten kann, zu erklären, ist der von Scherner 1861 unternommene. Scherner gehört nicht zu den Autoren, welche es der Seele gestatten, ihre Fähigkeiten unverringert ins 'Traumleben mitzunehmen. Lr führt selbst aus, wie im Traum die Zentralität, die Spontanenergie des Ich entnervt wird, wie infolge dieser Dezentralisation Lrkennen, fühlen, Wollen und Vorstellen verändert werden, und wie den Überbleibseln dieser Seelenkräfte kein wahrer Geistcharakter, sondern nur noch die Natur eines Mechanismus zukommt. Aber dafür schwingt sich im 'Traum die als Phantasie zu benennende 'Tätigkeit der Seele, frei von aller Verstandesherrschaft und damit der strengen Maße lcdig, zur unbeschränkten Herrschaft auf. Sie nimmt zwar die letzten Bausteine aus dem Gedächtnis des Wachens, aber führt aus ihnen Gebäude auf, die von den Gebilden des Wachens himmelweit verschieden sind, sie zeigt sich im Traume nicht nur reproduktiv, sondern auch produktiv. Der Traumphantasie fehlt die Begriffssprache; was sie sagen will, muß sie anschaulich hinmalen, und da der Begriff hier nicht schwächend einwirkt, malt sie es mit Fülle, Kraft und Größe der Anschauungsform hin. Ihre Sprache wird hierdurch, so deutlich sie ist, weidäufig, schwerfällig, unbeholfen. Besonders erschwert wird die Deutlichkeit ihrer Sprache dadurch, daß sie die Abneigung hat, ein Objekt durch sein eigendiches Bild auszudrücken, und lieber ein fremdes Bild wählt, insofern dieses nur dasjenige Moment des Objekts, an dessen Darstellung ihr liegt, durch sich auszudrücken instande ist. Das ist die symbolisierende Tätigkeit der Phantasie.« Freud (Anm. 3), S. 104f.
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der Traum [...] nicht sinnlos, nicht absurd, setzt nicht voraus, daß ein Teil unseres Vorstellungsschatzes schläft, während ein anderer zu erwachen beginnt. Er ist ein vollgültiges psychisches Phänomen, und zwar eine Wunscherfüllung [...].25
Mit diesem Schritt integriert der Autor bislang ausgeschlossene psychische Funktionen in einen erweiterten Subjektbegriff.26 Dies und nicht — wie mancherorts angenommen - die eigentliche >Entdeckung< des Unbewußten ist die große Innovationsleistung der Freudschen Traumdeutung?·1 Unter Aufhebung der bisherigen Gren2en zwischen >bewußt< und >unbewußtrational< und «rational·, >krank< und >gesund< begreift sein Ansatz die menschliche Seele als szenisch-relationales Gebilde von darstellenden und zur Darstellung drängenden Kräften.28 Zurecht legt Freud also Wert darauf, den Sinn, der »dem Ausdruck >Unbewußtes< in der Psychoanalyse, nur in der Psychoanalyse zukommt«,29 vom Verständnis seiner Vorgänger klar abzusetzen.
3.1.2. Theaterbegriffe in der philosophischen und naturwissenschaftlichen Traumlehre des 19. Jahrhunderts Schon lange vor dem epochalen Werk Freuds zeigt sich das 19. Jahrhundert fasziniert vom Traum.30 Eine Vielzahl von wissenschaftlichen und philosophischen Abhandlungen zum Thema entsteht in diesem Zeitraum. In ihren Erklärungsmustern lösen sich diese von der seit der Antike tradierten und in der Romantik wiederbelebten Vorstellung, der Ursprung der Träume sei seiner Qualität nach außer- oder übermenschlich. Als Pionier des modernen Traum-Verständnisses gilt Arthur Schopenhauer, von dem die »wohl einflußreichste philosophische Widerlegung der Auffassung, im Traum äußere sich göttliche Vorsehung, stammt«.31 Ihm zufolge hat »die >geheime Machfc, die die Träume lenkt, ihre >Wurzel in der Tiefe unseres
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Freud (Anm. 3), S. 141. Das Unbewußte bezeichnet Freud als »das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.« Freud (Anm. 3), S. 580. Zu der jahrhundertelangen Vorgeschichte des Begriffs des >Unbewußten< vergleiche Henry F. Ellenberger: Die Fintdeckung des Unbewußten. 2 Bde. Bern 1973. Der Gegensatz zwischen >krank< und >gesund< wird im Zuge seiner Beschäftigung mit dem Traum für Freud allgemein in einer gleitenden Indifferenz aufgehen: »Die Grenze aber zwischen den normal und krankhaft benannten Seelenzuständen ist zum Teil eine konventionelle, zum anderen eine so fließende, daß wahrscheinlich jeder von uns sie im Laufe eines Tages mehrmals überschreitet.« Freud (Anm. 6), S. 36. Sigmund Freud: Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse (Anm. 3), S. 430. Freud kann in dem Forschungsüberblick, mit dem er die Traumdeutung eröffnet, auf eine Unzahl von Autoren verweisen, die meisten von ihnen Zeugen des 19. Jahrhunderts. Das Literaturverzeichnis bis zum Erscheinen der 1. Auflage (1900) nennt über 200 einschlägige Autoren, vielfach mit mehreren Titelangaben. Michaela Perlmann: Der Traum in der literarischen Moderne. München 1987, S. 47.
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eigenen unergründlichen Wesens.«Realität< ein falscher Schein, der jenen transzendentalen >WeltwillenLeibreiztheorieDramatisierung< stehen.
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Wie Fischer-lichte darlegt, erhebt zeitgleich mit Bahr z.B. der Dramatiker Chechov den Traum zum ästhetischen Programm. In seiner >Möwe< läßt er einen jungen Künstler auftreten, der es sich zum Ziel gesetzt hat, seine Kunst einem Traum ähnlich werden zu lassen: »>Wir brauchen neue Formen, und wenn es sie nicht gibt, brauchen wir besser gar nichts.< Denn nur mit neuen Formen wird es möglich, >das lieben nicht darzustellen wie es ist, und nicht, wie es sein soll, sondern so, wie es uns im Traum erscheint.< (1. Akt) Treplev hat offenbar den lihrgeiz, in der Kunst eine Revolte herbeizuführen und an die Stelle realistischer Kunst eine neue, nicht mehr am wirklichen Leben, sondern am Traum orientierte Kunst zu setzen.« Frika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, Bd. 2. Von der Romantik bis zur Gegenwart. Tübingen 1990, S. 151. Das Stück wurde 1896 uraufgeführt und war 1898 in der Regie Stanislavskijs ein gefeierter Iirfolg. Weitere Beispiele folgen an entsprechender Stelle. In seiner Beethovenschrift (Bericht über die Aufführung der 9. Symphonie) schildert Wagner die für das von ihm anvisierte ideale Musiktheater gültigen Wahrnehmungsgesetze programmatisch als nach der »Analogie des 'Träumens und somnambulen Hellsehens.« gestaltet. Vgl. Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee - Dichtung - Wirkung. Stuttgart 1982, S. 108. Vgl. auch Wsewolod Meyerhold (Naturalistisches Theater und 'Theater szenischer Stimmung, 1907): »Das Naturalistische 'Theater spricht dem Zuschauer offensichtlich die Fähigkeit ab, weiterzuzeichnen und weiter^uträumen, wie er es beim Anhören von Musik tut. Das Bestreben, auf jeden Fall alles zeigen zu wollen, die Angst vor dem Verborgenen und dem Unausgesprochenen machen das Theater zu einer Illustration des 'Textes. [...] Was für einen Findruck macht das auf den Zuschauer? Der Zuschauer besitzt die Fähigkeit, Angedeutetes durch seine Vorstellung zu ergänzen. Vielen gefallt im Theater gerade dieses Geheimnis und der Wunsch es zu lösen.« Zitiert nach IngeZeppenfeld: Anti-illusionistische Spielräume. Tübingen 1998, S. 35 [Ilerv. B. C.|.
3.2.
Ist der Traum dramatisch? Von der lyrischen Form< zur >Dramatisierung
Verdichtung< und der verfremdenden >Verschiebung< konstituiert die >Dramatisierung< die bildlich-verschlüsselte Darstellung, die der unbewußt latente Trauminhalt im manifesten Traum erfährt. Sie gibt diesem seine szenische Form, die es dem Träumer edaubt, längst Vergangenes oder lang Ersehntes scheinbar (wieder) zu edeben.73 Erst dieser Vorgang ermöglicht die regressive Wunscherfullung durch den Traum, der sich auch beschreiben piesse] als der durch Übertragung auf Rezentes veränderte Ersatz der infantilen Szene. Die Infantilszene kann ihre Erneuerung nicht durchsetzen; sie muß sich mit der Wiederkehr als Traum begnügen. 74
Das dramatische Sinnbild wird die Theorie auch in den folgenden Jahren prägen: Noch in den von 1915—16 gehaltenen Vorlesungen %ur Einführung in die Psychoanalyse bleibt Freud im bewährten metaphorischen Rahmen, wenn er erklärt, es kommt das eigene Ich in jedem Traum vor und spielt in jedem die Hauptrolle, auch wenn es sich für den manifesten Inhalt gut zu verbergen weiß. 7 '
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Sigmund Freud: Über den Traum. In: Ders.: Gesammelte Werke, hrsg. v. Anna Freud (u.a.). Zweiter und Dritter Bd.; lxindon 1942, S. 645-700, hier S. 666. Ebd. Ebd. Vgl.: »Ein Gedanke, in der Regel der gewünschte wird im Traume objektiviert, als Szene dargestellt oder, wie wir meinen, erlebt.« Freud (Anm. 3), S. 511. Freud (Anm. 3), S. 522. F'reud bezieht sich in seiner Wunscherfüllungs-Theorie ausdrücklich auf Hildebrandt, der geschrieben hatte: »>Es läßt sich nämlich keine Traumtat denken, deren erstes Motiv nicht irgendwie als Wunsch, Gelüste, Regung vorher durch die Seele des Wachenden gezogen wäre.< Von dieser ersten Regung müsse man sagen: Der Traum erfand es nicht — er bildete es nur nach und spann's nur aus, er bearbeitete nur ein Quendein historischen Stoffes, das er bei uns vorgefunden hatte, in dramatischer Form; er setzte das Wort des Apostels in Statte. >Wer seinen Bruder haßt, der ist ein Totschlägern« Freud (Anm. 3), S. 91 f. [Herv. B.C.]. Die Sätze, die Freud in indirekter Rede zitiert, sind, vom Verbmodus abgesehen, wortwörtlich aus Hildebrandts Schrift übernommen. Freud (Anm. 3), S. 143. 121
Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Psychoanalyse dieser Metaphorik bedient, wirkt frappierend, betrachtet man sie vor ihrem begriffshistorischen Hintergrund. Der - von Freud grundsätzlich sehr geschätzte - Traumphilosoph Johannes Volkelt etwa hatte es noch ausdrücklich und entschieden abgelehnt,76 die Traumstruktur mit der poetischen Gattung des Dramas auch nur in Verbindung zu bringen. Er war der Ansicht: Der ästhetische Wert des Traumes liegt dem lyrischen Klemcnte desselben.77
nicht in dem dramatischen, sondern in
Die hergebrachten Gattungsnormen lassen dem späteren Autor einer Ästhetik des Tragischen Traum und Drama als unvergleichbare Größen erscheinen.78 Seit Aristoteles in seiner Poetik das Drama als Nachahmung sich betätigender Menschen definiert 79 und die Geschlossenheit der Handlung80 zum Prüfstein der Gattung erhoben hatte, war diese Norm weitgehend als bindend akzeptiert worden. 81 Johannes Volkelt gehört zu ihren treuesten Verfechtern. Die konservative Beharrlichkeit, mit der er das aristotelische Dramenideal verteidigt, wird in seiner scharfen Kritik gegenüber der literarischen Reform des Naturalismus virulent.82 Implizit zeichnet sich seine ablehnende Haltung bereits in seiner Traumlehre ab, in der er konstatiert:
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Vgl.: »Das Buch Scherncrs, in einem schwülen und schwülstigen Stil geschrieben, von einer nahezu trunkenen Begeisterung für den Gegenstand getragen, die abstoßend wirken muß, (...) setzt einer Analyse solche Schwierigkeiten entgegen, daß wir bereitwillig nach der klareren und kürzeren Darstellung greifen, in welcher der Philosoph Volkelt die Ixhren Schemers uns vorführt.« I'reud (Anm. 3), S. 104f. Volkelt (Anm. 34), S. 189. Vgl. Johannes Volkelt: Ästhetik des Tragischen. München 1897. Vgl.: »Daher werden wie einige meinen, ihre [Aristophanes', Sophokles'| Werke >Dramen< genannt: sie ahmen ja sich Betätigende (drontes, von dran) nach.« Aristoteles: I'oetik. Übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 9f. Vgl.: »Handlung* als Übersetzung von mythos bzw. fabuta meint [...] nicht die kurzfristige Aktion einer Person, sondern eine ganze Kette von Begebenheiten, an denen meist mehrere Personen beteiligt sind. Aristoteles (Kap. 6) definiert diese Gesamthandlung |mythos] als eine >synthesis |auch: systasis] ton pragmätoneine Verknüpfung von Begebenheiten pressing, I lamburg. Dramaturgie, 38. Stück] oder, wie Gigon übersetzt, eine Zusammensetzung der I landlungen.« Bernd Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. Dritte, durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 1990, S. 5. Peter Szondi zeigt, daß das >klassische Drama< noch bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts sowohl Norm als auch Realität der dramatischen Literatur dargestellt hatte. Iirst mit der Entstehung der modernen Dramatik beginnt sich gegen Endes des Jahrhunderts diese Orientierung zu verändern. Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt a. M. 1965, S. 14-21. Vgl.: »Es war die Polemik des Naturalismus gegen die klassische Tradition, seit K. Bleibtreus Programmschrift von 1886 als Revolution der Literatur von den Jüngstdeutschen selbst hochgespielt, die J. Volkelt in seiner Aufsatzreihe Dichtung und Wahrheit zum Anlaß nahm, um den Tendenzcharakter des Naturalismus zu beweisen. Wichtiger aber noch waren Volkelts Vorträge %ur Einführung in die Philosophie der Gegenwart und die Schrift Ästhetische Zeitfragen, in denen er sich als einer der profiliertesten Vertreter einer antisozialistischen und antinaturalistischen Kampagne erwies, der den Rednern der konservativen Parteien in der Umsturzdebatte die Argumente vorgab, die den Naturalismus als literarischen Anarchismus diskreditieren
Dramatischer Aufbau und Abschluß wird sich wohl nur höchst selten in einem Traume finden,83 denn das Nacheinander der Handlung und die Vielseitigkeit ganzer Situationen kommen der zerflackernden, davon eilenden Traumphantasie viel zu günstig entgegen, als daß, diesem verstärkten Wirken des Losen und Ungebundenen zum Trotze, eine harmonische Einheit durch das Traumganze fest und sicher durchgreifen könnte. 84
Stattdessen ordnet er den Traum seiner rein subjektiven Prägung wegen ästhetisch der lyrischen Gattung zu.85 Volkelt befindet sich mit seiner Argumentation in zweiedei Hinsicht in Übereinstimmung mit der Tradition: Zum ersten reproduziert er mit der Zuordnung des Traums zum Bereich der Lyrik die metaphysisch fundierte Verwandtschaft, welche die frühromantische Poetologie zwischen Traum und Gedicht herstellt. Mit Schuberts Symbolik des Traumes versteht sie diesen in Analogie zur lyrischen Kunstsprache als Medium eines verlorenen Idealzustands.86 Zum zweiten bestätigt Volkelts Ablehnung der Vergleichbarkeit von Drama und Traum den klassizistischen Idealtyp des Dramas. Mit der aristotelischen Forderung »Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung«87 läßt sich der Traum, dessen ästhetische|r] Werth [...] gerade in dem Mangel jeder festen Grenze und bestimmten Zusammenfassung in sich selbst, in dem Fehlen jedes sicheren Woher und Wohin, in dem unbestimmten Anheben und ebenso unbestimmten Austönen 88
liegt, tatsächlich nicht vereinbaren.89 Indes hat auch Freud keinen Zweifel am Fehlen eines geschlossenen Handlungsablaufes innerhalb des Traumgeschehens gelassen. Im Gegenteil hat er die äußere Heterogenität der einzelnen Traumelemente an verschiedenen Stellen ausdrücklich betont, wie etwa dort, wo er das Gefuge seiner Darstellung mit einem zerbröckelnden Eisblock gleichsetzt.90 Die Feststellung eines uneinheitlichen Traumvedaufs ist den
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sollten.« Manfred Brauneck: Literatur und Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert. Studien zur Rezeption des naturalistischen Theaters in Deutschland. Stuttgart 1974, S. 87. Volkelt (Anm. 34), S. 183. Ebd. »Dagegen liegt es in der Natur der Sache, daß die lyrischen Dichter ihre Gefühle mit Vorliebe in die Horm des Traumes kleiden.« Volkelt (Anm. 34), S. 189. Vgl. Gotthilf Heinrich Schubert: Die Symbolik des Traumes. Bamberg 1814. Der poetologische Zusammenhang ist erläutert in: Louis Wiesman: Die Wiederentdekkung des Traums in der Romantik. In: Wagner-Simon/Benedetti: Traum und Träumen, S. 102-112. Aristoteles (Anm. 79), S. 25. Volkelt (Anm. 34), S. 185. Entsprechend beklagt auch der wie Volkelt ästhetisch interessierte Traumphilosoph Hildebrandt, daß »die willkürlichsten Verstöße gegen die dramatische Einheit des Ortes dem Traume ganz geläufig sind.« Hildebrandt (Anm. 38), S. 53f. Vgl.: »Die wesentlichen Traumgedanken [...] enthüllen sich zumeist als ein Komplex von Gedanken und Erinnerungen vom allerverwickeltsten Aufbau [...]. Nicht selten sind es Gedankenzüge, die von mehr als einem Zentrum ausgehen, aber der Berührungspunkte nicht entbehren; fast regelmäßig steht neben einem Gedankengang
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Autoren Volkelt und Freud demnach gemeinsam. Wie kommt es also dazu, daß Freud den dramatischen Gattungsbegriff auf dieses handlungsmäßig zerfallende, nurmehr durch assoziativ-symbolische Verbindungen zusammengehaltene Gebilde ganz problemlos anwendet? Es wird zu zeigen sein, daß der Metapher bei Freud ein grundsätzlich anderes Verständnis des Dramatischen zugrundeliegt, als dies in ihrer Verwendung durch den am klassizistischen Literaturbegriff orientierten Johannes Volkelt der Fall war.91 Den Ausdruck »Dramatisierung* hat Freud im Grundlagenwerk des Mediziners Heinrich Spitta vorgefunden. 92 In Die Schlaf und Traum^ustände der Seele hatte dieser - nicht ohne vorsichtige Einschränkung - festgestellt:
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sein kontradiktorisches Widerspiel, durch Kontrastassoziationen mit ihm verbunden. Die einzelnen Stücke dieses komplizierten Gebildes stehen naturlich in den mannigfaltigsten logischen Relationen zueinander. Sie bilden Vorder- und Hintergrund, Abschweifungen und Erläuterungen, Bedingungen, Beweisgänge und Einsprüche. Wenn dann die ganze Masse dieser Traumgedanken der Pressung der Traumarbeit unterliegt, wobei die Stücke gedreht, zerbröckelt und zusammengeschoben werden, etwa wie treibendes Eis, so entsteht die Frage, was aus den logischen Banden wird, welche bis dahin das Gefüge gebildet hatten...«, Freud (Anm. 3), S. 310. Interessanterweise hat die zu beschreibende Abkehr vom regelpoetischcn Paradigma ihre Entsprechung auch auf dem Gebiet der f lystcrielehre: Noch Charcot rühmte die Anfälle seiner Kranken, die er gerne auch in »Acte« einteilte (vgl. JeanMartin Charcot: Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, insbesondere der Hysterie. Autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Sigmund Freud, Wien 1886, S. 232) ob ihrer klassischen Regelmäßigkeit, vgl. die folgende Beschreibung eines seiner wenigen männlichen Patienten: »Sie [die Photographien! zeigen uns, dass die Anfälle bei G..., was die Regelmäßigkeit der einzelnen Perioden und den typischen Charakter der einzelnen Stellungen anbelangt, nicht im Geringsten hinter jenen zurückstehen, die wir täglich an unseren classischsten I Iysteroepileptischen weiblichen Geschlechts zu beobachten Gelegenheit haben, und diese Ähnlichkeit verdient umsomehr hervorgehoben zu werden, als G... niemals in den Krankensaal, wo unsere >femmes en attaques< untergebracht sind, gedrungen ist, man sich also bei ihm nicht auf den Einfluss der Nachahmung, dieser Art von psychischem Contagium berufen kann.« Charcot (Anm. 91), S. 223. l'reud und Breuer setzen dieser >aristotelischen< Regelmäßigkeit eine Symptomlehre entgegen, die das Unbewußte und die individuelle Symbolisicrung als >dramatisierendc< Kräfte in den I'ocus des Interesses treten läßt. Die Logik des Unbewußten setzt sich in ihren Anfallsschilderungen der aristotelischen Dramaturgie entgegen, vgl.: Freuds Patientin Emmy ν. Ν. gibt in der Hypnose die folgende Aufklärung über einen bestimmten, ticartig wiederholten Ausspruch ihrerseits: »die Mahnung >Rühren Sie mich nicht an< komme von folgenden Erlebnissen: Wie ihr Bruder vom vielen Morphin so krank war und so gräßliche Anfälle hatte |mit 19 Jahren), habe er sie oft plötzlich angepackt; dann sei einmal ein Bekannter in ihrem I lause plötzlich wahnsinnig geworden und habe sie am Arme gefaßt; [ein dritter, ähnlicher Fall, an den sie sich nicht genauer besinnt] und endlich, wie ihre Kleine so krank gewesen [mit 28 Jahren], habe sie sie im Delirium so heftig gepackt, daß sie fast erstickt wäre. Diese 4 Fälle hat sie - trol^ der großen Zeitdifferen^en — in einem Sat^e und so rasch hintereinander erzählt, als ob sie ein einzelnes Ereignis in 4 Akten bilden würden.«. Breuer/Freud (Anm. 3), S. 75. (Herv. B.C.). Vgl.: »Die Verwandlung der Vorstellung in Halluzination ist nicht die einzige Abweichung des Traumes von einem etwa ihm entsprechenden Wachgedanken. Aus diesen Bildern gestaltet der Traum eine Situation, er stellt etwas als gegenwärtig dar,
D e r Traum ist gewissermaßen eine Dramatisierung rein subjektiver Vorstellungen und Empfindungen der Seele während des S c h l a f s . "
Allerdings hat noch Spitta, »der abzunehmen schien, daß wir überhaupt erst bei dem Versuch, den Traum zu reproduzieren, die Ordnung in die lose miteinander assoziierten Traumelemente einfuhren - >aus dem Nebeneinander ein Hintereinander, Auseinander machen, also den Prozeß der logischen Verbindung, der im Traum fehlt, hinzufügend, 94 diesen Begriff allein auf einzelne Elemente (Vorstellungen und Empfindungen) des nach wie vor unzusammenhängenden Traumganzen anwenden wollen. Einen zusammenhangenden Aufbau des Traums hat erst Freud beschrieben. So gliedert er z.B. den Traum einer Patientin in folgende dramaturgische Einheiten: »Er bestand aus einem kurzen Vorspiel und einem sehr weidäufigen Traumstück«.95 Doch ist dieser Zusammenhang nicht länger durch den literarischen Handlungsaufbau gegeben. Die »logische Verbindung«96 der einzelnen Traumszenen, deren Fehlen seine Vorgänger bemängelten, stellt Freud mittels des symbolischen Bezuges, in dem die Traumbilder zum Unbewußten des Träumers stehen, her. Der Traum wird für Freud zur »Inszenierung eines Gedankengewebes«.97 Sein Traumtheater, in dem bekanntlich >das eigene Ich die Hauptrolle< spielt, nähert sich metaphorisch nicht dem klassischen, sondern einem gerade erst entstandenen Dramenbegriff an. Dieser setzt sich ungefähr zeitgleich auch in der Schauspielliteratur selbst durch. Es findet nämlich um die Jahrhundertwende ein literarischer Wandel statt, der das bisherige ästhetische Konzept des Dramas hinsichtlich der Kontinuität von Handlung aufbricht, und dadurch mit der Freudschen >Traumdramaturgie< vergleichbar ist. Als Entwicklung zur »Ich-Dramatik« hat Peter Szondi die zunehmende Subjektivierung der Handlung bezeichnet, von der er das moderne Drama beginnend mit den frühen Stücken Strindbergs ergriffen sieht.98 Gegen die modernen Anfechtungen, denen sich die »klassische Dramaturgie< zur Entstehungszeit der Traumdeutung ausgesetzt sieht, zieht der Autor eines entsprechenden Artikels in Spemanns goldenem Buch des Theaters, einem ebenso populären wie konservativen Handbuch aus dem Jahr 1902, zu Felde. Rudolf Hessen hält gewissen Strömungen seiner Zeit trotzig entgegen,
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er dramatisiert [kursiv im Original] eine Idee, wie Spitta [...] sich ausdrückt. Die Charakteristik dieser Seite des Traumlebens wird aber erst vollständig, wenn man hinzunimmt, daß man beim Träumen [...] nicht zu denken, sondern zu erleben vermeint, die Situation also mit vollem Glauben aufnimmt. Die Kritik, man habe nichts erlebt, sondern nur in eigentümlicher Form gedacht - geträumt - , regt sich erst beim Erwachen.« Freud (Anm. 3), S. 74. Spitta (Anm. 49), S. 1 1 1 . Freud (Anm. 3), S. 7 1 . Ebd., S. 3 1 3 . Ebd., S. 7 1 . Freud (Anm. 6), S. 49. Vgl. Szondi (Anm. 81), S. 40f. Als erstes Beispiel f ü r diesen Strukturwandel analysiert Szondi bereits das frühe Drama Oer Vater (1887).
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daß ein gesundes Publikum sich [...] auf Dauer niemals begnügen wird, mit der Abschilderung von bloß Xuständlichem vorlieb zu nehmen. Jene alte Forderung nach Handlung kehrt also wieder. Iis mag vorkommen, daß ein weltstädtisches Literatcntum, übersättigt von dem Anschauen durchsichtiger Intriguen und der Mechanik dieser Verwicklungen müde, in einen derartigen Stoffhunger verfällt, daß für ganze Jahre das ausgesprochen Undramatische auf der Bühne sich durchzusetzen vermag, bis der Ausklang eines einzigen lyrischen Akkordes für einen ganzen Akt als genügend und lohnend angesehen wird. Mögen überzeugte Sonderlinge prahlerisch damit umgehen, dem Drama das Dramatische austreiben zu wollen: das deutsche Publikum im großen Ganzen wird sich durch dieses dialektische Lallen niemals in seiner Vorliebe für die Abwickelung inhaltsreicher Schicksale voller Spannung und Fntschlußkraft beirren lassen.'-,'·,
Die Ablösung des Dramatischen vom Kriterium der Handlung, gegen die der Autor anschreibt, hat sich seinerzeit längst vollzogen. Stattdessen ist die fortschreitende Subjektivierung des Geschehens unübersehbar geworden. Die Schauspielliteratur entwickelt sich zur Entstehungszeit der Traumdeutung in eine ähnliche Richtung, wie Freud sie mit seinem Traumtheater einschlägt. Diese Tendenz soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit anhand von lyrischen und analytischen Dramenformen der Jahrhundertwende sowie von innovativen theatralen Figuren- und Geschichtskonzepten dieser Zeit nachvollzogen werden. Doch bildet die Vedagerung des bedeutungskonstituierenden Zusammenhangs von der äußeren Handlung ins Subjektive nur einen von zwei Aspekten, in denen Freuds Modell dem zeitgenössischen Diskurs um das >Drama< folgt. Der zweite betrifft die zur Entstehungszeit der Traumdeutung bereits erfolgte Umdeutung des >Dramatischen< im Sinne von >theatralElemente der Psychophysik.< Er meint, weder die einfache I lerabdrückung des bewußten Seelenlebens unter die Hauptschwelle< noch die Abziehung der Aufmerksamkeit von den Einflüssen der Außenwelt genüge, um die Eigentümlichkeiten des Traumlebens dem wachen I .eben gegenüber aufzuklären. Er vermutet vielmehr, daß auch der Schauplatz der Träume ein anderer ist als der des wachen Vorstellungslebens.106 Doch wird er den Begriff, den Fechner - befangen in der >Hirnmythologie< seiner Zeit — noch im wörtlich anatomischen Sinne als eine bestimmte Region des Nervenzentrums aufgefaßt hatte, wesentlich modifizieren. 107 Freud übernimmt den Begriff jenseits seiner ursprünglichen physiologischen Bedeutimg, aufgrund der Anschaulichkeit, die das Bild auch innerhalb eines theoretisch grundlegend gewandelten Kontexts besitzt. Der bei
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Kristeva (Anm. 57), S. 3. Die Psychophysik Gustav Theodor Fechners (1801-1887), die Freud hier zitiert, war ohne Zweifel von großem Einfluß für die Psychoanalyse, wie für die gesamte wissenschaftliche Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Vgl.: »Fechners Einfluß auf die Psychoanalyse wird daran deutlich, daß Freud ihn in der Traumdeutung, in Der Wit%_ und seine Begehung %um Unbewußten und in Jenseits des Tustprin^ips zitiert Ein Großteil des theoretischen Gerüsts der Psychoanalyse wäre ohne die Spekulationen des Mannes, den Freud den >großen Fechner< nannte, wohl kaum zustandegekommen.« Ellenberger (Anm. 27), Bd. 1, S. 309. Bei Fechners Psychophysik, durch die er zum Vorbild der modernen Experimentalpsychologie avancierte (vgl. Wilhelm Wundt: Gustav Theodor Fechner. Rede zur Feier seines hundertjährigen Geburtstages. Leipzig 1901), handelt es sich um den Versuch, die Existenz einer mathematischen Formel zu belegen, dem sogenannten >psychophysischen Gesetze Fechner formuliert eine Theorie der geistigen Energie, die mehr oder weniger den physikalischen Energietheorien nachgebildet ist. Im Bezug auf physikalische Vorstellungsmodelle, etwa auf das Bild einer Amplitude, ist denn auch der optische Begriff >Schauplatz< bei Fechner zu verstehen. Seelische Vorgänge, also auch Träume, begreift er als Korrelat einer Welle von Erregung, die sich innerhalb des Nervensystems entlädt. Die bei Freud erwähnte Passage der >Psychophysik< stellt einen Versuch zur Lokalisation dieses Vorgangs innerhalb eines physiologischen Systems dar: »Ich vermuthe, daß auch der Schauplatz der Träume ein anderer, als der des wahren Vorstellungslebens ist, bei sehr lebhaften Träumen aber entsprechende Rißexe in die Sphäre der Sinnes- und bervegungsthätigkeit erfolgen, als dies bei lebhaften Vorstellungen im Wachen der Fall ist.« Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik. Zweiter Teil. Leipzig 1860, S. 520 [Herv. B.C.]. Freud (Anm. 3), S. 72 (Herv. B.C.j. psychologische Prämissen unterscheiden sich eindeutig von den psychophysischen Fechners. Betont er doch nachdrücklich, »daß Vorstellungen, Gedanken, psychische Gebilde im allgemeinen überhaupt nicht in organischen Elementen des Nervensystems lokalisiert werden dürfen.« Freud (Anm. 3), S. 512.
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Fechner physiologisch bestimmte >andere Schauplatz der Träume< wird bei Freud zu einer psychologischen Metapher: Die Idee, die uns so zur Verfügung gestellt wird, ist die einer psychischen Lokalität. Wir wollen ganz beiseite lassen, daß der seelische Apparat, um den es sich hier handelt, uns auch als anatomisches Präparat bekannt ist, und wollen der Versuchung sorgfältig aus dem Weg gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen. 108
Als Metapher vermag der >andere Schauplatz der Träume< nun zu verdeutlichen, auf welchen Aspekt der Bühne hin das Freudsche Traumtheater fokussiert ist: Auf den visuellen Charakter der Traumszene. Vor anderen psychischen Produkten zeichnet sich der Traum dadurch aus, »daß der Vorstellungsinhalt nicht gedacht, sondern in sinnliche Bilder verwandelt wird«.109 Im Medium der szenischen Darstellung kann die bisher unbewußte Erinnerung zu ihrem Ausdruck kommen. In der >Dramatisierung< - >der Verwandlung eines [unbewußten] Gedankens in eine Situation< — vollzieht sich die szenische Umsetzung normalsprachlich nicht faßbarer Ereignisse aus einer verschütteten Vorzeit des Individuums. Der hier implizierte Dramenbegriff weist über die literarische Beschränkung, die ihm noch bei Vokelt anhängt, weit hinaus. Sein szenisches Neuverständnis bei Freud verdankt sich einem grundlegenden Begriffswandel, der sich in der zweiten Jahrhundertwende Bahn bricht. Seinen Ausgang nimmt er in den theatertheoretischen Schriften Richard Wagners, in denen dieser - so Hans-Peter Bayerdörfer — das »Dramatische umdefiniert und als eigentlich >musikdramatisch< ausgegeben hat«.110 Danach »stellen sich neue Ansprüche an das Theater, die mit dem Begriff >Gesamtkunstwerk< nur oberflächlich bezeichnet sind, die aber dazu führen, daß sich in der Folgezeit das Theater selbst immer weniger literarisch, als >Erfüllungsgehilfe< des Dramas verstehen kann — auch wo es sich dezidiert zur Weitergeltung der Sprechbühne bekennt«.111 Angesichts der geschilderten Differenz der psychoanalytischen Dramenmetapher zu ihrer bisherigen literarischen Fesdegung und der Neudefinition der >Dramatisierung< als >szenische Umsetzung< liegt die Vermutung nahe, der durch Wagner induzierte Wandel des Begriffs des Dramatischen habe auch in
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Ebd., S. 512. Ebd., S. 511. Das >Denken in Bildern< ist laut l'reud das entwicklungsgeschichtlich primäre System, dem von daher eine vorrangige Rolle innerhalb der menschlichen I'sychc zukommt: »Bei der Traumarbeit handelt es sich offenbar darum, die in Worte gefaßten latenten Gedanken in sinnliche Bilder, meist visueller Natur, umzusetzen. Nun sind unsere Gedanken aus solchen Sinnesbildern hervorgegangen; ihr erstes Material und ihre Vorstufen waren Sinneseindrücke, richtiger gesagt, die Krinnerungseindrücke von solchen. An diese wurden erst später Worte geknüpft und diese an Gedanken gebunden.« Freud (Anm. 3), S. 183. Hans-Peter Bayerdörfer: Regie und Interpretation oder Bühne und Drama. Fußnoten zu einem unerschöpflichen Thema. In: Helmut Kreutzer und Dieter /werlin (Hrsg.): Literatur - Theater - Museum. Acta Ising 1986. München 1987, S. 1 1 8 143, hierS. 119. Bayerdörfer (Anm. 110), S. 119.
der Analogie von Traum und Drama, die Freud in Differenz zu seinen Vorgängern herstellt, seine Spuren hinterlassen. Ein eingehender Vergleich der Dramentheorie Wagners mit der Auffassung Freuds wird diese These bestätigen. Daß Freuds Theoriefindung durch Richard Wagner beeinflußt wurde, deutet er selbst in einem Brief an Wilhelm Fließ vom 12.12.1897 an. Er erwähnt hier die in den Meistersingern proklamierte >TraumdeutweiseMein Freund, das grad' ist Dichters Werk, / dass er sein Träumen deut' und merk'. / Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn / wird ihm im Traume aufgethan: / All Dichtkunst und Poeterei / ist nichts als Wahrtraumdeuterei.< Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künsder ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poesie. 113
Die mit den Namen Wagner, Nietzsche, Freud umrissenen Zusammenhänge zwischen der Theorie des Dramas, der Psychoanalyse und der symbolischen Szenographie der Jahrhundertwende sollen im Verlauf dieser Arbeit eingehend dargestellt werden.114 Die literarischen und begriffsgeschichtlichen Metamorphosen des Dramatischen werden nicht ohne Folgen auch für die weitere psychoanalytische Metaphernbildung bleiben. Dem Freud-Schüler Karl Abraham ist im Jahre 1909 die Analogie zwischen Drama und Traum bereits so selbstverständlich, daß er die dramatische Gestaltung des Traumes zu dessen Erkennungszeichen gegenüber ähnlichen unbewußten Produktionen erhebt. Einen Vergleich zwischen Traum und Mythos beendet er mit dem Fazit: »Freilich besteht ein Unterschied: der Traum dramatisiert, während der Mythus die Gestalt eines Epos trägt«.115 In Abrahams Urteil kommt eine Parallelentwicklung zu ihrem 112 113
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Sigmund Freuds Briefe an Wilhelm Fließ. Ungekürzte Ausgabe, hrsg. v. Jeffrey Moussaieff Masson. Frankfurt a. M. 1986, S. 312. Friedrich Nietzsche: Geburt der Tragödie. Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München u.a. 1988, S. 26. Schon Herbert Silberer wollte in den erwähnten Meistersinger-Weisen eine Vorform der psychoanalytischen Traumlchre entdeckt haben. Er hat deswegen in Wagner einen »Pfadfinder der Psychoanalyse« gesehen. Herbert Silberer: Vorläufer Freudscher Gedanken. In: Zentralblatt für Psychoanalyse I. Wiesbaden 1911, S. 441^149, hier S. 446. Karl Abraham: Traum und Mythus. In: Johannes Cremerius (Hrsg.): Psychoanalytische Studien. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1971, S. 261-323, hier S. 306. Vgl. auch Otto Rank: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. 2. Auflage. Ixipzig, Wien 1926, S. 15: »Der Traum ist mit dem Kunstwerk, insbesondere dem dramatischen, nicht bloß
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Ende, deren Ursprung und Geschichte auf den folgenden Seiten nachzugehen ist.
3.3.
Dramatisierung und Begriffsgeschichte: W a n d e l des D r a m e n b e g r i f f s i m 19. J a h r h u n d e r t
3.3.1.
Das (Musik)Drama Wagners
D e r K o m p o n i s t und Dichter Richard W a g n e r hat neben einem reichhaltigen O p e r n w e r k eine Vielzahl kunsttheoretischer Schriften hinterlassen. D i e Erneuerung der Bühne, u m die er sich darin bemüht, läßt sich v o r allem als Wiederentdeckung des theatralen Zusammenspiels aller K ü n s t e in der A u f f ü h rung verstehen. D e r Begriff Musikdrama — häufig auch nur D r a m a — wird bei ihm z u m S y n o n y m f ü r das ideale Theaterkunstwerk, dem der R e f o r m e r , geprägt v o n Schopenhauers ästhetischer Heilslehre, 1 1 6 nahezu kultischen Rang zusprach. D e r folgende Abschnitt wird inhaltliche und wirkungsgeschichtliche Schwerpunkte der Wagnerianischen Neudefinition des Dramas darstellen. Dabei werden auch strukturelle Parallelen zwischen der theaterästhetischen Neufassung und der psychoanalytischen A d a p t i o n des Begriffes einsichtig w e r d e n . 1 1 7 V o r allem die szenischen, symbolischen, mythologischen und tie-
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äußerlich verwandt, sondern diese Beziehung entstammt selbst wieder einer tiefen psychologischen Wesenseinheit beider Produktionen, deren psychische Triebkraft sowie das wesentliche Material und nicht zuletzt auch die Mechanismen ihrer Entstehung und Gestaltung dem Unbewußten angehören.« Laut Schopenhauer ist in der Kunst (vorübergehende) Krlösung von der ewig unbefriedigten Begierde zu finden, die - seiner pessimistischen Philosophie zufolge - als >Urschmerz< aus der Unendlichkeit des Willens resultiert. Nur »wenn wir in der Betrachtung der Kunst uns dem Sklavendienste des Willens entreißen, dann tritt auf einmal jener schmerzlose, überirdische Zustand des Gemüts ein, den F'pikur als den Zustand der (Jotter pries.« Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. 13. überarbeitete und erweiterte Auflage. Frankfurt a. M. 1987, S. 512. Der Musik kommt innerhalb der Künste eine Sonderstellung zu: »Wir erkennen in ihr nicht die Nachbildung einer Idee, wie in den anderen Künsten. Die Musik ist das unmittelbare Abbild des Willens selbst und damit des Wesens der Welt. Unser Wille strebt, wird befriedigt und eilt weiter, So ist die Melodie ein stetes Abirren vom Grundton, entsprechend dem vielgestaltigen Streben des Willens, und ein endliches Rückkehren zu diesem, zur Harmonie, zur Befriedung«. Kbd. Wagner beruft sich in seinen kunsttheoretischen Schriften ausdrücklich auf Schopenhauer. Auch dem Asthetizismus der Jahrhundertwende liegt Schopenhauers »ästhetische|r| Weg zur Krlösung« [Kbd., S. 512) implizit zugrunde, ist doch auch Nietzsches Tragödienchrift als Frgebnis seiner Schopenhauer-Studien zu sehen. Vgl. ebd., S. 523f. Zum Zeitpunkt der Publikation der Traumdeutung ist Wagners Dramenbegriff längst ins Allgemeinwissen übergegangen. Vgl. die folgende Passage, die einem populären Handbuch dieser Zeit entnommen ist: »Will man gegen Wagner gerecht sein, so muß er vor allem in seiner dramatischen Bedeutung beurteilt werden. Denn seine ganze Reform der Oper ging viel weniger von dem Musiker aus, als von dem Dramatiker, der zuerst sein Drama selbst musikalisch empfand und der, da er sein eigener Textdichter war, dem dramatischen Wort durch die Vorschrift bestimmter
fenpsychologischen Bedeutungsaspekte, die Richard Wagner dem neu verstandenen Drama abgewonnen hat, lassen sich im Kontext des Freudschen Terminus wiederfinden. Wagners musikdramatische Neuverwendung des Begriffs bricht grundlegend
mit der bisherigen
Dramendefinition.
Nicht
mehr die
literarische
Spielvodage, sondern das Bühnenereignis steht dabei im Mittelpunkt. Dem sinnlich wahrnehmbaren Gesamteindruck des >Dramas< haben sich alle Bühnenkünste, vom Libretto bis 2ur Musik ein- und in ihrer Ein2elwirkung unterzuordnen. Wagners Umdeutung geht bis zur Entgegensetzung des Begriffs mit den >Versen des TextdichtersGesamtkunstwerksDramatisierung< in die medizinisch-psychologische Traumforschung eingebracht hat, dabei den Ideen des Dichterkomponisten Wagner nicht fern stand, legt die folgende Textstelle nahe, welche die Entstehung träumerischer Visionen unter dem Kindruck musikalischer Sensationen zum Thema hat: »Einen den künstlichen Träumen ähnlichen Vorgang finden wir auch im wachen J-eben. Wir haben oben der wachen Träumerei gedacht und gesehen, daß dieselbe ihren Ausgangspunkt vorwiegend im Gemüte hat, allein auch diese kann man künstlich hervorbringen. Man denke hierbei zuerst an die Wirkungen der ernsten, getragenen Musik, weiche ja nach dem verschiedenen Allgemeinbefinden uns in einen Geisteszustand versetzen können, welcher sich als die oben bezeichnete wache Träumerei manifestiert. Wir sind völlig versunken und ergriffen von den ernsten dahinbrausenden Klängen einer Fuge, einer Symphonie - wir hören und sehen nicht mehr, was um uns herum vorgeht, die Töne scheinen sich zu Gestalten, zu greifbaren Gebilden zu verdichten, mit starrem Auge blicken wir, bezwungen durch die Macht der Träume, in eine andere, neue, fremde Welt.« Spitta (Anm. 49), S. 205. 118 119
Richard Wagner, zitiert nach Borchmeyer (Anm. 69), S. 108. Vgl.: »Wie Wagner einst in >Oper und Drama< (1851) das Verhältnis der Musik zum Drama im angestrebten >musikalischen Drama< durch das des >Mittels< zum >Zweck< bestimmte, so geschieht es hier auch in bezug auf das Verhältnis der Dichtung zum Drama. Dieses allein ist, mit >Oper und Drama< zu reden, der >Zweck des Ausdrucks«, die Mittel aber, diesen Zweck zu erreichen, sind gleichermaßen die mimische Kunst, die Dichtung und die Musik. Sie integrieren sich zum >Gesamtkunstwerk< [...].« Borchmeyer (Anm. 69), S. 45. 131
grative Erneuerung der Theaterkunst zur einheitlichen szenischen Gesamtwirkung, die man dem Bühnenreformer zuschreibt. Der selbst faßt die ideale Forderung, der er im Kunstwerk der Zukunft Ausdruck verliehen hat, in dem Begriff >DramaMeisterkathartischen< Charakter des Traums vgl. Freuds Würdigung des Traumforschers W. Robert. »Daß der Traum die Seele wie ein Ventil entlaste und daß nach Robert allerlei Schädliches durch das Vorstellen im Traume unschädlich gemacht wird, trifft nicht nur genau mit unserer Ixhre von der zweifachen Wunscherfüllung durch den Traum zusammen, sondern wird bei uns sogar nach seinem Wortlaut verständlicher als bei Robert. Das freie Sichergehen der Seele im Spiele ihrer Tätigkeiten findet sich bei uns wieder in dem Gewährenlassen des Traums durch die vorbewußte Tätigkeit.« Freud (Anm. 3), S. 561. Freud hatte zuvor referiert: »Der Traum stellt sich Robert [...) dar >als ein körperlicher Ausscheidungsprozeß, der in seiner geistigen Reaktionserscheinung zum Krkennen gelangt. |...j Die Träume haben heilende, endastende Kraft.«< Freud (Anm. 3), S. 10i. Daß Nietzsche der Kunst Wagners kathartische Qualitäten zugestand, verdeutlicht das folgende Zitat: »>Ihr sollt durch meine Mysterien hindurchihr braucht ihre Reinigungen und Krschütterungen. Wagt es zu eurem Heil und lasst einmal das trüb erleuchtete Stück Natur und Leben, welches ihr allein zu kennen scheint; ich führe euch in ein Reich, das ebenfalls wirklich ist, ihr selber sollt sagen, wenn ihr aus meiner I löhle in euren Tag zurückkehrt, welches 1 .eben wirklicher und wo eigentlich der Tag, wo die I löhle ist. Die Natur ist nach innen zu viel reicher, gewaltiger, seliger, furchtbarer; ihr kennt sie nicht, so wie ihr gewöhnlich lebt; lernt es, wieder Natur zu werden, und lasst euch dann mit und in ihr durch meinen 1 jebes- und Feuerzauber verwandeln^ Iis ist die Stimme d e r K u n s t W a g n e r s , welche so zu den Menschen spricht.« Nietzsche (Anm. 113), S. 464. Nietzsche (Anm. 113), S. 455. Fbd.
Musiker und Szeniker traut er zu, die Beschränktheit, die der Wort- und Begriffssprache anhängt, zu überwinden. In dessen Inszenierungen verschaffe die Bühnensymbolik den Zugang zu verschütteten unbewußten Strömungen. Den unbewußt unbegrifflichen Ausdruck des musikalischen Pathos vermöge die sichtbare Szene erst begreifbar zu machen. Wagners Kunst fuhrt ihn — so Nietzsche - immer den doppelten Weg, aus einer Welt als Hörspiel in eine rätselhaft verwandte Welt als Schauspiel und umgekehrt; er ist fortwährend gezwungen — und der Betrachtende mit ihm — die sichtbare Bewegtheit in Seele und Urleben zurück zu übersetzen und wiederum das verborgenste Wesen des Innern als Erscheinung zu sehen und mit einem Schein-Leib zu bekleiden.155 Diese Form symbolischen Ausdrucks verbindet Wagners Werk mit dem Musikdrama der alten Griechen, denn sein dramatisches Talent ist das Wesen des dithyrambischen Dramatikers, diesen Begriff so voll genommen, daß er zugleich den Schauspieler, Dichter, Musiker umfaßt: so wie dieser Begriff aus der einzig vollkommenen Erscheinung des dithyrambischen Dramatikers vor Wagner, aus Aschylus und seinen griechischen Kunstgenossen, mit Notwendigkeit entnommen werden muß. 156 Sie verbindet dessen Bühnenkunst aber zugleich mit dem Zeichenbegriff der Psychoanalyse, die in symbolischen Manifestationen wie Traum und Symptom ein eigentlich Unsagbares zu seinem deutbaren Ausdruck gekommen sehen will. 157 Hier liegt die eigentliche Verbindung zum Wagnerschen Symbolismus, auf der die Metapher >Dramatisierung< fußt. Daß der Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und wagnerianischer Bühnenästhetik schon von Zeitgenossen gesehen wurde, verdeutlicht der Freud- und Nietzsche-Kenner Hermann Bahr, der 1909 in Bezug auf Bayreuth und in nicht zu übedesender Anspielung auf die psychoanalytische Theorie von der xiramatischen Kur< des >Seelenarztes< Wagner schreibt: Der große Seelenfreund, Seelenfänger und Seelenar^t, der Wagner war, hat gewußt, daß der heutige städtische Mensch unfähig ist, die dramatische Kur zu bestehen, ohne für sie zuvor besonders präpariert zu sein. Er hat gewußt, daß sich das Drama niemals auf der Bühne vollenden kann, sondern dadurch allein erst, daß es aus der Erregung der Schauspieler ins Herz des Publikums dringt. Er hat gewußt, daß es dazu notwendig ist, auch das Publikum zu inszenieren. Und dieses höchste Wissen um die letzten Bedingungen des Dramas, das nur in der vollkommenen Vereinigung aller
Nietzsche (Anm. 113), S. 467. Ebd. 157 j e r Traum, so bringt auch das Drama Wagners seine Wahrheit im Modus des Irrealen zum Ausdruck, meint Nietzsche: »Sobald ihn [Wagner, Anm. B.C.] seine bildende Kraft überkommt, wird ihm die Geschichte ein beweglicher Thon in seiner Hand; dann steht er mit einemmal anders zu ihr als jeder Gelehrte, vielmehr ähnlich wie der Grieche zu seinem Mythus stand, als zu einem Etwas, an dem man formt und dichtet, zwar mit Liebe und einer gewissen scheuen Andacht, aber doch mit dem Hoheitsrecht des Schaffenden. Und gerade weil sie für ihn noch biegsamer und wandelbarer als jeder Traum ist, kann er in das einzelne Ereigniss das Typische ganzer Zeiten hineindichten und so eine Wahrheit der Darstellung erreichen, wie sie der Historiker nie erreicht.« Nietzsche (Anm. 113), S. 443.
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unter einen einzigen Willen sich erfüllt, das ist das eigentliche Geheimnis von Bayreuth. 1 5 8
Und nur in einem entrückten, traumartigen Zustand seien die Ausführenden in der Lage, die symbolische Botschaft der Bayreuther Inszenierung zu vermitteln: Wagners Werk beruht auf einer vollkommenen Verbindung von Wort, l'on und Gebärde, die von den Ausführenden nur bei höchster Präzision der Arbeit erreicht werden kann, aber es beruht zugleich auch auf einem {Enthusiasmus, dessen die Ausführenden nur in einem fast traumartigen oder rauschartigen Zustand völliger Iintrücktheit fähig sind. 159
In Bahrs Bayreuth Rezeption vermischt sich die dionysische Vison mit der psychoanalytischen Traumästhetik. Steht der Wiener Autor dabei bereits unter dem Einfluß Freudscher Thesen, so gilt dies weitgehend nicht für die theaterund dramentheoretischen Entwicklungen, die die folgenden Abschnitte untersuchen. Von Wagners und Nietzsches Neudefinition ausgehend entwickeln sich neue Formen des Dramatischen, die oft in ganz verblüffender Nähe zu dem stehen, was Freud Jahre später als >Dramatisierung< beschreiben wird.
3.4.
Dramatisierung und Bühnenbild: Traummetaphern und -strukturen in der Geschichte der Szenographie
Wagners Theaterutopie konnte — vermittelt über Nietzsches Tragödienschrift - stilbildende Wirkung vor allem innerhalb der Theaterreform der Jahrhundertwende entfalten.1 ή0 In deren Mittelpunkt stand bekanntlich die Erneuerung der Inszenierungspraxis. Die Theoretiker der Reformbühne sahen ihre Aufgabe nicht länger bloß in der sekundären Vermitdung des Dramentextes. Ihr eigentliches Ziel lag nun in der Schöpfung eines genuin theatralen >Gesamtkunstwerkssignify< und >expressDarstellung< und >Ausdruck< vorweg, die der Philosoph Ludwig Klages kurz darauf vornimmt, und die für die weitere Theaterentwicklung bis hin zur expressionistischen Bühne folgenreich sein sollte: Klages' Philosophie des Ausdrucks faßt Frederik J. J. Buytendijk zusammen: »Der Unterschied zwischen einer ausdrückenden und einer darstellenden Bewegung beruht nach Klages auf einem völlig anderen Verhältnis zum Inneren des Menschen. Jene geht spontan aus dem lieben, der Beseelung hervor, braucht und kann ebensowenig gelehrt werden wie eine instinktive Reaktion und ist bei allen Menschen auf Erden gleich; sie ist arttypisch. Das Darstellen ist nicht an die Beseelung, sondern an das Geistesleben gebunden, an Bewusstsein und Wille, obwohl sich diese Bindung durch die Gewohnheit lockert. Die darstellende, beschreibende, zeichnende, schildernde, repräsentierende Gebärde ist nicht die angeborene, zwangsläufige Reproduktion einer Gemütsbewegung, sondern sie ist von Ursprung konventionell und willkürlich.« Frederik J. J. Buytendijk: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung. Berlin 1956, S. 240. 164 Y g ] . »Life l s given to us exclusively by the drama itself. Thus, to sum up once more: as music is Time, it sets all the proportions, so that any staging of Wagnerian drama can disregard the duration provided by life, for all life is intimately contained in the drama itself.« Appia (Anm. 163), S. 46. 162
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Menschen auferlegt. Die Gegenwirklichkeit der Bühnenfiktion soll seiner nietzscheanischen >Artisten-Metaphysiklatent in uns ruhenden Kräftendem bloßen Wunsche entfließende [n] Vorgang< und von den darin aufgehobenen Schranken des rationalen Denkens. 168 Und wie ein Fazit zur Begründung der psychoanalytischen Technik in der Traumdeutung klingen die folgenden Zeilen:
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Im Versuch einer Selbstkritik, den er seiner Geburt der Tragödie 1886 voranstellt, wendet Nietzsche gegen sein eigenes Buch ein: »Aber, mein I Ierr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht Ihr Buch Romantik ist? Lässt sich der tiefe Hass gegen >JetztZeitWirklichkeit( und >moderne Ideen< weiter treiben, als es in ihrer ArtistenMetaphysik geschehen ist?« Nietzsche (Anm. 3), darin: Versuch einer Selbstkritik, S. 11-22, hicrS. 21. Adolphe Appia: Die Musik und die Inscenierung, teilweise in: Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 39^6, hier S. 44f. Vgl. Freuds Annahme der Beziehungen vom »latente|n| Traumgedankcn« zum »manifesten 'Trauminhalt«. Vgl. Freud (Anm. 3), S. 280. Vgl. auch die grundlegende These vom Wunscherfüllungscharakter der Träume (libd., S. 137f.) und die 'Traumbildung als Resultat einer Herabsetzung der »endopsychischen Zensur«. Fbd., S. 503. »Das ganz eigentümliche Glücksgefühl, welches dieser Vorgang zur Folge hat, liegt darin, daß der Gestalter jener Verwirklichung nicht mehr gegen die in der Natur der Dinge und der Menschen liegende, widerstrebende Starrheit zu kämpfen hat.« Appia (Anm. 166), S. 45.
Der Traum, dieser kostbare Zeuge, giebt uns mehr Aufschluß über die wesentlichsten Wünsche unserer Persönlichkeit, als es die genaueste und feinste Analyse imstande wäre. 1 6 9
Und wie die szenische Erinnerung im Traum-Modell Freuds so gießt auch die künstlerische Inszenierung in der Darstellung des Theatertheoretikers >Zeit in Raum< um.170 Ausgehend von einer total unterschiedlichen Darstellungsabsicht kommen Theatertheoretiker wie Psychoanalytiker hier zu einer übereinstimmenden Auffassung des tiefenpsychologischen und symbolischen Potentials der Träume. Doch sind diese Übedegungen — wie gezeigt — zur Zeit Appias und Freuds bereits historisch vorweggenommen. Ausschlaggebend für die Ubereinstimmungen im Denken der beiden Autoren ist wohl die gemeinsame Orientierung an Wagner und Nietzsche, an deren Ästhetik des Unbegrifflichen, an deren Kultur- und Sprachkritik sowie am Lob des Traum- und Scheinhaften, wie es die Geburt der Tragödie anstimmt. Diese Faktoren kulminieren um die Jahrhundertwende theatergeschichtlich in einer Bühnenästhetik, die sich die Semiotik des Traums zu eigen macht.171 Die Orientierung an einem dem Geltungsbereich des Wirklichen entrückten Theater Wagnerianischer Prägung ist hierfür bestimmend. 3.4.2. Die Bühne als Traumbild: Hofmannsthal und Reinhardt Einen Raum ästhetischer Gegenwirklichkeit entwirft auch Hofmannsthals kleine Schrift Die Bühne als Traumbild (1903). Der Text ist - seiner poetischen
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Ebd., S. 44. Vgl.: »Die Kunst der Inszenierung ist die Kunst, das im Raum zu entwerfen, was der Dramatiker nur in der Zeit entwerfen konnte.« Adolphe Appia: Die Inscenierung als Schöpfung der Musik, zitiert nach: Paul Pavis: Inszenierung. In: Manfred Brauneck und Gerard Schneilin (Hrsg.): Theaterlexikon. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 423^125, hier S. 423f. Dies war zuerst in den späten Inszenierungen Wagners der Fall: »In der >ParsifalNeuromantik< zu einer Art Markenzeichen geworden war. In der schicksalshaften Liebe zwischen der wunderschönen, geheimnisvollen Melisande und Pelleas, dem Bruder ihres Gatten Golaud, sahen die Verfechter der neuen >Stimmungskunst< ihr ästhetisches Ideal beispielhaft verwirklicht. Zudem bestimmen romantische Reminiszenzen die Atmosphäre des Stücks: Der Wald, in dem Melisande, die nichts über ihre Herkunft weiß, gefunden wird, das düstere Wasserschloß, auf dem das junge Ehepaar lebt, die lange Reise, die Pelleas antreten will, sind Motive, die hier wie in der romantischen Literatur funktionalisiert werden, um einen dem Realen und Alltäglichen entrückten Handlungsrahmen abzustecken.179 Insgesamt werden Maeterlincks frühe Dramen in ihrem Reichtum an Metaphern und Symbolen, in der Rhythmisierung und Subjektivierung der sprachlichen Mittel und der Subjektivierung und Verknappung der dramatischen Handlung zum entscheidenden Vorbild für eine >lyrische< Dramatik,180 178
179
Ein Verzeichnis sämtlicher Inszenierungen Max Reinhardts findet sich in: Edda Fuhrich und Gisela Prossnitz (Hrsg.): Max Reinhardt. »Ein Theater, das den Menschen wieder Freude gibt...« Eine Dokumentation. München/Wien 1987, S. 2 1 2 222. Die von Fiedler (S. 36.) erwähnte Seremssimus-ins/.cmtrung ist hier allerdings nicht verzeichnet. Zur Resonanz von Reinhardts früher Regicarbeit in der örtlichen Presse vgl. Norbert Jaron, Renate Möhrmann und Hedwig Müller (Hrsg.): Berlin Theater der Jahrhundertwende, Tübingen 1986. Anläßlich der Reinhardtschen Inszenierung schreibt ein Berliner Kritiker: »Es ist nicht eigentlich das Dramatische, nicht das tragische Geschick von Pelleas und Melisande und Golaud, was dieser Dichtung ihren Wert gibt; es ist all das hineingesponnen, was uns geheimnisvoll am lichten Tag umgibt, all die Seelenregungen, die in uns entstehen aus dem Verklingen eines entfernten Lautes, dem Aufblitzen und Verlöschen eines Lichtes, dem Wehen des Windes, oder wenn glückzitternd die Finger durch leuchtendes Goldhaar gleiten [...].« Zitiert nach Jaron/Möhrmann/ Müller (Anm. 178), S. 512.
180 vgl La Princesse Maleine (1889), L'Intruse und Les Aveugles (1890), Pelleas et Melisande (1893), Interieur (1894). Maeterlinck greift in diesen Stücken zu einer Abstrahierung und Verfremdung der dramatischen Mittel, die dem Bühnengeschehen unmittelbare 147
die sich um die Jahrhundertwende vor allem im deutschsprachigen Raum entwickelt. In ihren Parallelen zur Traumstruktur wird diese im Mittelpunkt der dramenhistorischen Überlegungen im folgenden Abschnitt stehen. 18 ' Die formale Übereinstimmung mit der unbewußten Symbolsprache des Traums, die Maeterlincks Stücke aufweisen, war indes bereits den Kritikern der Pelleas und Melisande-AxiiiüAmmg von 1903 bewußt. Alfred Klaar etwa entdeckte in der dramatischen Vorlage dieser Inszenierung Bilder ohne scharfe 1 .inien und mit ungewöhnlichen Farben, die die Ausnahmemomente der erregten Natur festhalten, ähnlich den Gemälden der Impressionisten, Vorgänge mit durchbrochener Kausalität, deren Lücken für die Räthsel aller psychologischen Vorgänge aufkommen, Nachklänge jener Zustände, die den traumhaften Untergrund unseres Daseins bilden, und die uns in allem Wechsel der Verhältnisse das Geheimniß unsere Individualität spüren lassen. 182 Nach Ansicht der Kritik entwarf Reinhardt als erster Regisseur den für die Stücke des Belgiers geeigneten szenischen Rahmen. 183 Bisher war dessen traumhafte Dramatik kaum erfolgreich inszeniert worden, vedangt sie doch »regietechnische Mittel und eine Bühnenausstattung, wie sie das Theater der
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Ähnlichkeit zur Irrationalität der Traumszene geben: »Als «Irame staticjue< ist Maeterlincks frühes Drama ein Stück der Todeserwartung, dessen einziges Geschehen die Ankunft des I'odes bildet. Die Situation des Wartens wird dem Zuschauer symbolisch und emotional nahegebracht, in der Weise, daß eine ständig sich verdüsternde Atmosphäre zusammen mit einer zunehmenden inneren Erregung der Bühnenfiguren - mystische >correspondances< von Kosmischem und Unbewußten - auf den Eintritt des Unfaßbaren vorbereitet. Die technischen Mittel liegen einmal in der Gestaltung des Dialogs, der sich - als >dialogue du second degrees, als chorische Litanei und als Monolog an der Grenze des Bewußtseins - von jeder form eines real motivierten Zwiegesprächs entfernt und letztlich eine aus Andeutungen, doppelsinnigen Verweisen und Pausen sich zusammensetzende Vorahnung zu vermitteln versucht.« Bayerdörfer, Hans-Peter: Eindringlinge, Marionetten, Automaten. Symbolistische Dramatik und die Anfänge des naturalistischen Theaters. In: Victor Zmegac (Hrsg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königsstein 1981, S. 191-216, hier S. 194. In engem Zusammenhang zur symbolistischen Ästhetik Maeterlincks stehen im deutschsprachigen Raum u.a. die frühen Dramen I Iofmannsthals, so z.B. das 1892 erschienene >lyrische Drama< Der Tod des Tizian, vgl.: Peter Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siede. Studienausgabe der Vorlesungen, Band 4. Frankfurt a. M. 1975, S. 222. Stark beeinflußt von diesem Autor waren aber Hermann Bahr und Arthur Schnitzler. Michael Worbs ist mit Manfred G Steiger der Ansicht, daß »dessen |Maeterlincks| Bedeutung für die Dramatik der Jahrhundertwende kaum zu unterschätzen ist.« Fr zitiert G Steiger: »Von allen Autoren symbolistischer Poesie ist Maeterlinck derjenige, dessen Ruhm um die Jahrhundertwende am meisten europäische, ja universelle Dimensionen angenommen hatte. Gerade im deutschen Sprachgebiet, in Wien so gut wie in München und Berlin, übte er eine Zeitlang eine kaum abzuschätzende Wirkung aus.« Und Worbs ergänzt: »Diese Aussage gilt noch mehr für die Dramatik.« Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. 1983, S. 67. Vossische Zeitung, 4.4.1903, zitiert nach: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 178), S. 518. Vgl. Kommentar und entsprechende Dokumente, ebd., S. 511-521.
Zeit [bislang] nicht aufzuweisen hat«184 und vor allem »ein hohes Maß an kreativer Selbständigkeit seitens der Regie, die nicht mehr dem Text zu dienen, sondern einen eigenständigen Spiel- und Bedeutungsraum zu schaffen hat«.185 Erst Reinhardt gelang dieser Schritt mit einer Bühne, die sich — um eine Formulierung aus Hofmannsthals Programmschrift aufzugreifen — als »der Traum der Träume«186 präsentierte. Er blieb deshalb auch in den folgenden Jahren mit den Inszenierungen von Schwester Beatrix (10.2.1904), Aglavaine und Selysette (15.4.1907) und Der blaue Vogel (23.12.1912) der wichtigste deutsche Maeterlinck-Regisseur. Unter den Innovationen, mit denen er die Ideale symbolistischer Ästhetik erstmals auch bühnentechnisch umsetzt, nimmt vor allem die Beleuchtungsregie einen besonderen Raum ein. In Die Bühne als Traumbild hat Hofimannsthal entsprechende Forderungen formuliert. Mit einer Reminiszenz an Faust II und die darin zum Ausdruck kommende Farbphilosophie Goethes187 hat er die suggestive Wirkung und das Ausdruckspotential des Lichts und die »Traumkraft«188 der Bühnenbeleuchtung beschrieben. Vom »Meister der Bühne«189 verlangt er, dieser müsse die ganze Fülle der technischen Möglichkeiten ausschöpfen und das Licht zum zentralen Ausdrucksmittel einer den Rahmen der Realität symbolistisch überschreitenden Inszenierung machen: Wenn er seine Lichter auf seine einfachen gemalten Wände wirft, muß er die Kräfte der Seele in sich versammeln, mit denen der Gefangene, mit denen der Kranke hinüberstarrt durchs Fenster: da ist die Mauer des Gefängnishofes, da ist die getünchte Wand der Hospitalskapelle; und auf ihr ein I Iauch, eine fliegende Röte, ein schwellendes Gelb, ein Gelb, als bräche es durch Wände von Topas, dann ein Purpur, ein Violett, ein verhauchendes Violett, ein Dunkeln. Und er, der hinüberstarrt, geschmiedet in Ketten oder gebäumt auf seinem Sterbekissen, er hat an den Farbwechseln jener getünchten Wand mehr Herrlichkeit als zehntausend Gesunde, die von Waldesklippen die Sonne sinken sehen und Bucht und Tal aufglühen sehen in Purpur, Gelb und Versinken in Nacht. Denn die Welt ist nur Wirklichkeit, ihr Abglanz aber ist unendliche Möglichkeit, und dies ist die Beute, auf welche die Seele sich stürzt aus ihren tiefsten Höhlen hervor. 190
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Bayerdörfer: Hindringlinge, Marionetten, Automaten. Symbolistische Dramatik und die Anfange des naturalistischen Theaters. In: Zmegac (Anm. 184), S. 196. Bayerdörfer (Anm. 184), ebd. Hofmannsthal (Anm. 173), S. 490. Aus seinem Heilschlaf erwachend ergötzt sich Faust in der ersten Szene des ersten Akts am Anblick des Regenbogens, der sich über einem Wasserfall wölbt. Nachdem er ausgerufen hatte: »So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!« (V. 4715) schließt er mit Bezug auf den Regenbogen: »D e r spiegelt ab das menschliche Bestreben. / Ihm sinne nach, und du begreifst genauer: / Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.« (V. 4725^1727), zitiert nach Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Texte, hrsg. v. Albrecht Schöne. Zugleich: Ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Friedmar Apel u.a. 1. Abteilung, Bd. 7.1. Frankfurt a. M. 1994. Bei der Adaption des Goetheschen Gedankens durch Hofmannsthal handelt es sich um eine spezifisch ästhetizistische Übertragung: Das Naturschauspiel und die daran ausgerichteten philosophischen Reflexionen verlegt der Fin de Steele-Autor restlos in die Kunstwelt des Theaters. Hofmannsthal (Anm. 173), S. 491. IM. Hofmannsthal (Anm. 173), S. 492. 149
Max Reinhardt wird im Zusammenhang mit konkreten Vorschlägen zur Verbesserung der Bühnentechnik im Neuen Theater und ebenfalls mit einer Anspielung auf Goethe am 21.7.1904 an den Freund Berthold Held schreiben: Licht ist die Hauptsache! >Also mehr Lichtmalerischen< Einsatz gefärbten Bühnenlichtes, das die Objekte nicht länger >beleuchtetleuchten läßtBlutsstimmungLicht gerücktBedeutungslöcher< — bis dato durch Umbaupausen unvermeidlich — vermeiden half, wurden weit über Berlin hinaus berühmt.207 Die stimmige Abbildung des Handlungsortes war in Deutschland zuvor bereits durch die Inszenierungen des Meininger Hoftheaters (1874-1890) zum entscheidenden Kriterium der Inszenierungskunst erhoben worden 208 Ihre
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Diesen Gegensatz haben bereits Zeitgenossen hervorgehoben. Vgl. Arthur Seidl: Die I [ellerauer Schulfestspiele und die Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze. Regensburg 1912, S. 41 f. Seidl spricht, die genannten Unterschiede ideologisch wertend, von der »Weltflucht« des »theaterfremd operierenden, in Symbolen letzthin gar leichtlich sich verflüchtigenden Stilisierungs-Fanatismus« Adolphe Appias im Gegensatz zu der »Weltdurchdringung« der »Theaterei« Reinhardts, »die [...] nur zu gern [...] in den Bühneneffekt um jeden Preis verfallt« und hält diesen Extremen ihre Synthese in der »Weltüberwindung« Jaques Dalcrozes entgegen, die »das >harmonische< Mittel zum Zwecke eines wünschbaren Ausgleiches von verstiegener >PhantasieIllusionsBrettl< ist verschwunden. [...) Wir haben die schönsten Wälder schon auf der Bühne gesehen, immer aber doch durch eine Rampe oder ein freies Plateau vom Publikum geschieden Reinhardt hebt diese Trennung auf, er zieht den Wald vor und drängt die Schauspieler in ihn zurück. Das Brett ist weg, wir brauchen uns nicht mehr durch eine Operation des Verstandes erst vorzustellen, daß das was uns hier auf dem Brette gezeigt wird, sich einmal dort hinten im Wald begibt.« Hermann Bahr: Diktat. Disposition zum Sommernachtstraum. In: Museion. Veröffentlichungen der Osterreichischen Nationalbibliothek in Wien. Firste Reihe. Erster Bd. Meister und Meisterbriefe um Hermann Bahr. Wien 1947, S. 191-192, hier S. 192. »Die Sensation der Aufführung von 1905 war die [von Karl Walser ausgeführte] Gestaltung des Bühnenraums: plastische, auf eine Drehbühne montierte Dekorationen, ein die ganze Bühne ausfüllender Wald, durch den Shakespeares Elfen und Iiebespaare schwebten. Zum erstenmal in der Theatergeschichte wurde die [...] Drehbühne als dramaturgisches Mittel eingesetzt. Die verschiedenen Schauplätze wurden vor Beginn auf der Drehscheibe aufgebaut, so daß Umbauten nicht mehr notwendig waren. Dies beschleunigte die Szenenfolge und ermöglichte dynamische Wirkungen, vor allem, wenn mitten im Spiel bei offenem Vorhang die Drehung einsetzte.« Fiedler (Anm. 172), S. 41 f. John Osborne siedelt daher auch Reinhardts Bühne in der Tradition des Ausstattungstheaters an, als deren Stifter er den Herzog von Meiningen sehen will. »Das Verständnis für die Bedeutung der Bühnenausstattung im weitesten Sinne [für die dramatische Inszenierung als ganze und die Einsicht in das dynamische Verhältnis zwischen Schauspieler und Dekor] bereitete den Weg für die Theorien eines Appia 153
direkte Fortsetzung hatte diese Entwicklung im Realismusideal der naturalistischen Bühne erfahren. Entscheidend neu war jedoch im Unterschied dazu bei Reinhardt, daß dieser nicht eine historisch oder soziologisch legitimierte Wirklichkeit nachbauen, sondern — wie im Falle des phantastischen Elfenwaldes gar nicht anders möglich — eine referenzlose, rein ästhetische Wirklichkeit seiner Bühne erst schöpferisch herausbilden wollte. Entscheidend verantwortlich für den enormen Erfolg, den die Inszenierung des Sommernachtstraums bei Publikum und Kritik hatte, war, daß Reinhardt darin die schon mit den Aufführungen von |Salome, Pelleas und Melisande, Flektra] begonnenen Ansätze fortsetzte], durch den Zusammenhang aller Finzelfaktoren einer Inszenierung - Farben, Formen, Musik - die Geschlossenheit der Illusion zu gewährleisten. 2 ° l ' )
Der imaginäre Zauber der in sich geschlossenen Bühnenwirklichkeit ließ das Erlebnis dieser Aufführung einem Traum ähneln — dies wurde von Seiten der Kritik mehrfach bestätigt. Paul Mahn etwa beschrieb seine Eindrücke in der Täglichen Rundschau. Man träumte sich in den Schöpfungstempel getreten, in dem Mensch und Tier und Stein und Pflanze, zuletzt der liebe Herrgott selber I land in I fand den Reigen schlagen um die Seligkeit und Reinheit heiligen Urzustandes. 2 1 0
Nicht geringer beeindruckt zeigt sich Ernst Heilborn. Eine detaillierte Beschreibung des Bühnenbildes leitet er mit dem schwärmerischen Urteil ein: F s war wirklich der Traum einer Sommernacht, in der der Wald seine neckischen, lieblichen Geheimnisse erschließt, ein Traum, den man gläubigen Auges mitansehen 211 durfte
Die an diesem Ort nur durch einige Beispiele zu belegende Traummetaphorik wird, durch die gesamte Rezeptionsgeschichte hindurch fortgesetzt, die Kommentare zur Inszenierungskunst Max Reinhardts auszeichnen. So eröffnet Franz Werfel seine Rede anläßlich des siebzigsten Geburtstages des wenige Wochen später im New Yorker Exil verstorbenen Theaterkünsders mit den Worten:
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und die Praxis eines Reinhardt vor, das heißt auch für jene nicht-realistische Regie, die die vorherrschende Tendenz im Theater des frühen 20. Jahrhundert werden sollte. Die unmittelbaren Nachfolger des Herzogs von Meiningen und Ludwigs Chronegks waren jedoch die großen Vorkämpfer des Naturalismus auf dem europäischen 'Theater: Antoinc, Brahm und Stanislavskij.« J o h n Osborne (Hrsg.): Die Meininger. 'Texte zur Rezeption. Tübingen 1980. Darin: Finleitung des Herausgebers, S. 31. Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 178), S. 565. 'Tägliche Rundschau (2.2.1905), zitiert nach Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 178), S. 565. Frankfurter Zeitung (4.2.1905), zitiert nach Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 178), S. 569.
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Der Mann, dessen siebzigsten Geburtstag wir heute feiern, ist ein ruhmgekrönter König jenes Traumes, den die Menschheit allabendlich träumt, um ihren schweren Tag zu verwinden. 2 1 2
Bis heute lassen sich mühelos weitere Beispiele dieser Perspektive finden: Max Reinhardt. Theater ^wischen Traum und Wirklichkeit hat etwa Heinrich Braulich eine Monographie überschrieben.213 Und um noch einmal den Weggefährten Hofmannsthal zu bemühen; dieser schreibt über die Arbeit des Regisseurs: Reinhardt ist der vollkommene Visionär der Bühne und er weiß, daß es in einem Traum oder in einer Vision nichts Gleichgültiges gibt: dies ist die große Stärke seiner Inszenierungen. 214
Die vorangegangenen Überlegungen haben die Entwicklungsgeschichte der Inszenierungskunst nach dem Vorbild des Traumes von ihren Anfängen in der Bühnentheorie Richard Wagners her nachvollzogen. Wagner erscheint damit als historischer Wegbereiter der Theaterpraxis Max Reinhardts, all der emotionalen Widerstände, die der Vergleich des von den Nazis aus Deutschland vertriebenen Juden Reinhardt mit dem antisemitischen Theatertheoretiker und Komponisten hervorruft, zum Trotz. Unterstützung erfährt die damit gezogene >Genealogie< der Inszenierungsgeschichte ausgerechnet von Seiten des rechtskonservativen Kritikers Friedrich Düsel, der anläßlich der SalomeAuffuhrung Reinhardts ein Konzept verwirklicht sehen wollte, dem »etwas wie die Verwirklichung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks auch für das Wortdrama vorschwebt«.215 Die Retheatralisierung des Theaters, die in den Reformschriften Wagners ihren Ausgangspunkt hat, findet in Reinhardts >Regietheater< ihren vorläufigen theatergeschichtlichen Höhepunkt. Durch die Aufwertung der Ausdrucks- und Stimmungsqualitäten des Theaters treten reine Handlungselemente auf der Bühne zunehmend in den Hintergrund. Im Zusammenhang mit Max Reinhardts Inszenierungsstil ist es deswegen auch zu verstehen, daß sich im deutschen Theater um die Jahrhundertwende eine Dramatik durchzusetzen beginnt, die sich vom bis dato bestimmenden Kriterium der Handlung weitgehend löst. Neben den bereits erwähnten Werken Maeterlincks sind in diesem Zusammenhang vor allem Hofmannsthals >lyrische< Dramen, die sogenannten symbolistischen Werke Strindbergs sowie das analytische Drama Ibsens zu
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Franz Werfel: Max Reinhardt zum 70. Geburtstag, zitiert nach: Fuhrich/Prossnitz (Anm. 178), S. 202. Heinrich Braulich: Max Reinhardt. Theater zwischen Traum und Wirklichkeit. Berlin 1969. Hugo von Hofmannsthal: Reinhardt bei der Arbeit, zitiert nach: Fuhrich/Prossnitz (Anm. 178), S. 84. Zitiert nach Jaron/Möhrmann/MüUer (Anm. 178), S. 523. Der Kritiker Josef Günstein nannte dementsprechend »das scenische Bild [der Salome\ opernhaft fesselnd«. Ebd., S. 524. Mit dem Label >Gesamtkunstwerk< wird Reinhardts Theater auch heute noch versehen, so etwa im Vorwort der Herausgeberinnen in: Fuhrich/Prossnitz (Anm. 178), S. 7 - 1 0 , hier S. 7. 155
nennen.21 G Mit den strukturellen Parallelen, die diese zur >Dramaturgie< des Freudschen Traumkonzepts aufweisen, werden sie im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen.
3.5.
Literarische Parallelen zu Freuds Traumdramaturgie
Meine Annäherung an dramengeschichtliche Korrelate zu Freuds Traumdeutung geschieht im Bewußtsein einer jahrhundertealten Tradition der motivischen Engführung von Traum und Schauspiel. Schon die ältere Dramengeschichte weist eine große Anzahl von Traumanleihen auf, 217 die dem >Viel-Leser< Sigmund Freud gewiß nicht unbekannt waren. Die griechischen Dramen enthalten eine Vielzahl von Traumerzählungen, die vor allem als Medium des Götterwillens innerhalb der Schicksalstragödie dienten. Das in der Renaissance entstehende deutsche Drama übernimmt das Motiv unter Beibehaltung seiner mantischen Funktion, denn die göttlich gesandte Zukunftsschau der Antike ist auch mit der biblischen Überlieferung kompatibel.218 Wahrträume spielten eine zentrale Rolle innerhalb des Barockdramas überall dort, wo die göttliche Voraussehung ins religiös orientierte Geschehen einzubringen war. In diesem Sinne läßt z.B. Gryphius seine Catharina von Georgien im gleichnamigen Stück (1657) ihren Märtyrertod im Traum vorhersehen. Der in die Handlung eingefügte Traumbericht war aber auch jenseits der ursprünglichen mythologischen Zusammenhänge dramaturgisch außerordentlich attraktiv; bot er doch die Möglichkeit, ein zukünftiges Geschehen einsichtig zu machen, ohne das dramatisch-dialogische Prinzip der absoluten Gegenwart zu verletzen. Der zukunftsbezogene Inhalt des dramatischen Traums steht innerhalb dieser Tradition im deutlichen Gegensatz zu dessen vergangenheitsbezogener Auffassung in der Psychoanalyse. Zwar lehnte sich aufklärerisches Rationalitätsdenken gegen den dem Motiv ursprünglich zugrundeliegenden Vorsehungsglauben auf, doch funktionalisiert noch Lessing Traumdarstellungen in der hergebrachten Form. Auch seine Träumerinnen sind divinatorisch begabt: Miss Sara Sampson sieht den eigenen Tod voraus, und Rechas Traum von der Versöhnung der Religionen geht ebenfalls in Erfüllung. Im großen und ganzen ist jedoch in dieser Epoche ein Stellungsverlust durch die Entmythologisierung des Traumes unübersehbar. Seine Wiederaufwertung erhält er als poetisches Element erst in den Werken der Romantik. Im Zuge der Hinwendung zu verschütteten Gegenwirklichkeiten sowie unbewußten geistigen Kräften rücken Träume erneut in
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Schon um 1900 finden sich die genannten Autoren regelmäßig auf dem Spielplan der Berliner Secessionsbühne, an deren Konzeption Reinhardt maßgeblich beteiligt war. Vgl. Fiedler (Anm. 172), S. 29. Vgl. hierzu: Irmgard Schweikle: 'l'raum in der Literatur. In: Dieselbe (Hrsg.): Metzler-Literatur-Lexikon. Stuttgart 1984. Linflußreiche Vorbilder waren z.B. die jenseitigen Traumvisionen der Petrus- und Paulusapokalypse.
den Mittelpunkt, wenngleich zunächst eher in lyrischen oder Prosatexten. Heinrich von Kleist, Zeitgenosse, wenngleich kein unmittelbarer Anhänger der romantischen Dichtungstheorie, hat den Nachtgesichten ihren Ehrenplatz auch innerhalb der dramatischen Literatur wiedergegeben. In seinem Käthchen von Heilbronn (1810) schlägt die aufklärerische Abwertung des Traumes in ihr Gegenteil um. Der Traum Käthchens, ein Engel führe ihr den Grafen Wetter von Strahl als Geliebten zu, wird sich im Verlauf des Dramas bewahrheiten, der unerschütterliche Glaube der Protagonistin an seine Erfüllung hat zuvor den gesamten Handlungsverlauf bestimmt. Ähnlich zentral ist ein Traum der Hauptfigur für Kleists Prin% Friedrich von Homburg (postum 1821 erschienen). Und auch hier bewahrheitet sich sein Versprechen: Der Prinz, der in der ersten Szene von Ruhm und Liebe träumt, hat am Ende beides: Die Hand Natalies und den Kranz des Siegers. Das alte divinatorische Traumkonzept findet in Kleists Dramen seine poetische Wiederbelebung und wird danach bis zu Hebbel und Grillparzer eine gewichtige Linie der dramatischen Adaption von Träumen bestimmen. Schon früh finden sich neben dieser mantischen Tradition Darstellungen, die ein anderes, der heutigen Sichtweise mehr entsprechendes Traumverständnis spiegeln. Goethe zum Beispiel läßt in seiner Iphigenie aufTauris (1786) den Orest einen Traum schildern, aus dem der zuvor Wahnsinnige geheilt erwacht, und der insofern einen dramaturgischen Wendepunkt des Geschehens darstellt. Der Bruder der Protagonistin, der nach dem Mord an seiner Mutter von den Furien verfolgt wird, sieht seine Vorfahren friedlich versammelt im Hades und sich selbst freundlich in ihrer Mitte aufgenommen. Diese Vision verdankt nun nicht länger divinatorischen Kräften, sondern ihrer seelischen Wirkung die exponierte Stellung im Stück. Als Wunscherfüllung konzipiert löst sich das Traumgeschehen hier von seiner zukunftsorientierten Bindung. Es gewinnt statt dessen an Bedeutung für die Figurenpsychologie. Auf die Psyche des Einzelnen beschränkt auch Grillparzer die Wirkungskraft des Traums, der in Der Traum ein Leben (1840) den Goetheschen Wunschtraum zum ebenfalls heilkräftigen Warntraum variiert. In einer nächtlichen Vision begegnet seine Hauptfigur Rustan sich selbst als einem freveligen, schuldbeladenen König. Dieser wird durch das abschreckende Beispiel von seinem früheren Machtstreben befreit und geläutert. Das Stück wurde zum Vorbild einer ganzen Reihe ähnlicher Traumstücke, sogenannter Besserungsstücke, die sich im Wien des 19. Jahrhunderts bald enormer Beliebtheit erfreuten. Für die weitere dramatische Umsetzung des Traums entscheidend wurde sein Autor jedoch weniger durch die Stiftung dieses Spezialtypus, der außerhalb von Wien nur auf geringe Resonanz stieß, sondern wegen der neuartigen Technik, die er bei der dramatischen Vermittlung des Traumgeschehens anwandte. Anders als seine Vorgänger geht Grillparzer nicht den Umweg über die Traumerzählung in der Figurenrede, er stellt die Vision Rustans direkt auf die Bühne, laut Pestalozzi eröffnet der Autor damit die neue szenische Möglichkeit [...), >die Bühne als TraumbildMischgattung< für die dramatische Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts ebenso angedeutet wie deren zeittypische Form. Die von Szondi in diesem Rahmen untersuchten frühen Stücke Mallarmes und Hofmannsthals zeichnen sich aus durch die extreme Reduktion der äußeren Handlung zugunsten der seelischen Befind-
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Pestalozzi (Anm. 37), S. 94. Dies gilt häufig auch noch für Stücke, die nach 1900 entstanden. Vgl.: »Freuds Impulse und Wirkungen auf die Literatur und Kunst [...] spielten |...j bis etwa zum Tode Strindbergs (1912) (...) noch keine entscheidende Rolle. Würde ich diese Aussage doch in Bezug auf die Wiener Autoren einschränken, so ist doch z.B. das Traumspiel Strindbergs, das 1901 abgeschlossen wurde, ganz sicher ohne Kenntnis von Freuds Thesen entstanden« Stern, Martin: Der Traum in der Dichtung des Expressionismus bei Strindberg, Trakl und Kafka. In: Therese Wagner-Simon und Gaetano Benedetti (Hrsg.): 'Traum und 'Träumen. Göttingen 1984, S. 113-132, hier S. 115. Vgl. Szondi (Anm. 81), S. 20-73. Vgl. Szondi (Anm. 181).
lichkeit ihrer Protagonisten.223 Ausschließlich deren psychische Entwicklung kommt in der streckenweise zum Monolog tendierenden Figurensprache zum Ausdruck. Die bisherigen Grenzen der dramatischen Gattung, die durch das Element der Handlung und des zwischenmenschlichen Bezugs bestimmt waren, kommen in den sogenannten lyrischen Dramen< der Jahrhundertwende zu Fall.224 Der von Szondi gewählte Gattungsbegriff thematisiert eben diesen Grenzverlust, der sich auch in der kunstvoll erhöhten Sprache der Dialoge niederschlägt 225 Das 18. Jahrhundert bezeichnete als lyrisches Drama< eine damals populäre Stückform, welche — meist monologisch konzipiert und häufig melodramatisch aufgeführt — ausschließlich dem Gefühlsleben einer Einzelfigur Ausdruck gibt. Die Verwendung des Begriffs für das >Versdrama< war daneben nur untergeordnet üblich. Seiner Fixierung auf ein Einzelindividuum, welches oft auch die einzige sprechende Figur auf der Bühne abgibt, verdankt das Genre auch den Namen >Monodramalyrische Drama< der Jahrhundertwende durch eine solcherart erstmals zu beobachtende Rücknahme selbst noch der über den Bildungskanon assoziativ verfügbaren äußeren Handlung aus.211
»War das Monodrama des 18. Jahrhunderts entstanden aus der Intention gesteigerer Bühnenwirkung durch die Verbindung verschiedener Künste, so steht das Monodrama des 20. Jahrhunderts in der generellen Tendenz einer fortschreitenden Reduktion der Bühnenwelt; suchte das frühere Monodrama den Gefühlen und Stimmungen der Seele auf die Spur zu kommen, so fragt das moderne voll Skepsis nach der Identität des Individuums überhaupt [...].« Vgl. Dcmmcr (Anm. 226), S. 120f. 228 V g l . D i m m e r (Anm. 226), S. 253. Als Beleg für diese Tendenz der Moderne sei an dieser Stelle nur ein wichtiges Beispiel aus dem Bereich der 1 irzählliteratur genannt: Der totale Rückzug des Erzählers hinter dem inneren Monolog der I Iauptfigur wie er in der deutschsprachigen Literatur erstmals konsequent in Schnitzlers Leutnant Gustl{1900) realisiert wurde. 2 2 i ' Vgl. Brandes' Ariadne, Dalbergs Elektro, Rousseaus Pygmalion, Wielands Wahl des Herkules, Herders Brutus, Goethes Proserpina usw. 230 Vgl. auch Dcmmcr, die die Innenwelt der I leiden in den frühen monodramatischen Stücken als einen bloßen Spiegel des mythologischen Außen begreift: »Tendierte auch das Monodrama in seinen konkreten Erscheinungen sehr häufig zur bloßen Schilderung seelischer Zustände, die die äußere I landlung bis zur Unbedeutendheit zurücktreten ließ, so muß man doch gerechtcrwcise feststellen, daß dies nicht der ursprünglichen Intention entsprach. Diese zielte auf ein Wechselspiel von Tun und Darstellung der seelischen Vorraussetzungen des Tuns Die I Iereinnahme von mythologischen Bereichen, die Auseinandersetzung mit Natur, Göttern oder Schicksal, entsprach gerade dieser Absicht: Das Ich in seiner Verflochtenheit mit der >Außenwelt< zu zeigen.« Demmer (Anm. 226), S. 112. 2 1 1 Von dieser Bestimmung her müssen die Monodramen Richard von Meerheimbs (vom Autor auch als >Psychodramen< bezeichnet), deren erster Band erstmals 1879 in Dresden erschien, und die wegen ihrer nicht unerheblichen Wirkung auf die zeitgenössische Kritik an diesem Ort nicht unerwähnt bleiben sollen, von einer Subsumicrung unter den Begriff >lyrische Dramen< ausgeschlossen bleiben. Zwar reduziert Meerheimb die Anzahl der sprechenden Personen auf eine, die Kategorie der Handlung bleibt jedoch davon unberührt: »Die Monodramen Richard von Meerheimbs sind solche dramatische Dichtungen, bei welchen nur die eine der handelnden Personen zugleich spricht, die übrigen handelnden Personen aber stumme Personen sind, oder bei welchen eine Handlung mehrerer Personen durch die Rede einer einzigen mithandelnden Person zur geistigen Anschauung des Zuhörers gebracht wird.« Paul I Iohlfeld: Über Richard von Meerheimbs Monodramen. 227
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Hinsichtlich der psychoanalytischen Dramenmetaphorik 2eichnet sich hier eine erste interessante Überschneidung der Begrifflichkeit ab: War es doch gerade die Vedetzung des bisher für die Gattung verbindlichen Kriteriums der geschlossenen äußeren Handlung im Traum gewesen, der Volkelt dazu bewogen hatte, den Vergleich zum Drama so energisch abzulehnen. Angesichts der beschriebenen dramenhistorischen Entwicklung muß dessen strenge Unterscheidung, »der ästhetische Wert des Traumes [liege] [...] nicht in dem dramatischen, sondern in dem lyrischen Elemente desselben«,232 um die Jahrhundertwende als überholt erscheinen, verschmilzt doch im lyrischen Drama die subjektive Gestimmtheit eines Individuums untrennbar mit den restlichen Elementen des dramatischen Geschehens. Der Dialog, dessen szenischer Charakter formal gewahrt bleibt, hat hier kein anderes Motiv, als die innere Entwicklung der Hauptfigur zu verdeutlichen.233 Jede Replik erhält ihre Bedeutung ausschließlich im Bezug auf diese Figur hin. Nur noch im Hinblick auf die Relation zu jener relevant, verlieren die übrigen Personen jegliche Eigenständigkeit. Das gesamte Drama läßt sich so als inszenierte Subjektivität einer Hauptfigur deuten. Wie im Traum, so wird auch in der projizierten Innerlichkeit des lyrischen Dramas das Ich sich selbst zum einzigen Gegenüber. »Der Träumer, [der] sich gegen das Spiel auf dem Traumtheater nicht bloß zuschauend [verhält]: er findet sich mitspielend auf der für ihn fertig dastehenden Bühne«,234 gibt den Doppelgänger der ausschließlich mit sich selbst konfrontierten Helden der kleinen Stücke des ausgehenden 19. Jahrhunderts ab, der Traum wird zum Sinnbild für deren Erleben von Ich und Welt. 235 Der beschriebenen >LyrisierungVater des Symbolismus< unter anderem auf die Wiener Impressionisten der Jahrhundertwende erheblichen Einfluß hatte, war tief beeindruckt von Wagners Theatertheorie.217 Szondi hat seine Theorie des lyrischen Dramas anhand von dessen Herodiade entwickelt. Das ursprünglich als dreiaktige Tragödie konzipierte Versdrama, an dem der Autor über drei Jahrzehnte hinweg arbeitete, besteht aus drei größeren Bruchstücken, von denen lediglich eines — die in der Mitte stehende Scene: ha nourrite-Herodiade — zu seinen Lebzeiten, nämlich 1869 in einer Literaturzeitschrift, veröffentlicht wurde. Die Szene enthält ein Gespräch zwischen der Heldin und ihrer Amme, in dem der tragische Grundkonflikt des geplanten Dramas exponiert wird: Herodiade, in der Mallarme ohne Rücksicht auf mythologische Vorgaben die Figur der Salome mit der ihrer Mutter Herodias verschmolzen hat, hat sich einem Ideal von körperloser, unberührbarer Jungfräulichkeit verschrieben. Zugleich sind die Unhaltbarkeit und die narzißtische Ich-Bezogenheit dieses Anspruchs ihr selbst sehr wohl bewußt. Gegen Ende des Dialogs ergeht sie sich deshalb in düsteren Ahnungen über ein Schicksal, dem ihr Widerstand zum Opfer fallen werde. Die dramaturgische Funktion des Fragments liegt nicht länger im Vorntreiben des Geschehens. Es erschöpft sich vielmehr in innerpsychischer Spiegelung, Erlebnisausdruck und Metaphorik. Der lyrische Charakter der Szene vermittelt sich in der subjektiven Motivation ihrer Bildersprache sowie der Distanz des Gesprochenen zu jeglichem äußeren Geschehen.238 Den wahren Schauplatz dieses dramatischen Fragments bildet nicht länger ein etwaiges zwischenmenschliches Geschehen, das sich im Bühnendialog entfaltet, jener ist in die Sphäre der Imagination — der Rezipienten, der Figuren - verschoben: Lyrisches Drama ist
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Vgl.: Michel Autrand und Gerard Schneilin: Symbolistisches Theater. In: Brauneck/ Schneilin (Anm. 170), S. 827-830, bes. S. 827f. Deutlich wird dies bereits in den ersten Versen der Heldin: »Wenn der blonde Strom meiner unbefleckten Haare meinen einsamen Körper benetzt, überfällt diesen eisiger Schauder; und meine Haare, die das Licht umschlingt, sind unsterblich, oh Weib!, ein Kuß würde mich töten, wenn Schönheit nicht schon der Tod wäre...«, zitiert nach Szondi (Anm. 181), S. 55. Szondi (Anm. 181), S. 59. Das Zitat lautet im Zusammenhang: »So wenig wie Hofmannsthals lyrische Dramen ist die Herodiade — um eine Wendung von I lamann und Hermand wieder aufzugreifen - ein erweitertes Gedicht. Vielmehr müßte sich die Hrkenntnis durchsetzen und in der Analyse der Texte konkretisieren, daß das lyrische Drama seine Wirklichkeit nicht auf der Bühne, sondern in der durch die Sprache evocierten Wirklichkeit der Imagination hat; daß die Qualität des Dialoges im lyrischen Drama nicht daran zu bestimmen ist, ob er sich in einer Situation sprechen läßt, sondern ob er die Situation für die Vorstellung mit den Mitteln der Sprache erstehen läßt. - Lyrisches Drama ist nicht dialogisierte Lyrik, sondern imaginäres Theater.« [Hervorhebungen im Original|.
Für Mallarme selbst geht die Konzentration auf das Imaginäre so weit, daß er schließlich von jedem Gedanken an eine szenische Realisation seines Stücks abkommt und das Geschehen restlos auf die >innere Bühne< seiner Leserschaft verlegt. Dreißig Jahre nach Veröffentlichung des He'rodiade-Fragments jedoch erobert eine Reihe von Stücken die Bühne, die, wenngleich nach dessen Muster gestaltet, nichtsdestotrotz zur Aufführung bestimmt waren. Ihre Autoren sind mit den Spielplänen der Kunst-Theater-Bewegung populär gewordene Vertreter der modernen Avantgarde-Dramatik wie Maeterlinck, van Leberghe, Yeats und im deutschsprachigen Raum Hofmannsthal, George und Rilke.240 Besondere Beliebtheit erfährt die kleine Dramenform in den literarischen Kreisen der Jung Wiener. Hermann Bahr hatte hier bereits 1891 als Gegenstand der modernen Literatur eine »Neue Psychologie«241 gefordert und zugunsten einer neuen Kategorie inneren Handelns die Fixierung auf die Repräsentation äußerer Realitäten noch im Bewußtsein der literarischen Figuren verabschiedet. Die alte »Ich-Form«242 der Schilderung sei als Darstellungsmittel gegenüber den Errungenschaften moderner Seelenkunde nicht mehr adäquat, meint Bahr. Das lyrische Drama dagegen kommt den ästhetischen Ambitionen der Wiener, die, wie Bahr in seinem programmatischen Aufsatz Die Überwindung des Naturalismus fordert, der exakten Wiedergaben der etats d'äme, der >Seelenstände< galten,243 inhaltlich wie formal entgegen. Eine Reihe der nun vermehrt entstehenden Stücke beschränkt die Fabel auf die Funktion eines Katalysators innerhalb einer pychologischen Versuchsanordnung, wie Hofmannsthals 1891 vollendeter Erstling Gestern, in dem die Entdeckung der Untreue seiner Geliebten durch den Protagonisten gleichsam ein Experiment [ermöglicht], in dem nicht mehr das äußere Geschehen von Belang ist, sondern der Charakter dessen, der geprüft wird, und die Art, wie er auf die Prüfung reagiert. 244
Der Bezug zur zeitgenössischen Psychotherapie, der sich in der experimentellem Anordnung Hofmannsthals andeutet, ist auch in den frühen Dramen Arthur Schnitzlers augenscheinlich, die ebenfalls der von Szondi für das >lyri-
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Vgl. Fischer-Lichte (Anm. 68), S. 86ff. »Die alte Psychologie hat die Resultate der Gefühle, wie sie sich am linde im Bewußtsein ausdrücken, aus dem Gedächtnis gezeichnet; die neue zeichnet die Vorbereitung der Gefühle, bevor sie sich noch ins Bewußtsein hinein entschieden haben. Die alte Psychologie hat die Gefühle nach ihrer Prägung in den idealen Zustand ergriffen, wie sie von der Erinnerung aufbewahrt werden; die neue Psychologie wird die Gefühle in dem sensualen Zustande vor jener Prägung aufsuchen. Die Psychologie wird von dem Verstände in die Nerven verlegt.« Bahr (Anm. 66), S. 33-102, hier S. 58. »Die >Ich-l'orm< reicht also nicht aus, weil sie das Nervöse gerade wegläßt, und die fachmännische >Ich-Form< kann höchstens eine Notunterkunft gewähren, bis dem Bedürfnisse eine verläßlichere Heimstätte gesichert ist.« Bahr (Anm. 66), S. 61. Vgl. meine Ausfuhrungen im Kapitel 2.2.3. Szondi (Anm. 181), S. 164.
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sehe Drama< herausgestrichenen Struktur der Subjektivierung entsprechen. 245 Seinem 1 8 8 9 verfaßten, 1 8 9 3 als Teil des Anatol-7.yklus herausgegebenem Dialog Die Frage an das Schicksal hatte Schnitzler ebenfalls die Treue oder Untreue einer Geliebten thematisch zugrunde gelegt. Gequält v o n seiner Ungewißheit über diese entscheidende Frage entschließt sich der Protagonist Anatol zu einem Experiment, in dessen Verlauf er seiner Partnerin in Hypnose das Geheimnis ihres v o n ihm vermuteten >Fehltritts< zu entreißen versucht. Der Text steht im biographischen und inhaltlichen Zusammenhang mit Versuchen, die der junge Mediziner Schnitzler zur Entstehungszeit an der Universität Wien durchführte. 2 4 6 Die Hypnose wird v o n Schnitzler im Anatol zum literarischen Motiv erhoben, das psychologische Experiment zum strukturbildenden Prinzip — die Dialoge, die den jeweiligen Partner zum bloßen >Stichwortgeber< degradieren, beinhalten ausschließlich die Selbstreflexion des Protagonisten. Die Wiener Spielart des lyrischen DramasKomödie der Seele« 247 ist offenbar zu einem nicht unerheblichen Teil v o n Hypnose und Hysteriediskurs beeinflußt. D o c h auch allgemein bildet die experimentelle Seelenkunde eine willkommene Fundgrube für Autoren einer Epoche, die den Dramenbegriff aus seinem bisherigen Bezug auf das bewußte Handeln zu lösen beginnt. 248
Bayerdörfer ordnet v.a. Schnitzlers Anatol-Zyklus der auch bei Strindbcrg zu findenden >subjektiven Dramatik« zu, deren grundlegende Eigenschaften er beschreibt wie folgt: »an die Stelle eines dramatisch objektiven Konflikts, der sich im Kontroversdialog als Movens der Handlung entwickelt, tritt die subjektive Perspektive eines Individuums. Seine Innerlichkeit wird zum Maßstab und zur Richtlinie der dramatischen Präsentation.« Hans Peter Bayerdörfer: Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödic. Xu Arthur Schnitzlers Einaktern. In: Schiller Jahrbuch 16. 1972, S. 516-575, S. 533. 2 4 6 Vgl.: »Zu seinem Einakter >Die Frage an das Schicksal« aus dem »Anatol-Zyklus« findet sich in Schnitzlers Nachlaß folgende Notiz: >Vom 26.8.89-30.8.89 Anregungen durch die damalige Beschäftigung mit dem Hypnotismus. Praktische Versuche an der Poliklinik«. Mit dieser Bemerkung stellt Schnitzler einen expliziten Bezug zwischen seinem 1889 entstandenen Einakter >Die Frage an das Schicksal« und seiner medizinischen Tätigkeit her, die von der um die Jahrhundertwende aufblühenden Hystericforschung stark beeinflußt wurde.« Claudia Ohlschläger: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg i. B., S. 114. Zu den eindeutigen I Entsprechungen zwischen literarischer Fiktion und wissenschaftlicher Praxis Schnitzlers, vgl. ebd. S. 120f. Weitere Parallelen zwischen wissenschaftlichem und literarischem Arbeiten bezüglich der Erzählstrategie Schnitzlers deckt auf: Herbert Knorr: I Experiment und Spiel - Subjektivitätsstrukturen im I Erzählen Arthur Schnitzlers. Frankfurt a. M., Bern, New York 1988. 2 4 7 Vgl. die Verse, die Hofmannsthal (alias Loris] dem Anatol-Zyklus vorangestellt hat: »Also spielen wir Theater,/Spielen unsre eignen Stücke,/ Frühgereift und zart und traurig,/ Die Komödie unsrer Seele,/Unsres Fühlens Heut und Gestern,/ Böser Dinge hübsche Formel,/ Glatte Worte, bunter Bilder,/ Halbes, heimliches lEmpfinden,/ Agonien, Episoden...« Arthur Schnitzler: Anatol. In: Ders.: Die Dramatischen Werke. 1. Bd., Frankfurt a. M. 1962, S. 28-89, darin: Einleitung, S. 28-29, hier S. 29. 248 v g i . : » j n FingalsgrotteStimmungI'rüfungstraum< handelt Freud als einen Typus unter den Typischen Träume ab. Vgl. Freud (Anm. 3), S. 277ff. Vgl. meine Ausführungen in Kapitel 3.1.2.
in Verzweiflung und Aufschrei und Ächzen, in Gedrücktheit und Sehnsucht nach Erlösung.255 Diese >StimmungTräumer< distanziert, sondern sein Publikum unmittelbar in die Traumwirklichkeit seines Stückes hineinversetzt.256 Indem »wir da sitzen und die Gestalten des Dichters wie unseren eigenen Traum erleben«, werde die Analogie des [alb] traumhaften Geschehens auf der Bühne mit dem scheinhaften Trug, von dem wir im täglichen Leben umfangen seien, deutlich: In der sogenannten Wirklichkeit sind wir Träumende, nein sind wir Traumgestalten und in einem sinnlosen Treiben, nein Getriebensein begriffen. Mit diesem Traumspiel aber löst sich uns dieser Schein der harten, festen, bestehenden und beständigen Welt [...] Die Welt wird fragwürdig in des seltsamen Worts Doppelbeeutung: vom Zweifel angetastet und so tiefernst, daß sie verdient, nach verborgener Heiligkeit hinter dem gräßlich Widrigen, nach geheimem Heil hinter dem Unheil befragt zu werden; alles Reale, Materielle erscheint als Projektion einer Geistesmacht, die diesen Trug erst - wer weiß, wozu? - hervorbringt.257 Als derart trügerischer Traum wurde die >Realität< auch innerhalb der Schopenhauerschen Metaphysik dargestellt. Der Interpretation Landauers zufolge ist die Traummetaphorik Strindbergs dem Denken Schopenhauers und den Anregungen, die schon dieser aus der indischen Philosophie übernommen hatte, 258 verpflichtet: Dieses Traumspiel [...] hat die Notwendigkeit und das Recht zu seiner Form in der Weltanschauung, die es verkörpert, indem das nicht ein fertiges Religions- oder Philosophiesystem ist, das in Worte eingekapselt ist, sondern ein Gefühl, eine Stimmung, eine Furcht und eine Hoffnung, ein Seelenzustand, der sich dauernd gebiert aus dem 1 .eben in dieser unsrer Welt und sich immerdar mißt mit dem, was von außen und innen auf ihn eindringt; diese Weltanschauung ist die Freiheit des
Gustav Landauer: Strindbergs Traumspiel. Zur Erstaufführung im Düsseldorfer Schauspielhaus. In: Hans Peter Bayerdörfer, Hans Otto Horch und Georg-Michael Schulz: Strindberg auf der deutschen Bühne. Eine exemplarische Rezeptionsgeschichte der Moderne in Dokumenten (1890 bis 1925). Neumünster 1983, S. 276290, hier S. 277. 256 i ) c n Wegfall der Distanz zum Traumgeschehen hat Landauer zuvor als die eigendiche literarische Innovation Strindbergs beschrieben: »Für den Traum auf der Bühne liegt uns zur Vergleichung Grillparzers Traum ein Ix>ben< besonders nah [...]. Aber da steht der Träumende im klassizistisch-romantischer Art rund und voll neben seinen Traumgestalten Bei Strindberg dagegen sind die Traumgestalten ganz unter sich; wir sind der Träumer, wir Zuschauer« Landauer (Anm. 255), S. 276. Line erkennbare Differenzierung zwischen Traumgeschehen und der restlichen Dramenhandlung zeichnet auch die zeitgleich mit Strindbergs Traumspiel entstehenden Traumspiele anderer Autoren aus, z.B. G erhart Hauptmanns Schluck und Jau (1900) oder - wie Bayerdörfer zeigt — Schnitzlers >Traumspiele< Alkandis Lied (1889) oder Die Frau mit dem Dolche (1900). Vgl.: Bayerdörfer (Anm. 245), S. 553ff. 2 5 7 Landauer (Anm. 255), S. 277. 2 5 8 Störig (Anm. 116), S. 506. 255
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Geistes, der sich gegen den Zwang der Natur ewig zur Welt setzt, ist der I leid und der Gott in uns, der kreatürlich sein muß und nicht sein will. Versuchte man, diese Weltanschauung, die Kampf und Ringen ist, auf die Formel zu bringen so käme man zu einer Blütenlese aus dem Geiste der indischen Verse, des Buddhismus, des Urchristentums und der Philosophie Schopenhauers. 25 '''
Bei Strindberg steht die Traumstruktur im Kontext eines grundlegenden Zweifels an der Qualität von >WirklichkeitBewußtsein vom Scheine< erklärt, hatte sich dieser ausdrücklich auf Schopenhauer und dessen Reflexionen zum Traum berufen: Schopenhauer bezeichnet geradezu die Gabt, dass Einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befähigung. Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für das Leben. Nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder sind es, die er mit jener Allgemeinverständigkeit an sich erfährt: auch das Ernste, Trübe, Traurige, finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze >göttliche Komödie< des Lebens, mit dem Inferno, zieht an ihm vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel - denn er lebt und leidet mit in diesen Szenen - und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung des Schein; und vielleicht erinnert sich Mancher, gleich mir, in den Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes sich mitunter ermuthigend und mit Erfolg zugerufen zu haben: >Es ist ein Traum! Ich will ihn weiter träumen!r f i ( )
Strindberg wurde zu seiner innovativen dramatischen Adaption der Traumstruktur und ihrer antirealistischen Funktionalisierung höchstwahrscheinlich durch die Lektüre Nietzsches angeregt, dem sich der Dichter sehr nahe fühlte.261 Interessant ist neben der Funktion der Traumanalogie auch die Technik, die das Drama dem Traum in seiner typischen Inkohärenz von Handlung und Personen angleicht. Hier konnte Strindberg vor allem auf den medizinischen Diskurs seiner Zeit zurückgreifen. Laut Inge Zeppenfeld beinhalteten psychiatrische Theorien der Persönlichkeitsspaltung wesentliche Anregungen für die Figurengestaltung im Traumspiel. Wie sie berichtet, war Strindberg
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Landauer (Anm. 255), S. 277f. Nietzsche (Anm. 113), S. 27. Strindberg hat Nietzsche bereits Ende der achtziger Jahre kennengelernt und in ihm einen Seelenverwandten erkannt. Der Schriftsteller hat sich in seiner Weltanschauung wiederholt auf diesen Philosophen berufen. Vgl. Karl Strecker: Nietzsche und Strindberg. München 1921.
[...] bereits 1883, als er in Paris Vorlesungen bei Charcot [...] hörte, auf Ribots Studie >Les maladies de personalite< |1855] gestoßen, die ihm einen analytischen Eindruck in die vielschichtige und ambivalente Struktur der Psyche gegeben [...] hatte. 262
Der Dichter selbst hat den Einfluß neurologischer Fachliteratur, die er voll Wissenseifer studiert hatte, auf sein Schreiben niemals geleugnet.263 Die Phänomene der Ich-Spaltung und des Wirklichkeitsverlustes, deren Schilderung er hier vorfindet, auf den Traum zu übertragen, war ebenfalls keine originelle Leistung Strindbergs, ist doch das Diktum, »dass, um von der Vernunft zum Wahnsinn zu kommen, es nur nötig sei, einzuschlafen«,264 zur Entstehungszeit seines Dramas wissenschaftlicher Konsens. Die Asthetisierung neurologischer Erkenntnisse zum dramatischen Stilmittel des >Traumspiels< ist bereits in Strindbergs Trilogie Nach Damaskus nachzuvollziehen, deren erster Teil 1898 entstanden ist. Teil zwei und drei folgen in den Jahren 1898 und 1904. Der Autor selbst hat die ersten beiden Stücke von Nach Damaskus in der Vorbemerkung, die er 1902 seinem Traumspiel voranstellt, rückblickend als sein »früheres Traumspiel«265 bezeichnet und die Bezeichnung damit quasi auf den Rang eines Gattungsbegriffs erhoben. Die auf der Handlungsebene unzusammenhängende, doch hintergründig durch Ideenassoziationen des Protagonisten zusammengehaltene Dramaturgie des Traumspiels findet sich in diesen früheren Stücken vorweggenommen. Mit der klassischen personenzentrierten Struktur des Handlungsvedaufs bricht Strindberg hier erstmals konsequent. Hauptfigur des Stationendramas ist >der Unbekannte^ ein rasdos pilgernder Dichter, anhand biographischer Parallelen leicht als alter ego seines Autors zu entlarven 266 Auf der Suche nach Ruhe und Einkehr begegnet er seinen eigenen charakterlichen Abgründen in einer Vielzahl von Doppelgängern. >Der Betderder Arzt< und >der Irre< stellen allesamt Abspaltungen seiner selbst dar, werden als Projektionen des einen ruhelosen Ichs lesbar. Die literarische Fragmentarisierung der Figur vermittelt den fortgeschrittenen Persönlichkeitsvedust des Protagonisten entsprechend
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Zeppenfeld (Anm. 69), S. 68. Vgl. Peter Schütze: August Strindberg. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 66ff. Diese Übereinstimmung der medizinischen Forschung seiner Zeit hat bündig der Hypnotherapcut Albert Moll zusammengefaßt, der festhält, »dass, wenn Irrenärzte eine Analogie für Geistesstörungen nehmen, sie stets ihre Zuflucht zum Traum nehmen. Behauptet doch ein Forscher geradezu, dass, um von der Vernunft zum Wahnsinn zu kommen, es nur nötig sei, einzuschlafen. Albert Moll: Der Hypnotismus. Dritte, vermehrte Auflage. Berlin 1895, S. 163. In der Fortführung dieser Analogie spricht der Psychologe Willy Hellpach 1904 explizit vom »hysterischen Traumspiel« (Willy Hellpach: Grundlinien einer Psychologie der Hysterie. Leipzig 1904, S. 465), welches im Rahmen des Anfalls den »Genuß von Vorstellungen und ein Realisieren von Handlungen, welche in der Wirklichkeit noch nicht oder nicht mehr oder irgendwie nicht zu realisieren sind.« Ebd., S. 465f. »Der Verfasser hat in diesem Traumspiel mit Anschluß an sein früheres Traumspiel >Nach Damaskus< versucht, die unzusammenhängende, aber scheinbar logische Form des Traumes nachzuahmen. « Strindberg (Anm. 249), Vorbemerkung zu >Ein Traumspielrenzaccio auszeichnet. Nicht nur erscheint der Dichter sich selbst als >der Unbekannte^ wie die Bezeichnung für diese dramatis persona lautet. Sein Ich ist vielmehr aufgespalten in verschiedene Aspekte seiner Persönlichkeit, die sich in Doppelgängern materialisiert haben. Hin ähnliches Verfahren hatte bereits de Musset angewandt, um die Auflösung des Ich dramatisch zu gestalten. In horen^aedo stellen jedoch die Doppelgänger eher Spiegel dar, in denen die verschiedenen Persönlichkeitsbilder des Helden lediglich reflektiert werden, behalten darüber hinaus aber die Qualität selbständiger dramatischer Charaktere, die für den Verlauf der I landlung wichtige Funktionen zu erfüllen haben, ungeschmälert bei. In Nach Damaskus I dagegen haben die Doppelgänger nahezu keine, vom Unbekannten unabhängige dramatische Kxistenz mehr. Ihre l'unktion erschöpft sich darin, von seinem bewußten Ich abgespaltene Teile oder Aspekte seiner Persönlichkeit zu verkörpern.« Fischer-Lichte (Anm. 68), Bd. 2, S. 137. Und: »Mit >Nach Damaskus I< hat Strindberg das Pcrsönlichkeitskonzept des 19. Jahrhunderts unwiderruflich aufgegeben.« Fbd., S. 146.
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Vgl. Szondi (Anm. 81), S. 2 0 - 3 1 . Fbd., S. 28.
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sollte — verheimlicht Nora ihrem Gatten Torvald Helmer eine Unterschriftenfälschung, die sie Jahre zuvor begangen hat, um Geld für seinen nach schwerer Krankheit erforderlichen Genesungsaufenthalt im Süden leihen zu können. Als der Schwindel auffliegt und die gesellschaftliche Reputation des Paares bedroht, reagiert Helmer verächtlich und aggressiv. Er kann erst dann Verständnis für die Tat seiner Frau aufbringen, als die Gefahr der Aufdeckung abgewendet [...] und sein eigener Ruf gerettet ist. Nora ist über dem lieblosen Verhalten ihres Gatten die Fassadenhaftigkeit ihres vermeintlichen Eheglücks bewußt geworden. Sie entschließt sich, ihr >PuppenheimDurcharbeiten< der Vergangenheit im psychoanalytischen Therapiegespräch unmittelbar zu vergleichen ist. Zentrales Thema der Stücke ist das entfremdete Verhältnis der einzelnen zu sich selbst, die durch ein soziales Versteckspiel in einer Selbstund Fremdtäuschung gefangen sind.270 'Wie es der Philosoph Volkelt für den Traum festgehalten hatte, so steckt auch in den entsprechenden Stücken Ibsens ein merkwürdig substanzloses Ich »in einer Maske und hält diese für sein wirkliches Gesicht«.271 Die vermeintliche Einheit des bürgerlichen Individuums wird zerrissen zwischen der gesellschaftlich legitimierten Rolle, die es selbst für seine Identität hält, und den diese durchbrechenden, unterdrückten und abgespaltenen Begierden und Trieben.272 Auf die Ähnlichkeiten, die dieses Konzept, dem Ibsen auch in Gespenster (1886), Rosmersholm (1887) oder Die Wildente (1888) folgt, zum Freudschen Entwurf von Traumzensur und Traumarbeit aufweist, ist von Seiten der Freud-Forschung ebenso wie der Literaturwissenschaft hingewiesen worden. 273 Zur Zeit der Niederschrift seiner Traumdeutung hat Freud den norwegischen Autor bereits gekannt und geschätzt. Sechzehn Jahre später wird seine Ab270
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In diesem Sinne »sagt Rilke [vom I xbcn unter dem Druck der sozialen Ktikette seiner Zeit und in direktem Bezug auf Ibsen], daß es >in uns hineingeglitten war, [...] sich nach innen zurückgezogen hatte, so tief, daß es kaum noch Vermutungen darüber gab.«< Zitiert nach Szondi (Anm. 81), S. 31. Volkelt (Anm. 34), S. 22f. Vgl.: »Die bürgerliche Familie, wie Ibsen sie hier [in der Wildente, B.C.] auf die Bühne bringt, ist >ein Sumpft (IV. Akt). Den idealen Forderungen, welche die Gesellschaft in Gestalt der öffentlichen Meinung an sie stellt, vermögen ihre Mitglieder nicht nachzukommen. Da die Gesellschaft jedoch auf diesen Forderungen besteht, weil sie sie als >naturgemäßes< Verhalten ausgibt, zwingt sie den einzelnen dazu, sein Familienleben auf einer Lüge aufzubauen: er muß sein tatsächliches Selbst hinter dem Bild von seinem Selbst verbergen, welches die Gesellschaft mit der Rolle eines Familienvaters oder einer I lausmutter für ihn entworfen und ein für allemal festgelegt hat. Diese Lebenslüge, welche die Basis der bürgerlich-patriarchalischen Familie geworden ist, führt zur moralischen Verelendung des Individuums und zur Auflösung seines Selbst.« Fischer-Lichte (Anm. 68), Bd. 2, S. 95. Vgl. z.B. Ellenberger (Anm. 27), Bd. 2, S. 746f.; Fischer-Lichte (Anm. 68), Bd. 2, S. 98. 171
handlung über Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit dessen Schauspiel Rosmersholm eine ausführliche Interpretation widmen. Auch dieses Drama folgt dem beschriebenen analytischen Muster: Auf einem alten norwegischen Herrenhof freit der Witwer Johannes Rosmer um seine langjährige Gesellschafterin Rebekka West. Deren Zögern gibt Anlaß zu langen Zwiegeprächen, in denen die Vergangenheit Rebekkas, die durch Lüge und Intrige ihre Herrin Beate in den Tod getrieben hat, um sich deren Gatten annähern zu können, durchleuchtet wird. Die schuldhafte Verstrickung der Gesellschafterin deutet nun Freud als die literarische Umsetzung jenes häufig zu beobachtenden »Tagtraums«,274 an dem das Mädchen, welches als Dienerin, Gesellschafterin, Erzieherin in ein I laus eintritt, [...] bewußt oder unbewußt spinnt, dessen Inhalt dem Ödipus-Komplex entnommen ist, daß die Trau des Hauses irgendwie wegfallen und der I Ierr an deren Stelle sie zur Frau nehmen wird. Rosmersholm wird eine tragische Dichtung durch den Zusatz, daß dem Tagtraum der Heldin die ganz entsprechende Wirklichkeit in ihrer Vorgeschichte vorausgegangen ist. 275
Die Präsenz der Heldin ist der Analyse Freuds zufolge zum Zeitpunkt der dramatischen Handlung in zweiedei Hinsicht aufgebrochen. Zunächst fesselt ein nicht unterdrückbares Schuldbewußtsein ihre Gedanken an den Jahre zurückliegenden Selbstmord ihrer Herrin. Zudem entdeckt Freud eine weitere tiefenpsychologische Ebene, die »im Stück sozusagen unterirdisch bleibt und aus versteckten Hinweisen erschlossen werden muß«.276 Aus »Andeutungen [...], die mit solcher Kunst eingefügt sind, daß ein Mißverständnis derselben unmöglich wird« 277 schließt er, daß Rebekkas Intrigen gegen Beate selbst eine Wiederholung des unbewußten ödipalen Todeswunsches gegen die eigene Mutter darstellen, und daß der Verliebtheit in den Hausherrn ein inzestuöses Verhältnis zum Vater vorangegangen ist. Die von Freud gezogene Analogie zwischen Ibsens Drama und dem Traum gewinnt mit dieser These eine entscheidende Stütze. Stammt doch das unbewußte Material, das seine Psychoanalyse in den Trauminszenierungen umgesetzt findet, nur allzu häufig aus dem Ödipus-Komplex. Die Begriffsgeschichte dieses Theorems, das für die spätere Psychoanalyse zentral werden sollte, nimmt ihren Ausgang in Freuds Analyse des überaus häufigen Traums vom Tode des Vaters oder der Mutter. Alarmierenderweise erregt dieses typische Nachtgesicht — zumindest befürchtet dies Freud im Hinblick auf den Familienkult seiner Zeit — möglicherweise den Widerspruch
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Sigmund Freud: Kinige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit (1916). In: Dcrs.: Studienausgabe, hrsg. v. Alexander Mitschcrlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 10, S. 2 3 0 - 2 5 6 , hier S. 250. Die Differenz des Traums zum Tagtraum ist Freud zufolge keine inhaltliche sondern betrifft allein die 1 irlebnisqualität: »Dem Traume allein zum Tagtraume eigentümlich ist daß der Vorstellungsinhalt nicht gedacht, sondern in sinnliche Bilder verwandelt wird, denen man dann Glauben schcnkt.« Freud (Anm. 3), S. 511 f. Freud (Anm. 3), S. 250f. Freud (Anm. 3), S. 247. Fbd.
der Leserschaft gegen die zentrale These der Traumdeutung, die jeden Traum als Wunscherfüllung verstehen will. Die Lösung des Problems findet ihr Autor in der Annahme einer starken sexuellen Attraktivität, die der gegengeschlechtliche Eltemteil auf ein Kind ausübt. Diese geht einher mit dem eifersüchtigen Haß auf den gleichgeschlechtlichen Teil des Elternpaars, der sich in der Phantasie des Kindes bis zum Todeswunsch steigern kann. Nach den Erfahrungen des Nervenarztes spielen die Eltern im Kinderseelenleben aller späteren Psychoneurotiker die Hauptrolle, und Verliebtheit gegen den einen, Haß gegen den anderen Teil des Elternpaares gehören zum festen Bestandteile des in jener Zeit gebildeten und für die Symptomatik der späteren Neurose so bedeutsamen Materials an psychischen Regungen. Ich glaube aber nicht, daß die Psychoneurotiker sich hierin von anderen normal verbleibenden Menschenkindern scharf sondern, indem sie absolut Neues und ihnen Eigentümliches zu schaffen vermögen. Iis ist bei weitem wahrscheinlicher und wird durch gelegendiche Beobachtungen an normalen Kindern unterstützt, daß sie auch mit diesen verliebten und feindseligen Wünschen gegen ihre Eltern uns nur durch eine Vergrößerung kenntlich machen, was minder deutlich und weniger intensiv in der Seele der meisten Kinder vorgeht. 278
Die seinerzeit sicherlich mutige Annahme eines infantilen Begehrens des andersgeschlechtlichen bzw. des eifersüchtigen Todeswunsches gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil stützt Freud mittels der Autorität jener Sophokles-Tragödie, die für seine Theorie namengebend wurde. Das Schicksal König Ödipus', der im Verlauf des Stückes erkennen muß, daß er wider Willen zum Mörder seines Vaters und zum Gemahl der eigenen Mutter geworden ist, interpretiert er als exemplarischen Fall einer universalen Kinderphantasie. Es handelt sich um die fiktive Erfüllung des ödipalen Wunsches. Den mythischen Gehalt des Dramas erklärt Freud deshalb kurzerhand zum »Traumstoff«.279 Er urteilt zusammenfassend: »Im >Ödipus< wird die zugrunde liegende Wunschphantasie des Kindes wie im Traum ans Licht gezogen und realisiert« 280 Die ganze Handlung, die Aufdeckung der Untat in einem Prozeß der Selbsterkenntnis entspricht demnach der Technik seiner
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Freud (Anm. 3), S. 265. »Daß die Sage von Ödipus einem uralten Traumstoff entsprossen ist, welcher jene peinliche Störung des Verhältnisses zu den Eltern durch die ersten Regungen der Sexualität zum Inhalte hat, dafür findet sich im Texte der Sophoklischen Tragödie selbst ein nicht mißzuverstehender I linweis. Jokaste tröstet den noch nicht aufgeklärten, aber durch die Erinnerung der Orakelsprüche besorgt gemachten Ödipus durch die Erwähnung eines Traums, den ja so viele Menschen träumten, ohne daß er, meint sie, etwas bedeute: >Denn viele Menschen sahen auch in Träumen schon / sich zugesellt der Mutter: Doch wer alles dies / für nichtig achtet, trägt die Last des I^ebcns leicht.«< Ebd., S. 268. Vgl. hierzu noch einmal das erwähnte Nietzsche Zitat in der >Traumdeutungein uraltes Stück Menschtum fortübt, zu dem man auf direktem Wege kaum mehr gelangen kannMimikry< mancher Trauminhalte ausdrücklich an: »Der Gedanke: >Das ist ja nur ein Traum< während des Traumes beabsichtigt aber dasselbe, was er auf offener Bühne im Munde der schönen Helena von Offenbach besagen soll: er will die Bedeutung des eben Erlebten herabdrücken und die Duldung des weiteren ermöglichen.« Freud (Anm. 3), S. 470. Vgl. hierzu Volker Klotz' Interpretation in Bezug auf Offenbachs Belle Helene (1864): »In vieler Hinsicht haben Offenbach und seine I.ibrettisten dafür gesorgt, daß dem Publikum die eigene Welt, vertraut und befremdend, zuwinkt aus der mythologischen, first einmal oberflächlich, aber wirksam: durch Anspielungen, Redewendungen und Anachronismen. Die Autoren gehen aus vom agonalen Ixbensprinzip der mythischen Helden, vom offenen Sichmessen im kriegerischen, spordichen, spielerischen Zweikampf Mann gegen Mann. Doch sie motivieren es um zum berechnenden, vorteilsuchenden Wettbewerb, wie er das bürgerliche Geschäftsleben prägt.« Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. München 1991, S. 157. Wie aktuell die Technik der Verschmelzung von zeitgenössischer mit antiker Thematik in der Dramenliteratur bis heute geblieben ist, verdeutlichen etwa Christa Wolfs jüngste Medea Adaption, Heiner Müllers und Botho Strauß' Auseinandersetzungen mit Antike und Postmoderne oder auch ein solch sprechender Titel wie der von Grete Weils autobiographisch gefärbten Roman: Meine Schwester Antigone.
288 Yg] Ekkehard Stärk: I lermann Nitschs Orgien Mysterien Theater< und die >1 lysterie der Griechen^ Quellen und 'Traditionen im Wiener Antikebild seit 1900, München 1987, dessen »Verfasser [sich] die Ansicht Reinhart Herzogs zu eigen gemacht [hat], daß sich die klassische Philosophie mit Hofmannsthal, Borchardt, George, R A. Schröder und Rilke erstmals wieder nach der deutschen Klassik einem Antikeverständnis an die Seite gestellt sah, das rnicht historisch vermittelt war, eine Antike-Begegnung, die in den neu erweiterten Bereichen der Psyche eine unmittelbar anwesende, vor- und unklassische Antike unverwandelt antraf, im modernen Ich lebendig sah Vgl.: »Diese Richtung fand ihren Höhepunkt und ihre Popularisierung in der Wiederentdeckung alter deutscher Stammessagen, etwa in Wagners Ring. Die nationale Fragestellung bestimmte jenseits der germanischen 'Thematik auch die Annäherung etwa an die griechische Überlieferung: F'ür die griechische Mythologie [fand| Carl Otfried Müller [...] das Prinzip der nationalen Identität: Mythos als Stammessage. [—I Die gelehrt virtuose Arbeit an Texten und Monumenten findet ihre Erfüllung im Ideal einer völkischen Urzeit.« Walter Burkert: Griechische Mytholo176
gehend ergänzte, daß er in ihm die unverbildete, noch irrational geprägte Kindheit eines Volkes überliefert sah: Seine volle und glänzende Herrschaft übte er in der Blütezeit der Griechen, ja man könnte sagen, daß letztere ungefähr solange auf ihrer Höhe bleibt, bis die Abwendung vom Mythus beginnt. Mit ihrem Mythus hatten sie ihre Jugend verteidigt. In diesen früheren Zeiten sind die Griechen a priori mythisch gesinnt; sie scheinen eben erst aus dem Traume ihrer Fabelwelt zu erwachen. 2 5 0
Dabei geschieht Burckhardts kulturgeschichtliche Annäherung an die griechische Vergangenheit im Hinblick auf ihre emotionale Affinität zur Gegenwart. Sein Werk hebt diejenigen Tatsachen hervor, welche im Stande sind, eine wirkliche innere Verbindung mit unserem Geiste einzugehen, eine wirkliche Teilnahme zu erwecken, sei es durch die Affinität oder den Kontrast zu uns. 291
Angesichts der Selbstentfremdung in einer zunehmend technisierten modernen Lebenswelt begreift man um die Jahrhundertwende mythische Uberlieferung als identitätsstiftendes Modell zum Schutze gegen die fortschreitenden Rationalisierungstendenzen der Moderne.292 Burckhardts Griechische Kulturgeschichte hat mit ihrer Gleichsetzung von Mythos und Unbewußtem nicht nur Freud, der das Werk während seiner Arbeit an der Traumdeutung las, mit >»unerwartete[n] Parallelen< für das Interesse am Prähistorischen in allen menschlichen Formern versorgt«,293 sondern ist in diesem Sinne auch »Hofmannsthal >recht gewaltig nahegekommen« 294 Hugo von Hofmannsthals Griechendramen — wie die in diesem Zusammenhang bereits erwähnte Elektro — heben die historische Distanz zum Geschehen scheinbar auf, indem sie die Überlieferung aus dem Blickwinkel moderner Verhaltensmuster und Problemfelder heraus deuten. Hofmannsthal war sich dieser projektiven Vereinnahmung der alten Stoffe durchaus bewußt. Er bekennt, daß wir die Antike als einen magischen Spiegel behandeln, aus dem wir unsere eigene Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen. 2 9 5
In seinen tiefenpsychologischen Adaptionen der alten Stoffe »transponiert«296 Hofmannsthal, wie 1903 in der Elektra und 1910 im König Odtpus geschehen,
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gie und die Geistesgeschichte der Moderne. In: Lcs etudes dassiques aux XIXe et XXe siecles: Ixur place dans l'histoire des idees. Genf 1980, S. 1 5 9 - 1 9 9 , hier S. 164f. Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte. Nach dem Text der Erstausgabe durch Jacob Oeri. Berlin und Stuttgart 1 8 9 8 - 1 9 0 2 , Bd. 1, S. 30. Burckhardt (Anm. 290), S. 6. Vgl. Wunberg (Anm. 286). Stärk (Anm. 288), S. 87. Ebd. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hrsg. v. Herbert Steiner. Aufzeichnungen. Frankfurt a. M. 1973, S. 43. Worbs (Anm. 181), S. 286.
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»Mythologie in Psychologie«.297 Er geht damit denselben Weg, den Freud im Zuge der Formulierung des Ödipus-Komplex zurücklegt.298 Wenngleich die Griechendramen des Wiener Dichters durch die Psychoanalyse selbst bereits merklich beeinflußt sind, so basiert die beschriebene Parallelentwicklung der literarischen und psychoanalytischen Antiken-Anleihe doch darüber hinaus auf einer breiten kulturgeschichtlichen Basis. Als notwendige Voraussetzung für den psychologischen Blick ins griechische Altertum darf die beschriebene Entidealisierung des Antikenbildes gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelten 2 9 9 Die Dramenfiguren sah man danach nicht länger als unantastbare Heroen, sie wurden aufs Menschenmaß reduziert. So legt Erwin Rohde schon Jahre vor Freud eine individualpsychologische Deutung der Odipustragödie vor, die den tragischen Untergang des Helden allein aus dessen Persönlichkeit heraus erklären will, denn auch wo Leid und Unheil dem Sterblichen nicht aus eigenem Kntschluß und Willen, sondern durch dunkle Schicksalsmacht entsteht, so ist es doch der besondere Charakter des I leiden, der, wie seine I Entfaltung unseren Antheil vorwiegend fordert, so den Verlauf der I Ereignisse allein bestimmt und genügend erklärt. Das gleiche Mißgeschick könnte Andere treffen, aber seine innere und äußere Wirkung würde nicht dieselbe sein wie für Odipus und Aias. Nur tragisch unbedingte Charaktere können tragisches Geschick habend"" Die Unausweichlichkeit des Schicksals erklärt Rhode kurzerhand zur psychischen Projektion des tragisch veranlagten Protagonisten und nimmt auch hierin die Interpretation Freuds voraus, der die Wirkung der SophoklesTragödie von der Frage des Fatums lösen wollte. Nicht die Unausweichlichkeit
Worbs (Anm. 181), S. 286. Die Bcgriffsbildung innerhalb der Psychoanalyse ist abgeschlossen mit dem Aufsatz Über einen bestimmten Typ der Objektwahl beim Manne von 1910, in dem Freud den Terminus Ödipus-Komplex einführt, den er später als »das Schibboleth (...], welches die Anhänger der Psychoanalyse von ihren Gegnern scheidet« bezeichnen wird. Sigmund Freud: Die Umgestaltungen der Pubertät. In: Ders.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: GW 5, hier S. 125, Anmerkung 3. 2 9 9 Worbs erklärt die Parallelität zwischen Freuds Schriften und I lofmannthals Antiken-Bearbeitungen ausgehend von den beiden Autoren bekannten Studien der >Basler Schulet liine entscheidende Rolle schreibt er dabei v.a. lirwin Rohdes Psyche zu: »Interessant ist, wie Rohde sich mit den Berichten über >Besesscnheit< |die Pythia z.B.| auseinandersetzt. Er geht von den in antiken Quellen berichteten Fällen von Besessenheit aus und stellt sie zeitgenössischen Berichten von Bewußtseinsspaltung an die Seite. Wenn die Griechen dies aber >als das Hinfahren eines fremden Geistes in den Menschern [Rohde| ansahen, so ersetzt er diese Denkweise durch die moderne, wissenschaftliche, denn >die Willkür< liege nur in >dcr Auslegung der I Erfahrungen. Was den G riechen als das Wirken fremder, dämonischer Mächte erschien, ist für Rohde Projektion psychischer Prozesse in die Außenwelt. Diese Umdeutung ursprünglich religiöser Vorstellungen in psychische Prozesse, die Ersetzung magischer Hrklärungsweisen durch wissenschaftliche gibt den Weg an, den I lofmannsthal und Freud in ihrer Auseinandersetzung mit dem Mythos gegangen sind. Für beide ist der Begriff der >Projektion< der Schlüssel zum Verständnis der griechischen Mythologie.« Worbs (Anm. 181), S. 295. 3(10 fifwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Darmstadt 1991, Bd. 2, S. 235. 297
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des Schicksals, sondern die AUgemeingültigkeit des geschilderten Verhängnisses lasse den Odipusstoff bis heute so tragisch-ergreifend wirken.301 Der psychoanalytischen Deutung geht die psychologische Einfühlung in die griechische Dramenwelt voraus. Die entsprechende kulturwissenschaftliche Auffassung der antiken Tragödie sollte seinerzeit auch inszenierungsgeschichtlich wirksam werden. Kannte das neunzehnte Jahrhundert bis in seine achtziger Jahre hinein die griechischen Tragödien fast ausschließlich aus museal-klassizistischen Musiktheateraufführungen, lassen sich für die letzten Jahrzehnte verschiedene Versuche verzeichnen, den alten Stoffen mit den Mitteln eines modernen psychologisierenden Inszenierungsstils nahezukommen.302 Was Freuds Heimatstadt Wien angeht, so machten in dieser Richtung zwei Inszenierungen Geschichte: In der Übersetzung und Regie Adolf Wilbrandts hatten im Burgtheater am 25.1.1882 die Elektra und am 29.12.1886 der König Odipus des Sophokles Premiere. Beiden Stücken war eine aktualisierende, den mythischen Gehalt individualisie-
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Vgl.: »>König Ödipus< ist eine sogenannte Schicksalstragödie, ihre tragische Wirkung soll auf dem Gegensatz zwischen dem übermächtigen Willen der Götter und dem vergeblichen Sträuben der vom Unheil bedrohten Menschen beruhen; Ergebung in den Willen der Gottheit, Einsicht in die eigene Ohnmacht soll der tief ergriffene Zuschauer aus dem Trauerspiele lernen. Folgerichtig haben moderne Dichter es versucht, eine ähnliche tragische Wirkung zu erzielen, indem sie den nämlichcn Gegenstand mit einer selbsterfundenen Fabel verwoben. Allein die Zuschauer haben ungerührt zugesehen, wie trotz allen Sträubens schuldloser Menschen ein Fluch oder ein Orakel sich an ihnen vollzog; die späteren Schicksalstragödien sind ohne Wirkung geblieben. Wenn der König Ödipus den modernen Menschen nicht minder zu erschüttern weiß als den zeitgenössischen Griechen, so kann die l-ösung wohl nur darin liegen, daß die Wirkung der griechischen Tragödie nicht auf dem Gegensatz zwischen Schicksal und Menschenwillen ruht, sondern in der Besonderheit des Stoffes zu suchen ist, an welchem dieser Gegensatz erwiesen wird. Es muß eine Stimme in unserem Inneren geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Odipus anzuerkennen bereit ist, während wir Verfügungen wie in der •>Ahnfram oder in anderen Schickalstragödien als willkürliche zurückzuweisen vermögen.« Freud (Anm. 3), S. 266f. Vgl. auch: »Freuds Auffassung des Oedipusdramas ist in unserem Zusammenhang auch deshalb von Interesse, weil sie in den >Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse< eine Polemik gegen die Schicksalstragödien enthält, in denen der mantische Traum eine so große Rolle spielt. Freud akzeptiert im sophokleischen König Oedipus die Unterordnung des Melden unter den Willen der Götter oder des Schicksals nicht, das sei >fromme Spitzfindigkeit^ der Zuhörer reagiere so, als hätte er >den Götterwillen sowie das Orakel als erhöhende Verkleidungen seines eigenen Unbewußten erkannt.< Orakel und damit auch der mantische Traum erscheinen als abwehrende Projektion eigener Verantwortlichkeit.« Pestalozzi (Anm. 37), S. 96.
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Exemplarisch für diese Tendenz war der Vortrag über die >Aufführbarkeit der altgriechischen Tragödien den Ulrich Wilamowitz-Mocllendorf einige Tage vor Premiere der Hans Oberländer-Inszenierung des König Odipus, am 28.2.1900 in Berlin hielt. Die Deutsche Bühnengenossenschaft (29, 1900, S. 40) berichtet, daß Wilamowitz empfahl, »sich bei einer Neubelebung nicht an antiquarische Forderungen zu halten, sondern nur an das Lebendige und lebensfähige zu denken, dabei aber freilich die innere Forderung der Dichtung, den Stil, einzuhalten Das Schulmäßige müsse zurücktreten, das geistig lebendige, Nachzuempfindende den Ausschlag geben.« 179
rende Tendenz zu eigen, und zwar sowohl was ihre Übertragung ins Deutsche 303 als auch was die Mittel der Aufführung anging. 304 Insbesondere die letztgenannte Inszenierung wurde zu einem grandiosen Publikumserfolg. 305 Wilbrandt hatte in seiner Einrichtung des Stückes die tragische Distanz zugunsten der psychologischen Nachvollziehbarkeit konsequent eliminiert: Vielleicht hat der Kritiker vom illustrierten Wiener Extrablatt» [30.12.1886] die ambivalente Situation mit der ein wenig ironischen Formulierung treffend durchschaut: >Den Premieren Abonnenten ging das traurige Schicksal der 1 .abdakidcn-Familic so sehr zu Herzen, daß sie zu den Schnupftüchern griffen und die 'I'ränen auffingen, als ob der König Ödipus der nachgelassene Sohn der Cameliendame wäre...< Jedenfalls war der Beifall enthusiastisch; der König Odipus wurde das meistgespielte Stück im Burgtheater bis zum linde des Jahrhunderts. 0 6 Wenngleich nicht nachweisbar ist, ob Freud die Sophokles-Inszenierungen Wilbrandts gesehen hat, ist es doch sehr unwahrscheinlich, daß er als kunstinteressierter Bürger Wiens nicht zumindest davon gehört hätte. In jedem Fall steht seine psychoanalytische Ödipus-Interpretation — ähnlich wie bereits der Katharsis-Begriff — im Zusammenhang einer gesamtkulturellen Umdeutung
»Wilbrandts Übersetzungen glätten, beseitigen das ursprüngliche Versmaß und wie es im Vorwort heißt - die >tausend Anspielungen auf Sage und Vorzeit, die alten Sitten, Rechte und Begriffen Vor allem aber hat Wilbrandt den Chor aufgelöst Der Chor sei ohne Musik ein >blasses Theorem zwischen den handelnden Menschcnschickliche Individualität», d.h. in Einzelpersonen, im König Odipus in drei biedere Bürger, in der Elektra in eine junge und eine alte Dienerin. Zwar bewahrt Wilbrandt auch in den Chorliedern die Hauptgedanken [...], nivelliert [aber| mit der Zerstörung der Form die tragische Aussage in einen genrehaften Dialog von Bürgern. Nur so, glaubt er, könne die griechische Tragödie eine Wirkung auf den Menschen der Gegenwart ausüben.« Hellmut Flashar: Inszenierung der Antike, München 1991, S. 97. 3 0 4 »Die Klektra stand in der Regie Wilbrandts überhaupt das erste Mal auf einer deutschsprachigen Bühne. Ubersetzung, Regie und Bühnenbild waren eine Hinheit. Die ohnehin die Chorlieder auflösende, relativ freie Ubersetzung wurde noch einmal durch Streichungen zu einer Bühnenfassung konzentriert, die die Spannung erhöhen sollte [...] Das Bühnenbild war frei von allen archäologischen und klassizistischen Ingredienzien. Die Bühne war ein freier Platz; im Hintergrund sah man dunkelgraue Steinquader, davor sechs Stufen Auch die Kostüme waren nicht antikisierend, Orest und Elektra trugen Ledersandalen und ärmliche Phantasiegewänder. Iis ist wohl das erste Mal, daß bei einer Aufführung einer antiken Tragödie ein (heute in der Bibliothek des Burgtheaters festgehaltenes) Szenarium entworfen wurde, bei dem man (wie es heute selbstverständlich ist) von einer pseudoarchäologischen Annäherung an die antiken Bühnenverhältnisse zum 'Teil abgesehen hatte. Trotzdem führte das Abstreifen der klassizistischen Bestandteile in Ubersetzung, Regie und Bühnenbild nicht zu einer Freilegung der Tragik. Vielmehr wurde diese in der Konzeption Wilbrandts abgeschwächt und der Vorstcllungswelt des Publikums angepaßt. Gleichwohl war die emotionale Reaktion heftig; G rauen und Entsetzen packte die Zuhörer, die Kritik war eindeutig positiv.« Flashar (Anm. 303), S. 101. 305 Vorangegangen war 1867 die Uraufführung der Wilbrandt-Fassung unter der 1 ,eitung Herzog Georgs von Meiningen. Zuvor war der König Odipus im deutschsprachigen Raum überhaupt nur einmal aufgeführt worden und zwar 1852 in München, mit mäßigem Erfolg. Flashar (Anm. 303), S. 93. 3 0 6 Flashar (Anm. 303), S. 102. 303
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des Antikenbildes. Ausgehend von den altertumskundlichen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts mündet diese um 1900 in eine popularisierende Aktualisierung altgriechischen Gedankenguts. Was die Aufführungsgeschichte des König Ödipus angeht, so kulminiert die Mutation des antiken Helden zum Zeitgenossen wohl am eindrücklichsten in der von Max Reinhardt 1910 mit grandioser Wirkung inszenierten Hofmannsthal-Bearbeitung des Stückes. Die antike Tragik wurde unter seiner Regie auf die Ebene zeitgenössischer Massenpsychologie transponiert.307 Und ausgerechnet mit der Aufführung dieses Stückes entwickelte der Pionier des modernen Regietheaters in einer Münchner Ausstellungshalle seine ersten Versuche mit dem Arenatheater, aus dem später eine neue, zeitgemäße Form von >Volksfestspielen< hervorgehen sollte.308 In der Entwicklung des Ödipus-Komplexes als eines ihrer konstitutiven Theoreme erweist sich die Psychoanalyse demnach gelenkt durch die geistigen Moden ihrer Epoche. Die innige Verbindung zum Zeitgeist, aus der heraus er seinen >homo psychologicus< kreiert, hängt der Rezeption der Freudschen Thesen vielleicht auch deshalb bis in die heutige Zeit hinein an.309
307 Yg[ folgende Darstellung der >Massenregiein Wirklichkeit liebst.« Ralf Dahrendorf: Homo sociologicus. Köln und Opladen 1967, S. 12f. 181
4.
Rollentheorie, Schauspielmetaphorik und Bühnenspiel
4.1. Simmels Soziologie im Kontext von Wissenschafts- und Kulturgeschichte Anders als das Werk Sigmund Freuds, dessen kontinuierlichen Einfluß auf das Denken des 20. Jahrhunderts wohl niemand bestreiten wird, sind Name und Denken des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Georg Simmel, der 1858 als Kind jüdisch getaufter, zum Katholizismus konvertierter Eltern in Berlin geboren wurde und 1918 in Straßburg starb, zwischenzeitlich beinahe in Vergessenheit geraten. Erst Jürgen Habermas hat in seinem Nachwort zu Simmels 1983 wiederaufgelegter Aufsatzsammlung über Philosophische Kultur die geistesgeschichtliche Bedeutung, die dem Autor vor allem als Vorläufer der f r a n k furter Schule< zukommt, gewürdigt.1 Seit sich neuerdings die sogenannte >Postmoderne< verstärkt auf ihre Vorgeschichte in der >Moderne< zurückbesinnt, rückt die enorme Wirkung, die Simmels Schriften in seiner eigenen Epoche entfalteten, ebenso ins Bewußtsein wie deren oft verblüffende Aktualität.2 Seit Mitte der achtziger Jahre ist insgesamt ein wachsendes Interesse an den Ideen Georg Simmels zu verzeichnen.3
4.1.1. Wissenschaftsgeschichtliche und methodische Positionen der Simmelschen Theorie Als einer der Begründer der modernen Soziologie wird Georg Simmel heute direkt neben Max Weber und Emile Dürkheim gestellt. Für dieses Fach von Bedeutung wurde vor allem sein Gesellschaftsbegriff, der den Erkenntnisgegenstand einer genuin soziologischen Untersuchung von demjenigen einer historischen oder sozialpsychologischen Analyse absetzt. Simmel stellt Gesellschaft erstmals unabhängig vom Bewußtsein einzelner Individuen als relationale Struktur dar. In der autobiographischen Skizze Anfang einer unvollen-
Jürgen Habermas: Simmel als Zeitdiagnostiker. Nachwort in: Georg Simmel: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais. Berlin 1983, S. 243-253. Vgl. u.a. Felicitas Dörr-Backes und Ludwig Nieder (Hrsg.): Georg Simmel zwischen Moderne und Postmoderne. Würzburg 1995. Vgl. den ausführlichen Forschungsbericht in: Angela Sendlinger: Lebenspathos und Decadcnce um 1900. Studien zur Dialektik der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyserlings und Georg Simmels. Frankfurt a. M. 1994, S. 1 lf.
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deten Selbstdarstellung sammengefaßt:
hat er selbst seine theoretischen Errungenschaften zu-
Ich bin von erkenntnistheoretischen und kantwisscnschaftlichen Studien ausgegangen, mit denen geschichtliche und sozialwissenschaftliche Hand in Hand gingen. Das erste 1 Ergebnis davon war das [...] Grundmotiv: daß >Gcschichte< die Formung des unmittelbaren, nur zu erlebenden Geschehens gemäß den Aprioritäten des wissenschaftsbildenden Geistes bedeutet, genau wie >Natur< die Formung des sinnlich gegebenen Materials durch die Kategorien des Verstandes bedeutet. Diese Trennung von Form und Inhalt des geschichtlichen Bildes, die mir rein erkenntnistheoretisch entstand, setzte sich in mir dann in ein methodisches Prinzip innerhalb einer I ;,inzel Wissenschaft fort: ich gewann einen neuen Begriff der Soziologie, indem ich die Formen der Vergesellschaftung von den Inhalten schied, d.h. den Trieben, Zwecken, Sachgehalten, die erst von den Wechselwirkungen zwischen den Individuen aufgenommen, zu gesellschaftlichen werden; die Bearbeitung dieser Art der Wechselwirkungen habe ich deshalb, als den Gegenstand einer reinen Soziologie, in meinem Buch [Soziologie, 1908] unternommen. 4
Wissenschaftshistorisch knüpft Simmeis Verständnis der Soziologie am theoretischen Konzept der Geisteswissenschaften an, das Wilhelm Dilthey mit seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) vorgelegt hat.5 Dilthey unterscheidet die Naturwissenschaften, deren Aufgabe es sei, allgemeingültige Gesetze zu formulieren, von den Geisteswissenschaften, denen es darum ginge, ein historisch einmaliges Gebilde in seiner Einzigartigkeit auf einen darin zum Ausdruck kommenden geistigen Gehalt zurückzufuhren, den es durch Einfühlung zu verstehen gilt. In seiner Nachfolge versucht Simmel nicht — wie es noch der Positivist Auguste Comte getan hatte, von dem der Terminus >Soziologie< ursprünglich eingeführt wurde — nach naturwissenschaftlichen Maßgaben immerwährende und allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft zu formulieren. Sein Bestreben ist vielmehr, den Gegenstand im Rahmen einer nachvollziehenden Rekonstruktion seines Aufbaus als historisches Phänomen geistig zu durchdringen. Simmel wird mit der Übertragung geisteswissenschaftlicher Methoden auf das Feld der Gesellschaftslehre zum Stifter einer Disziplin, die sich >\rerstehende Soziologie< nennt/' Bei aller Orientierung an Dilthey setzt sich Simmel zugleich von dessen methodischer Fixierung auf die Psychologie grundlegend ab. Nicht mehr das individuelle Bewußtsein des einzelnen — das Dilthey im Ursprung jeglicher kultureller Form vermutet hatte — rückt der Soziologe in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen.7 Er ist überzeugt:
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Zitiert nach: Werner Jung: Georg Simmel zur Einführung. Hamburg 1990, S. 23f. [Ilerv. B.C|. Die Auseinandersetzung mit Dilthey durchzieht Simmcis gesamtes Werk, auch wenn dessen Name nirgends explizit genannt ist. Vgl. dazu: Hans Jürgen Helle: Dilthey, Simmel und Verstehen. Vorlesungen zur Geschichte der Soziologie. Frankfurt a. M. 1986. Vgl. Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. F.ine Einleitung in die verstehende Soziologie. Wien 1932. Dieselbe Wendung gegen die Individualpsychologie als Frklärungsmuster für gesellschaftliche Phänomene bestimmt auch die >Kritische Theorie< der Frankfurter Schule, insbesondere Theodor W. Adornos.
Soll es |...j eine Wissenschaft geben, deren Gegenstand die Gesellschaft ist, so kann sie nur diese Wechselwirkungen, diese Arten und Formen der Vergesellschaftung untersuchen wollen. 8
Wissenschaftstheoretisch geht er dabei von einem radikalen Relativismus aus. Alle Erkenntnis des Seins ebenso wie dessen vermeintlichen Sinn wertet er in der Verallgemeinerung des »Kant'schen Standpunkts (Alles was wir [...] von der Natur wissen und potentiell wissen können, wird erst durch die Aktivität des Verstandes zustandegebracht)«9 als Projektion des Erkennenden. Dieser stelle aus dem an sich formlosen Rohmaterial des Vorhandenen eine vermeintlich geordnete Wirklichkeit erst nachträglich her.10 Wie exemplarisch in Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905) herausgearbeitet, sind »die Gegenstände des Erkennens von vornherein durch die Formen des Erkennens zustande gebracht«.11 Dieses Relativismus wegen ist Simmeis Denken von vielen Seiten als repräsentativ für die tiefe Bewußtseinskrise seiner Zeit bezeichnet worden.12 Es läßt sich in der Tat charakterisieren als konsequente Umsetzung und Interpretation der >ModerneSeinGottNatur< und >Ich< habe sich der moderne Mensch mit der flüchtigen >Wahrheit der augenblicklichen Empfindung< zu begnügen; so will es Bahrs 1890 erschienene Programmschrift Die Moderne: Wir haben kein anderes Gesetz als die Wahrheit, wie jeder sie empfindet. Der dienen wir. [...] Dieses wird die neue Kunst sein, welche wir so schaffen. Und es wird
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Georg Simmel: Soziologie. Ixipzig 1908, S. 7, zitiert nach Jung (Anm. 4), S. 83. Heinz-Jürgen Dahme: Soziologie als exakte Wissenschaft. Georg Simmeis Ansatz und seine Bedeutung in der gegenwärtigen Soziologie. Stuttgart 1981, S. 304f. Mit anderen Worten: Jede Erkenntnis ist relativ zum Gesichtspunkt des Erkennenden: »Man kann das Einzelne nicht beschreiben, wie es wirklich war, weil man das Ganze nicht beschreiben kann. Eine Wissenschaft von der Totalität des Geschehens ist nicht nur wegen ihrer nicht zu bewältigenden Quantität ausgeschlossen, sondern weil es ihr an einem Gesichtspunkt fehlen würde, den unser Erkennen braucht, um ein Bild, das ihm genüge zu formen, an einer Kategorie, unter der die Elemente zusammengehören, und die bestimmte derselben mit einer bestimmten Forderung ergreifen muß.« Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (Zweite Fassung 1905/1907) in: Ders.: Gesamtausgabe, hrsg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1989ff. (im folgenden: GA); Bd. 9, S. 2 2 7 ^ 1 9 , hier S. 287. Simmel (Anm. 10), S. 419. »Indem Simmel (...) die um 1900 in eine Vielzahl von heterogenen intellektuellen und künstlerischen Strömungen einmündende kulturelle Moderne wie vor ihm kein anderer zur Grundlage seines eigenen intellektuellen Schaffens machte, versuchte er zugleich die spezifische Dynamik der >neuzeitlich bewegten Geschichte< in Gestalt eines ihr auch in formaler Hinsicht entsprechenden philosophischen, soziologischen und ästhetischen Denkens zum Ausdruck zu bringen.« Klaus Lichtblau: Georg Simmel. Frankfurt, New York 1997, S. 12. Vgl. auch: »Simmel [...] identifies himself with modernism and the need to search for new ways of grasping the dynamic movement of modernity.« David Frisby: Sociological Impressionism. A reassassment of Georg Simmel's social theory. London 1992, S. 172. 185
die neue Religion sein. Denn Kunst, Wissenschaft und Religion sind dasselbe. Iis ist immer nur die Zeit, jedesmal in einen anderen Teig geknetet.1-'
Georg Simmel entfaltet sein Denken vor dem Hintergrund dieser radikalen Infragestellung von absoluten Orientierungsgrößen. Eine der ersten im Rahmen seiner modernen Wahrnehmungskritik zerfallenden Größen ist die IchKategorie, deren Bild sich innerhalb der Moderne von der prästabilen Grundlage des Bewußtseins zum Medium flüchtiger Empfindungen und Eindrücke zu wandeln beginnt. Die Vorstellung eines einheitlichen Ichs hatte der Soziologe bereits in der frühen Schrift Über sociale Differenzierung (1890) verabschiedet, denn: Was man sich unter der Einheit der Seele konkret zu denken hat, weiß kein Mensch. Daß irgendwo in uns ein konkretes Wesen säße, das der alleinige und einfache Träger der psychischen Entscheidungen wäre, ist ein völlig unbewiesener und erkenntnistheoretisch unhaltbarer Glaubensartikel. 14
Vor dem Hintergrund dieser tiefen Skepsis gegenüber dem Begriff des IchSubjekts ist Simmeis Reflexion von Individuum und Gesellschaft zu betrachten, die als »Vorwegnahme der soziologischen Rollentheorie«15 betrachtet wird. Sie wird den Fokus der folgenden metapherngeschichtlichen Übedegungen ausmachen. Mit der theoretischen Distanzierung von der Leitkategorie des Individuums ist zugleich die Affinität zu einer philosophischen Strömung gegeben, die seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend virulent wird, und das Denken Simmeis maßgeblich beeinflußt. Sein Werk steht — und das gegen Ende zunehmend — unter dem Zeichen der Lebensphilosophie der Jahrhundertwende, die an erste Stelle ihres Wertsystems die überindividuelle Kategorie des >Lebens< stellt.16 Mit Angela Sendlinger läßt sich der um 1900 zentrale Begriff des >Lebens< definieren als großes Kontinuum, als ewig fließcnde[r] Strom des Ixbens, als überindividuelles Oesamtleben, das alle Individuen und Erscheinungen umgreift, und das eine Einheit von Werden und Vergehen, von ].eben und Tod darstellt. 17
Vor dem Hintergrund einer hochzivilisierten Kultur sieht die Lebensphilosophie dieses überindividuelle und ursprüngliche Kontinuum von Vereinzelung
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Hermann Bahr: Die Moderne. In: Ders.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1 8 8 7 - 1 9 0 4 . Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Gotthart Wunberg. Stuttgart 1968, S. 3 5 - 3 8 , hier S. 38. Georg Simmel: Über sociale Differenzierung. In: Ders. (Anm. 10), Bd. 2, S. 1 0 9 295, hier S. 128. Daß Simmcis einfühlende Methode dieses einheitliche Ich im Widerspruch zu dieser seiner eigenen These voraussetzt, ist als eine theorieimmanente Verdrängungsleistung zu werten. lichtblau (Anm. 12), S. 37. Die Konstanz lebensphilosophischer Fragestellungen im Werk Simmeis hat Angela Sendlinger im Zusammenhang mit literarischen Entwicklungen seiner Zeit untersucht. Vgl. Sendlinger (Anm. 3). Sendlinger (Anm. 3), S. 262.
der Subjekte und deren Erstarrung bedroht. Dementgegen streben kiinsderische und philosophische Entwürfe der Zeit nach einer Entgrenzung des Einzelnen in den allumfassenden Zusammenhang des Lebens, das sie verstehen als jenes Prinzip [...], das nicht immer schon realisiert ist, wenn gelebt wird, das vielmehr zu bewahren ist vor den Gefahren, die ihm drohen, zu verwirklichen im Kampf gegen Mächte, die es unterdrücken wollen: gegen das Positive der Institutionen; gegen die Geschichte, welche die Gegenwart auf die Vergangenheit bezieht; gegen die Reflexion, die das I-eben zu ihrem Objekt macht und die Subjekt-ObjektSpaltung in das Leben selber hineinträgt.18
In der Tradition des allgegenwärtigen Vordenkers Friedrich Nietzsche wird der angestrebte Idealzustand mit dem Kennwort des >Dionysischen< belegt. Auf der Ebene der Gesellschaftstheorie Simmeis offenbart sich die Polarität von Lebensstrom und der Erstarrung in der Individuation im rollenhaften Verhalten. Zwar ist die Gesellschaft Wechselwirkung zwischen Individuen und damit eingebunden in den unaufhaltsamen Lebensstrom, andererseits begegnen sich in ihr, so Simmel die einzelnen Mitglieder nicht unvoreingenommen, sondern unter dem Vorzeichen der Verallgemeinerung des anderen entsprechend seiner sozialen Stellung zu einem bestimmten >Typus Menscht Dieser Vorgang halte >für jeden Teilnehmer gleichsam ein stilisiertes Gewand bereitideelle Formen, in die unsere Existenz sich zu kleiden hat
Soziologische Asthetik< Simmeis Mit der intensiven Bindung Simmeis an die Lebensphilosophie, die teilweise ihre Kontinuität in der vitalistischen Ideologie des Nationalsozialismus findet, hängt gewiß auch seine geistige Verdrängung nach dem Ende des zweiten Weltkriegs zusammen. Allerdings hat dieser Denker — der jedem Totalitarismus von Grund auf fern stand — in zahlreichen Überlegungen, die über sein ganzes Werk verteilt sind, das Verhältnis zwischen dem individuellen Dasein und Lebensganzen als ein Paradox, ja als Tragödie beschrieben. Wohl der bekannteste dieser Ansätze findet sich in dem — mittlerweile auch hinsichtlich der von ihm ausgegangenen Anregungen auf die Kulturtheorie Adornos und Horckheimers - viel besprochenen Essay Der Begriff und die Tragödie der Kultur
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Peter Szondi: Das lyrische Drama des I'in de siecle. Studienausgabe der Vorlesungen, Band 4. Frankfurt a. M. 1975, S. 176. Uta Gerhardt: Georg Simmeis Bedeutung für die Geschichte des Rollenbegtiffs in der Soziologie. In: Hannes Böhringer und Karlfried Gründer (Hrsg.): Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel. Frankfurt a. M. 1976, S. 71— 89, hier S. 78. Die Autorin zitiert Simmeis Fragmente und Aufsätze. 187
(1911). 2 0 D i e Tragik des Subjekts liegt S i m m e l z u f o l g e darin, daß es z u m Z w e c k e seiner Verwirklichung in der K u l t u r genötigt ist, sich in d a u e r n d e n F o r m e n z u objektivieren, aber zugleich in diesen starren O b j e k t e n sich seiner H e r k u n f t aus d e m beweglichen L e b e n entfremdet: So sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht gegenüber, der Religion wie der Technik, der Wissenschaft wie der Sitte - nicht nur von ihrem Inhalt bald angezogen, bald abgestoßen, jetzt mit ihnen verschmolzen wie mit einem Stück des Ich, bald in Fremdheit und Unberührbarkeit gegen sie; sondern es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Lxistenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Ixbendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegenstellt; als Geist dem Geiste innerlichst verbunden, aber eben darum unzählige Tragödien an diesem tiefen Formgegensatz erlebend. 21 Grundsätzlicher n o c h als in der K u l t u r manifestiert sich der p a r a d o x e G e g e n satz zwischen d e m L e b e n und seinen Objektivationen innerhalb des einzelnen I n d i v i d u u m s selbst. S i m m e l hat diesen inneren W i d e r s p r u c h als /Tragödie des Organismus< beschrieben: das I-eben ist ein Strom, dessen Tropfen die Wesen sind, er geht nicht durch sie hindurch, sondern ihre Lxistenz ist ganz und gar nur sein Fließen. Und nun ist das Rätselhafte, daß unter allen Erscheinungen der Welt gerade nur die Lebewesen Individuen sind, sie allein relativ in sich geschlossene Formen und Kreisläufe |neben und in all ihrer Wechselwirkung mit der Umwelt|, sie allein Feinheiten, die sich unter wechselnden Schicksalen und Umgestaltungen als solche bewahren. Das 1 .eben zeigt also die größte Kontinuität, getragen von oder sich äußernd in der größten Diskontinuität, es ist eine I Einheit, in die scheidende, Teileinheiten bildende .Abstände zu setzen ganz widerspruchsvoll ist, und dennoch besteht diese Feinheit aus lauter Wesen, die um eigene Zentren herum existieren und dies um so entschiedener auf einer je höheren, reiferen Lebensstufe sie stehen: je mehr das Leben sich zur Seele entwickelt, empfinden wir einerseits seine äußerste Konzentriertheit, sozusagen seine höchste Lebendigkeit - und grade hier die höchste Individualität des (Einzelwesens, das entschiedendste, sozusagen bis zur Abschnürung von der allgemeinen Ixibensströmung gehende Fürsichsein. 22 A u s dieser generell tragischen D i s p o s i t i o n des menschlichen D a s e i n s g a b es für S i m m e l nur einen A u s w e g : D i e K u n s t . H a r t m u t Scheible konstatiert i m Hinblick a u f sein G e s a m t w e r k : Ganzheits- und Harmonicvorstellungen werden aus der Gesellschaft abgezogen und bleiben allein dem ästhetischen Bereich vorbehalten. L s ist, so betont Simmel, >der ganze Sinn der Kunst, aus einem zufälligen Bruchstück der Wirklichkeit eine in sich ruhende 'Totalität zu gestalten^ 23
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Lin Hinweis auf die Kontinuität zur Dialektik der Aufklärung findet sich bei: Habermas: Simmel als Zeitdiagnostiker. In: Simmel (Anm. 1), S. 250. Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Philosophische Kultur. Gesammelte Iissais (1911), wieder in: Simmel (Anm. 10), G A 14, S. 385—416, hier S. 385. Georg Simmel: Das individuelle Gesetz, hrsg. v. Michael Landmann. Frankfurt a.M. 1987, S. 205f. Hartmut Scheible: Literarischer Jugendstil in Wien. München und Zürich 1984, S. l l f .
Laut Werner Jung sah Simmel Kunst als Leben der Form24 im Sinne einer Γ art pour l'art Ästhetik dem Bereich der Wirklichkeit und seiner tragischen Struktur ent2ogen: Denn die Kunst als Form ist vor allen anderen Objektivationen menschlichen Lebens deshalb ausgezeichnet, weil sie ein gleichsam authentischer Ausdruck subjektiven Lebens ist, während die anderen Objektivationen aus Zwangslagen, aus dem Zwang zur Kultur, als notwendige institutionelle Absicherungen und Entlastungen zum Zweck der Bestandserhaltung [Gehlen] entstanden sind. 25
Kunst werde dadurch »zum Ort der Versöhnung von Form und Leben«26 Simmel gibt sich mit dieser Uberzeugung als ein Vertreter jenes >Ästhetismus< zu erkennen, den Peter Szondi als typische Geisteshaltung des Fin de siede charakterisiert: Nietzsches Satz, daß das Dasein und die Welt nur als ein ästhetisches Phänomen gerechtfertigt seien [Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik], mag den Grund gelegt haben, darauf baut die Gedankenwelt des Fin de siede auf, wie sie vor allem aus England |Oskar Wilde, Walter Horatio Pater], auch aus dem Frankreich der Parnassiens und der Symbolisten wieder nach Deutschland zurückströmt. Man kann den Ästhetismus auffassen als letzten verzweifelten Versuch, den auf die Gedanken der Stürmer und Dränger und der Romantiker zurückgehenden I^ebensbegriff in einer Welt zu verteidigen, deren zunehmende Verdinglichung ihn immer mehr zur Illusion macht. Man kann darin zugleich die Antwort sehen auf den Zusammenbruch des deutschen Idealismus, der den Begriff des Lebens noch durchaus politisch, mit dem Ziel politischer Realisierung gedacht hatte [beim jungen Hegel und bei Hölderlin]; die Antwort zugleich auf den Materialismus, der im 19. Jahrhundert aus den Trümmern des Idealismus entstand. Es ist, wenn man so will, der paradoxe Rückzug aus dem Leben, die Verklärung des Lebens zum Kunstwerk, der Wille, die Realität nur noch als ästhetische zu berücksichtigen. 27
Daß auch Simmel seine soziologischen Reflexionen unter ästhetischen Maßgaben betreibt, liegt in der Konsequenz dieser historischen Entwicklung ebenso wie seiner Erkenntniskritik. Der ihm gegenüber erhobene Vorwurf des »sozialphilosophischem Asthetizismus«28 hat jedoch zur längerfristigen NichtBeachtung dieses Denkers beigetragen. Erst im Rahmen der neueren Diskussion erscheinen gerade Simmeis originelle Grenzgänge zwischen Philosophie, Kunstbetrachtung und Sozialwissenschaft, von denen Titel wie Soziologie des Raumes (1903) oder Philosophie des Geldes (1900) künden, wieder attraktiv.29 Er
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Jung (Anm. 4), S. 129. Jung (Anm. 4), S. 140. Ebd. Szondi (Anm. 18), S. 176f. Gerhardt (Anm. 19), S. 82. »Wurde Simmel einstmals eine zu große Nähe zu ästhetischen Grundannahmen und Denkfiguren zum Vorwurf gemacht, so überwiegen heute ganz eindeutig diejenigen Interpretationen, welche gerade diese Verankerung von Simmeis Werk innerhalb eines übergreifenden ästhetischen Denkens als den eigentlichen Grund für dessen verblüffende Aktualität betrachten und deshalb auch die Bedeutung seiner Arbeiten für die bereits seit längerer Zeit geführte internationale Diskussion über Wesen und Eigenart der kulturellen Moderne sowie der damit in einem engen Zusammenhang
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selbst hat seinen gesellschaftstheoretischen Denkstil als Soziologische Ästhetik (1896) bezeichnet. 30 In der kontemplativen Betrachtung, die hinter einem bestimmten Ausschnitt v o n Wirklichkeit das darin vermittelte >Allgemeine< entdecken will, nähert sich die wissenschaftliche Erkenntnis der Kunstrezeption an. 31 Der Empiriker verfährt in seiner Konstruktion sozialer Wirklichkeit ganz nach dem Vorbild der Ästhetik. Das Wesen der ästhetischen Betrachtung und Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit liegt für Simmel darin, daß in dem Iiinzelnen der Typus, in dem Zufälligen das Gesetz, in dem Äußerlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge hervortreten. 32 D o c h nicht allein in seiner Wissenschaft v o n der Gesellschaft verfährt Simmel nach ästhetischen Gesichtspunkten, 3 3 auch das Funktionieren der zeitgenössi-
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stehenden Fortführung dieser Diskussion bei den intellektuellen Repräsentanten der sogenannten >Postmoderne< betonen.« Lichtblau (Anm. 12), S. 155. Georg Simmel: Soziologische Ästhetik (1896). In: Ders. (Anm. 10): GA 5, S. 197214. Simmel selbst hat die Voreingenommenheit des Betrachters, die ein bestimmtes Bild von Wirklichkeit erst entstehen läßt, gewiß nicht zufällig mit dem kunsttheoretischen Begriff der >Attitude< benannt: Jedes Denken, so meint er »drückt das Tiefste und letzte einer persönlichen Attitude zur Welt in der Sprachc eines Weltbildes aus, und es zeichnet eben deshalb das Weltbild nach denjenigen Richtungslinien und derjenigen Gesamtbedeutung, zwischen denen zu wählen für immer Sache der Unentschiedenheit zwischen den menschlichen Wesenszügen und Wesenstypen bleiben wird.« Georg Simmel: Die Hauptprobleme der Philosophie, zitiert nach Ute Faath: Mehr als Kunst. Zur Kunstphilosophie Georg Simmeis. Würzburg 1998, S. 15. Auf der Suche nach einer Abgrenzung des Denkens Simmeis gegen die Generation nach dem ersten Weltkrieg zeigt Margarete Susman auf, daß »für Simmel alle philosophische Schau immer ein Blick vom Zentrum in das Ganze war, der nur einen Sektor aus dem Kreise herauszuschneiden vermochte. Das Verhältnis des I unzeinen zum Ganzen nannte Simmel die >Attitude< des Denkers.« David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel - Friedrich Kracauer - Walter Benjamin. Rheda-Wiedenbrück 1989, S. 59. Vgl. auch Karlfried Gründers Beitrag zu diesem Thema: »Vielleicht gehört in das Umfeld des Schauspielers und der Rolle ein anderer wichtiger Begriff Simmcis, der nur scheinbar davon abgelegen ist: der Begriff der Attitüde. Soweit ich weiß, kommt der Begriff aus dem klassischen französischen Theater und der mit ihm zeitgenössischen Malerei und bedeutet dort eine festgelegte Geste für eine bestimmte Leidenschaft auf der Bühne oder in einem dramatischen Bild. Das hat Simmel vermutlich gewußt, auch wenn er es nicht sagt, und es könnte manche Beziehung in seinem Werk klären.« Aus der Diskussion zu Uta Gerhardts Referat über >Georg Simmeis Bedeutung für die Geschichte des Rollenbegriffs in der Soziologien In: Hannes Böhringer und Karlfried Gründer: Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. 1976, S. 84-89, hier S. 84. Simmel (Anm. 10), S. 198. »Das in der Kunst der Zeit typische Verfahren, im Kinzelnen das Allgemeine auszudrücken, wie es paradigmatisch z.B. der Naturalismus wie auch der Impressionismus versucht, ist Simmeis methodisches Vorbild.« Heinz-Jürgen Dahme: Soziologie als exakte Wissenschaft. Georg Simmeis Ansatz und seine Bedeutung in der gegenwärtigen Soziologie. 2 Bde., Stuttgart 1981, S. 240.
sehen Gesellschaft selbst beschreibt er in weiten Teilen in Analogie zum Kunstwerk. Ein gutes Beispiel dafür bildet die enorme Bedeutung, die er laut Antonius Bevers dem Symbol, also einer dem ästhetischen Zeichen verwandten Kategorie innerhalb seiner soziologischen Betrachtungen zuweist: Zahlreiche soziale Beziehungen in der modernen Gesellschaft werden durch Intervention von Symbolen geregelt, wodurch der direkte Kontakt von Person zu Person unterbleiben kann; ein einziges Wort oder eine einzige Gebärde, eine Uniform oder ein Formular, eine Unterschrift, eine Zahl oder ein Betrag genügen bereits, Menschen in Bewegung zu bringen, oder von etwas abzuhalten. 4
Diese Beobachtung bildet eine soziologische Grundaussage von Simmeis Philosophie des Geldes, weshalb Hartmut Scheible dieses Buch — in Anlehnung an den literaturwissenschaftlichen Terminus — von einer Art soziologischem >Symbolismus< geprägt sieht.35 Der enge Zusammenhang zwischen soziologischer und kunsttheoretischer Reflexion, der in Abhandlungen wie Die Philosophie des Schauspielers (1908) oder Der Schauspieler und die Wirklichkeit (1912), die im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung stehen, zu erkennen ist, ist aus der ästhetischen Perspektive heraus zu erklären, aus der ihr Autor auf die soziale Wirklichkeit blickt. 4.1.3. Simmeis Werk im Kontext von Kunst- und Literaturgeschichte Seines essayistisch-feuilletonistischen Stils wegen läßt sich das Werk Simmeis selbst beinahe der literarischen Produktion seiner Zeit zuordnen.36 Als ausgeprägter Ästhet und Feingeist pflegt er regen Umgang mit Literaten wie Rainer Maria Rilke, Eduard von Keyserling oder Stefan George, in dessen Kreis er verkehrt. Diese Autoren sind — ebenso wie die bildenden Künsder Rodin und Böcklin, denen Simmel ausführliche Überlegungen widmet — einer kunsthistorisch einflußreichen Strömung der Jahrhundertwende zuzuordnen. Sie alle werden wegen ihrer konsequenten Abwendung von der naturalistischen Wiedergabe äußerer Tatsachen und der an deren Stelle tretenden neuen Gewichtung des flüchtig-subjektiven Edebnisses von der Forschung als Impressionisten bezeichnet.37 Die von Seiten der Simmel-Forschung hervor34 35
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Antonius M. Bevers: Dynamik der Formen bei Georg Simmel. Berlin 1985, S. 110. Simmeis Erhebung des Geldes zum Symbol der gesellschaftlich universalen Tauschbeziehungen vergleicht Scheible mit dem literarischen Symbolismus: »Eben dieser Vorgang macht sich, zuerst mit dem Symbolismus, in der Literatur bemerkbar. Er bewirkt, daß tendenziell jeder beliebige Gegenstand zwar in seiner Vereinzelung und Austauschbarkeit belassen, jederzeit jedoch zum Symbol aufgewertet, mit neuer Sinnfulle belehnt werden kann.« Hartmut Scheible: Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Bern und München 1984, darin: Die Tragödie der Kultur. Georg Simmel, hier S. 394. Vgl. Sendlinger (Anm. 3), S . l l . Peter Szondi setzt diesen Stil in engen Bezug zur I^ebensphilosophie der Jahrhundertwende, wenn er schreibt: »Der Begriff des Impressionismus [...] deutet [...] gewisse Konsequenzen aus dem ästhetisierten Lebensbegriff an. Das Leben, in seiner Flüchtigkeit, in seiner Wandelbarkeit genommen, läßt nur eine Augenblicks-
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gehobene Verwandtschaft des >so2iologischen ImpressionismusNervenkunst< der jungen Wiener oder Pariser Literaten hat der Gesellschaftstheoretiker selbst ausdrücklich dargelegt: Der literarische Stil des Jahrhunderts, dessen letzte Raffinements in Paris und Wien ausgebildet sind, vermeidet die direkte Bezeichnung der Dinge, faßt sie nur an einem Zipfel, streift mit dem Worte nur eine l .ckc, der Ausdruck und die Sachc decken sich nur mit einem möglichst abgelegenen Stückchen. Iis ist die pathologische Krscheinung der >Bcrührungsangstneu-kantischen< oder subjektivistischen Weltanschauungen zurückweicht, die die Dinge erst durch das Medium der Seele brechen oder destillieren lassen, ehe sie zu Erkenntnissen werden. w Im Zusammenhang mit dieser Verinnerlichung der Erkenntnis wird das von Hermann Bahr programmatisch verwendete Wort von den tetats d'äme< durch Simmel direkt in die Philosophie übertragen.40 Die Nähe Simmeis zu zeitgenössischen Entwicklungen in Kunst und Literatur schlägt sich auch in seinem Theaterinteresse nieder. Seine anfängliche Begeisterung für den Naturalismus - Simmel verkehrt mit Otto Brahm persönlich und verfaßt anlässlich von dessen Initiative zur Uraufführung von Gerhardt Hauptmanns Die Weber eine begeisterte Rezension des Stückes schlägt bald in jene Faszination für die autonome Gegenwirklichkeit der Bühne um, die den Grundtenor seiner Schriften über den Schauspieler bildet.41 Die
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kunst zu. Und der Mensch, der das Leben nur noch als ästhetisches Phänomen gelten läßt, als Phänomen seiner Wahrnehmung, fordert damit zugleich eine Kunst, die die Wirklichkeit weder abbilden noch neu errichten, auch nicht stilisieren oder ins Groteske verzerren soll, keinen Realismus, keinen Klassizismus, keinen Manierismus also, sondern eine Kunst, die alles daran setzt, die Welt im flüchtigen Hindruck zu erhaschen, darin aber die höchste Wahrheitstreue zu erreichen, der ganzen Vielfalt der sinnlichen Wahrnehmungen gerecht zu werden.« Szondi (Anm. 18), S. 177. Vgl. Frisby (Anm. 12). Simmel (Anm. 10), S. 211 f. »Ist das Kunstwerk >ein Stück Welt, gesehen durch ein Temperament, so ist Philosophie das Ganze der Welt, gesehen durch ein Temperament, ein etat d'äme, wie man es von der Landschaft gezeigt hat.« Simmel (Anm. 10), in: GA 7, S. 283-288, hier S. 284. Vgl. Georg Simmel: Gerhard Hauptmanns »Weber« (1892/93). In: Werner Jung (Hrsg.): Vom Wesen der Moderne. Hamburg 1990, S. 163-166. Vgl. auch den Bericht des Sohnes Hans Simmel über die jungen Jahre seines Vaters: »Sabine Graef und meine Mutter waren außerdem öfters die einzigen weiblichen Gäste einer Gruppe geistig interessierter junger Männer, die sich >die Zügellosem nannten. Ihre Zügellosigkeit bestand darin, daß sie bei mehreren Tassen Kaffee sämtliche aktuellen 1 'ragen der Geistesgeschichte und besonders der neuesten Literatur diskutierten. Da waren also I Iarald und Botho Graef; Brahm, der spätere Inciter des Berliner Les-
Übereinstimmung und der innere Zusammenhang dieses Wandels mit entscheidenden theatergeschichtlichen Tendenzen wird sich im Vergleich mit dem schauspieltheoretischen wie -praktischen Diskurs seiner Zeit belegen lassen. Die Theaterstadt Berlin, in der Simmel bis kurz vor seinem Tod lebte und lehrte, wird sich dabei als ein höchst fruchtbarer Boden für dessen Theoriebildung erweisen. Beheimatet war hier um die Jahrhundertwende vor allem der Regisseur Max Reinhardt, der als Vater des modernen >Schauspieler-Theaters< in die Annalen der Theaterwissenschaft eingegangen ist.42 Um ihn versammelten sich bedeutende Literaten und Kritiker, etwa die bereits aus dem ersten Teil dieser Arbeit bekannten Autoren Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal, die auf essayistischem und dramatischem Gebiet zu einem Neuverständnis des Schauspielers und der Rolle beitrugen. Die Kontinuität dieses letzten Teils meiner Arbeit zu den vorhergehenden ist durch diese Namen ebenso gewährleistet wie durch eine entscheidende inhaltliche Übereinstimmung im Werk Georg Simmeis und Sigmund Freuds. Hier wie da steht im Ausgangspunkt der Theorie eine typisch moderne Entfremdungserfahrung — sei es die Abspaltung des Subjekts von den eigenen unbewußten Trieben, die die Psychoanalyse schildert; sei es die Trennung des Individuums vom ursprünglichen Lebenszusammenhang, die der Gesellschaftstheoretiker in der Moderne diagnostiziert. Und hier wie da wird dieser Entfremdung ein Konzept theatraler Ganzheitlichkeit gegenübergestellt, dessen Ursprünge historisch mit dem Werk Friedrich Nietzsches verbunden sind. Hans Simmel hat die Wirkung, die Nietzsches Tragödientheorie auf die Kunstauffassung seines Vaters ausübte, in seinen Memoiren geschildert.43 Dieser
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singtheaters; Schleuther, Literat und Übersetzer von Ibsen; Hoffory, [Julius EI. war ein dänischer Literaturwissenschaftler und Vermittler Ebsens nach Berlin, Anm. B.C.] eine gcnialisch-verrückte Figur, er soll das Vorbild des Ellert 1 -övborg in Ebsens Hedda Gabler gewesen sein; mein Vater, Reinhold Lepsius, Porträtmaler, Sohn des großen Agyptologen und Verlobter von Sabine Graef; Johannes Ixpsius, Bruder des vorigen, nach öfters ausgesprochener Ansicht meines Vaters, die vielseitigste und größte Begabung im ganzen Kreise.« Hans Simmel: Auszüge aus den Lebenserinnerungen. In: Böhringer/Gründer (Anm. 31), S. 247-268, hier S. 251. Vgl. Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek bei EEamburg 1986, darin Kapitel IV >Das Schauspieler-Theaterc Max Reinhardt, Alexander E. Tairow, Konstantin S. Stanilawski, Jean-lx>uis Barrault, S. 347-393. Den Einfluß Nietzsches erkennt Hans Simmel vor allem im antiklassizistischen Geschmack seines Vaters. Seine in der Folge Nietzsches ausgebildete relativistische Ästhetik hat ihn zum Interesse an der ostasiatischen Kunst, deren leidenschaftlicher Sammler Simmel war, erst verleitet, schreibt der Sohn: »Die ostasiatische Kunst war ihm der augenscheinlichste Beweis dafür, daß unsere Kunst nur eine Erscheinungsform der großen gestaltenden Kunst der Menschheit sei. Die Renaissance, in der - wirklich oder scheinbar - der griechisch-römischen Kunst der ihr zustehende Rang als der Kunst schlechthin wieder zugesprochen wurde, und die Auswirkung dieser Auffassung über Winckelmann und Goethe bis ins 19. Jahrhundert haben die Ansicht von der absoluten Kunst sehr gestützt. So war die Vertiefung in die ostasiatische Kunst für meinen Vater ein Element seiner relativistischen Philosophie [Nietzsches Lehre von der Irrigkeit jener Auffassung Griechenlands 193
Einfluß kann auch bezüglich der Schauspiel- und Rollentheorie des Sozialphilosophen aufgezeigt werden. Er bildet den gemeinsamen geistigen Hintergrund, aus dem heraus sich die Parallelentwicklung von Rollentheorie und Schauspielauffassung der Jahrhundertwende ableitet, deren Untersuchung die folgenden Seiten gewidmet sind.
4.2. Die soziologische Neudefinition der Rollenmetapher 4.2.1. Soziologische Rollentheorie und Theatermetaphorik Simmeis Einführung des Rollenbegriffs in die Gesellschaftstheorie markiert einen historischen Wendepunkt. In ihrer jahrtausendelangen Geschichte war die Metapher >Rolle< bislang vorwiegend in moralisch-kritischem oder aber in geschichtsphilosophischem Zusammenhang verwendet worden. Die Bedeutungsvamnten, die der Rollenmetapher in der Tradition der westlichen Philosophie zukommen, beschreibt Ralf Konersmann in einem Artikel für das Historische Wörterbuch der Philosophie,44 Ihre Verwendung beginnt in der Antike. Für Piaton ist der Mensch ein »Spielzeug Gottes«.45 Der überirdische Spielleiter schreibt einem jedem seine Position im Lebensgefuge unwiderruflich zu. Dieser Rolle nun sich fügend [...] muß ein jeder Mann und Frau sein Ix-ben zubringen. 46
Auch die Stoiker veranschaulichen mittels des Theaterbegriffes ihre Vorstellung von der metaphysischen Determination menschlichen Handelns: >Merkedu hast eine Rolle zu spielen in einem Schauspiel, das der Direktor bestimmt. Du mußt sie spielen, ob das Stück lang oder kurz ist... Deine Aufgabe ist einzig und allein, die zugeteilte Rolle gut durchzuführen: die Rolle auszuwählen, steht nicht bei dir.RolleRolle< im Rahmen einer Kritik des falschen Scheins in den
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Vgl.: »In seiner im Sommer 1883 erstmals erschienenen und im November desselben Jahres bereits zum vierten Male aufgelegten Untersuchung >IDie conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit< stellt Max Nordau die These auf, daß >aller gesellschaftliche Verkehr diesen Charakter der Verlogenheit hat, >alles, was uns umgibt, Lüge und I Ieuchelei ist< und >wir eine tiefe unsittliche Komödie Spielern.« Fischer-Lichte, Lrika: Geschichte des Dramas. Band 2. Tübingen 1990, S. 95f. Vgl. auch die Gegenwartsdiagnose Rudolf Kleinpauls: » O Schauspielhaus, Schauspielhaus! Wo jedermann seine Rolle spielt und die Zuschauer selber bestochen sind. Klatschen sie doch in die Hände, pfeifen sie doch, drehen und winden sie sich doch, als wären sie - nicht bezahlt! - Jedes Amt, jeder l ag hat nicht nur seine eigene l'lage, sondern auch seine eigene Miene [...]«. Rudolf Klcinpaul: Sprache ohne Worte (1888). Kdited by Thomas A. Sebeok. The I lague, Paris 1972, S. 205. Zitiert nach Konersmann (Anm. 44), S. 1066.
Dienst einer zu verwirklichenden >richtigen< Ordnung des Weltganzen. Noch Marx setzt damit in gewisser Weise die idealistische Tradition fort. 56 Von einer gegenüber der moralisch-kritischen ebenso wie der geschichtsphilosophisch-optimistischen Linie grundlegend veränderten Konzeption geht Friedrich Nietzsche unwesentlich später aus. Für ihn ist laut Konersmann das lieben (...) in Wahrheit ein Theaterstück, und wenn es nur genügend Gelegenheit zum Wechsel bietet, so spielt der Mensch, wo er kann, >auch eine andere Rolle< als die, die man ihm einmal zugewiesen hat. [...] Die Welt ist eine monströse Komödie, in der - Nietzsche beruft sich auf ein Gleichnis Heraklits — ein launisches göttliches Kind die Menschen als Spielzeug gebraucht. Ausgehend von diesem Szenario fordert Nietzsche als Gegenmacht zu den irreführenden moralischen Forderungen der Aufrichtigkeit und der Bloßstellung den ästhetischen Menschen und mit ihm >den guten Willen zum ScheinTräger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessent d.h. als >Charaktermasken< auftreten. Marx beerbt nicht nur die idealistische Geschichtsphilosophie, sondern auch die Rollenkritik, wenn er die theatralischen Züge der kapitalistischen Gesellschaft und damit ihre ideologische Einkleidung aufzeigt.« Konersmann (Anm. 44), S. 1066. Vgl. auch: Rudolf Münz: Charaktermaske und Theatergleichnis bei Marx. In: Ders.: Das >andere< Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell' arte der Lessingzeit. Berlin 1979, S. 19—49. Konersmann (Anm. 44), S. 1064. Friedrich Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth. Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück. In: KSA I, S. 429-510, hier S. 468. »|...| gerade darin liegt die Größe und Unentbehrlichkeit der Kunst, dass sie den S c h e i n einer einfacheren Welt, einer kürzeren Ixisung der lx;bens-Räthsel erregt. Niemand, der am Ixben leidet, kann diesen Schein entbehren, wie Niemand des Schlafs entbehren kann. Je schwieriger die Erkenntniss von den Gesetzen des Lebens wird, um so inbrünstiger begehren wir nach dem Scheine jener Vereinfachung, wenn auch nur für Augenblicke, um so grösser wird die Spannung zwischen der allgemeinen Erkenntnis der Dinge und dem geistig-sittlichen Vermögen des Einzelnen. D a m i t d e r B o g e n n i c h t b r e c h e , ist die Kunst da.« Nietzsche (Anm. 58), S. 452f. Interessanterweisc vollzieht sich Nietzsches Aufwertung des Uneigentlichen in Form einer Umkehrung des Platonischen Höhlengleichnisses. Dem verehrten Wagner legt er die Worte in den Mund: »Wagt es zu eurem Heil und lasst einmal das trüb erleuchtete Stück Natur und 1-eben, welches ihr allein zu kennen scheint; ich führe euch in ein Reich, das ebenfalls wirklich ist, ihr selber sollt sagen, wenn ihr aus meiner I Iöhle in euren Tag zurückkehrt, welches I-eben wirklicher und wo eigentlich der Tag, wo die I löhle ist.« Ebd., S. 464. 197
Mit der antiidealistischen »Neuverteilung der klassischen Oppositionsverhältnisse«60 bildet Nietzsches »Aufwertung der Rolle den vorläufigen Schlußpunkt der Metapherngeschichte«.61 Dieser stellt gleichzeitig den Ausgangspunkt dar, von dem aus Georg Simmel die künftige Begiiffsgeschichte eröffnen wird. Für die von ihm geleistete sozialwissenschaftliche Adaption der Rolle bildet die Entidealisierung der Metapher, die nun als strukturelles Modell jenseits ihres ehemaligen kritischen oder teleologischen Anspruchs herangezogen werden kann, die notwendige Voraussetzung. Die Entstehung der Sozialen Rolle vollzieht sich am Wendepunkt nicht nur zwischen zwei philosophischen Traditionen [Idealismus und Perspektivismus], sondern auch im Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Schauspielmodellen [intellektueller Entwurf und träumerisches Aufgehen in der Rolle], die mit den Namen Diderot und Nietzsche aufgerufen sind. Der theatergeschichtliche Bezug, der sich weit über diese Ursprünge hinaus im Werk des ästhetisch geschulten Soziologen Simmel abzeichnet, steht im Fokus der folgenden metaphorologischen Analyse. 4.2.2. Der Rollenbegriff Simmeis und seine Bedeutung für die Soziologie Der klassische Rollenbegriff der Soziologie, als dessen Vordenker Simmel mancherorts gilt, wurde explizit erstmals 1936 durch Ralph Linton in seiner Abhandlung über Rolle und Status definiert.62 Er findet seitdem Verwendung vor allem innerhalb der strukturell-funktionalen Theorie der Sozialsysteme, die Talcott Parsons mit seiner 1937 erschienen Structure of SoäalAction etabliert hat. Die Rolle des Einzelnen leitet der Autor darin ausschließlich aus der Funktion heraus ab, die ihm innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtsystems zukommt. Letzteres absorbiert damit quasi restlos die freiheitliche Selbstbestimmung menschlichen Handelns.63 Hartmut Scheible spricht angesichts dieser Ten60 61 62
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Konersmann (Anm. 44), S. 1064f. Kbd. »Der Rollen-Begriff der Soziologie wird zuerst von R. 1 inton definiert, der 1936 die Gesellschaft aus ethnologisch geschulter Perspektive als ein das Individuum überdauerndes System von Positionen beschreibt, die immer neu besetzt werden. Kine Rolle ist stets an einen Status geknüpft, also an den >Platz, den ein Individuum zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten System einnimmt . Sie ist >der dynamische Aspekt eines StatusRolle< jenseits von geschichtsphilosophischen oder idealistischen Intentionen als deskriptives Modell für eine »Kategorie, unter der die Subjekte sich selbst und sich gegenseitig erblicken«67 für die Sozialwissenschaft verfügbar.68 Simmel knüpft seine Theorie der Rolle — wie Uta Gerhardt herausgearbeitet hat — historisch an die Entwicklung der bürgerlichen zur kapitalistischen Gesellschaft:69
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Punktion sehen, die ihm einen bestimmten Status verleiht. Dadurch, daß die moderne Gesellschaft unter der Führung von Wissenschaft und Industrie ihren Menschen das Bewußtsein gibt, Funktionäre zu sein - das Wort ohne allen politischen Beigeschmack—, bietet sie von sich aus die Handhabe, sie als Funktionssystem zu verstehen.« Helmuth Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur. In: Friedhelm Nicolin (Hrsg.): (Erkenntnis und Verantwortung. Festschrift für Theodor Litt. Düsseldorf 1960, S. 109f. Laut Scheible erfreut er sich dieser seiner Beliebtheit »nicht zuletzt deshalb, weil mit seiner Hilfe die universale Entfremdung sich gleichsam parzellieren läßt indem dem Individuum eine endliche Zahl von Rollen zugeordnet wird, gerät die Irrationalität des gesellschaftlichen Ganzen, in dessen Dienst das seine Rollen ausfüllende Individuum steht, aus dem Blickfeld, zugunsten von Teilbereichen, die in sich rational organisiert sind. Entfremdung wird mit Hilfe des Rollenbegriffs buchstäblich wegrationalisiert; damit verschwindet zugleich die Möglichkeit individuell verantwortlichen Handelns; die Nationalsozialisten haben diese Tendenz vollstreckt, indem sie die Massenvernichtungen so zu organisieren verstanden, daß niemand mehr sich verantwortlich zu fühlen brauchte. Trotz der humanen Intentionen, die Simmel, totalitären Bestrebungen abgeneigt, zweifellos verfolgte, weist der Verlust eines Begriffs von Gesellschaft |den Simmel durch rollenhafte Prozesse der >Vergesellschaftung< ersetzt, Anm. B.C.] bereits voraus auf die Anonymität eines von keinem Begriff mehr erfaßbaren Schreckens.« Scheible (Anm. 35), S. 391. Scheible (Anm. 35), S. 391. Vgl. Gerhardt (Anm. 19). Dreyer, Wilfried: Gesellschaft, Kultur und Individuum. In: Dörr-Backes, Felicitas; Nieder, Ludwig (Hrsg.): Georg Simmel zwischen Moderne und Postmoderne. Würzburg 1995. S. 59-103, hier S. 76. Vgl. Popitz, Heinrich: Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie. Tübingen 1967. Diese ist dem Stil dieses Autors entsprechend nirgendwo systematisch zusammenfassend abgehandelt, sondern durchzieht in wiederholten Reflexionen sein gesamtes Werk von den frühen bis zu den letzten Schriften. 199
Krst die Wandlung vom Gesellen Verhältnis zum abstrakten Arbeitsvertrag habe das Objektivwerden der Über- und Unterordnung in Form fragmentierter Rollenbeziehungen hervorgebracht. Entfremdung wird als Entpersönlichung erkannt. 70
Die »Verselbstständigung industrieller Technik und fortschreitende Zerlegung der Arbeits funktionen«71 hat ihre Folgen auch für das Individuum, das sich innerhalb dieses in abstrakte Relationen zerklüfteten Sozialsystems zu positionieren sucht. Identifizierten frühere Gesellschaftsformen den einzelnen mit seinem meist durch Geburt gegebenen gesellschaftlichen Stand, so trennt erst die moderne Arbeitswelt Rolle und Individuum.72 Im Identifikationsgebot, das den einzelnen an eine gesellschaftliche Rollenzuschreibung bindet, schreibt sich die Sehnsucht nach der verlorenen Einheit kulturell fort.73 Der moderne Mensch sucht sich in der Verschmelzung mit seiner Rolle als mit sich selbst identische Persönlichkeit zu konstituieren. Angesichts einer hoch differenzierten Gesellschaft steht er dabei jedoch keinem einheitlichen Muster, sondern vielfältigen, je nach Situation grundverschiedenen Verhaltensmöglichkeiten gegenüber. Simmel bestimmt daher im Rahmen der Überlegungen, die er 1890 in seinem Aufsatz Über sociale Differenzierung anstellt, die Identität des einzelnen quantitativ mittels seiner Zugehörigkeit zu der jeweils charakteristischen Kombination >sozialer KreiseMangel an Definitivem im Zentrum der Seele< hat mit der idealistischen Vorstellung einer Identität jenseits der Rolle ebenso abgeschlossen wie der Gesellschaftsbegriff Simmeis mit geschichtsphilosophischen Zukunftshoffnungen78 Verhaltensnorm und Identität sind in seinem Rollen75 76 77
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Georg Simmel: Der Henkel. In: Philosophische Kultur (1911). Berlin 1983, S. 9 9 105, hier S. 105. Simmel (Anm. 10), S. 403f. Georg Simmel: Philosophie des Geldes, zitiert nach Klaus Peter Biesenbach: Subjektivität ohne Substanz. Georg Simmeis Individualitätsbegriff als produktive Wendung einer theoretischen Ernüchterung. Bern 1988, S. 134. Die Vorstellung vom zielgerichteten Sinn von Geschichte, ja >Geschichte< im allgemeinen, hat Simmel als Projektion der Historiker verabschiedet: »Die historische Wahrheit ist keine bloße Reproduktion, sondern eine geistige Aktivität, die aus ihrem Stoff - der als innerliche Nachbildung gegeben ist - etwas macht, was er an sich noch nicht ist, und zwar nicht nur durch kompendiöses Zusammenfassen seiner Einzelheiten, sondern indem sie von sich aus Fragen an ihn stellt, das Singuläre zu einem Sinne zusammenfaßt, der oft gar nicht im Bewußtsein ihres >I Ielden< lag, indem sie Bedeutungen und Werte ihres Stoffes aufgräbt, die diese Vergangenheit 201
modell nicht länger als Oppositionen gedacht, sondern innerhalb des dynamischen Prozesses von Wechselwirkungen, als den Simmel Gesellschaft auffaßt, konstitutiv aufeinander bezogen. 79 Damit beinhaltet auch seine Rollenphilosophie ein optimistisches Element. Die alte Heilsvorstellung selbstgenügsamer Identität ersetzt er — darin ganz Lebensphilosoph seiner Zeit — durch ein dynamisches Ideal ständiger Verwandlung. Im Gegensatz zur klassischen soziologischen Rollentheorie reduziert Simmel den einzelnen keinesfalls darauf, daß er »eben nichts weiter als ein Rollenträger sei, dem auch der Mitmensch in einer Situation jeweils nur als Träger einer korrespondierenden RolleLeben< definiert. 83 In den Mittelpunkt des Interesses rückt damit das Sich-Verhalten der Person, nicht nur in, sondern auch zu ihren Rollen. Damit wird nicht mehr nur der Inhalt, sondern auch der Stil des Rollenvcrhaltens
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zu einem ihre Darstellung für uns lohnenden Bilde gestalten.« Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophic (Zweite Fassung 1905/1907), S. 276f. Simmeis Gesellschaftstheorie »handelt ganz allgemein von dem Sachverhalt, daß im sozialen Leben der Andere, mit dem wir in Interaktion stehen, unter einer allgemeinen Kategorie perzipiert wird.« Dahme (Anm. 33), S. 452. Vgl.: »Um den Menschen zu erkennen, sehen wir nicht nach seiner reinen Individualität, sondern getragen, erhoben oder auch erniedrigt durch den allgemeinen Typus, unter den wir ihn rechnen.« Simmel: Soziologie, zitiert nach Dahme (Anm. 33). Wilfried Dreyer: Gesellschaft, Kultur und Individuum. In: Dörr-Backes/Nieder (Anm. 2), S. 76. Simmel: Wie ist Gesellschaft möglich?, zitiert nach Heinrich Popitz: Der Begriff der sozialen Rolle als Klement der soziologischen Theorie. Tübingen 1986, S. 34. Vgl. Simmeis weitere Ausführungen zu diesem Diktum: »Wir wissen von dem Beamten, daß er nicht nur Beamter, von dem Kaufmann, daß er nicht nur Kaufmann, von dem Offizier, daß er nicht nur Offizier ist; und dieses außersoziale Sein, sein Temperament und der Niederschlag seiner Schicksale, seine Interessiertheiten und der Wert seiner Persönlichkeit, sowenig er die I Iauptsache der beamtenhaften kaufmännischen, militärischen Bestätigungen abändern mag, gibt ihm doch für jeden ihm Gegenüberstehenden jedesmal eine bestimmt Nuance und durchflicht sein soziales Bild mit außersozialen Imponderabilien. Der ganze Verkehr der Menschen innerhalb der gesellschaftlichen Kategorien wäre ein anderer, wenn ein jeder dem andern nur als das gegenüberträte, was er in seiner jeweiligen Kategorie, als 'Träger der ihm gerade jetzt zufallenden sozialen Rolle ist.« Zitiert nach Popitz (Anm. 81). Simmel spricht in diesem Zusammenhang von »der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele.« Simmel (Anm. 10), S. 385.
interessant, Individualität kann sich ebenso darin ausdrücken wie ihr Gegenteil, die Instrumentalisierung des Handelns durch industrielle Zwänge.84 Simmeis Gesellschaftslehre, die für den einzelnen das Moment des Selbstentwurfs innerhalb der vorgefundenen Modelle bereithält, rückt in die unmittelbare Nähe zu neueren sozialwissenschaftlichen Entwürfen, die jegliche Form von Identität als Selbststilisierung begreifen und sich damit vom klassischen Rollenkonzept zu lösen beginnen.85 In seiner Soziologie des Selbstentwurfs läßt sich sogar bereits eine Parallele zu denjenigen postmodernen Sozialutopien finden, die das Aufbrechen von Identität als Befreiungsansatz formulieren. 86 Zuallererst aber belegt diese Sichtweise des Rollenverhaltens die Nähe seiner Soziallehre zur kunsttheoretischen Betrachtung. Simmeis Rollenkonzept entsteht nämlich unmittelbar aus seinem Verständnis der schauspielerischen Leistung heraus: Was für die gewöhnliche Vorstellungsweise das Rätsel des Schauspielers ist: wie jemand, der eine bestimmte, eigene Persönlichkeit ist, auf einmal zu einer ganz anderen, zu vielen anderen werden konnte,87 wird unter dem Gesichtspunkt der soziologischen Rollenphilosophie Simmeis zu dem tieferen Problem: daß ein Tun, getragen von einer körperlich-seelischen Individualität, aus deren produktiver Genialität hervorbrechend und von ihr geformt, zugleich doch Wort für Wort, im ganzen wie im einzelnen, gegeben ist!88 Angesichts dessen wird die Vermutung plausibel, die Julien Freund anläßlich eines Simmel-Symposions schon in den siebziger Jahren geäußert hat:
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Gerhardt (Anm. 19) S. 81 f., Hervorhebung im Text. Als wohl der bekannteste sei hier exemplarisch genannt: Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1969. Vgl. Konersmann (Anm. 44), S. 1068f.: »E. Goffman untersucht das Verhältnis des Rollenträgers zu seiner Rolle und prägt den Begriff >Rollen-Distanzpersönlicher< und sozialer Identitäfe, verwahrt sich aber gegen die >Tendenzumzuinszenieren< gilt. Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991. Simmel (Anm. 10), GA 8, S. 424-432, hier S. 428. Ebd. 203
Mit dem Begriff der Rolle stehen wir vielleicht vor einer direkten oder indirekten Hinordnung eines ästhetischen Phänomens in die Soziologie.®'
Wie das geschichtsphilosophische Theatermodell in der Nachfolge Diderots, so baut auch die soziologische Rollentheorie in der Nachfolge Simmeis auf einer schauspieltheoretischen Überlegung auf. Die Rollenfigur erscheint hier als definitorisch nicht durchdringbares, nunmehr ästhetisch erfahrbares Gebilde zwischen der Subjektivität eines Schauspielers und der Objektivität seiner Rolle. Sie ist damit wie geschaffen für die Versinnbildlichung moderner Identitätszweifel. Von der klaren Trennung zwischen Rolle und Persönlichkeit, wie sie in der Tradition des Diderotschen Paradox für die Schauspieltheorie ebenso wie für die daran ausgerichtete Metaphorik im 19. Jahrhundert prägend war,90 hat sich dieses Verständnis verabschiedet. Seine theaterästhetische Grundlage wird in zwei Essays herausgearbeitet, in denen sich sozialphilosophische Betrachtung und kunsttheoretische Reflexion in einer für diesen Autor typischen Art und Weise vermischen. Der folgende Abschnitt wird die 1908 entstandene Philosophie des Schauspielers sowie die 1912 erschienene Schrift Der Schauspieler und die Wirklichkeit vor allem in Hinblick auf die darin implizierte Theaterästhetik vorstellen.
4.2.3. Rollenbegriff und Schauspielkunst: Simmeis Abhandlungen Zur Philosophie des Schauspielers und Der Schauspieler und die Wirklichkeit Simmeis kleiner Aufsatz Zur Philosophie des Schauspielers ist 1908 in Der Morgen erschienen.91 Die Abhandlung beschäftigt sich zunächst mit der Frage nach der ästhetischen Bewertung der Schauspielkunst vor dem Hintergrund ihrer Begrenztheit durch die vorgeschriebene dramatische Rolle und die persönlichen Gegebenheiten des Darstellenden. Zu einem »kunstphilosophischen Rätsel«92 wird die Leistung des Bühnenkünstlers für seinen Zuschauer durch
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Diese Vermutung wurde ausgesprochen anläßlich der Diskussion zu Uta Gerhardts Referat über Georg Simmeis Bedeutung für die Geschichte des Rollenbegriffs in der Soziologie. In: Böhringer/Gründer (Anm. 31), S. 84—89, hier S. 87. Im deutschsprachigen Raum wurde die Diderotsche Trennung zwischen persönlichem Empfinden und Rolle weiterverbreitet durch das Werk des Schauspieltheoretikers Röttscher, dessen Kunst der dramatischen Darstellung (1841-1846) in der zweiten Jahrhunderthälfte zur »Bibel der Schauspielkunst« (Christopher Balme: Das Theater von Morgen. Texte zur deutschen Theaterreform |1870-1920|. Würzburg 1988, Anmerkung S. 109) avancierte. Die darin vertretene Auffassung: »Kr [der Schauspieler] verbirgt dieselbe [seine Individualität] mithin: indem er sie für eine andere zweite von der Phantasie geborene aufopfert. So wird also die ganze wirkliche Persönlichkeit der Träger für eine dichterische, mithin nur gedachte Persönlichkeit verhüllt.« (Röttscher, zitiert nach Münz [Anm. 56], S. 37f.) war - wie Münz zeigt - auch die Grundlage der klaren 'Trennung von Identität und Rolle in der entsprechenden Metaphorik des 19. Jahrhunderts. Wochenschrift für deutsche Kultur, hrsg. v. Werner Sombart, Richard Strauß, Georg Brandes und Richard Muther, unter Mitwirkung von Hugo von Hofmannsthal. Simmel (Anm. 10), Zur Philosophie des Schauspielers, S. 424.
den »inneren Gegensatz«93 zwischen scheinbar subjektiver Lebensäußerung und objektiver Determiniertheit, den das theatrale Rollenspiel impliziert: Wie sie sich darbietet, wirkt sie als spontane aus dem Wesensgrunde und Temperament des leistenden hervorbrechende Äußerung, als das Sich-Auswirken eines unmittelbaren, durch sich selbst und die vorgeführten Schicksale bestimmten Lebens. Und nun ist das Wunder, daß dieses an einem von anderswo gegebenen und geformten Inhalt zum Ausdruck gelangt, an Worten und Handlungen, deren Sinn und Zusammenhänge als eine fremde, feste Notwendigkeit von jenem persönlichen, eigengcsetzlichen Gefühl und Verhalten vorgefunden werden. 9 4
Unschwer ist hinter diesem kunstphilosophischen Problem die Anspielung auf das Gefüge von gesellschaftlicher Norm und persönlicher Identität zu erkennen, das Simmeis Nachdenken über die soziale Rolle bestimmt. Wie sich das ästhetische Objekt der Schauspielkunst in einem Prozeß wechselseitiger Einflüsse zwischen der Persönlichkeit des Darstellenden und der dichterischen Vorlage entwickelt, so entsteht der soziologischen »Erforschung der Dialektik von subjektiver und objektiver Kultur«95 zufolge die wahrnehmbare Identität des einzelnen erst in der Identifikation mit gesellschaftlichen Mustern. Die Verschmelzung des Individuellen mit dem äußerlich Gegebenen verdeutlicht etwa der Darsteller des Hamlet, denn seine Betrachtung stellt jenseits der wirklichen Natur des Schauspielers und des Hamlets als dichterischen Produktes [ein drittes) in h'rage: die ideale Gestalt, zu der der individuelle Schauspieler zu streben hat, um den ihm, seinem künsderischen Naturell möglichen Hamlet zu seiner höchsten Vollendung zu bringen. 96
Die Schauspielkunst versinnbildlicht damit das Prinzip eines von Simmel in Biographien von Künstlerpersönlichkeiten wie des verehrten Dichters Johann Wolfgang von Goethe vorgefundenen und davon ausgehend als allgemeines Ideal propagierten Lebensentwurfs. Als schöpferisch belebte Form des individuellen Daseins stellt dieser es der Analyse Angela Sendlingers zufolge dem Menschen in Aussicht, »einerseits die Individualität zu bewahren und andererseits die Zugehörigkeit zum [überindividuellen] Leben zu erreichen«.97 Im Mittelpunkt steht dabei ein ästhetisches Konzept des identifikatorischen Grenzverlusts zwischen darstellender Person und Rollenfigur, wobei Identifikation hier keinesfalls als reine Selbstaufgabe im Spiel zu verstehen ist. Simmel beschreibt vielmehr, wie der Bühnenkünstler seine Eigenheit mit dem dichterischen Material zum >Amalgam< der Rollenfigur verschmilzt. Indem [...] der objektive Inhalt der Leistung und die schöpferische Subjektivität des Künsders in einzigartiger Weise außereinander und ineinander sind, muß die ideale
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Ebd. Ebd. Felicitas Dörr: Die Kunst als Gegenstand der Kulturanalyse im Werk Simmeis. Berlin 1993, S. 31. Simmel (Anm. 10), S. 427. Sendlinger (Anm. 3), S.105.
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Forderung an seine Leistung sich als ein besonderes und nicht ohne weitere durchsichtiges Gebilde aus diesen Kiementen und doch jenseits ihrer ergeben.1-'8
Gerade dieser Zwitterstellung hat die Schauspielkunst ihren ästhetischen Rang zu verdanken: Indem [sie) das Drama als Inhalt in die Formen dieser selbständigen Kunst aufnimmt, scheint die Darbietung des Schauspielers gänzlich aus seiner Produktivität und Individualität hervorzugehen. Daß sie - um es noch einmal zusammenzufassen - einerseits an einen gegebenen Inhalt und an die Persönlichkeit des Dichters unbedingt fest gebunden ist: daß sie andererseits durch ihre Form, d.h. durch das, was man hier mit Recht die >Illusion der Kunst< nennen mag, als eine in gleichem Maße autonome, aus der Subjektivität des Künstlers geschaffen erscheint - das ist jener Prästabilismus der unabhängigen Reihen, dessen Wirkungen unser begriffliches Denken als die Versöhnung und Harmonisierung der Weltelemente in der Kunst zusammenfaß t . "
In der spielerischen Überblendung von dichterischer Figur und Ich, aus der eine unentscheidbare Gestalt zwischen Eigenem und Fremden hervorgeht, wird der Schauspieler zum Symbol der Uberwindung einer neuzeitlichen Trennung von gesellschaftlicher Objektivation und subjektivem Leben, von Rolle und Ich. Die Philosophie des Schauspielers bringt nicht allein das ästhetische Modell, das den Hintergrund für Simmeis letztlich optimistische Rollenphilosophie abgibt, auf den Punkt, sie verweist gleichzeitig auf die theatergeschichtlichen Rahmenbedingungen, unter denen dieses entstehen konnte. Schließlich basiert ihr Grundgedanke auf ganz konkreten schauspieltheoretischen Annahmen, mit denen Simmel — wie der Vergleich zur Bühne Max Reinhardts zeigen wird — sich in Übereinstimmung mit den avanciertesten Kräften seiner Zeit befand. Simmeis kunstphilosophischen Überlegungen liegt ein verhältnismäßig junger Begriff der Schauspielerei als »eine[r] ganz und gar selbständige [n] Schöpfung« 100 zugrunde. Er grenzt diesen von zwei überkommenen Auffassungen ab, vom Verständnis des Spiels als bloßer Realisation des Dramentextes ebenso wie als verdoppelnder Nachahmung realer Personen. Die Philosophie des Schauspielers ruft ganz explizit die Emanzipation ihres Gegenstandes von der literarischen Vodage aus, denn nicht das geschriebene Drama steht auf der Bühne und bildet das jetzt fragliche Problem, sondern die von ganz neuen und eigenen Kunstgesichtspunkten aus geformte schauspielerische Aktion. 101
Die Darbietung beugt sich empirisch offensichtlich nicht dem vermeintlichen Diktat der literarisch gegebenen Form, denn es leuchtet wohl unmittelbar ein, daß eine Rolle, z.B. die Kameliendame, die Sarah Bernhard in vollkommener Weise darstellt, unbefriedigend und widerspruchsvoll wirken würde, wenn eine ganz andere Künstlerpersönlichkeit, z.B. die Duse, sie in derselben Auffassung und Ausführung darböte, oder wenn Kainz die
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Simmel (Anm. 10), S. 424. Simmel (Anm. 10), S. 432. Kbd. Simmel (Anm. 10), S. 426.
Auffassung Hamlets von Selvini kopierte. Wir würden empfinden: die objektiv dichterischen Gebilde, Marguerite Gautier oder Hamlet, stellen keine starren Forderungen, in die der Schauspieler sich einfach zu fügen hat. Vielmehr, so wunderlich es klingen mag: wie ein Schauspieler eine Rolle aufzufassen hat, ergibt sich nicht, auch nicht als ideale Forderung, aus der Rolle selbst, sondern aus der Beziehung seines künstlerischen Naturells zu der Rolle. 102
Die Unabhängigkeit der mimischen Künste vom Text wird demnach im Rahmen des Simmelschen Rollenmodells vorausgesetzt.103 Ebensowenig wie um die bloße Wiedergabe der literarischen Rolle handelt es sich bei der Schauspielerei um die bloße Verdoppelung der äußeren Realität. Der Schauspieler und die Wirklichheit — mit diesem Beziehungsgeflecht hat sich Georg Simmel in einem gleichnamigen Artikel auseinandergesetzt, der am 7. Januar 1912 im Berliner Tagblatt erschienen ist. Die Philosophie des Schauspielers wird darin in Grundzügen aufgegriffen und erweitert.104 Mit seinen Überlegungen setzt der Autor diesmal an einem ebenso populären wie seiner Meinung nach verkehrten Vorurteil an. In der fälschlichen Ansicht, »durch den Schauspieler würde das Dichtwerk >real gemacht< [...] trennt ein brückenloser Abgrund die Meinung der Majorität von aller Einsicht in das Wesentliche, und in ihm wohnt die tiefe soziale Tragik der Kunst«,105 klagt Simmel in seinem Aufsatz. Von allen naturalistischen Tendenzen der Schauspielästhetik sagt er sich energisch los, wo er erklart, die Verwirklichung« der dramatischen Schöpfung sei ebensowenig Aufgabe des Künsders wie die Imitation realer Personen. Schauspielerei dürfe keinesfalls mit Nachahmung verwechselt werden, denn der Gegenstand des Nachahmers ist die Wirklichkeit, sein Ziel ist, als Wirklichkeit genommen zu werden. Der künstlerische Schauspieler aber ist sowenig wie der Porträtmaler der Nachahmcr der wirklichen Welt, sondern der Schöpfer einer neuen, die freilich dem Phänomen der Wirklichkeit verwandt ist, da beide aus dem Vorrat der Inhalte alles Seins überhaupt gespeist werden; nur daß eben die Wirklichkeit die früheste Form ist, in der die Inhalte uns entgegentreten, ihre erste
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Simmel (Anm. 10), S. 425. Dies unterscheidet sein Denken vom Determinismus seiner Vorgänger. Tatsächlich findet sich in diesem Zusammenhang eine explizite Distanzierung vom Bild der Marionette, die das bevorzugte Modell zur Metaphorisierung der menschlichen Unfreiheit abgegeben hatte. Simmel schreibt: Der Schauspieler »liest nicht vor, er deklamiert oder agiert nicht einen Inhalt so, daß dieser als x)bjektiver Geist< das eigentlich und allein vorliegende ist, und das Aufsagen seiner nur eine Form wäre, die dem Schreiben, dem Druck oder dem Phonographen koordiniert ist. Dies vielmehr ist das >Spielen< der Marionette, die nicht als etwas für sich außer dem gegebenen Inhalt, auftritt, sondern nur eine besondere Art von Buchstaben ist, mit denen dieser Inhalt sich hinschreibt, um sich andern zu vermitteln.« Simmel (Anm. 10), S. 431. Zur Geschichte des Marionettenmotivs vgl. Rudolf Drux: Marionette Mensch. Fin Metaphernkomplex und sein Kontext von Hoffmann bis Büchner. München, 1986. Georg Simmel: Der Schauspieler und die Wirklichkeit. In: Georg Simmel: Brücke und Tür. Kssays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit Margarete Susman hrsg. v. Michael Landmann. Stuttgart 1957, S. 168-175. lirstmals in: Berliner Tageblatt, 7. Januar 1912. Simmel (Anm. 104), S. 168. 207
Lrkenntnismöglichkeit - das erregt die Illusion, als wäre die Wirklichkeit als solche der Gegenstand der Kunst. 106 Nur die irrige Gleichsetzung v o n Wirklichkeit und Bühnenspiel konnte Simmel zufolge zu der Behauptung der Verlogenheit fuhren, auf der die frühere moralisch-kritische Rollenmetapher aufbaut. Von ihr distanziert sich der Autor deutlich: Ganz fälschlich deutet man es als die Verlogenheit des Schauspielers, daß er in seiner Realität etwas anderes ist, als er auf der Bühne uns zu sein glauben macht. Iis ist doch keine Verlogenheit des I/»komotivführers, daß er nicht auch an seinem Familientisch Lokomotiven führt. Nicht daß der Schauspieler auf der Bühne ein König ist und im Privatleben ein armer Lump, macht jenes zu einer Lüge; denn in seiner aktuellen Funktion als Künstler ist er König, ein >wahrer< - aber vielleicht deshalb kein wirklicher - König.' 0 7 Simmeis Schauspielauffassung akzentuiert die schöpferische Eigenleistung des Schauspielers auch entgegen seiner Verpflichtung auf den dramatischen Text: die Schauspielkunst als solche steht ebensowohl jenseits der Dichtung wie jenseits der Realität. Sowenig der Schauspieler - wie der populäre Naturalismus fordert der Imitator des in seiner Situation befindlichen Menschen ist, sowenig ist er - wie ein literarischer Idealismus fordert - die Marionette seiner Rolle und als gäbe es für ihn keine künstlerische Aufgabe, die nicht in den Zeilen der Dichtung beschlossen sei. 108 Die wahrhaft bewundernswerte Leistung des Schauspielers bestünde darin, das vorgefundene >Material< — disparate Eindrücke aus Literatur und Realität — zu einer ästhetischen Einheit zu stilisieren. Zwar bringt er reale Alltagserfahrungen sowie das eigene seelische Empfinden in die Rollengestaltung mit ein, 109 doch hält er an der empirischen Wirklichkeit nicht still. Jene realen Koordinationen werden umgelagert, die Akzente abgetönt, die Zeitmaße rhythmisiert, aus allen Möglichkeiten, die diese Wirklichkeit gibt, das einheitlich zu Stilisierende ausgewählt. Kurz der Schauspieler macht auch um diese Unentbehrlichkcit der Realität willen
Simmel (Anm. 104), S. 171f. libd. 1 0 8 Simmel (Anm. 104), S. 173. 109 Yg] »(; ewiß können nur seelische Krlebnisse dem Schauspieler überhaupt die Gestalt Hamlet interpretieren, und ohne daß er diese seelische Wirklichkeit dem Zuschauer gleichsam zum Nacherleben hinstellte, wäre er eine I'uppe oder ein Phonograph.« Vgl. Simmel (Anm. 92), S. 172. Vgl. auch: »Wenn unter den Betätigungsformen des Menschen die Kunst diejenige ist, in der aus der souveränsten Freiheit des Subjekts heraus die objektive Notwendigkeit und ideale Präformiertheit eines Inhalts verwirklicht wird, so ist dessen die Schauspielkunst das radikalste Beispiel. Der bildende Künstler tritt nicht mit dem gleichen Umfang seiner aktuellen Subjektivität in das Werk ein, es löst sich von ihm in dem Augenblick, in dem es geschaffen wird, und die scheinbar nur äußerliche Tatsache, daß sein Werk eine körperliche Existenz für sich hat, während das Werk des Schauspielers in den räumlich-zeitlichen Grenzen seines Daseins beschlossen bleibt, markiert doch das Uebergewicht der Personalität in der schauspielerischen gegenüber der malerischen Leistung.« Simmel (Anm. 104), S. 428. 106 107
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nicht das dramatische Kunstwerk zur Realität, sondern umgekehrt, die Wirklichkeit, die jenes ihm zugewiesen hat, zum schauspielerischen Kunstwerk. 1 1 0 Erst der wahrhaft künstlerischen Darstellung gelingt es, »alle jene Mannigfaltigkeiten, aus denen sich der schauspielerische Eindruck zusammenzusetzen scheint«, 111 zum ästhetischen Ganzen zu vereinen. Für Simmel ist im Fall des Bühnendarstellers nicht allein der Inhalt der Darbietung, sondern v o r allem ihr Stil, die A r t und Weise der Rollengestaltung v o n erheblichem Interesse. Diese wird in ihrem Schweben zwischen künsderischer Freiheit und Determination durch den Text, zwischen der Mannigfaltigkeit der Zeichenebenen und der Einheit der dargestellten Figur zum Sinnbild für den nur noch symbolisch zu wahrenden Charakter menschlicher Identität schlechthin. Er ist der Überzeugung Es gibt eben eine schauspielerische Attitüde, die der Mensch als sein einheitliches Sosein auf die Welt mit bringt und die ihn in einer ganz eindeutigen Weise schöpferisch macht. 1 1 2 Entgegen diesem Ideal ist die Fragmentarisierung der Lebenszusammenhänge für die moderne, ausdifferenzierte Gesellschaft typisch, in der das Ich im Schnittpunkt mehrerer sozialer, ideeller oder überhaupt irgendwie fordernder Kreise steht. Diese Kreise gewinnen ihre Berührung in dem einzelnen, aber um den Preis, diesen selbst zu zerreißen. Die tiefe Tragik dieser Situation ist, daß sie den Einzelnen zwar - im >reinen< Fall vernichtet, da seine Lebenseinheit in dieser Vielheit aufgelöst wird, daß aber auch mit der letalen Lösung, die der Konflikt mindestens auf der Bühne zu finden pflegt, die Rechnung nicht aufgeht, weil die objektiven Forderungen in ihrer Unversöhntheit weiter bestehen: der Abgrund zwischen ihnen schließt sich nicht, nachdem dieses Opfer hineingestürzt ist; der Konflikt ist nicht seinem innern Sinne nach, sondern nur in einer zufalligen historischen Erscheinung zu Ende, und daß der Tod des Helden >die sittliche Weltordnung wiederherstellt« ist eine oberflächliche Redensart. 113 Der Schauspieler wird gegenüber diesem tragischen Prozeß moderner Individuation zum Hoffnungsträger. Nicht indem er das Individuum zu einer vorzivilisatorischen Einheit im Sinne der Naturphilosophie Rousseaus zurückführen könnte. A b e r indem sein Spiel vorführt, wie sich aus den disparaten Versatzstücken moderner Identität ein ästhetisches Ganzes formen läßt: Damit gewinnt die Schauspielkunst eine charakteristische Stufe innerhalb einer allgemeinsten philosophischen Bedeutung der Kunst überhaupt. Die Vielspältigkeit unserer Seele läßt das Leben in eine Vielheit von Reihen auseinandergehen, die in der praktischen wie in der theoretischen Behandlung fremd und ohne Generalnenner nebeneinander liegen - sozusagen in einer gegenseitigen Gleichgültigkeit, die noch etwas anderes ist und dem Gewinn eines einheitlichen Lebenssinnes vielleicht tiefere Schwierigkeiten entgegensetzt, als das Gegeneinander, die positiven Feindseligkeiten, die zwischen jenen Reihen auftreten mögen. Nun scheinen der Kunst gewisse anschauliche Vereinheitlichungen dieser sonst füreinander zufalligen
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Simmel (Anm. 104), S. 170f. Simmel (Anm. 104), S. 174. Ebd. Simmel (Anm. 10), Bd. 14, S. 7-157, hier S. 130. 209
Schichten des Seins und der Werte zu gelingen: sie wirkt dann wie eine dem VerStande schwer faßbare prästabilierte Harmonie, eine Gnade, die über das I .eben kommt, ohne aus den Kräften seiner eigenen Kiemente entwickelbar zu sein. 114 Dieser Gedanke macht den optimistischen Kern der Rollenphilosophie Simmeis aus. In der schöpferischen Bildung der Rollenidentität als symbolischer Einheit versinnbildlicht der Schauspieler paradigmatisch die Dynamisierung der Ich-Kategorie innerhalb der Moderne. Simmeis Neubestimmung der Rollen-Metapher gibt dem Motiv eine neue zeitgeschichtliche Dimension, denn in der symbolischen Einheit, die die Rolle darstellt, wird das große Motiv wirksam, mit dem die Gegenwart wieder an einer Weltanschauung baut: Der Ersatz des Mechanismus durch das I .eben. Denn ihm entspricht es, daß jede einzelne Wirklichkeit in sich gleichsam einen Lebendigkeitspunkt hat, der ihren Sinn ausmacht und in dessen Entfaltung sie die Lebendigkeiten um sich herum, organisch wechselwirkend, tragend und getragen, einbezieht während das mechanistische Prinzip die Erscheinungen gleichsam enteignete und sie, mehr oder weniger äußerlich, nur aus anderen zusammensetzte. Verstehen wir die Schauspielkunst als eine völlig primäre künstlerische Energie der Menschenseele, so daß sie die Dichtkunst und die Wirklichkeit ihrem Lebensprozesse assimiliert, statt sich aus ihnen mechanisch zusammenzusetzen, so mündet nun auch ihre Deutung in die große Strömung des modernen Weltverständnisses. 115 Simmeis Rollenmetapher ersetzt die Marionette als Emblem des Determinismus durch den Schauspieler als Sinnbild der Lebenskunst. 116 Anhand des Schauspielers entwirft er ein Daseinsideal, in dem Kunst und Wirklichkeit, individuell Besonderes und überbegrifflich Allgemeines letztlich untrennbar ineinander fließen. Mit dem Begriff >LebenLeben< in dieser Tradition. Nietzsches Philosophie hat ihn um die
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Simmel (Anm. 10), S. 428f. Simmel (Anm. 104), S. 175. Vgl. das Marionetten-Motiv in Anm. 103 und das Puppen-Gleichnis in Anm. 109 dieses Kapitels. Nietzsche (Anm. 58), KSA 6, S. 160 (Herv. im Original).
Jahrhundertwende nachweisbar beschäftigt. 118 Sein Rollenbegriff hat - wie bestimmte strukturelle Parallelen im folgenden Kapitel zeigen werden — ebenso wie die Schauspieltheorie der Jahrhundertwende wesentliche Anregungen von Seiten dieses Autors erhalten.
4.3.
Exkurs: >Zur Philosophie der Schauspielerin
weiblicher Natur< herbeizitiert.119 Allerdings hat er es als erklärter Symphatisant der Frauenbewegung, dessen Vodesungen regelmäßig eine ganze Schar von Hörerinnen anzogen, — zumindest was die Intention angeht — ins Positive gewendet. Simmeis Essay über Weibliche Kultur erklärt die Schauspielerei zur eigentlichen künsderischen Domäne des weiblichen Geschlechts. Als darstellende Künsderinnen seien Frauen ganz aus ihrem geschlechtstypischen >Wesen< heraus schöpferisch. Der Autor ist überzeugt: Ganz unzweideutig [...] offenbart sich das Spezifische der weiblichen Leistung in der Schauspielkunst, und zwar keineswegs nur weil die Rolle hier schon ihrem Inhalt nach eine weibliche Aufgabe ist |gemeint ist die weibliche Bühnenfigur, die die Schauspielerin darzustellen hat, Anm. B.C.], sondern aus dem tieferen Wesen der Schauspielkunst überhaupt heraus. 120 Und schließlich wird das weibliche Wesen< selbst der Schauspielkunst gleichgesetzt: Wenn es aber überhaupt etwas wie eine Formel des weiblichen Wesens gibt, so deckt sie sich mit diesem Wesen der Schauspielkunst.121 Simmeis Diktum basiert auf zwei Grundüberzeugungen. Die erste ist ästhetischer Natur und offenbart sein bereits beschriebenes Verständnis der Schauspielerei als Verschmelzung von Ich und Rolle. 122 Die zweite Annahme SimÜber Nietzsche schreibt Simmel das erste Mal 1896 (Friedrich Nietzsche. Eine moralphilosophische Silhouette), dann 1902/03 {Zum Verständnis Nietzsches). 1906 erscheint die Studie Nietzsche und Kant, 1907 der Vortragszyklus Schopenhauer und Nietzsche. 119 Vgl. Ursula Geitner: Nachwort. Die Frau als Schauspielerin. Auskünfte einer Metapher. In: Dies. (F Irsg.): Schauspielerinnen. Der theatralische Eintritt der Frau in die Moderne. Bielefeld 1988, S. 252-283, S. 274ff. 120 Simmel (Anm. 10), GA 14, S. 417-459, hier S. 442. 121 Ebd., S. 442f. 122 »Iis gibt keine Kunst, in der die I^eistung und die Totalität der Persönlichkeit zu so enger Einheit verbunden sind [...] die Schauspielkunst (kann) kein mögliches Intervall zwischen dem Prozeß und dem Ergebnis der Ixistung lassen [...]; ihre subjektive und ihre objektive Seite fallen hier unbedingt in einen Lebensmoment zusammen und bieten damit das Korrelat oder die vorgebildete Form für jenes vorbehaltlose Eingehen der gesamten Persönlichkeit in die künstlerische Erscheinung.« Ebd., S. 442. 118
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mels reproduziert ein hergebrachtes Geschlechtsstereotyp und offenbart sein letztlich konservatives Verständnis von Weiblichkeit. Daß nämlich >die Frau< zur Schauspielerei sozusagen berufen sei, läge — so der Tenor der Überlegungen zur weiblichen Kultur< — an der im Vergleich zum Manne weit weniger differenzierten Gestalt ihrer Persönlichkeit. Der Darstellerin gelänge angesichts ihres von vornherein weniger abgegrenzten Ichs jene Verschmelzung mit der Rolle, die Simmeis Schauspielästhetik vorsieht, weit müheloser als ihrem männlichen Kollegen: Die unzähligen Beobachtungen über das Differentielle der wciblichen Psyche lassen sich doch wohl so zusammenfassen: daß für sie das Ich und sein Tun, das Zentrum der Persönlichkeit und seine Peripherie enger verschmolzen sind als beim Manne (...]. Den engen Zusammenhang aller Wesensteile, der die Frau nicht, wie man so oft hört, zu einem subjektiven Wesen, sondern zu einem solchen macht, für das die Schcidung des Subjektiven und Objektiven eigentlich nicht besteht - eben diesen zeichnet gleichsam die ästhetische, durchaus übersubjektive >Idee< der Schauspielkunst. 1 2 3
Von dem ohnehin recht zweifelhaften Versuch, das Wesen d e r Frau als solcher festzuschreiben, einmal abgesehen, Simmeis Essay fordert Kritik vor allem durch seine These von der größeren Geschlossenheit des weiblichen Charakters heraus. Der Autor sucht die Erklärung für seine Behauptung in der Kulturgeschichte der Menschheit. Waren die Männer, so die Argumentation, durch gesellschaftliche Verpflichtungen mehr und mehr gezwungen, ihr Auftreten zu gestalten und zu reflektieren, sich in verschiedenen Rollen zu bewähren — kurz: eine differenzierte Persönlichkeit auszubilden —, so seien die Frauen — in der Geborgenheit des häuslichen Kreises aufgehoben — auf einer vordifferenzierten Entwicklungsstufe des Charakters sozusagen zurückgebliebene Wenngleich Simmel nicht biologistisch, sondern sozialgeschichtlich argumentiert: Im Kern reproduziert diese These die Behauptung vom angeblich irrationalen, naturhaften Charakter des weiblichen Geschlechts, die, schon seit Menschengedenken wiederholt, auch um die Jahrhundertwende gerne herangezogen wurde, um die intellektuelle Gleichrangigkeit von Frauen zu bestreiten.124 Unangenehme Assoziationen etwa an die von misogynen Autoren seiner Zeit ausschweifend beschriebene >Tierhaftigkeit< dieses Geschlechts weckt z.B. die von Simmel in einem anderen Artikel auf Frauen angewandte Formulierung des »Gattungswesens«.125
Simmel (Anm. 10), S. 443. 124 Yg] e t w a : Otto Weininger: Geschlecht und Charakter (1903, sieben Neuauflagen bis 1947) oder Paul J. Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. (1900, sieben Neuauflagen bis 1908). Auch Simmel enthält sich nicht der Behauptung einer intellektuellen Inferiorität der Frauen, die »jedes Ding mit Gefühlen und Interessen, mit Stimmungen und Impulsen verflechten und so die Unparteilichkeit des Urteils trüben.« Georg Simmel: Bruchstücke aus einer Psychologie der Frauen. In: Simmel (Anm. 10), GA 7, S. 289-294, hier S. 291. 1 2 5 »|...| weil sie im höheren Maße Gattungswesen ist, versteht und erlebt sie das Gattungsmäßige von innen her, nicht nur als eine Erbschaft unserer Art.« Kbd., S. 294. 123
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In der Konsequenz der Behauptung v o m stärker erhaltenen Bezug des weiblichen Charakters zum >Lebensganzen< und dem den Frauen attestierten Mangel an kulturell geformter >IchBrille< hindurch wahrnimmt und definiert, wobei differierende Formen schlichtweg ignoriert werden, sehr wohl reflektiert. D e n Gültigkeitsanspruch seiner Bemerkungen beschränkte er daher auch auf den »Rahmen der bisher vorliegenden Kultur«. 1 2 7 In dieser männlich dominierten Welt »bewähren« 1 2 8 weibliche Kulturschaffende sich in dem Maß mehr, in dem der Gegenstand ihrer Arbeit schon den Geist dieser Kultur, d.h. den männlichen, in sich aufgenommen hat und versagen in dem Maße, in dem Urproduktion verlangt wird, d.h. in dem sie ihre von vornherein anders disponierte originale Energie erst in die Formen gießen müßten, die die objektive, also die männliche Kultur verlangt. 129 A u c h damit hängt ihre angeblich gesteigerte Begabung für die Schauspielerei, die Simmel nun — in einer denkwürdigen Volte seiner Argumentation — wieder zu den reproduktiven Künsten< rechnet, zusammen. Aus der differierenden >Natur< ihrer Kreativität, die die Frauen im männlich bestimmten Kulturleben zu Außenseiterinnen werden läßt, ergibt sich die Reihenfolge, in der weibliche Betätigungen innerhalb der objektiven, männlich bestimmten Kultur gelingen. Unter den Künsten sind die reproduktiven ihre eigentliche Domäne: Schaupielkunst [...] und ausübende Musik bis zu dem höchst bezeichnenden Typus der Stickerin, deren unvergleichliche Geschicklichkeit und Fleiß eben ein >gegebenes< Muster wiederholt; in den Wissenschaften fällt ihre Sammler- und >KärrnerFormel des weiblichen Wesens< unvermeidlich erinnert, hat sich die zugrunde gelegte Verhältnismäßigkeit von Geschlecht und Schauspielkunst allerdings deutlich gewandelt. Simmeis weit nach den Studien über Hysterie und weit nach dem Durchbruch der Seelenkunst einer Eleonora Duse verfaßter Essay praktiziert die totale Umkehrung des alten Klischees und bestätigt so im Nachhinein die im ersten Teil dieser Arbeit vertretene These von dessen fundamentalem Wandel um die Jahrhundertwende. Die Arzte der Salpetriere, die bekanntlich ihre Kranken als Schauspielerinnen diffamierten, implizierten dabei in Diderotscher Fa$on die Trennung von Geste und Gefühl. War von der These des >gespielten Leids< ausgehend die Hysterika und Schauspielerin herbeizitiert worden, um einen grundsätzlich gegenüber dem weiblichen Geschlecht gehegten Verdacht der Tücke und Verstellungskunst zu bekräftigen, steht die Bühnenkünstlerin im Gegensatz dazu bei Simmel für die Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit ein, die er dem weiblichen Naturell· zuschreibt. Schauspielerei ist nach Simmel die Kunst des unmittelbaren seelischen Ausdrucks, »in der, durch keinen zeitlichen, räumlichen oder sachlichen Hiatus getrennt, das innere Leben seine Versichtbarung und Verlautbarung an sich selber trägt«.1 31 Die Neigung zum unmittelbaren körperlichen Umsetzen ihres Innersten, die die Frauen auszeichne, [...) ist in der Schauspielkunst die innerste Struktur der Ix-istung; hier, w o eben diese nur über einen einzigen Moment verfügt, ist in ihm das Innere und das Außere, das Aufspringen des zentralen Impulses und seine dargebotene [Erscheinung nicht auseinanderzuziehen [,..|. 132
Den Körper der >Frau und Schauspielerin< begreift Simmel als klaren Spiegel ihrer innersten Regungen. Seine Annahme, daß diese »den inneren Vorgang — soweit er nicht durch Sitte oder Interesse Verhüllung fordert — unmittelbar in seine Äußerung umsetzt, bis zu der eigentümlichen Verbundenheit, die bei den Frauen seelische Alterationen so viel leichter als bei Männern in körperliche übergehen läßt«,133 ermöglicht dem Autor die gewiß beruhigende Illusion eines ungetrübten Einblicks in das weibliche Seelenleben. Die weibliche Lebensform — dieses merkwürdig unbestimmte Schweben zwischen Seele und Körper, zwischen subjektiver und objektiver Existenz — erhebt er — auch dieses Kompliment stellt eine aus feministischer Sicht fragwürdige Idealisierung dar — auf den Rang eines Kunstwerks denn was ist |dieses] anderes, als daß ein persönlich innerstes I -eben sich zu einer Form entfaltet, die über alles Persönliche hinaus die Gültigkeit eines Allgemeinen besitzt? Daß seine Notwendigkeit, den mannigfaltigsten Indivi-
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Simmel (Anm. 10), S. 443. Ebd. Ebd.
duen gleichmäßig nachfuhlbar und zwingend, das freieste Ausströmen einer Seele ist, die nur auf sich selber hört? 1 3 4 Das weibliche Wesen< gestalte sich also nach den Regeln einer spielerischen Ästhetik. Nirgends wird dies so deutlich, wie im »geheimnisvolle[n] Ineinander v o n Ja und Nein, v o n Geben und Verweigern«, 1 3 5 in der Simmel d i e Essenz einer weiblichen Liebeskultur erkannt haben will; in der Koketterie. Weil die »sexuelle Rolle, die dem weiblichen Elemente [...] zukommt,« 1 3 6 Frauen lediglich die Entscheidung zwischen >Sich versagen< und >Sich hingeben< zubillige, seien sie in der Liebe stets bemüht, die Entscheidung so lang als möglich herauszuzögern. 1 3 7 Ihren Reiz gewinnt die >weibliche Unentschlossenheit< als Element einer kunstvoll spielerischen Inszenierung, eben der Koketterie: Simmel vergleicht die logische Struktur der Koketterie mit der >Gleichzeitigkeit eines angedeuteten Ja und Neinversöhnter< Form einander gegenüberstehen, ohne jemals die Form eines bedrohlichen Antagonismus oder eines definitiven Übergewichts von nur einem der dargestellten Gegensätze anzunehmen. 1 3 8 D e r füir die weibliche Erotik beschriebene Zug des >Hin- und HergerissenseinsSpieles< begleiteten Sich-Nähern und Sich-Entfernen, Ergreifen, um wieder fallen zu lassen, Fallenlassen um wieder zu ergreifen, dem gleichsam probeweisen Sich-
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Simmel (Anm. 10), S. 294. Georg Simmel: Die Koketterie. In: Ders.: Philosophische Kultur. Ober das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Berlin 1983, S. 81-99, hier S. 94. Simmel (Anm. 135), S. 87. »Im Neinsagen und im Jasagen, im Sich-hingeben und Sich-versagen sind die Frauen die Meister. Dies ist die Vollendung der sexuellen Rolle, die dem weiblichen Elemente schon vom Tierreiche an zukommt: das wählende zu sein.« Simmel (Anm. 104), S. 87. Lichtblau (Anm. 12), S. llOf. 215
Hinwenden, in das schon der Schatten seines eigenen Dementis fallt - hat die Seele die adäquate Form für ihr Verhältnis zu unzähligen Dingen gefunden. 1 ®
Die >weibliche< Schauspielkunst, die sich in der Koketterie verkörpert, wird damit zur Signatur eines Zeitalters, dem Wirklichkeit nur mehr als unaufhaltsames Spiel der Formen, Perspektiven und flüchtigen Erlebnisse gegeben ist. Simmeis Perspektive ist darin repräsentativ für seine Epoche. Letztlich liegt der Schauspielerinnen-Metaphorik der Moderne, sei sie poetischer, sei sie philosophischer Natur, eine verhältnismäßig krude Mischung aus Dämonisierung und Faszination zugrunde. Sie nährt sich aus dem tradierten Stereotyp unbegtifflicher und letztlich unbegreiflicher Weiblichkeit einerseits und einer fundamentalen Verunsicherung angesichts einer rational nicht mehr faßbaren Wirklichkeit andererseits. Ein sexualisiertes Mißtrauen gegenüber der eigenen Realitätswahrnehmung bildet letztlich auch die Grundlage der gehäuften literarischen Auftritte von Bühnenkünstlerinnen, die die Autoren um 1900 meist im Stil der femme fatale entwerfen.140 Deren Struktur verdeutlicht exemplarisch und in den impliziten Abwehrformeln bis zur Brutalität sich steigernd eine Passage aus Hermann Bahrs Dialog vom Tragischen. Als in diesem literarischen Gespräch die Rede auf die Schauspielkunst kommt, holt einer der Anwesenden, ein junger Künsder, weit aus, um seinen Zuhörern »den bösen Reiz zu schildern, den die Kunst des Schauspielers für mich hat«.141 Am Ende seiner Schilderung wird die Erkenntnis des »größte [n] Geheimnis der Menschheit«142, nämlich der Unbestimmbarkeit menschlicher Idenitität überhaupt, stehen, an ihrem Beginn steht die Kolportage der für den Erzähler traumatisch verlaufenen Affäre mit einer Schauspielerin. Was den Erzähler damals bis an die Grenzen seiner psychischen Gesundheit gebracht hatte, war die Erfahrung, daß man eine Frau zu besitzen meint und ihr in der Raserei alles abgepreßt und abgerungen hat, alles, bis auf den letzten Schrei der inneren Natur, aber dann geht sie hin und zieht sich um und ist ein Wesen, mir so fremd, und hat Töne, mir so neu, und gehört in eine Welt, mir so fern, als hätte ich sie niemals noch zuvor erblickt, darüber bin ich damals fast wahnsinnig geworden. Ihr wißt, was es in der heiligen Schrift heißt, wenn sie sagt: Fr erkannte ein Weib. Daß man es aber dabei doch niemals wirklich >erkennen< kann, weil es ihm gegeben ist, tausend Wesen zu werden und immer schon wieder, während es noch atemlos, von meiner Faust gewürgt, unter meinem Herzen zuckt, ein anderes zu sein, von dem ich nichts weiß, daran habe ich, diese ganzen Jahre her, so grimmig süß gelitten.
Die Verachtung, die das 19. Jahrhundert für die >Charakterlosigkeit< der hysterischen Schauspielerin hegte, wandelt sich in der Moderne zur Faszination. Die 139 140
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Simmel (Anm. 135), S. 97. Vgl. Jürgen Viering: Die Schauspielerin als Vertreterin der Modernität. Über die Darstellung der Schauspielerin im Frühwerk H. Manns und das Bild der >moderncn< Schauspielerin in der zeitgenössischen Theaterkritik. In: Jahrbuch für internationale Germanistik. 8. Jg. Heft 2. 1986, S. 8-75. Auf das literarische Motiv der Schauspielerin wird im folgenden noch näher einzugehen sein. Hermann Bahr: Dialog vom Tragischen. Berlin 1904, S. 67. Fbd. Fbd., S. 66.
schauspielerische Verwandlung — zu deren Versinnbildlichung im Zuge der Aufwertung dieser Kunst mehr und mehr auch männliche Bühnenkünstler herangezogen werden - wird zum Signum der Epoche. 144 Was sich innerhalb dieses Wandels abzeichnet, ist die Heraufkunft eines neuen Ideals, das das bisherige Identitätsprinzip als Leitbild ablöst: Es wird bestimmt von dem Theatergott Dionysos, jenem Vertreter des weiblichen PrinzipsGrammatikerKünsder< am Vorbild der Schauspielerei errichtet, ex negative verdeutlichen, aus welcher Vorstellung sich das Ideal der ewigen Verwandlung speist: »Nach einer Pause begann der Grammatiker: >Ja schon, es [das Geheimnis der Schauspielerei, Anm. B.C.] ist ja in der Tat das dionysische Gefühl. Ekstasis, sagten die Griechen. Das heißt: der Mensch tritt aus sich heraus, er schüttelt sich ab, er wird um; und wie die Mänade, die in das Fell des Tigers schlüpft, allmählich auch tierisch zu fühlen beginnt, so kann er, in den Gedanken an einen anderen Menschen eingehüllt, mit Leib und Seele dieser werden. Nur muß ich da, bei aller Verehrung der Griechen, doch warnen und fragen: was soll das uns? Gerade uns, die so verlangt, sich abzugrenzen und einzuschließen, fest zu werden und unwandelbar zu sein? Denn was wir >Charakter< nennen und, ob wir nun >Persönlichkeit< oder >Individualität< dazu sagen, als des Menschen höchste Kraft verehren, ist doch gerade ganz undionysisch.« Bahr (Anm. 141), S. 68. 145 Bachofens Mutterrecht hatte den Dionysoskult als »Auflehnung der Frauen gegen das Patriarchat« gedeutet. Henry F. FUlenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Bern 1973, Bd. 1,S. 312. 146 Wenngleich der >antitheatralische< Nietzsche für die Entwicklungen der Begriffsund 'rtieatergeschichte, die meine Arbeit untersucht, keine Rolle gespielt hat, soll an dieser Stelle die pejorative Wendung, die sein Schauspielbegriff in der Fröhlichen Wissenschaft erfährt, nicht unterschlagen werden. Die hier realisierte antisemitische und misogyne Schauspielmetaphorik gibt sich als Fortsetzung ihrer pejorativen Verwendung im 19. Jahrhundert zu erkennen: »Das Problem des Schauspielers hat mich am längsten beunruhigt; ich war im Ungewissen darüber [und bin es mitunter jetzt noch], ob man nicht erst von da aus dem gefährlichen Begriff >Künstler< - einem mit unverzeihlicher Gutmüthigkeit bisher behandelten Begriff - beikommen wird. Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung mit Macht herausbrechend, den sogenannten >Charakter< bei Seite schiebend, überfluthend, mitunter
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Dass das Theater nicht I Ierr über die Künste wird. Dass der Schauspieler nicht zum Verführer der lichten wird. Dass die Musik nicht zu einer Kunst zu lügen wird M,147
ist eben so sehr aus seiner Abwendung von Wagner zu erklären, wie die damalige Verehrung des Musikdramatikers aus der früheren Begeisterung für die Schauspielerei spricht. Hier wie da ist Schauspielkunst zugleich ein Synonym für Wagners Bühnenästhetik. Dem Theaterreformer wird von Nietzsche in seiner Unzeitgemäßen Betrachtung über Richard Wagner in Bayreuth eine »schauspielerische Urbegabung«148 zugeschrieben, »welche in der Heranziehung aller Künste zu einer großen schauspielerischen Offenbarung« 149 ihren Ausdruck fand; und das lange bevor die spätere Abneigung gegenüber dieser »Gesamt-
auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein Ueberschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen wissen: alles das ist vielleicht nicht n u r der Schauspieler an sich?... Hin solcher Instinkt wird sich am leichtesten bei Familien des niederen Volks ausgebildet haben, die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzen mussten, welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich, den Mantel nach j e d e m Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt: bis zum Schluss dieses ganze von Geschlecht zu Geschlecht aufgespeicherte Vermögen herrisch, unvernünftig, unbändig wird, als Instinkt andre Instinkte kommandiren lernt und den Schauspieler, den >Künstler< erzeugt [den Possenreißer, Lügencrzählcr, I Ianswurst, Narren, Clown zunächst, auch den classischen Bedienten, den Gil Blas: denn in solchen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers und oft genug sogar den des >GeniesDiplomaten< - ich würde übrigens glauben, daß es einem guten Diplomaten jederzeit noch freistünde, auch einen guten Bühnen-Schauspieler abzugeben, gesetzt, daß es ihm eben >freistünde< . Was aber die J u d e n betrifft, jenes Volk der Anpassungskunst par excellence, so möchte man in ihnen, diesem Gedankengang nach, von vornherein gleichsam eine welthistorische Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern sehn, eine eigentliche Schauspieler-Brutstätte; und in der 'That ist die Frage reichlich an der Zeit: welcher gute Schauspieler ist heute nicht - Jude? Auch der Jude als geborener Litterat, als der tatsächliche Beherrscher der europäischen Presse übt diese seine Macht auf Grund seiner schauspielerischen Fähigkeit aus: denn der Litterat ist wesentlich Schauspieler - er spielt nämlich den >SachkundigenFachmannhypnotisirensich gebenWir glauben an das ewige I-ebenSeid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!schauspielerischen Offenbarung< wird dieses Theater insofern, als es das scheinbar Bekannte und Verläßliche unkenntlich macht und in dieser Verwandlung eine >tiefere< Wirklichkeit, die Nietzsche zufolge nur in der Imagination zu finden ist, erfahrbar werden läßt. Bereits die Geburt der Tragödie hatte die Schauspielkunst zum Inbegriff des darin entworfenen Theatetideals erhoben. »Jenes dramatische Urphänomen: sich vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib in einen andern Charakter eingegangen wäre«,154 erschien dem Autor dort am deutlichsten durch den Prozeß des Schauspielers zu machen [...], der, bei wahrhafter
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Nietzsche (Anm. 58), S. 26f. Wie schon in der Geburt der Tragödie greift Nietzsche in der Unzeitgemäßen Betrachtung auf das griechische Theater zurück, um sein Ideal zu legitimieren: »Wirklich hat man nur ein Mittel, sich in Kürze davon zu überzeugen, wie gemein, und zwar wie absonderlich und verzwickt gemein unsere Theater-Einrichtungen sind: Man halte nur die einstmalige Wirklichkeit des griechischen Theaters dagegen! Gesetzt, wir wüssten Nichts von den Griechen, so wäre unseren Zuständen vielleicht gar nicht beizukommen, und man hielte solche Einwendungen, wie sie zuerst von Wagner in grossem Style gemacht worden sind, für Träumereien von lauten, welche im Lande Nirgendsheim zu Hause sind.« Nietzsche (Anm. 58), S. 449. Nietzsche (Anm. 58), S. 108. Nietzsche (Anm. 58), S. 468. Nietzsche (Anm. 58), S. 61. 219
Begabung, sein von ihm darzustellendes Rollenbild zum Greifen wahrnehmbar vor seinen Augen schweben sieht.155 Der Vorgang mimischer Darstellung überschreitet in zweierlei Hinsicht die Grenzen gewohnter Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen: Als Uberwindung der Begriffssprache wie als Uberwindung des Individuums. Zum ersten widersetzt sich die leibliche Gebärde des Mimen der herkömmlichen Präferenz der durch Begriffe und Definitionen festgelegten Wortsprache. Nietzsches Überlegungen zur Schauspielkunst haben einen engen Bezug zu seiner Sprachkritik; das verdeutlicht der Text über"RichardWagner in Bayreuth. Hier wie auch in seinem Text Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne zeigt er die Erkenntnis eines Notstandes an,156 »der so weit reicht als jetzt überhaupt die Zivilisation die Völker verknüpft: überall ist hier die S p r a c h e erkrankt und auf der ganzen menschlichen Entwicklung lastet der Druck dieser ungeheuerlichen Krankheit.«157 Die Sprache, so meint Nietzsche, sei im Zuge der kulturgeschichtlichen Dominanz des Rationalen zum abstrakten Begriffswerkzeug verkommen, mit dessen Hilfe es nicht mehr möglich sei, sich über die elementaren Gefühle zu verständigen: Indem die Sprache fortwährend auf die letzten Sprossen des ihr Frreichbaren steigen musste, um, möglichst ferne von der starken Gefühlsregung, der sie ursprünglich in aller Schlichtheit zu entsprechen vermochte, das dem Gefühl Kntgegengesetzte, das Reich des Gedankens zu erfassen, ist ihre Kraft durch dieses übermäßige Sich-Ausrecken in dem kurzen Zeiträume der neueren Civilisation erschöpft worden: [...] Der Mensch kann sich in seiner Noth vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gesprcnsterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; [...] so nimmt die Menschheit zu allen ihren I .eiden auch noch das Leiden der C o n v e n t i o n hinzu, das heisst des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Ucbereinkommen des Gefühls. 1 5 8
An diesen Gedanken wird Hofmannsthal in seinem berühmten Brief des Lord Chandos (1902) anknüpfen und damit jene unter Schriftstellern und Künstlern in der Folgezeit weit verbreitete Skepsis auslösen, die als >Sprachkrise der Jahrhundertwende< längst zum Topos der Literaturwissenschaft geworden ist.159 Auch Georg Simmel gibt einer entsprechenden Erfahrung Ausdruck, wenn er in seinem Essay über den Begriff und die Tragödie der Kultur; der eine gewisse Verbundenheit mit den Gedanken Nietzsches schon durch Thema und Titel signalisiert, schreibt:
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Nietzsche (Anm. 58), S. 60. Nietzsche (Anm. 58), S. 455. Kbd. Kbd. (I Jerv. im Original). Vgl. u.a.: Walter Kschenbacher: Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900. Kine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. 1977. Vgl. auch: Dirk Göttsche: Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa. Frankfurt a. M. 1987. Vgl. auch: Werner Konitzer: Sprachkrise und Verbildlichung. Würzburg 1995.
Die Sprache empfinden wir gelegentlich wie eine fremde Naturmacht, die nicht nur unsere Äußerungen, sondern auch unsere innersten Gerichtetheiten verbiegt und verstümmelt. 160
Im Zuge des tragischen Kulturprozesses sei der Mensch zum Sklaven seiner Sprache wie seiner kulturellen Objektivationen im allgemeinen geworden.161 Dieser Entfremdung der begriffsdeterminierten Sprache von den Gefühlen entziehe sich jedoch — so Nietzsche in seiner Unzeitgemäßen Betrachtung - die Schauspielkunst. In verzückten Gebärden spricht der Urdramatiker von Dem, was in ihm, was in der Natur sich [...] begiebt: Der Dithyramb seiner Bewegungen ist ebenso sehr schauderndes Verstehen, übermüthiges Durchschauen, als liebendes Nahen, lustvolle Selbst-Entäusserung. 162
Die theatrale Gebärden->Sprache< beinhalte, weil in ihr der sonst so dominanten Wortsprache der unmittelbare Affekt-Ausdruck in der Körpergeste entgegengesetzt werde, eine Befreiung von Begriff und Wort sowie eine Wiederannäherung an das >A11-Erlebnis< der Natur, zu dem der neuzeitliche Mensch die ursprüngliche Verbindung verloren hat. In der Verschmelzung mit der Rolle überwinde der Mime zudem das eherne Individuationsgebot, welches das aufklärerisch-rationale Denken ihm auferlegt, denn »hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine fremde Natur«.163 Die Hoffnung auf die Überwindung der Individuation, in der Peter Szondi die Essenz der Nietzscheschen Philosophie des Tragischen erkannt hat, bestimmt auch Nietzsches neue Wertschätzung des Schauspielers.164 Damit macht die Schauspielkunst eine verloren geglaubte
160 G e o r g Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Simmel (Anm. 10), GA 14, S. 385-416, hier S. 404. Erstmals erschienen in: Ders. (Anm. 135). 1 6 1 Zu den Nietzscheanischen Anklängen dieses Gedankens vgl.: »Wie in dem abwärtslaufenden Gange jeder Kunst ein Punkt erreicht wird, wo ihre krankhaft wuchernden Mittel und Formen ein tyrannisches Übergewicht über die jungen Seelen der Künstler erlangen und sie zu ihren Sklaven machen, so ist man jetzt, im Niedergange der Sprachen, der Sklave der Worte; unter diesem Zwange vermag niemand mehr sich selbst zu zeigen, naiv zu sprechen, und wenige überhaupt vermögen sich ihre Individualität zu wahren, im Kampfe mit einer Bildung, welche ihr Gelingen nicht damit zu beweisen glaubt, daß sie deutlichen Empfindungen und Bedürfnissen bildend entgegenkomme, sondern damit, daß sie das Individuum in das Netz der deutlichen Begriffe< einspinne und richtig denken lehre: als ob es irgendeinen Wert hätte, jemand zu einem richtig denkenden und schließenden Wesen zu machen, wenn es nicht gelungen ist, ihn vorher zu einem richtig empfindenden zu machen.« Nietzsche (Anm. 58), S. 455f. 1 6 2 Ebd., S. 471. 1 6 3 Nietzsche (Anm. 58), S. 61. 1 6 4 »Erblickte Schopenhauer in den streitenden Mächten der Tragödie den einen Willen, dessen Erscheinungen sie sind, so gilt für Nietzsche, daß bis auf Euripides Dionysos nie aufgehört hat, der tragische Held zu sein, sondern daß alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne, Prometheus, Odipus usw. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dessen im Mythus überliefertes Schicksal, zerstückelt zu werden, das in jeder Tragödie von neuem zelebriert wird, und das Nietzsche als das Symbol der Individuation begreift, so daß er im tragi221
Ganzheitlichkeit des Menschen jenseits der modernen Trennung v o n Mensch und Lebensganzem wieder erfahrbar. Das dramatische Spiel des antiken Tragödienchores war in der Geburt der Tragödie als Objektivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein 1 ^ gedeutet worden. Daß der Schauspieler - wie gezeigt - auch für Simmel zum Emblem wider die Erstarrung und Vereinzelung des Individuums in der Kultur werden konnte, hat mit diesem Gedankengang zu tun. 1 6 6 Nietzsches Neuverständnis der Schauspielkunst als dionysischer Überschreitung der Ich-Kategorie hat nicht allein in Simmeis Schauspielbegriff
sehen Helden den >die Leiden der Individuation an sich erfahrenden Gott< sehen kann, entspricht dem Los, das in der Tragödie bei Schopenhauer dem Willen widerfahrt: Die Individuen, in denen er erscheint, zerfleischen sich selbst. Während sich der Wille bei Schopenhauer durch den tragischen Vorgang, in dem seine 1 Erscheinungen sich zerfleischen, selber aufhebt und kraft der (Erkenntnis im Zuschauer die Abwendung von sich selbst, die Resignation bewirkt, geht für Nietzsche Dionysos aus seiner Zerstückelung in der Individuation gerade als das Unzerstörbar-Mächtige hervor, worin dann der >metaphysische Trost< besteht, den die Tragödie spendet. Der negativen Dialektik Schopenhauers steht so bei Nietzsche eine positive gegenüber, die an Schellings Deutung in den Briefen gemahnt. Während sich der Wille in seiner Objektivation zur Erscheinung selber verneint, bejaht sich das Dionysische gerade, indem es trotz seiner Lust am apollinischen Schein, der seine Objektivation ist, diese Lust und diesen Schein verneint und aus der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt eine noch höhere Lust schöpft. So ist die Kunst nicht mehr der klare Spiegel, in dem die Welt der Individuation das Urteil über den Willen spricht, sondern ein Zeichen, daß die Individuation >den Urgrund des Übels darstellt und zugleich die freudige I Ioffnung, daß der Bann der Individuation zu zerbrechen sei< - die Ahnung einer wiederhergestellten I Einheit*.« Peter Szondi: Versuch über das Tragische. Frankfurt a. M. 1961, S. 46f. 165 166
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Nietzsche (Anm. 58), S. 62. Wie eng Simmeis Texte zum Schauspieler inhaltlich mit der Tragödientheorie Nietzsches zusammenhängen, verdeutlicht auch ihre Rezeption bei Julius Bab: »Georg Simmel in seinen hervorragenden I'ragmen ten zur Schauspielkunst« (Julius Bab: Das Theater im lichte der Soziologie. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1931. Stuttgart 1974, S. 78) streckenweise paraphrasicrend, bringt er diese zugleich in Zusammenhang mit dem kultischen Ursprung des Theaters, dem Nietzsches Tragödienaufsatz gewidmet ist: »Die Schauspielkunst ist eine Urkunst, d.h. ihre Form, ihr Wesen stammt aus einer Zeit, in der die Menschen noch nicht entfernt in dem Maße wie heute den Verstand, die Begriffsbildung, die kausale Verknüpfung benutzten, um sich in der Welt zu orientieren und die ]>ebensangst zu bezwingen. In der Schauspielkunst behauptet sich jenes Urwesen des magischen Theaterzaubers, mit dem ein Geschöpf sich durch FEkstasen selber mit 1 laut und Maaren, mit Seele und Leib in etwas anderes verwandelt.« [l-'bd. S. 82f.| Mit Simmel zieht er aus dieser Feststellung die sozialpsychologische Konsequenz: »Die Dinge liegen so, daß sich [in welcher Bewußtseinslage auch immer| die menschliche Persönlichkeit wahrscheinlich überhaupt nicht anders bildet als die schauspielerische Gestalt Aus einer Fülle mehr oder weniger weitreichender Möglichkeiten stellt ein Mensch sich das Idealbild einer Person her, der er zu gleichen, in die er sich zu verwandeln wünscht - geführt dabei durch eine Fülle äußerer Zwänge und Kindrücke, unter denen die Form des Milieus, der Klasse, der Beruf gewiß die stärksten, in gewisser Weise aber auch literarische und andere rein geistige 1 Eindrücke nicht unbedeutend sind.« [Kbd., S. 84j.
deutliche Spuren hinterlassen. Die diskursive Autorität des Initiators dieser neuen Auffassung schlägt sich um die Jahrhundertwende in deren interdisziplinärer Relevanz nieder. Als Überwindung der starren Grenzen eines rationalistisch bestimmten Subjekts und als Möglichkeit einer dionysischen Lebenssteigerung aufgefaßt, wird dieses Verständnis des Schauspielers bis weit über den Tod Nietzsches und weit über das philosophische und soziologische Umfeld hinaus bestimmend sein. Die genannten Grundzüge zeichnen auch eine ganze Reihe der künstlerischen Ansätze aus, mit denen sich Schriftsteller und Theatermacher der Jahrhundertwende dem Thema >Schauspieler< angenähert haben.167 Sie wurden dabei — ebenso wie Simmel — möglicherweise von einer kleinen Schrift inspiriert, die die Theatralität des Mimen zur Lebensmaxime erhebt und sich hierin explizit auf Friedrich Nietzsche beruft: Es handelt sich um den hier bereits erwähnten Dialog vom Tragischen, den Hermann Bahr 1903, also fünf Jahre vor Erscheinen der Philosophie des Schauspielers veröffentlicht hat.
167 w e j t über die im folgenden anvisierte Metaphorik des Schauspielers |bzw. der Schauspielerin] als Vertreter[in] einer nur noch ästhetisch faßbaren Form von Personalität hinausgehend, zeichnet sich die moderne Dramatik ungefähr seit Ibsen durch die implizite oder explizite Reflexion sozialer Rollen und Rollenstrukturen aus: Hugo von Hofmannsthal hebt schon 1892 die posenhafte Selbststilisierung der >Menschen in Ibsens Dramen< hervor: »Sie haben untereinander Zitate und geflügelte Worte [...). Sie sind auch um ihre Abgänge sehr bekümmert: sie lieben das arrangierte Sterben; und wenn sie nicht mit Zitaten aus Seneca umsinken, wie die Prinzen in einem jugendlichen Drama Shakespeares, so liegt wenigstens in der Situaton eine leichte Pose.« Hofmannsthal: Die Menschen in Ibsens Dramen, S. 153. Erika Fischer-Lichte hat auf die Reflexion der maskenhaften Starre gesellschaftlicher Rollenvorgaben innerhalb der Familiendramen Ibsens im dramengeschichtlichen Kontext hingewiesen, vgl. Fischcr-Lichte (Anm. 54), S. 90ff. Im dramatischen Werk Strindbergs weist Manfred Karnick Strukturen universaler Rollenbedingtheit und sozialen Rollenprotests< nach (vgl. Manfred Karnick: Rollenspiel und Welttheater. Untersuchungen an Dramen Calderons, Schillers, Strindbergs, Becketts und Brechts. München 1980, S. 81 ff.) und arbeitet hiervon ausgehend die zunehmend radikaler formulierte Infragestellung des autonomen Ich innerhalb der Dramatik des 20. Jahrhunderts heraus. Vgl. ebd., S. 231 ff. Diese bestimmt seit der Jahrhundertwende auch die literarische Gestaltung der >RolleKünsderder Meiste», der diese Sätze »langsam, fast ein wenig feierlich«170 kommentiert: Bist Du auch schon so weit? Gelobt sei Dionysos! 1 7 1
Die hier zitierten Sätze fallen im Rahmen einer fiktiven Diskussion, die ihren Ausgang bei der Frage nach dem Stellenwert des Dramas für die Kunst in der Gegenwart genommen hatte. Angesichts der fundamentalen Erschütterung, der die für dieses Genre unverzichtbare Kategorie des >Charakters< durch wissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse im Fin de siede ausgesetzt ist, ruft der Wortführer des Dialogs, der >MeisterNeuen Rundschau«, dem >TagJugendZeit< oder >Morgen< und >ZukunftDenknotwendigkeit< gehört. 1 7 4 Ihrer >Unrettbarkeit< zum Trotz nehme die Ich-Kategorie innerhalb der neuzeitlichen Denkkultur eine unverzichtbare Position ein. Bahr beruft sich unausgesprochen auf Nietzsches paradoxes Postulat des >Bewußtseins v o m Scheine< und der impliziten Abkehr v o n der alten Verachtung für die trügerische Maske< der äußeren Erscheinung, 1 7 5 wenn er dazu aufruft, sich dieser Tatsache im vollen Bewußtsein zu stellen und die Illusion als solche anzunehmen. D e m ehemals kritisierten gesellschaftlichen Rollenzwang setzt der moderne Ästhet, als dessen allegorische Rückendeckung der Text fungiert, ein bewußtes Spiel mit dem äußeren Schein entgegen. V o n seinen Zuhörern fordert Bahrs >Meister< den
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Bahr (Anm. 141), S. 59. »Nietzsche hat geradezu das >Individuum< einen Glauben, eine Einheit, die nicht standhalte, genannt und aus der Phantasterei vom Ich< loszukommen verlangt: >Aufhören, sich als solches phantastisches ego zu fühlen! Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen! Die Irrtümer des ego entdecken! Den Egoismus als Irrtum einsehen! Als Gegensatz nicht Altruismus zu verstehen! Das wäre die Liebe zu dem anderen vermeintlichen Individuum. Nein! Über >mich< und >dich< hinaus! Kosmisch empfindend Die Worte sind mir unvergeßlich, in ihnen ist schon der ganze Mach, der ja jetzt eben anfangt, der Philosoph der Zeit zu werden. Das Ich ist unrettbar, hat dieser gesagt.« Bahr (Anm. 141), S. 59f. Ebd., S. 60. Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft. In: KSA 3, S. 343-651, hier S. 416f., insbesondere: »Was ist mir jetzt >ScheinErkennende< meinen Tanz tanze [...].« 225
Mut, ein neues 1-eben der vollen Illusion zu wagen. Wie ich mir ein Ich, das ich doch gar nicht sein kann, dennoch schaffen muß, weil ich es brauche, so will ich mir doch alles, was ich brauche, schaffen dürfen: ich dichtc in die Welt meine Not hinein.171'' Die hier vertretene Rollentheorie weicht von der überlieferten vor allem insofern drastisch ab, als sie das rollen- und maskenhafte Sein nicht länger als uneigentlich kritisiert, sondern gerade dieses Uneigentliche zum eigentlichen Ideal eines >neuen Menschen* — dessen Verwandtschaft zum Nietzscheschen Ü b e r menschen* macht Bahr mit den Mitteln der Diktion unübersehbar - erhebt: (...] gerade wir können gerade jetzt den Schauspieler nicht entbehren. Wir brauchen seine Kunst, um an ihr leben zu lernen, wie die G riechen an ihren Statuen das heben gelernt haben. Seine Kunst der ewigen Verwandlung wird uns die Normen geben, nach welchen allein wir über den Menschen gelangen, ins Freie, zur Höhe, wo alles, was an uns geschieht, nur noch ein Spiel der Kiemente mit uns ist. 177 Dabei nimmt Bahr jenen Gedanken der Rollendistanz vorweg, der auch Simmeis Rollenverständnis mit den neuesten sozialwissenschaftlichen Ansätzen verbindet. »Wir alle sind Schauspieler«, 178 läßt er einen seiner Sprecher emphatisch ausrufen. Dieser erhebt die abgeklärte Haltung des Mimen gegenüber seiner Bühnenfunktion zum Ideal gesellschaftlichen Zusammenlebens: Beim Theater heißt es: um zehn ist alles aus! Wir würden unser 1 .eben ganz anders spielen, mit einer ganz anderen Verwegenheit und einer ganz anderen I'reude, wenn uns auch endlich klar geworden wäre: um zehn ist alles aus! Und wenn wir nicht, wie schlechte Komödianten der Provinz, um abends besser zu wirken, auch bei hellem Tage noch das finstere oder lächelnde Gesicht unserer Rollen tragen würden! Und wenn wir so wahr wären, in den Pausen lächelnd von unseren Rollen auszuruhen, der König gelassen neben dem Betder, die Nonne neben der Sünderin! 179
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Bahr (Anm. 141), S. 60. Bahr (Anm. 141), S. 73f. Zitat im Ganzen: »Wir alle sind Schauspieler, wir verleugnen und verwandeln uns so, daß wir oft selber vor uns erschrecken, und immer heftiger empfinden wir, daß alles Leben Verwandlung ist und daß wir nichts sein, aber alles werden können. Was uns daran erinnert, uns darin bestärkt, daß auch unser stolzes Ich nur die Illusion einer Rrregung ist, die mit dieser gleich wieder verlischt, das hilft uns unserer neuen Wahrheit bewußt zu werden, die eben erst, langsam und still, in der Menschheit aufzudämmern beginnt. Bis uns nur erst einmal klar geworden sein wird, daß wir niemals zornig sind und niemals verliebt und niemals grausam, sondern immer nur, irgendwie berauscht, einen Zornigen, einen Verliebten, einen Grausamen spielen, von dem doch der ewige Mensch in uns gar nichts weiß, dann werden wir es erst wagen dürfen, nun auch als Künstler das 1 x.ben zu gestalten, das jetzt nur immer so über uns hinrauscht Wir lachen den Schauspieler aus, der sich nachher in der Kneipe immer noch als der König fühlt, den er gespielt hat, und sind ihm doch alle gleich, wenn wir >Charakter< haben. >Charakter< ist doch nur der Wahn, die Rolle fortzuspielen, die wir, in der Hypnose einer Leidenschaft, einen Moment einmal gewesen sind.« Bahr (Anm. 141), S. 72f. Die Übereinstimmung zu Simmcl geht bis in die einzelnen Bilder hinein; auch dieser hatte zum Kxempel der Königsrolle gegriffen. Bahr (Anm. 141), S. 72f.
In seinen sozialphilosophischen Dimensionen formuliert Bahrs Text eine klare Absage gegen die Glaubenswahrheit eines einheitlichen Subjekts und ihre gesellschaftlichen Repräsentationen in starren sozialen Identitäten. Daneben aber vertritt et auch ästhetisch eine innovative Position. Die proklamierte Metamorphose des Ich in den Schein hinein, wendet sich auch von der >CharakterNeue Dramatik« seiner Zeit — es fällt der Name Hofmannsthals - von den bisherigen Konzepten der dramatischen Figur, die er als die »starren Puppen des Theaters«180 verachtet: Was soll mir [...] das Drama, das immer noch >das Beieinandersein von tausend LebenCharakter< zwängt und, um wirken zu können, uns zumuten muß, uns dümmer zu stellen, als wir vertragen? Ich wenigstens kann nicht begreifen, wie derselbe Mensch, der fähig ist, Rodin oder Klimt mitzufühlen, welchen das einzelne, Mensch, Weib, Fisch, Schlange oder Stein, immer durch Metamorphose gleich ins All zerrinnt, wie ein solcher Mensch, der dies hohe Wunder unserer Ewigkeit einmal bei sich gespürt hat, noch mit den starren Puppen des Theaters spielen mag. 1 8 1
Die alte Dramatik und Theaterkunst, die auf dem Prinzip der Figurenidentität aufbaut, wird hier als plumpes Puppen-Spiel abgetan. Bahrs Entwurf setzt, ebenso wie fünf Jahre später Simmeis Philosophie des Schauspielers, dieser Marionetten-Ästhetik die Dynamik der ewigen Metamorphose entgegen. Zum Sinnbild seines ausdrücklich am Wiener Jugendstil orientierten Kunst-Ideals erhebt er jenes »ungeheure Rätsel der menschlichen Verwandlung«,182 dessen Offenbarung >der Künsder< seines Dialogs — durch den Auftritt eines befreundeten Mimen zutiefst beeindruckt — analog zum religiösen Erweckungserlebnis schildert: Ich saß da, der Vorhang ging auf und der Freund erschien, ich erkannte ihn gleich, an der Stimme, am Gang, an seiner ganzen Art, aber indem jetzt das Spiel begann und ich in der Leidenschaft, die er darzustellen hatte, Töne von ihm vernahm, die ich ihm niemals zugetraut hätte, Töne, die ich als wahr empfand, als die wahren Töne dieses Menschen da oben, aber doch eines ganz anderen Menschen als der sonst abends bei mir im Atelier saß, dies traf mich so, daß ich in einer ganz ratlosen Verwirrung, bestürzt, fast entsetzt, am liebsten fortgelaufen wäre: denn es war zu fürchten, daß hier ein Mensch, den ich zu kennen glaubte, plötzlich verschwunden und unter meinen Augen ein fremder, ein neuer, wie aus einer anderen Welt, geworden war. Alle Schauer, die wir als Kinder fühlen, wenn im Märchen plötzlich der Prinz in einen Frosch verzaubert wird, hatte ich da so stark, daß ich das wohl zu den paar ganz großen Erschütterungen meines Lebens zählen muß.18·1
Einen dem impressionistischen Kunstideal der permanenten Verwandlung auch mit den Mitteln der Dramatik entgegenkommenden Realitätsentwurf hatte der Wiener Autor Arthur Schnitzler fünf Jahre zuvor in seinem Paracelsus
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Bahr (Anm. 141), S. 60f. Ebd. Bahr (Anm. 141), S. 65. Bahr (Anm. 141), S. 64f. 227
(1898) skizziert, wo die Titelfigur eine entsprechend moderne - nicht erkennbar metaphysisch fundierte - Variante des Welttheatergleichnisses vorstellt. Die von einem gebannten Beobachter seiner hypnotischen Kunststücke an den Magnetiseur Paracelsus gerichtete Frage: War's Krnst, War's Spiel? 1 8 4
beantwortet der gelehrte Herr mit den Worten: Iis war ein Spiel! Was sollt' es anders sein? Was ist nicht Spiel, was wir auf firden treiben und schien es noch so groß und tief zu sein! Iis fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge, Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von andern, nichts von uns; wir spielen immer, wer es weiß, ist klug. 185
Durch die >WelttheaterTraum und Wachen< sowie >Wahrheit und Lüge< signalisierten für die Zeitgenossen unmißverständlich den philosophischen Hintergrund, vor dem diese Passage — ebenso wie der Dialog vom Tragischen — zu lesen ist: Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne heißt ein gerade von Literaten der Jahrhundertwende vielgelesener Text Nietzsches, in dem die Kategorie der Objektivität einer fundamentalen Sprachkritik zum Opfer fällt und auch das Ineinander von Traum und Wachen ist ein Topos, der das Wirklichkeitsverständnis dieses Philosophen ganz grundlegend prägt.186 Der von Nietzsche nachhaltig betonte Zweifel an der Kategorie der Persönlichkeit bildet ein Grundthema Schnitzlers. In der vielfachen Thematisierung des Rollenspiels — sei es explizit wie im obigen Falle, sei es in >Spiel im Spielmoderne< Gestaltung, sind die veränderten Bedingungen, unter denen die fiktionalisierten Rollenspiele stattfinden. Letzteren wird nämlich im Rahmen der antimeta-
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Ein glänzendes Beispiel für die entsprechende Funktionalisierung des Schauspielmotivs enthält die Groteske Der grüne Kakadu (1898).189 Schauplatz des Stückes, in dem die Kategorien von Schein und Wirklichkeit, Spiel und Ernst, Komik und Tragik für die auftretenden Personen ebenso wie für die Zuschauer unlösbar verwirrt sind, ist die Spelunke des Wirtes Prospere, eines ehemaligen Theaterdirektors. Hier findet am 14. Juli 1789, also am Vorabend der französischen Revolution, ein groteskes Spektakel statt: Wie jeden Abend kommt eine Gruppe von Adeligen mit einer Truppe von Schauspielern zusammen, die vor ihnen als Ganoven, Mörder, Zuhälter und Dirnen agieren, ihre Zuschauer in eine künstliche Unterwelt versetzen und dabei angestammte Statusunterschiede weitgehend ignorieren. Die Financiers des Spektakels — der Herzog von Cadignan, der Vicomte von Nogeant, der Chevalier de la Tremouille, Marquise und Marquis von Lansac — wohnen mit wollüstigem Schauer der Vorführung dieser ^verkehrten Welt< bei. In ihren Augen behält die vorgeführte Anarchie eine letztlich affirmative, weil als Ausnahmezustand die bestehenden Verhältnisse bestätigende Färbung. Die soziale Rangordnung wird durch ihre zeitweilige Aufhebung für das adelige Publikum nicht in Frage gestellt. Doch wird diese Polarität von Schein und Sein, die das >Spiel im Spiel· auf einer vordergründigen Ebene errichtet, vom Text zugleich hintertrieben: Findet doch die >gespielte< Anarchie vor dem historischen Hintergrund des Sturms auf die Bastille statt. In diesem Sinne führt die UnUnterscheidbarkeit von Spiel und Ernst, die die Atmosphäre in der Kaschemme bestimmt, letztlich zur >realen< Katastrophe. Der Star der Truppe, Henri, berichtet in seiner Rolle als Ganove, er habe soeben den Liebhaber seiner Frau Leocadie, den Herzog von Cadignan, umgebracht. Prospere, der vom realen Verhältnis zwischen Leocadie und dem Herzog weiß, hält sein Spiel für Ernst, und rät dem vermeintlichen Mörder zu fliehen. Erst dadurch erfährt dieser, daß seine Frau ihn tatsächlich betrügt. Als in diesem Moment der Nebenbuhler das Lokal betritt, ersticht er ihn. Die Differenz von Rolle und Person des Schauspielers wird hier mehrfach und verwirrend aufgehoben. Spiegelt doch Henris Spiel die unerkannte Wirklichkeit seiner Ehe wieder. Und halten doch die Adeligen bis zum Augenblick der Bluttat dessen wirkliche Eifersucht für ein gekonntes Spiel. Insofern läßt sich die nachdenkliche Bemerkung:
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physischen Theoriebildung um die Jahrhundertwende gewissermaßen der erkenntnistheoretische Boden entzogen. Damit der Schein als Schein, die Rolle als Rolle durchschaut werden kann, bedarf es einer haltbaren Vorstellung von dem, was Nicht-Schein, d.h. Wirklichkeit oder >wahres Ich< zu sein hat.« Dagmar Ixwenz: Die Wiener Moderne. Stuttgart 1995, S. 137. Auch theatergeschichtlich kommt der dramaturgischen Funktionalisierung des Rollenspiels in diesem Stück eine zukunftsweisende Rolle zu. Verweist sie doch bereits »auf das epische Theater, das aus dem spielerischen Abstand zwischen Rolle und Person heraus die Entfremdung verfremdend aufzeigt, und auf das Theater des Grotesken, in dem die illusionsbrechende Deformation den gesellschaftlichen Zustand enthüllt.« Bayerdörfer (Anm. 187), S. 564.
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Sein ... spielen ... kennen Sie den Unterschied so genau, Chevalier?1 9 0
mit der Dichter Rollin schon zu einem frühen Zeitpunkt des Geschehens auf die Frage: Sagen Sie mir, Herr Rollin, spielt die Marquise oder ist sie wirklich so - ich kenne mich absolut nicht aus? 191
antwortet, durchaus auch als Motto des gesamten Treibens deuten. Die Grenzen zwischen Rolle und Persönlichkeit sind für Rezipienten und Figuren dieses Stückes längst nicht mehr eindeutig zu bestimmen. Das Vermischen von Rolle und Person bleibt weit über diese Groteske hinaus Prinzip der Figurengestaltung Schnitzlers. Nach demselben Muster hat der Schriftsteller viele (meist weibliche) Theaterfiguren konzipiert, die seine frühen Dramen, Romane und Erzählungen bevölkern. Mit den Heldinnen der Erzählung Komödiantinnen (1893), der verruchten Schauspielerin im Skandalstück Reigen (1900) und den >Mädchen vom Theaterkernlosen Menschern, ungeachtet ihrer mngeheuren Einsamkeit entgegenbringt. Diese stellen — vom frühen Einakter-Zyklus Anatol angefangen — die eigentlichen Heldinnen und Helden seiner Stücke dar und geben sich häufig in Gestalt von Künsdem oder Schauspielerinnen zu erkennen. Wie eng in den entsprechenden Figuren Kunstberuf und Persönlichkeit verschmolzen sind, verdeutlicht Schnitzlers Helene in der Selbstbeschreibung, die diese >Komödiantin< im Rahmen der gleichnamigen Erzählung abgibt: Sie müssen mich verstehen, wenn Sie ein Künstler sind. Ich bin nun einmal nicht wie andere. Sie ahnen nicht, wie es mich schaudert, so einsam durch eine ganz fremde Welt zu gehen. Was hab' ich schon alles gesehen, was hat man mir schon erzählt! Daß alle diese Freuden und Schmerzen existieren [...] muß ich wohl glauben. [...] Mir ist das alles, alles fremd. Alle Fähigkeit des Empfindens ist in der Leidenschaft für meine Kunst abgeschlossen. Ich muß spielen, Komödie spielen, immer, überall. Ich habe stets dieses Bedürfnis, besonders dort, wo andere ein großes Glück oder ein tiefes Weh empfänden. Ich suche überall Gelegenheit zu einer Rolle. 195
In seiner Faszination für das Flüchtige, für die >flottierenden Elemente der Seele< erweist sich Schnitzler als ein typischer Dichter des Impressionismus.196 Peter Szondi verortet die entsprechenden Strömungen in Malerei, Musik und Dichtung der Jahrhundertwende im Spannungsfeld zwischen Lebensphilosophie und Ästhetizismus: Im Impressionismus als Kunstrichtung wird eine Antinomie ausgetragen, die mit der Asthetisierung des I-ebensbegriffs gesetzt ist. Daß es diese Antinomie, diesen inneren Widerspruch der impressionistischen Kunst gibt, zeigt schon die Tatsache,
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Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen, zitiert nach: Horst Thome: Kernlosigkeit und Pose. Zur Rekonstruktion von Schnitzlers Psychologie. In: Klaus Bohnen: Fin de siecle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext. München 1984, S. 62-87, hier S. 63. Arthur Schnitzler: Komödiantinnen. Helene - Fritzi (1893). In: Ders.: Komödiantinnen. Erzählungen (1893-1898). Zugleich: Ders.: Das Erzählerische Werk. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1990, S. 58. Georg Simmel hat in einer Zeitdiagnose im Rahmen seiner >Philosophie des Geldes< den >kernlosen Menschern z u d e m Charaktertypus des impressionistischen Zeitalters erhoben: »[...) ich glaube, daß diese heimliche Unruhe, dies rasdose Drängen unter der Schwelle des Bewußtseins, das den jetzigen Menschen vom Sozialismus zu Nietzsche, von Böcklin zum Impressionismus, von Hegel zu Schopenhauer und wieder zurück jagt - nicht nur der äußeren Hast und Aufgeregtheit des modernen I-cbens entstammt, sondern daß diese umgekehrt vielfach der Ausdruck, die Erscheinung, die Entladung jenes inneren Zustandes ist. Der Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele treibt dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die wirre Halt- und Rastlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als Reisemanie, bald als die wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehungen offenbart.« Simmel (Anm. 19), GA 6, S. 675. 231
daß der Lebensbegriff bei den Stürmern und Drängern, bei Herder, bei Hölderlin zum Gegenbegriff die Kunst hatte, die Welt des Objektivierten, Festgelegten, Gesetzmäßigen. Nun soll dieser Lebensbegriff, der sich der Kunst zu entziehen schcint, selber die Kunst hervorbringen. 19 '
Eben diese Spannung bringt in den impressionistischen Dramen Schnitzlers — ebenso wie in den späteren Reflexionen Simmeis — die Figur der Schauspielerin/des Schauspielers auf den Punkt: Ihrer Verwandlungsfähigkeit in der Rolle liegt die höchste Kunstfertigkeit ebenso zugrunde wie die unendliche Wandelbarkeit und Unhaltbarkeit des Lebens. Der >innere Gegensatzlyrischen< Dramen des Hugo von Hofmannsthal häufig finden. In Der Tor und der Tod (1893) etwa wird der alternde Claudio von seinem aus dem Geisterreich herbeschworenen Jugendfreund als ein »Ewigspielender«198 charakterisiert, »der schnellbefreundet, fertig schnell mit jedem«.199 Zu Beginn seines letzten Monologs nimmt Claudio diese Worte auf und vergleicht sich in seinem bindungslosen Narzißmus selbst mit einem »Komödianten«,200 sein Dasein in der Hingabe an eine leblose Kunstwelt mit der Existenz auf einer »Bühne«.201 Die Schauspielmetapher wird hier zum Sinnbild für das mngelebte Leben< dieses Ästheten. Vor den kunstvollen Schnitzereien einer gotischen Truhe stehend, spricht er: Ihr Kröten, Kngel, Greife, Faunen,/ Phantastische Vögel, goldnes Fruchtgeschlinge,/ Berauschende und ängstigende Dinge, / Ihr wart doch all einmal gefühlt / gezeugt von zuckenden, lebend'gcn Launen, / Vom großen Meer emporgespült, / Und wie den Fisch das Netz hat euch die Form gefangen! / Umsonst bin ich, umsonst euch nachgegangen, / von eurem Reize allzusehr gebunden: / Und wie ich eurer eigensinngen Seelen / Jedwede, wie die Masken, durchempfunden, / War mir verschleiert Leben, Herz und Welt, / Ihr hieltet mich, ein Flatterschwarm, umstellt, / Abweidend, unerbittliche Harpyen, / An frischen Quellen jede frische Blühen ... / Ich hab mich so an Künstliches verloren, / Daß ich die Sonne sah aus toten Augen / Und nicht mehr hörte als durch tote Ohren. 2 0 2
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Szondi (Anm. 18), S. 177. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Rinzelbänden, hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Gedichte und lyrische Dramen. Frankfurt a. M. 1979, S. 294. Kbd., S. 295. Kbd., S. 296. Ebd. I Iofmannsthal (Anm. 198), S. 284.
Schon Szondi verweist auf die inhaltliche Entsprechung, die diese Zeilen mit der späteren Kulturkritik Georg Simmeis verbindet. Er schreibt in seiner Untersuchung des lyrischen Dramas: wie beiläufig berührt Hofmannsthal ein Thema, das später in der Lebensphilosophie, zumal bei Simmel, eine große Rolle spielen wird: der Gegensatz, in den die Form als das Fixierte, Geronnene zum Ewig-Fließenden des Lebens tritt - so vergleicht Claudio die geschnitzten Formen einem Netz, welches das vom großen Meer des Lebens Emporgespülte fangt und tötet. Von der Kunstwelt umstellt, die er für das Leben nehmen wollte, blieb Claudio abgeschnitten vom wirklichen Ijeben2M
Die kritische Tendenz, mit der der Yin de iw/«-Ästhet und Schauspieler seiner selbst in Oer Tor und der Tod, wie auch in anderen frühen Stücken des Dichters,204 dargestellt ist, stellt einen Rückgriff auf die bei Schnitzler und Bahr bereits aufgegebene Differenz zwischen >echtem< und >unechtem< Charakter dar. Doch während die Schauspielmetapher in diesem Zusammenhang die Unvereinbarkeit eines ästhetizistischen Ideals mit den Geboten des lebendigen Daseins versinnbildlicht, geht die Analogie von Schauspiel und Leben innerhalb des zunächst als Puppenspiel· bezeichneten Einakters Das Kleine Welttheater (1897) über diese kritische Fesdegung bereits weit hinaus. Von Hofmannsthal als »allegorisches Gegenspiel zum >Tor und TodDichterJunger HerrJunges MädchenArzt< gesprochen werden, die Vielfalt, den inneren Zusammenhang, ebenso aber auch die Unhaltbarkeit des Lebens. Die stetige Todesnähe erschließt sich besonders in der zuletzt auftretenden Figur, einem jungen Wahnsinnigen. In der Aufgabe seiner individuellen Existenz - »Von mir selber fort mich schwingend« 206 — will er im Selbstmord in >den Kern des Daseins< als eines überindividuellen, überbegrifflichen Lebens vordringen.207 Diese radikale Abwendung von der irdischen Existenz macht die faustische Figur des >Wahn-
Szondi (Anm. 18), S. 265f. I'ortunio, dem jungen weitabgewandten Witwer in Der weiße Fächer (1897) ist sein J X'ben »nichts als ein Schattenspiel« Hofmannsthal (Anm. 198), S. 455. Und in Der Kaiser und die Hexe (1897) spricht der Protagonist zu sich selbst die Worte: »Was du sprichst, kann nur betören, / Was du siehst, ist Schattenspiel, / Magst dich stellen, wie du willst, / Findest an der Welt nicht viel.« Ebd., S. 486. 205 nUg0 v o n Hofmannsthal: Brief an Felix Saiten, 8.7.1893, zitiert nach: Ders.: Briefe (1890-1901). Berlin 1935, S. 84. 2 0 6 Hofmannsthal (Anm. 198), S. 386. 207 Vgl.: »Den ganzen Reigen anzuführen, / Den wirklichen, begreift ihr dieses Amt? Mit trunknen Gliedern, ich im Wirbel mitten, / Reiß alles hinter mir, doch alles bleibt / Und alles schwebt, so wie es muß und darf!« (Ebd., S. 386f.) Auf die >dionysische Philosophie< Nietzsches, als deren extremer Vertreter diese Figur gelten mag, wird ein paar Zeilen später wörtlich angespielt. Nachdem sein Todessturz vereitelt wurde, schließt der >Wahnsinnige< mit den Worten: »Bacchus, Bacchus, auch dich fing einer ein / Und band dich fest, doch nicht für lang.« Hofmannsthal (Anm. 198), S. 387. 203
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sinnigen< zum Gegenspieler des reichen Kunstsammlers Claudio, die Bühnenmetaphorik des Kleinen Welttheater hat sich von der Asthetizismuskritik gelöst. Im Reigen der Figuren dieses Spiels manifestiert sich der ständige Wandel des Lebens als solcher.2(m Das Kleine Welttheater versinnbildlicht einen dekadenten Lebensbegriff, dessen Verwirklichung — wie Sendlinger gezeigt hat - als »Synthese mit dem überindividuellen Leben [...] unweigerlich im Untergang des Individuums, im Tod endet«.209 In den erwähnten Texten Bahrs, Hofmannsthals und Schnitzlers zeichnet sich die Karriere des Schauspielers zum Emblem von Asthetizismus und Lebensphilosophie ab, von der Simmeis Begriff des Rollenspiels sichtlich beeinflußt ist. Als Autoren und Dramaturgen standen diese Literaten der Bühne ihrer Zeit sehr nahe. Die Rollen- und Schauspielmetaphorik in ihren Texten ist erst von der Begeisterung für das reale Theater her zu verstehen, die sie hegten. So läßt sich etwa die Positionierung des Schauspielers zwischen Selbstverlust und Lebenssteigerung, die die literarische Metapher bei Hofmannsthal bestimmt hatte, in ihren Grundzügen innerhalb des lyrischen Nachrufs wiederfinden, den dieser Autor 1897 anläßlich des Todes des BurgtheaterSchauspielers Friedrich Mitterwurzer verfaßt hat: Wer aber war er und wer war er nicht? / Lr kroch von einer Larve in die andre / Sprang aus des Vaters in des Sohnes Leib / Und tauschte wie Gewänder die Gestalten. / Mit Schwertern, die er kreisen ließ so schnell, / Daß niemand ihre Klinge funkeln sah,/ 1 lieb er sich selbst in Stücke: Jago war / Vielleicht das eine, und die andre Hälfte/ Gab einen süßen Narren oder Träumer. Mit Augen wie die Kinder saßen wir / Und sahn an ihm hinauf wie an den Hängen / Von einem großen Berg: in seinem Mund / War eine Bucht, drin brandete das Meer. / Denn in ihm war etwas, das viele Türen / Aufschloß und viele Räume überflog: Gewalt des Lebens, diese war in ihm |...].210 Erst vor dem Hintergrund der theatralen Neubestimmung, der der Schauspielbegriff um die Jahrhundertwende unterworfen ist, ist auch die Entstehung der Simmelschen Philosophie des Schauspielers adäquat zu betrachten. 208
209 210
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In seiner Versinnbildlichung dieses unaufhaltsam dem Tode entgegenströmenden Lebensflusses unterscheidet sich das Kleine Welttheater auch eindeutig von der Statik des späteren Sal^burger Grossen Welttheaters (1921 nach Calderons El grau teatro del mundo). Das Theatergleichnis, das Hofmannsthal in diesem >Moralitätenspiel< wiederbelebt, hat seine 1 leimat im Barockdrama. Von Calderön ist »die das Ganze tragende Metapher entlehnt: daß die Welt ein Schaugerüst aufbaut, worauf die Menschen in ihren von Gott ihnen zugeteilten Rollen das Spiel des Ix-bens aufführen« Hugo von Hofmannsthal: Vorspruch zu >Das Sal^burger Große Welttheaten. In: Ders. (Anm. 198), S. 107. Mit Krnst R. Curtius läßt sich die Rückbesinnung auf das Weltthcatergleichnis hier verstehen als Llement eines allgemeinen Rückgriffs auf überlieferte Tradition als I leilkraft gegen eine »materialistisch und relativistisch zersetzte Welt.« (Krnst II. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 6. Auflage. München 1967, S. 153). Das Mysterienspiel bildet eine Antwort auf die Orientierungslosigkeit und die sozialen Wirren der deutschen und österreichischen Nachkriegszeit und ist daher einem zeitgeschichtlich völlig unterschiedlichen Kontext zuzuordnen als die in meiner Arbeit untersuchte Theatermetaphorik der Jahrhundertwende. Scndlinger (Anm. 3), S. 262. I-Iofmannsthal (Anm. 198), S. 71f.
4.5.
Rollentheorie und Theaterpraxis
Die Erwägungen Simmeis, der die schauspielerische Rollengestaltung so entschieden v o n ihrer Determination durch literarischen Text und Realität lossagt, sowie die allgemeine Aufwertung zum anthropologischen Symbol, die der Schauspieler in impressionistischen und ästhetizistischen Texten erfährt, finden ihre Parallelen in einem historischen Wandel, der Theorie und Praxis der Schauspielkunst u m die Jahrhundertwende ergreift. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten Theater-Handbücher den Bühnendarsteller in seiner künsderischen Leistung auf die Funktion eines Empfängers und ausführenden Instruments reduziert: Durch den Begriff und das Beurtheilungsvermögen gelangt der Darsteller zur Erkenntnis der Gesamtaufgabe, die der Dichter ihm gestellt hat und sie steht als gerundetes geistiges Bild vor seiner Seele |...].211 A u s dieser Position der Subordination unter die literarische Vorlage wird sich die Schauspielkunst — auch im Zuge allgemeiner Theatralisierungstendenzen — in den Jahren um 1 9 0 0 emanzipieren. 4.5.1.
Rollenarbeit im Naturalismus: Brahm
D e n ersten Schritt, wenngleich gewiß noch nicht den Vollzug dieser Entwicklung, stellt die Schauspiellehre des Bühnennaturalismus dar. 2 1 2 U m sie hat sich
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Allgemeines Theater 1 .exikon oder Enzyklopädie alles Wissenswerten für Bühnenkünsder... hrsg. v. R. Blum, K. Herlossohn (u.a.) Leizig 1839ff., zitiert nach Mehlin (Anm. 52), S. 317. Mchlin fahrt fort: »Erst später hat sich ein subjektives Element eingeschlichen, das jetzt den Wortinhalt (Auffassung einer Rolle, Anm. B.C.] vor allem auszeichnet. Der Darsteller pflegt nunmehr seine eigene Auffassung der Rolle gegenüber der des Regisseurs zu verteidigen, so daß sogar der Theaterrechder vom Schauspieler spricht, welcher die Rolle nicht in der vorgestellten Auffassung durchfuhrt. [Anmerkung: Dienstag/Elster: Handbuch des deutschen Theater-, Film-, Musik- und Artistenrechts. Berlin 1932, S. 408f.] Bei Oppenheimer/Gettke ist ein erster Ansatz dieser Subjektivierung zu verspüren, wenn dort steht: >Von der Auffassung einer Rolle hängt die Durchführung des Charakters, ja oft das Schicksal eines ganzen Stückes ab [...] Der Darsteller hüte sich, nach der Schablone einen Charakter darzustellen [...]!< |Anmerkung: Oppenheimer/Gettke: Deutsches Theater-Lexikon. Eine Enzyklopädie alles Wissenswerthen der Schauspielkunst und Bühnentechnik. I^ipzig 1889, S. 58]. Die mit diesem historischen Rahmen angedeutete Beziehung zwischen dem impressionistischen Schauspiclideal und der naturalistischen Schule wird nachvollziehbar, wenn man bedenkt, daß Autoren wie Simmel und Bahr vor ihrem späteren Richtungswechsel dem naturalistischen Theater ideologisch und ästhetisch nahestanden. Vgl. Hermann Bahr: Die Pariser Freie Bühne (1890), teilweise in: Balme (Anm. 90), S. 76-79. Vgl. Georg Simmel: Gerhard Hauptmanns >Weber< (1892/93). In: Ders.: Vom Wesen der Moderne. Essays zu Philosophie und Ästhetik, hrsg. v. Werner Jung. Hamburg 1990, S. 163-166. Darin hebt Simmel die Modernität dieses Stückes hervor, das er als künstlerisches Manifest der >sozialen Bewegung< lobt. Zu den strukturellen Parallelen, die den Impressionismus als mach innen gerichteten Naturalismus< mit der vorangegangenen Epoche verbinden vgl. Herbert Knorr: Ex235
in den neunziger Jahren vor allem Otto Brahm verdient gemacht. Im Vorstand des Theatervereins Freie Bühne und als Direktor des Deutschen Theaters etablierte er in Berlin einen bislang nicht dagewesenen psychologisch-realistischen Darstellungsstil, dessen Ziel vor allem in der milieugetreuen Dokumentation einer Figur bestand. Eine fast wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Rolle bildete die Basis seiner Rollenarbeit. Ihr lindziel war die Überwindung des >Theatralischennatürliche< Sprechen die >natürliche< Lautstärke und Intonation, der gebrochene Redefluß, der den Kindruck des Auswendiggelernten vermeidet, die Suggerierung einer Vierten Wand [d.h. die scheinbare Nicht-Beachtung des Publikums], die Krsetzung der großen Geste durch ein nuanciertes gestisches und mimisches Spiel, die konsequente Abkehr von der Figuren typisierung und die Kinbettung der Rolle in ein konkretes soziales Umfeld durch schichtspezifische Verhaltens- und Sprachformen waren äußere Kennzeichen des neuen Stils. 211
Die Intentionen der naturalistischen Menschendarstellung beschreibt aus Schauspieler-Sicht der Ibsen-Darsteller Emanuel Reicher: Wir wollen nicht mehr effektvolle Szenen spielen, sondern ganze Charaktere, mit dem ganzen Konglomerat von Ober-, Unter- und Nebeneigenschaften, die ihnen anhängen; wir wollen nichts anderes sein als Menschen, welche durch den einfachen Naturlaut der menschlichen Sprache aus ihrem Innern heraus die Empfindungen der darzustellenden Person, ganz unbekümmert darum, ob das Organ schön und klingend, ob die Gebärde graziös, ob dies oder das in dies oder jenes f a c h hineinpaßt, sondern ob es sich mit der Einfachheit der Natur verträgt und ob es dem Zuschauer das Bild eines ganzen Menschen zeigt. 2 ' 4
Neben dem hier zitierten Reicher wurden Künstleipersönlichkeiten wie Rosa Bertens, Else Lehmann oder Rudolph Rittner unter der Anleitung Brahms zu Pionieren einer neuen Generation von Bühnendarstellern. Ohne die in ihrem Erfolg begründete Aufwertung der subjektiv-kreativen Leistung des Schauspielers wäre Simmeis kunstphilosophische Beschäftigung mit dem Thema in der vorliegenden Form nicht denkbar. Nichtsdestotrotz bleibt auch im naturalistischen Theater die Leistung des Mimen letztlich sekundär gegenüber dem Primat des Dramentexts und der darin repräsentierten sozialen Wirklichkeit. Die hohe Aufmerksamkeit, die Reichers Erläuterungen gerade dem Sprachduktus des Schauspielkünsders zuwenden, ist verräterisch: Den Darsteller begreifen er und gleichgesinnte Theaterschaffende nach wie vor als »bloßen Vermitder«215 der Literatur.
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periment und Spiel — Subjektivitätsstrukturen im Hrzählen Arthur Schnitzlers. Frankfurt a. M., Bern, New York 1988. Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 47. Brief Immanuel Reichers an Hermann Bahr vom 3.10.1893, zitiert nach: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 47. »Noch der naturalistische Schauspielstil Brahms hatte in - wenn auch erheblich reformierter - Fortsetzung der bürgerlich-klassischen Tradition den Darsteller als bloßen Vermittler des Worttextes begriffen.« Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 588.
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Letztlich verhält sich also auch die naturalistische Schauspieltheorie — bei all ihren unbestrittenen Verdiensten um die Entwicklung dieser Kunst — inkompatibel zu den Vorstellungen Simmeis, der bekanntlich die Emanzipation dieser Kunstform von Literatur und Realität proklamiert hatte. Die praktische Voraussetzung für dessen schauspielästhetische >Uberwindung des Naturalismus^ 16 ist mit dem reformierten Konzept des Berliner Regisseurs Max Reinhardt gegeben, dessen Entwicklung und die enorme Resonanz, die dieses nicht nur in der ortsansässigen Presse fand, 217 Georg Simmel als kunstbegeisterter Bürger seiner Stadt gewiß aufmerksam verfolgt hat.
4.5.2. >Ein Theater, das dem Schauspieler gehörte Reinhardt Max Reinhardt, der als Schauspieler selbst die Schule Otto Brahms erfahren hatte, 218 wußte im Rahmen seiner späteren Regiearbeit dessen Technik zur Erzeugung >lebensechter< Darstellungen zu nutzen wie kein anderer. Mit der Gründung der Schauspielschule des Deutschen Theaters, dessen Leitung er 1905 als Nachfolger Otto Brahms übernommen hatte, hat er den Bemühungen der Naturalisten um die Ausbildung und Pflege dieser Kunst ein Denkmal gesetzt. 219 In seiner Eröffnungsrede positioniert er sein Institut ausdrücklich in dieser Tradition, betont jedoch zugleich die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung: Heute, da wir in das >Deutsche Theater< einziehen, mahnt uns die ruhmreiche Vergangenheit dieses Hauses, auch für die Zukunft zu sorgen, die von dem Schau-
216 j)j e entsprechende kunsthistorische Entwicklung hat sich auch innerhalb des Werkes Simmeis niedergeschlagen: Hatte noch ein früher Essay Hauptmanns naturalistisches Drama Die Weber als »wahrhaft modern« gelobt, weil darin »die Stellung, die die soziale Weltanschauung der Individualität gegenüber ihrem Milieu einräumt, ihre erste künstlerische Gestaltung errungen; der Kampf gegen den romantischen Individualismus [...] seinen ersten Sieg auf dem Gebiet der >reinen Former« gewonnen« habe (Georg Simmel: Gerhard Hauptmanns >Weber< (1892/93). In: Ders.: Vom Wesen der Moderne. Essays zu Philosophie und Ästhetik, hrsg. v. Werner Jung. Hamburg 1990, S. 165), so setzt sich seine spätere Ästhetik bekanntlich von der »naturalistischen Verbannung der Schauspielkunst in die Wirklichkeit« ausdrücklich ab. (Simmel [Anm. 104], S. 169.) 217 218 219
VgL die zahlreichen und ausführlichen Kritiken früher Reinhardt-Inszenierungen in: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192). Reinhardt war von 1894—1902 im Ensemble des Deutschen Theaters engagiert. Ein Ixhrcr dieses Instituts, der Schauspieler Eduard von Winterstein berichtet: »Einen großen Fortschritt bedeutete die Gründung der Schauspielschule des Deutschen Theaters. Hier wurde eigentlich zum erstenmal der ernsthafte Versuch gemacht, eine systematische, ungeschäftliche, auf langjährige Erfahrung gestützte Erziehung des Schauspielernachwuchses zu betreiben.« Eduard von Winterstein: Vom Unterrichten, zitiert nach: Knut Boeser und Renata Vatkovä: Max Reinhardt in Berlin. Berlin 1984, S. 156. 237
Spieler wieder eine höhere Kultur fordern wird. Dazu haben wir uns hier zusammengetan. 2 2 0 G i n g es i m naturalistischen T h e a t e r u m die realistische A b b i l d u n g d e r Wirklichkeit, s o f o l g e n R e i n h a r d t s W i r k u n g s a b s i c h t e n bei a l l e m g e b o t e n e n R e s p e k t g e g e n ü b e r d e n t e c h n i s c h e n E r r u n g e n s c h a f t e n d e r B r a h m s c h e n >Schule< g e g e n läufigen impressionistischen
u n d ästhetizistischen Tendenzen.
Im
Rahmen
eines G e s p r ä c h s , d a s i m S p ä t s o m m e r d e s J a h r e s 1 9 0 2 s t a t t g e f u n d e n h a b e n soll, u n d d a s d e r D r a m a t u r g A r h u r K a h a n e in s e i n e m Tagebuch überliefert, g e b r a u c h t d e r s p ä t e r e R e g i s s e u r d e n in d i e s e m
eines
Dramaturgen
Zusammenhang
signalhaften B e g r i f f der »Seelenkunst«,221der wohl unmittelbar auf H e r m a n n B a h r s b e r ü h m t e F o r d e r u n g n a c h einer k ü n s d e r i s c h e n W i e d e r g a b e d e r
etats
d'ame a n s p i e l t . 2 2 2 I m R a h m e n v o n Reinhardts
frühen Inszenierungskonzepten wurde
die
wirklichkeitsgetreue D a r s t e l l u n g p s y c h i s c h e r V o r g ä n g e v o n d e r B i n d u n g a n ein bestimmtes Milieu gelöst u n d z u m ästhetischen Selbstzweck e r h o b e n
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Seine
G r u n d ü b e r z e u g u n g lautete: Iis gibt nur einen Zweck des Theaters: das Theater. 2 2 4
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Max Reinhardt: Rede zur Eröffnung der Schauspielschule des Deutschen Theaters Berlin (1905). In: Hugo Fetting: Max Reinhardt. Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Gcspräche, Auszüge aus Regicbüchern. Berlin 1989, S. 411-Φ12, hierS. 411. » D a s heißt nicht, daß ich auf die großen IErrungenschaften der naturalistischen Schauspielkunst, auf die nie zuvor erreichte Wahrheit und Echtheit verzichten will! D a s könnte ich nicht, auch wenn ich es wollte. Ich bin durch diese Schule durchgegangen und bin dankbar, daß ich es durfte. Die strenge Erziehung zu unerbittlicher Wahrheit ist aus der Entwicklung nicht mehr wegzudenken, und es gibt keine, die an ihr vorübergehen kann. Aber ich möchte ihre Entwicklung weiterführen, sie auf anderes anwenden als auf Zustands- und Umweltschilderung, über Armeleutegeruch und die Probleme der Gesellschaftskritik hinaus, möchte denselben Grad von Wahrheit und Echtheit an das rein Menschliche wenden, in einer tiefen und verfeinerten Seelenkunst, und möchte das 1 .eben auch von einer anderen Seite zeigen als der pessimistischen Verneinung, aber ebenso wahr und echt auch im I leitern und erfüllt von Farbe und Eicht.« Arthur Kahane: Tagebuch eines Dramaturgen, zitiert nach: Fetting (Anm. 229), S. 73. Reinhardt kannte Hermann Bahr und schätzte ihn außerordentlich. Im Mai 1903 bot er ihm die Zusammenarbeit an. Die beiden standen seitdem in engem künstlerischen Austausch. Vgl. Hermann Bahr und Max Reinhardt. In: Museion. Veröffentlichungen der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Firste Reihe. 1. Bd., S. 147-198. S o »hatte die Darstellung psychischer Vorgänge bei Brahm und Reinhardt ganz unterschiedliche Funktionen. D e m Naturalisten ging es um eine weitestmöglich objektive Abbildung von Realitätsausschnitten; Gefühle wurden als eine Facette menschlichen Seins und als handlungsmotivierendes Element möglichst wirklichkeitsgetreu auf der Bühne vermittelt. Für Reinhardt hingegen waren die Darstellung eines Gefühls und das I Iervorrufen eines entsprechenden Gefühlserlebnis beim Zuschauer zumeist theatraler Zweck an sich. Sowohl die dramatische Handlung als auch die Frage nach der Übereinstimmung von dargestellter Welt und realer Welt traten zurück.« J a r o n / M ö h r m a n n / M ü l l e r (Anm. 192), S. 47. Kahane (Anm. 221), S. 74.
Die Kunst des Schauspielers löst er damit von ihrer mimetischen Verpflichtung auf die soziale Wirklichkeit. Und: Er löst sie von ihrer Abhängigkeit vom dramatischen Text. Als 1903 Hugo von Hofmannsthal die stumme Schlußszene seiner FJektra, ihren rasenden, tödlichen Tanz, konzipierte, tat er es im Hinblick und im Vertrauen auf die geplante Umsetzung des Stückes durch Reinhardt.225 Schon in früheren Arbeiten nämlich hatte dieser Regisseur seine Leidenschaft und sein Geschick für nonverbale Theaterformen und -elemente bewiesen. In den mit Friedrich Kayßler und Martin Zickel seit 1901 regelmäßig unter dem Namen Schall und Rauch organisierten Kabarett-Veranstaltungen standen neben Liedern, Gedichtrezitationen und Dialogen pantomimische Szenen in großer Anzahl auf dem Programm.226 Sein Interesse für außerliterarische Szenen und Stücke hat Reinhardt auch nach dem Durchbruch als Theaterregisseur niemals aufgegeben. Zahlreiche Realisierungen von Pantomimen, Tanzstücken und Stummfilmen haben dazu beigetragen, daß sich sein Ruhm weit über den deutschsprachigen Raum hinaus verbreiten konnte.227 Doch auch im Rahmen der herkömmlichen Drameninszenierung behandelte seine Schauspielerführung die nonverbale Zeichenebene stets gleichberechtigt mit der Sprache. In den Vordergrund rückten seine Inszenierungen vor allem den körperlichen Einsatz der Mitwirkenden, der sich unter seiner Führung teils bis zur Akrobatik steigerte. Über Reinhardts Kaufmann von Venedig (Deutsches Theater, 9.11.1905) urteilt der Kritiker Heinrich Hart: Ihre höchste Eigenart [...] erhielt die Aufführung durch die Darstellung. Sie stand durchaus im Einklang mit der Auffassung, daß es sich um ein Spiel, nicht um bitteren Ernst handelt. Eine bewegtere Darstellung ist mir noch nicht vorgekommen. Das war ein Rennen, Tollen, Zappeln, Stürmen vom Anfang bis zum Ende. Eine Beweglichkeit, bei der alle mittaten, selbst Shylock, Porzia und der Doge. Großmann als Lanzelot machte geradezu den Akrobaten. 2 2 8
Die Verselbständigung der Schauspielkunst weit über die bloße Wiedergabe des Textes hinaus, die sich in Reinhardts Arbeiten schon früh abzuzeichnen begann, hat ihm neben lobender auch die scharf tadelnde Kritik derjenigen eingebracht, die glaubten, das bürgerliche Literaturtheater gegen diese Anfechtungen verteidigen zu müssen: Die Goetheschen Verse waren den mitwirkenden Herren und Damen überlassen; sie taten mit ihnen, was sie wollten; sie paßten ihr Spiel nicht den Versen an,
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Vgl. Ixonard M. Fiedler: Max Reinhardt. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1975, S. 40. Vgl. Peter Sprengel (Hrsg.): Schall und Rauch: Erlaubtes und Verbotenes. Spieltexte des ersten Max-Reinhardt-Kabaretts (Berlin 1901/02). Berlin 1991. Die Sammlung enthält eine ganze Reihe pantomimischer Szenen. Vgl. Fiedler (Anm. 225), S. 76f. Der Tag, 11.11.1905, zitiert nach: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 594. 239
sondern die Verse hatten sich ihrem Spiel anzupassen. Manche von den herrlichsten Stellen der Dichtung wurden auf diese Weise zu Grunde gerichtet. 229
So polemisiert Paul Goldmann gegen die Inszenierung von Faust I (25.3.1909, Deutsches Theater). Zwar war es ganz gewiß nicht - wie v o m Kritiker vermutet - die Intention des Regisseurs, der Dichtung »den Geist heraus zu treiben« 2 3 0 — ein Großteil seines inszenatorischen Gesamtwerks ist schließlich der Klassikerpflege gewidmet — doch hat Reinhardt selbst keinen Zweifel daran gelassen, daß es ihm tatsächlich um die Aufhebung der Unterordnung der Schauspielkunst unter die Vorherrschaft des Textes zu tun war. Kahane hat die Vorstellungen, die der Regisseur diesbezüglich verfolgte, folgendermaßen protokolliert: [...] ich glaube an ein Theater, das dem Schauspieler gehört. 10s sollen nicht mehr, wie in den letzten Jahrzehnten, die rein literarischen Gesichtspunkte die allein herrschenden sein. Iis war so, weil Literaten das Theater beherrschten; ich bin Schauspieler, empfinde mit dem Schauspieler und für mich ist der Schauspieler der natürliche Mittelpunkt des Theaters. 2 ·' 1
Im Theater Max Reinhardts fand Georg Simmel, der als Mitglied des GeorgeKreises vermutlich schon 1902 die geschlossene Vorstellung von Oscar Wildes Salome in der Regie Reinhardts alias Oberländers gesehen hatte, 232 die anschauliche Voraussetzung für seine später niedergeschriebene Uberzeugung, das Spiel eines Bühnendarstellers sei »als Kunstwerk eine ganz und gar selbstständige Schöpfung«. 2 3 3 D o c h noch weit über diese grundlegende Vorwegnahme hinaus bildet das >Schauspieler-Theater< Reinhardts offensichtlich die Basis für Simmeis kunsttheoretische Überlegungen. Wurde doch hier jenes geheimnisvolle und irritierende Ineinander von Persönlichkeit und Rollenfigur kultiviert, das für Simmeis Begriff des Schauspielers wie für den impressionistischen Kult des Mimischen so bezeichnend ist. Reinhardts Inszenierungen vermittelten in vielfacher Weise den Eindruck der vexierbildhaften Überblendung zwischen der Persönlichkeit eines Schauspielers — die von ihm und seiner Zeit nicht länger als endgültig fixierte Größe, sondern im Sinne einer Entwicklungsmöglichkeit verstanden wird - und seiner Rollenfigur. Hatte der Naturalismus sowohl aus Sicht der Ausführenden als
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Neue Freie Presse, 7.4.1909, zitiert nach: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 658. Kbd. Kahane (Anm. 221), S. 74. »Das Stück war von der Zensur verboten worden. Reinhardt war entschlossen, diesen Widerstand zu überwinden. Kr führte Regie, auch wenn der Theaterzettel Hans Oberländer als Regisseur nennt. Die Aufführung fand an einem Nachmittag vor geladenem Publikum statt: Dichter, Musiker, Maler, die geistige Hlite Berlins. Da waren Stefan George mit seinem Kreis, Richard Strauss, Huge η d'Albert, prominente Literaten, Schauspieler und die Vertreter der Presse. Das Verbot der Behörden wurde ad absurdum geführt - sie sahen sich gezwungen, zu widerrufen.« Gusti Adler: »...aber vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen. Erinnerungen an Max Reinhardt. München Wien 1980, S. 48. Simmel (Anm. 10), S. 432.
auch der Rezipierenden mit der klaren Vorgabe einer Identifikation von Darsteller und Bühnenfigur gearbeitet und damit die hier behandelte Differenz weitgehend ausgeblendet,234 so greift Reinhardts Regie im Gegenteil zu raffinierten Mitteln, um den prinzipiellen Abstand zwischen Darsteller und Spiel zu verdeutlichen. Die Verwandlung des Schauspielers in die Rollenfigur soll sein Theater demonstrativ darstellen: Das Theater schuldet dem Schauspieler sein Recht, sich von allen Seiten zu zeigen, nach vielen Richtungen zu betätigen, seine Freude am Spiel, an der Verwandlung. Ich kenne die spielerischen, die schöpferischen Kräfte am Schauspieler, und ich hätte manchmal nicht übel Lust, etwas von der alten commedia dell' arte in unsere allzu disziplinierte Zeit zu retten, nur um dem Schauspieler wieder von Zeit zu Zeit die Gelegenheit zu geben, zu improvisieren und über die Stränge zu schlagen. 235 Die Kunst der Verwandlung setzt die grundlegende Differenz von Schauspieler und Rolle voraus. Diese Tatsache erhebt Reinhardts Arbeit im Rahmen von selbstreflexiven Strukturen mehrfach zum Thema der Darstellung. Auf die schöpferischen Verwandlungskräfte der Beteiligten wußte der Regisseur vor allem durch ungewöhnliche Mittel der Rollenbesetzung hinzuweisen. So ließ Reinhardt in seinem berühmten Sommernachtstraum die Schauspielerin Tilla Durieux den Elfenkönig Oberon spielen. Indem das Geschlecht der Darstellerin mit der Rolle ostentativ kontrastierte, kam um so mehr die schauspielerische Verwandlungsfähigkeit dieser Künsderin zur Geltung, die ihr in den folgenden Jahren den Ruf nahezu gren2enloser Möglichkeiten einbrachte.236 In nicht weniger frappierender Weise als es die Travestie der Durieux getan hatte, brach der von Reinhardt früh geförderte albanisch-stämmige Schauspieler Alexander Moissi mit seiner südländisch-femininen Physis, mehr aber
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Vgl.: »[...] die naturalistischen Darsteller verwarfen die herkömmliche Theatralik >als Unterdrückung des Persönlichen, denn sie zwingt den Schauspieler, sich von seiner Gestalt zu distanzieren und durch technische Mittel die entstandene innere I.eere zu füllen; das Innenleben der Bühnenfigur sollte durch eine hochgradige Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle dem Zuschauer vermittelt werden.« Vgl. Jaron/ Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 47. Kahane (Anm. 221), S. 74. »Sie spielte Elektra und Klytämnestra, Salome und Herodias, und im >Sommernachtstraum< so gut die Amazonenkönigin Hippolyta, wie den Elfenkönig Oberon oder auch seine Frau Titania. In der Durieux steckt Komödiantenblut des alten, allumfassenden, grenzenlos schweifenden Schlages [...]. Sehr bald hatte sie denn auch in bezug auf Rolle und Stil alle Schranken gesprengt, und sie ist heute als Virtuosin, als Könnerin, als Beherrscherin der theatralischen Klaviatur annähernd die erste in Deutschland.« Julius Bab: Das Theater der Gegenwart, zitiert nach: Boeser/Vatkovä (Anm. 219), S. 94. Ursula Geitner erklärt die Durieux daher zu d e r Vertreterin des Typus der artistischen Jahrhundertwende-Schauspielerin: »Uber Tilla Durieux, jene 1880 in Berlin geborene Schauspielerin, die mit Max Reinhardt und später auch mit Erwin Piscator arbeitet, heißt es deshalb, ihr sei >nichts unmöglich^ sie könne alles, wenn sie nur wolle. Die artistische Künstlerin, welche der Ausdrucks- und Erlebniskünstlerin entgegengesetzt wird, löst die Einheit des Charakters in ihrem Spiel auf; ihr Gefühl ist Kunstgefühl, ihre Leidenschaft Stilisierung.« Geitner (Anm. 119), S. 252-283, hier S. 261. 241
noch mit seinem italienischen Akzent die am naturalistischen Realismus geschulten Erwartungen des Publikums und der Kritik. 2 3 7 Reinhardt besetzte Moissi, den er in einem Berliner Vorstadt-Theater entdeckt hatte, erstmals 1 9 0 4 in Richard Beer-Hofmanns Der Graf von Charolais. Für den jungen Schauspieler wurde der Auftritt zu einem fürchterlichen Mißerfolg: Man tadelte seine Sprache, seinen schlängelnden Gang. Er wurde derart verrissen, daß nur ein Mann wie Reinhardt es immer wieder wagen konnte, ihn zu beschäftigen.-' 0 Hochinteressant ist nun der Wandel, der sich innerhalb der Rezeption dieses Darstellers abzeichnet. V o n Reinhardt unverdrossen weiter eingesetzt, erlebte Moissi seinen Durchbruch als Oswald A lVing in der Inszenierung v o n Ibsens Gespenster, mit der 1 9 0 6 die neubezogenen Berliner Kammerspiele eröffnet wurden. 2 3 9 Dabei hatten sich die getadelten persönlichen Eigenarten dieses Künsders keinesfalls abgeschliffen, weiterhin wurde die »fremde Eckigkeit des [mit der Sprache ringenden] Ausländers« 2 4 0 bemerkt und bemängelt, doch wurde nun auch nahezu emphatisch die schöpferische Energie hervorgehoben, mit der Moissi diese seine Mittel gestaltete. Einen Vergleich mit dem längst arrivierten Friedrich Kayßler, der neben Moissi die Rolle des Pastor Manders zu spielen hatte, zieht der Kritiker Friedrich Düsel. Er urteilt über den Anfänger: Hier ist Temperament und Kunstfertigkeit dabei, sich in eins zu bilden, und was Kayßler nicht hat, da er's nicht haben will, das besitzt und beherrscht sein Antipode Moissi: die quellende Lust am Schauspielertum, die jauchzende Seligkeit seiner aus elementarem Drang geborenen Kunst. 41
»Moissi stammte aus den unerlösten Gebieten des italienischen Oberösterreich, hatte seine Bühnenlaufbahn als Statist im Burgtheater begonnen, war dann nach Prag gekommen und von seiner späteren Gattin Maria Urfus ausgebildet worden, bis er einige Zeit darauf im Vorstädtischen Nationaltheater Berlins als Golo in Hebbels iGenovevai einigen verständnisvollen Besuchern aufgefallen war.« Max Epstein: Max Reinhardt bis zur Gründung des Deutschen Theaters. In: Boeser/ Vatkovä (Anm. 219), S. 56-63, hier S. 62. 2 3 » Ebd. 2 3 y Zu den Berliner >Kammerspielen< [bei dem Begriff handelt es sich um eine Wortschöpfung Reinhardts) vgl. Fiedler (Anm. 225), S. 81-91. Bei der Errichtung dieses intimen Theaters durch Reinhardt handelt es sich auch um einen weiteren Beitrag zur Aufwertung der Schauspielkunst. Durch den kleinen Zuschauerraum [mit nur 292 Plätzen ist er nicht viel größer als die Bühnen| und der architektonischen Aufhebung der Distanz zwischen Bühne und Publikum |Saal und Podium sind nur durch zwei Stufen voneinander getrennt| wird der Schauspieler im ganz wörtlichen Sinne >in den Vordergrund gerückte An eine differenzierte Darstellung stellt diese Bühnenform die höchsten Ansprüche, ermöglicht aber zugleich ihre Würdigung in einem weit fortgeschrittenen Sinne. 2 4 0 Friedrich Düsel. In: Deutsche Zeitung (11.11.1906), zitiert nach: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 615. 2 4 1 Zitiert nach Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 61. 237
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Offensichtlich hat gerade die provozierende Wirkung, die Moissis erste A u f tritte vor dem Berliner Publikum hatten, zu dem hohen Grad seiner späteren Berühmtheit mit beigetragen. Pikanterweise wird der >radebrechende< Anfänger v o n 1 9 0 4 für die spätere Kritik zum Zauberer des Wortes, an den man später einmal in Hofmannsthalschen Bildern zurückdenken wird: ...Und wie im Tritonshorn der Lärm des Meeres eingefangen ist, so war in ihm die Stimme alles Ix'bens. In seinem Mund war eine Bucht, drin brandete das Meer [...]·242 In Moissis Spiel begeisterte die sichtbar gewordene artifizielle Überwindung der gegebenen Sprachgrenze in vergleichbarer Weise wie das Verschwinden der Geschlechtergrenze in der Travestie der Durieux. Die Irritation v o n Erwartungen, welche die geschlechtliche oder nationale >Identität< einer dramatischen Figur betrafen, kamen einem selbstreflexiven Hinweis auf die Kunstfertigkeit des Spiels gleich. Die Leistung der mitwirkenden Schauspielerinnen und Schauspieler hoben Reinhardts Inszenierungen zusätzlich dadurch hervor, daß sie mit festgefahrenen Konventionen der Rolleninterpretation bewußt brachen. Beispielhaft für dieses Verfahren ist — um noch einmal den berühmten Sommernachtstraum von 1 9 0 5 zu bemühen — der Puck der Eysoldt; er >wich von allem Herkömmlichen in ihrer Auffassung mit einer Kühnheit ab, die Befremden erregte«, berichtete [Georg] Siegerist in seiner Rezension: >Man kannte hier bisher nur den Puck der traditionellen Schauspielhausauffassung: im roten Ballettröckchen hüpfte die Darstellerin umher, und zierlicher Übermut war das Höchste, was sie sich erlaubte; man dichtete dem Puck ausschließlich reizende Anmut an, die ihm in Wirklichkeit gar nicht zu eigen ist, und die zu der kräftigen Sprache, die ihm Shakespeare verliehen hat, in seltsamen Widerspruch steht. Die Eysoldt spielte ihren Puck als einen derben Kobold in rauhem, zottigen Gewände, als einen täppischen Gesellen voll tollster Durchtriebenheit. 24 ·' Angesichts dieses »verblüffenden« 2 4 4 Spiels entwickelt Julius Hart in der auch v o n Simmel geschätzten Zeitung Der Tag eine Auffassung kreativ-subjektiver Rollengestaltung, die sich wie die Vorwegnahme der Simmelschen Schauspielphilosophie liest. »Der derbe, wilde Droll« 245 der Eysoldt erschien diesem Kritiker So ganz - ganz anders wie |sic] einst Paula Conrad mit ihrem goldenen Lachen. Und doch: Jede der beiden Gestalten ist vollkommen gleichberechtigt, jede darf sagen, daß sie das ganze Wesen des Shakespeareschen Kobold rein ausgeschöpft hat. In dieser Vieldeutigkeit, Verwandelbarkeit der großpoetischen Gestalten liegt eben das unendliche I^ebensgeheimnis, der vielleicht tiefste und mächtigste Zauber ihrer Kunst, und Gertrud Eysoldt hat sich Paula Conrad an die Seite gestellt, gerade weil
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Siegfried Jacobsohn: Shakespeare - Ein Sommernachtstraum, zitiert nach: Boeser/ Vatkovä (Anm. 219), S. 185. Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 566. Der Tag, 2.2.1905, zitiert nach: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 573. Zitiert nach: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 573. 243
sic so völlig eigenartig schuf und bildete und uns den derben Poltergeist [...] urwüchsig spielte. 4 ( 5 Mit einem Rollenklischee nicht weniger eingefahrener Natur als dem des >Ballettröckchen-Pucks< räumte Rudolf Schildkraut 1 9 0 5 im Kaufmann von Venedig auf. Mit seinem Shylock gab er mitnichten den »boshaften, tückischen und rachsüchtigen Schacherjuden« 247 (Friedrich Düsel), den zumindest die nationalistische Fraktion der Kritiker erwartete. Dagegen spielte Schildkraut einen Shylock, aus ganz eigener und neuer Anschauung heraus gezeugt, fir hatte kaum einen Anhauch von dem Juden, wie ihn Heinrich Heine in seiner Betrachtung über Shylock schildert. Der Blick, >halb stier, halb unstet, halb pfiffig, halb blöde zeugt von der Oberherrschaft einer fixen IdeeReinhardt-Schauspieler< hier als sichtbare Transformation einer bestimmten Persönlichkeit in die Rolle hinein rezipiert. Der Kritiker Willi
246 Ygi Simmeis Finschätzung der Rollenauffassung durch den Schauspieler: »[...] es steht vor ihm |dem Schauspieler] ein Ideal, wie eben seine Individualität diese Rolle zu formen hat, damit ein höchstes an künstlerischem Gesamtwert resultiere. Und dieses Ideal ist ein so streng forderndes, so objektiv über jede Stimmung und Willkür, man könnte sagen: über die bloße Realität des Schauspielers erhaben, wie eine sittliche Norm es ist, die dem Menschen aus einer sachlichen Situation kommt, aber von ihm nur fordern kann, was seine Persönlichkeit in dieser an besonderer sittlicher Leistung hergeben kann und muß, und was für eine andere Persönlichkeit unter den gleichen Umständen vielleicht etwas ganz anderes wäre.« Simmel (Anm. 10), S. 425 [I Iervorhebungen im Text|. 247 248
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Deutsche Zeitung, zitiert nach: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 589. Der lag, 11.11.1905, zitiert nach: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 594f. Vgl. auch »[...] Schildkraut ein Shylock von vollkommen individueller Auffassung, fast revolutionär in der Gestaltung: mehr Individuum als Vertreter einer geknechteten Rasse, ohne Chargierung und Pathos, fast ohne die sonst auf der Bühne übliche Jargonbetonung, von packender Selbstverständlichkeit im I lasse und im Geize, in der brennenden Leidenschaftlichkeit und in kordialer Heuchelei, von künstlerischer Beherrschung bis an die Grenzen der Häßlichkeit.« Berliner VolksZeitung, 10.11.1905, zitiert nach: Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 590. Vgl. Jung (Anm. 4), S. 15f.
Handl verschmilzt die Grenzen zwischen Stil und Identität, wenn er 1909 über die Schauspieler an Reinhardts Deutschem Theater schreibt: [...] hier ist keiner Größe und keiner Tiefe ein vorbestimmtes Ziel gesetzt; ein jeder trägt die Gesetze seiner Entwicklung als sein Geheimnis in sich. Die Kongruenz von Stil und Persönlichkeit ergibt sich ungezwungener als irgendwo. An diesem Theater, das seine Formen aus keiner Literatur und keinem Zeitgedanken, sondern nur aus seinem eigenen Wesen auferbauen will, ist es schon Stil genug, wenn einer den Mut hat, mit allen Kräften und mit allem Nachdruck er selbst zu sein. 250
>Selbst< und >Persönüchkeit< sind hier offenbar ebensowenig wie in der zeitgenössischen Soziologie als prästabile Größen zu verstehen - wie anders wäre es denkbar, daß ein Schauspieler durch die wechselnden Rollen hindurch immer >mit allem Nachdruck er selbst< sei? Eher scheint >das Selbst< hier identisch mit jener eigentlich unfaßbaren schöpferischen Lebensenergie, die auch Simmel in seiner Philosophie des Schauspielers beschreibt. Das flexible Zusammenspiel von subjektivem Schöpfergeist und gegebener Rolle macht die >moderne Schauspielkunst in ihrer Vorbildfunktion für die Gesellschaftstheorie aus. Reinhardt selbst hat dieses Ideal 1915 in einem Vortrag beschrieben: Der Typus jenes Schauspielers, der sich proteusartig verwandelt, der unter Aufgabe seiner eigenen Persönlichkeit hurtig und selbst unkenntlich in die verschiedensten Gestalten und Masken zu schlüpfen vermag, ist wieder zurückgetreten hinter die starken Naturen, deren Glück es ist, sich selbst geben zu können, die nicht von außen her gestalten, sondern von innen heraus, die, weil sie fest in ihrem Erdreich wurzeln, dem Dichter nicht nur das Erlebnis im Stück, sondern ihr ganzes Leben mitbringen. 251
Es scheint, als habe die bereits beschriebene Seelenkunst der Eleonora Duse bzw. deren Wiener Lesart — als Vorbild für dieses neue Schauspielideal gedient, hatte doch schon für Hofmannsthal die künsderische Subjektivität, aus der heraus er ihre Rollengestaltung begründet sah, das große Erlebnis, die >Philosophie< der großen italienischen Schauspielerin ausgemacht.252 So sehr hat die Duse die eine große Schauspielergabe: die der Gestaltung. Sie schafft aus den Intentionen des Dichters heraus mit einem Scharfsinn, dessen Resultat wie Naturnotwendigkeit aussieht So wäre sie die vollendete Schauspielerin des Naturalismus. Sie könnte tote Schlagworte beleben und die kühnsten Hoffnungen derer wahr machen, die an die Nachahmung der Natur glauben. Aber sie steht über dem Naturalismus [...] Sie ist imstande, ihre Persönlichkeit scheinbar zu verwischen: aber die Natur läßt sich nicht verbergen. Die Duse wäre eine naturalistische
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Willi Handl: Die Künstler des Deutschen Theaters. In: Paul Legband (Hrsg.): Das Deutsche Theater in Berlin. München 1909, S. 25-50, hier S. 25f. Max Reinhardt: Von der modernen Schauspielkunst und der Arbeit des Regisseurs mit dem Schauspieler (1905). In: Petting (Arm. 220), S. 4 1 2 ^ 2 2 , hier S. 414. Auch Simmel hatte bekanntlich Eleonora Duse genannt, um seine Auffassung von der persönlichen Prägung des schauspieleri sehen Rollenspiels an einem besonders schlagenden Beispiel zu illustrieren: »...es leuchtet wohl unmittelbar ein, daß eine Rolle z.B. die Kameliendame, die Sarah Bernhard in vollkommener Weise darstellt, unbefriedigend und widerspruchsvoll wirken würde, wenn eine ganz andere Künstlerpersönlichkeit, z.B. die Duse, sie in derselben Auffassung und Ausführung darböte [...|« Simmel (Anm. 10), S. 424. 245
Schauspielerin, denn ihre Individualität nimmt jede i'orm an; aber die Individualität, als I ; orm unterdrückt, kehrt als Geist wieder, und so spielt die Düse nicht nur die realistische Wirklichkeit, sondern sie spielt auch die Philosophie ihrer Rolle. 253
Das legendäre Wiener Gastspiel der Künstlerin von 1892, von dem Hofmannsthal hier so enthusiastisch berichtet, hat auch Max Reinhardt gesehen. Der damalige Volksschauspieler hat seinen Aufzeichnungen zufolge vom Auftritt der Duse den vergleichbaren Eindruck einer nahezu magischen Vereinigung von Kunst und Leben davongetragen: Niemals werde ich vergessen, wie ich sie zum ersten Mal sah. Das war im Karltheater, und sie spielte die Kameliendame. Ihr Partner hieß Havio Ando. Ich erinnere mich an eine Szene, in der beide zugleich leidenschaftlich sprechen. Das war eine der vollkommensten I -eistungen, die ich je auf dem Theater sah. Beide waren völlig deutlich, und ihr 'Xusammenspiel war aufgelöst in glühendstes Leben... Die Duse offenbarte sich im Spiel ihres Körpers, ihrer Augen, ihrer Bewegungen, ihres Mundes. Aber in ihrer zauberhaft verschleierten Stimme war ihre Macht zu lieben und zu leiden in eine einzigartige Musik gesetzt. 254
Der hier zum Prädikat der Sprechkunst erhobene Begriff der Musik weist bereits auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund hin, vor dem die italienische Schauspielerin damals — zumindest was die Wiener Literaten angeht, von denen Reinhardt in seiner frühen Schaffensphase stark beeinflußt war — rezipiert wurde. Ihre Kunst wurde, wie erwähnt, als symbolhafte Realisation des dionysischen Schauspielideals gefeiert. Von einem weiteren Wiener Auftritt der Duse im Jahr 1903 wird Hofmannsthal berichten: wir fühlten die Nähe einer unnennbaren tragischen Gewalt, [...] etwas von so hoher Allgemeinheit, daß es dem tragischen Leben erhabener Musik sehr nahe verwandt war. 2 5 5
Auf die Tragödientheorie Nietzsches wird hier unübersehbar angespielt. Daß auch Reinhardts Ideal der Schauspielkunst letztlich aus dem daraus abgeleiteten Theaterideal hervorgegangen ist, wird noch im Nachhinein in der berühmten Rede über den Schauspieler deutlich, die er 1930 anläßlich des 25ten Jubiläums seines Deutschen Theaters gehalten hat 256 Die archaische Kraft, die affektive Energie, die Aufhebung der Individuation in der grenzüberschreitenden Imagination — all diese von Nietzsche so wirkungsvoll beschriebenen Eigenschaften der griechischen Dionysosspiele, führt Reinhardt hier auf, wenn er sie auch gleich darauf ins jüdisch-christliche Weltbild hinein transponiert: In der frühesten Kindheit des Menschen ist die Schauspielkunst entstanden. Der Mensch, in ein kurzes Dasein gesetzt, in eine dicht gedrängte l'ulle verschiedenartigster Menschen, die ihm so nahe und doch so unfaßbar fern sind, hat eine unwiderstehliche Lust, sich im Spiel seiner Phantasie von einer Gestalt in die andere,
253 254 255 256
246
I Iofmannsthal (Anm. 198), S. 476. Reinhardts Aufzeichnungen zitiert nach Adler (Anm. 232), S. 27. I Iofmannsthal (Anm. 198), S. 484-489, hier S. 484. Die entsprechende Nietzschcanisch geprägte Musik-Metaphorik prägt Reinhardts Äußerungen zum Theater um 1900 herum durchgängig: Vgl. z.B.: »Das, was mir vorschwebt, ist eine Art Kammermusik des Theaters.« Kahane (Anm. 221), S. 74.
von einem Schicksal ins andere, von einem Affekt in den anderen zu stürzen. [...] Kr erlebt alle Entzückungen der Verwandlung, alle Ekstasen der Leidenschaft, das ganze unbegreifliche I .eben im Traum. Wenn wir nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen sind, dann haben wir auch etwas von dem göttlichen Schöpferdrange in uns. Deshalb erschaffen wir die ganze Welt noch einmal in der Kunst [...). 257
Schon 1905 hatte der Regisseur bei der Eröffnung der Berliner Schauspielschule im entsprechenden Duktus die Schauspielkunst als Kunst des Lebens gepriesen: Wir wollen hier junge Menschen bilden. Menschen, die jene drei Wände des Theaters mit ihrem Leben erfüllen sollen. Menschen, deren Phantasie stark genug ist, ihrer Scham eine vierte Wand zu errichten, wenn sie ihr Innerstes und Tiefstes entblößen. Menschen deren beflügelter Pulsschlag die Zeit verrückt, die alle Schrecken des Daseins in drei Abendstunden bannen können, die mit dem ersten Klingelzeichen zu leben beginnen und sterben, wenn der Vorhang fällt. Die so tief getroffen werden vom Worte des Dichters, daß ihr eigenes Leben erstarrt, während ein fremdes Leben in ihnen zittert und jubelt, jauchzt und schreit [...|.25®
Die weit über die Grenzen des Theaters hinaus heilsstiftende Funktion, die Reinhardt diesem Vorgang zugeschrieben hat, wird wiederum in seiner Rede über den Schauspieler deutlich. Hermann Bahrs Dialog vom Tragischen und seiner von Nietzsche inspirierten Feier der Schauspielkunst als >Geheimnis der Menschheit kommt der Redner darin ganz nahe, wenn es heißt: die Leidenschaft, Theater zu schauen, Theater zu spielen, ist ein Elementartrieb des Menschen. Und dieser Trieb wird Schauspieler und Zuschauer immer wieder zum Spiel zusammenführen und jenes höchste, alleinseligmachende Theater schaffen. Denn in jedem Menschen lebt, mehr oder weniger bewußt, die Sehnsucht nach Verwandlung. 259
257 258 259
Kahane (Anm. 221), S. 435f. Max Reinhardt: Rede zur Eröffnung der Schauspielschule des Deutschen Theaters Berlin (1905), S. 122. Max Reinhardt: Rede über den Schauspieler. In: Petting (Anm. 220), S. 433^436, hier S. 433. Der Regisseur knüpft in seiner Auffassung von Theater als einer die aufgestauten Affekte des kulturell verbildeten Menschen heilsam lösenden Praxis an die an früherem Ort ausführlich beschriebene psychotherapeutische KartharsisTheorie seines Weggefährten Hermann Bahr an. Explizit heißt es bei Reinhardt: »Wir turnen täglich, um unsere Muskeln, unsere Glieder zu stärken, damit sie nicht einschrumpfen. Aber unsere seelischen Organe, die doch für eine lebenslängliche Arbeit geschaffen sind, bleiben ungebraucht und verlieren daher mit der Zeit ihre Ix'istungsfähigkeit. Und doch hängt unsere seelische, geistige, ja sogar unsere körperliche Gesundheit auch von der unverminderten Funktion dieser Organe ab. Wir spüren unverkennbar, wie ein herzliches Gelächter uns befreien, ein tiefes Schluchzen uns erleichtern, ein Zornesausbruch uns erlösen kann. [...] Unsere Erziehung freilich arbeitet dem entgegen. Ihr erstes Gebot heißt: Du sollst verbergen, was in dir vorgeht. So entstehen die sattsam bekannten Verdrängungen, die Zeitkrankheit der Hysterie und am Ende jene leere Schauspielerei, von der das Ixben voll ist.« Ebd., S. 434. Als »berufsmäßige[r| Gefühlsmensch« (Ebd., S. 435) wird der [TheaterJSchauspieler für Reinhardt zum Antipoden des alltäglichen Maskenträgers der leeren Konvention, der aus der kulturellen Verdrängung der Affekte hervorgegangen ist. 247
In Reinhardts Arbeiten ebenso wie in seinen Schriften präsentiert sich die Schauspielkunst in der Spannung zwischen Kunst und Leben, zwischen subjektiver Spontaneität und objektiver Gestaltung, die das Charakteristikum der impressionistischen Rollenauffassung — sei es in der Literatur, sei es in der Sozialphilosophie — ausgemacht hatte.260 Als Regisseur schuf er das theaterhistorische Pendant der zeitgenössischen Aufwertung des Schauspielers als Ikone moderner Individualität. Für Simmeis Rollenphilosophie, die sich wie erwähnt aus der kunsttheoretischen Interpretation heraus entwickelt, hat dieses Theater das historische Modell abgegeben. Die Parallelen, die sich zwischen der Rollentheorie und der Theaterpraxis ergeben, werden in ihrer Entstehungsgeschichte auch durch den gemeinsamen geistigen Hintergrund verständlich. Asthetizismus und Impressionismus stellen mit ihrer vorgestellten Theatedeidenschaft den diskursiven Rahmen, zu dem sich Simmeis Philosophie des Schauspielers ebenso in Bezug setzen ließ wie Reinhardts Schauspieler-Theater und dessen begeisterte Rezeption.
260
248
Auf stilistischer Kbene läßt sich die Nähe des durch Reinhardt geprägten Schauspielstils zum literarischen Impressionismus auch über den beiden gemeinsamen Bezug zum sogenannten Jugendstil belegen. In Bezug auf die überaus bewegte Darstellung in Reinhardts Inszenierung des Kaufmanns von Venedig schreiben Jaron/ Möhrmann/Müller: »Reinhardt entwickelte für das Theater, was der Jugendstil für die bildende Kunst ausgelöst hatte: eine neue Sicht auf den menschlichen Körper und damit eine Veränderung der Menschendarstellung. Nicht mehr die pathosgetragene Pose prägte sein Klassikerverständnis, sondern die plastische Darstellung der Figuren als körperlich faßbare, bewegliche Akteure.« Jaron/Möhrmann/Müller (Anm. 192), S. 588. Autoren wie Schnitzler und Hofmannsthal werden selbst wegen ihrer ästhetistischcn Abwendung von Naturalismus häufig mit dem Prädikat >Literarischer Jugcnstil< belegt.
5.
Schlußbemerkungen
Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die moderne wissenschaftliche Theatermetaphorik, die sich um 1900 herausbildet, aus den ihr zugrundeliegenden ästhetischen Begriffen heraus zu verstehen, und damit einen Bezug zur damaligen Theatergeschichte herzustellen. Breuers Begriffsschöpfung der >kathartischen KurDramatisierung< und Simmeis >Rolle< wurden dabei exemplarisch untersucht für die historischen Formen der Verflechtung, in die wissenschaftlicher und theaterspezifischer Diskurs im System der Metapher treten.
5.1.
Hysterielehre, Katharsis und Körperkunst
Von der Theatermetaphorik ihrer Vorgänger, die hysterisch Erkrankte als Simulantinnen und >Schauspielerinnen< diffamiert hatten, setzt sich die Interpretation Josef Breuers und Sigmund Freuds deutlich ab. Sie verstehen die Krankheit als Ergebnis eines unterdrückten Affekts, den es >kathartisch< zu lösen gelte. Die metaphorologischen Überlegungen zur >kathartischen Kur< der beiden Wiener Arzte konnten sich an einem philologischen Neuverständnis des Begriffes orientieren, das zeitgleich mit der Entstehung der Studien über Hysterie die gesteigerte Aufmerksamkeit von Altertumskundlern und allgemein Kulturinteressierten auf sich zog. Die >KatharsisDionysischen< fand diese Entwicklung um die Jahrhundertwende ihre tragende Theorie und ihr Erkennungswort. Theatergeschichtlich hat sich diese vor allem in einem neuen Verständnis des menschlichen Körpers manifestiert. In Tanz- und Schauspielästhetik wird dieser nun als authentisches Ausdrucksmedium einer neuentdeckten Ganzheitlichkeit gefeiert. Die theatrale Körpersprache sollte die Beschränkungen, denen 249
die affektive Dimension in der rationalistischen Kultur unterliegt, zumindest zeitweilig aufheben. Man versucht, die dionysische Ekstase der alten Griechen als kulturkritisches Element in die Gegenwart zu übertragen. Dieses Körperkonzept zeigt deutliche Parallelen zum Zusammenhang zwischen Symptom und Affekt, den Breuer und Freud zur Basis ihrer Hysterielehre erhoben haben. Auch hier wurde dem Körper als Symptomträger ein bedeutsames semiotisches Potential zugeschrieben: Die Körperzeichen der hysterisch Erkrankten würden etwas zum Ausdruck bringen, was über das innerhalb der Grenzen von Vernunft und Anstand Verbalisierbare hinausgehe. In den begriffsgeschichtlichen Nachforschungen konnten diese Parallelen auf gemeinsame Anregungen zurückgeführt werden, die theaterästhetischer wie psychotherapeutischer Diskurs in ihrem Verständnis von Körper und Subjekt aus dem Griechenlandbild ihrer Zeit übernehmen. Der Bezug auf eine entidealisierte Antike wird im Vedauf des Traum-Kapitels auch im Begriff des Freudschen Odipus-Komplexes deutlich sichtbar.
5.2.
Traumdeutung, >Dramatisierung< und Traumelemente auf der Bühne und im Drama
Wie bereits in Bezug auf die Metaphern der Hysterielehre zu beobachten, so setzt sich auch in Bezug auf Die Traumdeutung die Freudsche Verwendung von Theatermetaphorik von der Praxis seiner Vorgänger klar ab. Hatte die Vergangenheit in der Tradition des Welttheaters und seiner Polarisierung von >Sein< und >Schein< den Traum als bloßes >Gaukelspiel< abqualifiziert, so versteht ihn Freud als >DramatisierungDrama< nicht mehr in der literarischen Beschränkung des Begriffs, sondern gleichbedeutend mit dem von ihm aufgewerteten Theaterereignis als synästhetisches Zusammenspiel aller Künste verstanden hatte. So ist die szenisch-visuelle Auffassung des Dramatischen, die Freuds Definition der Dramatisierung als Verwandlung eines Gedankens in eine Situation< impliziert, bereits in der Neudefinition des Begriffs durch Richard Wagner vorweggenommen. Die davon ausgehenden theatergeschichtlichen Entwicklungen werden um die Jahrhundertwende vor allem im Neuverständnis der Szenographie münden. Bühnenbild und Ausstattung gelten nun nicht mehr als mimetische Kopie der Wirklichkeit, sondern erzeugen einen eigenständigen theatralen Bedeutungsraum. Vor allem mittels der Beleuchtungstechnik nähert man sich dem Ideal einer >Bühne als Traumbild< (Hugo von Hofmannsthal) an, 250
die in der symbolischen Funktionalisierung visueller Eindrücke den Freudschen Traumbildern strukturell entspricht. Doch auch innerhalb der Dramengeschichte im engeren Sinne setzt sich mit den Tendenzen zur >Uberwindung des Naturalismus< um 1900 ein Gattungsverständnis durch, das mit dem bisherigen Primat der Handlung bricht, und statt dessen mit seinen Tendenzen zu Verinnerlichung, Symbolisierung und zeitlichem Rückblick Strukturen entwickelt, die es in unmittelbare Nähe zum Traumgebilde setzen. Daneben schlägt sich der Rückzug von den >Sachständen< und die Hinwendung zu den >Seelenständen< (Hermann Bahr), der ästhetisch schon lange vor der Niederschrift der Traumdeutung virulent war, auch in der Subjektivierung der Dramenmetapher bei Freud nieder. Diese steht — wie vor allem anhand gemeinsamer kulturgeschichtlicher Quellen in den Werken Nietzsches, Wagners oder Schopenhauers gezeigt werden konnte — in unmittelbarem Bezug zu literaturästhetischen Entwicklungen, die sich zeitgleich in den Werken Maeterlincks, Hofmannsthals, Schnitzlers, Strindbergs oder Ibsens vollziehen. Neben der den Schriftstellern und dem Psychoanalytiker gemeinsamen Orientierung am Fin de jvißi?-Ideal eines >imaginären Theaters< ist für die Parallelen zwischen Freuds dramaturgischer Versinnbildlichung des Traums und der modernen Dramatik auch der gemeinsame Rückbezug auf die Psychiatrie des 19. Jahrhundert maßgeblich. In den Protokollen und Studien der Nervenärzte findet sich z.B. die Aufspaltung von psychisch Kranken in scheinbar unabhängige Persönlichkeiten, die als Struktur den Strindbergschen >Traumspielen< zugrunde liegt, und zugleich die Freudschen Beobachtungen zum Traum und die daraus resultierende Theoriebildung zu großen Teilen bestimmt.
5.3.
Rollentheorie, Schauspielmetaphorik und Bühnenspiel
Ebenso wie die >kathartische Kur< oder die >Dramatisierung< markiert auch Simmeis Einführung des Rollenbegriffs in die Gesellschaftstheorie einen historischen Wendepunkt der Metapherngeschichte. In ihrer jahrtausendelangen Geschichte war die >Rolle< bislang vorwiegend in moralisch-kritischem oder aber in geschichtsphilosophischem Zusammenhang verwendet worden, im Werk des Sozialwissenschafders wird sie dagegen erstmals sozialhistorisch deskriptiv, zur Bezeichnung einer spezifisch modernen Relation von Individuum und Gesellschaft, verwendet. Der klassische Rollenbegriff der Soziologie, als dessen Vordenker Simmel deshalb mancherorts gilt, weist allerdings zu den Intentionen seines Stifters erhebliche Differenzen auf. Beruht dieser auf einer deterministischen Sicht der gesellschaftlichen Verhältnisse, so betont Simmel, dessen Begriff an seinen ästhetischen Reflexionen Zur Philosophie des Schauspielers geschult ist, gerade die ästhetisch kreativen Aspekte der modernen Rollenidentität. In ihr verschmilzt eine als Substanz nicht länger faßbare Subjektivität mit einer Vielzahl vorgegebener Muster zu einer flexiblen, selbstgestalteten Konstruktion von Persönlichkeit. 251
Mit seiner Theorie der Rollenpluralität, die der Vorstellung einer eindimensionalen, festgelegten Identität die Absage erteilt, befindet sich Simmel in unmittelbarer Ubereinstimmung mit einer bestimmten innerhalb der zeitgenössischen Literatur vorzufindenden Schauspielmetaphorik. In den diesbezüglich untersuchten Texten Hermann Bahrs, Hugo von Hofmannsthals und Arthur Schnitzlers zeichnet sich die Karriere des Bühnendarstellers zur Ikone von Asthetizismus und Lebensphilosophie ab. Zurückzuführen ist diese Entwicklung ebenso wie die entsprechende theoretische Formulierung bei Simmel auf ein Nietzscheanisches Neuverständnis der Schauspielkunst. In der Geburt der Tragödie hat Nietzsche diese als dionysische Überschreitung der IchKategorie, als dramatisches Urphänomen< geschildert und damit ihre Prominenz in der Moderne ebenso wie ihre Interpretation als heilbringende Energie wider die Technisierung und Rationalisierung der Lebenswelt vorgegeben. Ihren theaterästhetischen Niederschlag hat diese Auffassung im >SchauspielerTheater< Max Reinhardts gefunden. In dessen Inszenierungen ebenso wie in seinen Schriften präsentiert sich die Schauspielkunst in derselben Spannung zwischen Kunst und Leben, zwischen subjektiver Spontaneität und objektiver Gestaltung, die das Charakteristikum der impressionistischen Rollenauffassung — sei es in der Literatur, sei es in der Sozialphilosophie — ausgemacht hatte. Reinhardts >Schauspieler-Theater< liegt eine neue Auffassung des Rollenspiels zugrunde. Während in bisherigen Konzepten entweder das totale Zurücktreten der Schauspielerpersönlichkeit in der Identifikation mit der Rolle (Otto Brahm) oder aber die mischungslose Trennung von Rolle und Persönlichkeit in einem rein äußerlichen Spiel (Denis Diderot) gefordert wurde, setzt Reinhardts Regie gerade auf ein spannungsreiches Changieren zwischen den Charakteristika eines Schauspielers und der dramatischen Figur. Durch eigenwillige Besetzungen und Erwartungsbrüche in der Figureninterpretation zielen seine Inszenierungen auf die Reflexion des theatralen Rollenspiels durch das Publikum. Als deren Niederschlag darf auch Simmeis theoretische Auseinandersetzung mit der Rollenstruktur verstanden werden, die in unmittelbarer zeitlicher und lokaler Nähe zum Theater Max Reinhardts entstanden ist, und in ihrer Verschmelzung der bis dato getrennten Kategorien von >Identität< und >Rolle< klare Parallelen zu dessen Schauspielverständnis aufweist. So konnte auch hinsichtlich der letzten - und vielleicht der prominentesten der hier untersuchten Metaphern — ein klarer Bezug zur Theatergeschichte herausgearbeitet werden. Insgesamt scheint die wissenschaftliche Theatermetaphorik um 1900 ein Element der umfassenden Asthetisierung von Wirklichkeit zu sein, die seinerzeit den philosophischen, künstlerischen aber eben auch den kulturwissenschaftlichen Diskurs beherrschte. Hier ist wahrscheinlich auch der Grund für deren Rückkehr in den Diskursen der Gegenwart zu finden: Auf die »Aktualität ästhetischen Denkens«1 in Theorien der >Postmoderne< hat Wolfgang Welsch ausdrücklich verwiesen. Die >Aktualität theatraler Metaphorik< hängt damit vermutlich unmittelbar zusammen.
1
252
Vgl.: Wolfgang Wclsch: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. In: Oers.: Ästhetisches Denken. Stuttgart, 2. Auflage 1991, S. 4 1 - 7 8 .
6.
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