Geisteswissenschaftler II [1 ed.] 9783428538218, 9783428138210

Berlin besitzt eine bedeutende wissenschaftliche und geistesgeschichtliche Tradition – und zwar nicht erst seit Gründung

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Geisteswissenschaftler II [1 ed.]
 9783428538218, 9783428138210

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Berlinische Lebensbilder Band 10

Geisteswissenschaftler II Herausgegeben von Hans-Christof Kraus

Duncker & Humblot  . Berlin

Berlinische Lebensbilder

Berlinische Lebensbilder Herausgegeben von

Uwe Schaper in Verbindung mit dem Landesarchiv Berlin

Band 10

Geisteswissenschaftler II

Historische Kommission zu Berlin Duncker & Humblot · Berlin

Geisteswissenschaftler II

Herausgegeben von

Hans-Christof Kraus

Historische Kommission zu Berlin Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Umbruch: Petra Behr Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2193-9969 ISBN 978-3-428-13821-0 (Print) ISBN 978-3-428-53821-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-83821-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 ○ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort

‚Lebensbilder‘ scheinen auf den ersten Begriff etwas Antiquiertes zu sein; bei näherem Hinsehen sind sie es nicht. Im Gegenteil: Der biographische, lebensgeschichtliche Zugriff auf die Vergangenheit ist heute so aktuell wie eh und je – das zeigt nicht nur das verbreitete allgemeine Interesse an den Lebensgeschichten keinesfalls nur im herkömmlichen Sinne ‚berühmter‘ Persönlichkeiten, sondern auch die Tatsache, dass die Historiker und die Geisteswissenschaftler anderer Disziplinen der biographischen Form seit einigen Jahrzehnten wieder verstärkt ihre Aufmerksamkeit widmen. Der Lebenslauf einer historischen Persönlichkeit, bemerkte bereits Wilhelm Dilthey, „ist ein Wirkungszusammenhang, in welchem das Individuum Einwirkungen aus der geschichtlichen Welt empfängt, unter ihnen sich bildet und nun wieder auf diese geschichtliche Welt zurückwirkt“. Und der Berliner Philosoph nahm seinerzeit bereits ebenfalls die – den Blick ergänzende – Gegenperspektive ein, wenn er im gleichen Text feststellte: „Das Individuum ist nur ein Kreuzungspunkt für Kultursysteme, Organisationen, in die sein Dasein verwoben ist“. Diese Feststellung trifft vielleicht in ganz besonderer Weise auf die Lebensgeschichten bedeutender Gelehrter zu, die als Wissenschaftler und Universitätslehrer breite Wirkung ausüben: auf die Entwicklung ihrer Disziplin ebenso wie auf die geistige Bildung ihrer Schüler und auf den Rang der Hochschulen, denen sie jeweils angehören. Und gleichzeitig sind gerade diejenigen Gelehrten, die in einem weitläufigen Forschungszusammenhang stehen, auch immer wieder als „Kreuzungspunkte“ verschiedenster Tendenzen und Entwicklungen aus allen Bereichen der Wissenschaft, aber ebenfalls aus den Wirkungsmechanismen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft aufzufassen. Genau diesen Aspekt versuchen die Beiträge des vorliegenden Bandes, jeder auf seine Weise, etwas näher in den Blick zu bekommen und etwas klarer zu beleuchten. Die hier vorgestellten Wissenschaftler der alten Universität Berlin – der Friderica Guilelma – stellten ausnahmslos Gelehrtenpersönlichkeiten dar, die als akademische Lehrer im Zentrum ihrer jeweiligen Disziplinen standen, die auf ihren Forschungsgebieten Herausragendes leisteten, die über ein die nationalen Grenzen in der Regel überschreitendes Ansehen verfügten und deren Namen bis heute einen bedeutenden Klang haben. Gedacht war und ist der vorliegende Band als ein bescheidener Beitrag zum zweihundertsten Gründungsjubiläum der Friedrich-Wilhelms-Universität, deren Erbe heute von

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Vorwort

gleich zwei Berliner Hochschulen – der Freien Universität und der Humboldt-Universität – bewahrt und weitergegeben wird. Wenn der Sammelband (aus vielfältigen, an dieser Stelle nicht darzulegenden Gründen) etwas später als beabsichtigt das Licht der Welt erblickt, dann möge er doch trotzdem verstanden werden als ein gegenwartsorientiertes Jubiläumsgeschenk – also nicht als Ausdruck falsch verstandener, weil selbstgenügsamer Traditionspege, sondern als Ansporn zu künftigen Aktivitäten, die sich vor den Repräsentanten und den Leistungen einer großen Vergangenheit durchaus nicht zu verstecken brauchen. Oktober 2011

Hans-Christof Kraus

Inhalt

Gerald Hartung Friedrich Adolf Trendelenburg ................................................................................. 9 Wolfgang Neugebauer Karl Wilhelm Nitzsch ............................................................................................ 27 Frank E. W. Zschaler Adolph Wagner ..................................................................................................... 47 Thomas Steensen Friedrich Paulsen ................................................................................................... 63 Oliver Stoll Hermann Diels ...................................................................................................... 87 Heinz-Joachim Müllenbrock Alois Brandl ........................................................................................................ 113 Rudolf Schieffer Paul Fridolin Kehr ............................................................................................... 127 Marc von Knorring Erich Marcks ....................................................................................................... 147 Frank E. W. Zschaler Werner Sombart .................................................................................................. 173 Ulrich M. Gassner Heinrich Triepel .................................................................................................. 189 Wolfgang Ribbe Gustav Mayer ...................................................................................................... 211 Uwe Schaper Otto Hoetzsch ..................................................................................................... 227

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Inhalt

Hans-Christof Kraus Arnold Oskar Meyer ............................................................................................ 245 Helmut Börsch-Supan Wilhelm Pinder ................................................................................................... 263 Franz-Reiner Erkens Erich Caspar ........................................................................................................ 281 Hans-Christof Kraus Fritz Hartung ...................................................................................................... 307 Personenregister ...................................................................................................... 329 Bildnachweis ........................................................................................................... 337

Friedrich Adolf Trendelenburg Von Gerald Hartung I. Friedrich Adolf Trendelenburg war einer der wirkungsmächtigsten deutschen Universitätsphilosophen der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er zeichnete verantwortlich für die Rezeption und Aktualisierung der Philosophie der Antike, insbesondere des Aristoteles, und die Neupositionierung der akademischen Philosophie als einer ‚Theorie der Wissenschaften‘. Trendelenburg hat die Universitätsphilosophie der Zeit nach den großen Systemphilosophien nachhaltig geprägt, seine zahlreichen Schüler im In- und Ausland haben seine Denkansätze weiterentwickelt. Er hat Diskussionen angeregt und den Raum zur freien Entfaltung des Denkens eröffnet. In die Geschichte der Philosophie des 19. Jahrhunderts ist er als „Erzieher großen Stils“ (R. Eucken), späterhin aber als der „große Unbekannte“ (K. C. Köhnke) eingegangen. Trendelenburg wurde am 30. November 1802 im Eutiner Posthaus, Lübecker Strasse 10 geboren. Er besuchte die Eutiner Schule, deren Rektor Georg Ludwig König ein glühender Kantianer der ersten Stunde war. Nach dem Schulabschluss im Jahr 1820 blieb Trendelenburg zwei Jahre lang als Interimslehrer für die unteren Klassen seiner Schule erhalten. In dieser Zeit hatte er Kontakt zu dem Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein und zu Heinrich Arminius Riemann, einem Redner des Wartburgfestes. Trendelenburg unternahm eine Wanderung zum Grab Theodor Körners in Wöbbelin in Mecklenburg und schrieb selbst Gedichte1. Zu Ostern 1822 ging Trendelenburg zum Studium der Philologie und Theologie an die Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Er wohnte während der anderthalb Kieler Jahre im Haus des Syndikus Jahn und seiner Frau Juliane, die eine Tochter des Kieler Professors Adolf Trendelenburg war. Er besuchte Kollegien in der Theologie bei dem Schleiermacher-Schüler Detlef Christian Twesten, Vorlesungen der Geschichte bei Friedrich Christoph Dahlmann sowie der Philosophie bei dem Kantianer Karl Leonhard Reinhold und bei Johann Erich

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Biographische Quellen: Ferdinande Trendelenburg, geb. Becker, Ferdinande Trendelenburg. Ein Lebensbild, aus ihren Aufzeichnungen und Briefen zusammengestellt für ihre Enkel und Urenkel. Als Manuskript gedruckt, Halle a. d. S. 1896; Friedrich Trendelenburg, Geschichte der Familie Trendelenburg, für Kinder und Enkel zusammengestellt. Als Manuskript gedruckt, Halle a. d. S. 1921; derselbe, Aus heiteren Jugendtagen, Berlin 1924; Ernst Bratuscheck, Adolf Trendelenburg, in: Philosophische Monatshefte 8 (1872), S. 1–14; 305–510; derselbe, Adolf Trendelenburg, Berlin 1873.

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Friedrich Adolf Trendelenburg

Friedrich Adolf Trendelenburg *30. November 1802 in Eutin, † 24. Januar 1872 in Berlin

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von Berger2. In Kiel begann die Freundschaft mit Peter Wilhelm Forchhammer, der dort später Professor für Archäologie wurde. Mit diesem unternahm Trendelenburg im Herbst 1822 eine Reise nach Kopenhagen. Für eine philologische Preisschrift unter dem Titel „Die Bereicherung des lateinischen Wortschatzes durch Plautus“ erhielt der junge Student am Ende seines zweiten Semesters einen Preis von 100 Talern. Am 26. September 1823 brach Trendelenburg nach Leipzig auf, um dort seine Studien fortzusetzen. Unterwegs machte er auch Station auf der Wartburg und besuchte in Jena den Philosophen Jakob Friedrich Fries, der wegen seiner Teilnahme am Wartburgfest vom Universitätsamt suspendiert war. Er unternahm einen Ausug nach Schnepfental, um die Erziehungsanstalt des Pädagogen Christian Gotthilf Salzmann kennenzulernen und war einige Tage in Weimar, ohne aber Goethe den üblichen Aufwartungsbesuch abzustatten. Anfang November traf er in Leipzig ein, wo er für die nächsten zwei Semester vor allem seine philologischen Studien bei Gottfried Hermann intensivierte. In den Osterferien 1824 unternahm er mit dem Freund Forchhammer eine Reise nach Wien, wo er den aufgrund seiner philologischen Studien bewunderten Friedrich Schlegel besuchte. Ab Oktober des Jahres studierte Trendelenburg in Berlin und besuchte Kollegien in Altertumswissenschaften bei August Neander und August Boeckh, in Sprachgeschichte bei Franz Bopp, in Philosophie bei Hegel und Theologie bei Schleiermacher. Vor allem war der Einuss von Boeckh und Schleiermacher für ihn prägend, bei ihnen fand er Anregungen für seine Studien der Philosophie der Antike. In einem Brief vom 19. April 1825 an den dänischen Freund August Haller Baggesen bekennt er: „Wenn mich jemand fragte, welchem System ich folge, ich könnte nicht anders als in meinem Sinn negativ antworten“3. Am 10. Mai 1826 wurde Trendelenburg mit der Schrift „De Platonis de ideis et numeris doctrina ex Aristotele illustrata“ an der Berliner Universität promoviert. Im November des Jahres trat er eine Hauslehrerstelle bei dem Preußischen Generalpostmeister Karl Ferdinand von Nagler an, dessen Sohn er bis zu seinem Abiturexamen in Bonn am 9. März 1833 unterrichtete. In diesen Jahren verkehrte Trendelenburg in der „Frankfurter Gesellschaft für deutsche Sprache“, wo er seinen späteren Schwiegervater, den Sprachforscher Karl Ferdinand Becker kennenlernte. Im Frühjahr 1833 ging Trendelenburg nach Paris, um eine Edition von „Aristotelis de anima libri tres“ vorzubereiten. Dort erhielt er vom Ministerium Altenstein „das Dekret seiner Bestallung als außerordentlicher Professor an der Berliner Universität“ und das Angebot einer Beschäftigung „in den Bureaux des Ministeriums“, um sich auf die Position als Schulrat vorbereiten zu können4. Trendelenburg machte schnell Karriere an der Berliner Universität. Als Extraordinarius für Philosophie und Mitglied der wissenschaftlichen Prüfungskommission für die höheren Schulen (bis

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Vgl. Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M. 1993, S. 23–35. Trendelenburg, Geschichte der Familie Trendelenburg (Anm. 1), S. 139. Ernst Bratuscheck, Adolf Trendelenburg (Anm. 1), S. 363 f.

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1860) konnte er Einuss auf die Schulpolitik nehmen und auf eine große Zuhörerzahl in seinen maßgebenden Vorlesungen verweisen – und als er 1837 einen Ruf an die Universität Kiel ablehnte, wurde er in Berlin Ordinarius für praktische Philosophie und Pädagogik. Fortan hat er drei Jahrzehnte lang seine „Machtstellung“ (W. Dilthey) in den akademischen Institutionen ausgebaut. „In diesen Jahren war die Berliner Philosophie, man darf es sagen, ganz in Trendelenburgs Händen“5. Am 30. September 1835 heiratete Trendelenburg die Tochter seines Freundes, Ferdinande Becker. Die Familie bestand aus drei Töchtern (Marie *1837, Karoline *1841 und Ferdinande *1852) und dem Sohn Friedrich (*1844), der ein angesehener Mediziner wurde. Sie lebte in der Jägerstraße, dann in der Luisenstraße, von 1846 bis 1863 in der Linienstraße und ab 1863 in der Charlottenstraße. Urlaube wurde in der Eutiner Heimat oder in der Schweiz verbracht. Eine große Reise leistete sich die Familie zur Weltausstellung nach London im Herbst 1851. Immer wieder nahm Trendelenburg junge Studierende mit nach Haus, ließ sie an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen und unternahm mit ihnen große Spaziergänge. Sein Biograph Ernst Bratuschat berichtet von der Freundschaft mit Wilhelm Dilthey: „So lange Wilhelm Dilthey, den er in seinen philosophischen Übungen schätzen gelernt hatte, in Berlin als Privatdozent war, und so oft er sich später vorübergehend in Berlin aufhielt, machte er regelmässig mit ihm wöchentlich ein oder zwei Mal einen solchen philosophischen Spaziergang. Das Gespräch drehte sich dann um einen festen Gegenstand: mit Dilthey z. B. sprach er seine psychologischen und die darauf gegründeten ethischen Ansichten durch“6. Auch von seinen Schülern Rudolf Eucken, Friedrich Paulsen, Franz Brentano, Georg Hertling und vielen anderen ist der anregende Charakter der Gesprächsführung Trendelenburgs belegt worden. Die eindrücklichste Skizze seiner Persönlichkeit liefert Rudolf Eucken, nach dessen Ansicht „das Ganze seiner Persönlichkeit und seines Schaffens ... seinem Streben eine innere Wärme, eine geistige Vornehmheit, eine innere Wucht [gab]; er war kraft seiner universalen und ethischen Art ein Erzieher großen Stils für ganze Generationen“7. Von Beginn seiner Lehrtätigkeit an stand die Geschichte der Antiken Philosophie im Mittelpunkt. Trendelenburg legt die Klassiker mit philologischen Mitteln in philosophiegeschichtlichem Grundriss aus. Vor allem geht es dabei um die Philosophie des Aristoteles. Trendelenburg kann auf die große Edition der Aristotelischen Schriften durch Immanuel Bekker verweisen, die seit 1831 erschienen ist. Inwieweit die Philosophie nicht an den Grenzen philologischer Rekonstruktion stehen bleiben darf, hat er in seinem Kommentar zu „Aristotelis de anima libri tres“ dargelegt. In den „Elementa logices Aristotelae“ von 1836 und den später hinzukommenden „Erläuterungen zu den Elementen der Aristotelischen

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Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Zweiter Band, Erste Hälfte: Ministerium Altenstein, Halle a. d. S. 1910, S. 288. Ernst Bratuscheck, Adolf Trendelenburg (Anm. 1), S. 501. Rudolf Eucken, Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen Lebens, 2., erweiterte Au. Leipzig 1922, S. 39.

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Logik. Zunächst für den Unterricht in Gymnasien“ (1842) hat Trendelenburg die offiziellen Lehrbücher für Philosophie an höheren Lehranstalten in Preußen vorgelegt. Sein Interesse zielte immer auf die Verbindung von Philosophie und Pädagogik ab. Mit der Ernennung zum Ordinarius richtete er neben den öffentlichen Vorlesungen „Übungen“ ein, in denen fast ausnahmslos Aristotelische Schriften von den Teilnehmern interpretiert und philosophisch erläutert wurden. In einem Begleitschreiben zur Ankündigung dieser neuen Lehrform hat Trendelenburg folgendes vermerkt: „Ich habe dabei das Muster der historischen Uebungen im Sinne, wie sie Professor Ranke mit Erfolg anstellt. Ich möchte dadurch das Meinige dazu beitragen, dass das schreiende Missverhältniss, in dem passives Aufnehmen und thätiges Verarbeiten bei den Studierenden steht, mehr und mehr aufhöre“8. Trendelenburg behandelte in den Jahren seiner Vorlesungstätigkeit (bis 1871) die Geschichte der Philosophie bis zu Kant, die Darstellung der nachkantischen philosophischen Systeme, die Logik als Theorie der Wissenschaften, die Psychologie, die Ethik und Rechtsphilosophie sowie immer wieder die Aristotelische Philosophie in Gänze. Er publizierte neben seiner Hegel-Kritik (1843) und den philologischen Arbeiten der 30er und 40er Jahre sein Hauptwerk, die „Logischen Untersuchungen“ (1. Au.: 1840; zweite Au.: 1862; dritte Au.: 1870), dann im Jahr 1860 sein Buch „Naturrecht auf dem Grunde der Ethik“ (2. Au.: 1868) und die dreibändige Ausgabe der „Historischen Beiträge zur Philosophie“ (1846, 1855, 1867) sowie die zweibändige Ausgabe der Akademiereden und weiterer Beiträge unter dem Titel „Kleine Schriften“ (1871)9. Was die Zahl der Publikationen nicht belegt, ist sein Ansehen in akademischen Kreisen und darüber hinaus. Dieses wird dokumentiert durch die Zugehörigkeit zu namhaften akademischen Gesellschaften. Ab 1840 war Trendelenburg Mitglied der von Schleiermacher gegründeten Gesellschaft „Die Griechheit“, ab 1842 gehörte er der „Gesetzlosen Gesellschaft zu Berlin“ an. Mit Richard Lepsius und Gustav Droysen gründete er 1863 die sog. „Mittwochsgesellschaft“, die über viele Jahre hinweg eine rege Vortragstätigkeit entfaltete. Großen Einuss ermöglichte Trendelenburg die Tatsache, dass er seit 1846 der „Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ angehörte und von 1847 bis zu seinem Tod als ständiger Sekretär der philosophisch-historischen Klasse tätig war. Es gibt weitere Zeugnisse seiner akademischen Wirksamkeit; so wurde er u. a. im Jahr 1861 zum auswärtigen Ehrenmitglied der „American Academy of Arts and Sciences“ und zum auswärtigen Mitglied der „Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen“ ernannt. Trendelenburg war in den Jahren 1842, 1845, 1853, 1859 und 1868 Dekan der Philosophischen Fakultät und in den Jahren 1845, 1856 und 1863 Rektor der Universität. Auch in der Politik war er um das Jahr 1848 herum tätig. So war er als Wahlmann bei den

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Zitiert nach Bratuscheck, Adolf Trendelenburg (Anm. 1), S. 389. Klaus Christian Köhnke, Verzeichnis der Veröffentlichungen von Friedrich Adolf Trendelenburg, in: G. Hartung/K. C. Köhnke (Hrsg.), Friedrich Adolf Trendelenburgs Wirkung (Eutiner Forschungen, 10), Eutin 2006, S. 271–294.

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Wahlen zur Frankfurter und Berliner verfassungsgebenden Versammlung beteiligt. Vom dritten Berliner Wahlbezirk wurde er in die Zweite Kammer gewählt, in der er sich der Fraktion der Altliberalen angeschlossen hat. Die Politik war aber nur eine kurze Episode im Leben des Gelehrten, das sich vor allem auf die akademische Tätigkeit und hier vorrangig auf die Lehre konzentriert hatte. Diese Konzentration konnte Trendelenburg annähernd vier Jahrzehnte aufbringen. Er starb am 24. Januar 1872. Drei Jahre zuvor hatte er einen Schlaganfall erlitten, von dem er sich nicht mehr erholte. Am Tag seines Todes sollte ihm der Orden „Pour le mérite“ verliehen werden.

II. Der Name Trendelenburgs ist mit der ‚Erneuerung des Aristotelismus‘ im 19. Jahrhundert verbunden. Auf den ersten Blick scheint diese Erneuerungsbewegung eine exklusive Angelegenheit der Altertumswissenschaft und Philologie (Niebuhr, Boeckh, Bekker, Brandis) gewesen zu sein, denn die Philosophiehistorie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Brucker, Buhle, Tiedemann, Tennemann, Krug u. a.) hat sich gar nicht oder wenig um die aristotelische Philosophie gekümmert10. In seinen „Logischen Untersuchungen“ von 1840 hat Trendelenburg die Grundgedanken seiner teleologischen – oder wie er es auch nennt: organischen – Weltansicht dargelegt, die in der platonisch-aristotelischen Philosophie begründet ist. Grundsätzlich geht Trendelenburg von dem Konikt zweier herrschender Weltansichten aus, die seit den Anfängen philosophischen Nachdenkens in einem dauerhaften Streit miteinander liegen. „Die eine erkennt nur die wirkende Ursache als die Macht der Welt an, die andere gründet die Herrschaft des Zwecks. Jene mag die physische (oder mechanische) Weltansicht heißen, da sie allein auf physischen Ursachen fußt; diese die organische, da in ihr die Erscheinungen Organe eines zweckvollen Gedankens werden“11. Die organische Weltansicht impliziert das Projekt, einen einheitlichen Plan des Naturgeschehens und eine diesem korrespondierende „Theorie der Wissenschaften“ zu entwerfen. Der Sache nach geht dieses Vorhaben auf Johann Erich von Berger zurück, der in seinen „Allgemeinen Grundzügen zur Wissenschaft“ (Teil 1–4, 1817–1827) ein „organisches Modell der Wissenschaften“ entworfen hat. Das Modell der Wissenschaften kann deshalb ‚organisch‘ genannt werden, weil sowohl prinzipiell als auch strukturell die Vergleichbarkeit der Dingwelt und der Gedankenwelt behauptet wird. Das strukturelle Analogiemodell beschreibt Trendelenburg, indem er über seinen Lehrer von Berger auf die Philosophie des Aristoteles zurückgreift und diese als Grundmuster teleologischen Denkens bestimmt. Das 10



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Vgl. Eduard Zeller, Die Geschichte der alten Philosophie in den letztverflossenen 50 Jahren mit besonderer Berücksichtigung der neuesten Bearbeitungen derselben, in: derselbe, Kleine Schriften, hrsg. v. Otto Leutze, Bd. 1, Berlin 1910, S. 1–85; Peter Petersen, Die Philosophie Friedrich Adolf Trendelenburgs, Hamburg 1913, S. 127–132. Friedrich Adolf Trendelenburg, Logische Untersuchungen, Bd. 2, Berlin 1840, S. 353.

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ist der Hintergrund, vor dem er die ‚Herrschaft des Zwecks‘ in der natürlichen Ordnung der Dinge und in der menschlichen Vorstellungswelt ausruft und damit die Idee einer wesensmäßigen Harmonie zwischen menschlicher Vernunft und der Natur der Dinge zum Gegenstand philosophischer Reexion über die Ergebnisse einzelwissenschaftlicher Forschung macht. „Die Wissenschaften versuchen glücklich ihre eigenthümlichen Wege, aber zum Theil ohne nähere Rechenschaft der Methode, da sie auf ihren Gegenstand und nicht auf das Verfahren gerichtet sind. Die Logik hätte hier die Aufgabe zu beobachten und zu vergleichen, das Unbewusste zum Bewusstsein zu erheben und das Verschiedene im gemeinsamen Ursprunge zu begreifen. Ohne sorgfältigen Hinblick auf die Methode der einzelnen Wissenschaften muß sie ihr Ziel verfehlen, weil sie dann kein bestimmtes Objekt hat, an dem sie sich in ihren Theorien zurechtfinde“12. Die Logik erfüllt die Aufgabe einer Theorie der Wissenschaften, insofern sie die unterschiedlichen wissenschaftlichen Methoden und die, auf den ersten Blick, vollständig disparaten Forschungsergebnisse anhand einer Analyse der in den Wissenschaften verwendeten Kategorien auf ihren gemeinsamen Ursprung zurückführt. Das organische Modell der Wissenschaften ruht auf einer organischen Weltansicht auf. Oder anders gesagt: Die Korrespondenz zwischen Naturgegenstand und Begriff wird nicht in der Naturbetrachtung aufgefunden, sondern als Deutungsmuster an diese herangetragen. „Wir wollen die Thatsachen nicht häufen, sondern deuten“13 – so heißt es in seinen „Logischen Untersuchungen“ programmatisch. „Die organische Ansicht sieht die Welt unter dem Gesichtspunkt des Zwecks und der vom Zweck durchdrungenen Kräfte wie einen lebendigen Leib. ... Der Gedanke ist nicht nachgeboren, wie bei der physischen Ansicht, sondern der Schöpfer selbst, allmächtig von Anfang. Die Wahrheit jedes Dinges ist ein Strahl dieses Gedankens; wie den Dingen ein Begriff zu Grunde liegt, so sollen sie diesem Begriff genügen. Die Wahrheit zeichnet sich auf diese Weise in den Gestalten der Schöpfung, und wir betrachten sie in ihr andächtig und fromm. Wie sich in dem wunderbaren Bau der Glieder und Organe ein Gedanke offenbart, ,von welchem uranfänglich alle Probleme der Physik gelöst sind‘ ... so wird dieser Gedanke das absolute Prius der natürlichen und sittlichen Welt. Die Nothwendigkeit der Welt ist nun nicht mehr blind, wie der Zufall, sondern bewußt, wie die Vernunft; und die menschliche Vernunft ist nun nicht mehr in der Welt wie ein Fremdling, sondern wie der erstgeborene Sohn im Hause des Vaters; sie ist nun nicht mehr, wie eine schwächliche Consonanz, die unfehlbar im Brausen des Meeres und Windes untergeht, sondern wie ein Einklang in eine größere Harmonie“14.

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Friedrich Adolf Trendelenburg, Logische Untersuchungen, Bd. 1, Berlin 1840, S. VI. Friedrich Adolf Trendelenburg, Logische Untersuchungen, Bd. 2, 3., vermehrte Au. Leipzig 1870, S. 14. Trendelenburg, Logische Untersuchungen (Anm. 12), S. 357.

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Die Darstellung der Naturentwicklung offenbart, dass die aus der bloßen Entwicklung entspringenden Kategorien nicht die Erklärung ihres Gebrauchs mitliefern. Bereits in der Anschauung der Natur muss nach Trendelenburgs Ansicht eine ‚hervorbringende Ursache‘, ein immanenter Naturzweck mitgedacht werden. Diese in der Entwicklung eines jeden Organismus beobachtbare Tendenz auf die Realisierung des Ganzen wird in der teleologischen Weltansicht erst erklärbar. Der physischen Naturbeschreibung nach dem Muster der Kausalität wird demnach eine metaphysische Sinndeutung der Naturentwicklung übergeordnet. Wo diese Überzeugung fehlt, da fehlt auch die Möglichkeit, Naturentwicklung sinnvoll begreifen zu können. Im Gegensatz zur Naturforschung seiner Zeit, die sich schon vor Darwin einer vorrangig deskriptiven Naturbetrachtung zuwendet, muss nach Trendelenburgs Auffassung an die Analyse der Tatsachen der metaphysische Grundgedanke herangetragen werden, dass die Natur ein System von Zwecken ist. Dieser Grundgedanke erlaubt es, die Theorien der physischen, organischen und ethischen Welt mit der Theologie zu versöhnen. Denn „alle teleologischen Systeme sind eine erweiterte Analogie; sie denken die ganze Welt nach der Analogie ihrer praegnantesten Theile“15. Das meint, dass die physische Welt nach Analogie der organischen Welt, die Entstehung des Lebendigen, des Organischen nach der Analogie des bildenden menschlichen Gedankens und letzterer wiederum nach Analogie mit einem ‚ursprünglichen Gedanken‘ gedacht wird. Demgegenüber beweist die anti-teleologische Geisteshaltung und Forschungsrichtung ihre systematische Schwäche, insofern sie auf allen Ebenen der Argumentation auf eine ‚Mißhandlung des Zweckes‘ hinausläuft – ob bei Spinoza, Kant oder Herbart. Das Argument soll ein logisches sein, zeigt sich aber als ästhetisches: „Dem menschlichen Gedanken erscheint, wenn er sich besinnt, die Alleinherrschaft der nackten Kräfte, die physische Weltansicht öde“16. Insbesondere bei Kant („Kritik der Urteilskraft“) zeigt sich mit letzter Konsequenz, was es heißt, den Zweck nur als regulatives Prinzip der Naturerkenntnis aufzufassen. Die Zweckmäßigkeit der Natur kann hier nur als ein subjektives Vernunftprinzip vorgestellt werden, was zur Folge hat, dass der menschliche Verstand in theoretischer wie in praktischer Hinsicht einer konstitutiven Standpunktlosigkeit überlassen wird. Das Argument Trendelenburgs ist anthropologisch, weil es auf den Einklang von Erkennen, ästhetischer Urteilskraft und Lebensführung abzielt: „So wandelt denn der erkennende Mensch herum, zwar von den Dingen nach allen Seiten abgeschnitten, doch mit sich selbst in ge-

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Trendelenburg, Ueber den letzten Unterschied der philosophischen Systeme, in: derselbe, Historische Beiträge zur Philosophie. Bd. 2: Vermischte Abhandlungen, Berlin 1855, S. 1–30, hier S. 24 f. Ebenda, S. 28–29. Vgl. Gerald Hartung, Von einer Mißhandlung des Zweckbegriffs. F. A. Trendelenburgs Kritik der praktischen Philosophie Herbarts und eine Anmerkung zur Lehre Darwins, in: A. Hoeschen/L. Schneider (Hrsg.), Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 83–105.

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setzmäßigem Einklang. Soll es denn aber genug sein, wenn eine Uhr nur mit sich selbst in regelrechtem Gange stimmt, einerlei, ob sie nach der Sonne geht, der grossen Weltenuhr?“17 Trendelenburg vertritt die dezidierte Ansicht, dass die Ausdifferenzierung von Mensch und Natur, ethischer und physischer Welt, von Naturphilosophie und Naturforschung und die damit einhergehende Missachtung teleologischen Denkens ein zentraler Aspekt der Verwirrung im Denken seiner Zeit ist. Dabei ist er sich durchaus bewusst, dass ein unmittelbares Anknüpfen an die aristotelische Philosophie naiv wäre. Zwar sind es seiner Auffassung nach genuin aristotelische Denkkategorien, die für „Jahrhunderte eine bestimmende Nothwendigkeit in sich trugen“18 und für die gegenwärtige Aufgabe, den Einzelwissenschaften die Philosophie als Theorie der Wissenschaften an die Seite zu stellen, eine fundamentale Bedeutung haben. Doch ist die organisch-teleologische Weltansicht von Aristoteles lediglich begründet und befestigt worden, siegreich wurde sie erst durch den christlichen Glauben. Dennoch finden wir bei Trendelenburg keine Restitution eines genuin christlichen Aristotelismus – und es bleibt offen, ob dies aus ‚protestantischer Befangenheit‘ (so Otto Willmann) oder aus Anerkennung einer in der Spannung von Säkularisierungsdynamik und Weltanschauungskämpfen stehenden Moderne geschieht. Die Weltansicht, in deren Namen Trendelenburg gegen den physischen Reduktionismus streitet, setzt sich aus einem aristotelischen Philosophiekonzept (Logik als Theorie der Wissenschaften) und christlicher Theologie (Logische Kategorien als Emanationsformen des göttlichen Geistes) zusammen. Beides ist nicht voneinander zu trennen, da beide Bereiche sich wechselseitig abstützen: Der letzte Grund für die Geltung unserer Denkkategorien hat einen theoretischen und einen praktischen Aspekt. Einerseits stehen sie in Analogie zum ursprünglich-göttlichen Gedanken, andererseits bestätigt die unabweislich plausible Anwendbarkeit ebendieser Kategorien ihre Herkunft. Sie übersteigen unsere Vorstellungen von Weltimmanenz und weisen die Annahme zurück (Schöpfungsgeschichte) und auf die Forschungshypothese (Evolutionsbiologie, evolutionäre Erkenntnistheorie) voraus, dass das Kantische Apriori der Erkenntnis ein naturgeschichtliches Aposteriori, Geist ein spätes Produkt der Naturgeschichte sei. Hier kommt es darauf an, wie wir ‚Natur‘ verstehen. Trendelenburg plädiert vehement gegen einen naturalistischen Reduktionismus, wie er von der modernen Biologie vertreten wird. Es gibt gute Gründe, im Hinblick auf Trendelenburg davon zu sprechen, dass nicht seine Weltanschauungslehre, sondern „sein Aristotelismus ... der eigentlich ‚zeitgemäße‘ Teil seines Philosophierens“19 ist, aber für ihn selbst existiert diese Trennung nicht. Sein Aristotelismus ist integrativer Bestandteil eines wissenschaftstheoretischen und -politischen Programms, das als Antwort auf die Ausdifferenzierung des physischen, organischen, ethischen

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Trendelenburg, Logische Untersuchungen (Anm. 11), S. 48. Trendelenburg, Geschichte der Kategorienlehre. 1. Abhandlung, in: derselbe, Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 1, Berlin 1846, S. 1. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus (Anm. 2), S. 41.

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und göttlichen Prinzips gedacht ist. Ziel dieses Programms ist es, die unterschiedenen, füreinander heterogenen Weltansichten auf einen gemeinsamen Grund zu verweisen und damit die Zerfaserung der menschlichen Welt aufzuhalten. Die theoretischen Überlegungen werden von Trendelenburg in seiner praktischen Philosophie ergänzt. In zwei umfangreichen Akademieabhandlungen über „Herbart’s praktische Philosophie und die Ethik der Alten“ (1856) und „Der Widerstreit zwischen Kant und Aristoteles in der Ethik“ (1867) hat Trendelenburg den geistesgeschichtlichen Hintergrund seiner Rekonstruktion der Ethik vorgelegt, in deren Zentrum die Auseinandersetzung mit der Kantischen Lehre steht, weil seiner Ansicht nach mit dieser eine unheilvolle Grundtendenz der Zeit einen wirkungsmächtigen Ausdruck erhält: Die „Gedanken Kants sind so verbreitet, daß sie wie Grundgedanken in der Zeit mitwirken. Sie vollziehen die Trennung des Rechts vom Sittlichen, [denn] Kant [geht] von den Einzelnen aus, und nicht von einem höheren Ganzen, in welchem der Einzelne nur Glied wäre; er geht von der Willkür des einen und der Willkür des andern aus wie von Kräften, die aus sich sind und in sich bestehen, aber nicht von der Idee eines grössern Lebens, in deren Dienst die Kräfte erst die rechte Bedeutung empfangen; er fasst die Einzelnen atomistisch und nicht organisch; denn kein Gedanke ist ihm Ursprung, sondern das Ganze entsteht ihm erst hintennach“20. Trendelenburg sieht Kants Bedeutung darin, dass er für die Suche nach dem Prinzip der Ethik alle bloß empirischen Ansätze erledigt und für systematische Klarheit gesorgt habe. Doch Kant ist in seinem Bestreben, den reinen Gesetzeswillen zum moralischen Prinzip zu erheben, zu weit gegangen. Seine Behauptung, dass alle materialen Prinzipien des Willens unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe gehören, erscheint Trendelenburg unhaltbar. Denn „wo in dem inneren Wesen und Zweck des Menschen das Princip für das Wollen und Handeln liegt ... da ist ein solches materiales, praktisches Princip von dem Princip der Selbstliebe und der eigenen Glückseligkeit weit entfernt“21. Das materiale, praktische Prinzip des Willens, von dem Trendelenburg spricht, muss in der Perspektive auf den ganzen Menschen, seine Wesensstruktur und den in ihm wirkenden Zweck, seine faktischen Begehrungen und seine geschichtliche Entwicklung gewonnen werden. Es betrifft nicht das Kantische Abstraktum des Vernunftwesens, sondern den Menschen seiner realen Natur nach. Was jedoch reale Natur heißt, das kann die Ethik nur auf dem Weg einer metaphysischen Rückversicherung und psychologischen Erläuterung der menschlichen Natur verhandeln. Vor allem in der Frage nach der systematischen Verknüpfung der einzelnen Wissenschaftsbereiche – Metaphysik und Psychologie –, deren konstitutive Bedeutung für die Ethik kaum zu überschätzen ist, treten nach Trendelenburgs Auffassung die Ungereimtheiten

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Friedrich Adolf Trendelenburg, Die sittliche Idee des Rechts, in: derselbe, Kleine Schriften, Bd. 2, Leipzig 1871, S. 1–23, hier S. 3 f. Trendelenburg, Der Widerstreit zwischen Kant und Aristoteles in der Ethik, in: derselbe, Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 3, Berlin 1867, S. 171–214, hier S. 184 f.

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der Philosophien Kants und Herbarts sowie die Notwendigkeit eines Rückgriffs auf die Aristotelische Ethik hervor. Zugleich fällt auch der Grundmangel der Lehre Herbarts ins Auge, der im Widerstand gegen eine systematische Einheit der Wissenschaften begründet ist. „Herbarts Philosophie, welche eine Bearbeitung der Begriffe sein will, will keine Einheit des Princips, welche das Ganze und seine Theile beherrsche, sondern setzt bewusst und absichtlich an verschiedenen Punkten verschieden an. ... Es wird dadurch für die praktische Philosophie eine Selbständigkeit erreicht, welche, in sich selbst gegründet, nun nach Logik und Metaphysik und Psychologie gar nicht zu fragen braucht. So sind die Theile in Herbarts System abgeschnitten und das System selbst trägt die Disciplinen nur wie zusammenhanglose Gruppen der Begriffe in sich“22. Der Vorteil dieser Konzeption, der in der Klarheit der Grundbegriffe für die einzelnen Wissenschaften liegt, ist von Herbart jedoch um einen hohen Preis erkauft und zeigt sich erst im Vergleich zum aristotelischen Konzept der Wissenschaftstheorie. Vor allem in „Ethischen Untersuchungen“ wird deutlich, wie formal und blutarm sowohl die Kantische als auch die Herbartsche Lehre bleiben, weil sie ‚die nothwendige und bleibende Natur des Menschen und der Dinge‘ und damit auch die organische Ansicht der Wissenschaften nicht in den Blick bekommen. Indem Trendelenburg versucht, in seiner organischen Weltansicht alles in eine Perspektive zurückzuführen, wendet er sich explizit gegen den von Herbart eingeleiteten Ausdifferenzierungsprozess der Wissenschaften. Der Ethik kommt eine Schlüsselstellung zu. Sie ist der systematische Ort, wo die losen Fäden der Einzelwissenschaften verknüpft werden und sie ist in erkenntnistheoretischer Absicht die Mitte zwischen Metaphysik als Begründung und Psychologie sowie Anthropologie als Erläuterung des teleologischen Grundgedankens. „Die Ethik [wird] es nie verläugnen dürfen, daß sie nur in Übereinstimmung und Wechselwirkung mit beiden Wissenschaften ist. Noch nie sind zerschnittene Principien, welche eine genetische Erkenntnis unmöglich machen, der Wissenschaft überhaupt und den einzelnen Disciplinen heilsam gewesen. Die Ethik, welche der Metaphysik enträth, büsst an Tiefe im Idealen und die Ethik, welche sich der anthropologischen Begründung enthält, an Anwendbarkeit und Befestigung im Realen ein“23. Der Verweis auf die Stellung der Ethik im Organismus der Wissenschaften ist die Basis für Trendelenburgs Kritik an der modernen Rechts- und Moralphilosophie, die er in seinem zweiten Hauptwerk „Naturrecht auf dem Grunde der Ethik“ (1860) entwickelt, denn auch hier geht es um eine Kritik am analytischen Geist, der die bestehenden Einheiten und Ordnungssysteme zergliedert24. Eine vertiefende Analyse des Kantischen Werkes zeigt, was es für die Ethik heißt, dass sowohl ‚Tiefe im Idealen‘ als auch ‚Befestigung im Realen‘ fehlen. Von Aristoteles hingegen können wir lernen, dass die Ethik als Wissenschaft 22



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Trendelenburg, Herbart’s praktische Philosophie und die Ethik der Alten, in: derselbe, Historische Beiträge zur Philosophie (Anm. 21), S. 122–170, hier S. 144 f. Ebenda, S. 161. Ruth Antonia Weiss, Friedrich Adolf Trendelenburg und das Naturrecht im 19. Jahrhundert (Münchner Historische Studien. Abteilung Neuere Geschichte, 3), Kallmünz/Opf. 1960.

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auf einem umfassenden Bild des idealen und realen Menschen aufruht und demgemäß in Wechselwirkung mit Metaphysik und Psychologie stehen muss. Beide Aspekte sind nicht voneinander zu trennen25. Diese Prämissen beherrschen die Darstellung in Trendelenburgs Analyse des Rechts. Wie die Ethik bedarf auch das Naturrecht, das selbst wiederum ein Anwendungsbereich ‚Ethischer Untersuchungen‘ ist, einer metaphysischen Absicherung in einer zugrunde liegenden Idee und einer psychologischen Applikation auf die Lebensverhältnisse sowie der Logik als Methodenlehre des Rechts. Trendelenburg stellt die neuzeitlichen Naturrechtslehren von Hobbes bis Kant im Einzelnen vor und kritisiert an ihnen die Trennung des Rechtlichen und Sittlichen. Die Pointe seiner Kritik lautet: Diese Trennung beruht auf einer abstrakten und oberächlichen Betrachtung des Eigentumsrechts und auf einer unzulässigen Überdehnung eines hier vermeintlich gefundenen Prinzips. Diese Betrachtung ist deshalb oberächlich, weil sie an den wirklichen Lebensverhältnissen der Menschen vorbeigeht. In der sozialen Wirklichkeit gibt es keinen isolierten Eigentümer und kein vereinzeltes Eigentum, sondern immer Wechselverhältnisse zwischen den Menschen. Innerhalb der „Verhältnisse des Verkehrs, der Familie, der Gemeinde, des Staats ... sind ... die Rechte durch Pichten bedingt und um der Pichten willen da“26. Auch in anderen Rechtsverhältnissen – Strafrecht, Rechtspege usw. – zeigt sich, dass es nicht um bloße Rechtlichkeit geht, so dass wir von einem inneren Verhältnis des Rechts zum Sittlichen ausgehen müssen. Es gibt keine Rechtsbindung, wenn diese denn mehr als das Ergebnis bloß physischen Zwangs sein soll, die nicht aus ethischen Prinzipien deduziert werden kann und sich in einzelnen Phänomenen des Rechtslebens – z. B. der Gesinnung, der Gewissenhaftigkeit, der Schuldfähigkeit usw. – ausdrückt. Daraus folgt für Trendelenburg, dass eine ethische Begründung des Rechts eine schlichte Selbstverständlichkeit ist, denn hier hinkt die Theoriebildung der Praxis nur hinterher. „So muss denn die Scheidung des Legalen und Moralischen, des Gesetzlichen und Sittlichen, welche zu äusserlicher Gesetzespünktlichkeit der Pharisäer führt, aufgegeben werden. Die falsche Selbständigkeit des Juristischen, welche als ein Fortschritt der Wissenschaft galt, hat nicht nur das Recht in der Theorie verzerrt, sondern auch im Leben das Recht seiner Würde entkleidet, die Vorstellungen von einem Mechanismus des Rechts befördert und die Rechtsbegriffe entseelt“27. Trendelenburg führt den Kampf gegen eine Weltanschauung, die sich seit der Frühen Neuzeit allmählich stabilisiert hat. Der Geist der Trennung, der das Einzelne ‚atomistisch und nicht organisch‘ auffasst, hat sich im deutschen Rechtsleben von Thomasius bis Kant und Fichte durchgesetzt, aber es gibt eine ganze Reihe von Gegnern dieser Weltsicht, die auf unterschiedliche Weise das Naturrecht in die Ethik zurückführen. Die Aufzählung der 25

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Eduardo Fugali, Anima e Movimento. Teoria della conoscenza e psicologia in Trendelenburg, Milano 2002. Friedrich Adolf Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, Leipzig 1860, S. 19. Ebenda, S. 20.

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Gewährsleute umfasst Platon und Aristoteles, Leibniz und von den Autoren seiner Gegenwart – hier aber mit Einschränkungen – Karl Christian Friedrich Krause, Heinrich Ahrens, Karl David August Röder, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Julius Stahl, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Johann Ulrich Wirth, Heinrich Moritz Chalybäus und Immanuel Hermann Fichte. Trotz weit reichender Differenzen im Detail gibt es ein gemeinsames Programm, das gegen den Prozess der Ausdifferenzierung von Recht und Moral gerichtet und dezidiert anti-modern ist. „Die Trennung des Juridischen und Ethischen, des Legalen und Moralischen ist modern; Plato und Aristoteles behandeln beides in dem Gedanken der Einheit“28 – so der lakonische Hinweis Trendelenburgs auf einen vermeintlichen Fortschritt im philosophischen Denken. Der Rückgang auf die Philosophie der Antike dient der Absicherung des eigenen Konzepts; zugleich verspricht dieser Rückgang im Sinne einer Erneuerung antiken Denkens auch eine Orientierungshilfe in unübersichtlichen Zeiten. Von Aristoteles zu lernen heißt, die Menschenwelt und ihre Ordnungssysteme (Sprache, Sitte, Recht usw.) unter dem Gesichtspunkt der Einheit zu erfassen. Die Art und Weise des Rückgangs auf die Philosophie der Antike ist in groben Zügen bereits dargestellt worden. Die Freilegung der ‚Keime für die Ethik‘ greift auf ein metaphysisches Fundament in Gestalt seiner organischen oder teleologischen Weltanschauung zurück und stellt diese in ihrer Entfaltung dar, d. h. anhand der psychologischen Entwicklung des Menschen. Beide Aspekte stützen sich wechselseitig, denn als inneren Zweck der Entwicklung des Menschen bestimmt Trendelenburg die Idee des Menschlichen, die wiederum den gesamten Entwicklungsgang bestimmt. Entwicklung selbst wird als organisch vorgestellt und in ihrer Allgemeinheit als Grundmuster der Natur betrachtet. Der Mensch steht einerseits in der Teilhabe an dieser Allgemeinheit, andererseits drückt sich aber in seiner Tätigkeit ein besonderes Moment aus: Die Vernunfttätigkeit ruht auf dem Boden einer allgemeinen organischen Tätigkeit auf und erhebt den Menschen aus dieser Bedingtheit. „Im Organischen der Natur erscheint ein innerer Gedanke als der Trieb zum Dasein und ebenso im Menschen zunächst ein Begehren als sein Grundwesen. Dort ist der Gedanke sich selbst verborgen, höchstens blind empfunden; im Menschen gelangt er zum Selbstbewusstsein. ... Während das Organische in der Natur von dem ihm selbst fremden Gedanken gebunden ist, so erscheint das Ethische, indem der Mensch den schöpferischen Gedanken seines Wesens erkennt und will, als das freigewordene Organische“29. Das ist nach Trendelenburgs Auffassung die tiefe ethische Einsicht, die schon in der ‚Anschauung der Alten‘ zum Ausdruck kommt. Sie haben erkannt und für alle Zeiten diesen Grundgedanken geprägt, dass die Idee des Menschlichen sowohl das Prinzip der Ethik als auch das Muster für den Entwicklungsprozess der Menschheit liefert. Während Aristoteles die Naturseite des Menschen zureichend bestimmt hat, indem er die Verwirklichung des ethischen Prinzips an die natürliche Gemeinschaft der Polis knüpft, geht Trendelenburg 28 29



Ebenda, S. 20 f. Ebenda, S. 40.

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einen Schritt weiter: Der Mensch ist ein historisches Wesen und die Gemeinschaft eine historische Gestalt. Im Wechselverhältnis dieser Momente, die zugleich der natürlichen und der geschichtlichen Welt angehören, findet ein Formungsprozess statt; dieser bleibt – mit Goethe gesprochen – ‚in allem Wandel der Gestalten‘ dem inneren Zweck von Entwicklung überhaupt, nämlich der Verwirklichung der Idee des Menschen unterstellt. Weil der Mensch in einen Prozess geschichtlicher Umgestaltungen gestellt ist, muss er seine Aufgabe umso dringlicher erfüllen; das heißt sich zu „ethisiren“ und seinen Lebensverhältnissen seine „Form ... aufzuprägen“30. Hier nun zeigt sich das moderne Gesicht der Ethik Trendelenburgs, die den Menschen als Formgeber seiner eigenen, d. h. kulturellen Welt begreift. Der Prozess der Menschwerdung wird als sukzessive Ablösung von der ersten Natur begriffen, die in einer zweiten Natur münden wird. Da Kultur so als ‚natura altera‘ verstanden wird, verweist Trendelenburgs dynamischer Aristotelismus, der die Formen des Menschen in die geschichtliche Entwicklung einbezieht, auf die Theorien der Moderne, die von seinem Schüler Wilhelm Dilthey und in dessen Nachfolge weiterentwickelt wurden.

III. Die Wirkungsgeschichte Trendelenburgs ist verschlungen, hat er doch keinem seiner Schüler ein ‚System‘ übergeben, das es auszubauen gilt31. Die erste Etappe des Weges führt, pointiert gesagt, von einer synthetisch-organischen zu einer konstruktiv-teleologischen Weltanschauung, wie sie auf je unterschiedliche Weise von der Schülergeneration eines Wilhelm Dilthey, Rudolf Eucken und Hermann Cohen vertreten wird. Das dieser Weltanschauung zugrunde liegende aristotelische Wissenschaftskonzept wird dabei in die Grenzen einer Theorie der geistigen Welt transformiert und dort auf eine neue Weise formuliert. Prägnant hat Wilhelm Dilthey diese Perspektive skizziert: „Ehedem suchte man, von der Welt aus Leben zu erfassen. Es gibt aber nur den Weg von der Deutung des Lebens zur Welt. Und das Leben ist nur da in Erleben, Verstehen und geschichtlichem Auffassen. Wir tragen keinen Sinn von der Welt in das Leben. Wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen“32. Mit diesen Überlegungen trägt Dilthey auf den ersten Blick gesehen die letzten Fundamente der organischsynthetischen Weltanschauung seines Lehrers Trendelenburg ab. Durch die Trennung von 30



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Ebenda, S. 40 f: „Die wachsende Verwirklichung der Idee des Menschen ist der Impuls der Weltgeschichte – und der einzelne ethisirt sich nur in diesem Zusammenhang. ... Dies historische Material ist stets darauf aus, mit der Gewalt seiner Eindrücke und Einüsse den einzelnen Menschen zu formen, aber die ethische Aufgabe des Einzelnen bleibt, im Anfang der Dinge wie mitten im Lauf der Geschichte, in beschränkten wie in grossen Verhältnissen, wie die Eine, an dem gegebenen Stoff das in der Idee sich immer gleiche menschliche Wesen auszuleben und ihm die edle Form desselben aufzuprägen.“ Vgl. die Abhandlungen in Hartung/Köhnke (Hrsg.), Friedrich Adolf Trendelenburgs Wirkung (Anm. 9). Wilhelm Dilthey, Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, in: derselbe, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1981, S. 364.

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Natur- und Geisteswissenschaften, denen nicht mehr ein allgemeines, realontologisches Prinzip zu Grunde gelegt oder eine allgemeine, universelle Weltanschauung übergeordnet wird, wird die ‚Ethik der immanenten Teleologie‘ allerdings nicht radikal destruiert, sondern in eine Theorie des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens, eine Theorie der geistigen Welt transformiert. Diese allein stellt einen notwendigen Zweckzusammenhang dar, während außerhalb ihrer – im Naturgeschehen, wie es von Darwin beschrieben wird – ein für uns sinnindifferentes Naturgeschehen waltet33. Wir stehen vor einer entscheidenden Weichenstellung: „Entweder Teleologie der Natur und des Seienden überhaupt, oder Teleologie des Menschen“34 – auf diese Formel hat Nicolai Hartmann eine Diskussion gebracht, die in den Schriften der Schüler-Generation Trendelenburgs einsetzt und auch heute noch nicht beendet ist. Wer so argumentiert, der sucht die Beziehung zwischen den einzelnen sozial- und geistesgeschichtlichen Daten und dem Ganzen der geistigen Welt im konstruktiven Zugriff von allen Momenten des Zufalls, der Singularität und Heterogenität zu reinigen. Der Philosophie als Theorie der Geisteswissenschaften fällt dabei die Aufgabe zu, die Einheit der geistigen Welt in der Darstellung des Kulturgeschehens als eines Zweckzusammenhangs nicht vorzufinden oder aufzudecken, sondern erst herzustellen. Von diesen Überlegungen führt eine Linie ins 20. Jahrhundert zu einem eher konstruktiv-ontologischen (Nicolai Hartmann) oder konstruktiv-idealistischen Aristotelismus (Ernst Cassirer) innerhalb der Theorie des Geistes und Kulturphilosophie. So spricht Ernst Cassirer davon, dass eine Theorie vom Menschen nur dann einem philosophischen Anspruch gerecht wird, wenn sie einerseits die Grundstruktur menschlicher Ausdrucksleistungen – Sprache, mythisches Denken, ästhetische Wahrnehmung, Erkenntnis usw. – aufhellt und wenn sie andererseits auch in der Lage ist, uns den Wirkungskreis ebendieser Leistungen als ein ‚organisches Ganzes‘ darzustellen35. Festzuhalten bleibt, dass die Aristotelischen Studien in ihrer philologischen Grundlegung und weltanschaulichen Ausdeutung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Rahmen für eine wissenschaftstheoretische Richtung liefern, die zugleich fortschrittlich und konservativ in die wissenschaftstheoretischen und -politischen Auseinandersetzungen eingreift: modern, weil sie den Prozess der Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften von Seiten der Philosophie weder ignoriert noch bekämpft, sondern ihn anerkennt (was außerhalb nur im amerikanischen Pragmatismus geschieht36); und konservativ, weil sie die Einseitigkeiten und Schwächen dieses Prozesses benennt und mit Hilfe einer ‚harmonisch vereinigenden Geistesrichtung‘ (Eucken) einzugrenzen sucht. 33



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Vgl. Gerald Hartung, Wozu Ethische Untersuchungen? Trendelenburgs Grundlegung einer Theorie der menschlichen Welt, in: Hartung/Köhnke (Hrsg.): Friedrich Adolf Trendelenburgs Wirkung (Anm. 9), S. 83–103. Nicolai Hartmann, Ethik, 2. Au. Berlin/Leipzig 1935, S. 185. Ernst Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven/London [1944], ND 1994, S. 68. George Gershon Rosenstock, Friedrich Adolph Trendelenburg – Forerunner to Dewey, Carbondale 1964.

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Trendelenburgs Gedanke eines Gesamtzwecks, der das Wissen organisiert, die Wissenschaften strukturiert und den Einzelmenschen als organisches Glied einer Gemeinschaft erfasst, wird als die große Leistung einer Rekonstruktion Aristotelischer Philosophie anerkannt. Die Philosophie des Aristoteles hat nach Trendelenburgs Ansicht für unsere Gegenwart eine kaum zu überschätzende Bedeutung, weil sie drei Bedingungen erfüllt: sie wird den Anforderungen zeitgemäßen Philosophierens im Gespräch mit den Einzelwissenschaften gerecht; sie gibt das Muster vor, wie Philosophie als Theorie der Wissenschaften dennoch eine prägende Funktion im Wissenschaftsdiskurs ausüben kann; und sie verhandelt die Grundbegriffe aller Wissenschaften auf einem hohen systematischen Niveau, so dass ein Rekurs auf die aristotelische Philosophie notwendig ist, um mit der eigenen Denktradition ins Gespräch zu kommen. Die Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, in der Trendelenburg als Philosophiehistoriker, Wissensorganisator und Konstrukteur eines Gesprächs zwischen Philosophie und den Natur- und Kulturwissenschaften eine angemessene Position zugeteilt wird, ist noch nicht geschrieben. Diese Geschichte wird, so ist zu mutmaßen, den ‚Erzieher großen Stils‘ (Eucken), der seinen Gesprächspartner in der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition zum eigenen Denken anregt, herausstellen. Dafür gibt es eine Reihe bemerkenswerter Zeugnisse. Willibald Beyschlag, späterhin Professor für praktische Theologie an der Universität Halle-Wittenberg beschließt seine Erinnerungen an Trendelenburgs Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie mit den Worten: „eine Schule des Denkenlernens und ein großes Stück Kulturgeschichte, aber keine Offenbarung der ewigen Wahrheit“37. Rudolf Eucken, der Professor für Philosophie in Basel und Jena wurde und den Nobelpreis für Literatur (1908) erhielt, kam im Jahr 1866 zum Studium nach Berlin. Aus dieser Zeit berichtet er: „Am meisten gespannt war ich auf Trendelenburg ... . Er empfing mich sofort in sehr freundlicher, ja herzlicher Weise, unterhielt sich eingehend mit mir über meine Arbeiten und gab mir wertvolle Ratschläge für die praktischen Aufgaben. ... Seine aristotelischen Übungen suchten die Schüler zu selbständigen Forschern zu erziehen. Eine große Anzahl bedeutender Staatsmänner und Gelehrter sind aus dieser Schule hervorgegangen, so z. B. der Reichskanzler Freiherr von Hertling, in Amerika Präsident Porter von Yale, in Rumänien der Ministerpräsident Majorescu. ... Das Ganze seiner Persönlichkeit und seines Schaffens gab seinem Streben eine innere Wärme, eine geistige Vornehmheit, eine innere Wucht; er war kraft seiner universalen und ethischen Art ein Erzieher großen Stils für ganze Generationen“38. Auch Friedrich Paulsen, seit 1894 ebenfalls Ordinarius für Philosophie und Pädagogik an der Berliner Universität, erinnert sich an den Besuch von „Trendelenburgs philosophische[n] Übungen ... : ich kam hier endlich in ein richtiges und fruchtbares Ar-

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Willibald Beyschlag, Aus meinem Leben. Bd. 1: Erinnerungen und Erfahrungen der jüngeren Jahre, Halle 1896, zitiert nach: Aus der Studienzeit. Ein Quellenbuch zur Geschichte des Deutschen Universitäts-Unterrichts in der neueren Zeit, aus autobiographischen Zeugnissen zusammengestellt von Julius Ziehen, Berlin 1912, S. 146. Eucken, Lebenserinnerungen (Anm. 7), S. 38 f.

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beiten. Ich hatte eine tägliche Aufgabe und ein nächstes Ziel: die Aufgabe, die aristotelische Philosophie gründlich zu studieren, das Ziel: die Anerkennung dieses Lehrers zu erwerben. Denn das empfand ich gleich: er war ein Lehrer, dem es ernst um die Sache war und der es gut mit seinen Schülern meinte“39. Eucken und Paulsen vertreten dann auch bei den Feierlichkeiten zum hundertsten Geburtstag des Gelehrten, der im Jahr 1902 – von Trendelenburgs Sohn Friedrich organisiert – in Eutin gefeiert wird, die Schülergeneration. Euckens Festvortrag wurde in der „Deutschen Rundschau“ vom Dezember 1902 abgedruckt40. Ein Jahr später ist es noch einmal Wilhelm Dilthey, der sich anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem eigenen siebzigsten Geburtstag an den „Lehrer und Freund Trendelenburg, der auf mich den größten Einuß gewann[, erinnert]. Von seiner Machtstellung damals macht man sich heute keine Vorstellung mehr“41. Mit dieser Einsicht endet die explizite Wirkungsgeschichte des wohl einußreichsten deutschen Philosophen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine Gesamtschau seines Wirkens liefert der große Historiker Adolf Harnack in seiner „Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“. Hier findet sich das Urteil eines unparteiischen Nachgeborenen: „Am Anfang seiner Laufbahn, im Zeitalter der philosophischen Vermessenheit, hat er durch seine Kritik Hegel’s die Philosophie zu ernster Selbstbesinnung geführt; am Ende seines Lebens musste er den ernüchterten und alle Philosophie ablehnenden Zeitgenossen das Wort zurufen: ‚Die Aufgabe bleibt‘, nämlich ‚die Philosophie als diejenige Wissenschaft, welche in der Theilung der Arbeit den Blick des Werkmeisters wahrt, den Blick für das Ganze in den Theilen, als die architektonische Wissenschaft.‘ ... Die Haltung, die er eingenommen hat, war für den Gang der Geschichte der Philosophie in Deutschland von hoher Bedeutung. Wenn heute – nach dem Zeitalter der grossen Fluth und nach ihrer Vertrocknung – neben der auf Induction und Experiment sich gründenden Psychologie und neben den erkenntnistheoretischen Untersuchungen noch immer die Zusammenfassung der Einzelwissenschaften und der Nachweis ihres Grundes und Zieles als Aufgabe der Philosophie gilt, so gebührt Trendelenburg ein wesentliches Verdienst daran“42.

Werke Aristotelis de anima libri tres. Ad interpretum graecorum auctoritatem et codicum fidem recognovit commentariis illustravit, Jena 1833. – Logische Untersuchungen, 2 Bde., Berlin 1840 (3. Au. Leipzig 1870). – Elementa logices Aristotelicae. In usum scholarum ex Aristotele excerpsit convertit illustravit, Berlin 1842 (5. Au. Berlin 1862). – Die logische Frage in Hegel’s System. 39



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Friedrich Paulsen, Adolf Trendelenburg. Ein Blatt persönlicher Erinnerung, in: Berliner Akademische Wochenschrift, Sommer-Semester 1907, Nr. 24 (29. April 1907), S. 187. Rudolf Eucken, Zur Erinnerung an Adolf Trendelenburg, in: Deutsche Rundschau 29/3 (Dezember 1902), S. 448–458. Wilhelm Dilthey, Rede zum 70. Geburtstag, in: derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig/Berlin 1924, S. 7 f. Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearbeitet, Erster Band, Zweite Hälfte, Berlin 1900, S. 927 f.

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Zwei Streitschriften, Leipzig 1843. – Historische Beiträge zur Philosophie, 3 Bde., Berlin 1846, 1855, 1867. – Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, Leipzig 1860 (2. Au. 1868). – Kleine Schriften, 2 Bde., Leipzig 1871.

Literatur Ernst Bratuscheck, Adolf Trendelenburg, in: Philosophische Monatshefte 8 (1872), S. 1–14; 305–510. – derselbe, Adolf Trendelenburg, Berlin 1873. – Wilhelm Dilthey, Rede zum 70. Geburtstag, in: derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig/Berlin 1924, S. 7–8. – Rudolf Eucken, Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen Lebens, 2., erweiterte Au. Leipzig 1922. – derselbe, Zur Erinnerung an Adolf Trendelenburg, in: Deutsche Rundschau 29/3 (Dezember 1902), S. 448–458. – Eduardo Fugali, Anima e Movimento. Teoria della conoscenza e psicologia in Trendelenburg, Milano 2002. – Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearbeitet, Erster Band, Zweite Hälfte, Berlin 1900. – Gerald Hartung, Von einer Mißhandlung des Zweckbegriffs. F. A. Trendelenburgs Kritik der praktischen Philosophie Herbarts und eine Anmerkung zur Lehre Darwins, in: A. Hoeschen/L. Schneider (Hrsg.), Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 83–105. – Gerald Hartung/Klaus Christian Köhnke (Hrsg.), Friedrich Adolf Trendelenburgs Wirkung, Eutin 2006. – Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M. 1993. – Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Zweiter Band, Erste Hälfte: Ministerium Altenstein, Halle a. d. S. 1910. – Friedrich Paulsen, Adolf Trendelenburg. Ein Blatt persönlicher Erinnerung, in: Berliner Akademische Wochenschrift, Sommer-Semester 1907, Nr. 24 (29. April 1907), S. 187. – Peter Petersen, Die Philosophie Friedrich Adolf Trendelenburgs, Hamburg 1913. – George Gershon Rosenstock, Friedrich Adolph Trendelenburg – Forerunner to Dewey, Carbondale 1964. – Ferdinande Trendelenburg, geb. Becker, Ferdinande Trendelenburg. Ein Lebensbild, aus ihren Aufzeichnungen und Briefen zusammengestellt für ihre Enkel und Urenkel. Als Manuskript gedruckt, Halle a. d. S. 1896. – Friedrich Trendelenburg, Geschichte der Familie Trendelenburg, für Kinder und Enkel zusammengestellt. Als Manuskript gedruckt, Halle a. d. S. 1921. – derselbe, Aus heiteren Jugendtagen, Berlin 1924. – Ruth Antonia Weiss, Friedrich Adolf Trendelenburg und das Naturrecht im 19. Jahrhundert (Münchner Historische Studien. Abteilung Neuere Geschichte, 3), Kallmünz/Opf. 1960. – Herbert Schnädelbach, Philosophie auf dem Weg von der System- zur Forschungswissenschaft. Oder: Von der Wissenschaftslehre zur Philosophie als Geisteswissenschaft, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 4: Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität, Berlin 2010, S.151–196.

Karl Wilhelm Nitzsch Von Wolfgang Neugebauer Karl Wilhelm Nitzsch gehört heute nicht zu jenen Historikern der Friedrich-WilhelmsUniversität, die gleichsam zur Prominenz der Berliner Wissenschaftsgeschichte gezählt werden können. Und doch darf er mehr Aufmerksamkeit beanspruchen, als dies bislang der Fall gewesen ist. Nicht nur in einer der historischen Großepochen zuhause, galt Nitzsch einem Theodor Mommsen als ein Garant gegen die Auösung der Geschichtswissenschaft durch galoppierende Spezialisierung. Wiewohl der große Mann der römischen Geschichte gerade an den althistorischen Werken Nitzschs manches auszusetzen hatte,1 würdigte er diesen 1879, ein Jahr vor dessen Tode und anläßlich der Wahl in die Berliner Akademie, doch als „eine[n] der wenigen Männer, welche die Geschichtswissenschaft noch in Niebuhrs Sinn als ein Ganzes betrachten“2. Rankes Hochachtung für Nitzsch ist durchaus bezeugt; er soll den mehr als zwei Jahrzehnte Jüngeren gar als „Herausgeber seines litterarischen Nachlasses ausersehen“ haben3. Immerhin: Nitzsch hatte interessante Schüler, darunter auch solche, die nicht auf den ersten Blick mit diesem Namen in Verbindung gebracht werden, und wenn die Frage nach innovativen Impulsen in der deutschen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts gestellt wird, darf dessen Programm als um 1870 ganz ungewöhnlicher Beitrag angesehen werden. Vielleicht gehört auch Nitzsch zu jenen Fällen, deren unmittelbare Wirkung im Fach deshalb rasch verklungen ist, weil ihr wichtigstes Werk nie im Druck erschien, ein Werk von ungewöhnlicher universalgeschichtlicher Weite und hellem Blick in jenen Jahrzehnten der Nationalstaatswerdung, denen heute nicht immer mit adäquaten Urteilsgründen begegnet wird. Umso mehr verlockt eine erste Annäherung aus der Distanz von rund eineinhalb Jahrhunderten, mit Konzentration auf die Berliner Jahre und unter der Fragestellung, welche wissenschaftlichen Impulse für die Verfassungs- und Wirtschafts-

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Vgl. etwa Alfred Heuss, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der SchleswigHolsteinischen Universitätsgesellschaft N.F., 19), Kiel 1956, S. 115; Lothar Wickert, Theodor Mommsen. Eine Biographie, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1959, S. 438 Anm. 160, und (1884 schroff kritisch) Bd. 4, Frankfurt a. M. 1980, S. 369. Theodor Mommsen, Antwort an Nitzsch, 3. Juli 1879, in: derselbe, Reden und Aufsätze, 3. Abdruck, Berlin 1912, S. 199 f., hier S. 200. So der Amanuensis Rankes Theodor Wiedemann, Sechzehn Jahre in der Werkstatt Leopold von Rankes, in: Deutsche Revue Jg. 16/4 (1891) bis Jg. 18/4 (1893), Zitat: Jg. 17/1 (1892), S. 349; vgl. auch I[gnatz] Jastrow, Karl Wilhelm Nitzsch und die deutsche Wirtschaftsgeschichte, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 8 (1884), S. 873–897, hier S. 877.

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Karl Wilhelm Nitzsch *22. Dezember 1818 in Zerbst, † 20. Juni 1880 in Berlin

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geschichte vor der Epoche Gustav von Schmollers und Otto Hintzes von der Universität „Unter den Linden“ ausgegangen sind. Die Quellenlage ist freilich fast verzweifelt, ein Nachlaß Nitzschs scheint nicht erhalten, und der Gelehrte selbst hat, spätere biographische Rekonstruktionen fürchtend, alle an ihn gerichteten Briefe alsbald verbrannt4. Ein glücklicher Quellenfund aus seinem engsten Schülerkreis hilft aber vielleicht etwas weiter und gab die Anregung für diese erste Skizze5. Nitzsch entstammte einem Sozialmilieu kulturprotestantischer Gelehrter aus Sachsen und Hessen, einer typischen „Wissenschaftlerdynastie“ des 19. Jahrhunderts, durch Heiratsverbindungen gut verknüpft mit anderen „Universitätsgeschlechter[n]“6. Der Vater, Gregor Wilhelm Nitzsch, hatte nach Schulämtern in Mitteldeutschland einen Ruf an die Universität Kiel erhalten, auf einen Lehrstuhl für klassische Philologie7. Später ging er an die Universität Leipzig, nach den nationalen Kämpfen in Schleswig-Holstein und angesichts der einsetzenden dänischen Reaktion. Karl Wilhelm Nitzsch wurde am 22. November 1818 in Zerbst geboren, noch bevor der Vater universitäre Ränge im hohen Norden erreichte. Die historische Welt SchleswigHolsteins hat ihn tief geprägt8, und sie wird auch in seinem wissenschaftlichen Werk wieder begegnen, zumal Dithmarschen als Exempel für „republikanische“ „Staats“-Formen in der allgemeinen Geschichte. Nach einer vorzüglichen philologischen Schulausbildung in Kiel und Wittenberg, ausgestattet mit soliden Kenntnissen der griechischen und römischen Schriftsteller, begann er sein Studium 1838 zunächst in Kiel, um nach drei Semestern nach Berlin zu wechseln. Dort war es Leopold Ranke, der ihn in seinen Bann schlug und der ihm die Welt der mittleren und neueren Jahrhunderte eröffnete. Auf die Traditionen Niebuhrs und Rankes hat sich Nitzsch denn auch zeit seines Lebens bezogen9. Zur Promotion ist er 4



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Brief Nitzschs vom 4. Mai 1871, ediert bei Georg von Below/Marie Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch. Separatabdruck aus Bd. 41 der Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Kiel 1911, S. 95; zum „Nachlaß“ Nitzsch vgl. Georg Matthäi, Vorrede, in: Karl Wilhelm Nitzsch, Geschichte des Deutschen Volkes bis zum Augsburger Religionsfrieden. In drei Bänden, (1. Au.), 1. Bd., Leipzig 1883, S. V–XII, hier S. IX; zur Methode, dieses Werk postum zu rekonstruieren: ebenda S. X f. Vgl. unten bei Anm. 63. Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistesund Naturwissenschaftler (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 121), Göttingen 1997, zu Nitzsch S. 95 f., 106; Verwandtschaft mit Ernst Moritz Arndt: Jastrow, Wirtschaftsgeschichte (Anm. 3), S. 879. Zum Vater vgl. etwa Karl Jordan, Karl Wilhelm Nitzsch und seine Stellung in der schleswig-holsteinischen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 94 (1969), S. 267–284, hier S. 268 f., 272; vgl. Friedrich Paulsen, Aus meinem Leben. Vollständige Ausgabe, hrsg. von Dieter Lohmeier und Thomas Steensen, Bräist/Bredstedt 2008, S. 469 Anm. 131. Vgl. Jastrow, Wirtschaftsgeschichte (Anm. 3), S. 876 f. – auch zum folgenden. Studium und Ranke: Sigrid Wriedt, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft an der Christiana Albertina im Zeitalter des dänischen Gesamtstaates (1773–1852) (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins, 64), Neumünster 1973, S. 186 f.; Georg von Below/Marie Schulz, Einleitung, in: dieselben (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 4), S. 1. Programmatisch: [Karl Wilhelm] Nitzsch, Antrittsrede, in: Monatsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1879, Berlin 1880, S. 519–522, hier S. 520; Richard

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dann nach Kiel zurückgekehrt, zum eben dahin berufenen Johann Gustav Droysen10. Die Promotion und die ersten größeren Publikationen betrafen Polybius und sodann – 1847, nach längerer Italienreise – „die Gracchen und ihre nächsten Vorgänger“, eine Schrift, in der sich bereits sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Interessen und Fragestellungen andeuten11. In der Tat hatte Nitzsch schon im Kiel der 1840er Jahre Kontakt zur „Nationalökonomie und Statistik“ (Wriedt) gewonnen und diese Impulse früh in seinen Schriften zur römischen Geschichte verwendet. Es ging ihm dabei, wie Gustav Schmoller interpretierte, um das „große soziale Problem des Kampfes der Aristokratie mit den Bauern“. Der Fragenkreis nach den wirtschaftlichen Ursachen politischer Revolutionen war schon vor 1848 sein Ausgangspunkt. Das Arbeitsfeld der römischen Geschichte hat er lebenslang beibehalten und in späteren Jahren komparatistisch gewendet. In seiner Berliner Wirkungsphase kehrte er mit einer Monographie über die Anfänge der „römischen Annalistik“ zu frühen Themen seines wissenschaftlichen Weges zurück, dabei die Anwendbarkeit quellenkritischer Methoden für das Altertum und das Mittelalter parallelisierend12. Aber die historisch-kritisch-philologische Methode schien ihm in ihrer Dominanz denn doch bedenklich, wie er sich auch in vertrauten Korrespondenzen skeptisch über die „immer einseitigere Richtung auf Textkritik u. ihre Hilfswissenschaften, wie sie Lachmann, Haupt, Ritschel etc. etc. so fanatisch durchgeführt“ hätten, äußerte; sie hätten „nicht allein viele Faule, sondern auch solche der Philologie entfremdet, die fürchten, daß sie von den entsetzlichen Spitzfindigkeiten der Homerischen Frage, der neueren und neuesten Handschriftenkunde, Metrik etc. nicht satt würden“. Gar für die neueren Epochen sah er schädliche Konsequenzen. Ihm, Nitzsch, sei „so ein ehrlicher junger Historiker, der doch gern auch von

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Rosenmund, Karl Wilhelm Nitzsch, in: Preußische Jahrbücher 48 (1881), S. 321–345, 425–448; 49 (1882), S. 262–289, 337–354, hier Teil 1, Bd. 48, S. 324, und Teil 5, Bd. 49, S. 338, 341; vgl. auch die Rezensionsabhandlung von Karl Wilhelm Nitzsch, in: Historische Zeitschrift 1 (1859), S. 210–219, hier S. 210, 218 (Niebuhr). Wilfried Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008, S. 44, 196, 201, 287. K[arl] W[ilhelm] Nitzsch, Die Gracchen und ihre nächsten Vorgänger. Vier Bücher Römischer Geschichte, Berlin 1847, darin S. 11–100: „Vom Römischen Bauernstand und dem Römischen Steuerwesen des sechsten Jahrhunderts“, zur römischen „Bauernschaft“ ebenda, S. 22 ff.; vgl. Jastrow, Wirtschaftsgeschichte (Anm. 3), S. 879; wichtig Wriedt, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft (Anm. 8), S. 187 f.; folgendes Zitat: Gustav Schmoller, Die deutschen Städtehistoriker des 19. Jahrhunderts, in: derselbe, Deutsches Städtewesen in älterer Zeit, Bonn 1922, Neudruck Aalen 1964, S. 1–38, hier S. 14 f.; Heinrich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 1, München–Salzburg 1950, S. 318. K[arl] W[ilhelm] Nitzsch, Römische Annalistik von ihren ersten Anfängen bis auf Valerius Antias. Kritische Untersuchungen zur Geschichte der älteren Republik, Berlin 1873, Neudruck Hildesheim–New York 1974, S. VI, Auseinandersetzung mit Mommsen: S. 189 f.; Georg Thouret, Vorrede, in: Karl Wilhelm Nitzsch, Geschichte der römischen Republik. Nach dessen hinterlassenen Papieren und Vorlesungen. Mit einer Einleitung „Ueberblick über die Geschichte der Geschichtsschreibung bis auf Niebuhr“ und einem Anhang „Zur römischen Annalistik“, Bd. 1, Leipzig 1884, S. III–X, hier S. VI f.

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Menschen u. Völkern hört, viel liebenswerther geworden“13. In diesen Urteilen spiegeln sich freilich eigene Präferenzen. In seinen Berliner Jahren ist er noch Mitglied der MonumentaDirektion geworden14, aber edierend und quellenerschließend trat er nur sehr selten hervor. Auch das mag in der Mommsen-Zeit Distanzen zu den Althistorikern vom Fach gesteigert haben und bei Nitzsch das Gefühl der Isolierung15. Nicht in diese dominante Richtung des Faches ging sein Weg aus römischgeschichtlichen Anfängen. Vielmehr führte dieser von den Themen der römischen Republik zum Problem des „productiven Kampf[es] ständischer und wirthschaftlicher Gegensätze“ und – zunächst – zu „dem originalen Character der republikanischen Bildungen gegenüber dem ältesten Königthum“, sodann von dort zu den „ältesten Formen des antiken und des modernen Staatslebens“, zur „Verfassung der plebs und der mittelalterlichen ‚Gemeinden‘ in Stadt und Land“, die ihm „als wesentliche Forschungsobjecte ein und desselben Gebiets erschienen“16. Noch in Kiel, wo er nach 1844 erst als Privatdozent neben Droysen und Waitz, dann seit 1848 als außerordentlicher und (1858) als ordentlicher Professor lehrte, hat er sich in die mittelalterliche und in die Landesgeschichte fortentwickelt. Die Betreuung der Themen Schleswig-Holsteins war als spezieller Auftrag für ihn im Jahre 1848 dazugekommen17. In der mittelalterlichen Geschichte waren es die Zeiten vom neunten bis dreizehnten Jahrhundert, die ihn primär beschäftigten, und dabei trat die Frage nach den Ursprüngen der mittelalterlichen Stadtgemeinde in den Mittelpunkt seines, freilich thematisch sehr vielgestaltigen Oeuvres. Sein vielleicht umstrittenstes Buch, dasjenige über „Ministerialität und Bürgerthum“18, ist in den späten Kieler Jahren entstanden. In ihm hat er den „hofrechtlichen“ Charakter und Ursprung rheinischer und überhaupt oberdeutscher Stadtverfassungen behauptet, die weitere Städtegeschichte also aus einem Element der Unfreiheit abgeleitet. Wissenschaftlicher und auch wissenschaftspolitischer Widerspruch, und zwar 13



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Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (zit.: GStAPK), VI. Hauptabteilung, Nachlaß Gustav Schmoller, Nr. 178, Brief Nitzsch vom 30. Oktober 1879; zuvor die Klage, „daß Lachmann Niebuhr und Böckh verdrängt habe.“ Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae historica, im Auftrage der Zentraldirektion bearbeitet (Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, 42), Hannover 1921, Nachdruck Hannover 1976, S. 506 f., 523. Thouret, Vorrede (Anm. 12), S. VI. Nitzsch, Antrittsrede (Anm. 9), S. 521. Wriedt, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft (Anm. 8), S. 189 f., 194; Jordan, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 7), S. 271 ff., 275; Schwerpunkte: Herbert Merzdorf, Karl Wilhelm Nitzsch. Die methodischen Grundlagen seiner Geschichtsschreibung. Ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, phil. Diss. Leipzig 1913, S. 157 – eine bei Karl Lamprecht angefertigte Studie; dagegen schroff die Rezension G[eorg] von Belows, in: Historische Zeitschrift 113 (1914), S. 559–566, bes. S. 563 (gegen Schmoller und Lamprecht!). K[arl] W[ilhelm] Nitzsch, Ministerialität und Bürgertum im 11. und 12. Jahrhundert. Ein Beitrag zur deutschen Städtegeschichte (Vorarbeiten zur Geschichte der Staufischen Periode, 1), Leipzig 1859, bes. S. 14, 17 ff., 300–303 u. ö.; dazu instruktiv Nitzschs Brief an Droysen, 3. Januar 1858 (GStAPK, VI. HA, Nachlaß Droysen, Nr. 60–65): Er habe die Überzeugung gewonnen, daß Ministerialität und Patriziat aus derselben Wurzel stammten. Der heutige, differenziertere Forschungsstand zu den (oberdeutschen) Städten ist an dieser Stelle nicht zu diskutieren.

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auf breiter Front, trat dieser Auffassung entgegen19. Für Nitzsch kam damit ein Hauptproblem mittelalterlicher Sozialgeschichte auf seine wissenschaftliche Agenda, die Frage nach den gesellschaftlichen Grundlagen der (mittelalterlichen) Stadt-Kommune, abhängig von der Entwicklung der Marktstrukturen zumal; die Schwächen der von ihm vorgeschlagenen Lösung hat er freilich durchaus selbst gesehen20. Vielleicht war Nitzsch überhaupt mehr ein Mann produktiver Fragen als gültiger Antworten. Auf dem einen Arbeitsgebiet war Mommsen, auf dem anderen Georg Waitz in seiner Zeit führend. Nitzschs Studien zur Landesgeschichte, d. h. derjenigen Dithmarschens, besaßen gewiß eine (vorsichtige) antidänische Spitze. Vor allem ging es ihm aber darum, das freie bäuerliche Element in seiner geschichtlichen Bedeutung aufzuzeigen21, und auf diesen Aspekt ist Nitzsch später, in seiner großen, gleichsam weltgeschichtlichen Synthese denn auch zurückgekommen. Schon in seinen frühen Kieler Jahren hat er neben römischer und griechischer Geschichte, hansischer Geschichte und derjenigen Dithmarschens auch „allgemeine Verfassungsgeschichte und Politik“22 gelesen. Ein „politischer Professor“ des 19. Jahrhunderts ist Nitzschs nicht gewesen23; das hat es ihm über das Jahr 1848 hinaus ermöglicht, in Kiel zu bleiben, bis er 1862 als Nachfolger Wilhelm Giesebrechts nach Königsberg ging. Auch in revolutionären Zeiten hat er sich freilich zum Prinzip der Monarchie und zum Adel bekannt24, aber in seinen ostpreußischen 19



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Vgl. A. Erler, Hofrechtstheorie, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 1978, Sp. 215 f., bes. Sp. 215, und mit weiterer Lit. G[eorg] von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters. Ein Grundriß der deutschen Verfassungsgeschichte, 1. Bd., Leipzig 1914, S. 46 f., 62, 80 ff., und doch respektvoll S. 84; Rosenmund, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 9), S. 433 ff., 438 f., 441 f.; vgl. noch Hans Cymorek, Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, 142), Stuttgart 1998, S. 42 f., 91, 106 f. (Below betont die Elemente der Freiheit in der Stadt-Genese) – statt weiterer Details und Literatur; Hofrecht und Zünfte: [Karl Wilhelm] Nitzsch, Über die niederdeutschen Genossenschaften des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Monatsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1879, Berlin 1880, S. 4–44, hier S. 10 f., 13, 26; derselbe, Die oberrheinische Tiefebene und das deutsche Reich im Mittelalter, zuerst 1872, wieder in: derselbe, Deutsche Studien. Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur Deutschen Geschichte, Berlin 1879, S. 125–203, hier S. 168 f., 176 – zum folgenden. Vgl. seinen Brief vom 5. Mai 1859, bei Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 4), S. 78; oder sein Schreiben vom 13. Oktober 1875, mitgeteilt bei Georg v. Below/K. Vogel (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch an W. Schrader (1868–1880), in: Archiv für Kulturgeschichte 10 (1912), S. 49–110, hier S. 75. K[arl] W[ilhelm] Nitzsch, Das alte Ditmarschen. Ein Vortrag, gehalten im Saale der Harmonie am 1. März 1862, Kiel 1862, S. 15, 25 (Pfarrerwahl); derselbe, Nordalbingische Studien, zuerst 1874, wieder in: derselbe, Deutsche Studien (Anm. 19), S. 204–295, hier S. 223 f., 228; weiteres bei Wriedt, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft (Anm. 8), S. 191 Anm. 975; vgl. Jastrow, Wirtschaftsgeschichte (Anm. 3), S. 878; Merzdorf, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 17), S. 143; Niedersachsen: Bruno Opalka, Einführung, in: Karl Wilhelm Nitzsch, Geschichte des deutschen Volkes bis zum Augsburger Religionsfrieden. Unveränderter Nachdruck der Zweiten Auage von 1892, hrsg. von Bruno Opalka, Stuttgart 1959, S. 7*–64*, hier S. 35* f., mit weiteren Titeln. Wichtig: Georg Waitz, Karl Wilhelm Nitzsch, geb. 22. September 1818, gest. 20. Juni 1880, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde 3 (1880), S. 23–26, hier S. 24, schon zu den 1840er Jahren. Vgl. Jordan, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 7), S. 281. Aufschlußreich: Nitzschs Brief an Droysen, 25. Juni 1848, GStAPK, VI. HA, Nachlaß Droysen, Nr. 60–65; vgl. auch das Schreiben vom 3. April 1864, bei Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 4),

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Jahren, in einer Welt schroffer Parteikämpfe und in der Welt des adlig-bürgerlichen Landesliberalismus an Pregel und Memel zumal zur Zeit des Verfassungskoniktes, prägte sich sein Konservatismus stärker aus, ohne daß er zum engen Parteimann wurde25. Seit den Königsberger Jahren verlagerten sich Nitzschs wissenschaftliche Schwerpunkte langsam weg von der römischen und hin zur Geschichte des (deutschen) Mittelalters, zu einer verfassungsgeschichtlichen Sicht mit gesellschaftlichen Kausalitäten, wobei das Verhältnis der sozialen Stände und insbesondere dasjenige des „Bürgertums“ zur Königsgewalt zunächst in den Mittelpunkt trat. Auch die neuere Geschichte nach 1763 und bis zum Wiener Kongreß hat er in Königsberg mehrmals gelesen. Das Interesse an komparatistischen Fragestellungen hat sich dort verstärkt26, ein Programm, das in den siebziger Jahren dann in Publikationen und Vorlesungen weitere – und heute besonders interessante – Ausprägungen erfuhr. Manches deutet darauf hin, daß die Rolle von Karl Wilhelm Nitzsch, zumal in seiner letzten, der Berliner Phase, um einiges größer gewesen ist, als bislang im Lichte wissenschaftsgeschichtlicher Forschung erkannt werden konnte. Dies ist der ungünstigen Überlieferungslage geschuldet; freilich bezeugen direkte und indirekte Schüler Nitzschs, darunter sprechende Namen, ein verstecktes Wirkungs- und Innovationspotential dieses, seit 1872 an der Friedrich-Wilhelms-Universität unter den Linden wirkenden Historikers. Jene Jahre und dieses, nur teilweise publizierte Werk haben hier in besonderem Maße zu interessieren. Nitzsch wird bisweilen und nicht ganz ohne Grund als Nachfolger Rankes an der Berliner Universität bezeichnet27. Richtig ist, daß, nachdem Ranke im April 1871 im 76. Lebensjahr um die Entbindung von den Lehrverpichtungen gebeten hatte, die Berliner Geschichtswissenschaft personell ganz neu aufgestellt wurde. Ranke selbst hatte noch in diesem

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S. 86, mit dem Zusatz: „das eigentlich wohlhabende Bürgertum seit 1500“ habe sich „jämmerlich … benommen“. Quellenmitteilungen bei Opalka, Einführung (Anm. 21), S. 29 f.; Jordan, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 7), S. 564 f., zum altliberalen Ausgangspunkt; und (kommend von der Gothaer Richtung) Below/Schulz, Einleitung (Anm. 8), S. 2 f.; und für seinen politischen Standpunkt wichtig G[eorg] v[on] Below, Ein Urteil des Historikers K. W. Nitzsch über Liberale und Konservative in Preußen, in: Preußische Jahrbücher 150 (1912), S. 484–489, hier S. 487 (4. Dezember 1870). Im Berlin der nationalliberalen Tendenzen hat Nitzsch im Antisemitismus-Streit dann Verständnis für die Position Treitschkes geäußert, vgl. statt anderer jetzt Karsten Krieger (Bearb.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, 2 Teile, München 2003, hier Teil 1, S. 137 (Kommentar); Distanz zur Kategorie der „Nationalität“: Merzdorf, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 17), S. 102 f. Vgl. außer Jordan, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 7), S. 282: Götz von Selle, Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, 2., verm. Au. Würzburg 1956, S. 333 f., 406; Hans Prutz, Die Königliche Albertus-Universität zu Königsberg i. P. im neunzehnten Jahrhundert. Zur Feier ihres 350jährigen Bestehens, Königsberg 1894, S. 321; und dazu Nitzschs Brief vom 20. Februar 1864, bei Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 4), S. 22. Cymorek, Georg von Below (Anm. 19), S. 34; anders Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zu Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, 2. erg. Au. (Europäische Hochschulschriften III/216), Frankfurt a. M. u.a. 1987, S. 537 f.; vgl. aber Anm. 30!

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Zusammenhang den Namen Nitzschs ins Gespräch gebracht. Als Konkurrent für Berlin war freilich schon damals Heinrich von Sybel überstark, wie er denn auch von der Fakultät im Mai 1872 vor Nitzsch plaziert worden ist. Von Treitschke war damals noch nicht die Rede28. Für Nitzsch sprach – so das Fakultätsgutachten – gerade seine thematische Breite, von der römischen über die mittelalterliche Geschichte und noch darüber hinaus. „Es mag dahingestellt werden, ob diese weite Spannung mit fester Beherrschung des einzelnen Gebiets und mit vollständiger Durchdringung des gesamten, für die volle Forschung heranzuziehenden Materials vereinbar ist. Aber ebensowenig kann andererseits verkannt werden, daß der Überblick über so verschiedene Volks- und Kulturschichten geeignet ist, schon durch ihren Gegensatz anzuziehen und zu bilden. Ein Mann von Geist und Charakter wie Nitzsch es ist, mit besonderem Interesse teils für die Verfassungsentwicklung, wird schon als Gelehrter und mehr noch als Lehrer die Wirksamkeit nicht verfehlen, und dies hat der Erfolg bestätigt. Seine literarischen Arbeiten haben viel Lob und viel Tadel hervorgerufen, und beides mit gutem Recht; als Lehrer ist er anerkannt und bewährt.“ Und dann wies die Fakultät auf einen Arbeitsschwerpunkt Nitzschs hin, der in seinen Publikationen doch nur andeutungsweise zu erkennen war, der aber als zentrales Objekt seiner Kollegien zu seinem Ruf im Fach schon ganz wesentlich beigetragen hatte. „Seine Vorlesungen über Verfassungsgeschichte – nicht bloß deutsche – haben immer besonderen Beifall gefunden; seine Studien über die sozialen und agrarischen Verhältnisse, seine Kenntniß der bäuerlichen wie der städtischen Wirtschaft lassen ihn besonders geeignet erscheinen, die Geschichte an unserer Universität in kulturhistorischer Rücksicht zu vertreten. Die Schwerfälligkeit und Dunkelheit, an der seine Schriften teilweise leiden, haftet seinem mündlichen Vortrag nicht an“29. Sybel sei Nitzsch freilich „unzweifelhaft überlegen“, er habe einen „glänzendere[n] Name[n] als Nitzsch“. Erst nachdem Sybel abgelehnt hatte, wurden mit dem Königsberger Lehrstuhlinhaber Verhandlungen aufgenommen, und zwar anfangs offenbar zur Besetzung eines neuen, dritten historischen Ordinariats an der Berliner Universität, nicht eigentlich demjenigen, das Ranke verwaltet hatte. Das Ministerium hat das anders gesehen und berief ihn als Nachfolger des Altmeisters der Zunft, ohne daß der Dissens zwischen Fakultät und Ministerium, wer denn nun als Nachfolger Rankes zu gelten hatte, definitiv ausgeräumt worden wäre. Treitschke, von dem 1871/72 noch nicht die Rede war und der dann 1873, übrigens mit

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Dazu Fritz Kaphahn, Jacob Burckhardt und die Wiederbesetzung von Rankes Geschichtsprofessur an der Berliner Universität, in: Historische Zeitschrift 168 (1943), S. 113–131, bes. S. 116–120; nach der Absage Sybels: S. 126 f., 130, Teildruck des Fakultätsgutachtens vom 1. Juni 1872: S. 125 f., daraus das folgende Zitat. Nach dem Teildruck ebenda, S. 125; das Folgende: S. 126 f., 130 f. (auch zu Treitschke); zur Berufung Nitzschs vgl. noch Nippel, Johann Gustav Droysen (Anm. 10), S. 288; Georg von Below/Marie Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch an W. Maurenbrecher (1861–1880), in: Archiv für Kulturgeschichte 8 (1911), S. 305–366, 437–468, hier S. 320 f. (Brief Nitzsch vom 30. Juli 1872); vgl. noch Wickert, Theodor Mommsen (Anm. 1), Bd. 1, S. 157.

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Hinweis auf seine dezidiert politische Art, Geschichte zu betreiben, berufen worden ist30, mochte sich gleichfalls als eigentlicher Nachfolger Rankes betrachten, obwohl das Ministerium in seinem Berufungsschreiben eine solche Interpretation ausgeschlossen hatte. Seit 1874 bestand der Lehrkörper aus Droysen und Nitzsch, aus Wattenbach und Treitschke. Aus späteren Kultusministerialakten geht ein weiteres Motiv für die Berufung Nitzschs nach Berlin hervor, das wohl auch einiges Licht auf die zwar von freundschaftlichen Umgangsformen bestimmte, und doch alles andere als spannungsfreie Beziehung zum großen Fachnachbarn der römischen Geschichte, zu Theodor Mommsen31 wirft. Denn die – so die Fakultät im Jahre 1884 in denkbar größter Offenheit – nur sehr eingeschränkte Lehre Mommsens, der sich mit Rückendeckung des Ministeriums ganz auf seine „schriftstellerische Thätigkeit“ konzentrierte, machte mit Nitzsch einen Mann wünschenswert, der entstehende universitäre Defizite in der alten Geschichte ausgleichen, also: Mommsens Universitätsarbeit mit übernehmen konnte. „Es wurde dies auch praktisch von Ew. Excellenz Ministerium anerkannt durch die Berufung des Professors Nitzsch, welcher, eine Specialität in diesem Fach, auch als Lehrer“ zusätzlich die römische Geschichte „mit Eifer und Erfolg vertrat“32. Dies wird, wenn es um Publikationsertrag und wissenschaftshistorische Langzeitwirkung geht, wohl mit zu bedenken sein. Zwar traf Nitzsch in Berlin manchen Bekannten aus älteren Tagen wieder; und doch scheinen die kollegialen Beziehungen sich nicht immer spannungsfrei gestaltet zu haben, auch nicht gegenüber seinem früheren Lehrer Johann Gustav Droysen33. Als 1875 ein neuer Direktor des Geheimen Staatsarchivs gesucht wurde, wurde auch Nitzsch als Nachfolger seines Freundes Max Duncker ins Gespräch gebracht, und zwar neben Droysen und Treitschke, denn der Kultusminister war der treffenden Überzeugung, daß an dieser Position ein Gelehrter führen müsse. Im Unterschied zu den beiden anderen besaß Nitzsch freilich keine ausgeprägten archivischen Erfahrungen, und er scheint auch kein Interesse an diesem Avancement besessen zu haben34. Das Rennen um die Archivdirektion machte bekanntlich Sybel, 30



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Der Berufungsvorgang Treitschkes, schon mit den Unterschriften Nitzschs in den Akten der Fakultät: GStAPK, I. HA, Rep 76 Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 47, Bd. 13; freilich mußte Treitschke wissen, daß ihn das Kultusministerium (Konz. zum Erlaß an Treitschke, gez. Falk, datiert 9. Dez. 1873) ausdrücklich auf „die bei der gedachten Fakultät neubegründete ordentliche Professur der Geschichte“ berufen hatte. Vgl. oben Anm. 1; oder den Brief Nitzschs vom 2. November 1872, bei Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 29), S. 322. In der Personalakte Reinhold Kosers: GStAPK, I. HA, Rep 76 Vf, Litt. K, Nr. 42, Bericht der Philosophischen Fakultät der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, datiert 24. Juli 1884, daraus das Zitat; zum schwierigen Nebeneinander von Nitzsch und Mommsen vgl. noch Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 29), S. 448 (Brief Nitzschs vom 3. August 1877). So ausdrücklich Nippel, Johann Gustav Droysen (Anm. 10), S. 288. Vgl. dazu Paul Kehr, Ein Jahrhundert preußischer Archivverwaltung, in: Archivalische Zeitschrift, 3. Folge, 2. Bd., 35 (1925), S. 3–21, hier S. 14; vgl. Johanna Weiser, Geschichte der preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beihefte, 7), Köln–Weimar–Wien 2000, S. 55; vgl. Opalka, Einführung (Anm. 21), S. 26.

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der eben noch mit hohen Forderungen den Wechsel an die Linden-Universität unmöglich gemacht hatte. Die Archivleitung mit ihren wissenschaftsstrategischen Möglichkeiten besaß für ihn höheren Reiz. Nitzschs Berliner Briefe enthalten seit der Mitte der siebziger Jahre manch plastische Notiz über Sybel, stets mit recht negativer Tönung35. Vertraut man dieser Quelle, war Sybels Auftreten in Berlin nicht eben taktvoll, im Gegenteil wohl rüde, und über die Art, sich in der preußischen Geschichte Positionen zu sichern, waren Duncker und Droysen alsbald tief verletzt36. Nitzschs Briefe aus der Berliner Zeit erweisen ihn als scharfen Beobachter der dortigen Gelehrtenszene, wenn er etwa über die Unterschiede in der Persönlichkeitsstruktur Dunckers und Droysens deliberierte und fand, Droysen sei – im Unterschied zu ersterem – „unruhig, verstimmt und – unter uns gesagt – trotz aller äußerer Energie innerlich unsicher“37. Zum Minister Falk hielt Nitzsch gesellschaftlichen Kontakt auf dem zeittypisch-probaten Parkett abendlicher Herrengesellschaften. Dies waren durchaus politische Verbindungen im sozialen Raum, und Nitzsch notierte etwa Aussagen zu Grundsatzfragen bei solchen Gelegenheiten, wenn z.B. Sybel beim abendlichen Zusammentreffen im Hause Dunckers sich im März 1873 „mit einer mir doch überraschenden Energie gegen die Zweckmäßigkeit des Parlamentarismus für uns und über seinen Bankrott in England“ aussprach, „so daß der gute Waitz aus seiner Sophaecke nur ganz verlegen reagierte zu Gunsten Gladstones“, während Duncker und Nitzsch sich Sybels Meinung durchaus anschlossen38. – Schon vor der Berufung Gustav Schmollers nach Berlin taucht dessen Name im Kontext der Berliner Gelehrtengesellschaft auf39. Mit dem zurückgezogen fortproduzierenden Leopold von Ranke hielt Nitzsch persönlichen Kontakt. Seine Briefe bieten manche Informationen über Rankes Werke der 1870er Jahre40.

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Vgl. die Briefstellen bei Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 29), S. 356, 438; dieselben (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 20), S. 74. Brief Nitzsch vom 27. März 1876, mitgeteilt bei Below/Vogel (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 20), S. 77. Ebenda, S. 59 (Brief an Schrader vom 28. März 1873); Freundschaft mit Duncker: R[udolf ] Haym, Das Leben Max Dunckers, Berlin 1891, S. 463; zum folgenden (Falk): Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 4), S. 102 (17. Januar 1875), auch zum „heutigen Ordensfest“ bei guter Predigt, aber „schlechtem Kaffee“. Der Brief Nitzschs vom 28. März 1873, Below/Vogel (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 20), S. 58, 55: Schmollers Stellungnahme gegen „Germanisierungseifer“ im Elsaß. Wie Anm. 38 und ebenda, S. 103 (Nitzsch an Schrader, 10. August 1879); vgl. noch Otto Hintze, Gustav Schmoller. Ein Gedenkblatt, zuerst 1919, wieder in: derselbe, Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, 2., erw. Au., hrsg. von Gerhard Oestreich, Göttingen 1964, S. 519–543, hier S. 526, zu Schmollers Aufenthalten in Berlin seit den sechziger Jahren. Etwa: Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 29), S. 343, 357, 448; Below/Vogel (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 20), S. 83.

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Nitzsch selbst ging in den Berliner Jahren bis zu seinem unerwarteten Tod – nach einem Schlaganfall – am 20. Juni 188041 ganz in der Lehr-, d. h. vor allem in der Vorlesungstätigkeit auf, von der freilich die postum publizierten Werke zur deutsch-mittelalterlichen und zur römischen Geschichte wohl nur ein schwaches Abbild geben42. „Nitzsch war als Lehrer ganz unvergleichlich und überdies so vielseitig“, so daß es auch ganz unmöglich schien, einen Nachfolger gleicher thematischer Breite zu finden43. Seine Vorlesungen machten den Ruf seiner Berliner Jahre aus, und den „Fachgenossen“ ging der eigentliche Ansatz seiner Studien, „die sich immer mit wirtschaftspolitischen und verfassungsgeschichtlichen Fragen beschäftigten“, auf. „Kurz vor seinem Tode wurde ihm die Anerkennung hierfür durch seine Aufnahme in die höchste wissenschaftliche Körperschaft Preußens, in die Akademie der Wissenschaften, verliehen“44. Bildete er auch nicht eigentlich eine eigene „Schule“, so lassen sich doch Anregungen und Traditionsstränge bei Schülern sehr unterschiedlichen fachlichen und methodischen Profils aufzeigen. Darunter war der spätere Friedrich-Historiograph und Generaldirektor der preußischen Staatsarchive Reinhold Koser. „Den Anregungen der Schule [!] von Nitzsch entstammte wohl sein Interesse für allgemeine Verfassungsgeschichte“45. Der Monumentist und Reichshistoriker Karl Zeumer gilt als ausgesprochener Schüler Nitzschs, der ihn auch zum Promotionsthema, den älteren deutschen Städtesteuern führte46. Igna(t)z Jastrow, Na-

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Details bei Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 29), S. 466–468; Rosenmund, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 9), S. 321; Nitzsch wurde auf dem Schöneberger Friedhof begraben, s. Matthäi, Vorrede (Anm. 4), S. V. Wie Nachforschungen im Juni 2009 ergaben, ist das Grab nicht mehr erhalten. Vgl. oben Anm. 4 und 12. Brief Treitschkes an Baumgarten, 13. Oktober 1880, mitgeteilt bei Willy Andreas (Hrsg.), Briefe Heinrich von Treitschkes an Historiker und Politiker vom Oberrhein (Schriften der Preußischen Jahrbücher, 23), Berlin 1934, S. 42 f., mit dem pikanten Nachsatz: „Leider ist Droysen, mit dem ich sonst sehr gut stehe, in Berufungssachen niemals unbefangen, wie Sie wohl schon gehört haben; er denkt immer nur an seine zahlreichen Söhne, Schwiegersöhne und Schüler.“ Schule: vgl. Rosenmund, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 9), S. 347 ff.; anders [Ignatz] Jastrow, Nitzsch, Karl Wilhelm, Historiker, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 23, Leipzig 1886, S. 730–742, hier S. 740, zu den Vorlesungen S. 739 f.; vgl. Winter, Die Bedeutung Karl Wilhelm Nitzsch’s (s. Anm. 44), S. 207. Wichtig die Abhandlung des Ranke-Amanuensis Georg Winter, Die Bedeutung Karl Wilhelm Nitzsch’s für die deutsche Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, in: Vierteljahrschrift für Volkswirtschaft, Politik und Kulturgeschichte 22 (1885), S. 200–216, Zitat: S. 208, mit dem Zusatz: „Den ganzen Reichtum seiner originalen Ideen und seiner universalen Auffassung vermochten weitere Kreise erst zu ermessen, als nach seinem Tode durch die pietätvolle Sorgfalt mehrerer seiner Schüler eben jene akademischen Vorlesungen, in die dann einzelne Abschnitte, welche sich in seinem Nachlaß ausgearbeitet vorfanden, verwebt wurden, der Öffentlichkeit übergeben wurden.“ Otto Hintze, Reinhold Koser. Ein Nachruf, in: Historische Zeitschrift 114 (1915), S. 65–87, Zitat: S. 70, vgl. S. 68; Eckart Henning, Der erste Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive Reinhold Koser, in: Neue Forschungen zur Brandenburg-Preußischen Geschichte, Bd. 1, Köln–Wien 1979, S. 259–293, hier S. 270; Srbik, Geist und Geschichte (Anm. 11), Bd. 2, S. 4. Mario Krammer, Karl Zeumer, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 48, Germanistische Abteilung 35 (1914), S. IX–XXXII, hier S. X–XII; Fritz Kern, Karl Zeumer. Nachruf, in: Historische Zeitschrift 113 (1914), S. 540–558, hier S. 542–545; Below, Der deutsche Staat des Mittelalters (Anm. 19), S. 85.

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tionalökonom mit historischen Interessen, hat in den 1870er Jahren in Berlin „theils juristische und staatswissenschaftliche, theils historische Vorlesungen“ gehört und wurde „besonders durch K. Wilhelm Nitzsch mächtig angeregt“, „bis zum Schlusse des Wintersemesters 1877/78“47. Und schließlich hat auch Kurt Breysig von Gustav Schmoller und von Karl Wilhelm Nitzsch wichtige, nicht nur wirtschafts-, sozial- und verfassungsgeschichtliche Impulse erhalten. Die Entwicklungsstufentheorie Breysigs verdankt gerade Karl Wilhelm Nitzsch viel48. Schon in den 1840er Jahren, zur Zeit seines Gracchen-Buches hatte Nitzsch ja im Kontakt mit Fachnachbarn der frühen Nationalökonomie die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse älterer römischer Epochen zum Ausgangspunkt seiner Studien gemacht49. Ganz ähnlich waren es wirtschaftsgeschichtliche Faktoren, die er für das Mittelalter zugrundelegte, wie er denn auch die – umstrittene – These vom Zusammenhang von Ministerialen und Handwerkerorganisation aufstellte. Nicht in der Dynastie- und Herrschaftsgeschichte suchte er die eigentlichen Ursachen der geschichtlichen Entwicklung, und schon darin lag eine wesentliche Differenz etwa zum Ansatz Giesebrechts. Die (allzu abrupt gedachte) Ablösung von der Natural- durch die Geldwirtschaft, die er im 12. Jahrhundert sehen wollte, die Bedeutung von Wasserstraßen und Verkehrsstrukturen – das waren wesentliche Ursachen der spezifisch deutsch-mitteleuropäischen Geschichte50. Die „Verkehrsrevolution“ des 12. Jahrhunderts habe ganz wesentlich die Entwicklung der Städte beeinußt und diese wiederum – zumal in nachstaufischer Zeit – wesentliche Wirkung auf die „Reichsverfassung“

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Bericht des Dekans der Philosophischen Fakultät Scherer, 8. November 1885, GStAPK, I. HA, Rep 76 Vf, Lit. J, Nr. 12 zur Habilitation Jastrows, bei der dieser eine „öffentliche Vorlesung über K. W. Nitzschs Geschichtsschreibung und ihre Bedeutung für die Wissenschaft vom Staate“ hielt; vgl. oben Anm. 3 und 44; (Walter Taeuber [Hrsg.]), Bibliographie Jastrow. Verzeichnis sämtlicher Schriften von Dr. I. Jastrow, Berlin 1929, bes. S. 2, 4, 54; Emil Kauder, Jastrow, Ignaz, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, S. 366 f., hier S. 366, und Erich Eyck, Mein Lehrer Jastrow (geboren am 13. September 1856), in: derselbe, Auf Deutschlands politischem Forum. Deutsche Parlamentarier und Studien zur neuesten deutschen Geschichte, Erlenbach–Zürich–Stuttgart (1963), S. 168–177, hier S. 168. Alles Nähere bei Bernhard vom Brocke, Kurt Breysig. Geschichtswissenschaft zwischen Historismus und Soziologie (Historische Studien, 417), Lübeck–Hamburg 1971, S. 45, 47, Anm. 65, Anm. 51, Anm. 108, S. 132 f., 142 ff. – statt weiterer Lit.; vgl. Kurt Breysig, Alterthum und Mittelalter als Vorstufen der Neuzeit. Zwei Jahrtausende europäischer Geschichte im Überblick. Ein universalgeschichtlicher Versuch, 1. Hälfte, Berlin 1901, S. 23. Vgl. oben Anm. 11; Nitzsch, Geschichte der römischen Republik (Anm. 12), Bd. 2, S. 61–83; zusammenfassend Waitz, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 22), S. 24. Zusammenfassend Jastrow, Wirtschaftsgeschichte (Anm. 3), S. 879 f., 886 f., und Jordan, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 7), S. 283; Mario Krammer, Große Geschichtsschreiber im Leben Berlins, Teil 2, in: Jahrbuch 1953 des Vereins für die Geschichte Berlins, Berlin o. J., S. 19–69, hier S. 38 f.; schließlich Srbik, Geist und Geschichte (Anm. 11), Bd. 1, S. 318 f. (mit Kritik); und noch Merzdorf, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 17), S. 149 f.; vgl. aus dem Nachlaß exemplarisch: Karl Wilhelm Nitzsch, Die niederdeutschen Verkehrseinrichtungen neben der alten Kaufgilde, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 28, Germanistische Abteilung 15 (1894), S. 1–53, hier S. 4, vgl. S. 26; derselbe, Geschichte des Deutschen Volkes (Anm. 4), S. 349 ff., und schon derselbe, Ministerialität und Bürgertum (Anm. 18), S. 251–253.

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besessen51. Strukturelle Langzeitentwicklungen lagen politischen Entscheidungsphänomenen zugrunde. Im 18. Jahrhundert sah Nitzsch längst praktische Anfänge der „Reformen der Ackerwirthschaft oder ackerbauenden Gemeinde“, getragen durch „Corporationen“, Stände und Gemeinden, lange bevor dies „Gegenstand der Nationaldebatte ward“52 – und damit Objekt hoher Politik. Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wieso die Arbeiten und Ansätze Nitzschs Aufsehen erregten in einer Zeit, in der ja „die Grenzgebiete zwischen Geschichte und Nationalökonomie noch so sehr wenig, bis vor kurzer Zeit so gut wie gar nicht angebaut wurden“ (G. Winter, 1885)53. „Die bisher so sehr vernachlässigten wirtschaftlichen Kräfte und Grundtriebe des Volkslebens sind bei Nitzsch nicht ein Moment neben anderen, sie sind ihm recht eigentlich der Erklärungsgrund für die Eigenart der deutschen Verfassung überhaupt, im Gegensatz zu den anderen Nationen.“ Vorsichtig noch traten geographische Faktoren zu den wirtschaftsgeschichtlichen hinzu, wurde die Kategorie des Raumes, noch freilich unsystematischer als in späteren Zeiten unter dem Einuß der politischen Geographie, als Kausalfaktor historischer Prozesse in Rechnung gestellt54. Gustav Schmoller hat es offen ausgesprochen, daß er von diesen Ansätzen, die in nuce in die Zeit vor 1848 zurückverweisen, wesentliche Impulse empfangen hat, schon in den Königsberger Jahren des Gelehrten, als Schmoller mit ihm dort – anläßlich eigener Archivforschungen im preußischen Osten – zusammentraf. „Auch Wilhelm Nitzsch sah ich in jenen Jahren zuerst, er zog mich als der Begründer der älteren deutschen Wirtschaftsgeschichte doppelt an“55. Es wird also fortan in Erwägung zu ziehen sein, daß nicht nur die (jüngere) historische Schule der Nationalökonomie ganz wesentliche Impulse für die Entwicklung der Fachhistorie gegeben hat, sondern daß mit Karl Wilhelm Nitzsch aus der Geschichtswissenschaft selbst auch Anstöße für die Schmoller-Schule ausgegangen sind, die es künftig aufzuhellen gilt; auf Breysig wurde ja eben verwiesen. „Es kann also“, so hat Gerhard Oestreich diese Phänomene in die weitere Wissenschaftsgeschichte eingeordnet, „kein Zweifel sein, daß bereits vor der Gothein-Schäfer-Kontroverse ein auf die Sozialhistorie gerichtetes Gesicht der Geschichtswissenschaft an den deutschen Universitäten zu erkennen war. Vorlesung und Geschichtsschreibung, Lehre und Forschung, durch die soziale Problemstellung der Gegenwart gedrängt – ob durch die Antwort des Kathedersozialismus 51



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Insgesamt Winter, Die Bedeutung Karl Wilhelm Nitzsch’s (Anm. 44), S. 215; vgl. etwa Nitzsch, Ministerialität und Bürgertum (Anm. 18), S. 251 f. Karl Wilhelm Nitzsch, Die ersten Anfänge der neuen deutschen agrarischen Literatur, in: Allgemeine Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur, Jg. 1851, S. 3–18, hier S. 8 f., 11. Winter, Die Bedeutung Karl Wilhelm Nitzsch’s (Anm. 44), S. 204, vgl. folgendes Zitat: S. 211. Vgl. etwa Karl Wilhelm Nitzsch, Deutsche Stände und deutsche Parteien einst und jetzt, zuerst 1871, wieder in: derselbe, Deutsche Studien (Anm. 19), S. 81–124, hier S. 103 f.; Srbik, Geist und Geschichte (Anm. 11), Bd. 1, S. 318, und wichtig Winter, Die Bedeutung Karl Wilhelm Nitzsch’s (Anm. 44), S. 213 f. Dazu und zu Nitzschs Neigung zu „gewagten Kombinationen“ Gustav Schmoller, Gedächtnisrede auf Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke (gehalten in der Leibnizsitzung der Akademie der Wissenschaften in Berlin am 2. Juli 1896), in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 9 (1896), S. 357–394, Zitat: S. 358.

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wie bei Schmoller oder durch den allgemeinen Fortgang der geschichtswissenschaftlichen Interessen wie bei Nitzsch oder Gothein vorgezeichnet –, zeigten eine neue Richtung, die der Fachhistorie im politisch-etatistischen Sinn wenn nicht entgegengesetzt war, so sich doch von ihr entfernte“56. Nitzsch blieb – und das ist das Entscheidende – nicht bei wirtschaftlichen Randbemerkungen zu allgemeinen geschichtlichen Entwicklungen stehen. Es ging ihm um tiefere Kausalitäten und um politische Ordnungen in einem epochentranszendierenden Blick, einer weltgeschichtlichen Perspektive, die schon vor Schmoller und Otto Hintze in das Ziel einer allgemeinen Verfassungsgeschichte mündete. „Seine Vorlesungen verbreiteten sich“ seit seiner Kieler Zeit „über römische Geschichte und Altertümer, griechische Geschichte, allgemeine Verfassungsgeschichte und Politik“ bis in die Spezialthemen der Hanse- und der norddeutschen Landesgeschichte57. Aus brieichen Mitteilungen der frühen 1850er Jahre, die sich im Nachlaß Johann Gustav Droysens gefunden haben, geht hervor, daß er damals seine Lehrveranstaltungen zur „Verfassungsgeschichte“ bis in die Neuzeit, und zwar „bis zur Englischen Verfassung gebracht“ hatte58, wie er sich denn in der Mitte der 1850er Jahre intensiv mit Macaulays Werk zur englischen Geschichte beschäftigte. In der Berliner Zeit trat dieses eigentlich zentrale Anliegen in Nitzschs Lebenswerk in den Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Interesses. In diese Vorlesung hat er in erheblichem Maße Kraft investiert, wie seinen Korrespondenzen der 1870er Jahre zu entnehmen ist59. Es war dies die regelmäßig wiederholte, durch die Rezeption neuester Forschungsstände fortentwickelte Vorlesung über „allgemeine Verfassungsgeschichte“, die in ihrer universalhistorischen Weite auf die zeitgenössischen Hörer stark wirkte60, freilich auch auf diese als Medium der Rezeption beschränkt blieb. Sein Schüler Ignaz Jastrow hat über Nitzschs Anliegen wenige Jahre nach dessen Tode berichtet: „Er fand gewisse Stadien der Volksentwicklung typisch

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Gerhard Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialhistorischen Forschung in Deutschland, zuerst 1969, wieder in: derselbe, Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Brigitta Oestreich, Berlin 1980, S. 57–95, Zitat: S. 74, zu Nitzsch S. 72–74, 77 Anm. 85. So zur Lehrtätigkeit in den 1840er Jahren Waitz, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 22), S. 24. Brief Nitzschs an Johann Gustav Droysen, Kiel, 4. Februar 1853, GStAPK, VI. HA, Nachlaß Droysen, Nr. 60–65, mit dem Zusatz: „Leider habe ich wenig Neues dazu thun können.“ Macaulay: Schreiben vom 21. August 1856, ebenda; vgl. noch Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 4), S. 75 (22. Oktober 1856); vgl. Hans-Christof Kraus, Politische Historie – Macaulay und einige seiner deutschen Zeitgenossen, in: Ulrich Muhlack (Hrsg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 31–48, etwa S. 33–35. Below/Vogel (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 20), S. 63 (Brief vom 11. Februar 1874), S. 76 (27. März 1876), zu seiner „etwas zu universalhistorischen allgemeinen Verfassungsgeschichte, in der die Leute übrigens ebenso fabelhaft eißig waren wie in den Übungen.“ Vgl. Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 29), S. 542 (6. Januar 1878); vgl. noch Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970 (Ordnungssysteme, 16), München 2005, S. 50 f. Vgl. die Quellenstelle in Anm. 59; aus der Nachruiteratur vgl. Rosenmund, Karl Wilhelm Nitzsch (Anm. 9), Teil 5, S. 342, 343 zur „Vermittlung der Geographie“; Winter, Die Bedeutung Karl Wilhelm Nitzsch’s (Anm. 44), S. 206.

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wiederkehrend in jedem Volke, eine Auffassung, die am großartigsten in seinen (leider nicht herausgegebenen) Vorlesungen über allgemeine Verfassungsgeschichte durchgeführt war“61. So kann interpretiert werden, daß gerade Nitzschs wichtigster Beitrag zur Weiterentwicklung der historischen Disziplinen mit seinem frühen Tode 1880 untergegangen ist. Ein Nachlaß Nitzschs ist ja nicht überliefert, und er scheint auch diese Vorlesung zwar gründlich vorbereitet, aber stets frei und ohne eigenes „Heft“ vorgetragen zu haben. In öffentlichen Sammlungen sind bislang Mitschriften nicht zu ermitteln gewesen. Umso interessanter ist nun eine Mitschrift von Nitzschs Vorlesung über „Allgemeine Verfassungsgeschichte, gelesen Winter 1873/74 zu Berlin“, die unter Verwendung von Aufzeichnungen „des Hrn. Dr. Posner“62 von einem der prominentesten Schüler Nitzschs, nämlich von Karl Zeumer angefertigt worden ist und die auch aus dessen Besitz stammt63. Sie gibt immerhin einen Einblick in die Konzeption des Ganzen und erlaubt, werden die einschlägigen Publikationen Nitzschs zu Teilaspekten zugezogen, eine Annäherung an dieses auf anderem Wege nicht überlieferte Werk. In der „Einleitung“ hat sich Nitzsch zunächst grundsätzlich über „Bedeutung und Entwicklung des verfassungsgeschichtlichen Studiums bis 1789“ geäußert, eine Epochengliederung, die – zumal an der Berliner Universität – zu dieser Zeit durchaus nicht selbstverständlich gewesen ist. Ausdrücklich hat er das Verhältnis von Persönlichkeit und Geschichte thematisiert. Für Nitzsch war Geschichte, ungeachtet seiner wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Fundamentierung, doch grundsätzlich und stets die Darstellung der freien Persönlichkeit in ihrem Verhältnis gegenüber anderen freien Persönlichkeiten64. In seiner Vorlesung zur deutschen Geschichte (bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts) sprach er von der „Wechselwirkung der natürlichen Bewegungen und der individuellen Kräfte“, in der „überall das Geheimnis historischer Entwicklung“ liege65, was seine Distanz zu Positionen des ökonomischen Determinismus deutlich genug markiert. Unter den „natürlichen“, auch kollektiven Kräften mag auch die Nation verstanden werden. Ungeachtet politischer Nähe zu Heinrich von Treitschke in den späten siebziger Jahren66, tritt freilich die Ka In seinem ADB-Artikel; Jastrow, Nitzsch, Karl Wilhelm (Anm. 43), S. 741. ������������������������������������������������������������������������������������������������������� Sehr wahrscheinlich: der spätere Archivar Max Posner (gest. 1882), vgl. Eckart Henning/Christel Wegeleben, Archivare beim Geheimen Staatsarchiv in der Berliner Kloster- und Neuen Friedrichstraße 1874–1924, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 29 (1978), S. 25–61, hier S. 55. 63 Titelblatt der Handschrift: „Nitzsch. Allgemeine Verfassungsgeschichte, gelesen: Winter 1873/4. zu Berlin. Nach den Aufzeichnungen des Hrn. Dr. Posner: Karl Zeumer“. Sie umfaßt 162 Seiten im Quartformat und trägt am Schluß den (Besitz-)Stempel „K. Zeumer“. Das Manuskript wurde vom Verfasser im Antiquariatshandel erworben. 64 Nitzsch, Allgemeine Verfassungsgeschichte (Anm. 63), hier S. 1–19. Die Handschrift ist passagenweise dadurch nicht leicht zu benutzen, weil der Text mit zahlreichen Abkürzungen wiedergegeben worden ist. Diese sind für die hier gegebene erste und notwendigerweise nur kursorische Auswertung aufgelöst worden. – Zudem ist die Handschrift stellenweise verblaßt, was die Auswertung zusätzlich erschwert. 65 Nitzsch, Geschichte des Deutschen Volkes (Anm. 4), S. 12; vgl. schon derselbe, Die Gracchen und ihre nächsten Vorgänger (Anm. 11), S. 9 (1847). 66 Vgl. Anm. 25. 61

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tegorie der Nationalität in der Konzeption von Nitzsch auffällig zurück, alles andere als eine Universalie der allgemeinen Geschichte. Erst in der Zeit Machiavells sei „in Italien … die Rivalitaet der jungen europäischen Nationalstaaten zum tragen“ gekommen, als ein europäisches Staatensystem entstand, das ihn in Analogien zur alten Welt interessierte67. Die zunehmende Bedeutung der Meere zumal nach 1789, der geradezu – so Nitzsch – „transatlantisch[en]“ Dimensionen, trat freilich hinzu, bestimmt von Spanien, den Niederlanden, dann Frankreich und England. Aber letztlich fragte er auch da nach den sozialen Trägern der die europäische Geschichte längst transzendierenden Prozesse. Seine Antwort auf diese Frage war eine nichtdialektische, eine, die die Bedeutung (europäischer) Aristokratien und – in heutigen Termini – des Elitenwandels auch in Relation zu anderen sozialen Ständen und Schichten akzentuierte. „Die Aristocraten vertreten das Interesse des Bürgertums. Darauf beruht wesentlich unsere Cultur“68. Von der Geschichte der germanischen und romanischen Völker ging er in Mittelalter und Neuzeit aus, beachtete aber sehr wohl die Ausdehnung des Staatensystems nicht nur auf Rußland, sondern auch nach „Nordamerika“, dies alles mit der Tendenz zur „Gleichberechtigung der Nationen“. Auch im 19. Jahrhundert war es nicht „die Frage der Nationalitäten“ allein, die die „politische Entwicklung“ bestimmte. Als zweiter und davon unabhängig gedachter Faktor war es „in allen Staaten der Romanisch-Germanischen Welt das Verhältniß der Militär- zur bürgerlichen Verfassung, die doch erst beide zusammen den Staat bilden“69. Der Vergleich war dabei ganz wesentlich einer zwischen analogen Phänomenen in verschiedenen Zeitaltern, vor allem neuerer Entwicklungen mit solchen der (römischen) Antike; die innerepochale Komparatistik trat hinzu, etwa um den deutschen Fall als letzten, verspäteten Vorgang der Nationalstaatswerdung in Europa zu verstehen70. Die Sonderwegsdiskussion des späteren 20. Jahrhunderts besitzt also einen frühen Vorläufer in der Geschichtswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts. In zwei Haupt-Perioden gliederte Nitzsch seine „Allgemeine Verfassungsgeschichte“, die schon um 1870 „von Israel bis Nordamerica“ den Bogen spannte71, also durchaus nicht auf eine Europa-Konzeption im Sinne der germanisch-romanischen Völker beschränkt blieb. Die „Periode I“ betraf „das Alterthum“72 und führte „Von der Entstehung des Staates bei den polit[ischen] Völkern“, vom „vorhistorischen Staat“ (u.a. nach Tacitus) zu den „classischen Völkern“, die er mit der „jüdischen Verfassung“ einsetzen ließ und die über Griechen67

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Nitzsch, Allgemeine Verfassungsgeschichte (Anm. 63), S. 8. Ebenda, S. 12, folgendes: S. 21. Ebenda, S. 12, und mit den folgenden Zitaten: K[arl] W[ilhelm] Nitzsch, Das Verhältniß von Heer und Staat in der Römischen Republik, in: Historische Zeitschrift 7 (1862), S. 133–158, hier S. 133 f. Wichtig (1871) Nitzsch, Deutsche Stände und deutsche Parteien (Anm. 54), S. 96 ff.; Sonderweg: Winter, Die Bedeutung Karl Wilhelm Nitzsch’s (Anm. 44), S. 212. So sein Brief vom 2. April 1869, also aus den Königsberger Jahren, bei Below/Schulz (Hrsg.), Briefe von K. W. Nitzsch (Anm. 29), S. 317 f.; danach auch Fritz Hartung, Zur Entwicklung der Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland, zuerst 1956, wieder in: derselbe, Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1961, S. 431–469, hier S. 455. Nitzsch, Allgemeine Verfassungsgeschichte (Anm. 63), S. 23–78.

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land „im Gegensatz zur asiat[ischen] Kultur u[nd] Pers[ischen] Verfassung“ zur römischen Geschichte reichte. Die „Periode II“ wurde als „das Mittelalter“73 überschrieben, umfaßte aber Längsschnitte bis weit in die Neuzeit hinein. Nach Ausführungen zur „Übergangsperiode“ folgt ein zweiter Paragraph – zur „Verfassung der Republ[ik] der Dithmarschen“, einsetzend in der Zeit Karls des Großen, mit eingehender Behandlung der Wehrverfassung, der Rolle der Kirchspiele und der „Landesversammlung“. Das Verfahren Nitzschs war ein exemplarisches, (noch) nicht ein typologisches, und dabei gewannen die Kieler Forschungserfahrungen zur nordwestdeutschen Landesgeschichte im Lichte universalgeschichtlicher Perspektiven ein neues Gewicht74, gefolgt von einem Kapitel über das „Königreich Arragon“ im Kontext lehnsrechtlicher Entwicklungen, sodann von einem Abschnitt über Florenz, der Anlaß gab, städtische Verfassungsordnungen beispielhaft zur Darstellung zu bringen. Das republikanische Element wurde in Nitzschs „Allgemeiner Verfassungsgeschichte“ ganz auffallend stark akzentuiert, und so wurden „die Republiken des 14. und 15. Jahrhunderts“ eingehend behandelt, und zwar mit Blick auf die Entwicklung der Verkehrsverhältnisse im Europa dieser Zeit75. Die Konkurrenz der „Stadtgewalten“ gegenüber den Feudalgewalten, zumal in Deutschland, wurde als Spezifikum der mitteleuropäischen Geschichte ausgemacht, während in Westeuropa die städtische Autonomie schon längst im Schwinden begriffen gewesen sei. Die außereuropäischen Entdeckungen hätten – so Nitzsch – in Spanien, Frankreich und in England die „Feudalmonarchien“ mit neuen „Machtmitteln für das Königtum“ gestärkt. Aber die Eidgenossenschaft, d.h. die Schweiz und die „Republik der Niederlande“ hätten die Bedeutung der mittelalterlichen Kommunalverfassung in die Neuzeit tradiert. Diese „Staaten halten die Idee der bürgerl[ichen] Freiheit so lange, bis England … Träger derselben“ wurde. Aber mit Ausnahme Dithmarschens habe es in diesen (republikanischen) „Staaten“ eine „ständische[e] Reaction“ gegeben, getragen von den – das interessierte Nitzsch immer wieder – „aristocrat[ischen] Elemente[n]“76. Die Niederlande hatten moderne Entwicklungen ermöglicht, fundamentiert von dem Niveau der Produktion und letztlich getragen von einem Reichtum „wie nirgends in Europa“. Daß sich Nitzsch schon früh mit der englischen Geschichte der Neuzeit beschäftigt hatte, wurde bereits erwähnt77. „Die englische Verfassung“ seit der Normannenzeit bildete ein Kernstück der Vorlesung, zugleich den Übergang zu den moderneren Jahrhunderten, mit starkem Akzent auf der Genese der Parlamentsverfassung in Mittelalter und Neuzeit78. In seinen Vorlesungen zur deutschen Geschichte hatte er Regelhaftigkeiten gesucht, die die Entwicklung „alle[r] modernen Staaten“ kennzeichneten und dabei den „Gegensatz“ von 73

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Ebenda, S. 79–162; die durchgehende Paragraphenzählung bis zum letzten Abschnitt verweist ihn in der Gliederung der vorliegenden Mitschrift gleichfalls zur zweiten „Periode“. Ebenda, S. 84–88, bes. S. 86 f.; Florenz: S. 96–108. Ebenda, S. 109 f., und überhaupt S. 109 f., auch folgendes Zitat. Nitzsch, Allgemeine Verfassungsgeschichte (Anm. 63), S. 116, Niederlande: S. 125–133, Zitate: S. 126. Vgl. oben Anm. 58 und dabei im Text. Nitzsch, Allgemeine Verfassungsgeschichte (Anm. 63), S. 133–159.

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„grundbesitzende[r] Feudalaristokratie“ und „Bürgertum“, die Entstehung steuerbewilligender „berathende[r] und beschließende[r] Versammlungen“ betrachtet, wie sie ja „der eigentliche Knotenpunkt des Verfassungslebens und der Verfassungsentwicklung Frankreichs wie Englands und der spanischen Königreiche wurde“79. Die Spezifik der „Stellung, die Deutschland in den früheren Jahrhunderten in dem großen System des europäischen Handels“ einnahm, schien die eigentliche Erklärung dafür zu bieten, daß sich hier „das Bürgertum … noch keineswegs so bestimmt von dem Adel gesondert“ hatte. Die Entwicklung der „Märkte“ in Europa und die Verfassungsentwicklung gehörten nach Nitzsch zusammen; die eigentümliche Verkehrslage bedingte (im Mittelalter) den besonderen geschichtlichen Weg Deutschlands, im Unterschied zu England, Frankreich oder Skandinavien80. – In der „Allgemeinen Verfassungsgeschichte“ wird dieser Blick weg von der mitteleuropäischen Szene konsequent geweitet, europäisiert und auf eine generellere Ebene gehoben. „Auf dem Gegensatz zwischen Monarchie und Republik beruht die politische Entwicklung der Menschheit.“ Die Entstehung „absoluter“ „Feudalmonarchie[n]“81 war also mitnichten der einzige Weg der allgemeinen verfassungsgeschichtlichen Prozesse in Richtung auf die Gegenwart, seit dem 18. Jahrhundert ganz wesentlich bestimmt von der „weltbeherrschende[n] Stellung“ Englands, an dem Nitzsch die Anpassungsfähigkeit der Aristokratien und – damit zusammenhängend – die „wunderbare[n] Schöpfungen der Industrie“ hervorhob. Kein Blick auf die mitteleuropäischen Reiche, sondern ein knapper Überblick über „die Verfassung der vereinigten Staaten und die neuere Verfassung überhaupt“ standen am Abschluß dieser in der Tat universalgeschichtlich angelegten „Allgemeinen Verfassungsgeschichte“82. Die Verfassung der Vereinigten Staaten mit ihrem „Kompromiß“ monarchisch-präsidialer und parlamentarischer Elemente war ihm zwar „kein Meisterwerk“. „Aber sie ist nur eine Etappe in der Entwicklung der menschlichen Anschauung.“ Die Bildung neuer Aristokratien nach der Französischen Revolution, in Nordamerika und auf dem Kontinent, die Rolle des kleinen Grundbesitzes in diesem Zusammenhang, die Stellung und Begrenzung des Einusses, den die Aristokratie besaß, in der „industrielle[n] Bewegung“, das gleichzeitige „Vordringen des Bürgerstandes“ – all dies kennzeichneten für den Berliner Professor die Tendenzen der Verfassungsgeschichte in Gegenwart und Zukunft83. Von Preußen und Österreich, auch vom Heiligen Römischen Reich in seinen letzten Epochen war dabei mit keinem Wort die Rede – ein immerhin bemerkenswerter Befund

Nitzsch, Geschichte des Deutschen Volkes (Anm. 4), 1. Au., Bd. 1, S. 268. ����������������������������������������������������������������������������������������������������������� Ebenda, S. 289 f.; zur Rolle von Verkehrs- und Handelsverhältnissen für die politischen Strukturen mit Wirkung auf das Verhältnis von Bürgertum und Aristokratie: Nitzsch, Deutsche Stände und deutsche Parteien, (Anm. 54), S. 13, 88, 91, 94 f. 81 Nitzsch, Allgemeine Verfassungsgeschichte (Anm. 63), S. 125, wiederum unter Auösung starker Abbreviaturen; England: S. 149, 155 ff., Zitat: S. 158. 82 Ebenda, S. 159–162. 83 Ebenda, S. 162; zur Rolle der „Maschinenindustrie“ in der Verfassungsgeschichte vgl. schon 1862 Nitzsch, Das Verhältniß von Heer und Staat (Anm. 69), S. 136. 79 80

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für die Lehrpraxis an der Friedrich-Wilhelms-Universität der preußisch-deutschen Hauptstadt in der späten Reichsgründungszeit. Noch fehlten die Instrumente typologischen Vergleichs sowie eines elaborierten Raumbegriffs. Die Relation innerer Strukturbildungen und äußerer Faktoren umschlossen zwar die Kategorien von Markt und Verkehr, noch nicht aber die Wirkungen der Machtkonkurrenz im „Schieben und Drängen“ der Mächte84. Es bleibt zu prüfen, inwieweit sich Nitzsch dem Begriff historischer Gesetzlichkeit annäherte; schon ihm war aufgegangen, „wie nach unwiderstehlichen Gesetzen, oft in überraschender Gleichzeitigkeit, … uns bei den einzelnen räumlich weit getrennten Völkern dieselben Erscheinungen entgegen[treten]“85. Das alles zwingt zu dem Schluß, daß schon vor der großen Zeit einer letztlich vergleichenden, aber ganz wesentlich aus preußischen Wurzeln erwachsenden Strukturgeschichte86 eine (Berliner) Tradition der „Allgemeinen Verfassungsgeschichte“ begründet worden ist, die bislang kaum erahnt, jedenfalls aber nicht analysiert werden konnte. Nicht durch die Publikation lebte sie fort, sondern als Wissen bei denen, die von ihr – im Vorlesungssaal der Universität unter den Linden – erfahren hatten, an dem Ort, an dem bald ein Gustav Schmoller und ein Otto Hintze wirkten. Und doch spricht einiges dafür, die große Tradition der historischen Analyse von Staatsbildungsprozessen nicht erst mit ihnen einsetzen zu lassen.

Wichtigste Veröffentlichungen von K. W. Nitzsch (Titel gekürzt) Deutsche Studien, Berlin 1879. – Die Gracchen und ihre nächsten Vorgänger, Berlin 1847. – Ministerialität und Bürgertum im 11. und 12. Jahrhundert, Leipzig 1859. – Das alte Ditmarschen, Kiel 1862. – Römische Annalistik von ihren ersten Anfängen bis auf Valerius Antias, Berlin 1873, ND Hildesheim/New York 1974. – Geschichte des Deutschen Volkes bis zum Augsburger Religionsfrieden, 3 Bde., 1. Au. Leipzig 1883–1885. – Geschichte der römischen Republik, 2 Bde., Leipzig 1884/85.

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Vgl. Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze und seine Konzeption der „Allgemeinen Verfassungsgeschichte der neueren Staaten“, zuerst 1993, erweitert in: Otto Hintze, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten. Fragmente, Bd. 1, hrsg. von Giuseppe di Costanzo/Michael Erbe/Wolfgang Neugebauer, Neapel 1998, S. 35–83, hier S. 40 f. Nitzsch, Geschichte des Deutschen Volkes (Anm. 4), Bd. 2, S. 158. Vgl. Wolfgang Neugebauer, Die Anfänge strukturgeschichtlicher Erforschung der preußischen Historie, in: derselbe/Ralf Pröve (Hrsg.), Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens 1700–1918 (Innovationen, 7), Berlin 1998, S. 383–429.

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Veröffentlichungen über K. W. Nitzsch Ignaz Jastrow, Karl Wilhelm Nitzsch und die deutsche Wirthschaftsgeschichte, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 8 (1884), S. 873–897. – Ignaz Jastrow, Nitzsch, Karl Wilhelm, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 23, Leipzig 1886, S. 730–742. – Herbert Merzdorf, Karl Wilhelm Nitzsch. Die methodischen Grundlagen seiner Geschichtsschreibung, Leipzig 1913 (dazu die Rez. von Georg von Below, in: Historische Zeitschrift 113 [1914], S. 559–566). – Bruno Opalka, Einführung, in: K. W. Nitzsch, Geschichte des deutschen Volkes [w.o.]. Unveränderter Nachdruck der 2. Au. von 1892, Stuttgart 1959, S. 7*–64*. – Richard Rosenmund, Karl Wilhelm Nitzsch, in: Preußische Jahrbücher 48 (1881), S. 321–345, 425–448; 49 (1882), S. 262–289, 337–354. – Georg Waitz, Karl Wilhelm Nitzsch, in: Biographisches Jahrbuch für Alterthumskunde, 3. Jg. 1880, Berlin 1881, S. 23–26. – Georg Winter, Die Bedeutung Karl Wilhelm Nitzsch’s für die deutsche Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, in: Vierteljahrschrift für Volkswirtschaft, Politikund Kulturgeschichte 22 (1885), S. 200–216. – Während des Drucks erschien: Johannes Helmrath, Geschichte des Mittelalters an der Berliner Universität 1810–1918, in: HeinzElmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 4: Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität, Berlin 2010, S. 265–289.

Abbildungen Bei Opalka (s.o.); weitere Abb. nachgewiesen bei Johannes Asen (Hrsg.), Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers der Universität Berlin, Teil 1, Leipzig 1955, S. 141.

Adolph Wagner Von Frank E. W. Zschaler „Aber in diesem Preußen sind meine Fächer ja ein 5tes Rad am Wagen … Berlin bin ich satt bis fast über beide Ohren. Ich könnte wieder nach – Österreich oder gar in die Schweiz gehen, wo wenigstens nicht diese Selbstzufriedenheit mit mittelmäßiger Verwaltung besteht. Ja wenn man hier doch Major oder doch wenigstens Hauptmann 1. Classe wäre, dann ginge es noch! Oder wenn die Berliner Universität ein detachirtes Fort wäre, für deren Dutzende jedesmal 600.000 Taler da sind, aber so!! Wem interessiert sie!“ Adolph Wagner an Eduard Winkelmann, Nov. 18731

I. Als Adolph Wagner diese ernüchternden Zeilen an den Historiker Eduard Winkelmann (1838–1896) schrieb, war er als Nachfolger seines Göttinger Doktorvaters Georg Hanssen (1809–1894), der 1860 einen Ruf nach Berlin angenommen hatte, seit drei Jahren Ordinarius für Staatswissenschaften an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Der 38jährige, 1835 in Erlangen im damaligen bayerischen Rezatkreis geborene Rechts- und Staatswissenschaftler hatte bereits eine rastlose akademische Karriere zurückgelegt, die ihn nach seiner Promotion 1857 als Professor an die Handelsakademie Wien, die Höhere Kaufmännische Lehranstalt in Hamburg, die Kaiserlich Russische Universität Dorpat in Livland und die Universität Freiburg im Breisgau führte. Auch familiär war sein Leben alles andere als einfach gewesen. Zwei Schicksalsschläge, der Verlust seiner ersten Ehefrau Johanna, geb. Buse, 1868 und der frühe Tod seiner zweiten Frau Johanna, gen. Jane, geb. Hahn, nach nur dreijähriger Ehe 1872, hatten den Vater von fünf Kindern sehr bedrückt. Seit 1873 war er „auch im Interesse der Kinder und des Hauses“2 mit Martha, geb. Schöneberg, verheiratet, mit der er drei weitere Kinder hatte und die ihn um ein Jahr überleben sollte. Wagner war für den Berliner Lehrstuhl nicht die allererste Wahl. Die Philosophische Fakultät wollte eigentlich den Begründer der älteren historischen Schule der Nationalökonomie Wilhelm Roscher (1817–1894) haben, der seit 1848 an der Universität Leipzig lehrte. 1



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Adolph Wagner an Eduard Winkelmann, Berlin, 23. November 1873, in: Heinrich Rubner (Hrsg.), Adolph Wagner. Briefe – Dokumente – Augenzeugenberichte 1851–1917, Berlin 1978, S. 126–127, Zitat S. 127. Adolph Wagner an Otto Benndorf, Berlin, 19. Juli 1873, in: Ebenda, S. 124.

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Adolph Wagner *25. März 1835 in Erlangen, † 8. November 1917 in Berlin

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Adolph Wagner (1835–1917) portraitiert von seiner Tochter Cornelia von Paczka (Radierung, 1905)

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Von Mitte März bis Ende Oktober 1869 versuchte die Fakultät, mit Unterstützung durch den preußischen Minister der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten, den schon 52 Jahre alten Roscher für Berlin zu gewinnen. Erst nach dessen Absage wurde am 1. November eine Zweierliste beschlossen, mit Adolph Wagner auf dem ersten und Gustav Schmoller (1838–1917) auf dem zweiten Platz. Ungeachtet eines Sondervotums des Historikers Ernst Hellwing (1803–1875) für den Nationalökonomen Johann Ludwig Tellkampf (1808– 1876) teilte der Minister nach längerer Prüfung der Fakultät mit, dass er dem preußischen König die Berufung Wagners vorgeschlagen habe3. Rektor und Senat wurden am 18. Juni 1870 benachrichtigt, dass „Seine Majestät der König auf unseren Antrag den Professor Dr. Adolph Wagner in Freiburg zum ordentlichen Professor an der philosophischen Fakultät der hiesigen Universität zu ernennen geruht haben. Der g. Wagner wird das ihm übertragene Lehramt zu Michaelis d.J. antreten“4. Am 4. Oktober 1870, immerhin fünf Tage nach Michaelis, traf Wagner in Berlin ein. Nach eigener Aussage ging damit ein Lebenswunsch in Erfüllung5. Seinem Bruder, dem Göttinger Geo­graphen Hermann Wagner (1840–1929) schrieb er: „Lieb ist mir das Bewusstsein, an meinem endgültigen Wohnort angelangt zu sein. Ich bin des Wanderns müde. Lieb ist auch das Gefühl, in Preußen, in Deutschland zu sein. Wie anders wäre es, wenn ich an den Angeln des Ehrgeizes in Österreich, Russland angebissen hätte! Gottlob dass es anders kam“6. Die erste Begeisterung wurde durch die Situation an der Universität gedämpft, Nationalökonomie war in Preußen nur Nebenfach im juristischen Studium. Seinen unmittelbaren Kollegen, den Nationalökonomen und Philosophen Eugen Dühring (1833–1921) schildert Wagner als „blinden, krakehligem philosophischen Privatdozenten“7. Das übrige Kollegium der Philosophischen Fakultät nahm Wagner freundlich auf, wenngleich es ihm schwer fiel, zu den großenteils erheblich älteren Kollegen engere persönliche Kontakte aufzubauen. „Aber was sind das meist für alte Knöpel, Raumer 91, Bekker 86, Ohm 79 usw. (dieser sagte mir, er habe auch einmal Freiburg besucht, – im Jahre 1809!); meist graue oder weiße oder kahle Köpfe; nur mit letzterem kann ich concurrieren“8. Während Wagners langer Dienstzeit sollte sich die Stellung seines Fachs in Berlin grundlegend ändern. An anderen deutschen Universitäten war die Nationalökonomie unter

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Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zur Berlin, Bestand Philosophische Fakultät der FriedrichWilhelms-Universität, Nr. 1459, Bl. 275, 276, 281–283, 316. Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zur Berlin, Personalakte Adolph Wagner, Littr. W, No. 31, Vol. I, Bl. 2. Adolph Wagner an Hermann Sauppe, Freiburg i. Br., 27. April 1870, in: Rubner (Hrsg.), Adolph Wagner (Anm. 1), S. 77–78. Adolph Wagner an Hermann Wagner, Berlin, 16. Oktober 1870, in: Ebenda, S. 84–85. Ebenda. Ebenda.

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der Bezeichnung Staatswissenschaften bereits institutionalisiert. Die Universität Tübingen hatte Anfang des 19. Jahrhunderts unter maßgeblicher Beteiligung Friedrich Lists die erste staatswissenschaftliche Fakultät in Deutschland eingerichtet. Das erste staatswissenschaftlich-statistische Seminar war 1849 an der Universität Jena entstanden9. Wagner untersuchte 1877 die Stellung von Staatswissenschaften und Statistik an den deutschen Universitäten und kam dabei zu dem Ergebnis, dass die Nationalökonomie nirgends mehr den Anforderungen der Zeit entsprechend vertreten sei und die Statistik nur an wenigen Universitäten überhaupt vorkomme. Wagner empfahl, ein systematisches Studium der Nationalökonomie zu konzipieren und Kurse für die Aus- und Weiterbildung von höheren Staatsbeamten anzubieten10. Nach Wagner wurden von der philosophischen Fakultät der Agrarhistoriker und Statistiker August Meitzen (1822–1910) ab dem Wintersemester 1875/76, der Demograph und Statistiker Richard Boeckh (1824–1907) ab dem Wintersemester 1881/82 und der Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker Gustav Schmoller ab dem Sommersemester 1882 berufen. Von ihnen ging die Institutionalisierung der Nationalökonomie an der Berliner Universität in Gestalt eines wirtschaftswissenschaftlichen Universitätsinstituts aus, welches die im Laufe der Zeit entstandenen Lehrstühle organisatorisch verband. 1883 richteten Meitzen, Boeckh, Schmoller und Wagner an das Ministerium ein gemeinsames „Gesuch um die Einrichtung eines Staatswissenschaftlich-statistischen Seminars“ an der Philosophischen Fakultät. Drei Jahre später wurde dem stattgegeben. Die Bildung des Staatswissenschaftlich-statistischen Seminars im Jahr 1886 ermöglichte, bei weiter voranschreitenden Differenzierungsprozessen zwischen den Wissenschaften, übergreifende Aspekte in Lehre und Forschung zu verwirklichen. Das staatswissenschaftliche Studium konnte curricular strukturiert werden11. Aufgrund des großen internationalen Renommees Wagners und Schmollers kamen zahlreiche ausländische Studenten an die Berliner Universität, darunter solche aus Russland, Südosteuropa und den USA. Mit dem Nationalökonomen Johannes Conrad (1839– 1915) in Halle standen sie um die Jahrhundertwende an der Spitze der von nordamerikanischen Studenten und Doktoranden bevorzugten deutschen Universitätslehrer. Der Andrang war groß. Zu den Seminaren und Übungen kamen 30 bis 50, manchmal auch mehr Teilnehmer, neben Studenten auch jüngere Wissenschaftler und preußische Beamte12. 9



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Vgl. Norbert Waszek (Hrsg.), Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten, St. Katharinen 1988. Adolph Wagner, Zur Statistik und zur Frage der Einrichtung des nationalökonomischen und statistischen Unterrichts an den deutschen Universitäten, in: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Büros XVII (1877), S. 127 ff. Frank Zschaler, Vom Heilig-Geist-Spital zur Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät: 110 Jahre Staatswissenschaftlich-Statistisches Seminar an der vormals Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität, 90 Jahre HandelsHochschule Berlin (Schriften der Wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, 2), Berlin/Heidelberg 1996. Ebenda.

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Fassade des Wohnhauses Lessingstraße 51 in Berlin NW 23, bewohnt von Adolph Wagner 1887–191713 13

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Landesarchiv Berlin B Rep. 202 (Bezirksverwaltung Tiergarten), Nr. 1320.

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Die Veranstaltungen wurden nicht nur in Universitätsräumen, sondern auch als Privatissima in den Privathäusern der Professoren abgehalten. Ab 1887 stand Wagner auch dafür mit der 1884 erbauten Stadtvilla Lessingstraße 51 am Tiergarten, die er von den Erben des früh verstorbenen Literaturwissenschaftlers Wilhelm Scherer (1841–1886) für 85.000 Mark gekauft hatte, ein geeigneter Ort zur Verfügung. In diesem Haus lebte er mit seiner großen Familie und traf sich mit Kollegen und Studierenden mehr als 30 Jahre lang14. Wie sich Wagners Verhältnisse zu und in Berlin verändert hatten, zeigte auch seine Wahl zum Rektor der Universität für das akademische Jahr 1895/96. In diesem Amt gehörte es zu seinen Aufgaben, die Gedächtnisrede anlässlich des jährlichen Stiftungsgedenkens der Universität zu halten, das traditionell am 3. August, dem Geburtstag König Friedrich Wilhelms III. von Preußen (1770–1840, König seit 1797), begangen wurde. Wagners Rede im Jahr 1896 war das staatstragend patriotische Bekenntnis eines weithin anerkannten, etablierten Gelehrten und endete mit einer Würdigung Kaiser Wilhelms I. (1797–1888, König von Preußen seit 1861, Kaiser seit 1871) als „unser edler und bescheidener Kaiser Barbablanca“15. Aber sie war genauso die Bestandsaufnahme eines Finanzwissenschaftlers, der die finanzielle Entwicklung seiner Universität kritisch unter die Lupe genommen hatte. „Bei Anstalten wie Universitäten“, führte Wagner aus, „wird immer das allgemeine öffentliche Interesse an der Pege der Wissenschaft, an Verbreitung wissenschaftlicher Bildung voranstehen. Das hat auch seine wichtigen Konsequenzen für die Kostendeckung. Soweit nicht Einnahmen aus eigenem Vermögen, wie in Preußen in bedeutendem Maße ja nur in Greifswald, oder aus Stiftungs- und Specialfonds, wie bei Göttingen und Halle, zur Verfügung stehen, kann und darf sich der Staat dem nobile officium nicht entziehen, für seine Universitäten erhebliche und nach den Bedürfnissen unvermeidlich stark steigende Mittel aus seinen eigenen Kassen zur Verfügung zu stellen“16. Scharf ging er mit dem akademischen Besoldungswesen ins Gericht, kritisierte das Maß der Ungleichheit der Professorenbesoldung und die schlechte Position von Privatdozenten und Extraordinarien, von denen die Meisten unentgeltlich lehren mussten17. Insgesamt brachte das Rektorat, wie Wagner an den Nationalökonomen und Wirtschaftshistoriker Wilhelm Stieda (1852–1933) schrieb, „viele Scheingeschäfte, unendliche Unterschriften, aber wenig Schwieriges mit sich, da man ein vortreffliches Bureau hat“18.

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������������������������������������������������������������������������������������������������ Das 1884 erbaute Haus wurde mit dem Grundstück 1922 von den Erben verkauft, das Gebäude im Zweiten Weltkrieg zerstört und in den 1950er Jahren abgebrochen. Landesarchivs Berlin B Rep. 2002 (Bezirksverwaltung Tiergarten), Nr. 1320. 15 Adolph Wagner, Die Entwicklung der Universität Berlin 1810–1896. Rede zur Gedächtnisfeier der Stiftung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität am 3. August 1896 gehalten in der Aula, Berlin 1896, S. 40. 16 Ebenda, S. 31. 17 Ebenda, S. 25 f. 18 Adolph Wagner an Wilhelm Stieda, Berlin, 28. Juni 1896, in: Rubner (Hrsg.), Adolph Wagner (Anm. 1), S. 299.

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II. Das wissenschaftliche Oeuvre Wagners ist von geradezu enzyklopädischem Ausmaß. Die meisten und die wichtigsten Werke sind in seiner Berliner Zeit entstanden. „Erst in Berlin begann Wagner seine bleibende Wirkung zu entfalten und eine bedeutende Stellung zu erringen, die allerdings hinter der des strahlenden Fakultätskollegen Gustav Schmoller zurück blieb“19. Heute ist davon eigentlich nur noch das „Gesetz der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen, bzw. der Staatstätigkeiten“ in „fortschreitenden Kulturvölkern“ bekannt, „Wagners Gesetz“, dass er in einem seiner Hauptwerke „Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre. Erster Teil: Grundlegung“, erschienen 1876, entwickelte. Seine Beobachtung – Wagner war auch Statistiker –, dass der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt infolge der Modernisierung mit der Übernahme immer weiterer Aufgaben durch den Staat zunimmt, hat sich bisher zumindest tendenziell bestätigt. Kaum ein modernes Lehrbuch der Finanzwissenschaft, gleich wo es auf der Welt erscheint, verzichtet darauf, „Wagners Gesetz“ („Wagner’s Law“) zu erwähnen. Neben dem o.g. Werk, dessen Erstauf­ lage Karl Heinrich Raus (1792–1860) „Grundsätze der Volkswirtschaftslehre“ zugrunde lagen und das mehrere Ausgaben mit wechselnden Titeln erlebte – zuletzt als „Theoretische Sozialökonomik oder Allgemeine und theoretische Volkswirtschaftslehre. Grundriss tunlichst in prinzipieller Behandlungsweise in zwei Bänden“ 1907 und 1909 erschienen –, hat die „Finanzwissenschaft“ seinen wissenschaftlichen Ruf und Ruhm begründet. Sie erschien erstmals 1871/1872 – ebenfalls mit Bezug zu Raus „Grundsätzen“ – und erlebte eine Erweiterung auf vier Bände. Wagner war, obwohl er die Volkswirtschaftslehre wie damals üblich in Lehre und Forschung in ihrer ganzen Breite vertrat, vor allem Finanzwissenschaftler, bis heute der bedeutendste deutschsprachige Vertreter dieses Fachs. Darüber hinaus hat er sich mit Geld-, Bank- und Währungstheorie beschäftigt. Schon die Göttinger Dissertation, 1857 unter dem Titel „Beiträge zur Lehre von den Banken“ publiziert, in der Wagner den Standpunkt der Banking-Theorie vertrat, erlangte weite Verbreitung. Jedoch stellte die „Sozialökonomische Theorie des Geldes und des Geldwesens“ – 1909 als zweiter Band der o.g. „Theoretischen Sozialökonomik“ eigenständig erschienen – „neben seiner Finanzwissenschaft … das eigentliche Opus Magnum“ auf diesem Gebiet dar20. In vielen Einzelpublikationen nahm er außerdem zu aktuellen Fragen der Geld- und Finanzpolitik Stellung und erlangte damit auch Einuss auf die Gesetzgebung im Kaiserreich. Beispielhaft stehen dafür „Die Zettelbankreform im Deutschen Reich“ von 1875 und „Für bimetallistische Münzpolitik Deutschlands“ von 1881.

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Karl Häuser, Adolph Wagner – Leben und Werk, in: Bertram Schefold / Karl Häuser / Karl-Dieter Grüske / Robert K. von Weizsäcker (Hrsg.), Wagner – Vademecum zu einem Klassiker der Finanzwissenschaft. Einleitung zu Adolph Wagners „Grundlegung“. Adolph Wagner – Leben und Werk. Wagners „Grundlegung“ im Spannungsfeld zwischen Liberalismus und Sozialismus, Düsseldorf 1991, S. 39–55, hier S. 42. Ebenda, S. 55.

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III. Wagners dritter Schwerpunkt war die Sozialpolitik. Die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage hat sein wissenschaftliches und politisches Leben geprägt. Sie hat dazu beigetragen, dass er seinen ursprünglichen, in der Nachfolge von John Stuart Mill (1806–1873) und Rau zu verortenden, liberalen Standpunkt aufgab. Die negativen Seiten eines schrankenlosen Kapitalismus machten aus ihm einen „sozialistischen Konservativen“21, einen Staatssozialisten. Auch sein zeitweiliges politisches Engagement, darunter als Mitglied und Vizepräsident der vom ultrakonservativen evangelischen Theologen und Berliner Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) gegründeten „Christlich-sozialen Arbeiterpartei“, für die er von 1882 bis 1885 im Preußischen Abgeordnetenhaus saß, speiste sich aus dem Wollen, nicht nur als Wissenschaftler zu erklären und zu mahnen, sondern selbst aktiv politisch mitzugestalten. Er „gehörte zu jenen, die in einer nationalen Ausprägung sozialer Ideen den Weg in die Zukunft sahen und großes Vertrauen in den Staat in Form der konstitutionellen Monarchie als Garanten nicht nur der Ordnung und des Übergangs, sondern auch einer positiven Gestaltung des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens, durch ordnungspolitische Maßnahmen wie Umverteilung, Bildungs-, Familien- und Bevölkerungspolitik, setzen. Zu Wagners Programm gehörte die Führung öffentlicher Unternehmungen in bestimmten Bereichen, darunter die Verstaatlichung der Eisenbahn“22. Vor allem gehörte zu seinem Programm das Sozialstaatlichkeitsprinzip, d.h. eine staatliche Absicherung grundlegender sozialer Risiken. Gemeinsam mit einigen Kollegen, darunter die Nationalökonomen Lujo Brentano (1844–1931), Adolf Held (1844–1880) und Schmoller war er 1873 einer der Mitbegründer des „Vereins für Socialpolitik“. Für die sozialpolitisch engagierten Universitätslehrer setzte sich die zunächst ironisch gemeinte Bezeichnung „Kathedersozialisten“ durch, die bald zu einem Synonym für die deutschen Nationalökonomen wurde, die sich der sog. „Jüngeren historischen Schule“ zugehörig fühlten und deren wissenschaftliches Haupt und Wortführer Schmoller war. Wagner war nicht damit einverstanden, als „Kathedersozialist“ bezeichnet zu werden; auch im Methodenstreit stand er auf der Seite Carl Mengers (1840–1921). Oswald von Nell-Breuning (1890–1991), der im Wintersemester 1909/1910 Wagners Vorlesung im Auditorium Maximum der Berliner Universität gehört hatte, erinnerte sich an einen regelrechten Wutausbruch des fast 75jährigen: „Was habe ich denn mit Gustav Schmoller und Lujo Brentano gemeinsam?“, soll er sehr ärgerlich ausgerufen haben23. Wagner, der zwar auch historisch-institutionell arbeitete, verstand sich selber in erster Linie als volkswirtschaftlicher Theoretiker, der die theoretischen Defizite der jüngeren historischen Schule heftig kritisierte. Deswegen, aber auch we-

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Ebenda, S. 49. Bertram Schefold, Einleitung zu Adolph Wagners Grundlegung, in: Ebenda, S. 17–38, hier S. 23. Oswald von Nell-Breuning S.J., Geleitwort, in: Rubner (Hrsg.), Adolph Wagner (Anm. 1), S. V–VII, hier S. V.

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gen seiner Persönlichkeit, „weil ihm überhaupt die Gabe abging, sich in das Wesen und die Seele, die Interessen und Empfindungen anderer zu versetzen“, wie sein Bruder Hermann schrieb24, verließ er den Vorstand des Vereins für Socialpolitik bereits nach wenigen Jahren. Inwiefern er persönlich Einuss auf die Sozialgesetzgebung des Kaiserreichs genommen hat, ist nicht genau zu klären. Sicher ist nur, dass Wagner den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck (1815–1898) mehrmals getroffen hat, dessen ältester Sohn Herbert Fürst von Bismarck (1849–1904) bei ihm Examen machte, und zwischen beiden ein Briefwechsel über die Unfallversicherung und die Rentenversicherung bestand, der allerdings mit dem übrigen Nachlass Wagners in der Preußischen Staatsbibliothek im Zweiten Weltkrieg verbrannt ist25. Sein Konzept von Sozialpolitik ging über eine Veränderung der Einkommensverteilung und die Einführung von Sozialversicherungs­gesetzen hinaus. Auch bei der Bildung und der Gesunderhaltung der Bevölkerung sollte sich der Staat engagieren. „Daneben stehen noch die Ziele der Entproletarisierung, die Befreiung von marktbedingten Abhängigkeitsverhältnissen, die Stärkung der Leistungsfähigkeit, der Selbständigkeit, der Selbstverantwortung. Letztlich sollte Sozialpolitik auf den Schutz, die Erhaltung und Förderung der menschlichen Vitalsituation hinarbeiten“26. Nach dem Ende seines aktiven Engagements im Verein für Socialpolitik blieb Wagner der evangelisch-sozialen Bewegung verbunden. Die religiös-ethische Wurzel seines sozialen Engagements kann nicht nur mit der Herkunft des Vaters aus einer fränkischen Pastorenfamilie erklärt werden. Es selbst reklamierte für sich eine Verbindung von Glauben und Vernunft, die in der ethischen Rückbindung seines nationalökonomischen Denkens wurzelte. Seine wirtschaftsethischen Überzeugungen haben über seinen akademischen Schüler und persönlichen Freund Heinrich Pesch (1854–1926) auch Eingang in die katholische Soziallehre gefunden. Nell-Breuning, seinerseits ein Schüler von Pesch, schrieb darüber: „Wenn immer Pius XII. in seinen Verlautbarungen nationalökonomisches Gebiet betritt, meine ich hinter ihm Gustav Gundlach, hinter diesem Heinrich Pesch und nochmals hinter diesem Adolph Wagner zu sehen und Wagners Stimme zu vernehmen“27.

IV. Die anfängliche Skepsis gegenüber dem preußischen Militarismus hatte sich, je einussreicher und angesehener Wagner wurde, in eine Verklärung alles Preußischen gewandelt. Der schwedische Nationalökonom Knut Wicksell (1851–1926), der seine Lehrveranstaltungen

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Schefold / Häuser / Grüske / von Weizsäcker (Hrsg.), Wagner (Anm. 19), S. 5. Vgl. Hinweise bei Häuser, Adolph Wagner (Anm. 19), S. 44 (mit Fußnote 8), und Rubner (Hrsg.), Adolph Wagner (Anm. 1), S. 425. Paul Becher, Vergleich und Kritik der sozialpolitischen Auffassungen bei Lujo Brentano, Adolph Wagner, Georg von Hertling und Franz Hitze, München 1965, S. 55. von Nell-Breuning, Geleitwort (Anm. 23), S. VI–VII.

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Familiengrab Wagner, Kirchhof Jerusalem III (Zustand März 2009)28

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Fotografie von Frank E. W. Zschaler, 18. März 2009.

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im Wintersemester 1888/1889 besuchte, nannte ihn „just a Lobhudler … of everything Prussian“29. Die Stöcker-Partei, der sich Wagner Ende der 1870er Jahre angeschlossen hatte (s.o.), war nach ihrer Gründung schnell aus einer ursprünglich sozialen zu einer antisemitischen Bewegung geworden. Auch „Wagner war“ wie sein Schüler Franz Oppenheimer (1864–1943) schrieb, „federführend an der Bewegung beteiligt … aus seiner antikapitalistischen Einstellung heraus; er fürchtete das jüdische Kapital mehr als das christliche, wohl aus dem Grunde, weil er nicht hoffte, in der jüdischen Psyche den Ankergrund der brüderlichen Liebe zu finden, die er anrief, um die schärfsten Spitzen der von ihm beklagten und bekämpften wirtschaftlichen Entwicklung doch wenigstens abzustumpfen“30. Wagner selber bezeichnete sich als Antisemiten. 1885 zog er sich aus der aktiven Politik zurück, um sich ganz der Wissenschaft zu widmen. Elf Jahre später legte er auch seine Parteiämter nieder. „Aber dann sank ihm doch wohl das Kulturniveau allzutief, ekelte ihn wohl der Mammonismus mit umgekehrten Vorzeichen, der rein materialistische Neid, der sich immer breiter machte, allzusehr …“31. Wagners Antisemitismus kann trotz dieser und weiterer sympathischer Einschätzungen durch jüdische Schüler und Kollegen, wie Martin Heilmann (*1943) geschrieben hat, nicht relativiert werden. Seine antisemitischen Pauschalurteile waren verhängnisvoll und gefährlich32. Ähnlich befremdlich sind für uns sein Militarismus und Nationalismus, die Rechtfertigung der Flottenrüstung und der deutschen Kolonialpolitik. Viele Zeitgenossen bewerteten das freilich anders. Als Wagner im fortgeschrittenen Alter von 81 Jahren als ältester aktiver Professor der Berliner Universität den Antrag auf Emeritierung stellte, konnte er sich nicht nur des Ansehens, ja der Verehrung vieler Studierender und wissenschaftlicher Kollegen erfreuen. Mit Schmoller gehörte er zu den Berliner Nationalökonomen, deren Verdienste Preußen mit der Verleihung des Titels Wirklicher Geheimer Rat, verbunden mit dem Prädikat Exzellenz (Wagner 1909), und der Mitgliedschaft auf Lebenszeit im Preußischen Herrenhaus (Wagner 1910) würdigte. Am 26. Januar 1916 hielt der schon gebrechliche Wagner seine Abschiedsvorlesung: eine Darstellung seines Lebenswerks und ein Bekenntnis zum Staatssozialismus. Wie die Vossische Zeitung berichtete, fasste er „die Grundlagen seiner Lehre … am Schlusse … dahin zusammen, dass nach seiner Meinung eine gesunde und ethische Volkswirtschaft in Theorie und Praxis nicht lediglich auf dem Recht des persönlichen Vorteils aufgebaut werden könne, dass vielmehr ein zweites System der Gemeinwirtschaft ergänzend hinzutreten müsse, und dass schließlich die Caritas die Unzulänglichkeiten alles Menschlichen, die sich 29

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Zitiert nach: Rubner (Hrsg.), Adolph Wagner (Anm. 1), S. 255. Zitiert nach: Schefold, Einleitung (Anm. 22), S. 31. Ebenda. Martin Heilmann, Adolph Wagner – Ein deutscher Nationalökonom im Urteil der Zeit. Probleme seiner biographischen und theoriengeschichtlichen Würdigung im Lichte neuer Quellen, Frankfurt a. M. / New York 1980, S. 74.

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nie würden beseitigen lassen, zu mildern habe“33. Tatsächlich ist die ethische Rückbindung der modernen Wirtschaftswissenschaften das bleibende Verdienst Adolph Wagners. 1917 wurde ihm noch die Ernennung zum Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften zu Teil. Wagner starb sechs Monate später am 8. November 1917 in Berlin. Einen Tag darauf informierte der Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität alle Professoren und teilte den Termin für Trauerfeier und Beerdigung mit. Im Anschluss an einen Gottesdienst in der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche, unweit des Wohnhauses, wurde Adolph Wagner am 12. November auf dem Jerusalemer Kirchhof, Bellealliancestraße 97, im Grab seiner zweiten Frau Jane (Johanna) und seiner 1894 verstorbenen liebsten Tochter Marie beigesetzt34. Der Grabstelle ist bis heute (2009) erhalten, befindet sich aber in keinem guten Zustand. Auch die Platte mit Namen und Lebensdaten Adolph Wagners fehlt (Kirchhöfe Vor dem Hallischen Tor, Teil Jerusalem III, Mehringdamm 21, Grab Nr.: 311-8-5/6). Wagner glaubte, seine Kinder, insbesondere die Töchter, wohlversorgt. Da er kein Testament hinterließ, wurde sein vor allem aus deutschen und ungarischen Staatsanleihen, darunter Kriegsanleihen, bestehendes Vermögen aufgeteilt. Mit der Hyperination ging 1923 fast alles verloren. Die Töchter Elisabeth Wagner, Johanna Wagner, Cornelia, verwitwete von Paczka, und Frieda, geschiedene Thausing, denen damit die Lebensgrundlage entzogen war, mussten bei der Verwaltung der Friedrich-Wilhelms-Universität Unterstützungszahlungen beantragen. Sie wurden auch gewährt, für Elisabeth Wagner bis März 194535. Schlussendlich hat sich das Vertrauen des Finanzwissenschaftlers in den Umgang des Staates mit Risiken nicht ausgezahlt.

Werke (Auswahl) Beiträge zur Lehre von den Banken, Leipzig 1857. – Die neuen Lotterieanleihen und die Geschichte der österreichischen Nationalbank, Wien 1860. – Die Geld- und Credittheorie der Peel’schen Bankakte, Wien 1862. – Die Ordnung des österreichischen Staatshaushalts, mit besonderer Rücksicht auf den Ausgabe-Etat und die Staatsschuld, Wien 1863. – Die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen vom Standpunkt der Statistik, Teil 1 u. 2, Hamburg 1866. – Beiträge zur Finanzstatistik im Schulwesen der russischen Ostseegouvernements Livland, Kurland und Estland, Dorpat 1866. – Die russische Papierwährung. Eine volkswirtschaftliche und finanzpolitische Studie nebst Vorschlägen zur Herstellung der Valuta, Riga 1868. – System der deutschen Zettelbankgesetzgebung unter Vergleichung mit der ausländischen. Zugleich ein Handbuch des Zettelbankwesens. Mit Rücksicht auf die Errichtung von Zettelbanken in Baden sowie die Bankreform und das Staatspapierwesen im Norddeut-

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Vossische Zeitung, Nr. 48 v. 27.1.1916, in: Rubner (Hrsg.), Adolph Wagner (Anm. 1), S. 406. Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zur Berlin, Personalakte Adolph Wagner, Littr. W, No. 31, Vol. I, Bl. 13. Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Unterstützungsakte Wagner, o. Bl.

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schen Bunde, Freiburg i. Br. 1870. – Finanzwissenschaft, 4 Bde., Leipzig und Heidelberg, Erstauagen 1870–1880. – Rede über die sociale Frage. Gehalten auf der freien kirchlichen Versammlung evangelischer Männer in der Kgl. Garnisonskirche zu Berlin am 12. Oktober 1871, Berlin 1872. – Staatspapiergeld. Reichs-Kassenscheine und Banknoten. Kritische Bemerkungen und Vorschläge zu der Vorlage im Reichstage, betr. d. Ausg. von Reichskassenscheinen, Berlin 1874. – Die Zettelbankreform im Deutschen Reiche. Kritik des Bankgesetzentwurfs des Reichskanzleramts, nebst formuliertem Gegenvorschlag bes. betr. die Erheb. der Preuß. Bank zur Reichsbank, Berlin 1875. – Allgemeine und theoretische Volkswirtschaftslehre. Mit Benutzung von Rau’s Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre. Erster Teil: Grundlegung, Leipzig / Heidelberg 1875/76. – Allgemeine und theoretische Volkswirtschaftslehre. 2. vielfach verbesserte und stark vermehrte Ausgabe. Erster Teil: Grundlegung, Leipzig / Heidelberg 1879. – Die jüngste Münzdebatte im deutschen Reichstage und die französischen Vorschläge für den Internationalen Münzkongress, Berlin 1881. – Über Verstaatlichung der Eisenbahnen und über soziale Steuerreform (Landtagsreden), Berlin 1883. – Finanzwissenschaft. Teil 1: Einleitung. Ordnung der Finanzwissenschaft. Finanzbedarf. Privaterwerb, 3. Au. Leipzig 1883. – Finanzwissenschaft. Teil 3: Spezielle Steuerlehre. Buch 2–4: Die Besteuerung des 19. Jahrhunderts, 1. Au. Leipzig 1887–1889. – Finanzwissenschaft. Teil 2: Theorie der Besteuerung. Gebührenlehre und allgemeine Steuerlehre, 2 Au. Leipzig 1890. – Über soziale Finanz- und Steuerpolitik, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 4 (1891). – Marshall´s Principies of Economics, in: Quarterly Journal of Economics V (1891). – Grundlegung der politischen Ökonomie, 3. wesentlich um-, teilweise ganz neu bearbeitete und stark erweiterte Auage, Teile 1 u. 2 (Teil 1: Grundlagen der Volkswirtschaft, Halbband 1 u. 2, Leipzig 1892/1893; Teil 2: Volkswirtschaft und Recht, bes. Vermögensrecht, Leipzig 1894), Leipzig 1892–94. – Die akademische Nationalökonomie und der Sozialismus. Rede zum Antritt des Rectorats der Kgl. Friedrich-WilhelmsUniversität in Berlin, geh. in der Aula am 15. Okt. 1895, Berlin 1895. – Die Entwicklung der Universität Berlin 1810–1896. Rede zur Gedächtnisfeier der Stiftung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität am 3. August 1896 gehalten in der Aula, Berlin 1896. – Allgemeine und theoretische Volkswirtschaftslehre oder Socialökonomik (Theoretische Nationalökonomie). Grundlegung und Ausführung. Grundriss zu der Universitäts-Vorlesung, 2. Au. Berlin 1896. – Finanzwissenschaft. Teil 4: Spezielle Steuerlehre. Halbbände I u. II: Die deutsche Besteuerung des 19. Jh., Leipzig 1899/1901. – Die Flottenverstärkung und unsere Finanzen, in: Handelsund Machtpolitik. Reden und Aufsätze im Auftrag der „Freien Vereinigung für Flottenvorträge“, hrsg. v. G. Schmoller, M. Sering, A. Wagner, Bd. 2, Stuttgart 1900. – Wohnungsnot und städtische Bodenfrage. Öffentliche Rede im Bund der Bodenreformer, Berlin 1901. – Debts of Germany, in: North American Review, Jg. 1901. – Agrar- und Industriestaat. Die Kehrseite des Industriestaates und die Rechtfertigung agrarischen Zollschutzes mit besonderer Rücksicht auf die Bevölkerungsfrage, 2. umgearb. u. vermehrte Au. Jena 1902. – Das soziale und ethnische Moment in Finanzen und Steuern, in: Verhandlungen des Evangelisch-sozialen Kongresses 14 (1903). – Die finanzielle Mitbeteiligung der Gemeinden an kulturellen Staatseinrichtungen und die Entwicklung der Gemeindeeinnahmen, Jena 1904. – Theoretische Sozialökonomik

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oder Allgemeine und Theoretische Volkswirtschaftslehre. Grundriss, tunlichst in prinzipieller Behandlungsweise, 2 Bde., Leipzig 1907 u. 1909. – Die Reichsfinanznot und die Pflichten des deutschen Volkes wie seiner politischen Parteien. Ein Mahnwort eines alten Mannes, Berlin 1908. – Sozialökonomische Theorie des Kommunikations- und Transportwesens. Tunlichst in prinzipieller Behandlungsweise, Leipzig 1909. – Die Strömungen in der Sozialpolitik und der Katheder- und Staatssozialismus, Berlin 1912.

Literatur Georg Adler, Festgaben für Adolph Wagner zur siebenzigsten Wiederkehr seines Geburtstages in Dankbarkeit und Verehrung dargebr., Leipzig 1905. – Paul Becher, Vergleich und Kritik der sozialpolitischen Auffassungen bei Lujo Brentano, Adolph Wagner, Georg von Hertling und Franz Hitze, München 1965. – Rainer Fellmeth, Staatsaufgaben im Spiegel politischer Ökonomie. Zum Verhältnis von Wirtschaft und Staatstätigkeiten in Werken von Adam Smith und Adolph Wagner, München 1981. – Günter Franz, Adolph Wagner, in: Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte, 2. völlig neubearbeitete und stark erweiterte Au., bearb. von Karl Bosl, Günter Franz, Hanns Hubert Hofmann, Bd. 3 S-Z, München 1975, Sp. 3009–3010. – Martin Heilmann, Adolph Wagner – Ein deutscher Nationalökonom im Urteil der Zeit. Probleme seiner biographischen und theoriengeschichtlichen Würdigung im Lichte neuer Quellen, Frankfurt a. M. / New York 1980. – Katharina Hoppe, Eigentum, Erbrecht und Vertragsrecht. Die Reformvorstellungen des Nationalökonomen Adolph Wagner (1835–1917), Berlin 2003. – Oswald von Nell-Breuning S.J., Geleitwort, in: Heinrich Rubner (Hrsg.), Adolph Wagner. Briefe – Dokumente – Augenzeugenberichte 1851–1917, Berlin 1978, S. V–VII. – Heinrich Rubner, Adolph (Heinrich Gotthilf ) Wagner, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie, hrsg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus, Bd. 10 Thibaut-Zycha, München 1999, S. 277. – Heinrich Rubner (Hrsg.), Adolph Wagner. Briefe – Dokumente – Augenzeugenberichte 1851–1917, Berlin 1978. – Bertram Schefold / Karl Häuser / Karl-Dieter Grüske / Robert K. von Weizsäcker (Hrsg.), Wagner – Vademecum zu einem Klassiker der Finanzwissenschaft. Einleitung zu Adolph Wagners „Grundlegung“. Adolph Wagner – Leben und Werk. Wagners „Grundlegung“ im Spannungsfeld zwischen Liberalismus und Sozialismus, Düsseldorf 1991. – Frauke Schönert-Röhlk, Adolph Heinrich Gotthilf Wagner (1835–1917), in: Evangelisches Soziallexikon, begründet von Friedrich Karrenberg, hrsg. von Theodor Schober, Martin Honecker, Horst Dahlhaus, 7. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Au. Stuttgart/Berlin 1980, Sp. 1408–1409. – Uwe Czech, Von den Wirtschaftlichen Staatswissenschaften zur modernen Wirtschaftswissenschaft, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 275–302.

Friedrich Paulsen Von Thomas Steensen I. Fast sein gesamtes wissenschaftliches Leben verbrachte Friedrich Paulsen in Berlin. Obwohl er an der Friedrich-Wilhelms-Universität lange mit einem Extraordinariat vorlieb nehmen musste, lehnte er ehrenvolle Rufe anderer Universitäten ab. Der Mann aus dem an der Peripherie gelegenen Nordfriesland genoss es, in der Hauptstadt des 1871 gegründeten Deutschen Reichs tätig zu sein und den Puls der Zeit zu spüren. Als er 1882 einen Ruf nach Breslau erhielt, reiste er dorthin und notierte: „Ich ging in ein Hotel und nahm ein Zimmer, es war kalt und unfreundlich; ich trank Kaffee und durchblätterte die Zeitungen. Überall hieß es: Aus Berlin wird gemeldet, in Berlin hat sich dies und das zugetragen, Berlin der Mittelpunkt des Universums, Breslau ein Dorf am Rande“1. Der Nordfriese in Berlin, der friesische Philosoph und Pädagoge im Kaiserreich – dies bezeichnet jedoch zugleich ein Spannungsverhältnis2. Denn es heißt auch: der Provinzler in der Reichshauptstadt; das Landkind unter den akademischen Exzellenzen; der Erbe friesischer Bauernfreiheit im autoritären Preußen-Staat; der Volksmonarchist unter Junkern und Geldbürgern; der Kosmopolit unter deutsch-national Berauschten; der Bildungsreformer unter Rohrstock-Verfechtern; der Wahrheitsfreund unter kulturpolitischen Ränkeschmieden. Paulsens in Berlin geschaffenes wissenschaftliches Werk machte ihn zu einem der bekanntesten Gelehrten in Deutschland. Der Theologieprofessor Julius Kaftan, ein Freund und Nachbar, sagte in seiner Traueransprache: „Überall auf deutscher Erde und weit darüber hinaus bis in fremde Weltteile hinein wird seiner bei der Kunde von seinem Heimgang in Dankbarkeit, Liebe und Verehrung gedacht. … Wenn eine Sache, eine Frage hier die Gemüter beschäftigte, erwartete man ein klärendes Wort auch von ihm. Und er hat sich dem

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Friedrich Paulsen, Aus meinem Leben. Vollständige Ausgabe, hrsg. von Dieter Lohmeier und Thomas Steensen, Bräist/Bredstedt 2008, S. 260. Vgl. Dieter Andresen, Der nordfriesische Pädagoge im Kaiserreich, in: derselbe, Kraftfeld Heimat. Profile des Nordens, Norderstedt 2006, S. 325–360, hier S. 325. Andresens Aufzählung trifft m. E. gut das Grundproblem, ich wandle sie jedoch leicht ab.

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Friedrich Paulsen *16.Juli 1846 in Langenhorm bei Niebüll, † 14. August 1908 in Berlin

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nicht versagt. Ein getreuer Eckardt seines Volkes ist er so geworden, einer von denen, die unserem deutschen Volk immer wieder das Gewissen geschärft haben“3. Die ganze Nation sei ihm dafür zu Dank verpichtet, hatte der Berliner Theologe Adolf Harnack bereits zu Paulsens 60. Geburtstag 1906 erklärt4. Ferdinand Tönnies, der Begründer der Soziologie in Deutschland, der wie Paulsen aus Nordfriesland stammte, schrieb 1914: „Im letzten Menschenalter haben wenige Männer einen so weitreichenden Einuss auf die allgemeine Denkungsart im deutschen Sprachgebiet auszuüben vermocht wie Friedrich Paulsen“. Als ein „neuer Praeceptor Germaniae“ habe er gewirkt5. Paulsens Werke erzielten sogar fast eine weltweite Wirkung, wurden ins Englische, Französische, Russische, Japanische, Chinesische übersetzt6. Seine Reputation in den USA sei gezeigt mit einem Zitat, das aus nur fünf Wörtern besteht: „This is a fascinating book“7. So beginnt das Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der Lebenserinnerungen Friedrich Paulsens, 1938. Es ist schon ungewöhnlich genug, dass die Autobiografie eines nordfriesischen Bauernsohnes in New York in Buchform erschien. Noch ungewöhnlicher ist es, dass dieser Band vom Verlag der namhaften Columbia University herausgegeben wurde. Und derjenige, der dieses Buch als „faszinierend“ bezeichnete, war alles andere als ein Nobody in den damaligen Vereinigten Staaten: Nicholas Murray Butler, Professor für Philosophie und Pädagogik, strukturierte als Präsident das einstige Columbia College zur heute weltbekannten Universität um; er diente mehreren US-Präsidenten als externer Berater und setzte sich für die internationale Verständigung ein. Dafür wurde er 1931 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Butler hatte Lehrveranstaltungen Paulsens in Berlin besucht und war ihm verbunden geblieben. Der Nachruf von Frank Thilly, der Paulsen 1889/90 gehört hatte und als Professor für Philosophie und Psychologie in Princeton und sodann an der Cornell University wirkte, war eine Ode: „In the death of Professor Paulsen Germany loses not only one of her ablest and wisest teachers and writers, but one of the most lovable personalities that ever graced the professor’s chair“8. Thilly hatte drei Hauptwerke Paulsens ins Amerikanische übertragen. Gerade in den USA wurden dessen Bücher stark beachtet und dienten an den Universitäten lange als Lehrwerke. 3



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Julius Kaftan, Rede am Sarg von Prof. Friedrich Paulsen, Kopie im Nordfriisk Instituut, Bredstedt. Adolf Harnack, Friedrich Paulsen. Zum sechzigsten Geburtstag (16. Juli 1906), in: derselbe, Aus Wissenschaft und Leben, Bd. 2, Gießen 1911, S. 1540–1543 (345–348), hier S. 1542. Ferdinand Tönnies, Friedrich Paulsen, in: Hermann Haupt/Paul Wenzke (Hrsg.), Hundert Jahre Deutscher Burschenschaft. Burschenschaftliche Lebensläufe, Heidelberg 1921, S. 238–246, hier S. 238 und 244. So studierte auch Mao Tse-tung, damals 24 Jahre alt, intensiv Paulsens „System der Ethik“; vgl. Jung Chang/ Jon Halliday, Mao. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes, München 2005, S. 29. Maos ausführliche Kommentare zum „System der Ethik“ in englischer Sprache abgedruckt in: Stuart Schram (ed.), Mao’s Road to Power. Revolutionary Writings 1912–1949, Bd. 1, Armonk/NY 1992, S. 175–313. Nicholas Murray Butler, Foreword, in: Friedrich Paulsen, An Autobiography, New York 1938, S. V. Frank Thilly, Friedrich Paulsen, in: Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods 5 (1908), S. 505–508, hier S. 505.

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II. Paulsen wurde am 16. Juli 1846 in Langenhorn, einem großen nordfriesischen Dorf an der Westküste des damals noch mit Dänemark verbundenen Herzogtums Schleswig geboren. „Meine Eltern waren Bauern; der Hof, auf dem ich geboren und aufgewachsen bin, war kurz vorher von meinem Vater gekauft worden; sie haben ihn bis in die Mitte der 80er Jahre bewohnt. Bis dahin bin ich jedes Jahr auf kürzere oder längere Zeit dahin zurückgekehrt; ich hatte das Gefühl, hier meine eigentliche Heimat zu haben“9. Dieser schillernde und in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts oft missbrauchte Begriff „Heimat“10 begegnet dem Leser der Lebenserinnerungen insgesamt 47 Mal, außerdem noch 17 Mal in Zusammensetzungen wie „Heimatland“ oder „Heimatgefühl“. Die regionale Herkunft war für Paulsens wissenschaftliches Werk und für seine politisch-gesellschaftlichen Anschauungen von großer Bedeutung – wie für wenige Gelehrte sonst11. In seinen Lebenserinnerungen zeichnet Paulsen das „Idealbild eines Bauerndorfs“, ihm gelingt „das feingemalte und doch ganz unromantische Bild einer funktionierenden Bauernwirtschaft mit allen ihren Teilnehmern“12. Heimat ist, schreibt Paulsen, „nahe, fasslich, verständlich“; „fast nichts kam in unsern Gesichtskreis, von dessen Herstellung wir nicht eine anschauliche Erkenntnis gehabt hätten“13. Dies ist das genaue Gegenbild zur Entfremdung, die nach Marx der Arbeiter erlebt, der seine Arbeitskraft verkauft, nicht für sich selbst produziert, nur ein Glied in der Produktionskette darstellt und sich so letztlich auch von seinen Mitmenschen entfremdet. Zur selben Zeit – gekennzeichnet durch einen schnellen Wandel auf allen Gebieten, durch Industrialisierung, Technisierung, Mobilität, Zentralisierung, den Pomp des Kaiserreichs – begann in Deutschland „Heimat“ zu einer Ideologie zu werden14. Die Friesen wurden zu einem ganz besonderen, „echten“, „kernigen“ Menschenschlag erhoben15. Von solcher Heimattümelei und Friesentümelei ist Paulsen weit entfernt. Die „Heimatkunde“, wie er sie geradezu als eine Grundlage des Schulunterrichts entwickelt, ist für ihn keine Ideologie. Sie soll anleiten zum Verstehen, zum eigenen Forschen, zum Fragen. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 11. Aus der Fülle der Literatur vgl. nur Christian Graf von Krockow, Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen Thema, München 1992. 11 ������������������������������������������������������������������������������������������������������� Er beschäftigte sich auch mit der nordfriesischen Geschichte und gab 1905 Aufzeichnungen seines Urgroßvaters heraus: Aus den Lebenserinnerungen des Grönlandfahrers und Schiffers Paul Frercksen. Mitgeteilt von Professor Dr. Friedrich Paulsen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 35 (1905), S. 76–116. 12 Ingeborg Weber-Kellermann, Landleben im 19. Jahrhundert, München 1987, S. 51 und 133. 13 Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 61. 14 Vgl. z. B. den Abschnitt „Heimat“ in Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Band III, München 2003, S. 361 f. 15 Vgl. Thomas Steensen, Im Zeichen einer neuen Zeit. Nordfriesland 1800 bis 1918, Bräist/Bredstedt 2009 (Geschichte Nordfrieslands, 4), bes. S. 173 f. 9



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Friedrich kann bereits mit vier, fünf Jahren lesen und schreiben. Wichtig für seine pädagogischen Vorstellungen werden seine Erfahrungen in zwei Schulen seines Heimatdorfs. Er stellt sie in seinen Lebenserinnerungen kontradiktorisch gegenüber16. Der Unterricht in der Langenhorner Osterschule bietet ihm nicht viel. Er besteht großenteils aus stumpfsinnigem Auswendiglernen. „Rein mechanisch“ ging es im Rechenunterricht zu. Ein Versuch, „die innere Notwendigkeit zu zeigen“, wurde nicht gemacht. Ein dickes Schiffstauende war das „Universalwerkzeug“ zur Abstrafung aller Schulsünden. Der Pädagoge Paulsen wird sich später dafür aussprechen, die Neugier und den eigenen Wissensdrang der Schüler zu wecken und zu fördern. So erlebt er es in der Langenhorner Westerschule bei seinem so hoch geschätzten Lehrer Sönke Brodersen. Der Unterricht wendet sich „nicht bloß an das Gedächtnis, sondern an den Verstand“. Die Schüler bemächtigen sich „der Sache innerlich“ und behalten sie so „als dauerndes Eigentum“. Der „natürliche Anschauungsunterricht“ bietet „hundert Anknüpfungspunkte“ in der Umgebung17. Hier ist „die ganze Welt im kleinen Kreis gegenwärtig, eine wahre universitas artium humanarum“18. Das Lob der Dorfschule, das Paulsen später immer wieder singt, hat hier seinen Ursprung: „Ich wage zu behaupten: keine Universität bietet ihren Studenten in größerer Vollkommenheit, was sie brauchen, als das Dorf und eine gute Dorfschule dem heranwachsenden Knaben bietet, was er braucht und bewältigen, in wirkliche Kraft des Erkennens und Handelns umsetzen kann“19. Der Lehrer solle die unmittelbare Umwelt der Schüler einbeziehen und von hier aus die größeren Zusammenhänge erschließen, wird einer seiner schulpädagogischen Leitsätze. Auf seine Eltern muss es wie ein Schock gewirkt haben, dass der einzige Sohn nicht den Bauernhof übernehmen will, sondern sich zum Studium entschließt. Letztlich unterstützen sie den besonders begabten Jungen. Der zweite Pastor in Langenhorn, Claus Thomsen, bereitet ihn in anderthalb Jahren auf das Gymnasium vor, indem er ihm nicht weniger als sechs Sprachen vermittelt: Latein, Griechisch, Hebräisch, Französisch, Englisch und Dänisch. Mit 16 kommt er in Altona, das damals noch zu Schleswig-Holstein gehört, auf das Christianeum. Der junge Mann aus dem nordfriesischen Dorf gerät ganz aus der Bahn, gibt sich einem „wüsten Kneipenleben“ hin, erlebt „Selbstentfremdung“20. Das großstädtische Gymnasium bietet ihm nicht viel. Er überspringt zwei Halbjahre. In manchen Fächern gingen, so meint er, beim Abitur die Kenntnisse kaum über das hinaus, was er aus Langenhorn mitgebracht hatte. 16 17

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Vgl. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 86–105. Friedrich Paulsen, Dorf und Dorfschule als Bildungsstätte (aus: Dorfschule, 15. April 1905), in: derselbe, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen, hrsg. und eingeleitet von Eduard Spranger, Stuttgart und Berlin 1912, S. 445–453, hier S. 451. Ebenda, S. 449. Ebenda, S. 452 f. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 127.

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Paulsen studiert in Erlangen, Bonn, Kiel, aber vor allem in Berlin21. Er beginnt in der Theologie. Doch seine wissenschaftliche Heimat wird die Philosophie im weitesten Sinne des Wortes. Denn in ihr erreiche alle wissenschaftliche Erkenntnis erst ihr Ziel, schreibt er 1902. Gegen Philosophie gleichgültig zu sein habe niemand ein Recht, „der auf den Namen eines wissenschaftlich gebildeten Mannes Anspruch macht“22. Seine Doktorarbeit – damals noch ganz in lateinischer Sprache verfasst – erstellt er in Berlin bei dem ebenfalls aus Schleswig-Holstein stammenden Friedrich Adolf Trendelenburg über die Ethik des Aristoteles. Der erste Versuch einer Habilitation schlägt fehl, aber er lässt sich nicht entmutigen. Im zweiten Anlauf hat er Erfolg. Er beschäftigt sich mit dem Philosophen Immanuel Kant, mit dem er sich in Zustimmung und Widerspruch sodann immer wieder befasst. Friedrich Albert Lange, Spinoza, Schopenhauer werden ebenfalls für sein Weltbild wichtig. Paulsen wird Privatdozent der Philosophie in Berlin. 1878 erhält er eine außerordentliche Professur, und zwar mit einem besonderen Schwerpunkt in der Pädagogik. Erst Ende 1893 folgt die Ernennung zum ordentlichen Professor. Im Jahr 1877 heiratet Paulsen die aus Bayern stammende Emilie Ferchel. In kurzer Zeit werden vier Kinder geboren, zwei Söhne und zwei Töchter. Aber schon 1883 stirbt Emilie. Ihre jüngste Schwester Laura kommt ins Haus. 1892 heiratet Paulsen sie. In seiner eigenen Familie hält er ganz an der traditionellen Rollenverteilung fest, ist hier ganz Kind seiner Zeit. Immerhin setzt er sich zum Beispiel dafür ein, dass auch Frauen studieren können, misst dem aber „mehr den Charakter der Ausnahme“ zu. „Dass die eigentlich schöpferische Produktivität dem männlichen Geschlecht im ganzen von der Natur in höherem Maße verliehen ist als dem weiblichen, darüber lässt die Geschichte der Wissenschaften und Künste doch kaum einen Zweifel“23. Paulsen lässt sich und seiner Familie 1886/87 nach eigenen Plänen eine Villa in Steglitz bauen, das damals noch nicht zu Berlin gehört24. Später, 1901, wird außerdem ein stattliches Sommerhaus am Starnberger See errichtet25. 1905 macht sich erstmals die todbringende Krankheit bemerkbar. Noch zweieinhalb Wochen vor dem Ende hält Paulsen seine letzte Vorlesung an der Berliner Universität. Am 14. August 1908 stirbt er in seinem Haus in Steglitz.

III. Friedrich Paulsen kann als der Wegbereiter des modernen Gymnasiums bezeichnet werden. In diesem Sinne wurden zwei Oberschulen nach ihm benannt, eine 1908 in seinem 21



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Ein Verzeichnis der wichtigsten von Paulsen besuchten Lehrveranstaltungen findet sich in Reinhard Kränsel, Die Pädagogik Friedrich Paulsens. Ein Beitrag zur Geschichte der Erziehungswissenschaft und zur Neufassung des Bildungsbegriffes in unserem Jahrhundert, Bredstedt/Bräist 1973, Anhang, S. 169–173. Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902, S. 416. Ebenda, S. 143 f. Vgl. z. B. auch den Abschnitt „Die Verschiedenheit der Geschlechter“ in: Friedrich Paulsen, Pädagogik, hrsg. von Willy Kabitz, Stuttgart/Berlin 1911, S. 49–56. Heute Lepsiusstraße 96. Heute Leopoldstraße 3 in Starnberg.

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Wohnort Steglitz und eine 1925 in Niebüll/Nordfriesland. Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert eröffnete nur das altsprachliche Gymnasium den Weg zum Universitätsstudium. Paulsen hielt das im Industriezeitalter für überholt. Er verlangte die Gleichberechtigung der Realgymnasien und Oberrealschulen, in denen die neuen Sprachen und die Naturwissenschaften im Vordergrund standen26. Zu dieser Überzeugung hatte ihn nicht zuletzt die Arbeit an seinem ersten großen wissenschaftlichen Werk geführt, nämlich die „Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart“. Die Ende 1884 erschienene, „bis heute gültige, unübertroffene und ohne Nachfolge gebliebene“27 Darstellung, ein „klassisch gewordenes“28 Standardwerk29 der historischen Pädagogik, erregte wegen der darin aufgestellten Forderungen zunächst einen „Sturm der Entrüstung“30. Die Beschäftigung mit der Geschichte war Paulsen kein Selbstzweck, sondern sie sollte Orientierung geben für die Gegenwart und die Zukunft. In diesem Sinne formulierte er in der Schlussbetrachtung zur „Geschichte des gelehrten Unterrichts“, es sei „zuletzt das Interesse an der Zukunft, das uns zur Betrachtung der Vergangenheit führt“31. Die Geschichte des Unterrichtswesens könne, so schrieb Paulsen bereits 1880 an Tönnies, mehr beitragen „zur Aufhellung aller Dinge, die uns angehen, als irgend etwas was ich sonst machen kann: philosophische, kirchliche, politische, soziale Entwicklung, alles läuft zusammen in diesem Punkt“. Zudem müsse jeder Philosoph „irgendwo mitten in der wissenschaftlichen Detailforschung festen Fuß haben“32. Sein zweites großes Werk wurde 1889 das „System der Ethik“, das er mehrfach erweiterte, bis zu einem Umfang von 1150 Seiten. Paulsen befasst sich hier mit Begriffen wie Tugend, Moral, Ehre, Gewissen, Gerechtigkeit. Das Buch wurde in vielen Häusern zu einem Ratgeber für alle Lebenslagen. Tönnies bescheinigte seinem Freund, „Verfasser der gelesensten

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Zum damaligen höheren Schulwesen vgl. z. B. Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV: 1870– 1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, hrsg. von Christa Berg, München 1991; Hans-Christof Kraus, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 82), München 2008. Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980, S. 134. Clemens Menze, Persönlichkeit und Werk Friedrich Paulsens, in: Friedrich Paulsen, Ausgewählte pädagogische Abhandlungen, Paderborn 1960, S. 110–128, hier S. 121 f. Peter Drewek, Friedrich Paulsen, in: Benno Schmoldt (Hrsg.), Pädagogen in Berlin, Hohengehren 1991, S. 171–193, hier S. 178. Vgl. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 271. Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, 3., erw. Au., hrsg. und in einem Anhang fortgesetzt von Dr. Rudolf Lehmann, Bd. 2, Berlin/Leipzig 1921, S. 636. Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908, hrsg. von Olaf Klose, Eduard Georg Jacoby und Irma Fischer, Kiel 1961, S. 83: Paulsen an Tönnies, 30. Juli 1880; Hervorhebung im Original.

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Ethik in Deutschland“ zu sein33. Als „Lebenslehre“34 und „praktische Lebenswissenschaft“35 hat Paulsen die Ethik aufgefasst. Sie sei eine auf Anthropologie, Psychologie und Soziologie basierende Theorie der Lebenskunst und habe „auf Grund der allseitigen Erkenntnis der menschlichen Natur, besonders auch ihrer geistigen und sozialen Seite, Anleitung zu geben, die Aufgaben des Lebens überhaupt so zu lösen, daß es die reichste, schönste, vollkommenste Entfaltung erreicht“36. Im Kaiserreich beobachtete er zum Beispiel in zunehmendem Maße Konkurrenzdruck, Geltungssucht und Überreiztheit. Sein Rat dazu, den er auf vielen Wanderungen erprobte, lautete: „Gegen diesen Krankheitszustand ist Einsamkeit und Umgang mit der Natur ein Heilmittel. Er nimmt jenen Druck weg, und der befreite Mensch atmet leichter auf. Berge und Meere, Felsen und Bäume regen die Eitelkeit nicht auf, sie nötigen nicht zu scheinen und sich darzustellen. Die Blume blüht, auch wo niemand hinkommt sie zu sehen, die Sterne schimmern, unbekümmert darum, ob ein Auge zu ihnen aufblickt. Sie wollen nicht Dank und Bewunderung, sie wollen nicht übertreffen und beneidet werden, sie sind, was sie sind, und sind es für sich. So ruft die ganze Natur dem Menschen zu: Laß ab zu scheinen, du bist am Ende, was du bist!“37 Noch größere Verbreitung im gebildeten Bürgertum des Kaiserreichs fand die 1892 erstmals erschienene „Einleitung in die Philosophie“. Paulsen führt in die Philosophie ein, „nicht als eine in sich abgeschlossene, wo möglich durch eine Geheimsprache noch mehr isolierte Wissenschaft, sondern als Welt- und Weisheitslehre“38. Die Philosophie solle wieder „ein unentbehrliches Element des Gesamtlebens“ werden, schrieb er rückblickend: „Philosophie soll den inneren Menschen frei machen, nicht binden, ihr Lehrer zum Selbstdenken anleiten, nicht zum Nachsprechen anhalten“39. Bis 1929 wurde das Buch in 42 Auagen gedruckt. Paulsen sei, schrieb der junge Philosoph Kurt Sternberg in seinem Nachruf, „der einzige deutsche Philosoph der Gegenwart, der in stärkerem Grade über den Kreis der speziell der Philosophie Beissenen hinaus wirkte, der in weitere Kreise der Gebildeten drang“40. Doch auch für dieses Werk erfuhr Paulsen von seinen Kollegen viel Ablehnung und wohl auch Neid. „Die Fachgenossen, die sich darüber zu Gericht setzten, ließen nicht

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Ebenda, S. 299: Tönnies an Paulsen, 2. Oktober 1892. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 429. Friedrich Paulsen, System der Ethik mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre, 7. u. 8. Au., Bd. 1, Stuttgart/Berlin 1906, S. IX. Ebenda, S. 2. Friedrich Paulsen, System der Ethik mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre, 7. u. 8. Au., Bd. 2, Stuttgart/Berlin 1906, S. 330. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 428. In der Danksagung für die Glückwünsche zum 60. Geburtstag, abgedruckt in: Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 461. Kurt Sternberg, Friedrich Paulsen †. Nachruf und kritische Würdigung, Berlin-Wilmersdorf 1908, S. 4. Sternberg war damals gerade 23 Jahre alt. Der Philosoph und Autor jüdischer Abstammung wirkte in Berlin. Er wurde 1942 in Auschwitz ermordet.

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viel Erfreuliches vernehmen“41. Sein Schüler Eduard Spranger – der einer der wichtigsten Pädagogen in Deutschland wurde – misst Paulsen sowie Kuno Fischer in Heidelberg indes das Verdienst zu, die „Epoche der Dürre“ in der deutschen Philosophie, die mindestens von 1870 bis 1900 gedauert habe, überbrückt und die Philosophie als „Bildungsmacht“ bewahrt zu haben. Doch sei sie „nicht eigentlich schöpferisch“ gewesen und eher zur „Philosophischen Propädeutik“ zu rechnen. „Jene lebenweckenden Bücher“ wirkten daher einige Jahrzehnte später eher blass und seien „total versunken und vergessen“42. In der Reihe „Klassiker der Philosophie“ des Frommannschen Verlages in Stuttgart veröffentlichte Paulsen 1898 das mehrfach aufgelegte Buch „Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre“. Er wollte damit nach eigener Aussage „den positiven Gehalt des Systems zur Geltung“ bringen „gegenüber den negativen Auffassungen, die Kants Philosophie auf eine Lehre von der Unerkennbarkeit der Wirklichkeit … reduzieren“, und zeigen, „dass wir an keinem Punkt mehr ebenso wie Kant denken“ können43. Man habe Paulsen mit diesem Hauptwerk der Klassiker-Reihe betraut, schrieb Ernst Troeltsch in seiner Rezension in der Historischen Zeitschrift, weil man von ihm neben Sachkenntnis „eine hervorragende Leistung anschaulich klarer Darstellung“ erwarten konnte44. Spranger hält die Arbeit für ein „didaktisches Meisterwerk“45. Mit seinem 1902 in Berlin erschienenen Buch „Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium“ schloss Paulsen an seine Forschungen zur „Geschichte des gelehrten Unterrichts“ an. Er wollte damit dem Bedürfnis nach einem Überblick über Geschichte und Eigenart der deutschen Universitäten entgegenkommen. Als deren wesentliches Charakte­ ristikum hob er die „Einheit von Forschung und Lehre“ hervor; sie seien „zugleich Werkstätte der wissenschaftlichen Forschung und Anstalt für den höchsten wissenschaftlichen Unterricht“ und so zur „Hauptträgerin der deutschen Wissenschaft“ geworden46. In kürzerer Form war die Darstellung zunächst als Einleitung eines Werks geschrieben worden, mit dem sich die deutschen Hochschulen 1893 auf der Weltausstellung in Chicago präsentierten47. Sie erschien 1895 in englischer Übersetzung in New York mit einem ausführlichen Vorwort von Nicholas Murray Butler, damals Professor für Philosophie und Pädagogik am 41 42

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Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 314. Eduard Spranger, Mein Lehrer Friedrich Paulsen (1958), in: derselbe, Vom pädagogischen Genius. Lebensbilder und Grundgedanken großer Erzieher, Heidelberg 1965, S. 243–246, hier S. 244 f.; vgl. Kränsel, Die Pädagogik Friedrich Paulsens (Anm. 21), S. 224. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 344. Historische Zeitschrift 84 (1900), S. 497–500, hier S. 497. Spranger, Mein Lehrer Friedrich Paulsen (Anm. 42), S. 245. Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten (Anm. 22), S. 4 f. und 10. Friedrich Paulsen, Wesen und geschichtliche Entwicklung der deutschen Universitäten, in: Die deutschen Universitäten. Für die Universitätsausstellung in Chicago 1893 unter Mitwirkung zahlreicher Universitätslehrer hrsg. von Wilhelm Lexis, Berlin 1893, Bd. 1, S. 3–114.

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Columbia College in New York48. Dieses Vorwort kann als theoretische Vorklärung für die von Butler betriebene Umgestaltung des College zur Universität verstanden werden. Auch die erweiterte Einzelausgabe von 1902 wurde in den USA ins Englische übersetzt. Im ������� Vorwort schrieb Frank Thilly: „ It will bear good fruit in our country and increase the debt of gratitude which we owe to the German universities for what they have done for our higher education“49. Einen präzisen Überblick über „Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwickelung“, hierbei die Volksschulen einschließend, veröffentlichte Paulsen 1906 als 100. Band in der Reihe „Aus Natur und Geisteswelt – Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen“ des Teubner-Verlags in Leipzig. Bezeichnend war es, dass er in der skizzenhaften Darstellung den Vorteil sah, „die großen Richtlinien der Bewegung schärfer hervortreten“ zu lassen und „jene Richtlinien in die Zukunft zu verlängern“50. Größere Arbeiten zur Pädagogik im engeren Sinne erschienen erst posthum. Paulsen war vor allem Bildungshistoriker und Philosoph, aber auch Bildungsreformer. Pädagogik war für ihn in erster Linie angewandte Philosophie. Sein 1911 erschienenes Werk „Pädagogik“ wurde hauptsächlich aus seinen Vorlesungsmanuskripten durch seinen Schwiegersohn Willy Kabitz, damals Privatdozent an der Universität Breslau und später Philosophie-Professor in Münster, herausgegeben. Natürlich sieht Paulsen die Pädagogik als praktische Wissenschaft, denn ihr Ziel sei nicht die Erkenntnis als solche, sondern die „Gestaltung der Dinge durch Erkenntnis“; Pädagogik „ist die Lehre von einer Kunst, der Kunst der Menschenbildung“51. Paulsen wendet sich gegen eine rein experimentell ausgerichtete Psychologie. Die Pädagogik könne nie allein auf den exakten Naturwissenschaften beruhen52. 1912 veröffentlichte Eduard Spranger fast 50 vorher erschienene Aufsätze Paulsens unter dem Titel „Ausgewählte Pädagogische Abhandlungen“. Der Schwerpunkt liegt hier auf praktischen Themen der Pädagogik und Bildungspolitik. Spranger wollte mit dem 712 Seiten umfassenden Buch, wie er im Vorwort schreibt, „ein sachlich vollständiges Archiv von Paulsens bildungspolitischer Tätigkeit“ schaffen53. Enthalten ist darin auch die erste – und

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Friedrich Paulsen, The German Universities. Their Character and Historical Development. Authorized translation by Edward Delavan Perry, Professor in Columbia College, New York, with an introduction by Nicholas Murray Butler, New York 1895. Friedrich Paulsen, The German Universities and University Study. Authorized Translation by Frank Thilly, Professor of Psychology in Princeton University, and William W. Elwang, New York 1906, S. VIII. Friedrich Paulsen, Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwickelung, Leipzig 1906, S. III. Friedrich Paulsen, Pädagogik (Anm. 23), S. 1. Vgl. Kränsel, Die Pädagogik Friedrich Paulsens (Anm. 21), S. 97 u. 237 f. Eduard Spranger, Vorwort, in: Paulsen, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen (Anm. 17), S. III–VI, hier S. IV.

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für fast ein Jahrhundert einzige – umfassende Bibliografie der Schriften Friedrich Paulsens, erstellt von Arthur Pieper. Ebenfalls posthum erschienen seine Lebenserinnerungen, die er im Wesentlichen nach dem ersten Auftreten seiner Krankheit 1905 begann. Die „Jugenderinnerungen“, bis 1877 reichend, kamen bereits im Jahr nach seinem Tod bei Diederichs in Jena heraus54. Bemühungen um eine Veröffentlichung der gesamten Aufzeichnungen scheiterten in Deutschland. Eine gekürzte Fassung, auf der Grundlage einer Abschrift des Manuskripts von seinem in die USA emigrierten Schüler Theodor Lorenz ins Englische übersetzt, erschien 1938 in New York und wurde 1967 nachgedruckt. Nur selten habe eine Persönlichkeit von vergleichbarem wissenschaftlichen Rang und Einuss so genau die Hintergründe seiner intellektuellen Entwicklung aufgezeichnet wie Paulsen, schrieb Nicholas Murray Butler im Vorwort55. Erst zu seinem 100. Todestag 2008, begangen in der Kirche seines Geburtsorts Langenhorn, erschienen die auf Grundlage der Handschrift herausgegebenen Erinnerungen vollständig56. Sie stellen nicht nur ein unerreichtes Kulturbild Nordfrieslands im 19. Jahrhundert dar, sondern zeigen Paulsen im Zentrum von Kultur und Bildung während des Kaiserreichs. Die ausführlichen Schilderungen seiner Reisen und Wanderungen machen seine Erinnerungen zugleich zu einer Wanderung durch die deutsche und europäische Kulturgeschichte; Paulsen selbst habe sich mehrfach, so schrieb Theodor Lorenz, als Philosoph mit Rucksack bezeichnet57. Außergewöhnlich ist die enorme Veröffentlichungstätigkeit Paulsens. Die 1912 erstellte Bibliografie umfasst 365 Nummern. Seine Bücher erschienen in renommierten Verlagen. Aufsätze publizierte er in verschiedenen Fachzeitschriften, aber auch in großen Tageszeitungen wie Berliner Tageblatt, Münchner Neueste Nachrichten, Neue Freie Presse (Wien), Tägliche Rundschau oder Vossische Zeitung. Um die thematische Spannweite anzudeuten, seien einige Aufsatztitel hier angeführt: „Fahrlässige Wohltätigkeit“ (1887), „Der Beruf des Arztes“ (1892), „Die Ethik Jesu in ihrem Verhältnis zur Gegenwart“ (1903), „Der Grunewald und seine zukünftige Gestalt“ (1903), „Schuljammer und Jugend von heute“ (1906), „Italien und seine Stellung in der europäischen Politik“ (1906), „Väter und Söhne. Eine sozialpädagogische Studie aus der deutschen Gegenwart“ (1907), „Die Krisis der katholisch-theo-

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Friedrich Paulsen, Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen, Jena 1909. Butler, Foreword (Anm. 7), S. V. Zur Editionsgeschichte vgl. Dieter Lohmeier/Thomas Steensen, Nachwort, in: Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 504–516; vgl. Dieter Lohmeier, „Ein faszinierendes Buch“. Die vollständige Ausgabe von Friedrich Paulsens Lebenserinnerungen, in: Nordfriesland 164 (Dezember 2008), S. 22–29; vgl. Thomas Steensen, Von der Dorfschule zur Universität. Friedrich Paulsen zum 100. Todestag, in: Nordfriesland 163 (September 2008), S. 8–17. Theodor Lorenz, Introduction to part two, in: Paulsen, An Autobiography (Anm. 7), S. 259–270, hier S. 269: „philosopher ‚with the knapsack on his back‘ (to use a favorite phrase of his)“.

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logischen Fakultäten Deutschlands“ (1907), „Das aggressive Element in der europäischen Politik“ (1908). Seine immense Produktivität ist auch darauf zurückzuführen, dass Paulsen Synergieeffekte nutzte. Er konzentrierte sich zumeist auf einen Themenbereich. „Ich bin vielleicht zu beharrlich in einseitiger Verfolgung einer vorliegenden Arbeit“, schrieb er 1895 an Tönnies58. Seinen grundlegenden Werken gingen zumeist durch mehrere Semester gehaltene Vorlesungen voraus59. Besondere Aspekte erörterte er sodann in Aufsätzen.

IV. Die erste große Streitfrage, zu der Paulsen dezidiert Stellung bezog, war die Reform der Gymnasien. Seine Position, das Monopol der alten Sprachen zu brechen, hatte er in seiner „Geschichte des gelehrten Unterrichts“ historisch hergeleitet. Er verwarf entschieden den durch den „Neuhumanismus“ geschaffenen an der Antike orientierten Bildungsbegriff. Die dann seinen Ruhm begründende Reform war eine politische Gegenwartsforderung, die auf einem bildungstheoretischen Fundament stand60. Paulsen rüttelte an einem Tabu und erlebte schroffe Ablehnung. „Meine Richter in Sachen der Schulgeschichte sind wahrlich nicht träge, und die größten Schulräte lassen sich herbei es anzubellen“, berichtete er Tönnies61. Seine Auffassung vertrat er standhaft weiter, auch in einer Kontroverse mit Wilhelm II. auf der Berliner Schulkonferenz 1890: „der Kaiser … sah mich mit seinen harten blauen Augen starr und fast drohend an“62. Eigentlich wollte auch dieser „los von der Alleinherrschaft der Antike“, und dieser „moderne Zug“ lebte, so meint Spranger, „in dem jungen Herrscher wie in dem friesischen Gelehrten“. „Aber eine ungreifbare, gegenseitige persönliche Antipathie verhüllte diese Verwandtschaft“63. Paulsen, „der markante Repräsentant des pädagogisch-schulpolitischen Sachverstandes und Anwalt der Reformen zugleich“64, setzte

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Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908 (Anm. 32), S. 316: Paulsen an Tönnies, 23. März 1895. Vgl. das Verzeichnis seiner Vorlesungen in Kränsel, Die Pädagogik Friedrich Paulsens (Anm. 21), Anhang, S. 174–185. Vgl. Ebenda, S. 275, passim. Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908 (Anm. 32), S. 215: Paulsen an Tönnies, 2. Juni 1885. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 303. Eduard Spranger, Einleitung, in: Paulsen, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen (Anm. 17), S. IX–XXXV, hier S. XVI. Die inhaltliche Übereinstimmung zwischen dem Kaiser und Paulsen sah auch Ferdinand Tönnies, als er ihm Silvester 1890 schrieb: „Was die Schulreform betrifft, so scheint mir, daß die hohen Geheimen ihren König gründlich düpiert haben. Was er in seiner ersten Rede entwickelte, war – selbst nach dem verstümmelten Texte – Dein Programm.“ Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908 (Anm. 32), S. 290. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 563; das folgende Zitat ebenda. Auf S. 389 schreibt Nipperdey: „Der scharf beobachtende Pädagogikprofessor Paulsen, ein Bauernsohn, konstatierte um 1900 eine wachsende Tendenz zum ‚Bildungsaristokratischen‘.“

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sich schließlich mit der Neuordnung 1901 völlig durch. Die von ihm betriebene Reform zielte nach den Worten Thomas Nipperdeys darauf ab, „dass das Gymnasium aus einer Schule der besitzenden Klassen wieder zu einer Schule der Talente aus allen Klassen werden solle“. Was Paulsen bekämpfte, war, so schrieb sein früher Biograf Johannes Speck, „die schroffe Trennung der lateinischen und deutschen Schule, des Gelehrten vom Volk“65. Er beobachtete einen „sozialaristokratischen Zug“: Die akademischen Berufsstände versuchten ihre „Standesehre“ zu wahren, indem sie Nachwuchs aus niederen Ständen abwehrten. „Harter Klassenhochmut“ trübe den Blick der Regierenden für das Volksleben66. Paulsen sah in seiner Gegenwart die Tendenz, eine homogene und geschlossene Klasse der „Besitzenden und Gebildeten“ herzustellen. Söhne von Fabrikarbeitern und Tagelöhnern würden von den Universitäten ferngehalten. Daraus ergäben sich schwere Gefahren: „Die fortschreitende Proletarisierung und Isolierung eines immer mehr anwachsenden Teils der Bevölkerung führt uns einem Zustand entgegen, der dem ähnlich ist, aus welchem … die eigentlichen Schrecken der französischen Revolution hervorgebrochen sind. Isolierung bringt Haß, Neid, Mißtrauen und Verachtung hervor“67. In diesem Sinne schloss er sich einer Aussage Friedrich Naumanns an: „Der Industrialismus wird entweder ein System der Sklaverei sein oder seine Ergänzung in der Massenbildung haben müssen. Nur mit letzterer zusammen bleibt er eine menschlich erträgliche Kulturform“68. Paulsen forderte ein gleiches Recht auf Bildung, an der „auch der vierte Stand, auch die breite Masse der Bevölkerung vollen Mitbesitz“ haben müsse. Er strebte indes keine Gleichheit der Bildung für alle an, sondern „einem jeden“ solle Gelegenheit geboten werden, „zu einem Maximum persönlicher Kultur und sozialer Leistungsfähigkeit nach dem Maß seiner Anlagen und seiner Willensenergie sich auszubilden“69. Als einer der ersten setzte er sich für eine nach Interessen der Schüler differenzierte gymnasiale Oberstufe ein und löste mit seinem Vorschlag eine lebhafte Diskussion aus. Dabei ging Paulsen von eigenen Erfahrungen mit seinem jüngsten Sohn aus: „Der lange fortgesetzte Versuch, [Rudi] in der Mathematik … auf die normale Leistungsfähigkeit zu bringen, er ging bis in die Quarta zurück, war völlig vergeblich gewesen. Er hatte nicht die simpelste Tertianeraufgabe aus der Geometrie zu lösen vermocht. Wie viel besser wäre Zeit und Kraft für Dinge, die ihm lagen, verwendet gewesen. Es haben diese persönlichen Erfahrungen beigetragen, bei mir die Überzeugung zur Reife zu bringen, die ich jahrelang gehabt hatte, die ich nun aber auch öffentlich mit Entschiedenheit auszusprechen begann. Dass es 65

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Johannes Speck, Friedrich Paulsen. Sein Leben und sein Werk, Langensalza 1926, S. 64. Paulsen, Die deutschen Universitäten (Anm. 22), S. 159–163. Paulsen, System der Ethik (Anm. 37), S. 398 f. Zitiert in Friedrich Paulsen, Der Ausbau der Fortbildungsschule, die große Aufgabe des 20. Jahrhunderts (1903), in: derselbe, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen (Anm. 17), S. 359–366, hier S. 361. Paulsen, Das deutsche Bildungswesen (Anm. 50), S. 184 und 190.

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notwendig sei, auf der Oberstufe etwas mehr Bewegungsfreiheit für die verschieden gerichtete Begabung und Neigung zu gewähren, um aus dem stumpfsinnigen Pensenlernen zu freier Arbeit und Selbsttätigkeit zu führen“70. Ein Vorläufer der antiautoritären Erziehung ist Paulsen indes in keiner Weise. Disziplin und Pichtgefühl blieben ihm hohe Werte. Paulsen gilt in erster Linie als Reformer des Gymnasiums. Darüber hinaus entwickelte er für das gesamte Schulwesen ein einheitliches, bildungstheoretisch fundiertes Konzept. Er wollte die starre Trennung überwinden, eine Durchlässigkeit fördern, auch um Klassengegensätze auszugleichen. Er erhob die „Forderung nach einem differenzierten, mehrgliedrigen und mehrstufigen Einheits- und Gesamtschulsystem“, wie es zuvor „in einem überzeugenden Ansatz erst Schleiermacher vertreten hatte“71. Damit überwand er die im Neuhumanismus angelegte starre Trennung zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung, deren Geringschätzung er bekämpfte. Das „System der Ethik“ enthielt auch das Konzept einer „Fortbildungsschule“ sowie den „Umriß einer Staats- und Gesellschaftslehre“. Daraus entwickelten sich letztlich die heutige Berufsschule sowie die politische Bildungsarbeit in Deutschland. Schon an den Volksschulen sollten die Schüler konkret von „Staat“ und „Gesellschaft“ erfahren, wie er es in Langenhorn erlebt hatte. Er konzipierte eine umfassend angelegte „Heimatkunde“72, setzte sich für lebenslanges Lernen und namentlich Volkshochschulen als „Hochschulen des Volkes“ ein73.

V. Paulsen hatte nach der Einschätzung Kurt Sternbergs „ungezählte Schüler, aber er hatte keine Schule!“74 Er wollte nicht einen Kreis von „Paulsenianern“ um sich sammeln, sondern seine Studenten vor allem zur eigenen Urteilsfähigkeit führen75. „Nie dass er seine Ansicht

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Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 370; vgl. zu Paulsens entsprechenden Bemühungen Rudolf Lehmann, Anhang, in: Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts (Anm. 31), S. 761–763. – Rudolf Paulsen (1883–1966) versuchte sich als Schriftsteller. Er geriet in den Bannkreis des Dichters Otto zur Linde, den sein Vater für einen „bösen Zauberer“ und „Jugendverderber“ hielt. 1931 trat er der NSDAP bei und veröffentlichte Gedichte und Prosa; vgl. Rolf Parr, Paulsen, Rudolf, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, S. 129 f.; Rudolf Paulsen, Mein Leben. Natur und Kunst, Berlin 1936. Kränsel, Die Pädagogik Friedrich Paulsens (Anm. 21), S. 195, zum Folgenden S. 244. Von seinem Schüler Eduard Spranger wurde dieses Konzept später weiter ausgeführt; vgl. Eduard Spranger, Der Bildungswert der Heimatkunde, Berlin 1923, 3. Au. Stuttgart 1952. Vgl. z. B. Friedrich Paulsen, Die ländliche Volkshochschule und ihre Bedeutung (aus: Archiv für Volkswohlfahrt, Juni 1908), in: derselbe, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen (Anm. 17), S. 628–641; derselbe, Der Ausbau der Fortbildungsschule, die große Aufgabe des 20. Jahrhunderts (aus: Zeitschrift für das gesamte Fortbildungsschulwesen in Preußen 1/1 [1903]), in: ebenda, S. 359–366; derselbe, Das moderne Bildungswesen, in: Paul Hinneberg (Hrsg.), Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart, 2. Au. Berlin/ Leipzig 1912, S. 54–85, hier S. 70. Sternberg, Friedrich Paulsen (Anm. 40), S. 3. Vgl. auch Kränsel, Die Pädagogik Friedrich Paulsens (Anm. 21), S. 217–221.

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nach berühmtem Vorbilde unter seinen Zeitgenossen als alleinseligmachende bezeichnet hätte“, erinnerte sich ein anderer seiner Studenten, „ausdrücklich wies er auf die Schriften seiner Gegner hin und forderte seine Hörer auf, auch diese zu lesen und sich dann ein Urteil zu bilden“76. Ein brillanter, mitreißender Redner war Paulsen mitnichten. Er „taugte nicht zum Schauspieler und war es auch auf dem Katheder nicht“77. Trotzdem strömten oftmals 300 und mehr Hörer in seine Vorlesungen. „[Er] sprach langsam und bedächtig, aber eindrucksvoll und einleuchtend. Er riß nicht hin, er überraschte nicht, aber was mehr ist als das: er überzeugte“78. „Mit einer auffallend zarten Stimme“, „im Sitzen sprechend, zog er die Anwesenden in ein intimes Gespräch hinein“79. Der liberale Theologe, Schriftsteller und Volkshochschuldozent Theodor Kappstein schilderte den Beginn einer Vorlesung: „Auditorium der Berliner Universität, zweiter Stock. Wenige Minuten nach Voll ist jeder Platz besetzt. Neben dem Studenten sitzt die Studentin, die jugendliche und die ältliche, auch der eine und andere ‚alte Herr‘ fehlt nicht. Die Knipstintenfässer stehen bereit, die Pandektenhefte sind aufgeschlagen. Fünf Minuten nach Viertel erscheint unser Professor; eilig besteigt er das Katheder und setzt sich in Positur. Mit leiser, dialektgefärbter Stimme beginnend, zwingt er seine Hörer zu intensiver Aufmerksamkeit, wie ein kluger Kanzelredner“80. In den beiden Jahrzehnten vor seinem Tod 1908 sei nur selten ein Berliner Student ganz ohne Paulsens Einuss geblieben, meint Kappstein. Der Psychologe und Kunsthistoriker Max Dessoir bescheinigte Paulsen: „Jungen Leuten die Binde entfernen, die Brust lockern, den Krampf beheben – das war seine Kunst“81. Alfred Kerr erlebte ihn im Juni 1900: „In dieser Woche beging ein Jubiläum Friedrich Paulsen, der Philosoph. Er liest seit fünfundzwanzig Jahren vor den Studenten unserer Stadt, an der Universität. Jubilierte Paulsen, daß er mit der Universität verknüpft ist? Oder die Universität, daß sie mit Paulsen verknüpft ist? Vermutlich beide. … Der Jubilar sitzt auf dem Katheder, spricht langsam, beinahe üsternd. Die Rede tropft von den schmalen Lippen 76



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W. Müllermeister, Friedrich Paulsen, dem deutschen Lehrer und Forscher, in: Der deutsche Schulmann 1909, S. 3 f. Friedrich Schwarzkopf, Friedrich Paulsen, in: Lexikon der Pädagogik, Bd. 3, Bern 1952, S. 340. Lehmann, Anhang (Anm. 70), S. 730. Spranger, Mein Lehrer Friedrich Paulsen (Anm. 42), S. 244. Theodor Kappstein, Friedrich Paulsen. Zum Gedächtnis, in: Die deutsche Schule 1908, S. 593 ff., hier S. 597. Der vielseitige Publizist Kappstein, als Sohn eines Malermeisters in Berlin aufgewachsen, hatte 1906 die Ergebnisse einer Rundfrage herausgegeben und dabei auch Paulsen befragt: Bedürfen wir des Pfarrers noch?, Berlin/Leipzig 1906. In der Zeit des Nationalsozialismus erhielt er Rede- und Schreibverbot. Max Dessoir, Buch der Erinnerung, Stuttgart 1946, S. 176, zitiert in: Kränsel, Die Pädagogik Friedrich Paulsens (Anm. 21), S. 217. Dessoir (1867–1947) erhielt 1897 eine Professur für Psychologie an der FriedrichWilhelms-Universität, wurde also Paulsens Kollege; in Paulsens Lebenserinnerungen wird er allerdings nicht erwähnt. Dessoir, der auch die „Allgemeine Kunstwissenschaft“ begründete, gilt als Urheber des Begriffs Parapsychologie. 1933 wurde ihm Berufsverbot erteilt.

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wie verstohlene Wässer, er hält den Kopf etwas nach unten gebeugt, als bohrte er die Seele in die Tischplatte, und sein Vortrag hat etwas Heimliches. Er scheint Dinge zwischen den Zeilen zu sagen. Manchmal wirkt er, als schritte er auf leisen Sohlen geradenwegs auf ein umstürzlerisches Ziel, mit der stillen, unerhörten Verwegenheit eines Stubendenkers, als andeutender Revolutionär; die Geister der Studenten schweben hinter ihm drein, sie kommen in Schwung, er biegt mit leisen Schritten plötzlich ab, sie aber werden bis ans Ziel getragen; sie schießen über ihn hinaus ans Ende; er hat nichts gesagt, ihr eigener Wille trug sie dorthin“82. Paulsen sah die deutsche Universität als das „öffentliche Gewissen des Volkes“, wie er 1902 schrieb83. Die Gelehrten sollten nicht Politik machen, wohl aber sollten sie sich Gedanken über den Staat und das Recht machen. Die Universität werde so zu einer Instanz, die „das sittliche Urteil vertritt und zur Geltung bringt“. Nächst dem Bauern sei „der Professor der freieste Mann“, erinnerte sich sein Sohn Rudolf an eine häufige Aussage seines Vaters84, und diese Freiheit wollte Paulsen nutzen. Die „Trennung zwischen der Gelehrtenwelt und den breiteren gebildeten Volksklassen“ hielt er für ein „Unheil“85. Es sei „falsche Vornehmheit, bloß für Professoren schreiben zu wollen“. Immer wieder griff er zur Feder und nahm zu zahlreichen schulischen und gesellschaftlichen Fragen Stellung. „Es waren bedeutende Augenblicke … für Freund und Feind, wenn seine Stimme erscholl“, schrieb Eduard Spranger nach Paulsens Tod in der „Christlichen Welt“86. Zudem wurde er vielfach zu Vorträgen eingeladen, insbesondere zu Themen der Schulentwicklung. Als er 1896 im großen Festsaal des Berliner Rathauses in Anwesenheit der „Kaiserin Friedrich“ die Gedächtnisrede zum 150. Geburtstag Pestalozzis hält87, ist er bereits einer der renommiertesten Professoren in Deutschland. Der einstige Rebell gehört bald darauf gemeinsam mit Preußens „heimlichem Kultusminister“ Friedrich Althoff und dem Theologen Adolf Harnack zu jenem „Dreigestirn“, das während des Kaiserreichs „die höchste Intelligenz und Willenskraft in den gebildeten Schichten des deutschen Volkes“ repräsentiert habe88. Paulsen galt „in breiten Kreisen des akademisch gebildeten Bürgertums als Autorität in pädagogischen und manchen politischen Fragen“89. Er erreichte „eine herausragende Bedeutung im außeruniversitären kultur- und schul­

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Alfred Kerr, Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1900, hrsg. von Günther Rühle, Berlin 1997, S. 596, datiert 24. Juni 1900. Paulsen, Die deutschen Universitäten (Anm. 22), S. 331; das nächste Zitat ebenda. Paulsen, Mein Leben (Anm. 70), S. 41 f. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 311; dort auch das folgende Zitat. Eduard Spranger, Friedrich Paulsen. Ein Nachruf, in: Die Christliche Welt 1908, Sp. 917 ff., hier 918. Vgl. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 340. Arnold Sachse, Friedrich Althoff und sein Werk, Berlin 1928, S. 342. vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung (Anm. 27), S. 435.

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politischen Diskurs des Kaiserreichs“90. An seiner eigenen Universität und insbesondere an der dortigen Philosophischen Fakultät hatte er hingegen eine „deutliche Außenseiterrolle“ inne91. In eine politische Schublade wird man Paulsen nicht stecken können. Als junger Mann war er begeistert von den Ideen des Sozialdemokraten Ferdinand Lassalle. Sie entsprachen seinen Idealen von Gleichheit und Freiheit, die er auch aus der friesischen Tradition herleitete: „Aus der Heimat mitgebrachte Empfindungen, alte Gleichheitsgefühle aus der nordfriesischen Bauernwelt bildeten den Resonanzboden für die politischen Gedanken“92. Bismarcks „Sozialistengesetz“ von 1878 lehnte er entschieden ab, doch die Agitation widerstrebte ihm: Die Sozialdemokraten „haben ehrlichen Haß; aber wahrheitsliebend sind sie nicht…. Sie verlangen Abstimmung: ja oder nein! und wer nicht ja sagt, den beschimpfen sie“93. Später wurden seine politischen Ansichten konservativer. Er hielt an der Monarchie als Staatsform fest und plädierte für ein „soziales Volkskönigtum“. Die preußischen Könige hätten sich seit 1786, dem Tod Friedrichs des Großen, aber „an das verkehrte Ende des Wagens angespannt“. Sie müssten, so formulierte der aus einer Bauernfamilie stammende Philosoph, sich wieder vorne anspannen „in philosophischer Freisinnigkeit (Aufklärung), in tätiger Philanthropie (Sozialismus)“94. Ein Grundzug blieb sein Leben lang bestehen. Er war misstrauisch gegenüber dem „Zeitgeist“, dem „mainstream“, gegenüber dem, was fast alle denken. An einer Stelle seiner Erinnerungen schreibt er: „… vielleicht war ein wenig von dem allgemeinen Oppositionsgeist dabei, der mich von jeher geneigt gemacht hat, die Sache des allgemein Verworfenen lieber als die des allgemein Anerkannten zu führen“95. In der Danksagung für die Glückwünsche zu seinem 60. Geburtstag zitiert er Erasmus von Rotterdam: „Semper solus esse volui nec quicquam pejus odi quam juratos et factiosos“96 (Ich habe immer allein sein wollen und habe nichts mehr gehasst als die Verschwörer und Parteigänger.). Adolf Harnack schätzte seine politische Wirkung damals folgendermaßen ein: „Den einen schien er oft reaktionär und den andern als ein tollkühner Fortschrittsmann, der hohe Güter preisgibt. Aber nach zehn Jahren schon – länger dauerte es gewöhnlich nicht – mußten die ‚Liberalen‘ einsehen,

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Drewek, Friedrich Paulsen (Anm. 29), S. 173. Ebenda, S. 174; vgl. Kränsel, Die Pädagogik Friedrich Paulsens (Anm. 21), S. 86 f. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 211. Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908 (Anm. 32), S. 211 f.: Paulsen an Tönnies, 1. März 1885. Ebenda, S. 35: Paulsen an Tönnies, 28. Juli 1878. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 143. Faksimile in: Ebenda, S. 461 f.

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daß er nur Wertvolles geschützt hat, und die ‚Konservativen‘ merken, daß er sich nur früher als sie auf das eingerichtet hat, was doch kommen mußte“97. In der Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit der Einzelpersönlichkeit, in dem „Mut, eigene Wege zu gehen“, sieht er die „Wurzel der Kraft“98. Ideologien steht er kritisch gegenüber. Ein Menschenleben dürfe nicht einem Dogma oder einer Moral untergeordnet werden, sondern „es hat einen absoluten Wert in sich“99. Dass ein Paradies auf Erden erreicht werden könne, verneint er. Durchaus solle sich der Mensch indes von einem Ideal leiten lassen: „Die Menschheit, die konkrete Darstellung der Idee der Humanität in dem unendlichen Reichtum eigentümlicher und schöner Bildungen, welche sie zuläßt, das ist der letzte Punkt, den wir, in empirischer Betrachtung der Frage nach dem höchsten Gut nachgehend, zu erreichen vermögen“100. „Wissenschaft, Philosophie, freie Geistesbildung gedeiht nur in der Freiheit“101. Diese Maxime galt für Paulsen nicht nur in der Theorie. So setzte er sich für den der SPD angehörigen jüdischen Privatdozenten Leo Arons ein, den die Staatsbürokratie mit allen Mitteln aus dem Amt drängen wollte102. „Die Lehrfreiheit ist der Stolz der deutschen Universität“103. Zwar dürfe der Universitätskatheder nicht für „staatsfeindliche Doktrinen“ eingesetzt werden, doch sei der Kritik an Staatseinrichtungen und sozialen Verhältnissen „der weiteste Spielraum“ zu lassen. Für die Freiheit der Andersdenkenden verwandte Paulsen sich auch, als „fortschrittliche“, sich liberal nennende Studenten in Berlin den Katholiken das Recht nehmen wollten, eigene Vereine zu bilden. Er spricht von einem „,Freiheitskampf‘ zur Unterdrückung der Freiheit“ und meint: „Unter Freiheit versteht die Masse immer und ewig dasselbe, nämlich das Recht und die Macht, die Gegner zu unterdrücken. Ich schrieb ein paar Artikel gegen den Unsinn“104. Auch christliche Dogmen lehnte er scharf ab: „Gegen einen Glauben, der sich für allein gültige Wissenschaft gibt, empört sich der Verstand. Gegen eine Philosophie, welche dem Glauben und der Dichtung keinen Raum gönnt, empört sich Gemüt und Phantasie. Dagegen ein Glaube, der nichts anderes sein will als ein Glaube, und eine Philosophie, die 97 98

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Harnack, Friedrich Paulsen (Anm. 4), S. 1542 (347). Friedrich Paulsen, Philosophia militans. Gegen Klerikalismus und Naturalismus. Fünf Abhandlungen, Berlin 1901, S. 71. Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908 (Anm. 32), S. 51: Paulsen an Tönnies, 5. Oktober 1878. Paulsen, System der Ethik (Anm. 35), S. 280. Paulsen, Philosophia militans (Anm. 98), S. 69. Vgl. Kurt Beutler/Uwe Henning, Friedrich Paulsen und der „Fall“ Leo Arons. Dokumente, in: Die Deutsche Schule 69 (1977), S. 270–279. Paulsen, Die deutschen Universitäten (Anm. 22), S. 286; das folgende Zitat auf S. 321. Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 409.

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sich der Grenzen menschlicher Erkenntnis bewußt ist, die haben nebeneinander Raum“105. Der Philosoph Hans Lindau bezeichnete ihn als „religiös fühlenden, dem Unerforschlichen Ehrfurcht und Vertrauen zollenden Philosoph“106.

VI. Seinen Unabhängigkeitssinn und manche Grundüberzeugungen leitete Paulsen nicht zuletzt aus seinen Kindheits- und Jugenderfahrungen als Bauernsohn in einem nordfriesischen Dorf ab. Man wird sagen können, dass kaum ein anderer Gelehrter Prägungen aus seiner Herkunftsregion so stark auf seine wissenschaftliche Arbeit übertrug wie er. Die Unabhängigkeit der Bauern und der Seefahrer in der friesischen Gesellschaft beeindruckte ihn. Darauf nahm er häufig Bezug. Er kam zu dem Schluss: „… wenn ich nicht Professor geworden wäre, wäre es doch am Ende das Beste für mich gewesen, Bauer zu werden“107. Ferdinand Tönnies sprach sogar von Paulsens „höchstpersönlicher Langenhorner Philosophie, d. h. Welt-Ansicht und Lebensweisheit“108. Beide schätzten sehr die britischen Philosophen Hobbes, Hume und Locke, die ihre Erkenntnisse aus ihrer Erfahrungswelt und aus ihren sinnlichen Wahrnehmungen ableiteten109. Paulsen sah seine „friesische Philosophie“ als „festländischen Zweig derselben Denkungsart, die auf jener Seite des Westmeeres gedeiht“110. Sie beruht auf Selbsterkenntnis, Selbstdenken und praktischer Anwendbarkeit auf das eigene Leben – „philosophy in the fullest and deepest sense, by which is meant an understanding of the life of man“, so formulierte es Nicholas Murray Butler111. Was schätzte er an seiner Heimat, an Nordfriesland, an den Friesen? Er schreibt: „Es gab in dieser Bauerngesellschaft nirgends eine Spaltung, eine Kluft zwischen den Klassen, wie Paulsen, Einleitung in die Philosophie, 29. u. 30. Au., Stuttgart/Berlin 1919, S. 280. Hans Lindau, Friedrich Paulsen † 14. August 1908, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 133 (1908), S. 234–239. Der Berliner Essayist Hans Lindau (1875–1963), Sohn des Dramatikers und Theaterdirektors Paul Lindau, veröffentlichte u. a. mehrere Bücher über den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, später Schriften im fromm-katholischen Sinne. In Berlin an der Preußischen Staatsbibliothek tätig, erhielt er 1933 Berufsverbot und emigrierte 1939 in die Schweiz. 107 Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 109. 108 Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908 (Anm. 32), S. 161: Tönnies an Paulsen, 11. Juni 1882. 109 Vgl. Dieter Andresen, Philosophia Frisionum. Philosophische Existenz im Briefwechsel Ferdinand Tönnies’ und Friedrich Paulsens, in: Vor hundert Jahren: Dänemark und Deutschland 1864–1900, Kopenhagen–Aarhus– Kiel–Berlin 1981/82, S. 107–113; derselbe, Der nordfriesische Pädagoge im Kaiserreich, in: derselbe, Kraftfeld Heimat. Profile des Nordens, Norderstedt 2006, S. 325–360; Johannes Jensen, Ein Pädagoge und Philosoph aus Nordfriesland. Zum 150. Geburtstag von Friedrich Paulsen, in: Nordfriesland 115 (September 1996), S. 7–18; Thomas Steensen, Von der Dorfschule zur Universität. Friedrich Paulsen zum 100. Todestag, in: Nordfriesland 163 (September 2008). S. 8–16. 110 Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908 (Anm. 32), S. 132: Paulsen an Tönnies, 21. Juni 1881. 111 Butler, Foreword (Anm. 7), S. V. 105



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sie im Osten des Landes vorhanden ist, ja, wie sie hier eigentlich die Grundlage der ganzen Gesellschaftsordnung bildet: die Spaltung in Rittergutsbesitzer und Tagelöhner, in offiziersfähige Familien und Gemeine, in Gebildete und Ungebildete, in Hochwohlgeborne und Überhaupt-nicht-Geborne“112. Der „demokratische Charakter“ spiegelte sich nach seiner Meinung auch in der friesischen Sprache, die „alle zu Gleichen“ macht. Auf einer Reise beobachtet er, dass die Ehefrau des Präsidenten der Republik Appenzell selbst mit anpackt, um die Gaststuben zu reinigen. Jeder preußische Unteroffizier dagegen dünke sich zu vornehm, etwas mit der Hand anzufassen, dazu seien ja die „Gemeinen“ da, die er „kommandiert“. In der Schweiz nun fühlt er sich in die „alte nordfriesische Bauernwelt mit ihren nach preußischen Anschauungen so unkorrekten demokratischen Ansichten von der Arbeit der Hand, dass sie den Menschen nicht schände, zurückversetzt“113. Wenn Paulsen auch immer wieder auf den „demokratischen Charakter“ der friesischen Gesellschaft abhebt und regionale Selbstverwaltung in überschaubaren Einheiten schätzt, so war er doch kein demokratischer Republikaner. Mitten im „System der Ethik“ führt er den Ausspruch eines einheimischen Bauern an, um seine Auffassung zu begründen. Dieser sei von seinem Neffen gefragt worden, warum er sich 1848 nicht der schleswig-holsteinischen Erhebung angeschlossen habe. Er antwortete: „Das will ich dir sagen, mein Junge, ich will von einem König regiert werden und nicht von Kieler Advokaten“114. Auch Paulsens Bildungsbegriff ist mitgeprägt durch seine Herkunft aus einem friesischen Dorf. Eine „Bildung“, die damit anfange, dass „man sich schämt, mit den Händen zu arbeiten“, bezeichnet er als „unser Unglück“115. Die Spaltung des Volkes in „Gebildete“ und „Ungebildete“ hält er für verhängnisvoll. Bildung hatte in seinen Augen wenig mit Äußerlichkeiten, mit der Kenntnis bedeutender Dichter oder gar dem häufigen Gebrauch von Fremdwörtern zu tun. Auch ein Bauer, Seefahrer oder Handwerker konnte demnach als gebildet gelten. „Gebildet ist, wer mit klarem Blick und sicherem Urteil zu den Gedanken und Ideen, zu den Lebensformen und Bestrebungen seiner geschichtlichen Umgebung Stellung zu nehmen weiß. … Wahre, rechtschaffene Bildung werden wir jedem zuschreiben, der die Fähigkeit gewonnen hat, sich von dem Punkt aus, auf den er durch Natur und Schicksal gestellt ist, in der Wirklichkeit zurechtzufinden und sich eine eigene, in sich zusammenstimmende geistige Welt zu bauen, sie mag groß oder klein sein.“ Selbst wenn ein Mensch „von Goethe und Schiller vielleicht noch nie den Namen gehört hat“, könne man ihn trotzdem gebildet nennen, „wenn er die Mittel, die ihm die Verhältnisse zu Gebote gestellt haben, mit Verstand benutzt hat, sich von der natürlichen und geschichtlichen Welt, in der er lebt, eine 112

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Paulsen, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 64 f., das folgende Zitat auf S. 65. Ebenda, S. 338. Paulsen, System der Ethik (Anm. 37), S. 595. Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908 (Anm. 32), S. 103: Paulsen an Tönnies, 26. Januar 1881.

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in sich einheitliche Anschauung zu bilden, und sich nun mit selbständigem Urteil in seinem Kreis zurechtfindet“116. Denn: „Nicht, was man weiß, sondern was man mit seinem Wissen anzufangen weiß, ist entscheidend für die Bildung einer Persönlichkeit“117. Ganz gewiss war Paulsen ein Bürger des Kaiserreichs mit starkem deutschem Nationalgefühl. Aber den übersteigerten Nationalismus und namentlich den Hurrapatriotismus seiner Zeit kritisierte er. Er hoffte auf die „vereinigten Staaten von Europa“ und gab zu bedenken: „Hass und Verachtung sind keine schönen und keine gedeihlichen Gefühle, auch nicht unter den Nationen. Wenn auf ihrer Sünden Blüte die bittere und giftige Frucht gefolgt sein wird, vielleicht dass dann von dem Humanitätsgefühl, womit das … 18. Jahrhundert die Vielheit der Nationen als Bereicherung der Menschheit empfand, etwas zurückkehrt“118. Eine intensive Berührung der Nationalitäten, auch mehrerer in einem Staat, sei „Gewinn für ihre Kultur“. Gerade die Wissenschaft sei ein „internationales Unternehmen“, und für Träger der akademischen Bildung „bornierter Nationalismus“ unverzeihlich119. Nur sehr wenige im gebildeten Bürgertum des Kaiserreichs nannten die Gefahren des Nationalismus so klar beim Namen wie Paulsen. Auch in diese Einschätzung dürfte manches eingeossen sein von seiner Erfahrung in einem friesischen Dorf mit deutscher Schul- und Kirchensprache, das in seiner Kindheit noch zu Dänemark gehörte. Eine Bilanz seines Lebens ließ er auf einer Gedenktafel in der Kirche seines Geburtsorts Langenhorn anbringen: Der Wahrheit und der gesunden Vernunft Freund Feind der Lüge und dem Schein ein Anhänger der guten Sache auch der nicht siegreichen der Ehre der Welt nicht allzu begierig nicht im Gefolge des Willens zur Macht der Heimat treu den Eltern und Lehrern seiner Jugend dankbar zugetan lebte er in einer Zeit die von dem Allen das Gegenteil hielt 116



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Alle Zitate aus: Friedrich Paulsen, Bildung, in: derselbe, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen (Anm. 17), S. 127–150, hier S. 137 f. Friedrich Paulsen, Das Prinzip der Gleichwertigkeit der drei Formen der höheren Schule (1902), in: derselbe, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen (Anm. 17), S. 262–280, hier S. 267. Friedrich Paulsen, Die nordschleswigsche Angelegenheit und der Fall Delbrück, in: Deutsches Wochenblatt, Nr. 2, 13. Januar 1899, S. 55–67, hier S. 67. Paulsen, Die deutschen Universitäten (Anm. 22), S. 464.

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und verließ darum nicht unwillig diese Welt in der Hoffnung einer besseren Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stand Friedrich Paulsen im Zentrum von Kultur und Bildung. Schon bald nach dem Ersten Weltkrieg aber begann sein Ruhm zu verblassen. Seine „Geschichte des gelehrten Unterrichts“ blieb in der Fachwelt ein unentbehrliches Werk. Doch seine Forderungen zur Reform der Gymnasien waren umgesetzt und galten bald als Selbstverständlichkeit. Die pädagogischen Diskussionen kreisten um andere Themen und gingen über ihn hinweg120. Seine philosophischen Werke erschienen, um Spranger zu wiederholen, als eher „blass“. Irgendwann verzeichnete ihn nicht einmal mehr der „Brockhaus“. In der neuesten Ausgabe immerhin wurde er wiederentdeckt121. Bei Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen regt sich neues Interesse122. Die von ihm ausgehenden Einusslinien auf Pädagogik, Philosophie, Schulwesen, politische Bildung sind bisher nur teilweise untersucht worden, eine „Paulsen-Forschung“ steht in manchen Bereichen noch am Anfang. Friedrich Paulsen gibt auch unserer Gegenwart ein Beispiel, indem er aus der Analyse historischer Prozesse, auf einem ethisch und theoretisch begründeten Fundament stehend, seine Gegenwart zu verbessern trachtete. „Freiheit, Selbstverantwortlichkeit, Spontaneität, so lehrt die Geschichte, ist das richtige Prinzip“123.

Hauptwerke Symbolae ad systemata philosophiae moralis historicae et criticae, Berlin 1871 (Dissertation). – Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnisstheorie, Leipzig 1875 (Habilitationsschrift). – Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, Leipzig 1885; 2. erw. Au., 2 Bde., Leipzig l896/97; 3. erw. Au., hrsg. und in einem Anhang fortgesetzt von Rudolf Lehmann, 2 Bde., Leipzig 1919, Berlin/Leipzig 1921; Unv. Nachdruck Berlin 1965. – System der Ethik. Mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre, Berlin 1889; 12. Au., 2 Bde., Stuttgart 1921. – Einleitung in die Philosophie, Berlin 1892; 42. Au. Stuttgart–Berlin 1929. – Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 1898; 7. Au. Stuttgart 1924. – Philosophia militans. Gegen Klerikalismus und Naturalismus, Berlin 1901; 3. u. 4. Au. Berlin 1908. – Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902. – Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwickelung, Leipzig 1906. – Pädagogik, hrsg. von Willy Kabitz, Stuttgart/ 120

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Vgl. Drewek, Friedrich Paulsen (Anm. 29), S. 177 u. 188. Brockhaus Enzyklopädie, 21. Au., Bd. 21, Mannheim 2006, S. 119 f. Dies spiegelt sich wider in den Beiträgen des Sammelbands: Thomas Steensen (Hrsg.), Friedrich Paulsen Weg, Werk und Wirkung eines Gelehrten aus Nordfriesland, Husum 2010. Paulsen, Philosophia militans (Anm. 98), S. 71.

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Berlin 1911. – Gesammelte Pädagogische Abhandlungen, hrsg. und eingeleitet von Eduard Spranger, Stuttgart/Berlin 1912.

Autobiografisches, Briefe Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen, Jena 1909. – An Autobiography, übersetzt und hrsg. von Theodor Lorenz, New York 1938, Nachdruck 1967. – Aus meinem Leben. Vollständige Ausgabe, hrsg. von Dieter Lohmeier und Thomas Steensen, Bräist–Bredstedt 2008. – Ferdinand Tönnies, Friedrich Paulsen: Briefwechsel 1876–1908, hrsg. von Olaf Klose, Eduard Georg Jacoby und Irma Fischer, Kiel 1961. – Paulsens Nachlass befindet sich im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Familienunterlagen im Nordfriisk Instituut, Bredstedt.

Literaturhinweise Theodor Lorenz, Paulsen, Friedrich, in: Anton Bettelheim (Hrsg.), Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog, Bd. 13, Berlin 1910, S. 244–265. – Johannes Speck, Friedrich Paulsen. Sein Leben und sein Werk, Langensalza 1926. – Clemens Menze, Persönlichkeit und Werk Friedrich Paulsens, in: Friedrich Paulsen, Ausgewählte pädagogische Abhandlungen, Paderborn 1960, S. 110–128, Bibliografie auf S. 130–133. – Fritz Blättner, Der Historiker Friedrich Paulsen und seine Kritiker, in: Zeitschrift für Pädagogik 9 (1963), S. 113–130. – Reinhard Kränsel, Die Pädagogik Friedrich Paulsens. Ein Beitrag zur Geschichte der Erziehungswissenschaft und zur Neufassung des Bildungsbegriffes in unserem Jahrhundert, Bredstedt–Bräist 1973. – Peter Drewek, Friedrich Paulsen, in: Benno Schmoldt (Hrsg.), Pädagogen in Berlin, Hohengehren 1991, S. 171–193. – Hans-Jürgen Apel, Friedrich Paulsen (1846–1908), in: Hans Glöckel u. a. (Hrsg.), Bedeutende Schulpädagogen, Bad Heilbrunn 1993, S. 89–106. – Dieter Stüttgen, Pädagogischer Humanismus und Realismus in der Darstellung Friedrich Paulsens, Alsbach 1993. – Johannes Jensen, Ein Pädagoge und Philosoph aus Nordfriesland, in: Nordfriesland 115 (September 1996), S. 7–18. – Edgar Weiß, Friedrich Paulsen und seine volksmonarchistisch-organizistische Pädagogik im zeitgenössischen Kontext. Studien zu einer kritischen Wirkungsgeschichte, Frankfurt am Main 1999; vgl. Besprechung in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 130 (2005), S. 376–378. – Reinhard Kränsel, Paulsen, Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, S. 128 f. – Peter Drewek, Friedrich Paulsen. Bildungstheorie und Bildungsgeschichte, in: Klaus-Peter Horn/Heidemarie Kemnitz (Hrsg.), Pädagogik Unter den Linden. Von der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 101–124. – Dieter Andresen, Der nordfriesische Pädagoge im Kaiserreich, in: derselbe, Kraftfeld Heimat. Profile des Nordens, Norderstedt 2006, S. 325–360. – Thomas Steensen, Vom Geestrand Nordfrieslands in die Welt der Wissenschaft, in: Zwischen Eider und Wiedau 2009, S. 41–47. – Klaus Kellmann, Friedrich Paulsen und das Kaiserreich, Neumünster 2010. – Thomas Steensen (Hrsg.), Friedrich Paulsen. Weg, Werk und Wirkung eines Gelehrten aus

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Nordfriesland, Husum 2010 (mit Bibliografie der Schriften Friedrich Paulsens, S. 231–250). Willfried Geßner/Oswald Schwemmer, Geist und Kultur. Berliner Philosophie 1885–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 175–214. – Heinz-Elmar Tenorth, Von der „Kultur- und Staatswissenschaft“ zur „Politischen Pädagogik“ – Berliner Universitätspädagogik bis 1945, in: derselbe (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 237–256.

Bildnisse von Friedrich Paulsen Zahlreiche Fotografien in: Paulsen, Aus meinem Leben, 2008 (s. o.) und Steensen (Hrsg.), Friedrich Paulsen, 2010 (s. o.). Die Originalfotos befinden sich größtenteils im Nordfriisk Instituut, Bredstedt. – Büsten im Paulsen-Gymnasium, Berlin-Steglitz, in der FriedrichPaulsen-Schule, Niebüll, und im Nordfriisk Instituut, Bredstedt.

Hermann Diels Von Oliver Stoll I. Hermann Alexander Diels ist am 18. Mai 1848, im Jahr der Märzrevolution, in WiesbadenBiebrich/Herzogtum Nassau geboren. Sein Vater, Ludwig Diels (1820–1872), Sohn eines Gürtlermeisters, war Volksschullehrer, dann Eisenbahn-Stationsvorsteher und Bahnhofs­ verwalter. Seine Mutter, Emma, geb. Rossel (1817–1885), zu der er ein besonders inniges Verhältnis hatte, war Tochter eines Revisionsrates der Militärkasse in Wiesbaden1. Diels sollte in der zweiten Hälfte des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts einer der großen Gelehrten und prägenden Gestalten der Preußischen Akademie und der Berliner Universität werden. Mit seiner Persönlichkeit, durch die als Lebensaufgabe verstandene Anregung und Ausführung altertumswissenschaftlicher Unternehmungen, mit eigenen Leistungen von höchstem Niveau auf dem Feld der Erforschung antiker Philosophie, mit seinem schöpferischen Beitrag zu Ausbau und Fortschritt in der Organisation deutscher und internationaler Wissenschaft und in fruchtbarer Zusammenarbeit mit anderen berühmten Gelehrten, die den Weltruhm der deutschen Altertumswissenschaft in jener Zeit begründeten, hat Diels einen Platz ersten Ranges in den Annalen der internationalen Altphilologie, Philosophieund Religionsgeschichte. Zugleich aber war er in der Lage, durch seine Forschungsinteressen eine echte Brücke zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften, der Medizin und der Technik zu schlagen2. Diels, Theodor Mommsen und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff gelten mit allem Recht als die ganz Großen, ihre Tätigkeit ist der Gipfelpunkt der Geisteswissenschaft in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Ersten Weltkrieg wandelte sich nicht nur Deutschland, sondern auch sein Verhältnis zur Antike. Die Welt des 19. Jahrhunderts und der Wissenschaft alten Stils, eben auch die der Altertumswissenschaft eines Diels und eines Wilamowitz, ging zu Ende3. Somit fällt

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Otto Kern, Hermann Diels und Carl Robert. Ein biographischer Versuch (Jahresberichte über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft, Suppl. 215), Leipzig 1927, S. 8. Vgl. etwa auch die Wertung bei Reimar Müller, Zum 150. Geburtstag von Hermann Diels, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 29/2 (1999), S. 107–111, hier S. 107. Albert Henrichs, Philologie und Wissenschaftsgeschichte: Zur Krise eines Selbstverständnisses, in: Hellmut Flashar (Hrsg.), Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse, Stuttgart 1995, S. 423–457, bes. S. 425.

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Hermann Diels *18. Mai 1848 in Wiesbaden, † 4. Juni 1922 in Berlin

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der Tod von Hermann Diels in gewisser Weise in eine Wendezeit, markiert das Ende einer Wissenschaftsepoche und einen Paradigmenwechsel4.

II. Das Interesse des jungen Hermann für das Altertum weckte sein Onkel Karl Rossel (1815– 1872), der 1837 mit der Dissertation „De philosophia Socratis“ in Tübingen promoviert worden war. Später war Rossel Sekretär der herzoglichen Landesbibliothek zu Wiesbaden, zuletzt Staatsarchivar in Id­stein und Sekretär des Vereins für Nassauische Altertumskunde in Wiesbaden. Neben dem Altertum entwickelte Hermann Diels ein reges Interesse an der Chemie5 und technischen Dingen – eine Passion, die auch später in seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht ohne Einuss geblieben ist. Ein Bund zwischen Geisteswissenschaft und Technik, mit Blick auf die bestmögliche Bildung der Jugend, war ihm ein herzliches Anliegen6. Er glaubte unbedingt, das Interesse weiterer Kreise für das Altertum dadurch erhalten zu können, dass er die technischen Leistungen der Antike neben den philosophisch-ästhetischen in den Blick rückte7; das Altertum sei durch sein technisches Streben mit der modernen Welt enger verknüpft als das Mittelalter. Die „Humanisten“, die klassischen Philologen, sollten sich mehr mit der realen Welt des Altertums befassen, um die Zusammenhänge mit der heutigen Welt zu begreifen. Die „modernen“, von Technik und Naturwissenschaft geprägten Menschen sollten das Vordenken in der Antike begreifen, ohne dass das momentane Niveau industrieller und technischer Kultur nicht erreicht worden wäre8. Diels blickte gerne über die Grenzen seines engeren Fachgebietes hinaus und regte das auch bei seinen Studenten an: Eine saubere Trennung zwischen den Wissenschaften gebe es nicht, sagte er 4



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Diels hat Memoiren geschrieben, die allerdings während des Zweiten Weltkrieges verloren gingen. So bleibt als einzige „Biographie“ des großen Mannes die von Otto Kern, deren Wert selten hoch eingeschätzt wird. Vgl. dazu William M. Calder III, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte, in: Das Altertum 42 (1997), S. 245–256, hier S. 252. Zur Tendenz der Darstellung vgl. die Charakterisierung bei Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel, hrsg. von Dietrich Ehlers, Bd. 2, Berlin 1992, S. 424– 428. Zehn Quarthefte über die Jugendzeit von Hermann Diels (offenbar 1848–1872 abdeckend), die im August 1914 von Diels selbst geschlossen wurden, konnten etwa noch Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. V, und Otto Regenbogen, Hermann Diels, abgedruckt in: Franz Dirlmeier (Hrsg.), Otto Regenbogen. Kleine Schriften, München 1961, S. 543–554, hier S. 554, benutzen. – Walter Burkert hat im Jahr 1969 eine Bibliographie des großen Gelehrten erstellt, die nichts an ihrer Verlässlichkeit verloren hat: Walter Burkert (Hrsg.), Hermann Diels. Kleine Schriften zur Geschichte der antiken Philosophie, Darmstadt 1969, S. XIV–XXVI. Werner Jaeger, Hermann Diels. Zum goldenen Doktorjubiläum (1920), abgedruckt in: derselbe, Humanistische Reden und Vorträge, 2., erw. Au. Berlin 1960, S. 31–40, hier S. 32. Ebenda, S. 33. Burkert (Hrsg.), Hermann Diels. Kleine Schriften (Anm. 4), S. XI. Lesenswert ist in diesem Zusammenhang das Vorwort zur ersten Auage von Hermann Diels, Antike Technik. Sieben Vorträge, wiederabgedruckt ebenda, 3. Au. Berlin 1924, S. V–VII. Eine Würdigung seiner Bedeutung für die Erforschung der Technikgeschichte findet sich bei Helmut Wilsdorf, Hermann Diels in seiner Bedeutung für die Geschichte der antiken Technik, in: Philologus 117 (1973), S. 284–293.

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einmal, keine Grenzen; es gebe nur eine Wissenschaft – nur in der mangelnden Kraft der Menschen, die es nicht erlaube, alles zu umfassen, liege die Grenze, nicht in der Wissenschaft selbst9. Diels’ Vater, der sich unter anderem auch als Seidenraupenzüchter, als Kaufmann und Tabakhändler versucht hatte, plante ursprünglich, dass Hermann ebenfalls einen kaufmännischen Beruf ergreifen sollte, doch Diels durfte schließlich doch, nachdem er von 1854 bis 1858 zu Wiesbaden die Mittelschule besucht hatte, von 1858 bis 1867 das dortige humanistische Herzoglich-Nassauische Gelehrten-Gymnasium absolvieren, „das ihm [aber] wenig Anregung zu bieten vermochte“10. Auf das fortgesetzte Bemühen seines Vaters hin erlernte Diels die Buchbinderei. Hier entwickelte er seine handwerkliche Geschicklichkeit weiter, und viele seiner „Biographen“ erwähnen voll Ehrfurcht und Staunen die Perfektion und Liebe, die er darin entwickelte, die Bücher seiner Bibliothek entsprechend zu pegen11. Zu Ostern 1867 ging Diels zunächst für zwei Semester nach Berlin. Die einzigen Lehrer, die er dort wirklich schätzte, waren offenbar Johann Gustav Droysen (1808–1884) und auch der ebenda seit 1810, das heißt seit Gründung der Universität durch König Friedrich Wilhelm III., als ordentlicher Professor für Klassische Philologie lehrende August Böckh (1785–1867), der Begründer des „Corpus Inscriptionum Graecarum“, der allerdings im Verlauf des Semesters, am 3. August 1867 mit 82 Jahren starb. Auch sein dortiges „sonstiges Studentenleben“ war Diels offenbar in keiner allzu guten Erinnerung12. Er verließ, insgesamt eher unbefriedigt von Stadt und Universität, Berlin und schrieb sich im Sommersemester 1868 an der Universität Bonn ein. Dort wurde er dann, zusammen mit Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), im Wintersemester 1868/69 Mitglied des philosophischen Seminars. Beider Lehrer wurde nun Hermann Usener (1834–1905), einer der bedeutendsten Klassischen Philologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts13, der seit 1866 als Ordinarius in Bonn Klassische Philologie lehrte. Usener und seine Schule – Bonn war nach dessen eigenen Worten zur damaligen Zeit ein „europäischer Mittelpunkt der Philologie“14 – brachten Deutschland in diesem Wissenschaftsbereich zur Weltspitze. Während Diels Usener später

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Ernst Samter, Zum Gedächtnis von Hermann Diels. Rede gehalten bei der Gedächtnisfeier der Religionswissenschaftlichen Vereinigung in Berlin am 24. Oktober 1922, Berlin 1923, S. 24. Regenbogen, Hermann Diels (Anm. 4), S. 543. Zum dort erhaltenen Unterricht und seinen Formen vgl. Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. 16–18. Burkert (Hrsg.), Hermann Diels. Kleine Schriften (Anm. 4), S. VII. Vgl. Eckart E. Schütrumpf, Hermann Diels. 18 May 1848–4 June 1922, in: Ward W. Briggs/William M. Calder III (Hrsg.), Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, New York/London 1990, S. 52–60, hier S. 52. Vgl. Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. 26. Jan N. Bremmer, Hermann Usener. 23 October–21 October 1905, in: Briggs/Calder (Hrsg.), Classical Scholarship (Anm. 11), S. 462–478. Jaeger, Hermann Diels (Anm. 5), S. 33, nennt Usener den „genialen Meister der Altertumswissenschaft“. Siehe auch Samter, Zum Gedächtnis von Hermann Diels (Anm. 9), S. 4. Hans Oppermann, Nachruf auf Hermann Diels, in: Preußische Jahrbücher 189 (1922), S. 188–198, hier S. 188.

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als seinen „zweiten Vater“15 bezeichnen sollte und ihm zeitlebens treu ergeben war16, meinte Wilamowitz, Usener sei einer der Philologen gewesen, von denen er nichts gelernt habe17. Nie hat dagegen Diels aufgehört, mit tiefster Dank­barkeit von diesem offenbar begnadeten Lehrer, von seiner Fähigkeit, Menschen an sich zu ziehen und ihnen den Weg zu weisen, zu sprechen18. Diels war durch Useners epochemachende Wirksamkeit in Bonn tief geprägt – und diese Prägung sollte auch später, an der Berliner Universität, seine Tätigkeit bestimmen19. Usener wies Diels den Weg zur Quellenforschung für die antike Philosophie, zu Untersuchungen über die antike Religionsgeschichte und zu dessen lebenslanger Beschäftigung mit Lukrez20. Von Usener hatten seine Schüler gelernt, dem historisch-rekonstruktiven Zug der Zeit folgend, nicht nur die Werke der großen – und erhaltenen – Denker der Antike, wie Plato und Aristoteles, zu erforschen, sondern den Blick auf die gesamte antike Geisteswelt zu richten und durch Quellenanalyse und Sammlung der in der späteren antiken Literatur verstreuten Bruchstücke der verlorenen Werke der früheren Denker deren Philosophie wiederzugewinnen. So sollte die Rekonstruktion einer Periode der Philosophiegeschichte angestrebt werden, die bislang fehlte. Systematisch wurde die Philosophie des Hellenismus, Theophrast, Epikur und die Stoa wiederhergestellt21. Der junge Diels folgte mit dem Meisterwerk seiner früheren Jahre, den „Doxographi Graeci“, in dem er die spätantike philosophiegeschichtliche Tradition insgesamt auf die in der Schule des Aristoteles auf diesem Gebiete geleistete Arbeit zurückführte22. Da der Großteil philosophischer Werke aus vorklassischer und klassischer Zeit verloren ist, leitet sich unser Wissen aus doxographischen Abhandlungen oder Exkursen später schreibender Autoren her, wie eben bei Aristoteles und dann vor allem seinen Schülern und Nachfolgern. In den Werken der „Doxographi“, der 15 16



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Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel (Anm. 4), Bd. 1, Berlin 1992, S. 64. So Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Gedächtnisrede auf Hermann Diels, abgedruckt in: derselbe, Kleine Schriften, Bd. 6, Berlin 1972, S. 71–74, hier S. 72, und Oppermann, Nachruf auf Hermann Diels (Anm. 14), S. 188. Vgl. auch den erhaltenen Briefwechsel: Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel (Anm. 4). „Lieber Prinz“. Der Briefwechsel zwischen Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1869– 1921), hrsg. und komm. von Maximlian Braun/William M. Calder III/Dietrich Ehlers, Hildesheim 1995, S. XIII. Eckart Mensching, Über Hermann Diels (1848–1922) und die Mittwochs-Gesellschaft, in: Nugae zur Philologie-Geschichte 7 (1994), S. 9–30, hier S. 9 f. Werner Jaeger, Die Klassische Philologie an der Universität Berlin von 1870–1945, in: Hans Leussink/Eduard Neumann/Georg Kotowski (Hrsg.), Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (Gedenkschrift der westdeutschen Rektorenkonferenz und der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin), Berlin 1960, S. 459–485, hier S. 466 f. Rudolf Müller, Hermann Diels in seiner Bedeutung für die Geschichte der antiken Philosophie, in: Philologus 117 (1973), S. 271–277, hier S. 272. Dazu vgl. Jaeger, Die Klassische Philologie an der Universität Berlin (Anm. 19), S. 467. Ebenda; Jaap Mansfeld, Doxographi Graeci, in: William M. Calder III (Hrsg.), Hermann Diels (1848– 1922) et la Science de l’Antiquité (Fondation Hardt. Entretiens sur l’antiquité classique, 45), Genève 1998, S. 143–168.

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Verfasser der „Doxographien“, werden Meinungen und Formulierungen bzw. Ansichten (doxai) oder dogmatische Partien und Thesen aus den Werken früherer Philosophen und Naturwissenschaftler dargestellt – „Doxographien“ sind also exakter gesagt Bestandteile umfassenderer Werke, die sich auf der Grundlage dieser Textpassagen dialektisch mit den Vorgängern auf dem jeweiligen Sachgebiet auseinandersetzen. Durch die „Doxographi Graeci“ wurde die große Leistung der Berliner Jahre des Hermann Diels, „Die Fragmente der Vorso­kratiker“ in drei Bänden, vorbereitet und vielleicht gar erst möglich gemacht23. Wer immer sich intensiver mit antiker Philosophie beschäftigt, den führt kein Weg an diesem Werk vorbei24, das oft als das eigentliche Lebenswerk von Diels herausgestellt worden ist. Es lässt sich nicht genau feststellen, wann der Plan zu dieser gigantischen Arbeit eigentlich aufgetaucht ist. Doch An­deutungen in der Korrespondenz, sowohl mit Usener wie mit Wilamowitz, deuten darauf hin, dass der Lehrer und der Freund an der Konzeption dieses Planes nicht unbeteiligt gewesen sind25. Zum ersten Mal waren jedenfalls nach Abschluss des Werkes die für das Studium dieses Phänomens erforderlichen Texte – Doxographien, Originalzitate und Fälschungen (mit Übersetzungen) – bequem zusammengestellt und damit die Arbeit mit ihnen enorm erleichtert26. Und die Intensivierung der nachfolgenden Bemühungen um den Sinn und die Bedeutung der Vorsokratiker in der Klassischen Philologie und der Philosophiegeschichte ist zum großen Teil Diels’ Verdienst und seine bleibende Wirkung. Als Gesamtausgabe beherrschte und bestimmte jedenfalls „der Diels“27 die Forschungen zu den Ursprüngen der europäischen Philosophie und Wissenschaft fortan28. Dabei wollte das übersichtliche Werk mit seinem klaren Aufbau und den Übersetzungen gar keine erschöpfende Sammlung sämtlicher Quellen für Wissenschaftler sein, sondern ein begleitender Vorlesungstext für Studenten29! Aus dem ‚Handbuch zum Gebrauch in Vorlesungen‘ war ein Haupt- und Grund­buch der griechischen Philosophieund Geistesgeschichte geworden30. Zunächst aber beendete Diels seine Studien in Bonn mit der Dissertation (22. Dezember 1870 Promo­tion) „De Galeni historia philosopha“, die eine kritische Ausgabe dieses wichtigen doxographischen Textes nebst einer Einleitung enthielt. Am 8. Juli 1871 legt er 23



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Walter Burkert, Diels’ Vorsokratiker. Rückschau und Ausblick, in: Calder (Hrsg.), Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 22), S. 169–197. Mensching, Über Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 18), S. 9. Siehe auch Oppermann, Nachruf auf Hermann Diels (Anm. 14), S. 189 f. Regenbogen, Hermann Diels (Anm. 4), S. 546. Jaeger, Hermann Diels (Anm. 5), S. 34. Müller, Zum 150. Geburtstag von Hermann Diels (Anm. 2), S. 107. Glenn W. Most, Po/lemoj pa /ntwn path/r. Die Vorsokratiker in der Forschung der Zwanziger Jahre, in: Flashar (Hrsg.), Altertumswissenschaft in den 20er Jahren (Anm. 3), S. 87–114, hier S. 87. Zur Kritik an diesem Werk, in dem die Texte mit Übersetzungen geboten wurden, ebenda, S. 92 mit Anm. 11 und 12. Neuere Einzelausgaben: Die Worte der Sieben Weisen, hrsg. und übersetzt von Jochen Althoff/Dieter Zeller, Darmstadt 2006, und Laura Gemelli (Hrsg.), Vorsokratiker. Griechisch/Deutsch, Bd. 1–3, Basel 2007. Burkert (Hrsg.), Hermann Diels. Kleine Schriften (Anm. 4), S. X. Regenbogen, Hermann Diels (Anm. 4), S. 547.

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das Staats­examen ab. Auf Reisen in Deutschland, Österreich und Italien (1871/72) folgte aus finanziellen Gründen31 zunächst eine Schultätigkeit als Gymnasiallehrer in Flensburg (vom 1. Oktober 1872 ab) und darauf am Johanneum in Hamburg von Ostern 1873 bis 1877. Dort erlebte er mit Dienstantritt eines neuen Direktors harte Zeiten32. Wissenschaftliches Arbeiten „nebenher“ war nur durch unmenschliche Arbeitszeiten möglich – regelmäßige siebzehn Stunden am Tag waren keine Seltenheit33. Am 17. Juli 1873 heiratete Diels Berta Dübell (1847–1919), Tochter des Kriegsgerichtsrats Dübell in Wiesbaden, mit der er sich bereits im Herbst 1870 verlobt hatte. Aus dieser sechsundvierzigjährigen Ehe34 stammen drei Söhne: der spätere Botaniker und Generaldirektor des Botanischen Gartens in Berlin-Dahlem, Friedrich Ludwig Emil Diels (1874–1945), Otto Paul Hermann Diels, Nobelpreisträger für Chemie 1950 (1876–1954), und der Slawist Paul Diels (1882–1963). Einige Erleichterung von der allmählich unerträglichen Last des Schuldienstes in Hamburg brachte Hermann Diels schließlich die Berufung an das Königstädtische Gymnasium zu Berlin (1. Oktober 1877)35. Obwohl ihm bereits am 5. Juli 1877, in der Leibnizsitzung der Preußischen Akademie, der Preis für seine „Doxographi Graeci“ zugesprochen worden war (das erste Exemplar des fertig gedruckten Werkes sandte Diels im Dezember 1879 an Usener36) musste Diels in Berlin noch fünf Jahre lang Oberlehrer bleiben, bevor ihm endlich am 4. Oktober des Jahres 1882 eine außerordentliche Professur an der Berliner Univer­sität zuteil wurde. Seit Dezember 1877 war er zusätzlich Redaktor der „Commentaria in Aris­ totelem Graeca“. Dabei handelt es sich um das Akademieprojekt einer Gesamtedition der griechischen Aristoteles-Kommentare37, ein Vorhaben, an dem die holländische Akademie

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Calder, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte (Anm. 4), S. 253. Dass die unsichere wirtschaftliche Situation in jener Zeit ihn bedrückte (dazu kam noch seine Ablehnung für den Heeresdienst aus gesundheitlichen Gründen – Kern, Hermann Diels und Carl Robert [Anm. 1], S. 25 –, was ihn spürbar verletzte) und ihn vom Antritt einer Privatdozentur abhielt, zeigt die Antwort Diels auf den von Usener am 23.12.1895 zum 25jährigen Doktorjubiläum geschriebenen Brief: s. Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel (Anm. 4), S. 427. Wilamowitz dagegen diente 1870/71 als Grenadier und verbrachte „Wanderjahre“ in Italien und Griechenland: Robert L. Fowler, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. 22 December 1848–25 September 1931, in: Briggs/Calder (Hrsg.), Classical Scholarship (Anm. 11), S. 489– 522, hier S. 492. Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. 52–55. Vgl. ausführlich Wilt A. Schröder, Hermann Diels und das Hamburger Johanneum, in: Calder (Hrsg.), Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 22), S. 37–82. Ebenda, S. 68–71 findet sich Diels’ Prüfungs-Zeugnis/Staatsexamen vom 8. Juli 1871 im Wortlaut, S. 72 der Lebenslauf mit der Angabe der Prüfungsfächer: Klassische Sprachen, Deutsch für obere, Geschichte und Geographie für mittlere Klassen. Burkert (Hrsg.), Hermann Diels. Kleine Schriften (Anm. 4), S. VIII. Vgl. Schütrumpf, Hermann Diels (Anm. 11), S. 53. Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. 50. Ebenda, S. 56. Wilamowitz-Moellendorff, Gedächtnisrede auf Hermann Diels (Anm. 16), S. 72. Samter, Zum Gedächtnis von Hermann Diels (Anm. 9), S. 7, zitiert aus einem Brief von Diels an seine Mutter, dass Zeller ihn eigens in Hamburg aufgesucht hatte, um ihn zur Mitarbeit an dem Akademiewerk aufzufordern.

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der Wissenschaften gut 30 Jahre zuvor gescheitert war und das nun in Preußen, nach dem Sieg über Frankreich und der besseren wirtschaftlichen Lage für die Wissenschaften38, unter einem günstigeren Stern stand. Mit seinen Studienkollegen, C. Robert (1850–1922), G. Kaibel (1849–1901), A. Fritze (1848–1902) und vor allem U. von Wilamowitz-Moellendorff verband Diels Freundschaft39. Sie trafen sich in Studienzeiten regelmäßig in dessen Wohnung und hielten ein sogenanntes Kontubernium – Übung, Gespräche, gemeinsames Essen, Kaffeeskat – ab40. Diels und Wilamowitz41 waren sehr unterschiedlich, was schon mit der sozialen Herkunft anfing. Der eine, nämlich Diels, stammte aus dem „unteren Mittelstand“ bzw. dem Kleinbürgertum (gelegentlich liest man auch, m. E. doch eher unangebracht, „Arbeiterklasse“)42. Seine soziale Herkunft empfand er bisweilen als Stigma43; er wurde offenbar auch diskriminiert. In diesem Zusammenhang wird oft der Name Jacob Bernays (1824–1888) genannt, der als außerordentlicher Professor für Klassische Philologie zugleich Direktor der Universitätsbibliothek gewesen ist: Er ließ Diels „abblitzen“44, verweigerte ihm den Zutritt zur Bibliothek. Und doch hat die relative Armut ihn am Ende erst zu höchstem wissenschaftlichen Ansehen in der Altertumswissenschaft und zum gesellschaftlichen Aufstieg verholfen, denn Philologe wurde er nur, weil das Chemiestudium, das er eigentlich anstrebte, zu teuer war45. Der andere junge Mann, Wilamowitz, als Junker und Spross aus traditionsreichem Landadel, verkehrte in höchsten Kreisen, hielt in Potsdam vor der Kaiserin und ihrem Kreis Vorträge46. Der genannte Bernays lud selbstverständlich ihn zu Wein und Abendgesellschaf-

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Oppermann, Nachruf auf Hermann Diels (Anm. 14), S. 192. Peter R. Franke, Hermann Alexander Diels, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3, Berlin 1957, S. 646 f., hier S. 646. Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. 33. „Lieber Prinz“ (Anm. 17), hier bes. S. XII. Zu Person und Bedeutung von Wilamowitz vgl. Fowler, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (Anm. 31), S. 489–522. „Working class“: „Lieber Prinz“ (Anm. 17), S. XV, oder Calder, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte (Anm. 4), S. 253–255 („Arbeiterklasse“); „werktätiges Volk“: Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel (Anm. 4), S. 425, und Philology and Philosophy. The Letters of Hermann Diels to Theodor and Heinrich Gomperz (1871–1922), hrsg. von Maximilian Braun/William M. Calder III/Dietrich Ehlers, Hildesheim 1995, S. XIV. Stefan Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“. Theodor Mommsen und Hermann Diels, in: Calder (Hrsg.), Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 22), S. 85–134, hier S. 86, 132. Bezeichnend ist auch die in einem Brief vom 13. Januar 1872 (Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel [Anm. 4], Nr. 48) geschilderte Episode eines Besuches bei Gomperz in Wien, der als Bankierssohn und Millionär so ganz anders residierte. Diels war sich höchst unsicher, ob man nicht heimlich über ihn lachte. Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. 37. Zu der Episode s. auch Calder, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte (Anm. 4), S. 253. Pathetisch dazu Calder, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte (Anm. 4), S. 253: „Seine Armut hat ihn für uns Philologen bewahrt“. Es hätte Diels sicher mit höchster Befriedigung erfüllt, hätte er geahnt, dass einer seiner Söhne den Chemie-Nobelpreis erhalten sollte. „Lieber Prinz“ (Anm. 17), S. XII f.

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ten ein, niemals Diels. Dennoch wurden die beiden, Diels und Wilamowitz, trotz unterschiedlicher Herkunft und Lebensgewohnheiten und Persönlichkeit, Freunde, die sich ein Leben lang eng verbunden blieben: Der erhaltene Briefwechsel umspannt mehr als 50 Jahre, von der Studienzeit bis zum Tode Hermann Diels47. Wilamowitz war in dieser Freundesbeziehung und in ihrer gemeinsamen beruichen Tätigkeit aber der „Leitwolf“, der von Diels bewundert wurde und sich bisweilen über den Freund, dem man nachsagte ein wenig „bourgeois“ zu sein, lustig machte48. Diels war bescheiden und, was ihn auszeichnet, immer bereit, die Leistungen eines anderen gebührend einzuschätzen und zu werten, ihn deshalb zu achten, ohne jedes erkennbare Anzeichen von Verbitterung, Neid und Missgunst. Dies und zugleich auch die Perpetuierung finanzieller Nöte dokumentiert eine Episode um Wilamowitz und Diels aus späteren gemeinsamen Berliner Jahren: Diels hatte nie Geld und war in gewissem Umfang abhängig von den Kolleggeldern, die die Studenten in seinen Veranstaltungen direkt an ihn zu zahlen hatten. Da er schon aus dem Studium wusste, dass Wilamowitz bessere Vorlesungen hielt49 als er, fürchtete er dieses eine Mal, dass ihm die Studenten weglaufen würden. Diels sagte das nie, aber Wilamowitz kam es doch zu Ohren und er bestimmte, dass unabhängig von der Einschreibung die Kolleggelder zu gleichen Teilen auf beide verteilt werden sollten50.

III. Am 15. August 1881 wurde Diels, vor allem auf Betreiben des Theologen und Philosophen Eduard Zeller (1814–1908), als ordentliches Mitglied (= OM) in die Berliner Akademie gewählt51, also ein Jahr, bevor er endlich den Schuldienst verlassen konnte. Als Mitunterzeichner des Wahlvorschlages vom 25. November 1880 figurierten Mommsen, ferner die Philologen Hermann Bonitz (1814–1888, OM 1867), Adolf Kirchhoff (1826–1908, OM 1860 und seit 1865 Professor an der Universität) und Johannes Vahlen (1830–1911, OM 1874, seit 1874 Professor an der Universität). Zeller, der an der Kaiser-Wilhelm-Universität von 1872 bis 1894 Philosophie lehrte und selbst erst 1872 in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden war, gilt als einer der bedeutendsten Historiker der 47



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Zum Briefwechsel (232 Briefe und Postkarten) vgl. auch Calder, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte (Anm. 4), S. 247; siehe auch Fowler, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (Anm. 31), S. 491. „Lieber Prinz“ (Anm. 17), S. XIV. Wilamowitz als Lehrer: Fowler, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (Anm. 31), S. 510 f. Bemerkenswert ist sein in den Memoiren (Erinnerungen 1848–1914, 2. Au. Leipzig 1929, S.) geäußerter Anspruch an sich selbst, dass ein deutscher Professor mehr Wert auf das Lehren als auf das Forschen legen solle. „Lieber Prinz“ (Anm. 17), S. XIII. Auch später griff Wilamowitz ein, um das Gehalt seines Kollegen Diels zu verbessern: ebenda, S. XIV. Wilamowitz-Moellendorff, Gedächtnisrede auf Hermann Diels (Anm. 16), S. 71. Klar lässt sich das aus den Akten erkennen: Christa Kirsten (Hrsg.), Die Altertumswissenschaften an der Berliner Akademie. Wahlvorschläge zur Aufnahme von Mitgliedern von F.A. Wolf bis zu G. Rodenwaldt 1799–1931 (Studien zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, 5), Berlin 1985, S. 58 und S. 96, Dokument Nr. 22.

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antiken griechischen Philosophie und hatte schon daher und aufgrund der bereits von Diels gezeigten herausragenden Leistungen auf diesem Gebiet ein ureigenes Interesse, ihn in Akademie und Universität an seiner Seite zu haben. Die Bedeutung, die man den „Doxographi Graeci“ dabei beilegte, aber auch eine allgemeine Hochschätzung der Leistung von Diels, bezeugt der Wahlvorschlagstext52. Die bahnbrechende Leistung der „Doxographi Graeci“ war es also, die ihn an die Spitze der Wissenschaft katapultierte und ihm, dem 33jährigen Oberlehrer, als ordentliches Mitglied die Pforten der Akademie öffnete – eine außergewöhnliche Auszeichnung53. Vierzig Jahre seines Lebens, von August 1881 bis zu seinem Tod 1922, sollte Diels der Berliner Akademie, der ältesten der in Deutschland überregional organisierten Wissenschaftsakademien, verbunden sein. Vorgreifend darf an dieser Stelle eingefügt werden, dass Theodor Mommsen, aber eben auch Hermann Diels, an der Preußischen Akademie die traditionell führende Rolle der Altertumswissenschaften bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges sicherten: Die Altertumswissenschaften bildeten die weitaus größte Gruppe in der philosophisch-historischen Klasse, stellten die meisten korrespondierenden und auswärtigen Mitglieder, betreuten die überwiegende Zahl der Akademieunternehmen und dominierten die Sitzungsberichte. Die altertumswissenschaftlichen Vorhaben dienten anderen Fächern als Vorbild54. Diels erlangte in der Akademie recht bald als Nachfolger Theodor Mommsens den Posten des „Sekretars“ der philosophisch-historischen Klasse, den er von 1895 bis 1920, dem Jahr seiner Emeritierung, innehatte. Mommsen hatte diese Position zuvor 21 Jahre lang bekleidet. Als ständiger Sekretar der philosophisch-historischen Klasse der Preußischen Akademie war Diels einer von vier ständigen Sekretären der Akademie der Wissenschaften, wurde als deren Vertreter in die Assoziation der Akademien delegiert und gehörte der Leitung des „Thesaurus linguae latinae“, des ge­meinsamen Unternehmens der fünf deutschen Akademien, an. In dieser Stellung hatte er einen Hauptanteil an den Verhandlungen, die 1900 zum internationalen Zusammenschluss der Akademien führten – und das Scheitern dieser Organisation während des Ersten Weltkrieges hat er immer als großen Verlust für die Wissenschaft bedauert55. Daneben behielt Diels die Redaktion der „Commentaria in Aristotelem“ und übernahm die Organisation des „Corpus medicorum“. Als Sekretar hatte 52

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„ … Herr Dr. Hermann Diels, hat sich nicht blos durch ... werthvolle und gründliche Arbeiten … um die Kenntniß der griechischen Philo­sophie verdient gemacht, sondern er hat auch in seinen Doxographi Graeci ein um­fassendes Werk geliefert, welches seiner Zeit von unserer Akademie unter ungewöhn­lich anerkennender Beurtheilung gekrönt wurde, und welches schon jetzt, ein Jahr nach seinem Erscheinen, als eine der hervorragendsten Leistungen auf diesem Gebiet anerkannt ist. Die umfassende und gründliche Gelehrsamkeit, auf der es ruht, die Sicherheit seines Verfahrens, die Genauigkeit, Umsicht und Sorgfalt, mit der es aus­geführt ist, zeigen eine wissenschaftliche Meisterschaft und Reife, wie sie bei einem verhältnißmäßig noch so jungen Mann selten zu finden ist …“ (Kirsten [Hrsg.], Die Altertumswissenschaften an der Berliner Akademie [Anm. 51], S. 96, Dokument Nr. 22). Jaeger, Hermann Diels (Anm. 5), S. 34; so auch Samter, Zum Gedächtnis von Hermann Diels (Anm. 9), S. 7. Stefan Rebenich, Theodor Mommsen. Eine Biographie, München 2002, S. 144 f. Oppermann, Nachruf auf Hermann Diels (Anm. 14), S. 193.

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er eine Vielzahl von Pichten und Aufgaben zu erfüllen, unter anderem auch das Abhalten von Festreden bei der Aufnahme neuer Mitglieder, die sogenannten Erwiderungen auf deren Antrittsreden56; er konnte hier das künftige Wirken der betreffenden Gelehrten im Rahmen der Akademie beeinussen. Schließlich bedeutete für einen Gewählten, das neue Mitglied der Akademie, die Aufnahme einen zentralen Einschnitt in seinem akademischen Leben – oft die letzte und höchste Auszeichnung. Die organisatorische Tätigkeit Diels’ lässt sich durchaus mit derjenigen Mommsens vergleichen57. Beide hielten die sogenannte Großwissenschaft für eine notwendige Voraussetzung der Kulturentwicklung und des wissenschaftlichen Fortschrittes und die Akademien für den Ort, an dem diese wissenschaftlichen Großvorhaben zu verwirklichen seien58. Vor allem die Sammlung der antiken Kommentare zu den Werken des Aristoteles, die bereits genannten „Commentaria in Aristotelem Graeca“, lassen sich hier nennen, ein Werk, das schließlich in 23 Bänden erschien und nicht nur für das Verständnis des Aristoteles, sondern ebenso für das Geistesleben der Spätantike eine Fundgrube darstellt. Diels betreute dieses Riesenunternehmen von 1877 bis 1909 intensivst59. Die schwere Aufgabe ließ sich auch tatsächlich nur durch die Zusammenführung und Bündelung nationaler und internationaler Kräfte und unter einheitlicher Leitung durchführen60. Beteiligt waren renommierte Wissenschaftler aus England, Dänemark, Italien und Griechenland61. Diels selbst steuerte neben der Organisation und Leitung – jeden Korrekturbogen las er selber mit – die Edition des „Simplikios“ bei62. Das dadurch erschlossene Material diente nicht nur als Fundgrube für die Vorsokratikerfragmente, sondern hat auch die Textgestaltung der Werke des Aristoteles wesentlich beeinusst, indem aus den antiken Kommentatoren und „Nutzern“ viel neues Licht auf den von ihnen gelesenen Text des Philosophen und damit die wesentlich spätere handschrift­liche Tradition fiel. Ein weiterer wesentlicher Zugang zur Kenntnis der frühgriechischen Philosophie war also damit geschaffen63. Als Akademiker und Organisator nahm Diels tätigen Anteil am „Thesaurus Linguae Latinae“. 1893 war in Berlin das entsprechende Programm als gemeinsame Aufgabe der deutschsprachigen Gelehrtengesellschaften beschlossen worden, 1899 wurde mit der Redaktion begonnen64. Die Verhandlungen um dieses Unternehmen sind der Ursprung des Kartells der deutschsprachigen Akademien, das 1893 ins Leben trat: Göttingen, Leipzig, 56

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Mensching, Über Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 18), S. 13, 16. Jaeger, Hermann Diels (Anm. 5), S. 35. Johannes Irmscher, Hermann Diels als wissenschaftlicher Organisator, in: Philologus 117 (1973), S. 293–300, hier S. 293. Seine Leistungen und sein Organisationstalent betont Oppermann, Nachruf auf Hermann Diels (Anm. 14), S. 192 f. Wilamowitz-Moellendorff, Gedächtnisrede auf Hermann Diels (Anm. 16), S. 72. Schütrumpf, Hermann Diels (Anm. 11), S. 54. Mensching, Über Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 18), S. 12. Müller, Zum 150. Geburtstag von Hermann Diels (Anm. 2), S. 109. Irmscher, Hermann Diels als wissenschaftlicher Organisator (Anm. 58), S. 296.

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München und Wien traten bei, Berlin erst 1906, nach Schwierigkeiten mit der Physikalischmathematischen Klasse, die Diels persönlich ausräumte. Nach Abschluss der Sammlung der Aristo­teleskommentare – der Erfolg hatte Diels ganz für den Großbetrieb der Wissenschaft gewonnen65 –, wandte er sich einer größeren organisa­torischen Aufgabe zu, diesmal als Unternehmung einer Vereinigung mehrerer Akademien geplant: dem „Corpus Medicorum Graecorum“. Diels war, wie Wilamowitz, im Grunde im Geiste Theodor Mommsens, dessen Schwiegersohn Wilamowitz ja seit 1878 war, der Überzeugung, dass Wissenschaft international zu sein habe. Deshalb beschäftigte er die besten ausländischen Fachkollegen an den Akademieprojekten. Das höchste idealistische Ziel, so Wilamowitz, war für sie beide, für ihn und Diels, eine Art Friedens- und Freundschaftsbund mit allen Akademien der Welt. Diels war stolz auf das Gedeihen der übernationalen Wissenschaft66. In zwei Reihen, den Schriften der griechisch (seit 1908) und später auch denen der lateinisch schreibenden Ärzte („Corpus Medicorum Latinorum“, seit 1915) erschienen so medizinische Schriften von Hippokrates bis zu den byzantinischen Autoren. Den Textausgaben waren moderne Übersetzungen beigegeben, die dazu angetan waren, den elitären Charakter altertumswissenschaftlicher Editionen zu überwinden67. Die medizingeschichtliche Forschung verfügt mit diesem 1907 von Diels begründeten Unternehmen und seinen Ergebnissen über ein „bedeutsames editorisches Fundament“68. Die Idee, wissenschaftliche Einrichtungen über Ländergrenzen hinweg zur Abstimmung ihrer Großunternehmungen sowie zur Durchführung geeigneter Aufgaben zu verbinden, hatte langsam an Boden gewonnen. Im Jahr 1899 kam es in Wiesbaden zu einer Begegnung zwischen Vertretern der Royal Society in London, die auf internationaler Basis einen Katalog der aktuellen naturwissenschaftlichen Literatur anzulegen plante, und Repräsentanten deutscher Akademien, darunter auch Hermann Diels. Als Ergebnis stand am Ende die im Jahr 1900 erfolgte Gründung der Internationalen Assoziation der Akademien, der sich mehr als zwanzig europäische und amerikanische Gelehrtengesellschaften anschlossen. Diels vertrat in ihr die Gesamtheit der preußischen Akademien. Der erste Kongress der assoziierten Akademien tagte im April 1901 in Paris (Herrmann Diels und Mommsen waren als Delegierte der Berliner Akademie dabei)69. Dass auch hier sein in der Folge uner65



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So Wilamowitz-Moellendorff, Gedächtnisrede auf Hermann Diels (Anm. 16), S. 73. Zur Bedeutung des Projektes vgl. Müller, Hermann Diels in seiner Bedeutung für die Geschichte der antiken Philosophie (Anm. 20), S. 273 f. Wilamowitz-Moellendorff, Gedächtnisrede auf Hermann Diels (Anm. 16), S. 73 f. So Kirsten (Hrsg.), Die Altertumswissenschaften an der Berliner Akademie (Anm. 51), S. 36. Müller, Zum 150. Geburtstag von Hermann Diels (Anm. 2), S. 108. Vgl. Jutta Kollesch, Hermann Diels in seiner Bedeutung für die Geschichte der antiken Medizin, in: Philologus 117 (1973), S. 278–283, und dieselbe, Die Organisation und Herausgabe des Corpus Medicorum Graecorum: Ergänzende Details aus der Korrespondenz zwischen Hermann Diels und Johannes Mewaldt, in: Calder (Hrsg.), Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 22), S. 207–223. Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“ (Anm. 43), S. 128; derselbe, Theodor Mommsen (Anm. 54), S. 142.

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müdliches Wirken für die Internationale Assoziation nicht auf die äußere Form beschränkt blieb, doku­mentierte wieder eben das „Corpus Medicorum Graecorum“, das ungeachtet der Tatsache, dass hier nur die Akademien von Berlin, Leipzig und Kopenhagen unmittelbar beteiligt waren, doch insgesamt unter das Dach der Assoziation gestellt wurde70. Bei den Bestrebungen zum inter­nationalen Zusammenschluss der Akademien zur gemeinschaftlichen För­derung großer Kollektivaufgaben der Forschung, wie Inschriftensamm­ lungen, Ausgrabungen, Thesaurus, Expeditionen und Vermessungen, Erleichterungen des internationalen wissenschaftlichen Verkehrs, sowie in der Pege persön­licher Solidarität der Forscher aller Kulturnationen spielte Diels seit 1895 in der führenden Stellung eines Sekretars der Akademie und als eine der im Ausland angesehensten Personen der deut­schen Wissenschaft eine große Rolle, bis der Weltkrieg das Werk der Verständigung zunichte machte. Er war aber nicht nur an altertumswissenschaftlichen Projekten beteiligt, sondern saß auch in anderen Kommissionen und Ausschüssen der philosophisch-historischen Klasse, war Leiter der Leibniz-Kommission, Mitglied der Kommission für das Grimmsche Wörterbuch71 und vieles mehr. Zeugnis seiner Kontakte sind seine zahlreichen Mitgliedschaften und Ehrendoktorate72. Wegen seiner Verdienste um die nationale und internationale Wissenschaft erhielt Diels 1910 die Große Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft und wurde 1913 Ritter des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaft und Künste. Diels hatte keine Feinde, er war berechenbar und konziliant, konnte beruhigen und vermitteln. Freilich konnten ihm diese doch eher positiven Kompetenzen auch negativ ausgelegt werden: „Papa Diels“ wie er manchmal liebevoll, bisweilen aber auch despektierlich genannt wurde, erschien träge und langweilig73, als Mann ohne zündende Ideen, ohne Selbstvertrauen. Andere aber beurteilten ihn als Mann, der für alle Fragen des geistigen und politischen Lebens aufgeschlossen war, als vorbildlichen Lehrer – trotz seines eher zurückhaltenden Wesens74. Was Diels offenbar schwer fiel, war es, seine Meinung zu

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Irmscher, Hermann Diels als wissenschaftlicher Organisator (Anm. 58), S. 299. Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“ (Anm. 43), S. 117 mit Anm. 141. 1891 Mitglied der Wissenschaftsakademie von Athen; 1899 Korrespondierendes Mitglied an der Pariser Académie des Inscriptions et Belles-Lettres; 1902 ord. Mitglied der Wissenschaftsakademie von Kopenhagen; 1908 Mitglied der Accademia dei Lincei in Rom; 1909 ord. Mitglied der Wissenschaftsakademie von Philadelphia; 1912 Mitglied der Wissenschaftsakademie von Christiania/Oslo; 1917 Ehrenmitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Korrespondierendes Mitglied war Diels daneben in vielen Wissenschaftsakademien: seit 1896 in St. Petersburg, 1898 in München, 1899 in Göttingen, 1900 in Wien; es folgten Brüssel 1902, London 1904, Boston 1907, Rom 1908, Neapel 1910, Gotenburg und Uppsala 1912. Ehrendoktorate: Aberdeen 1906 (utrius iuris doctor), Cambridge 1909 (Literatur), Berlin 1910 (Theologie), 1912 Freiburg (Medizin), St Andrews 1912 (Literatur). William M. Calder III, Werner Jaeger. 30. July 1888–19. October 1961, in: Briggs/Calder (Hrsg.), Classical Scholarship (Anm. 11), S. 211–226, hier S. 214. Vgl. auch Philology and Philosophy (Anm. 42), S. XIII. Zu Diels als „väterliche Figur“ vgl. die privaten Erlebnisse des Hildebrecht Hommel, Berliner Erinnerungen 1920–1921. Hermann Diels zum Gedächtnis, abgedruckt in: derselbe, Symbola. Kleine Schriften zur Literatur- und Kulturgeschichte der Antike, Bd. II, Hildesheim 1988, S. 442–451, hier S. 447. Franke, Hermann Alexander Diels (Anm. 39), S. 646.

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ändern oder umzulernen75. Seine Flucht in Detailfragen resultiere aus dieser Unsicherheit, die ihn davon abgehalten habe, wirklich große Entdeckungen zu machen76. Offenbar gab es Stimmen, die den Positivismus absurd fanden, wenn Diels sich eben bei der Interpretation oder der Textausgabe des Parmenides Türschlössern zuwand oder Platons Nachtuhr aus technikhistorischer Sicht betrachtete: Hier gab es wohl Menschen – übrigens auch unter seinen Studenten –, die gewiss deutlich in Anspielung auf seine Herkunft herablassend vom Eisenbahnbeamten sprachen, der jede Bremse abklopfe, ohne sich ums Ziel des Zuges zu kümmern77. Andere lobten seine Genauigkeit und Gründlichkeit78, der große Wilamowitz bewunderte seine Intelligenz, seinen Fleiß und sein Sprachgefühl79(selten kam auch sein feiner Humor zur Sprache80), seine Arbeitskraft und Schaffenslust81. Denn sowohl er als auch Diels hatten eine kongruente, fundamentale Weltsicht, was ihr Verhältnis zur Wissenschaft anging: beide verstanden sich als Diener der „Göttin Wissenschaft“, bereit, in ihrem Dienst Opfer zu bringen und übertragene Aufgaben unbedingt zu erfüllen82; Faulheit und Inkompetenz verachteten beide. Wurden aber beide von außen verglichen, wie etwa in einer Einschätzung des Theologen und Semitisten Julius Wellhausen (1844–1918), seit 1900 Korrespondierendes Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, dann fiel das Urteil eher zu ungunsten Diels’ aus83: Gediegen sei er, aber Wilamowitz untergeordnet; er sei „der edelste Typus eines Classenlehrers für Obersecunda“. Einige der angesprochenen Züge aus dieser negativen Bewertung kommen auch in der Beurteilung durch den (allerdings Diels gegenüber prinzipiell eher missgünstig gestimmten) Schüler Werner Jaeger84 zum Ausdruck, der Diels als strengen Philologen bezeichnet, dessen

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„Lieber Prinz“ (Anm. 17), S. XVII. Diese negative und überhebliche Einschätzung eines Werner Jaeger (der unter Diels seine Dissertation zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles geschrieben hatte) wiegt nur schwer, wenn man bedenkt, dass nach dessen Einschätzung die Geschichte der klassischen Philologie nichts weiter sei als lange Schatten weniger großer Männer: Calder, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte (Anm. 4), S. 250. Ganz anders klingt Jaeger hier: Jaeger, Hermann Diels (Anm. 5), S. 31–40, vor allem etwa S. 31 f. Eigenartig, dass auch ein anderer Schüler, Karl Reinhardt, offenbar ein gebrochenes Verhältnis zu Diels hatte: vgl. Burkert (Hrsg.), Hermann Diels. Kleine Schriften (Anm. 4), S. XII. „Lieber Prinz“ (Anm. 17), S. XIV. Burkert (Hrsg.), Hermann Diels. Kleine Schriften (Anm. 4), S. XII. Tatsächlich aber hat Diels das Pichtbewusstsein seines Vaters, seine Gewissenhaftigkeit und Strenge bewundert: Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. 2. Calder, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte (Anm. 4), S. 251. „Lieber Prinz“ (Anm. 17), S. XIV. Wilamowitz-Moellendorff, Gedächtnisrede auf Hermann Diels (Anm. 16), S. 74. Ebenda, S. 71. Zu Wilamowitz’ Bild von Diels vgl. William M. Calder III, Hermann Diels: What sort of fellow was he?, in: Calder (Hrsg.), Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 22), S. 1–28, hier S. 4–7. Wilamowitz-Moellendorff, Gedächtnisrede auf Hermann Diels (Anm. 16), S. 73. William M. Calder III/Maximilian Braun, Hermann Diels, the Gomperzes and Wilamowitz. A Postscript, in: Quaderni di Storia 23 (1997), S. 173–184, hier S. 179 f. (der Brief, aus dem zitiert wird, stammt vom 18. März 1904). Zur Quelle s.a. Calder, Hermann Diels: What sort of fellow was he? (Anm. 81), S. 8 f. Calder, Werner Jaeger (Anm. 73), S. 211–226.

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Stärke in der Selbstbeschränkung liege, wie schon die Konzentration auf das eigentlich Philologische und Editorische zeige. Seine Philologie sei eine Enzyklopädie des Wissens vom Altertum. Die Betonung des Rationalen, Wissenschaftlichen und Philosophischen entspringe seiner individuellen Natur; und seine spezielle Begabung gipfele eben in der philologisch-­technischen Kunst, technischer Stoffbewältigung und methodischer Tektonik85. Die Einheit von editorischer und forschender Tätigkeit war indes ein prägender Zug in der geisteswissenschaftlichen Arbeit der Berliner Akademie im 19. Jahrhundert, und Diels verkörperte sie eben vorbildlich. Seine Philologie war daher tatsächlich eine Enzyklopädie des Wissens vom Altertum86. In einem Wort: Die ganze Wissenschaft, deren Schöpfer Diels war, die Wissenschaft von der Überlieferung der griechischen Philosophie war bei aller Anerkennung der Stoffdurchdringung offenbar für einige zu streng, zu „beschränkt“ oder ideenlos, zu gebunden an die Philologie im traditionellen Sinne des Wortes. Andere verstanden seine Gemessenheit und Würde als anerzogenes Persönlichkeitsmerkmal – es geht die Anekdote, dass ihn der mächtige Friedrich Althoff (1839–1908) schon immer „Geheimrat“ nannte, gleichwohl er tatsächlich erst am 20. September 1896 zum „Geheimen Regierungs-Rath“ ernannt werden sollte87; am 27. Januar 1912 folgte dann seine Ernennung zum Geheimen Oberregierungsrat. Vielleicht ist es aber auch nicht ganz abwegig, das Verhalten Diels’ in gewisser Weise geprägt zu sehen durch seinen Lehrer Usener. Denn auch ihn zeichnete in seiner Außenwirkung kühle Vornehmheit und nüchterne Sachlichkeit aus88. Freilich konnte Diels offenbar auch recht scharf werden: bezeichnenderweise nämlich gegen Menschen und Bücher, bei denen er redliches wissenschaftliches Streben, ernstes Wollen, ernste Arbeit vermisste und statt dessen fand, was ihm besonders verhasst gewesen ist, nämlich Oberächlichkeit und die Sucht, mit scheinbar geistreichen Bemerkungen zu blenden89!

IV. Diels war indes als „Akademiker“ bekannt und gefragt: Er lehnte Anfragen aus Rostock (1881), Gießen (1883), aus Greifswald (1885) und Heidelberg (1886) ab und wurde nach der abgelehnten Berufung nach Heidelberg am 25. Januar 1886, nach Umwandlung seines Extraordinariats in einen Lehrstuhl endlich Ordinarius in Berlin90, wo er bis 1922 tätig sein

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Jaeger, Die Klassische Philologie an der Universität Berlin (Anm. 19), S. 468. Müller, Zum 150. Geburtstag von Hermann Diels (Anm. 2), S. 108. Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel (Anm. 4), S. 427. So die Charakterisierung, wie sie bei Bremmer, Hermann Usener (Anm. 13), S. 466 wiedergegeben ist. Samter, Zum Gedächtnis von Hermann Diels (Anm. 9), S. 30. Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. 67.

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sollte. Diels’ Karriere ist der Beweis für die Qualität des „Systems Althoff“: Er wurde nicht durch Intrigen, Bestechung oder Beziehungen Professor, sondern weil er der Beste war91. Seit Gründung der Berliner Universität hatte die klassische Philologie dort eine Stelle von entscheidender Wichtigkeit eingenommen92. Die Philosophische Fakultät war von überragender Bedeutung, die Geisteswissenschaften nahmen an der neuen Universität eine führende Stellung ein, was auch stets in der Besetzung ihrer Professuren zu Buche schlug. Die klassische Philologie stand von Beginn an hier in engem Bund mit der von Barthold Georg Niebuhr neubegründeten Alten Geschichte, die dann von Theodor Mommsen und Johann Gustav Droysen auf den Höchststand gebracht wurde; dazu kam später die Archäologie. Die Klassische Philologie der damaligen Zeit beschränkte sich auf einen bestimmten Ausschnitt des antiken Schrifttums, war stark von der Tradition des deutschen Klassizismus beherrscht. Die einzelnen Fächer, die sich mit der Antike befassten, begannen auseinander zu driften, sie „hatten sich die Arbeit geteilt“, wenn auch die Philologie und ihre kritische Behandlung der Quellen, der literarischen, epigraphischen und papyrologischen Hinterlassenschaften, für Geschichte und Archäologie grundlegend blieben93. Erst mit der Berufung von Hermann Diels lässt sich eine Öffnung der Berliner Altertumswissenschaft zur Rezeption der antiken Philosophie konstatieren94, schließlich war er von seinem Bonner Lehrer Usener zur griechischen Philosophie und Religionsgeschichte hingeführt worden. Die Erforschung des Altertums unternahm zur damaligen Zeit in alle Richtungen große Fortschritte. Die Entstehung einer Vielfalt an Disziplinen, die sich mit dem Altertum befassten, führte dazu, dass die Klassische Philologie ihre Methode ändern musste, um nicht den Anschluss zu verlieren: Die Rückkehr zur Maxime einer „totius antiquitatis cognitio historica et philosophica“, zum Streben nach umfassender historisch-philosophischer Erkenntnis des ganzen Altertums, lag nahe, und Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff waren diejenigen, die hier der Berliner Klassischen Philologie den Weg wiesen. Der klassizistischen und romantischen Verklärung der Antike stellten diese Altertumswissenschaftler ein positivistisches Wissenschafts- und Geschichtsverständnis entgegen, das mit großem Aufwand das Quellenmaterial erforschen und ordnen wollte – die traditionelle Zersplitterung der Altertumswissenschaften sollte aufgehoben werden, die ganze Kultur des griechisch-römischen Altertums wurde als untrennbare Einheit aufge-

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Calder, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte (Anm. 4), S. 253; vgl. auch Philology and Philosophy (Anm. 42), S. XIV. Zum „System Althoff“ vgl. Hans-Christof Kraus, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, München 2008, S. 27, 72. Jaeger, Die Klassische Philologie an der Universität Berlin (Anm. 19), S. 459–485, hier S. 459. So gewertet ebenda, S. 463 f. Jaeger (ebenda, S. 465 f.), wertet hier allerdings den Einuss Bonns und Hermann Useners höher, nimmt also Diels seine Originalität, wie er ihn ja beständig in seinen Einschätzungen und auch autobiographischen Notizen missachtet und hintanstellt – dabei hat gerade er in seinen späteren Forschungen die Themen von Diels aufgenommen: Calder, Werner Jaeger (Anm. 73), S. 213 f. Zu Diels und Jaeger vgl. auch Philology and Philosophy (Anm. 42), S. XIII.

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fasst95. Schon seit 1895 betrieb Friedrich Althoff die Berufung Wilamowitz-Moellendorffs an die Berliner Universität. Diels, der ja schon seit 1886 ordentlicher Professor war, unterstützte die Berufung seines Freundes, die schließlich 1897 Erfolg hatte96. Immer noch waren Johannes Vahlen (seit 1874) und Adolf Kirchhoff (seit 1865) die Ordinarii der Klassischen Philologie. Die beiden Freunde aus Studientagen begannen mit der Etablierung eines „Proseminares“ – im Gegensatz zum „Seminar“ der Ordinarii –, das die Studenten an die „neue Philologie“ heranführte. Hier wuchs die neue historische Altertumswissenschaft heran: Es wurden Arbeiten geschrieben über alle Gebiete des Altertums und nicht bloß über den Text der kanonischen Klassiker. Als der Klassische Philologe und Religionshistoriker Eduard Norden (1868–1941) von 1906 an auf Betreiben des allmächtigen Ministerialdirektors Friedrich Althoff als ordentlicher Professor für Klassische Philologie und Nachfolger Kirchhoffs in Berlin an ihre Seite trat, war der Weg frei für einen umfassenden Ausbau eines „Instituts für Altertumskunde“, das auch in einem Gebäude die philologische, historische und archäologische Fachrichtung mit Bibliothek und Seminarräumen umfasste97. Mit Wilamowitz zusammen gründete Diels aber bereits 1897 als gemeinsamer Vorstand das Institut an der Berliner Universität, das das Ministerium bei der Berufung von Wilamowitz zur Vermeidung von künftigen Konikten mit dem „alten Seminar“ Vahlens und Kirchhoffs auch ausdrücklich genehmigt hatte. Die universale Auffassung der Altertumsstudien sollte eine weltweite Wirkung in der Wissenschaft zeigen98. Das Vermächtnis dieser Bemühungen ist die Überzeugung, dass diese Wissenschaften bei der Erschließung der Antike im Sinne Rankes Verbündete sind, weil die Kenntnis aller Arten von Quellen von Nöten ist. Neben der Stellung des Sekretars der philosophisch-historischen Klasse, die er von 1895 bis 1920 innehatte, bekleidete Diels an der Universität Dekanat und Rektorat (1891/92 bzw. 1905/06)99. Diels als akademischen Lehrer charakterisiert Werner Jaeger: „Der Vortrag hatte den Stil seiner Abhandlungen, die ruhige, regelmäßige Klarheit methodischer Untersuchung100. Den Eingebungen des Augenblicks pegte er sich nicht zu überlassen …. Als objektive Leistung war die Geschichte der griechischen Philo­sophie wohl seine größte Vorlesung, aber der Lukrez war die persönlichste101. … Berühmt waren das Seminar und die … Privatissima über die Vorsokratiker, wo ein staunenswertes Wissen, allezeit parat, sich

Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“ (Anm. 43), S. 88. Vgl. die Bewertung von Fowler, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (Anm. ������������������������������������ 31)��������������������������� , S. 491: „they made a perfect pair together at Berlin from 1897 on“. 97 Ebenda, S. 501. 98 ���������������������������������������������������������������������������������������������������������� Das Konzept einer alle Aspekte der antiken Welt umfassenden „Klassischen Altertumswissenschaft“ ist allerdings schon eine Generation älter: Kraus, Kultur, Bildung und Wissenschaft (Anm. 91), S. 17. 99 Eckart Mensching, Über Hermann Diels und die Berliner Graeca, in: Nugae zur Philologie-Geschichte 8 (1995), S. 9–57, hier S. 11. 100 Es lohnt sich hier zum Vergleich zu lesen: Oppermann, Nachruf auf Hermann Diels (Anm. 14), S. 195. 101 Jaeger, Die Klassische Philologie an der Universität Berlin (Anm. 18), S. 38. 95



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entlud102. Aber trotz der Sorglichkeit, mit der Diels seine Kollegs und Übungen pädagogisch ausgestaltet, bleibt er doch überwiegend Forscher …“103. Der Überzeichnung „überwiegend Forscher“ widerspricht Ernst Samter104. Zumindest für die frühen Jahre Diels’ treffe das nicht zu; er habe ihm, also Samter gegenüber, der ebenfalls sein Schüler gewesen ist, gesagt, dass ihm das Unterrichten Freude mache und sinngemäß auch, dass eine rein wissenschaftliche Tätigkeit nicht das Ideal sei. Oppermann betont besonders Diels’ pädagogische Begabung, geschärft durch den Schuldienst, sein verständnisvolles Eingehen auf die Schüler, seine sachliche Auseinandersetzung mit den Studenten, seine Fürsorge und Führung, seine Sachlichkeit und Bescheidenheit im Umgang mit den Lernenden105. Ein engagierter Lehrer war Diels anscheinend also allemal106. Dass diese Charakteristik des Lehrers Diels wohl zutrifft, zeigen die Themen, die seine Schüler bearbeitet haben: Er liebte es, wenn der Einzelne nach seinen persönlichen Interessen mit seinem Rate seine Aufgabe selbst wählte107. Auf alle, die sich seine Schüler nennen durften, hat er stark gewirkt, durch seine strenge Methode und nicht zum wenigsten auch durch seine Auf­ fassung der Altertumswissenschaft als eines Teiles der Geschichtswissenschaft. Man lobte allgemein seine einprägsame und gestraffte, didaktisch außerordentlich geschickte Leitung zu wissenschaftlichen Problemen großer Komplexität, die nüchtern und sachbezogen vorgetragen und abgehandelt wurden108. Hommel lobt als Schüler von Diels seine unbestechliche Objektivität und schildert ebenfalls die unbedingte und freundliche Förderung die der Einzelne von Diels erfuhr, wenn er den Eindruck hatte, dass man sich einer Sache ernsthaft annäherte und bereit war, mit aller Sorgfalt Themen und Fragestellungen zu bearbeiten – dann ließ er sich sogar korrigieren, war wohl also nicht so „unbeweglich“, wie er von Jaeger bisweilen geschildert wird109.

V. Während des Ersten Weltkriegs hat Diels, anders als Wilamowitz oder vor allem der Althistoriker Eduard Meyer (1855–1930) und andere Altertumswissenschaftler, weder anstachelnde Reden zur Tagespolitik gehalten noch entsprechende Abhandlungen geschrieben oder die Front besucht – solcherlei politische Äußerungen, in denen sich Kollegen zu leidenschaftlichen Streitern im nationalen Sinne wandelten, betrachtete er für einen Wissenschaftler als 102



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Das immense Wissen spielt auch bei Oppermann, Nachruf auf Hermann Diels (Anm. 14), S. 195 eine große Rolle. Jaeger, Die Klassische Philologie an der Universität Berlin (Anm. 19), S. 39. Samter, Zum Gedächtnis von Hermann Diels (Anm. 9), S. 19 f. Oppermann, Nachruf auf Hermann Diels (Anm. 14), S. 195. Vgl. Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. 63 f.: „Schulmeister im besten Sinne“. Vgl. Samter, Zum Gedächtnis von Hermann Diels (Anm. 9), S. 20 f. Ebenda, S. 21. Hommel, Berliner Erinnerungen 1920–1921 (Anm. 73), S. 445. Ebenda, S. 444. Hommel und Samter stimmen in der Charakterisierung ihres Lehrers weitgehend überein.

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unangemessen110. Zu extrem patriotischen oder chauvinistischen Aktivitäten hielt Diels Distanz. Er war – insbesondere wenn man das „Gegenbild Mommsen“ betrachtet, in hohem Maße apolitisch111. Seine Äußerungen während des Krieges waren bestenfalls Reaktionen auf Angriffe auf die deutsche Wissenschaft und die deutsche Kultur aus dem Ausland, die Diels dann, reagierend in seiner Funktion als Sekretar der Akademie, aber ohne Chauvinismus und geprägt von seinem Glauben an die Internationalität der Forschung beantwortete – ein Hetzredner war er auch da nicht112. Im Gegenteil: Der Krieg war ihm eine Katastrophe der internationalen Wissenschaft113, lief in seinen Auswirkungen seinem Verständnis und seinem Bestreben im Dienst der Wissenschaft völlig entgegen. Mommsen und Diels hatten eigentlich das neue Jahrhundert als die Epoche der internationalen Wissenschaft begrüßt114. Diese hatte nun, mit dem Kriegsausbruch, faktisch aufgehört zu existieren.

VI. Diels war 35 Jahre Mitglied der sogenannten Mittwochsgesellschaft (seit 1. Dezember 1886; die letzte Sitzung, an der er teilnahm, fand am 26. Mai 1922 statt), die 1863 im Umkreis Johann Gustav Droysens gegründet worden war, und hat in dieser Zeit dort 31 Vorträge über Themen seines Faches gehalten115. Die vierzehntägig tagende Mittwochsgesellschaft116 (auch „Gesellschaft für wissenschaftliche Unterhaltung“ genannt) bestand in der Regel aus sechzehn Männern. Sie und auch die „Graeca“ (seit 1871) waren keine offiziellen Institutionen – Wilamowitz lehnte sie als Zeitverschwendung ab, Diels gehörte beiden Vereinigungen an117. Den Graeca (1886 ist Diels hier sicher belegt, muss aber schon früher eingetreten sein; die letzte Sitzung, an der er teilnahm, datiert auf den 20. Mai 1922) gehörten auch Theodor Mommsen und Eduard Zeller an118, sie fanden jede zweite Woche 110



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„Lieber Prinz“ (Anm. 17), S. XIII. Vgl. auch Calder, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte (Anm. 4), S. 254 (v.a. mit Bezug auf Meyer). Zum politischen und progandistischen Engagement des Althistorikers Eduard Meyer vgl. Karl Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, 3. Au. Darmstadt 1989, S. 286–333, bes. S. 290 f., 327–332. Zu den Reaktionen deutscher Klassischer Philologen auf den Weltkrieg (Reden, Aufrufe, Schriften) vgl. Eckart Mensching, Hermann Diels: Ein Text aus dem Weltkrieg (1917), in: Nugae zur Philologie-Geschichte 7 (1994), S. 31–50, hier S. 42–46, 48. Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“ (Anm. 43), S. 101–112, bes. S. 102. Mensching, Hermann Diels: Ein Text aus dem Weltkrieg (Anm. 110), S. 31–50, zu einer Rede vom 5. Dezember 1917, gehalten von Diels im Rahmen der Berliner Mittwochs-Gesellschaft, als Erwiderung gegen die verbalen Angriffe des französischen Philosophen É. Boutroux auf die deutsche Wissenschaft; vgl. Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“ (Anm. 43), S. 110 f. Hermann Diels, Eine Katastrophe der internationalen Wissenschaft, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik IX (1915), S. 127–134. Burkert (Hrsg.), Hermann Diels. Kleine Schriften (Anm. 4), S. X–XI. Zu den Themen vgl. die Liste bei Mensching, Über Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 18), S. 23. Ebenda, S. 9–30. Eckart Mensching, Über Hermann Diels und die Berliner Graeca (Anm. 99), S. 12, 21. Auch hier ist wahrscheinlich, dass Zeller Diels „förderte“ (ebenda, S. 16 Anm. 23).

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am Freitag statt. Zunächst betrieb man gemeinsame griechische Lektüre im Arbeitszimmer des Gastgebers und Hausherrn, dann gab es ein Abendessen, Symposion genannt, in Wohn- und Esszimmer119. Die wenigen Mitglieder, die nur am Essen teilnahmen, nannte man „Fressgevatter“120. Anders als bei anderen Graeca war diese eine gesellschaftliche Veranstaltung ohne Satzung und festen Rahmen, bei der man auf wissenschaftlichen Anspruch verzichtete. Die Vertreter anderer Berufe (z.B. Juristen, Ägyptologen, Archäologen, Pfarrer, hohe Verwaltungsbeamte) waren dort auch deutlich in der Überzahl121, und das war auch bei der genannten Mittwochs-Gesellschaft der Fall122, bei der explizit darauf Wert gelegt wurde, dass die Gesellschaft unterschiedliche Interessen zusammenbrachte und dass deshalb die vorgetragenen Themen in einer Weise behandelt wurden, dass auch fachferne Mitglieder der Gesellschaft ohne Mühe folgen konnten. Es liegt aber nahe, dass auch diese Vereinigungen Teil einer verdeckten Personalpolitik gewesen sind: Die Gelehrtenpolitik der Zeit setzte ja in hohem Maße personale Bindungen und auch eben informelle Beziehungen mit der administrativen und politischen Elite des Reiches voraus123. Die Zugehörigkeit zu solchen akademischen oder literarischen Kreisen förderte in jedem Fall die soziale Integration neu berufener Professoren. Es ist eine interessante Erweiterung des Bildes von Diels möglich, wenn man seine Bemühungen um die Volksbildung und Texte für ein weiteres Publikum an dieser Stelle hinzufügt, um zu zeigen, dass er Bildung keinesfalls als Vorrecht der Elite der Gesellschaft betrachtete. Denn Diels selbst trat „aus seiner Studierstube auch gern in die Welt hinaus“124, was bedeutet, dass er durchaus auch Veröffentlichungen für ein größeres Publikum anfertigte, etwa in Form von Zeitungsbeiträgen. Fragen der allgemeinen Volksbildung widmete er ein besonderes Interesse125. Auch hier gilt allerdings, dass es sich ausnahmslos um Fachfragen handelte, die in diesem Rahmen behandelt wurden, und nicht um irgendwelche politischen Äußerungen126. Diels bemühte sich um die Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Deshalb nahm er auch an volkstümlichen, für die Arbeiter bestimmten

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Ähnlich lief auch die Mittwochs-Gesellschaft ab: Mensching, Über Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 18), S. 22. Mensching, Über Hermann Diels und die Berliner Graeca (Anm. 99), S. 33. Ebenda, S. 13; Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“ (Anm. 43), S. 97. Mensching, Über Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 18), S. 19; Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“ (Anm. 43), S. 110. Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“ (Anm. 43), S. 99 f. Kern, Hermann Diels und Carl Robert (Anm. 1), S. 105. Samter, Zum Gedächtnis von Hermann Diels (Anm. 9), S. 25 f. Vgl. Hermann Diels, Die Organisation der Wissenschaft, in: Wilhelm Lexis/Friedrich Paulsen u.a. (Hrsg.), Die Allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart, 2. Au. Berlin/Leipzig 1912, S. 632–691, vor allem S. 636–647 mit vielen weiteren Vorschlägen zur Elementar- und Volksbildung – Fortbildungswesen in Stadt und Land, Volkshochschule, Vorträge, Kunsterziehung, Volksbibliotheken und Volksbücher –, S. 644–646 zu Presse und Periodischer Presse sowie ihrer Wirkung. Mensching, Hermann Diels: Ein Text aus dem Weltkrieg (Anm. 110), S. 39.

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Vortragskursen der Berliner Hochschullehrer teil127. Dass breiteste Schichten des Volkes mit der Wissenschaft in Berührung kommen sollten und die „Anlage zum Gelehrten“ nicht schichtenspezifisch war, scheint eine Grundauffassung Diels’ gewesen zu sein128.

VII. Die Zeit von Mitte 1919 – am 15. Juni 1919 war seine Frau verstorben – bis zum Frühjahr 1921 bedeutete insgesamt große Zäsuren für Diels: Mitte 1920 war er vom AkademieSekretarsposten zurückgetreten129, im Dezember 1920 wurde sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum festlich be­gangen, mit dem 31. März 1921 wurde er aufgrund des neuen Gesetzes über die Einführung einer Altersgrenze emeritiert. Sein Nachfolger wurde übrigens erst 1927 nach langer Vakanz bestimmt: Ludwig Deubner (1877–1946). Zwar verlängerte Diels seine Lehrtätigkeit noch um ein weiteres Semester, aber sein Leben musste neu gestaltet werden: Der Wohnungswechsel in ein Haus im Villenvorort Dahlem, bei einem Park und in der Nähe des Botanischen Gartens, in dessen Direktorenhaus sein ältester Sohn mit Familie lebte, ist ein äußeres Zeichen dafür. Als sich um 1920 die internationale Isolation der deutschen Gelehrten von Skandinavien her aufzulockern begann, gehörte Diels zu denen, die man umgehend einlud. Im Frühjahr 1922, im April und Mai, besuchte er zu Vorträgen Schweden und Dänemark130, weilte in Uppsala, Göteborg, Lund und Kopenhagen. Es war offenbar ein letzter großer menschlicher und wissenschaftlicher Erfolg, den er hier erleben durfte. In diesem Frühjahr 1922 soll Diels rückblickend gesagt haben, dass er sich glücklich schätze, dass es ihm vergönnt war, den besten Teil seiner Kraft den Vorsokratikern gewidmet haben zu können – so hat man hier gewissermaßen einen abschließenden Satz zum eigenen Lebenswerk aus seinem Munde131. Bald nach seiner Rückkehr aus Skandinavien, am 4. Juni 1922, am ersten Pfingsttag, starb er an einem Herzschlag in Berlin Dahlem, wo er nach seiner Einäscherung und schlichter Feier am 9. Juni 1922 auch begraben liegt (Friedhof Dahlem-Dorf, Ehrengrab Feld 006 Nr. 60). „Was bleibt und dauern wird, ist die schlechthin unerhörte Leistung. Eine Leistung, auf die künftige Forschung gründen kann … Diels selbst wollte nicht ein großer Gelehrter genannt werden. Das war die Ungerech­tigkeit seiner übergroßen Bescheidenheit. Er war ein großer Gelehrter und ein großer Forscher, dessen sachliche Leistung an stiller Fruchtbarkeit und zeitlosem Beharren manches genialeren Forschers Werk überdauern wird. Die

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Rebenich, „Mommsen ist er niemals näher getreten“ (Anm. 43), S. 92. Diels, Die Organisation der Wissenschaft (Anm. 125), S. 637. Wolfgang Rösler, Hermann Diels und Albert Einstein: Die Lukrez-Ausgabe von 1923/24, in: Calder (Hrsg.), Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 22), S. 261–288, hier S. 261 f. Mensching, Hermann Diels: Ein Text aus dem Weltkrieg (Anm. 110), S. 50. Mensching, Über Hermann Diels (1848–1922) (Anm. 18), S. 9.

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Sachlichkeit in der Leistung schützt ihn davor, jemals Angehöriger einer vergangenen Generation zu heißen; sie macht ihn zum Zeitgenossen einer jeden Zukunft“132.

VIII. Schon den jungen Bonner Studenten Diels hatte sein Lehrer Usener auf die Lektüre des Lukrez hingewiesen. Über Lukrez hatte die Seminarbewerbungs­arbeit des Zwanzigjährigen gehandelt. Das Lukrezkolleg war immer eine von Diels Lieblingsvorlesungen gewesen133. Sorgfältig bereitete er noch kurz vor seinem Tode eine Lukrez-Ausgabe und eine Übersetzung dazu vor. Er selbst hat sie nicht mehr sehen dürfen. Das Geleitwort zur postum erschienenen Ausgabe steuerte im Juni 1924 Albert Einstein bei, der Physik-Nobelpreisträger von 1921. Diels muss Einstein in Akademie und Universität häufig getroffen und gesprochen haben – Einstein finden wir wiederholt in den Protokollen von Vorträgen zu klassisch-philologischer Thematik –, aber wir wissen über die Kontakte der beiden Männer nichts Näheres134. Was beide einte, war die Sorge um den Fortbestand einer internationalen wissenschaftlichen Kooperation nach dem Ersten Weltkrieg135. Wenn man rückschauend das Lebenswerk von Hermann Diels noch einmal überblickt, so zeigt sich, dass es auf einer doppelten Begabung ruht: einer philologisch-historischen einerseits und einer eminenten technischen andererseits. Damit ist nicht in erster Linie die Tatsache gemeint, dass der Erforscher der Vorsokratiker als Knabe chemisch-technologisch experimentierte, zeichnete und das Buchbinderhandwerk erlernte, noch als Mann zeichnete, schreinerte, bastelte, Modelle baute – der Sekretar der Akademie und Geheimrat ward dabei gesehen, wie er etwa griechische Türschlösser bastelte oder Platons Nachtuhr136. Gemeint ist die einzigartige Verschmelzung dieser Grund­fähigkeiten, die er genauso nutzte, um sich mit methodischer Vorsicht historischen Zusammenhängen zu nähern, literarische Denkmäler und Überreste des Altertums interpretierend zu verstehen und zugleich mit einer praktisch-organisatorischen Technik riesige Stoffe zu ordnen und zu präsentieren. Als dritten Punkt darf man seine Fähigkeit zur Orga­nisation akademischer Riesenwerke nennen, die unter seiner koordinierenden Leitung nicht nur wuchsen, sondern auch fertig wurden, wie eben die Aristoteleskommentare und große Teile des Corpus Medicorum. Organisation war ihm kein äußeres Zusammenfügen allein zum praktischen Zweck; sie war ihm inneres Ordnungsbedürfnis, etwas, das allein dem Denken Beruhigung und dem Leben Sinn zu verleihen schien137. Organi­sation war ihm zugleich das Mittel, die Schranken nationaler 132

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Regenbogen, Hermann Diels (Anm. 4), S. 553. Ebenda, S. 549. Mensching, Über Hermann Diels und die Berliner Graeca (Anm. 99), S. 9. Am ausführlichsten zu dieser Frage: Rösler, Hermann Diels und Albert Einstein (Anm. 129), S. 261–288. Rösler, Hermann Diels und Albert Einstein (Anm. 129), S. 283. Burkert (Hrsg.), Hermann Diels. Kleine Schriften (Anm. 4), S. XI. Regenbogen, Hermann Diels (Anm. 4), S. 551.

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Gebundenheit zu überwinden, ein Mittel, letztlich dem Frieden der Völker zu dienen. Sein Motto hieß Laboremus – er hat sich ihm ohne jeden Zweifel voll und ganz ergeben.

Werke (in Auswahl) De Galeni historia philosopha, Diss. Bonn 1870. – Doxographi Graeci. Collegit recensuit prologomenis indicisbusque instruxit. Opus Academiae litterarum Regiae Borussicae praemio ornatum, Berlin 1879. – Simplicii in Aristotelis Physicorum Libros quattuor priores Commentaria (Comm. in Arist. Graeca, IX), Berlin 1882. – Simplicii in Aristotelis Physicorum Libros quattuor posteriores Commentaria (Comm. in Arist. Graeca, X), Berlin 1895. – Poetarum philosophorum fragmenta (Poetarum Graecorum fragmenta, III 1), Berlin 1901. – Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, Berlin 1903138. – Die Handschriften der antiken Ärzte. I. Hippokrates und Galenos (Philosoph. und Hist. Abhandl. Akad. Berlin, 3), Berlin 1905. – Die Handschriften der antiken Ärzte. II. Die übrigen griechischen Ärzte außer Hippokrates und Galenos (Philosoph. und Hist. Abhandl. Akad. Berlin, 1), Berlin 1906. – Die Organisation der Wissenschaft, in: Wilhelm Lexis/Friedrich Paulsen u.a. (Hrsg.), Die Allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart, 2. Au. Berlin/Leipzig 1912, S. 632– 691. – Eine Katastrophe der internationalen Wissenschaft, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik IX (1915), S. 127–134. – Hermann Diels/Erwin Schramm, Herons Belopoiika (Schrift vom Geschützbau). Griechisch und deutsch (Philosoph. und Hist. Abhandl. Akad. Berlin, 2), Berlin 1918. – Hermann Diels/Erwin Schramm, Philons Belopoiika (Viertes Buch der Mechanik). Griechisch und deutsch (Philosoph. und Hist. Abhandl. Akad. Berlin, 16), Berlin 1918. – Antike Technik. Sieben Vorträge, 3. Au. Berlin 1924. – Lucretius, De Rerum Natura. Lateinisch und Deutsch. I: T. Lucreti Cari De Rerum Natura Libri sex. Recensuit, emendavit, supplevit Hermann Diels, Berlin 1923. – Lucretius, De Rerum Natura. Lateinisch und Deutsch. II: Lukrez, Von der Natur der Dinge. Übersetzt von Hermann Diels, Berlin 1924. – Ausführliche Bibliographie: Walter Burkert (Hrsg.), Hermann Diels. Kleine Schriften zur Geschichte der antiken Philosophie, Darmstadt 1969, S. XIV–XXVI. – Klaus-Gunther Wesseling, Diels, Hermann Alexander, in: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 16, Hamm 1999, Sp. 377–393.

Gedruckte Quellen (in Auswahl) Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Briefwechsel, hrsg. von Dietrich Ehlers, Bd. 1–2, Berlin 1992. – „Lieber Prinz“. Der Briefwechsel zwischen Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1869–1921), hrsg. und komm. von Maximilian Braun/William M. Calder III/Dietrich Ehlers, Hildesheim 1995. – Philology and Philosophy. The Letters 138



2. Au. 1906; 3. Au. 1912; Nachtrag 1922 und 4. Au. 1922; 5. Au. (hrsg. von Walther Kranz); 18. Au. 1989.

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of Hermann Diels to Theodor and Heinrich Gomperz (1871–1922), hrsg. von Maximilian Braun/William M. Calder III/Dietrich Ehlers, Hildesheim 1995. – Otto Kern, Hermann Diels und Carl Robert. Ein biographischer Versuch (Jahresberichte über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft, Suppl. 215), Leipzig 1927. – Werner Jaeger, Hermann Diels. Zum goldenen Doktorjubiläum (1920), abgedruckt in: derselbe, Humanistische Reden und Vorträge, 2., erw. Au. Berlin 1960, S. 31–40. – Hans Oppermann, Nachruf auf Hermann Diels, in: Preußische Jahrbücher 189 (1922), S. 188–198. – Ernst Samter, Zum Gedächtnis von Hermann Diels. Rede gehalten bei der Gedächtnisfeier der Religionswissenschaftlichen Vereinigung in Berlin am 24. Oktober 1922, Berlin 1923. – Otto Regenbogen, Hermann Diels, abgedruckt in: Franz Dirlmeier (Hrsg.), Otto Regenbogen. Kleine Schriften, München 1961, S. 543–554. – Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Gedächtnisrede auf Hermann Diels, abgedruckt in: derselbe, Kleine Schriften, Bd. 6, Berlin 1972, S. 71–74. – Hildebrecht Hommel, Berliner Erinnerungen 1920–1921. Hermann Diels zum Gedächtnis, abgedruckt in: derselbe, Symbola. Kleine Schriften zur Literatur- und Kulturgeschichte der Antike, Bd. II, Hildesheim 1988, S. 442–451. – Reimar Müller, Zum 150. Geburtstag von Hermann Diels, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 29/2 (1999), S. 107–111.

Literatur (in Auswahl) Peter R. Franke, Hermann Alexander Diels, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3, Berlin 1957, S. 646–647. – Werner Jaeger, Die Klassische Philologie an der Universität Berlin von 1870–1945, in: Hans Leussink/Eduard Neumann/Georg Kotowski (Hrsg.), Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin (Gedenkschrift der westdeutschen Rektorenkonferenz und der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin), Berlin 1960, S. 459–485. – Rudolf Müller, Hermann Diels in seiner Bedeutung für die Geschichte der antiken Philosophie, in: Philologus 117 (1973), S. 271–277. – Jutta Kollesch, Hermann Diels in seiner Bedeutung für die Geschichte der antiken Medizin, in: Philologus 117 (1973), S. 278–283. – Helmut Wilsdorf, Hermann Diels in seiner Bedeutung für die Geschichte der antiken Technik, in: Philologus 117 (1973), S. 284–293. – Johannes Irmscher, Hermann Diels als wissenschaftlicher Organisator, in: Philologus 117 (1973), S. 293–300. – Karl Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, 3. Au. Darmstadt 1989. – Eckart E. Schütrumpf, Hermann Diels. 18 May 1848–4 June 1922, in: Ward W. Briggs/William M. Calder III. (Hrsg.), Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, New York/London 1990, S. 52–60. – Robert L. Fowler, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. 22 December 1848–25 September 1931, in: Briggs/Calder (Hrsg.), Classical Scholarship, S. 489–522. – Eckart Mensching, Über Hermann Diels (1848–1922) und die Mittwochs-Gesellschaft, in: Nugae zur PhilologieGeschichte 7 (1994), S. 9–30. – Eckart Mensching, Hermann Diels: Ein Text aus dem Weltkrieg (1917), in: Nugae zur Philologie-Geschichte 7 (1994), S. 31–50. – Eckart Mensching,

111 Hermann Diels Über Hermann Diels und die Berliner Graeca, in: Nugae zur Philologie-Geschichte 8 (1995), S. 9–57. – William M. Calder III, Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte, in: Das Altertum 42 (1997), S. 245–256. – William M. Calder III (Hrsg.), Hermann Diels (1848– 1922) et la Science de l’Antiquité (Fondation Hardt. Entretiens sur l’antiquité classique, 45), Genève 1998. – Walter Burkert, Diels’ Vorsokratiker. Rückschau und Ausblick, in: Calder (Hrsg.), Hermann Diels (1848–1922), S. 169–197. – Klaus-Gunther Wesseling, Diels, Hermann Alexander, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 16, Hamm 1999, Sp. 377–393. – Holger Dainat, Klassische und Germanische Philologien, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 461–494.

Alois Brandl Von Heinz-Joachim Müllenbrock Alois Brandl war nicht nur ein prominenter Berliner Geisteswissenschaftler, sondern auch einer der Großen der deutschen Anglistik. Über Jahrzehnte galt der Berliner Ordinarius für Englische Philologie weithin als der führende Vertreter seines Faches. Zu dessen sich konsolidierender Stellung hat er vor allem während des Kaiserreiches, aber auch noch in der Weimarer Republik Entscheidendes beigetragen. Seine Würdigung aus historischem Abstand kann also auf der sicheren Grundlage unbestreitbarer Verdienste erfolgen, ist aber aufgrund der Gesamtpersönlichkeit des in seinem Wirken weit ins Öffentliche ausgreifenden Mannes heutzutage keine ganz unverfängliche Aufgabe.

I. Als Alois Brandl 1895 an die Friedrich-Wilhelms-Universität berufen wurde, war er bereits eine fest umrissene wissenschaftliche Größe mit einer über das rein Akademische deutlich hinausgehenden Interessenausrichtung. Brandl, der am 21. Juni 1855 in Innsbruck geboren wurde, stammte aus einer kleinbürgerlichen Tiroler Beamtenfamilie mit teils bäuerlichen Vorfahren. Seine mit Stolz empfundene Tiroler Herkunft ist zeit seines Lebens wesensbestimmend für ihn geblieben. Von entscheidendem Einuss für seinen späteren Werdegang wurde sein Eintritt in die Familie des Tiroler Dichters und Mineralogen Adolf Pichler, der seine kulturelle Neugier beügelte, seine literarischen Interessen förderte und nicht zuletzt sein früh spürbares patriotisches Bewusstsein bestärkte. In seiner unverändert lesenswerten, gerade aus der geschichtlichen Distanz faszinierenden Autobiographie „Zwischen Inn und Themse“ (1936), die einen glänzenden Eindruck von seiner tatkräftigen Persönlichkeit vermittelt, hat Brandl dieses ,Initiationserlebnis‘ ausführlich beschrieben1. Seit seiner Tiroler Jugend gehörte eine nationale, aber keineswegs chauvinistische Gesinnung zur existentiellen Grundausstattung des überzeugten Deutschösterreichers2.

Siehe Alois Brandl, Zwischen Inn und Themse. Lebensbeobachtungen eines Anglisten. Alt-Tirol/England/Berlin, Berlin 1936, S. 60–76. 2 ������������������������������������������������������������������������������������������������������� Hausmanns plakative Bezeichnung „Alldeutscher“ für Brandl ist irreführend, weil dieser trotz seiner Unterstützung der deutschen Flottenpolitik kein Mitglied des Alldeutschen Verbandes war und nie einem extremen Nationalismus zuneigte: Frank-Rutger Hausmann, Anglistik und Amerikanistik im ,Dritten Reich‘, Frankfurt a. M. 2003, S. 169. 1



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Alois Brandl *21. Juni 1855 in Innsbruck (Österreich), † 5. Februar 1940 in Berlin

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Der Weg zu der damals noch in den Kinderschuhen steckenden Anglistik führte zeitbedingt über mehrere Zwischenstationen. Brandl studierte zunächst in Innsbruck Klassische und von 1876 bis 1878 in Wien Germanische Philologie. Diesem Fach galt auch sein Berliner Studienaufenthalt von Ostern 1878 bis Ostern 1879, der ihm die nachhaltig prägende Begegnung mit Wilhelm Scherer und dessen bloße „Bücherkunde“3 weit hinter sich lassender politisch-nationaler Literaturauffassung brachte. Die Persönlichkeit Scherers, der sich, wie Erich Schmidt und Gustav Roethe, auch als ,Wissenschaftsorganisator‘ verstand, hat über rein fachliche, insgesamt dem vorherrschenden Paradigma des Positivismus zuzuschlagende Anregungen hinaus wegweisend auf Brandl gewirkt, der sich später auf seinem Berliner Lehrstuhl wohl auch als anglistisches Pendant zu den Germanisten der Gründerzeit verstand. Nach der germanistischen Promotion und der formal bereits unter J. Schipper erfolgten anglistischen Habilitation hatte Brandl ab 1881 eine Privatdozentur an der Wiener Universität inne. Inzwischen hatte ein nach seinem Berliner Jahr 1879 gewährtes österreichisches Stipendium den ein schauderhaftes Englisch sprechenden jungen Brandl in die Lage versetzt, phonetisch aufzuschließen und sich überhaupt in englischen Dingen umfassend umzusehen4. In England lernte er aber nicht nur die Begründer der dortigen Anglistik wie Frederick Furnivall, Henry Sweet und John Murray kennen, sondern atmete zum ersten Mal die öffentliche Luft des Inselreiches, für dessen besondere gesellschaftliche Verfassung der im Anknüpfen persönlicher Kontakte begabte Brandl ein sicheres Gespür besaß. Die erste nähere Berührung mit der Realität des modernen England, an dessen Gegebenheiten die nahezu rein auf antiquarische Sprachforschung ausgerichtete deutschsprachige Anglistik zu seiner Enttäuschung ein völliges Desinteresse zeigte, gab auch dauerhafte Anstöße für seine Arbeit als Literarhistoriker5. Die Wahl seines Studienfaches war ja durch praktische Erwägungen über die Gegenwartsrelevanz der Weltsprache Englisch mit bestimmt worden. Bei aller Hinwendung zur Literatur und Kultur der Moderne hat Brandl, der die Gesamtbelange des Faches nie aus den Augen verlor, aber die historische Grammatik weiterhin als Basis einer soliden neuphilologischen Ausbildung betrachtet. Trotz seiner Ernüchterung über das Fernhalten jeglicher Gegenwartskomponente hat er deshalb seinen Vorgänger Julius Zupitza, den ersten anglistischen Ordinarius in Berlin, der „das Englische wie eine Sprache und Literatur des Mittelalters“6 lehrte und der selbst Shakespeare ein rein sprachliches Interesse entgegenbrachte7, fair als jemanden gewürdigt, der am rechten Platz gewesen sei, um eine philologische Disziplin erst zu etablieren. Diese objektivierende Sichtweise ist Brandl, auch 3



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Brandl, Zwischen Inn und Themse (Anm. 1), S. 115. Siehe das seine damalige Aufbruchstimmung festhaltende Kapitel „England-Rekognoszierung“, in: Zwischen Inn und Themse (Anm. 1), S. 129–161. Bei seinem Loblied auf das als „innere Hochschule“ bezeichnete Britische Museum erwähnt er ausdrücklich dessen vollständige Bestände „auch an Gegenwartsliteratur“ (ebenda, S. 161). Ebenda, S. 122. Vgl. ebenda, S. 123.

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wenn er gelegentlich Vorbehalte gegen reine Forschernaturen durchblicken ließ, eigen geblieben. Nach seinem ersten England-Aufenthalt konnte sich Brandl, der nie einen anglistischen Lehrer im eigentlichen Sinne hatte, nun gewissermaßen als selbstgemachter Anglist seiner rasch feste Konturen annehmenden, entschieden der Literarhistorie zugewandten Forschungstätigkeit widmen.

II. Letztere ging mit einer in geradezu atemberaubendem Tempo verlaufenden akademischen Karriere einher, der etwas Unwiderstehliches anhaftete. Nachdem er in seiner Dissertation „Barthold Heinrich Brockes“ (1878) schon Wechselbeziehungen zwischen deutscher und englischer Literatur untersucht hatte, legte er 1886 mit „Samuel Taylor Coleridge und die englische Romantik“ seine erste anglistische Buchveröffentlichung vor, in der er – damals noch ungewöhnlich – ein kultur- und sozialgeschichtlich eingebettetes, ganzheitliches Porträt einer neueren englischen Dichterpersönlichkeit entwarf8. Inzwischen war Brandl 1884 als außerordentlicher Professor an die Deutsche Universität Prag berufen worden. In der Stadt an der Moldau, wo er die Spannungen zwischen tschechischer und deutscher Bevölkerung feinfühlig beobachtete, erreichte ihn 1888 der Ruf nach Göttingen, der auf Betreiben Friedrich Althoffs zustande gekommen war, des für die Hochschulabteilung zuständigen, maßgeblichen Beamten im preußischen Kultusministerium. Die nun einsetzende Förderung durch Althoff, der einer ,modernen‘, gegenwartsrelevanten und kulturpolitisch orientierten Gegenstandsauffassung der Anglistik gegenüber einer ,antikisierenden‘ zum Durchbruch verhelfen wollte, bedeutete die entscheidende Weichenstellung für das weitere Wirken Brandls; dieser wähnte sich als dreiunddreißigjähriger Ordinarius in Göttingen, wo Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ihn trotz seiner herablassenden Haltung gegenüber neusprachlichen Studien besonders beeindruckte, in der „ehrgeizigste[n] Universität der Welt“9. Doch bereits 1892 ging das Göttinger Intermezzo durch die Berufung an die sich besonderen ministeriellen Wohlwollens erfreuende und entsprechend großzügig ausgestattete Reichsuniversität Straßburg zu Ende, an welcher 1872 der erste selbständige Lehrstuhl für Englische Philologie eingerichtet worden war. Während der Straßburger Zeit erschienen zwei Arbeiten, mit denen sich Brandl weiterhin als Pionier der deutschen Anglistik profilierte, deren Forschungsinteresse sich damals schwerpunktmäßig auf die Vermehrung, Bereitstellung – auch Brandl gab eine Reihe vorshakespearischer Dramen heraus10 – und 8



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In dem Göttinger Berufungsvorschlag der Philosophischen Fakultät vom 29.10.1887 wurde diese offenbar schnell rezipierte Monographie bereits mit besonderem Lob bedacht; siehe die Personalakte „Alois Brandl“ im Göttinger Universitätsarchiv. Brandl, Zwischen Inn und Themse (Anm. 1), S. 224. Siehe Quellen des weltlichen Dramas in England vor Shakespeare (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, 80), Strassburg 1898.

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elementare Erläuterung insbesondere von Texten der älteren Epochen auf solider historischer Grundlage richtete. 1893 kam im Rahmen des von Hermann Paul herausgegebenen „Grundriß der germanischen Philologie“ seine noch in Göttingen fertiggestellte Darstellung „Mittelenglische Literatur (1100–1500)“ heraus, die ein umfangreiches, bis dahin im Gesamtzusammenhang nur wenig erschlossenes Stoffgebiet übersichtlich gliederte11. 1894 veröffentlichte er sein „Shakespeare“-Buch, die bis dahin informativste Monographie über den englischen Nationaldichter, die sein verbreitetstes Werk wurde und es durch regelmäßige Ergänzungen schließlich in vierter Auage bis zum doppelten Umfang des ursprünglichen Bandes brachte. Brandls charakteristische Handschrift zeigt sich darin in der von der späteren Shakespeare-Philologie weniger geschätzten engen Bindung des Werkverständnisses an die Biographie des Dramatikers. Während der Straßburger Zeit erschien ebenfalls Brandls für die Chicagoer Universitätsausstellung von 1893 verfasste, weit in die Vorgeschichte der Anglistik zurückblendende tour d‘horizon über den Stand des Faches12, die mit der selbstbewussten Darlegung des erzielten Fortschritts auch dezent vaterländischen Stolz anklingen lässt. Bei seiner Berufung nach Berlin 1895 war Brandl nicht nur ein bestens ausgewiesener Anglist, sondern konnte als führender literarhistorischer Fachvertreter gelten.

III. Berlin wurde fast ein halbes Jahrhundert lang das nach vielen Seiten ausstrahlende Kraftzentrum seines rastlosen Wirkens; von hier aus konnte sich seine zur öffentlichen Wahrnehmung drängende beruiche Tätigkeit am besten entfalten. Dem Fach sein volles Profil und seine institutionelle Verankerung zu sichern, blieb sein vornehmstes, auf vielfältige Weise verwirklichtes Anliegen. So gab er, um nicht zuletzt seinen Studenten den Zugang zur Literarhistorie zu erleichtern, Hermann Hettners und Bernhard ten Brinks englische Literaturgeschichten in überarbeiteter Form neu heraus (1894 u.ö. bzw. 1893 u. 1898). Der stetig zu vertiefenden Beschäftigung mit Shakespeare sollte die Neuherausgabe (1897) der in der zweiten Auage (1922 bis 1923) dann mit Erläuterungen versehenen SchlegelTieckschen Übersetzungen dienen. Seine philologische Grundlagenarbeit zur Erschließung der mittelalterlichen Literatur Englands13, welcher er sich wohl weniger aus Neigung als aus Pichtgefühl für das Fach als Ganzes widmete, setzte er fort mit der Vervollständigung seiner früheren Darstellung (1893) durch die viel Anerkennung erfahrende Behandlung der altenglischen Literatur in der zweiten Auage des „Grundriß der germanischen Philologie“

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Mittelenglische Literatur (1100–1500), in: Grundriß der germanischen Philologie, Bd. II, 1. Abt., Strassburg 1893, S. 609–718. Siehe Alois Brandl, Englische Philologie, in: W. Lexis (Hrsg.), Die deutschen Universitäten. Für die Universitätsausstellung in Chicago 1893, Bd. 1, Berlin 1893, S. 482–496. Brandls Präsenz in der mediävistischen Forschung dokumentiert eindrucksvoll der Eintrag in Stanley B. Greenfield/Fred C. Robinson (Hrsg.), A Bibliography of Publications on Old English Literature to the end of 1972, Toronto/Buffalo 1980, S. 391.

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(1908)14. Seine besondere Beachtung des mittelenglischen Schrifttums kam in der zusammen mit O. Zippel herausgegebenen Anthologie „Mittelenglische Sprach- und Literaturproben“ (1917) zum Ausdruck. Die angeführten repräsentativen Beispiele zeigen, dass Brandl auch auf seinem Berliner Lehrstuhl, dem angesehensten des Reiches, als Pionier wirkte, der sich nicht zu schade war, Kärrnerarbeit zu leisten, um die wissenschaftliche Grundausstattung seines Faches zu gewährleisten. Ein großer Wurf im Sinne einer herausragenden Monographie zur neueren englischen Literatur, zu der er sich besonders hingezogen fühlte, ist in seiner Berliner Zeit nicht mehr zu verzeichnen, zumal seine Forschungsaktivität sich in zahlreichen Aufsätzen und kleineren Arbeiten niederschlug15. Das für Jahrzehnte maßgebliche Englandbuch, das der einer kulturkundlichen Anglistik durch Nachwuchsförderung zum Durchbruch verhelfende Brandl aufgrund seines ausgeprägten Interesses an den idiosynkratischen Aspekten englischer Kultur wohl hätte schreiben können, hat erst sein in fachlichen Dingen radikaler denkender und keinem traditionellen Verständnis der Disziplin mehr verpichteter Schüler Wilhelm Dibelius verfasst16.

IV. Das konnte in Anbetracht Brandls weitgespannter Verbandstätigkeit und seines erst in Berlin feste Konturen annehmenden politisch-gesellschaftlichen Engagements vielleicht auch nicht anders sein. Die reine Forschung hat zweifellos dem auf rasche Umsetzung seiner Ideen drängenden öffentlichen Wirken einen gewissen Tribut gezollt. Brandl, der trotz seiner Leidenschaft für die Forschung das Gegenteil eines Stubengelehrten verkörperte, ist ein ausgesprochenes Organisationstalent in die Wiege gelegt worden, welches er ausgiebig genutzt hat. Nicht zuletzt dank der reichen Entfaltung seiner organisatorischen Begabung wurde der lebenstüchtige Brandl zur dominierenden Persönlichkeit der deutschen Anglistik der zweiten Generation. Dabei schlug er im Kleinen wie im Großen Pöcke ein. So leitete er sogleich die Gründung eines selbständigen anglistischen Seminars durch Trennung von der Romanistik in die Wege und nahm dessen Ausbau aus bescheidensten Anfängen17 mit

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Englische Literatur, in: Grundriß der germanischen Philologie, Bd. II, 1. Abt., 2. verb. u. verm. Au. Strassburg 1908, S. 941–1134. Eine Sonderausgabe dieser Darstellung erschien im selben Jahr ebenfalls bei Karl J. Trübner in Strassburg unter dem Titel Geschichte der altenglischen Literatur. Siehe das von Rudolf Juchhoff erstellte Schriftenverzeichnis, in: Anglica: Untersuchungen zur englischen Philologie. Alois Brandl zum siebzigsten Geburtstage überreicht (Palaestra 147–148), 2 Bde., hier I, Leipzig 1925, S. 175–184. Für den späteren Zeitraum siehe die Zusammenstellung von Günther Scherer in Jahrbuch der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1940, Berlin 1941, S. 156–158. Wilhelm Dibelius, England, 2 Bde., Leipzig/Berlin 1923, 6. Au. 1931. Einen treffenden Eindruck seiner rastlosen, kleine Details ebenso wie große Linien im Auge behaltenden Aufbauarbeit vermitteln die von Scheler abgedruckten Auszüge aus Brandls ausführlichem Rechenschaftsbericht in Max Lenz’ Geschichte der Berliner Universität: siehe Manfred Scheler (Hrsg.), Berliner Anglistik in Vergangenheit und Gegenwart 1810–1985 (Wissenschaft und Stadt. Publikationen der Freien Universität Berlin aus Anlaß der 750-Jahr-Feier Berlins, 1), Berlin 1987, S. 21–26.

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wohlwollender Unterstützung Althoffs in Angriff, widmete sich der zweckmäßigsten Ausgestaltung der Lektorentätigkeit18 und führte für den Sprachunterricht eine „systematische Kursfolge“19 ein. Zur Modernisierung des Studiums trug er auch dadurch bei, dass er als einer der ersten über amerikanische Literatur las. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg vermittelte Brandl, dem eine angemessene Ausbildung der Studenten immer am Herzen lag, den besten seiner Hörer den nicht einmal heute gesicherten, für den Erwerb gediegener Landeskenntnis unentbehrlichen längeren England-Aufenthalt. Der Pege unmittelbaren Kontakts mit englischer Kultur dienten auch die legendären Vortragsabende, die jeden Freitag Studenten und Gymnasiallehrern des Englischen Gelegenheit boten, prominenten Vortragenden – unter ihnen Autoren wie John Galsworthy und Hugh Walpole – in deren Muttersprache zuzuhören. Auch auf größerer Bühne prägte Brandl, dessen Organisationsgeschick hier besonders weitreichende Betätigung fand, seinem Fach den Stempel auf. Mit mehreren wichtigen philologischen Institutionen, an deren Spitze er lange stand, ist sein Name untrennbar verbunden. Dazu gehört die Herrigsche Berliner Gesellschaft für Neuere Sprachen, deren Vorsitz er 1896 übernahm und für deren Publikationsorgan „Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen“ er, zahlreiche persönliche Beiträge beisteuernd, die anglistische Schriftleitung vierundvierzig Jahre lang – bis zu seinem Tode – besorgt hat. Von der langfristigen Hingabe an Aufgaben, die er für fachnotwendig hielt, zeugt ebenfalls sein Wirken in der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Die schon früh durch die Aufführungen des Burgtheaters geweckte Liebe zu Shakespeare lenkte der mit praktischem Verständnis für die Belange der Bühne begabte Brandl hier in institutionelle Bahnen. Seit 1895 Vizepräsident, wurde er 1903 Präsident der Shakespeare-Gesellschaft, der er internationales Ansehen verschaffte und die er bis 1921 leitete. 1898 war er Herausgeber ihrer Zeitschrift, des „Shakespeare-Jahrbuchs“, geworden, das unter seiner Leitung erneut ein hohes wissenschaftliches Niveau erreichte und Ansehen als allgemein anerkanntes Spezialorgan auf dem Gebiet der Shakespeare-Forschung gewann. Die Redaktion des „Shakespeare-Jahrbuchs“ behielt er bis 1919 bei. So kam der Einuss der Berliner Anglistik, zu deren Renommee er entscheidend beitrug, in der Person Brandls, der 1904 als erster Anglist Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und 1908 Mitglied der Royal Society of Literature wurde, auf nationaler wie internationaler Ebene zur Geltung.

V. Ein historisches Porträt Brandls wäre nicht nur unvollständig, sondern würde sogar einen Wesenskern seiner Persönlichkeit verfehlen, gedächte es nicht des zu seiner wissenschaftlichen 18



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Siehe hierzu Gunta Haenicke, Zur Geschichte der Anglistik an deutschsprachigen Universitäten 1850–1925 (Augsburger I&I-Schriften, 8), Augsburg 1979, S. 306–310. Thomas Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik in Deutschland. Eine Einführung, Darmstadt 1983, S. 89.

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Arbeit keineswegs in Widerspruch stehenden, diese vielmehr sachkundig ergänzenden politischen und gesellschaftlichen Engagements. Im Interesse einer ganzheitlichen Darstellung von Brandls mannigfaltigem Wirken wird deshalb diese viel zu häufig vernachlässigte persönlichkeitsrelevante Komponente hier bewusst einbezogen. Der Berliner Gelehrte Brandl war auch ein in öffentlichen Angelegenheiten Stellung beziehender Zeitgenosse, nicht nur homme de lettres, sondern auch, in aller Bescheidenheit, homme politique. Dem von Jugend auf großdeutsch empfindenden Österreicher, der es als Anglist gelernt hatte, die deutschen Verhältnisse von außen schärfer in den Blick zu nehmen und so auch seine politische Urteilsbildung zu vertiefen, wurde die Reichshauptstadt als Brennpunkt nationalen Geschehens und als Kristallisationspunkt politischer Strömungen auch zum Impulsspender für öffentliches Wirken. Die Weite seines gesellschaftlichen und kulturellen Horizonts zeigt die nähere Bekanntschaft mit Persönlichkeiten wie Theodor Fontane, Max Reinhardt, Max Liebermann und den Historikern Heinrich von Treitschke und Hans Delbrück an. Schon gleich nach seiner Ankunft in Berlin schaltete sich der an allen kulturellen Bereichen interessierte Brandl in die Arbeit der dortigen Sektion des Allgemeinen Deutschen Schulvereins ein, deren Leitung er später übernahm. Seine unermüdliche Tätigkeit für das Deutschtum im Ausland, der er in seiner Autobiographie ein eigenes Kapitel gewidmet hat20, schlug sich in dem Erscheinen des unter Mitwirkung seiner Schüler zustande gekommenen „Handbuch des Deutschtums im Ausland“ (1903) nieder. In heikler internationaler Lage äußerte sich sein jeglichen chauvinistischen Einschlags entbehrender Patriotismus auf – ich zögere nicht, dieses Prädikat zu vergeben – bewundernswert faire Weise in den während des Ersten Weltkrieges an die englische Adresse gerichteten Verlautbarungen. Seine Wertschätzung der englischen Kultur, wie er sie etwa in dem 1913 vor der British Academy gehaltenen Vortrag „Shakespeare and Germany“21 bekundete, hat Brandl nie daran gehindert, Schattenseiten des Inselreiches wahrzunehmen. Gerade wenn man sich die kleinmütige Kritiklosigkeit heutiger, im Prokrustesbett politischer Korrektheit eingezwängter oder historisch unbedarfter deutscher Anglisten ihrem Forschungsgegenstand England gegenüber vergegenwärtigt, vermag man die intellektuelle Redlichkeit und Souveränität seiner nie gehässigen oder verunglimpfenden England-Kritik zu ermessen. Brandl hatte noch vor Kriegsausbruch Gelegenheit gehabt, den Abgründen der deutschenglischen Beziehungen ins Auge zu schauen, die sich seit der Jahrhundertwende zunehmend verschlechtert hatten. Als ihm 1913 während einer Goodwilltour, die ihm Begegnungen mit hohen Repräsentanten der englischen Politik und Gesellschaft wie beispielsweise

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Siehe Zwischen Inn und Themse (Anm. 1), S. 271–279. Wieder abgedruckt in Forschungen und Charakteristiken von Alois Brandl. Zum 80. Geburtstag herausgegeben von dem Englischen Seminar der Universität Berlin und der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen, Berlin/Leipzig 1936, S. 161–172.

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dem Kriegsminister Lord Haldane22 verschaffte, die Zuspitzung des deutsch-englischen Verhältnisses bewusst wurde23, entschloss sich der mit einem wachen Gespür für die politischen Realitäten ausgestattete Brandl, um eine Audienz beim deutschen Botschafter nachzusuchen, um diesem seine Besorgnisse vorzutragen. Die Entgegnung des sich leichthin optimistisch gebenden Fürsten Lichnowsky, der „etwas unwirsch von sehr guten Beziehungen zwischen England und Deutschland“24 sprach und die nach außen zuletzt, seit der zweiten Marokkokrise, freundlicher gewordene Gestaltung des bilateralen Verhältnisses mit einer substantiellen Wende verwechselte, gipfelte in dem Brandl unvergesslich gebliebenen Satz, mit dem die Audienz kurzerhand beendet wurde: „‚Pegen sie Ihre Gelehrtenfreundschaften, so viel Sie wollen, aber lassen Sie die Politik aus dem Spiel‘“25. Was eine Sternstunde für den politisch wachen Brandl hätte werden können – nie hätte sich das Fach nützlicher gemacht –, endete aufgrund der Inkompetenz der deutschen Diplomatie26 als unfreiwillige Posse. Der Blick hinter die Kulissen der Weltpolitik, deren Entwicklung sich binnen kurzem als tragisch erweisen sollte, stellt dem Wirklichkeitssinn des Abgesandten der Berliner Wissenschaft, dessen Englandkenntnis man zu seiner bitteren Enttäuschung damals ebenso arrogant wie unbedarft verschmähte27, vor der Nachwelt ein glänzendes Zeugnis aus28. Der beispiellosen, einen Zivilisationsbruch markierenden englischen Hasspropaganda im Ersten Weltkrieg setzte Brandl seine maßvollen, nie der sachlichen Rückbindung ermangelnden Bekundungen des deutschen Standpunkts entgegen29. Repräsentativ für seine Über diese einussreiche Persönlichkeit hatte er zwei Jahre zuvor den Essay Der englische Kriegsminister und die deutschen Universitäten veröffentlicht, der Brandls feines Gespür für Fluktuationen in der englischen Wahrnehmung Deutschlands verrät: siehe Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 6/3 (1911), S. 257–270. 23 Brandls feine Witterung drohender deutsch-englischer Unbilden wird auch von Holger Klein betont: siehe seinen Artikel Austrian (and some German) Scholars and the First World War – Österreichische (und einige deutsche) Anglisten und der Erste Weltkrieg, in: Krieg und Literatur/War and Literature Jahrbuch/Yearbook VIII (2002), S. 14. 24 Brandl, Zwischen Inn und Themse (Anm. 1), S. 315. 25 Ebenda, S. 315. 26 ��������������������������������������������������������ffl Schückings ohne Begründung hingeworfenes Lob „der vortreffliche ������������������������������������������� Fürst Lichnowsky“ bleibt unverständlich: Levin Ludwig Schücking, Selbstbildnis und dichterisches Schaffen. Aus dem Nachlass herausgegeben und kommentiert von Ulf Morgenstern (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, 29; Reihe Texte, 11), Bielefeld 2008, S. 302. 27 Zu dieser denkwürdigen Begegnung siehe auch Brandls sarkastische Glosse Eine Erinnerung an Fürst Lichnowsky, in: Vossische Zeitung (Abendausgabe) Nr. 146 (20.3.1918), S. 1–2. 28 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Eine zwischen Oberächen- und Tiefendimensionen angemessen differenzierende Untersuchung der damaligen englischen Presse hat im Nachhinein Brandls Skepsis gegenüber der unangebrachten Zuversicht des Fürsten Lichnowsky bestätigt. Siehe die Presseanalysen in Heinz-Joachim Müllenbrock, Literatur und Zeitgeschichte in England zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges (= Britannica et Americana, 16), Hamburg 1967, S. 152–178. 29 Offenbar ist Ruth von Ledebur die ungleich schärfere Gangart der von Literaten und Wissenschaftlern mitgetragenen englischen Kriegspropaganda unbekannt geblieben, denn sonst hätte sie sich kaum mit tadelndem Unterton auf den „kriegerischen Sprachgestus“ in Brandls Jahresbericht für 1914–1915 beziehen können, der durch eine gemäßigte patriotische Haltung gekennzeichnet ist: Ruth Freifrau von Ledebur, Der 22



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disziplinierte patriotische Rhetorik ist seine Rede „Byron im Kampf mit der englischen Politik und die englische Kriegslyrik von heute“ vom 12. Februar 1915. Darin spießt er zwar insulare Ungereimtheiten folgerichtig auf, indem er etwa die englischen Freiheitsbeteuerungen unter Bezug auf das Bündnis mit der russischen Despotie30 und das vorgebliche englische Eintreten für unterdrückte kleine Völker mit dem Hinweis auf die offenbar vergessene Behandlung der Buren und Iren31 ironisch konterkariert32, und nennt auch die präzedenzlose Niveaulosigkeit der antideutschen Kampagne beim Namen, zielt aber selber nie unter die Gürtellinie. Sein von einem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden erfüllter Patriotismus artikulierte sich auch in der Widmung seines „Shakespeare“-Buches (Ausgabe von 1922) an das einige, freie Tirol. Diese Widmung kam einer nur allzu berechtigten Anklage der doppelzüngigen alliierten Siegermächte des Ersten Weltkrieges gleich, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker vorher lauthals proklamiert hatten, es dann aber zynisch missachteten. Alois Brandl braucht sich seiner nationale Anliegen vertretenden öffentlichen Äußerungen nicht zu schämen. Friedliche Pionierarbeit mitten im Krieg zu leisten, gelang dem alles andere als bellizistisch gesinnten Berliner Anglisten dann sogar in den Jahren 1917 bis 1918, als er, der seine wissenschaftliche Neugier bewahrt hatte, sich noch spät als Experimentalphonetiker betätigte. Im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf und in anderen Lagern ließ er von englischen Dialektsprechern33 Phonogrammaufnahmen auf Edison-Wachswalzen und Schellackplatten anfertigen; diese Aufnahmen gehören heute zu den Beständen des Berliner Lautarchivs, das dem Helmholtz-Zentrum der Humboldt-Universität angegliedert ist.

VI. Will man die Lebensleistung Brandls und seine Bedeutung für die Anglistik in einem knappen Fazit würdigen, so drängt sich der Begriff Pionierarbeit zwingend auf. Als ,Wissenschaftsorganisator‘ wie als Forscher34 hat er seinem Fach und namentlich der anglistischen Literarhistorie ein festes Profil gegeben. Dass wohl kein deutscher Anglist jemals über ein so

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Mythos vom deutschen Shakespeare. Die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft zwischen Politik und Wissenschaft 1918–1945, Wien 2002, S. 165. Siehe Byron im Kampf mit der englischen Politik und die englische Kriegslyrik von heute. Rede am 12. Februar 1915 (Deutsche Reden in schwerer Zeit, 20), Berlin 1915, S. 20. Siehe ebenda, S. 24. Auf diese berechtigte Kritik geht Klein (Austrian (and some German) Scholars and the First World War [Anm. 23], S. 15) in seiner Kommentierung von Brandls Schrift nicht ein. Seine Begeisterung bei dieser Arbeit vermittelt sein ausführlicher Bericht Der Anglist bei den Engländern, in: Wilhelm Doegen (Hrsg.), Unter fremden Völkern. Eine neue Völkerkunde, Berlin 1926, S. 362–375. – Der Dialektforschung hatte Brandl von früh auf ein breit gefächertes, Geschichte und Gegenwart umfassendes Interesse entgegengebracht; siehe auch seinen Beitrag Zur Geographie der altenglischen Dialekte (Abhandl. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., 4), Berlin 1915. Elisabeth Turowskis vorsichtig abwägender Einschätzung ist aus rezeptionsgeschichtlicher Warte kaum zu widersprechen: „In seinen erfolgreichen Bemühungen um die Erweiterung und Modernisierung des an-

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breites Forschungsspektrum verfügt hat wie Brandl, zeigt zugleich die Schwierigkeit seiner weitgespannten Aufgabenstellung an. Über englische Literatur der älteren wie der neueren Epochen hat er grundlegende Erkenntnisse vermittelt. Trotz seines immensen Detailwissens und seiner Sensibilität für geschichtliche Zusammenhänge haben seine Forschungen im Zuge fortschreitender Spezialisierung der Disziplin partielle Korrekturen erfahren; diesen in der Natur der Sache liegenden, unausweichlichen ,Emendationsprozess‘35 hat er selber in realistischer Einschätzung seines Tuns vorausgesehen36. Mögen seine die individuelle Kunstleistung allerdings nie vernachlässigenden Bemühungen um das Verständnis literarischer Texte für den heutigen Geschmack auch etwas zu materiell-positivistisch anmuten oder gar den Vorwurf des Biographismus37 auf sich ziehen, so darf man doch nie vergessen, dass lange die unbedingte Priorität noch darin bestand, gediegenes Wissen „überhaupt erst bereitzustellen“38. Seiner literarhistorischen ,Aufklärungsarbeit‘ dürfte es zugute gekommen sein, dass er nie manierierte Wortgirlanden geochten, sondern sich immer einer seinem festen Wirklichkeitssinn entsprechenden allgemeinverständlichen Ausdrucksweise bedient hat. Brandls Verdienst wird durch die nachfolgenden, gewissermaßen systeminhärenten literaturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel, die jede Forschungsrichtung einem gewissen Alterungsprozess unterwerfen, nicht geschmälert. Allerdings ist in seinem Fall die Diskrepanz zwischen einstiger Wertschätzung und gegenwärtiger Nichtbeachtung besonders auffällig. Bei großzügiger Sicht sind seinen stets umsichtig den Realien im Sinne eines kulturellen Ganzen zugewandten Ansätzen sogar zukunftweisende Aspekte zuzuschreiben. Wenn er sich bescheiden zur „Tatsachenforschung“39 bekannte, so sollte dieser unprätentiöse, fast tiefstapelnde Begriff nicht darüber hinwegtäuschen, dass Brandl dank seiner weitgespannten Interessenausrichtung damit – in die heutige Terminologie übertragen – einer kulturwissenschaftlichen Gegenstandsauffassung das Wort redete. Der zu seiner Zeit gefeierte40 Brandl, der über die 1923 erfolgte Emeritierung hinaus bis ins hohe Alter Lehrveranstaltungen abhielt und auch weiterhin Veröffentlichungen vorlegte, ist glistischen Lehrbetriebs, vielleicht mehr als in seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, liegt Brandls größtes Verdienst“; dies., Alois Brandl (1855–1940), in: Shakespeare-Jahrbuch West 1991, S. 296. 35 ������������������������������������������������������������������������������������������������������ Siehe mit Bezug auf Brandls Lieblingsgebiet die ein gewisses Triumphgefühl kaum verhehlenden Korrekturen von Robert Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters. Soziologie – Dramaturgie – Gestaltung, Berlin 1967, S. 180, 252, 321, 496. 36 Siehe Zwischen Inn und Themse (Anm. 1), S. 241. 37 Ulrich Suerbaums apodiktische Feststellung über die Sonette als Gedichte, „die keines biographischen oder historischen Kontexts bedürfen“ (Der Shakespeare-Führer, 2. Au. [Stuttgart 2006], S. 417), nimmt zwar nicht auf Brandl Bezug, impliziert aber Kritik auch an dessen Arbeitsweise. 38 Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik in Deutschland (Anm. 19), S. 69. 39 Shakespeares Sonette. Erläutert von Alois Brandl. Übersetzt von Ludwig Fulda, Stuttgart/Berlin 1913, S. LIII. 40 Siehe etwa nur die folgenden zeitgenössischen Würdigungen: Wolfgang Keller, In Memoriam Alois Brandl, in: Englische Studien 74 (1940–1941), S. 145–155; derselbe, Nekrolog. Alois Brandl. Noch ein Wort der Erinnerung, in: Shakespeare-Jahrbuch 76 (1940), S. 199–202; Ernst Gamillscheg, Alois Brandl zum Gedächtnis. Nachruf. Gesprochen in der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen am 27. Februar 1940, in: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen 177 (1940), S. 2–15; Emil Winkler, Gedächtnisrede auf

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in der gegenwärtigen Anglistik nur noch vereinzelt, wenn überhaupt41, präsent. Das vielseitige Wirken dieses am 5. Februar 1940 gestorbenen Anglisten stellt gleichwohl ein nach wie vor rühmenswertes Kapitel Berliner und deutscher Wissenschaftsgeschichte dar.

Werke (in Auswahl) Samuel Taylor Coleridge und die englische Romantik, Berlin 1886. – Mittelenglische Literatur (1100–1500), in: Grundriß der germanischen Philologie, II, 1, Strassburg 1893, S. 609–718; 2. Au. 1908. – Shakespeare, Dresden 1894; 4. Au. Berlin 1929. – Quellen des weltlichen Dramas in England vor Shakespeare (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, 80), Strassburg 1898. – Englische und romanische Philologie, in: Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich, I, Berlin 1904, S. 185–192. – Englische Literatur, in: Grundriß der germanischen Philologie, II, 1, 2. Au. Strassburg 1908, S. 941– 1134. – Zur Geographie der altenglischen Dialekte (Abhandl. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., 4), Berlin 1915. – (Hrsg.), Mittelenglische Sprach- und Literaturproben. Ersatz für Mätzners Altenglische Sprachproben. Mit etymologischem Wörterbuch zugleich für Chaucer (mit O. Zippel), Berlin 1917; 2. Au. 1927. – Englische Dialekte, bearb. unt. d. Leit. v. A. Brandl, Heft 1–20 der „Lautbibliothek. Phonetische Platten und Umschriften“, hrsg. v. d. Lautabteilung der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 1928.

Herausgeberschaft (Zeitschriften) (Mithrsg.) Archiv für das Studium der neueren Sprachen (und Literaturen), Bd. 96–176 (1896–1939). – (Mithrsg.) Shakespeare-Jahrbuch, Bd. 35–54 (1898–1919).

Literatur (in Auswahl) Ernst Gamillscheg, Alois Brandl zum Gedächtnis. Nachruf. Gesprochen in der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen am 27. Februar 1940, in: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen 177 (1940), S. 2–15. – Wolfgang Keller, In Memoriam Alois Brandl, in: Englische Studien 74 (1940–1941), S. 145–155. – Wolfgang Keller, Nekrolog. Alois Brandl. Noch ein Wort der Erinnerung, in: Shakespeare-Jahrbuch 76 (1940), S. 199–202. – Emil Winkler, Gedächtnisrede auf Alois Brandl von Hrn. Winkler, in: Jahrbuch der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1940, Berlin 1941, S. 153–156. – Fritz Wölcken, Brandl, Alois, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 2 (1955), S. 527–528. – Gerhard Graband, Alois Brandl von Hrn. Winkler, in: Jahrbuch der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1940, Berlin 1941, S. 153–156. 41 �������������������������������������������������������������������������������������������������������� Das ist am ehesten in wissenschaftsgeschichtlichem Kontext der Fall. Siehe etwa die nörglerischen Bemerkungen von Christoph Bode in seinem Aufsatz „Anglia“ 1933–45, in: Stephan Kohl (Hrsg.), Anglistik. Research Paradigms and Institutional Policies 1930–2000, Trier 2005, S. 124–125.

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Die Geschichte der Anglistik an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, in: Deutsche Universitätszeitung 12 (1962), S. 20–22. – Gunta Haenicke, Brandl, Alois, in: Biographisches und bibliographisches Lexikon zur Geschichte der Anglistik 1850–1925 (mit einem Anhang bis 1945) (Augsburger I&I-Schriften, 13), Augsburg 1981, S. 12–14. – Manfred Scheler, Die Ära Brandl (1895–1923), in: derselbe (Hrsg.), Berliner Anglistik in Vergangenheit und Gegenwart 1810–1985 (Wissenschaft und Stadt. Publikationen der Freien Universität Berlin aus Anlaß der 750-Jahr-Feier Berlins, 1), Berlin 1987, S. 19–34. – Marie-Luise Bott, Mittelalterforschung oder moderne Philologie? Romanistik, Anglistik, Slavistik 1867–1918, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd 4: Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität, Berlin 2010, S. 339–392.

Bibliographien Rudolf Juchhoff, Bibliographie der Schriften von Alois Brandl, in: Anglica. Untersuchungen zur englischen Philologie. Alois Brandl zum siebzigsten Geburtstage überreicht (= Palaestra 147–148), 2 Bde., hier I, Leipzig 1925, S. 175–184. – Günther Scherer, Schriftenverzeichnis 1925–1940, in: Jahrbuch der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1940, Berlin 1941, S. 156–158.

Bildnisse Alois Brandl, Zwischen Inn und Themse. Lebensbeobachtungen eines Anglisten. Alt-Tirol/England/Berlin, Berlin 1936. – Shakespeare-Jahrbuch 71 (1935). – Archiv für das Studium der Neueren Sprachen 177 (1940). – Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien (1940). – Deutsche Universitätszeitung 12 (1962).

Paul Fridolin Kehr1 Von Rudolf Schieffer Ein Berliner Historiker ist Paul Fridolin Kehr erst in seinem 55. Lebensjahr geworden, und das durchaus nicht freiwillig. Der Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg zwang ihn im Mai 1915, seine bisherige Wirkungsstätte, das Preußische Historische Institut in Rom, zu verlassen und eilends nach Deutschland zurückzukehren. Dort war sein Ziel nicht mehr der Lehrstuhl an der Göttinger Universität, von dem er seit 1903 beurlaubt war, sondern Berlin, wo man für ihn sehr bald neue Verwendung hatte. Zum 1. September 1915 übernahm er das seit dem Tod Reinhold Kosers (25. August 1914) vakante Amt des Generaldirektors der Preußischen Staatsarchive, was mit seinem endgültigen Ausscheiden aus dem Universitätsleben verbunden war. 1917 erreichte er, zusätzlich mit der Leitung des neu gegründeten „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Deutsche Geschichte“ betraut zu werden, das im Gebäude der Staatsbibliothek Unter den Linden eingerichtet wurde. Und am 1. September 1919 war es dann soweit, dass er auch noch als Nachfolger Kosers an die Spitze der Monumenta Germaniae Historica trat, die damals in Berlin beim Reichspatentamt in der Gitschiner Straße unweit des Landwehrkanals untergebracht waren. Die heutzutage ganz unvorstellbare, aber auch seinerzeit schon ungewöhnliche, nicht wenige Aversionen bei anderen weckende Ämterhäufung, die Kehr für zwei Jahrzehnte eine dominante Stellung in seiner Zunft verschaffen sollte, beruhte auf früh erworbenem wissenschaftlichen Ruhm, aber auch einer gehörigen Portion an Durchsetzungskraft, Organisationstalent und Sinn für nützliche Verbindungen.

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Grundlegend: Stefan Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie, in: Paul Fridolin Kehr, Ausgewählte Schriften, hrsg. von Rudolf Hiestand, Bd. 1–2 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, Dritte Folge, 250), Göttingen 2005, S. 1331–1397. Eine wichtige autobiographische Quelle ist: Paul Fridolin Kehr, Italienische Erinnerungen, Wien 1940, auch in: derselbe, Ausgewählte Schriften (Anm. 1), S. 1303–1327 (daraus im Folgenden mehrfache Zitate). – Lebensbilder: Walther Holtzmann, Paul Fridolin Kehr, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 8 (1951), S. 26–58; Theodor Schieffer, Kehr, Paul Fridolin, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 11, Berlin 1977, S. 396–398; Josef Fleckenstein, Paul Kehr. Lehrer, Forscher und Wissenschaftsorganisator in Göttingen, Rom und Berlin, in: Hartmut Boockmann/ Hermann Wellenreuther (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe (Göttinger Universitätsschriften, A/2), Göttingen 1987, S. 239–260; Horst Fuhrmann, Menschen und Meriten. Eine persönliche Portraitgalerie, München 2001, S. 174–212; Stefan Weiss, Paul Kehr. Delegierte Großforschung: Die „Papsturkunden in Frankreich“ und die Vorgeschichte des Deutschen Historischen Instituts in Paris, in: Ulrich Pfeil (Hrsg.), Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz, München 2007, S. 36–57.

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Paul Fridolin Kehr *28. Dezember 1860 in Waltershausen, † 9. November 1944 in Wässerndorf

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Kehr, am 28. Dezember 1860 in Waltershausen bei Gotha geboren, kokettierte gern mit seiner bäuerlichen Herkunft und entstammte tatsächlich nicht dem Gelehrtenadel des 19. Jahrhunderts. Der Vater Karl (1830–1885)2, Sohn eines Holzhauers und verheiratet mit der Tochter eines Horndrechslers, die ihm zehn Kinder gebar, war Rektor der Bürger- und Gewerbeschule in Waltershausen und brachte es später zum Direktor des Lehrerseminars im preußischen Halberstadt. Durch pädagogische Werke, darunter ein in mehrere Sprachen übersetztes Buch „Die Praxis der Volksschule“ (1868), machte er sich einen Namen und avancierte zum Ehrendoktor der Universität Jena. Dass außer seinem Sohn Paul Fridolin auch mehrere von dessen Brüdern in akademischen Berufen als Pädagoge, als Chirurg und – der jüngste – ebenfalls als Historiker3 Vorzügliches leisteten, erweist die Familie als Beispiel für den sozialen Aufstieg durch Bildung, wie er für die Epoche typisch ist. Auf dem humanistischen Gymnasium, das der junge Paul Fridolin Kehr zunächst in Gotha und von 1873 bis zum Abitur 1879 in Halberstadt besuchte, beeindruckte ihn anscheinend am stärksten Gustav Schmidt (1829–1892), sein Direktor in Halberstadt4, der als studierter Altphilologe nebenher mit großem Eifer Urkundenbücher zur mittelalterlichen Geschichte von Stadt und Bistum Halberstadt bearbeitete (insgesamt sieben Bände, erschienen von 1878 bis 1889) und nach der Öffnung des Vatikanischen Archivs für die wissenschaftliche Benutzung (1880/81) eine dienstliche Beurlaubung im Winter 1884/85 nutzte, um in Rom im Auftrag der Historischen Kommission der Provinz Sachsen „Päbstliche Urkunden und Regesten aus den Jahren 1295–1352, die Gebiete der heutigen Provinz Sachsen und deren Umlande betreffend“ zusammenzutragen und 1886 in Halle zu publizieren. Sein einstiger Schüler Paul Kehr hat beim ersten Romaufenthalt im folgenden Winter diese Sammlung bis 1378 fortgesetzt, was Schmidt dann nach weiterer Bearbeitung 1889 ebenfalls herausgebracht hat5. Zu diesem Zeitpunkt war Kehr längst nach einem kurzen Studium promoviert, das er von 1879 bis 1883 in Göttingen, in München und wieder in Göttingen in den Fächern Geschichte und Philosophie absolviert hatte. Im späteren Rückblick bezeichnete er sich als „gelangweilt durch die nüchternen Vorlesungen“ und stellte sich als „Autodidakt“ dar, dessen lebenslange Begeisterung für Rom durch die Lektüre von Ferdinand Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ geweckt worden sei. Die 1883 vorgelegte, 87 Druckseiten umfassende Dissertation über den bayerischen Geschichtsschreiber Hermann von Niederaltaich († 1273) und dessen Fortsetzer6 entsprach einer Anregung seines Göttinger Lehrers Ludwig Weiland (1841–1895), eines langjährigen

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Vgl. Viktor Hantzsch, Kehr, Karl, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 51, Leipzig 1906, S. 94–98. Vgl. Oswald Holder-Egger, Karl Andreas Kehr, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 39 (1904), S. 507–510. Vgl. Eduard Jacobs, Schmidt, Karl Gustav, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 54, Leipzig 1908, S. 100–102. Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 8. Ebenda, Nr. 1.

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Mitarbeiters der Monumenta Germaniae Historica7, wurde aber durchaus nicht richtungweisend für Kehrs weitere Entwicklung. Seine Vorliebe für die Urkundenforschung und sein Wunsch nach Forschungsarbeit in Rom führten den jungen Doktor vielmehr nach Wien zu dem damals führenden Diplomatiker Theodor Sickel (1826–1908)8, einem protestantischen Landsmann aus Aken/ Elbe, der seit 1869 dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung vorstand und in Wien zugleich die Diplomata-Abteilung der Monumenta eingerichtet hatte. Bei ihm, der sein eigentlicher Lehrer werden sollte, bewarb sich Kehr 1884 um Mitarbeit9. Er wurde als außerordentliches Mitglied in den laufenden Ausbildungskurs des Instituts aufgenommen, der alle Bereiche der Historischen Hilfswissenschaften umfasste, und durfte nach dessen Ende bereits im Herbst 1885 zu einem längeren Aufenthalt nach Rom reisen, wo er im Vatikanischen Archiv neben dem erwähnten Auftrag der Historischen Kommission der Provinz Sachsen Forschungen für die Diplomata- und die Constitutiones-Reihe der Monumenta erledigte. Die neun Monate bis zum Sommer 1886, in denen er zeitweise an der Seite Sickels arbeitete und von diesem in die römische Gelehrtenwelt eingeführt wurde, hat Kehr im Alter als „das reichste und schönste“ Jahr seines ganzen Lebens eingeschätzt. Jedenfalls dürfte er damals die Überzeugung gewonnen haben, dass die Erschließung der päpstlichen Überlieferung eine, wenn nicht die zentrale Aufgabe der Erforschung des Mittelalters sei. Nach seiner Rückkehr aus Rom wandte er sich indes zunächst den ottonischen Kaiserurkunden zu, denn er wurde im Herbst 1886 von Sickel als Mitarbeiter bei den Diplomata angestellt, war an den Abschlussarbeiten für die 1888 erschienene Ausgabe der Urkunden Ottos II. beteiligt und erreichte es, mit der selbständigen Bearbeitung der Diplomata Ottos III. betraut zu werden, was sich für ihn mit dem Ziel einer Habilitation verband. Darüber kam es rasch zu einem Zerwürfnis mit Sickel, das dazu führte, dass Kehr Wien im Sommer 1888 verließ und sich bereits im folgenden Jahr mit einer Arbeit eben über die Urkunden Ottos III.10 an der Universität Marburg habilitierte, während in Wien die Diplomata-Arbeit unter Sickels Leitung ohne ihn weiterging. In Marburg hatte sich Kehr von vornherein mit der Ankündigung eingeführt, dort die Ausbildung in den Hilfswissenschaften nach Wiener Vorbild intensivieren zu wollen, was als ganz zeitgemäß angesehen wurde und auf gute Resonanz stieß11. Die Fakultät setz7



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Vgl. Jakob Schwalm, Weiland, Ludwig, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 41, Leipzig 1896, S. 490– 493. Vgl. Winfried Stelzer, Sickel, Theodor von, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 24, Berlin 2010, S. 309–311. Vgl. zum Folgenden Michèle Schubert, Meister – Schüler. Theodor Sickel und Paul Fridolin Kehr (nach ihrem Briefwechsel), in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 106 (1998), S. 149–166. Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 7, 12. Vgl. zum Folgenden Johannes Burkardt, Die Historischen Hilfswissenschaften in Marburg (17.–19. Jahrhundert) (elementa diplomatica, 7), Marburg an der Lahn 1997, S. 109–117; Michèle Schubert, Paul Kehr und die Gründung des Marburger Seminars für Historische Hilfswissenschaften im Jahre 1894. Der Weg zur preußischen Archivschule Marburg, in: Archivalische Zeitschrift 81 (1998), S. 1–59.

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te ihren Privatdozenten bereits 1891 auf den 3. Platz der Vorschlagsliste für den eigenen mediävistischen Lehrstuhl, wodurch Kehr erstmals ins Blickfeld von Friedrich Althoff (1839–1908), dem einussreichen Personaldezernenten im preußischen Kultusministerium12, trat. Die über ihn eingeholten Gutachten fielen ebenso wie bei einem gleichzeitig laufenden Berufungsverfahren in Königsberg günstig aus und ermutigten die Marburger Fakultät zu einem Antrag beim Berliner Ministerium, für Kehr ein Extraordinariat für Historische Hilfswissenschaften einzurichten. Als diese Sache nicht recht vorankam, ergriff Kehr, der gleichzeitig mit der Bearbeitung des „Urkundenbuchs des Hochstifts Merseburg“ eine erste eigene Quellenedition vorantrieb (erschienen 1899)13, von sich aus die Initiative, indem er sich 1892 mit einer Eingabe an den Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, den früheren Marburger Neuhistoriker Heinrich von Sybel (1817–1895), wandte und die Vernachlässigung der Hilfswissenschaften an den deutschen Universitäten beklagte14. Seine Idee einer zentralen Archivschule (mit einer fotografischen Sammlung mittelalterlicher Schriftdenkmäler zu Lehr- und Forschungszwecken) in Marburg konnte Kehr im Sommer 1893 in Gesprächen mit Sybel und Althoff entscheidend fördern, mit der Folge, dass er am 3. Oktober 1893 zum außerordentlichen Professor ernannt und zum Sommersemester 1894 das Marburger Seminar für Historische Hilfswissenschaften mit einem speziellen Lehrangebot für angehende Archivare eröffnet wurde. Das Unternehmen ließ sich gut an, doch Kehr war noch längst nicht am Ziel seiner Wünsche. Kaum war am 5. Februar 1895 sein Göttinger Lehrer Weiland mit erst 53 Jahren gestorben, meldete er bei Sybel und Althoff die Forderung nach besserer finanzieller Ausstattung des Marburger Seminars und der Schaffung eines Ordinariats an, wartete aber gar nicht die Antworten ab, sondern nahm bereits zum Sommersemester den Ruf auf den frei gewordenen Lehrstuhl an der Georgia Augusta an. Auf sechs Jahre in Marburg folgten acht in Göttingen15. Neben der seit den Studientagen vertrauten Universität, die mit ihrem Diplomatischen Apparat einen traditionsreichen Fundus für hilfswissenschaftliche Studien bereithielt16, gewann für Kehr vor allem die damals als „Königliche Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen“ bezeichnete Akademie

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Vgl. Bernhard vom Brocke, Friedrich Althoff, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer (Hrsg.), Berlinische Lebensbilder. Bd. 3: Minister, Beamte, Ratgeber (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 60/3), Berlin 1987, S. 195–214. Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 83; vgl. Stephan Selzer, Zwischen Rom und Merseburg. Paul Fridolin Kehr und das Urkundenbuch des Hochstifts Merseburg, in: Sachsen und Anhalt 24 (2003), S. 83–102. Vgl. Johanna Weiser, Geschichte der preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945 (Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz, Beiheft 7), Köln/Weimar/Wien 2000, S. 59 f. Vgl. zum Folgenden Michèle Schubert, Paul Fridolin Kehr als Professor und als Akademiemitglied in Göttingen (1895–1903). Ein Historiker im Konflikt zwischen Lehre und Forschung. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Papsturkundenedition, in: Archivalische Zeitschrift 82 (1999), S. 81–125. Vgl. Wolfgang Petke, Aus der Geschichte des Diplomatischen Apparats der Universität Göttingen (1802–2002), in: Göttinger Jahrbuch 50 (2002), S. 123–148.

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große Bedeutung. Schon wenige Wochen nach seiner Ankunft wurde er zum Ordentlichen Mitglied gewählt, und nur ein weiteres Jahr dauerte es, bis er dort im Sommer 1896 den kühnen Plan einer systematischen Sammlung und kritischen Ausgabe aller Papsturkunden vor dem Jahre 1198 entfaltete, in welchem die kontinuierliche Registerüberlieferung im Vatikanischen Archiv einsetzt. Aus der Zeit davor sollten die über die Empfängerarchive in der gesamten lateinischen Christenheit verstreuten (schätzungsweise 25.000) Schriftstücke möglichst vollständig aufgespürt und zu einer vielbändigen Edition vereinigt werden, die – ähnlich wie die Diplomata der Monumenta für die Kaiser und Könige – das Regierungshandeln jedes einzelnen Papstes dokumentieren würde17. Der 35jährige Kehr, der offen die Dauer des Unternehmens auf zehn Jahre veranschlagte und im Alter eingestand, sich auf dreißig Jahre eingestellt zu haben, verstand es, hinreichend viele Befürworter zu finden, damit sich die Akademie sein Projekt zu eigen machte und eine zunächst bescheidene Finanzierung bewilligte. Sogleich stürzte sich Kehr in die Bewältigung der selbstgewählten Aufgabe und begann seine „archivalische Eroberung Italiens“ mit einem mehrwöchigen Aufenthalt in Venedig, der ihm dazu verhalf, der Akademie schon auf ihrer nächsten Sitzung nach vier Monaten über fünfzehn zuvor unbekannte Papsturkunden von Leo IX. bis Coelestin III. zu berichten und mit der Veröffentlichung aller Ergebnisse seiner Reise in den „Nachrichten“ der Akademie18 eine lange Serie ähnlicher Publikationen unter dem Titel „Papsturkunden in ...“ zu eröffnen. Die innere Logik des auf vollständige Materialerfassung angelegten Unternehmens, der Kehr nun Jahr für Jahr folgte, zeitigte schon bald erhebliche Konsequenzen. Die ständigen Reisen und die Beteiligung von Mitarbeitern erzeugten einen Finanzbedarf, der die Akademie schnell überforderte und Kehr zum beharrlichen Bemühen um Zuwendungen des Ministeriums, um hochmögende Förderer wie den Reichskanzler Bernhard von Bülow oder den Breslauer Kardinal Georg Kopp und um diskrete private Gönner nötigte. Zudem brachte ihm die reiche Ausbeute an Neufunden, die er in Italien machte, eindringlich zum Bewusstsein, dass er kaum damit rechnen konnte, durch eine zügige Folge von Archivkampagnen in den verschiedenen Ländern unmittelbar die als Endziel gedachte, chronologisch nach Pontifikaten angelegte Edition aller Papsturkunden anzubahnen. Es empfahl sich eher, als Zwischenstufe die Publikation der regional gewonnenen Forschungsergebnisse in Regestenform vorzuschalten, also Schritt für Schritt die Beziehungen zwischen dem Papsttum und jedem einzelnen Bistum samt dessen geistlichen Institutionen aufzuarbeiten und dabei auch die Eingaben an den Papst zu berücksichtigen. In diesem Sinne bezeichnete er schon 1898 in einem Schreiben an Althoff sein Vorhaben als „Regesta pontificum Romanorum“ und konzipierte für sich selbst eine nach Landschaften gegliederte „Italia Pontificia“, die

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Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 69; vgl. Rudolf Hiestand, 100 Jahre Papsturkundenwerk, in: derselbe (Hrsg.), Hundert Jahre Papsturkundenforschung. Bilanz – Methoden – Perspektiven (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, Dritte Folge, 261), Göttingen 2003, S. 11–44. Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 68.

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er fortan als seine zentrale Aufgabe betrachtete19 und neben der zu seinen Lebzeiten nur noch die „Germania Pontificia“ in Gang gekommen ist. Ein unübersehbares Problem war schließlich, dass sich die Leitung und aktive Bearbeitung des Papsturkundenwerkes auf die Dauer kaum mit den Pichten eines Göttinger Hochschullehrers vereinbaren ließ. Kehr erlangte mehrfach Beurlaubungen und riskierte, nicht allein deswegen, Misshelligkeiten mit seinen Seminarkollegen, was bei ihm den Wunsch nach einer organisatorischen Verselbständigung aufkommen ließ. So entwickelte er den Plan eines primär der Forschung gewidmeten „Historisch-diplomatischen Instituts für Geschichte des Mittelalters“ und verhandelte darüber seit 1899 mehrfach mit dem inzwischen zum Ministerialdirektor aufgestiegenen Althoff, wobei außer Göttingen auch Marburg und Berlin als Standorte in Betracht gezogen wurden, doch kam bis 1902 kein greifbares Ergebnis zustande. Stattdessen begann zunehmend eine andere Perspektive Kehr zu verlocken, seitdem er auf seiner Archivreise nach dem Sommersemester 1900 in Rom das 1888 gegründete Preußische Historische Institut näher kennengelernt hatte20, das bei seinem früheren Aufenthalt am Tiber noch nicht bestanden hatte. Gleich nach seiner Rückkehr kritisierte er in einem Schreiben an Althoff scharf die dortigen Zustände, und als eine Antwort darauf ausblieb, erschien Anfang 1901 in der Augsburg-Münchner Allgemeinen Zeitung ein anonymer Artikel, worin dem Römischen Institut mangelhafte Leistungen sowie eine spezialistische Isolierung vorgehalten und die Forderung erhoben wurde, durch eine umfassendere Aufgabenstellung daraus eine Panzstätte talentierter Nachwuchshistoriker zu machen. Konkret ging es in dem Artikel darum, die beabsichtigte Berufung des Königsberger Archivars Erich Joachim (1851–1923)21 zum nächsten Direktor zu durchkreuzen und nach einer besseren Leitung zu rufen, wozu der Autor jedoch süffisant bemerkte: „der Einzige, der das guten Mutes wagen könnte, führt leider eine gar zu grobe Feder“. Das öffentliche Echo war beträchtlich und wurde nicht geringer, als sich nach Wochen herausstellte, dass Kehr der Verfasser war, der damit zugab, selbst den Posten in Rom anzustreben. Den bekam indes nach lebhaften Debatten Ende 1901 zunächst der katholische Breslauer Ordinarius Aloys Schulte (1857–1941), der wichtige organisatorische Verbesserungen wie die Einrichtung eines Beirats für das Institut erreichte, es dann aber doch 1903 vorzog, einem Ruf an die Universität Bonn zu folgen22. Damit erst wurde der Weg frei für Kehr, der schon seit Februar 1902 nicht mehr in Göttingen gelesen hatte und sich dort nun vollends beurlauben 19



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Vgl. Rudolf Hiestand, Die unvollendete Italia Pontificia, in: derselbe, Hundert Jahre Papsturkundenforschung (Anm. 17), S. 47–57. Vgl. zum Folgenden Lothar Burchardt, Gründung und Aufbau des Preußischen Historischen Instituts in Rom, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 59 (1979), S. 334–391, bes. S. 357–384; Michèle Schubert, Auseinandersetzungen über Aufgaben und Gestalt des Preußischen Historischen Instituts in Rom in den Jahren von 1900 bis 1903, in: ebenda, 76 (1996), S. 383–454. Vgl. Eduard Loch, Joachim, Erich Julius, in: Christian Krollmann (Hrsg.), Altpreußische Biographie, Bd. 1, Königsberg 1941, S. 304. Vgl. Max Braubach, Aloys Schulte in Rom (1901–1903). Ein Beitrag zur deutschen Wissenschaftsgeschichte, in: Erwin Iserloh/Konrad Repgen (Hrsg.), Reformata Reformanda. Festgabe für Hubert Jedin zum 17. Juni 1965, Bd. 2, Münster 1965, S. 509–557.

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ließ, um zum 1. Oktober 1903 sein neues Amt als Institutsdirektor im Palazzo Giustiniani unweit des Pantheons anzutreten. Mit 43 Jahren hatte er erreicht, was er mit zunehmender Bewusstheit seit längerem angestrebt hatte: die alleinige Leitung eines Instituts ohne akademische Lehrverpichtung, im Umgang mit angehenden Gelehrten und im Dienste hochgesteckter wissenschaftlicher Ziele, dazu die unbefristete Aussicht auf Leben und Arbeiten in Rom. Die vielfältigen Kontakte zur italienischen Fachwelt, die aus seinen erfolgreichen Archivforschungen zunächst im Norden und bald schon in allen Teilen des Landes erwachsen waren, machten es ihm zusammen mit seinem weltmännischen Auftreten leicht, als führender Repräsentant der damals hochangesehenen deutschen Geschichtswissenschaft überall offene Türen zu finden und dem Institut zu einer bis dahin ungekannten Sichtbarkeit zu verhelfen. Hatte er früh schon das Vertrauen von Achille Ratti, dem Präfekten der Biblioteca Ambrosiana in Mailand und späteren Papst Pius XI., gewonnen23, so kannte er auch den ab 1903 amtierenden Papst Pius X. persönlich, seitdem ihm dieser als Patriarch von Venedig seine Unterstützung beim Zugang zu den geistlichen Archiven Venetiens gewährt hatte. In Rom genoss er das Wohlwollen des deutschen Jesuiten Franz Ehrle (1845–1934), der bis 1914 der Vatikanischen Bibliothek vorstand und später Kardinal wurde24, wie auch der gelehrten Brüder Giovanni (1866–1957) und Angelo Mercati (1870–1955), die nach dem Ersten Weltkrieg zu Leitern der Bibliothek bzw. des Archivs im Vatikan aufsteigen sollten25. Aus der akademischen Fachwelt Italiens waren es vor allem Luigi Schiaparelli (1871–1934)26 und Pietro Fedele (1873–1943)27, die Kehr für aktive Mitarbeit an seinen eigenen Projekten gewann. Mit Pasquale Villari, dem Präsidenten des Istituto storico italiano, schloss er gleich 1904 eine Vereinbarung über die gemeinsame Publikation italienischer Urkunden in den „Regesta Chartarum Italiae“, von denen bis 1914 dreizehn Bände erschienen sind28. 1908 wurde er zum Mitglied der Accademia dei Lincei gewählt, an deren monatlichen Sitzungen er sich fortan gern beteiligt hat. Daneben gab es das gesellschaftliche Leben der deutschen Kolonie, wozu er durch Einladungen in seine Dienstwohnung im Institutsgebäude beitrug, vor allem seitdem er 1908 die um 25 Jahre jüngere Belgierin Doris vom Baur (1885–1979) geheiratet 23



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Vgl. Michael F. Feldkamp, Pius XI. und Paul Fridolin Kehr: Begegnungen zweier Gelehrter, in: Archivum Historiae Pontificiae 32 (1994), S. 293–327. Vgl. Manfred Weitlauff, Ehrle, Franz, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9, Berlin/New York 1982, S. 366–369. Vgl. Karl August Fink, Angelo Mercati †, in: Historisches Jahrbuch 75 (1956), S. 524–526; Heinrich Schmidinger, Kardinal Giovanni Mercati, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 65 (1957), S. 479 f. Vgl. Vincenzo Federici, Luigi Schiaparelli, in: Archivio della R. Società Romana di Storia Patria 56/57 (1933/34), S. 390–401. Vgl. Francesco M. Biscione, Fedele, Pietro, in: Dizionario biografico degli italiani, Bd. 45, Roma 1995, S. 572–575. Vgl. Reinhard Elze, Das Deutsche Historische Institut in Rom 1888–1988, in: derselbe/Arnold Esch (Hrsg.), Das Deutsche Historische Institut in Rom 1888–1988 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 70), Tübingen 1990, S. 1–31, hier S. 12.

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hatte, die ihm die Söhne Romulus (1910–1924) und Ivo (1911–1943) sowie die Tochter Gudila (1913–2002) gebar. Dem von Kehr geleiteten Institut kam es zugute, dass er 1905 auf der Apulienreise Kaiser Wilhelms II. als landeskundiger Führer in Bari und nach Castel del Monte zu fungieren hatte und bei dieser Gelegenheit dessen Unterstützung für die Einrichtung einer kunsthistorischen Abteilung erlangte, die sich den „Bauten der Hohenstaufen in Unteritalien“ widmen sollte, ein Vorhaben, das einige Zeit später an die 1912 als Kaiser-Wilhelm-Institut für Kunstgeschichte gegründete Bibliotheca Hertziana in Rom übergehen sollte. Von dauerhafter Bedeutung für das Historische Institut waren die energischen Bemühungen des Direktors um den Ausbau der Bibliothek zu einem erstrangigen Instrument der Forschung, nicht allein für die seit den Anfängen des Instituts betriebenen Daueraufgaben – das Repertorium Germanicum und die Nuntiaturberichte aus Deutschland – sowie für Kehrs eigene Bedürfnisse bei der ächendeckenden Papsturkundenforschung, sondern weit darüber hinaus zur allgemeinen Geschichte vom 8. bis zum 18. Jahrhundert29. Tatsächlich ist es ihm gelungen, mit stark erhöhten Haushaltsmitteln, mehrfachen einmaligen Zuwendungen und manchen privaten Schenkungen den Bücherbestand binnen zehn Jahren von 4000 auf über 30000 Bände zu steigern. Kein Wunder, dass bald Platzprobleme auftraten und Kehr jahrelang mit der Suche nach einem größeren Gebäude beschäftigt war. Dabei bekam er mit der Erwerbung der Villa Massimo zu tun, der 1910/13 errichteten deutschen Künstler-Akademie in Rom, und wurde Administrator der 1911 dem deutschen Kaiser geschenkten Villa Falconieri oberhalb von Frascati, aber erst Ende 1913 kam der Kaufvertrag über ein Grundstück in der Valle Giulia zustande, wo ein Neubau des Instituts errichtet werden sollte, der sich dann wegen des Weltkriegs zerschlug. Inmitten dieser administrativen und repräsentativen Beschäftigungen erlebte Kehr bis 1915 die wissenschaftlich produktivste Phase seines langen Lebens. Die 1896 begonnene Serie seiner „Reiseberichte“ aus italienischen Archiven, zunächst meist für die „Nachrichten“ der Göttinger Akademie, ab 1904 für die „Quellen und Forschungen“ des römischen Instituts, wuchs auf 49 zum Teil umfangreiche Titel an, in denen rund 1000 Funde von älteren Papsturkunden bekanntgemacht wurden30. 1906 begann dann die „Italia Pontificia“ mit einem ersten Band über die Beziehungen der Päpste vor 1198 zu den Institutionen in der Stadt Rom zu erscheinen31. In dichter Folge schlossen sich von 1907 bis 1914 fünf weitere Bände an (der letzte in zwei selbständigen Teilen), die die Überlieferung aus Latium und den Landschaften nördlich von Rom bis nach Ligurien und zur Lombardei

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Vgl. Hermann Goldbrunner, Von der Casa Tarpea zur Via Aurelia Antica. Zur Geschichte der Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, in: Elze/Esch (Hrsg.), Das Deutsche Historische Institut (Anm. 28), S. 33–86, hier S. 47–56, 75–83. Gebündelter Nachdruck: Paul Fridolin Kehr, Papsturkunden in Italien. Reiseberichte zur Italia Pontificia, 6 Bde. (Acta Romanorum Pontificum, 1–6), Città del Vaticano 1977. Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 154a.

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dokumentierten32. Auch wenn daran manche Mitarbeiter – deutsche wie italienische – beteiligt waren, die erst vom dritten Band an namentlich genannt wurden, trug doch Kehr die Hauptlast von der voraufgegangenen Materialsammlung bis hin zur Endredaktion der einzelnen Bände. Währenddessen nahm Wilhelm Wiederhold (1873–1931)33 in Absprache mit Kehr und im Auftrag der Göttinger Akademie die Sammelarbeit in Frankreich auf und konnte von 1906 bis 1913 allein aus der Südhälfte des Landes ebenfalls Hunderte von Neufunden zum Vorschein bringen. Kehrs Schüler Albert Brackmann (1871–1952)34 hatte in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit weit weniger unentdeckten Stücken zu tun und brachte daher 1911 bereits den ersten Band der „Germania Pontificia“ heraus, der die Kirchenprovinz Salzburg erschloss. Der große Plan, den Kehr 1896 in Göttingen unterbreitet hatte, war noch weit von seiner vollen Realisierung entfernt und mittlerweile auch nicht ohne Modifizierungen geblieben, aber er hatte in den Kernländern der lateinischen Christenheit seine Tragfähigkeit erwiesen und war dabei, mehr und mehr Früchte zu zeitigen, als der Kriegsausbruch 1914/15 der grenzüberschreitenden Quellenforschung ein jähes Ende bereitete und auch Kehrs Leben in neue Bahnen lenkte. Dass er in Berlin zunächst mit dem vakanten Posten des Generaldirektors der Preußischen Staatsarchive und dem damit verbundenen Titel eines Geheimen Oberregierungsrats bedacht wurde, war insofern folgerichtig, als das Römische Institut, dessen Leitung er kommissarisch beibehielt, zum Geschäftsbereich der Archivverwaltung gehörte. Während die bisherigen Forschungen in Italien kriegsbedingt abgebrochen werden mussten, hatte sich Kehr nun zu bemühen, den Betrieb der preußischen Archive unter erschwerten Bedingungen in Gang zu halten35. Nach Kriegsende waren Stellenabbau und massive Mittelkürzungen zu verkraften und die heikle Aufgabe der Abtretung der Staatsarchive in Posen und Danzig sowie die Übergabe der nordschleswigschen Bestände an Dänemark zu bewältigen. 1924 konnte die Einweihung des noch von Koser geplanten Neubaus des Geheimen Staatsarchivs in Dahlem gefeiert werden. Den Routinegeschäften der Archivverwaltung widmete sich Kehr im steten Einvernehmen mit dem sozialdemokratischen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun in eher lässiger Zurückhaltung an zwei Vormittagen in der Woche. Am meisten interessierte ihn die Personalpolitik und in engem Zusammenhang damit die Sicherung einer qualitätvollen Ausbildung künftiger Archivare. Anknüpfend an frühere eigene Konzepte und Erfahrungen betrieb er die Einrichtung eines speziellen Instituts nach Pariser und Wiener Vorbild, woraus erst nach seiner Pensionierung (1929) das 1930

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Ebenda, Nr. 158, 165, 170, 178, 186, 191. Vgl. Carl Borchers, Wilhelm Wiederhold †, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 8 (1931), S. 307–309. Vgl. Hans Goetting, Brackmann, Albert, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 504 f. Vgl. zum Folgenden Weiser, Geschichte der preußischen Archivverwaltung (Anm. 14), S. 89–110.

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gegründete Dahlemer „Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung“ hervorging36. Auf Planspiele aus der Vorkriegszeit konnte Kehr auch zurückgreifen, als er sich bald nach seiner Ankunft in Berlin zielstrebig in die Entwicklung der 1911 gegründeten KaiserWilhelm-Gesellschaft einschaltete37. Mit Althoff, der 1908 starb, hatte er schon 1903/04 von Rom aus seine Lieblingsidee eines großen historischen Forschungsinstituts erörtert, und mit dem Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851–1930), dem ersten Präsidenten der Gesellschaft38, zugleich Vorsitzenden des Beirats seines Römischen Instituts, war er sich einig, dass das starke Übergewicht von Naturwissenschaft und Technik in der neuen Gesellschaft die Kompensation durch ein geisteswissenschaftliches, näherhin ein historisches Institut erfordere. 1913 legte er eine Denkschrift vor, worin ein von den Universitäten unabhängiger Status und eine Ausrichtung auf groß dimensionierte Ziele der Grundlagenforschung wie zumal die „Germania Sacra“, eine historisch-statistische Beschreibung aller kirchlichen Institutionen des Alten Reiches, neben einer als „Germania profana“ bezeichneten Aufarbeitung der politischen Geografie Deutschlands gefordert wurden. Der Gründungsbeschluss, der daraufhin von den Gremien der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Mai 1914 gefasst wurde, blieb wegen des Kriegsausbruchs unwirksam, doch Kehr verstand es, mit einem reduzierten Arbeitsprogramm alle Einwände gegen bloß „retrospektive Forschungszwecke“ zu überwinden und die Eröffnung des Instituts unter seiner Leitung am 1. Oktober 1917 durchzusetzen39. Zu wirklicher Blüte gelangte das Pänzchen allerdings nie, was an der Ungunst der Zeitumstände ebenso wie der halbherzigen, immer wieder in Frage gestellten Finanzierung durch die Gesellschaft lag. Ohne feste Personalstellen und seit der Inationszeit auf zwei Zimmer im Dahlemer Geheimen Staatsarchiv reduziert, war Kehrs Institut auf den guten Willen nebenamtlicher Mitarbeiter, zumeist Archivare, angewiesen. Immerhin gelang es, die „Germania Sacra“ 1929 mit einem ersten Band über das Bistum Brandenburg auf den Buchmarkt zu bringen, dem bis 1941 noch vier weitere folgen soll36



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Vgl. Wolfgang Leesch, Das Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung (IfA) in Berlin-Dahlem (1930–1945), in: Gerd Heinrich/Werner Vogel (Hrsg.), Brandenburgische Jahrhunderte. Festgabe für Johannes Schultze zum 90. Geburtstag, Berlin 1971, S. 219–254. Vgl. zum Folgenden Wolfgang Neugebauer, Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Deutsche Geschichte im Zeitalter der Weltkriege, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 60–97; Michèle Schubert, Zum Wirken Paul Fridolin Kehrs für ein deutsches historisches Zentralinstitut oder: Der lange Weg zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Deutsche Geschichte, in: Bernhard vom Brocke/Hubert Laitko (Hrsg.), Die Kaiser-Wilhelm/Max-PlanckGesellschaft und ihre Institute. Studien zu ihrer Geschichte. Das Harnack-Prinzip, Berlin/New York 1996, S. 423–444. Vgl. Rudolf Vierhaus, Im Großbetrieb der Wissenschaft. Adolf von Harnack als Wissenschaftsorganisator und Wissenschaftspolitiker, in: Kurt Nowak/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 161), Göttingen 2001, S. 419–441. Vgl. Lothar Burchardt, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Ersten Weltkrieg (1914–1918), in: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hrsg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft, Stuttgart 1990, S. 163–196.

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ten40. Zuvor waren seit 1924 fünf Bände einer Ausgabe von Briefen Wilhelms I. erschienen, die jedoch 1931 aus Geldmangel abgebrochen wurde. Jahrelange Archivforschungen in Spanien kamen wenigstens indirekt Karl Brandis großer Biografie Karls V. von 1937/41 zugute41, während weitere Projekte aus den Denkschriften der Gründungszeit völlig ohne greifbares Resultat blieben. Insgesamt war die Bilanz viel zu disparat, um dem Institut einen fest umrissenen Platz in der deutschen Geschichtswissenschaft sichern zu können. Die Sorge, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft könnte einen Direktorenwechsel zum Anlass der Schließung des Instituts nehmen, hat schließlich dazu geführt, dass Kehr bis zu seinem Tode in der nominellen Leitung verblieb. Dem Kaiser-Wilhelm-Institut hätte er womöglich mehr persönlichen Eifer zugewandt, wenn er nicht recht bald nach dem Kriegsende neue Hoffnung auf eine Rückkehr wenn schon nicht auf Dauer nach Rom, so doch zur Arbeit an dem Papsturkundenwerk geschöpft hätte. Um die Jahreswende 1919/20 und nochmals im Sommer 1921 reiste er im Auftrag der interessierten Berliner Ministerien für jeweils mehrere Wochen nach Rom, um in vertraulichen Gesprächen mit Politikern und Fachkollegen die Aussichten für eine Wiedereröffnung des Historischen wie auch der anderen deutschen Institute in Italien auszuloten42. Als besonders förderlich erwies sich der aus der Vorkriegszeit herrührende Kontakt Kehrs zu dem Philosophen Benedetto Croce (1866–1952), der 1920/21 italienischer Unterrichtsminister war43. Nach der grundsätzlichen Freigabe der ausgelagerten und zwischenzeitlich unter Sequester gestellten Bibliothek des Historischen Instituts im August 1920 war es erst im Oktober 1922 möglich, mit den Büchern in einen Teil der ehemaligen Räume im Palazzo Giustiniani zurückzukehren44. Angesichts der Zerrüttung der öffentlichen Finanzen in Deutschland musste sich Kehr damit abfinden, dass eine Wiederherstellung des Zustands von vor 1915 ausgeschlossen war und lediglich „eine Art von Korrespondenzbureau“ ohne hauptamtlichen Direktor und ohne Bibliothekar übrig blieb, dessen Bücherbestand von wechselnden befristeten Mitarbeitern und Gästen genutzt wurde. Kehr überführte seine 1915 in Rom verbliebene Privatbibliothek nach Berlin und beschränkte sich darauf, als kommissarischer Direktor jährlich ein- bis zweimal für ein paar Wochen in Rom nach dem Rechten zu sehen. Zumeist war dies mit einer Audienz bei dem ihm befreundeten Papst Pius XI. verbunden, den er als großzügigen Förderer seiner Forschungen wiederholt

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Vgl. Gottfried Wentz, Die Germania sacra des Kaiser-Wilhelm-Instituts für deutsche Geschichte, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 86 (1941), S. 92–106. Vgl. Wolfgang Petke, Karl Brandi und die Geschichtswissenschaft, in: Boockmann/Wellenreuther (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen (Anm. 1), S. 287–320, hier S. 318 ff. Vgl. Arnold Esch, Die Lage der deutschen wissenschaftlichen Institute in Italien nach dem Ersten Weltkrieg und die Kontroverse um ihre Organisation. Paul Kehrs „römische Mission“ 1919/1920, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 72 (1992), S. 314–373. Vgl. Hubert Houben, Pietro Fedele, Benedetto Croce e la riapertura dell’ Istituto Storico Germanico di Roma nel 1922, in: Nuova Rivista Storica 78 (1994), S. 665–674. Vgl. Goldbrunner, Von der Casa Tarpea zur Via Aurelia Antica (Anm. 29), S. 56–59.

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in Anspruch nahm45. Unter Kehrs indirekter Ägide war das Institut, das 1926 seinen Sitz im Palazzo Lazzaroni zu Füßen des Quirinals nahm, temporäre Heimstatt für eine ganze Reihe bedeutender jüngerer Mediävisten, die von dort aus ihren römischen Forschungen nachgingen. 1928 kam sogar die Arbeit am Repertorium Germanicum wieder in Gang, während die Nuntiaturberichte in der ganzen Zwischenkriegszeit stagnierten. Nachdem noch 1932 eine komplette Streichung der Haushaltsmittel gedroht hatte, schickte die neue Regierung im Herbst 1933 mit Kehrs Billigung Friedrich Bock (1890–1963) als ständigen „zweiten Sekretär“ nach Rom46. Er wurde zum faktischen Leiter, als Kehr 1936 die Direktoratsgeschäfte niederlegte und das seit 1937 nicht mehr als Preußisches, sondern als Deutsches bezeichnete Historische Institut dem aus den Monumenta hervorgegangenen „Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde“ in Berlin angeschlossen wurde. Kehr blieb ein lebenslängliches Wohnrecht in den Institutsräumen zugestanden, wovon er bis 1942 mehrfach Gebrauch gemacht hat. Für die Organisation des Papsturkundenwerks bedeutete die Entwicklung nach 1918, dass das Römische Institut nicht länger die Zentrale bildete, sondern Kehr von Berlin aus die Regie führte. Dort wurde der in zwei Teilen 1923/25 erschienene 7. Band der „Italia Pontificia“ (über den Nordosten Italiens) zum Druck gebracht47, der sich auf Materialsammlungen aus der Vorkriegszeit stützte und von dem 1922 als „Hilfsarbeiter“ am Römischen Institut eingestellten, aber erst 1924 an den Tiber entsandten Walther Holtzmann (1891–1963)48 bloß noch ergänzt wurde. Bevor sich Kehr an die Ausgestaltung der nun fälligen Bände über Unteritalien machte, entschloss er sich, zunächst nach unentdeckten Papsturkunden auf der Iberischen Halbinsel zu fahnden, wovon er sich auch wichtige Ergänzungen für den Süden Italiens erhoffte. Dank Finanzmitteln nicht mehr wie früher des Ministeriums, sondern der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft sowie Papst Pius’ XI. konnte er von 1925 bis 1927, begleitet von deutschen und spanischen Helfern, drei große Archivreisen nach Spanien unternehmen und die erwartete reiche Ausbeute von Hunderten unbekannter Stücke machen. Sie schlug sich in zwei Bänden für die Abhandlungen der Göttinger Akademie (1926/28) nieder49, neben denen Carl Erdmann (1898–1945)50 in Kehrs Auftrag 1927 gesondert „Papsturkunden in Portugal“ publik machte. Den Rückhalt für ausgedehnte weitere Reisen, die das große Ziel erforderte, schuf vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise die vom Papst dotierte „Pius-Stiftung für Papsturkunden und mittelalterliche Geschichtsforschung“, die Kehr 1931 nach schweizerischem Recht in Zürich einrichten konnte, um sein Unternehmen, wie er hoffte, für alle Zukunft abzusichern. Mit 45



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Feldkamp, Pius XI. und Paul Fridolin Kehr (Anm. 23), S. 305 ff., bietet datierte Belege für 19 Besuche von Oktober 1922 bis zum September 1936. Vgl. Gottfried Opitz, Friedrich Bock, in: Historische Zeitschrift 201 (1965), S. 522–524. Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 228, 243. Vgl. Reinhard Elze, Holtzmann, Walther, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 9, Berlin 1972, S. 562 f. Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 257, 283. Vgl. Gottfried Opitz, Erdmann, Carl, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 4, Berlin 1959, S. 570.

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ihrer Hilfe konnten die Archivforschungen während der 30er Jahre in England durch Wal­ ther Holtzmann aufgenommen, in Frankreich sowie den Niederlanden, Belgien und Luxemburg durch Hermann Meinert (1894–1987)51 und Johannes Ramackers (1906–1965)52 fortgeführt werden. Während Brackmann zwischen 1923 und 1935 drei weitere Bände der „Germania Pontificia“ herausbrachte, konzentrierte Kehr sich auf den Abschluss des von mehreren Helfern vorbereiteten 8. Bandes der „Italia Pontificia“, der 1935 erschien und Kampanien sowie das Normannenreich betraf53. Der 9. Band über Samnium, Apulien und Lukanien hat ihn noch bei seinem Rombesuch im Winter 1940/41 beschäftigt, ist aber von ihm nicht mehr vollendet und erst 1962 von Holtzmann herausgebracht worden. Ungeachtet all dieser Aktivitäten wurde in Kehrs Berliner Jahren doch die Leitung der Monumenta Germaniae Historica zu seiner wichtigsten Aufgabe54. Mit dem großen nationalen Forschungsunternehmen zur Sammlung und kritischen Bearbeitung der Quellen des Mittelalters war er schon als junger Doktor in Beziehung getreten, als er 1886/88 in Wien unter Sickel an den Diplomata Ottos II. und Ottos III. arbeitete. Doch bald war er eigene Wege gegangen und hatte mit dem visionären Plan einer chronologischen Edition aller Papsturkunden vor 1198 gar die Diplomata-Reihe der Monumenta zu übertrumpfen versucht. Durch die ungestüme Art, mit der er sich in den Vordergrund drängte und die für seine Vorhaben erforderlichen Mittel zu mobilisieren wusste, weckte er allerhand Animositäten, zumal im Kreise der Zentraldirektion aus Akademie-Vertretern und kooptierten Fachleuten, die seit 1875 die Monumenta leitete. Als nach dem Tode des Vorsitzenden Ernst Dümmler (1830–1902)55 ein Nachfolger gesucht wurde und das für die Ernennung zuständige Reichsamt des Innern sich nicht auf den von der Zentraldirektion gewünschten Oswald Holder-Egger (1851–1911)56 einlassen wollte, brachte Althoff von seiten des preußischen Kultusministeriums neben anderen auch Kehrs Namen ins Gespräch57, der jedoch 1903 die unverhoffte Chance ergriff, das Institut in Rom zu übernehmen. In einem Gutachten, das er damals für Althoff erstattete, forderte er erweiterte Vollmachten für den Vorsitzenden, was kaum die Billigung der Zentraldirektion fand. Nach längerem Hin und Her fiel die Leitung der Monumenta schließlich dem Neuhistoriker Reinhold Koser

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Vgl. Wolfgang Klötzer, Hermann Meinert †, in: Der Archivar 42 (1989), Sp. 131–136. Vgl. Oskar Vasella, Johannes Ramackers †, in: Historisches Jahrbuch 86 (1966), S. 506–512. Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 371. Vgl. Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae historica (Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, 42), Hannover 1921; Horst Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter, München 1996. Vgl. Friedrich Baethgen, Dümmler, Ernst Ludwig, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 4, Berlin 1959, S. 161. Vgl. Herbert Grundmann, Holder-Egger, Oswald, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 9, Berlin 1972, S. 526. Vgl. zum Folgenden Annekatrin Schaller, Michael Tangl (1861–1921) und seine Schule. Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 7), Stuttgart 2002, S. 150–163, 246–276.

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(1852–1914)58 zu, der sie als Generaldirektior der Preußischen Staatsarchive im Nebenamt versah. Als ihm der aus Rom heimgekehrte Kehr 1915 an der Spitze der Archive nachfolgte, verstand es sich keineswegs von selbst, dass auch die Verbindung mit dem Vorsitz in der Zen­traldirektion fortgesetzt wurde, der Kehr im übrigen gar nicht angehörte. Vielmehr wurden die Monumenta während des ganzen Ersten Weltkriegs von dem Berliner Ordinarius Michael Tangl (1861–1921) geleitet, der sich mit der Rolle eines stellvertretenden Vorsitzenden begnügen musste. Gegen Kehr, den das Reichsamt favorisierte, regten sich erhebliche Widerstände, die erst überwunden wurden, als ein gesundheitlicher Zusammenbruch Tangls Anfang 1919 eine Entscheidung unumgänglich machte und nach einer ministeriellen Ablehnung Harry Bresslaus (1848–1926)59 wegen zu hohen Alters nichts mehr übrig blieb, als sich am 15. Juni 1919 auf Kehr zu einigen, der 1918 in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgestiegen war und nun die Rolle des Vorsitzenden der Zentraldirektion wie früher Koser im Nebenamt übernahm. Die Vorgeschichte dieser Wahl erklärt, warum Kehr in der Folgezeit wenig Wert auf die Zentraldirektion legte, ihre jährlichen Sitzungen gern wegen Geldmangels absagte und sich lieber auf seine eigenen Fähigkeiten und Verbindungen verließ, um die Monumenta durch die schwierige Nachkriegszeit zu steuern. Den überkommenen Strukturen und den altgedienten Mitarbeitern stand er betont skeptisch gegenüber60, musste sich aber vor allem ähnlich wie bei der Verwaltung der Archive mit den gravierenden Folgen der fortschreitenden Geldentwertung auseinandersetzen, die dazu führte, dass nach und nach alle etatmäßigen Stellen verloren gingen und sich die Arbeit auf den Abschluss der begonnenen Projekte zu beschränken hatte. Als 1924 das Haushaltsvolumen auf ein Drittel des Vorkriegsstandes geschrumpft war und ernste Befürchtungen sich auf ein völliges Versiegen der öffentlichen Finanzierung richteten, bedeutete es einen spürbaren Lichtblick, dass Kehr den Umzug des Instituts in einen Seitentrakt der Preußischen Staatsbibliothek Unter den Linden (Charlottenstraße 41) erreichte, „die zweckmäßigste und zugleich die würdigste Unterkunft, welche für die Monumenta überhaupt gefunden werden konnte“, wie er in seinem Jahresbericht stolz vermerkte. Die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft musste für die Druckkosten fertig werdender Bände aufkommen, da kein Verleger mehr, so klagte er, wie früher den Monumenta Honorare zahlte. Hatte sich Kehr in den ersten Jahren allein auf die dornige Aufgabe der administrativen Leitung der Monumenta konzentriert, so wurde ihm der Tod Bresslaus (27. Oktober 1926) zur Veranlassung, sich zunehmend auch inhaltlich an der Arbeit des Instituts zu beteiligen. Bresslau hatte nämlich von seiner Ausgabe der Urkunden Kaiser Heinrichs III. nur den 58



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Vgl. Bernhard vom Brocke, Koser, Reinhold, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 12, Berlin 1980, S. 613–615; Weiser, Geschichte der preußischen Archivverwaltung (Anm. 14), S. 71–88. Vgl. Gottfried Opitz, Breßlau, Harry, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 600 f. Vgl. Folker Reichert, Paul Kehr und Karl Hampe über die Zukunft der Monumenta Germaniae Historica nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Briefwechsel, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 60 (2004), S. 549–569.

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ersten, bis ins Jahr 1047 reichenden Halbband fertiggestellt, der 1926 erschien, für den Rest aber nichts Druckreifes hinterlassen, weshalb sich Kehr entschloss, nach Abschluss seiner spanischen Archivreisen selbst 1928/29 die Untersuchung der über Deutschland, Österreich, die Schweiz und Italien verstreuten Originale vorzunehmen und die kanzleigeschichtliche Einleitung abzufassen, um zu erreichen, dass die Diplomata Heinrichs III. 1931 komplett vorlagen61. Das ging vermutlich auf Kosten des 8. Bandes der „Italia Pontificia“, der sich weiter verzögerte, brachte Kehr aber so sehr auf den Geschmack an der Diplomata-Arbeit, dass er die durch die Pensionierung als Generaldirektor der Archive (1929) gewonnene Freiheit gleich nutzte, um sich mit fast 70 Jahren neue Ziele in der Karolingerzeit zu setzen. Weil er die anstehende und seit langem erwartete Bearbeitung der Urkunden Ludwigs des Frommen wegen der umfangreichen, überwiegend in Frankreich liegenden Überlieferung für vorerst kaum realisierbar einschätzte, kreierte er neben der DiplomataReihe der karolingischen Kaiser kurzerhand eine bis dahin nicht vorgesehene Sonderreihe für die Urkunden der deutschen (d.h. der ostfränkischen) Karolinger, bei der er sich auf geläufigerem Terrain bewegen konnte, und machte sich seit 1930 auf der Grundlage eines Entwurfs von Eugen Meyer (1893–1972)62 an die Ausarbeitung eines ersten Bandes mit den Diplomata Ludwigs des Deutschen, Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren, der in drei Teilen von 1932 bis 1934 erschienen ist63. Nach einer Unterbrechung zugunsten der „Italia Pontificia“ legte er 1936/37 als zweiten Band die Bearbeitung der Urkunden Karls III. vor64, und 1940 erschien als letztes Werk des Achtzigjährigen der Band mit den Diplomata Arnolfs65. Zusammengerechnet sind es noch einmal 631 Urkunden, die er binnen einem Jahrzehnt mustergültig herausgegeben hat. Unterdessen hatte sich die Rechtsform der Monumenta grundlegend und durchaus mit Kehrs Zutun gewandelt66. Seine alte Abneigung gegen das korporative Statut von 1875 hatte ihn leicht verschmerzen lassen, dass 1932 wieder einmal kein Geld für die Jahressitzung der Zentraldirektion vorhanden war. Nach der Machtübernahme Hitlers ließ er sich dann im Juni 1933 bevollmächtigen, im Sinne des Führerprinzips überhaupt von der Einberufung der Zentraldirektion abzusehen, deren Vorsitzender er war. Nach zwei Denkschriften, die er 1933 und 1934 vorlegte, fiel Anfang 1935 im mittlerweile zuständigen Reichswissenschaftsministerium die Entscheidung, die Monumenta mit Wirkung vom 1. April 1935 zum „Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde“ umzuwandeln und künftig einem vom Minister zu berufenden und ihm verantwortlichen Präsidenten zu unterstellen. Der betagte Kehr kam für diese Rolle nicht mehr in Betracht, wurde jedoch in 61 62

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Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 315. Vgl. Theodor Schieffer, Eugen Meyer, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 29 (1973), S. 666 f. Weiss, Paul-Kehr-Bibliographie (Anm. 1), Nr. 364. Ebenda, Nr. 386. Ebenda, Nr. 395. Vgl. zum Folgenden Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 13), Stuttgart 1966, S. 860–867.

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seiner bisherigen Position um ein Jahr verlängert, um bis dahin die Nachfolge in die Wege leiten zu können. Erklärter Favorit auch in den Augen Kehrs war der zu früher wissenschaftlicher Anerkennung gelangte, 1933 mit einer Monumenta-Ausgabe des Sachsenspiegels hervorgetretene Rechtshistoriker Karl August Eckhardt (1901–1979)67, der der SS und der NSDAP angehörte und nach Lehrstühlen u.a. in Kiel und Bonn seit 1934 als Referent in der Hochschulabteilung des Reichswissenschaftsministeriums wirkte. Er war bereits zum stellvertretenden Präsidenten ernannt, scheiterte dann aber an Intrigen innerhalb des nationalsozialistischen Machtapparats, so dass schließlich der weit weniger qualifizierte, ebenfalls als Ministerialreferent tätige frühere Thüringer Archivar Wilhelm Engel (1905–1964)68 am 1. April 1936 als kommissarischer Leiter des Reichsinstituts an Kehrs Stelle trat. Er konnte sich nicht lange halten und zog es vor, sich bereits zum Wintersemester 1937/38 auf einen Lehrstuhl in Würzburg versetzen zu lassen. Damit machte er den Weg frei für seinen Marburger akademischen Lehrer Edmund Ernst Stengel (1879–1968)69, abermals einen Diplomatiker, den Kehr fünf Jahre lang an der Spitze der Monumenta hat agieren sehen, während er zu dem Stengel 1942 ersetzenden Theodor Mayer (1883–1972)70, der wiederum aus Marburg kam, nur noch wenig Kontakt gehabt haben dürfte. Seit 1936 ohne amtliche Funktion, fand Kehr die Kraft und im Reichsinstitut auch die Unterstützung für die beiden 1937 und 1940 vollendeten Diplomata-Bände. Darüber hinaus hoffte er noch, den 9. Band der „Italia Pontificia“ wie auch die Ausgabe der Urkunden des auf Italien beschränkten Karolingerkaisers Ludwig II. vorlegen zu können, doch dazu kam es infolge eines fortschreitenden Augenleidens und wohl auch der bedrückenden Zeitumstände nicht mehr. Nachdem sein älterer Sohn schon im Kindesalter an einer Krankheit gestorben war, musste er 1943 erleben, dass der jüngere an der Ostfront fiel. Aus dem bombengefährdeten Berlin zog er sich zu seiner seit 1937 mit dem Historiker Götz Freiherr von Pölnitz verheirateten Tochter zurück, auf dessen Schloss Wässerndorf bei Würzburg er am 9. November 1944 kurz vor Vollendung des 84. Lebensjahres verstorben ist. Das Schloss und mit ihm Kehrs persönlicher Nachlass gingen wenige Monate später beim Einmarsch der Amerikaner als Folge sinnlos gewordenen militärischen Widerstands in Flammen auf. Sein Grab fand Kehr auf einem Privatfriedhof bei Hundshaupten in der Nähe von Forchheim,

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Vgl. Hermann Nehlsen, Karl August Eckhardt †, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 104 (1987), S. 497–536, hier S. 506 ff. Vgl. Enno Bünz, Ein Historiker zwischen Wissenschaft und Weltanschauung: Wilhelm Engel (1905–1964), in: Peter Baumgart (Hrsg.), Die Universität Würzburg in den Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, 58), Würzburg 2002, S. 252–317, hier S. 266 ff. Vgl. Walter Heinemeyer, Edmund E. Stengel (1879–1968). Professor der mittleren und neueren Geschichte, in: Ingeborg Schnack (Hrsg.), Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 35/1), Marburg 1977, S. 536–543. Vgl. Helmut Maurer, Theodor Mayer (1883–1972). Sein Wirken vornehmlich während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Karel Hruza (Hrsg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien/Köln/Weimar 2008, S. 493–530.

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nicht allzu weit entfernt von jenem Schloss Pommersfelden, wo die aus Berlin evakuierten Monumenta samt Bibliothek und einem Teil der Mitarbeiter das Kriegsende überdauerten und einer weiteren Zukunft in Bayern entgegengingen. Paul Fridolin Kehr ragt nicht nur in der deutschen, sondern auch in der internationalen Geschichtswissenschaft hervor durch seine unübertroffenen Leistungen in der Erschließung und kritischen Bewertung großer Mengen von früh- und hochmittelalterlichen Urkunden. Als überzeugter Positivist betrieb er quellenkundliche Grundlagenforschung, weil er darin die entscheidende Voraussetzung für wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn erblickte. Auch wenn er sich gern mit provozierender Geringschätzung über die Darstellung von Geschichte vernehmen ließ und nie ein erzählend angelegtes Werk verfasst hat, fehlen in seinem gewaltigen Oeuvre von rund 400 Titeln keineswegs Untersuchungen von größeren historischen Entwicklungen und Zusammenhängen wie etwa den Beziehungen des Papsttums zu den verschiedenen Reichen der lateinischen Welt oder der Regierungspraxis einzelner Herrscher, wobei er sich freilich fast immer auf eine urkundliche Basis stützte. Neben seiner bis ins hohe Alter bewahrten Arbeitskraft waren seine Erfolge zumal bedingt durch ein außergewöhnliches Organisationstalent, konzeptionellen Weitblick und die Fähigkeit, ganz unterschiedliche Menschen für sich und seine Ideen einzunehmen. Die beharrliche Fixierung auf langfristige und groß dimensionierte Arbeitsziele, die im Alleingang nicht zu erreichen waren und daher der ständigen öffentlichen Förderung bedurften, legte ihm eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit an die jeweilige politische Umwelt nahe. Im Kaiserreich aufgestiegen und bei aller Pege internationaler Kontakte stets national denkend, arrangierte er sich schnell mit der Weimarer Republik, fand sich im faschistischen Italien zurecht und konnte auch dem Führerstaat nach 1933 einiges abgewinnen, ohne jemals zum Eiferer zu werden. Auch mit den mittelalterlichen Gegenständen seines Forschens mochte er sich kaum identifizieren, sondern bekannte in einem häufig wiedergegebenen Zitat, „ein ziemlich unchristlicher, positiv skeptischer deutscher Gelehrter von allerdings wenig sehenswerter protestantischer Provenienz“71 zu sein. Was ihn ein Leben lang vorantrieb, war der Forscherdrang an sich, das Bedürfnis, Findigkeit und Scharfsinn immer aufs neue unter Beweis zu stellen und sich darin von niemandem übertreffen zu lassen.

Nachlaß Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Bamberg, Staatsarchiv; München, Archiv der Monumenta Germaniae Historica; Rom, Archiv des Deutschen Historischen Instituts

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Zitat aus einem Brief von 1939 bei Holtzmann, Paul Fridolin Kehr (Anm. 1), S. 45.

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Hauptwerke Hermann von Altaich und seine Fortsetzer, Diss. Göttingen 1883. – Die Urkunden Otto III., Innsbruck 1890. – Urkundenbuch des Hochstifts Merseburg, Bd. 1, Halle 1899. – Regesta Pontificum Romanorum. Italia Pontificia, Bd. 1, Berlin 1906; Bd. 2, Berlin 1907; Bd. 3, Berlin 1908; Bd. 4, Berlin 1909; Bd. 5, Berlin 1911; Bd. 6, 1, Berlin 1913; Bd. 6, 2, Berlin 1914; Bd. 7,1, Berlin 1923; Bd. 7, 2, Berlin 1925; Bd. 8, Berlin 1935. – Das Erzbistum Magdeburg und die erste Organisation der christlichen Kirche in Polen, Berlin 1920. – Das Papsttum und der katalanische Prinzipat bis zur Vereinigung mit Aragon, Berlin 1926. – Papsturkunden in Spanien, Bd. 1, Berlin 1926; Bd. 2, Berlin 1928. – Das Papsttum und die Königreiche Navarra und Aragon bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, Berlin 1928. – Vier Kapitel aus der Geschichte Kaiser Heinrichs III., Berlin 1931. – Die Urkunden Heinrichs III., Teil 2, Berlin 1931. – Die Kanzlei Ludwigs des Deutschen, Berlin 1932. – Die Kanzleien Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren, Berlin 1933. – Die Belehnungen der süditalienischen Normannenfürsten durch die Päpste (1059–1192), Berlin 1934. – Die Urkunden Ludwigs des Deutschen, Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren, Berlin 1932–1934. – Die Kanzlei Karls III., Berlin 1936. – Die Urkunden Karls III., Berlin 1936/1937. – Die Kanzlei Arnolfs, Berlin 1939. – Die Urkunden Arnolfs, Berlin 1940. – Die Kanzlei Ludwigs des Kindes, Berlin 1940. – Italienische Erinnerungen, Wien 1940. – Papsturkunden in Italien. Reiseberichte zur Italia Pontificia, 6 Bde., hrsg. von Raffaello Volpini, Città del Vaticano 1977. – Ausgewählte Schriften, 2 Bde., hrsg. von Rudolf Hiestand, Göttingen 2005.

Literatur Oskar Vasella, P. F. Kehr (1860–1944), in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 39 (1945), S. 72–74. – Leo Santifaller, Paul Kehr, in: Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien 95 (1945), S. 192–199. – Friedrich Baethgen, Paul Kehr, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften 1950/51 (1951), S. 157–160. – Walther Holtzmann, Paul Fridolin Kehr, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 8 (1951), S. 26–58. – Walter Goetz, Paul Kehr, in: derselbe, Historiker in meiner Zeit, hrsg. von Herbert Grundmann, Köln 1957, S. 318–325. – Karl Brandi, Paul Kehr, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1944–1960 (1962), S. 134–152. – Martha Kehr, Die Vorfahren Paul Fridolin Kehrs, des großen Meisters der mittelalterlichen Geschichtsforschung, in: Genealogie 17 (1968), S. 321–330. – Theodor Schieffer, Kehr, Paul Fridolin, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 11, Berlin 1977, S. 396–398. – Pier Fausto Palumbo, Paul Kehr, in: derselbe, Storici maestri ed amici. Venti profili con bibliografie e ritratti, Roma 1985, S. 113–147. – Josef Fleckenstein, Paul Kehr. Lehrer, Forscher und Wissenschaftsorganisator in Göttingen, Rom und Berlin, in: Hartmut Boockmann/Hermann Wellenreuther (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen, Göttingen 1987, S. 239–260. – Horst Fuhrmann, Paul Fridolin Kehr – „Urkundione“ und Weltmann, in: derselbe, Menschen und Meriten. Eine

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persönliche Portraitgalerie, München 2001, S. 174–212. – Stefan Weiss, Paul Kehr. Delegierte Großforschung: Die „Papsturkunden in Frankreich“ und die Vorgeschichte des Deutschen Historischen Instituts in Paris, in: Ulrich Pfeil (Hrsg.), Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz, München 2007, S. 36–57. – Johannes Helmrath, Geschichte des Mittelalters an der Berliner Universität von der Jahrhundertwende bis 1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 371–411.

Erich Marcks Von Marc von Knorring I. Erich Marcks1 kam am 17. November 1861 als Sohn des aus Berlin stammenden Architekten Albert Marcks (1830–1888) in Magdeburg zur Welt. Hier, in der Heimatstadt seiner von französischen Hugenotten abstammenden Mutter Therese, geb. Coqui (1841–1872), wuchs er auf, besuchte ab 1870 das evangelische Gymnasium des Klosters Unser Lieben Frauen und erlangte 1879 die Hochschulreife. Anschließend nahm er in Straßburg ein Studium der Alten Geschichte auf, wechselte im Folgejahr mit seinem Lehrer Heinrich Nissen für zwei Semester nach Bonn und studierte schließlich im Winter 1881/82 bei Theodor Mommsen in Berlin. Wegen eines „Knieleidens“ vom Militärdienst befreit2, konnte er im März 1884 in Straßburg mit einer Arbeit3 über den römischen Bundesgenossenkrieg das Doktorat mit Auszeichnung erlangen. Im darauf folgenden Sommer legte er schließlich auch das Staatsexamen in Geschichte und Literaturwissenschaft ab. Der junge Marcks ließ noch nicht ahnen, dass er sich zu einem der einussreichsten und angesehensten Historiker seiner Zeit entwickeln würde. Als Gymnasiast zeigte er vor allem Interesse für die dichterische Formung historischer Begebenheiten, eine Vorliebe, die er auch in seiner Studienzeit weiter pegte. Diese literarischen, im weitesten Sinne künstlerischen Ambitionen wirkten in seinem Leben fort und äußerten sich nicht zuletzt in zahlreichen, teils freundschaftlichen Beziehungen zu Künstlern und Literaten wie etwa Thomas Auskunft über die wichtigsten Lebensdaten geben: Bernd Faulenbach, Marcks, Erich (1861–1938), in: Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller (Hrsg.), Historikerlexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1991, S. 195 f.; Peter Fuchs, Marcks, Erich, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 16, Berlin 1990, S. 122–124; Wolfgang Weber, Marcks, Erich, in: derselbe, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Faches bis 1970, 2., durchges. u. erg. Au. Frankfurt/M. u.a. 1984, S. 363 f.; derselbe, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970 (Europäische Hochschulschriften, III/216), 2., durchges. u. durch ein Vorwort erg. Au. Frankfurt/M. u.a. 1984, S. 253 f. 2 Siehe den von Marcks ausgefüllten Personalfragebogen der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (von 1934 oder später); Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin (künftig: AHUB), UK M56, Bl. 1-1’, hier Bl. 1’. Vgl. auch ebenda, Bl. 7, einen Fragebogen zu Militärdienstzeiten, datiert 15.11.1924. Zum Personalfragebogen vgl. Jens Nordalm, Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861–1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft (Historische Forschungen, 76), Berlin 2003, S. 389. 3 Die Überlieferung des Bundesgenossenkrieges 91–89 v. Chr., Diss. Straßburg 1884. 1

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Erich Marcks *17. November 1861 in Magdeburg, † 22. November 1938 in Berlin

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Mann und Max Liebermann4, die Marcks an nahezu allen Stationen seines Lebens- und Berufsweges knüpfte, sowie in einer Leidenschaft für das Sammeln zeitgenössischer Kunst. Seine ,künstlerische‘ Ader sollte aber auch und vor allem bestimmend werden für seine Art und Weise, Geschichte zu schreiben. Stil und Anlage seiner Arbeiten generell wurden insbesondere von den Vertretern des poetischen Realismus’ beeinusst: Vorbilder wie Paul Heyse und Conrad Ferdinand Meyer brachten ihn früh dazu, sich „das erzählende Erfassen seelischer Entwicklungen“ ebenso anzueignen wie „eine Auffassungsweise, die psychologisch und dramatisch, sensibel und taktvoll ein Tableau hervortretender Individuen in ihrer historischen Welt entwarf“5. Die Qualität seiner geschichtswissenschaftlichen Arbeiten litt grundsätzlich nicht darunter, und wenn er gerne ,Einfühlung‘ und ,Nachempfinden‘ als Maximen seiner Erkenntnisfindung hervorhob, so waren sie doch vor allem das „Ergebnis einer skrupulösen Arbeit an den Quellen“6 – auch wenn Marcks’ zunehmender Verzicht auf Anmerkungen und Belege den Nachvollzug der Erkenntnisse im Einzelnen nicht eben erleichtert. Grundlegend für Marcks’ Perspektive war sein starkes Interesse am Individuum, an der Persönlichkeit, die es für ihn psychologisch zu erfassen und zu beschreiben galt, um dem in der Geschichte Handelnden gerecht zu werden. Dieses Interesse wiederum wurzelte in einer labilen Konstitution, die ihm zeitlebens auch das wissenschaftliche Schreiben zur mühseligen Arbeit werden ließ. Feinfühlig und verletzlich, körperlich wie nervlich leicht angreifbar, neigte er ebenso zur Schwermut wie zu einem Übermaß an Reexion. Hierin lag eine innere Unsicherheit und Schwäche begründet, der sich bereits der Heranwachsende bewusst war und die Leben und Wirken gerade auch des reifen und schließlich des alten Marcks prägen sollte7.

II. Sehr bald nach seiner Promotion wechselte Erich Marcks zur neueren Geschichte, die freilich schon Teilfach seiner Doktorprüfung gewesen war. Für knapp ein Jahrzehnt sollten nun die Geschicke Westeuropas im 16. und 17. Jahrhundert, dem Zeitalter von Reformation und Religionskriegen, sein Interesse beherrschen. Beeinusst auch von seinem Straßburger Lehrer Hermann Baumgarten, war es zum einen der familiäre Hintergrund seiner Mut-

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������������������������������������������������������������������������������������������������� Genannt seien hier außerdem nur die bildenden Künstler Ludwig von Hofmann und Leopold Graf Kalckreuth, die Kunst- und Kulturwissenschaftler bzw. Kunstpädagogen Aby Warburg, Heinrich Wölfflin und Alfred Lichtwark, der Schriftsteller Eduard Graf Keyserling sowie die Musiker Hans Pfitzner und Bruno Walter, zu denen Marcks teils bis an sein Lebensende in Kontakt stand. 5 Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 378. 6 Ebenda, S. 379. 7 ��������������������������������������������������������������������������������������������������������� Das große Verdienst, diesen für die Beurteilung Marcks’ wesentlichen Persönlichkeitsaspekt umfassend herausgearbeitet und in seiner Bedeutung dargestellt zu haben, gebührt Jens Nordalm (ebenda, passim).

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ter8, der ihn die neue Richtung seiner Forschungen einschlagen, 1886 die „Stätten der Hugenottengeschichte“9 in Frankreich aufsuchen und in Paris ebenso wie in London archivalische Studien betreiben ließ. Zum anderen wurde er durch die Erkenntnis motiviert, dass das biographische Element in der Geschichte des Altertums notwendigerweise zurückstehen müsse, da – was ihn zusätzlich reizte – die Neuzeit die reichere Überlieferungslage aufweise. 1887 habilitierte sich Marcks in Berlin mit einer Arbeit über die Bayonner Konferenz von 156510. Die Friedrich-Wilhelms-Universität hatte er einerseits aus Verehrung für Theodor Mommsen gewählt, andererseits und in erster Linie aber, um seinem erkrankten Vater in Magdeburg näher zu sein, wo er seine Arbeit dann auch verfasste. Seinen offiziellen Betreuer Heinrich von Treitschke schätzte Marcks aufgrund dessen kraftvoller, engagierter und anteilnehmender Art, Geschichte in Vorlesungen darzustellen, schon seit dem Berliner Studiensemester, wobei er unter dem Einuss dieser Vorlesungen freilich auch „unklare, ausschweifende Kriegsphantasien“11 entwickelt hatte. Indes rügte er an seinem Förderer ein Übermaß an Pathos und einen Mangel an Gerechtigkeit, stufte ihn gar als Politiker, nicht als Historiker ein – doch „war Treitschke der Ordinarius, auf den es ankam“12. Auch privat waren diese ersten Berliner Jahre für Marcks eine reiche Zeit: Hier bildete sich seine lebenslange Freundschaft mit Friedrich Meinecke aus, die später selbst tiefgreifende geistige und politische Differenzen überdauerte, und 1889 heiratete er in Schweidnitz/Schlesien die vier Jahre jüngere Friederike von Sellin (gest. 1958), mit der er vier Kinder13 haben sollte. Seine Habilitationsschrift, Hermann Baumgarten gewidmet, erschien noch im selben Jahr. Quellengesättigt und bereits in der für Marcks typischen Art mehr auf das Verstehen und Beschreiben als auf die Bewertung von Handlungen und Ereignissen ausgerichtet, dabei durchsetzt von anschaulich geschriebenen Kurzbiographien der Protagonisten, war diese Arbeit noch stark politik- und diplomatiegeschichtlich orientiert. Doch zeigten sich schon hier Ansätze zu der für Marcks ebenfalls charakteristischen Ausweitung der Perspektive, wie er sie dann erstmals im zentralen Werk seiner Berliner Privatdozentenjahre voll entfaltete, dem ersten Teil einer Biographie über den Hugenottenführer Gaspard (II.) von Coligny14, die neben der politischen auch die Geistes-, Kultur-, Wirtschafts- und Gesell-

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Auf dem Personalfragebogen der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität gab Marcks als seinen zweiten Vornamen „Coqui“ an, den Mädchennamen seiner Mutter; „Erich“ ist dort als Rufname unterstrichen (wie Anm. 2, hier Bl. 1). Vgl. einen entsprechenden Eintrag von anderer Hand auf einem weiteren Personalformular, ebenda, Bl. 2. Von den Stätten der Hugenottengeschichte. Eine Osterfahrt durch Frankreich, in: Magdeburgische Zeitung, 14. Mai 1886. Die Zusammenkunft von Bayonne. Das französische Staatsleben und Spanien in den Jahren 1563–1567, Straßburg 1889. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 152. Ebenda, S. 165. Albert (1890–1914), Erich jun. (1891–1944), Heinrich (geb. u. gest. 1892), Gerta (eigentlich Gertrud, 1897–1986) und Otto (geb. 1905). Gaspard von Coligny, sein Leben und das Frankreich seiner Zeit, Bd. 1, Stuttgart 1892.

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schaftsgeschichte einbezog und damit „historiographisch der Beginn von etwas Neuem“15 war. 1892 erschienen, sorgte dieses Buch neben der Protektion Treitschkes dafür, dass Marcks noch Ende November desselben Jahres einen Ruf aus Freiburg im Breisgau erhielt, wo er ab Ostern 1893 als Ordinarius für Mittlere und Neuere Geschichte wirkte. Seine Antrittsvorlesung über Philipp II. von Spanien war hier noch Programm, doch sollte sein Forschungsinteresse in Leipzig, wo er bereits ein Jahr später den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte übernahm, eine deutliche und dauerhafte Richtungsverschiebung erfahren, auch wenn ein vierstündiges Kolleg über die Geschichte der Gegenreformation im westlichen Europa Bestandteil seines Lehrprogramms blieb. Größere Aufmerksamkeit widmete Marcks zukünftig der englischen Geschichte, beginnend mit einer schmalen Biographie Königin Elisabeths I. von 189716, die ebenfalls wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragen thematisiert. Was ihn jedoch schon seit Anfang der 1890er Jahre zunehmend beschäftigt hatte und dann von der Mitte des Jahrzehnts an bis zu seinem Lebensende ganz im Vordergrund seiner Arbeit stand, war die Geschichte Preußen-Deutschlands und seiner führenden Persönlichkeiten, insbesondere im 19. Jahrhundert. Innerlich hatte sich Erich Marcks Mitte der 1880er Jahre „an der sozialen Idee und an Bismarck aufgerichtet und persönlich gefestigt“17. Als größte staatliche Aufgabe erschien ihm in dieser Zeit die Durchführung von Sozialreformen, aus Mitleid und Verantwortungsgefühl, aber auch zur vorbeugenden Lenkung und Kanalisierung der Begehren von Unterschichten und Sozialdemokratie, die seiner Ansicht nach dazu erzogen werden sollten, sich in die bestehende Ordnung zu integrieren. Kanzler Bismarck, der seit seiner ,konservativen Wende‘ von 1878 eine Sozialpolitik betrieb, die entsprechend zu wirken schien, geriet vor diesem Hintergrund – ebenso wie das gesamte Kaiserreich – zum großen Idealbild des jungen Historikers, als „nicht nur ein bedeutender Staatsmann, nicht nur der Begründer des Reichs, sondern der Stifter einer Welt, im Sinne einer neuen Orientierung des menschlichen Daseins und einer Verkündung neuer Werte“18. Nicht von ungefähr legte Marcks 1888 in seinem ersten Berliner Kolleg über Ludwig XIV. den Schwerpunkt auf dessen Wohlfahrtsgesetzgebung, in der er Parallelen zu den Bismarckschen Reformen sah. Im Frühjahr 1893 durfte er den Altkanzler für zwei Stunden in Friedrichsruh besuchen; seine Aufzeichnungen über dieses Treffen zeugen von einer „großen Verehrung für Bismarck“19. Nach eigenen Aussagen bereits von seinen Berliner Kollegen20 für die Geschichte Preußens eingenomNordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 209. Königin Elisabeth von England und ihre Zeit, Bielefeld/Leipzig 1897. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 18. Pierre Wenger, Grundzüge der Geschichtschreibung [!] von Erich Marcks, Affoltern am Albis 1950, S. 101 (Hervorhebungen im Original gesperrt). 19 Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 241, Anm. 1, über Bei Bismarck am 14. März 1893, veröffentlicht in Männer und Zeiten (s. Anm. 32), 1. Au. 1911, Bd. 2, S. 31–52. 20 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Karl Stählin nennt in diesem Zusammenhang Friedrich Meinecke, Otto Hintze, Gustav Schmoller, Reinhold Koser und Albert Naudé. Karl Stählin, Erich Marcks zum Gedächtnis, in: Historische Zeitschrift 160 (1939), S. 496–533, hier S. 502. 15

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men, gelangte Marcks dann 1895 endgültig in sein neues Arbeitsfeld: Für die Allgemeine Deutsche Biographie übernahm er den Artikel über Kaiser Wilhelm I., den der verstorbene Heinrich von Sybel nicht mehr hatte ausarbeiten können. Dieser Beitrag nahm monographische Ausmaße an und erschien 1897 zugleich auch in eigenständiger, bereits erweiterter Form21. Wenngleich hier naturgemäß die Beschreibung von Leben und Wirken des Kaisers im Mittelpunkt stand, verhehlte der Verfasser doch nicht, dass dem preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzler als eigentlich gestaltender Persönlichkeit sein Hauptinteresse galt. „Marcks’ ganze Bismarckauffassung in ihrem Kern“22 zeigte sich dann schon kurz darauf in einer Untersuchung23 über die Memoiren Bismarcks, die er unmittelbar nach dessen Ableben verfasste: monarchische Gesinnung, maßvolles, realpolitisches Handeln nach außen und machtvolles Regieren im Innern, dem geeinten Reich bisweilen fremdes Preußentum24 und Religiosität kennzeichnen hier den Altkanzler. Trotz aller Bewunderung vermied Marcks jedoch bewusst eine undifferenzierte Parteinahme, hinterfragte etwa kritisch Bismarcks Aussagen zur Entstehung des Kriegs von 1870/71, auch wenn er diesen als unverzichtbaren Schritt zur Reichsgründung ansah25. Der geeinte Staat bildete für ihn die essentielle Grundlage für Macht und Selbstbehauptung der Deutschen, wie er nicht müde wurde zu betonen, und so markieren in seinem Werk immer wieder die Jahre 1871 und 1878 gemeinsam die alles entscheidende Zäsur der jüngeren deutschen Geschichte. Zum Wintersemester 1901/02 gelangte Marcks auf den Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Heidelberg. Hier vor allem verfasste er den ersten Band einer großangelegten Bismarck-Biographie, nachdem ihm der älteste Sohn des Kanzlers, Herbert von Bismarck, seit 1901 Zugang zum Archiv der Familie gewährt hatte. Schon im Herbst 1907 wechselte er erneut seinen Wirkungsort und ging als Lehrstuhlinhaber für Geschichte an die neugegründete Wissenschaftliche Stiftung in Hamburg, wo schließlich 1909 „Bismarcks Jugend 1815–1848“26 erschien. Geschrieben um der „Erkenntnis und Veranschaulichung“ einer „großen Persönlichkeit“ willen27, mit der Absicht, inneres Werden und Handeln des späteren Reichsgründers umfassend zu beschreiben und zu erklären, finden sich hier – Kaiser Wilhelm I., München/Leipzig 1897; vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 42 (1897), S. 517–692. Aufgrund der Einbeziehung von Sybels Vorarbeiten zunächst weitgehend ohne Nachweise, wurde dieses Buch von Marcks in kurzer Zeit mehrfach überarbeitet und quellenmäßig ergänzt. Vgl. Stählin, Erich Marcks (Anm. 20), S. 505, über die dritte, mit einem kritischen Anhang versehene Auage von 1898. 22 Stählin, Erich Marcks (Anm. 20), S. 507. 23 Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen. Versuch einer kritischen Würdigung, Berlin 1899. Weitere nach Bismarcks Tod aus Gedenkreden entstandene Aufsätze Marcks’ finden sich in dem von ihm gemeinsam mit Gustav Schmoller und Max Lenz herausgegebenen Sammelband Zu Bismarcks Gedächtnis, Leipzig 1899. 24 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Wenn Marcks in dieser Untersuchung Bismarcks Bedeutung für die Nachwelt als „Verkörperung von Nation und Einheit“ (Nordalm, Historismus und moderne Welt [Anm. 1], S. 236) betonte, geschah dies in eher politisch-didaktischer Absicht – ein später verstärkt hervortretendes Element in seiner Arbeit, auf das noch einzugehen sein wird. 25 Vgl. Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen (Anm. 23), S. 92–96. 26 Bismarck. Eine Biographie. Bd. 1: Bismarcks Jugend 1815–1848, Stuttgart 1909. 27 Aus dem Vorwort zitiert nach der 19. Auage, Stuttgart–Berlin 1939, S. XXIV. 21



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beispielhaft für Marcks’ genuin geschichtswissenschaftliche Arbeiten – die dezidierten Werturteile in erster Linie im Vorwort: Bismarcks „Dasein war so groß, in sich so gewaltig, für sein Volk so umfassend bedeutungsreich, daß an ihm alles ... historisch wertvoll ist“28. Auch in diesem Buch „wechseln ... nach der ... so souverän von Marcks beherrschten Kunstgattung der historischen Biographie die rein der persönlichen Entwicklung zugehörigen Teile mit denen der allgemeinen Zeitentwicklung als dem unentbehrlichen Hintergrund“29. Wenn Marcks dabei der Rückbesinnung Bismarcks auf das – evangelische – Christentum einen besonderen Stellenwert einräumte, ist zu bemerken, dass er in seinen Publikationen zwar immer wieder der Hoffnung Ausdruck gab, die protestantischen (Geistes-)Tugenden möchten in der deutschen Gesellschaft vorbildhaft wirken, zugleich aber für Harmonie zwischen den Konfessionen warb30. Mit „Bismarcks Jugend“ jedenfalls war „der Anfang einer ernsthaften Bismarckforschung – jenseits von hagiographischer Verklärung einerseits und politisch grundierter Polemik andererseits – ... gemacht“31.

III. Seit 1910 auch Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift, legte Marcks im Folgejahr erstmals die zweibändige Aufsatzsammlung „Männer und Zeiten“32 vor, in der er einen Querschnitt seiner bis dahin veröffentlichten kleineren Arbeiten bot: In der beschriebenen Manier erarbeitete Aufsätze über spanische, französische, englische und deutsche historische Persönlichkeiten und ihre Zeit vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, mit Schwerpunkt auf dem deutschen 19. Jahrhundert und der Bismarck-Ära, Nachrufe auf unlängst verstorbene, berühmte deutsche Historiker – aber auch ganz anders akzentuierte Vorträge zur Weltpolitik seiner Zeit, auf die noch einzugehen sein wird. Ab der dritten Auage (1912) veränderte Marcks die Zusammenstellung dieser Werkschau immer wieder, um ihren repräsentativen Charakter zu wahren und seine aktuellen Anliegen zu berücksichtigen; die letzte von ihm besorgte Fassung erschien 192233. Der Titel „Männer und Zeiten“ kann als Hinweis auf Marcks’ differenzierte Vorstellungen von den treibenden Kräften in der Geschichte verstanden werden. Unangesehen seines starken Zugs zur Biographie ging es ihm vor dem Hintergrund der inneren Problemlagen 28

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Ebenda, S. XXI. Stählin, Erich Marcks (Anm. 20), S. 511. So etwa in Luther und Deutschland. Eine Reformationsrede im Kriegsjahr 1917, München 1917, oder noch in seinem Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation für die Propyläen-Weltgeschichte von 1930 (s. Anm. 85). Hans-Christof Kraus, Bismarck im Spiegel seiner Biographien, in: Bernd Heidenreich/Hans-Christof Kraus/ Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Bismarck und die Deutschen, Berlin 2005, S. 143–155, hier S. 144. Männer und Zeiten. Aufsätze und Reden zur neueren Geschichte, 2 Bde., Leipzig 1911. Zur Zusammensetzung der einzelnen Auagen (vgl. das Literaturverzeichnis) im Detail siehe Fritz Hartung, Gedächtnisrede auf Erich Marcks, in: Jahrbuch der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1939, Berlin 1940, S. 167–174, hier S. 171.

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des Reichs in den 1880er Jahren in allen seinen Arbeiten immer auch um „den Anteil der verschiedenen Kräfte am Sosein der Wirklichkeit: geistige Strömungen, Persönlichkeiten, politische Interessen, soziale Bewegungen und Forderungen, wirtschaftliche Entwicklungen und Bedürfnisse“, wobei er die Frage nach den „Kräfte[n,] die Geschichte gemacht haben ..., nicht selten zugunsten der Strukturen beantwortet[e]“34. Stets war er darum bemüht, „die historischen Momente herauszuheben, zu denen der Staat mit einer reformerischen wirtschaftlichen und sozialen Politik ... leitend und zusammenfassend eingriff“35. Doch ist „nirgendwo zu sehen“, dass diese Prägung, seine „Bejahung von Bismarcks Reichsgründung oder seine Orientierung an Preußen und dem Protestantismus ihn daran gehindert hätten, gerecht und mit Verständnis auf die historischen Phänomene [und Akteure] zu blicken“36 und zu versuchen, den Verlauf der Geschichte zu erklären. Auch sonst erfüllt Marcks nicht die Bedingungen, die es rechtfertigen würden, ihn – wie bis in die jüngste Zeit geschehen – als Vertreter der sogenannten ,Ranke-Renaissance‘ einzustufen37. Angemessener erscheint vielmehr seine „Deutung ... als eines Historikers, der die Vermehrung und Differenzierung der Perspektiven seines Fachs seit den 1880er Jahren nicht nur mitvollzog, sondern wesentlich betrieb“38. Mit seinem individuell-integrativen Ansatz stieß Marcks jedenfalls eher bei konservativen Historikern wie Max Lenz, Hermann Oncken oder Hans Delbrück auf Ablehnung, weniger bei Modernisierern wie etwa Gustav Schmoller oder Karl Lamprecht, der Marcks’ Berufung nach Leipzig gefördert hatte und in seiner Hoffnung auf Aufgeschlossenheit seines Protegées für seine eigene Arbeit zunächst auch nicht enttäuscht worden war39. Grundsätzlich respektierte Marcks aber jegliches fachliche Können und versuchte mit den Vertretern beider Pole, zwischen denen er sich bewegte, im Sinne gerechten Anerkennens überzeugender Argumente zusammenzuarbeiten40. 34

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Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 12 und 380. Ebenda, S. 213. Ebenda, S. 229. „Er ist nicht diplomatiegeschichtlich orientiert, er blickt nicht gebannt auf die Aktionen der Staaten, ... er kennt keinen dogmatischen Primat der Außenpolitik und er deutet den Imperialismus nicht aus Rankes Konzept der ,Großen Mächte‘“, ist darüber hinaus „höchst skeptisch gegenüber der Wirkmächtigkeit des bloß Ideellen in der Geschichte“ (ebenda, S. 385 und 379). Ursprung der fragwürdigen Zuordnung Marcks’ ist die Arbeit von Hans-Heinz Krill, Die Rankerenaissance. Max Lenz und Erich Marcks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1880–1935 (Veröffentlichungen der Berliner Historischen Kommission beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, 3), Berlin 1962. Aufgenommen bzw. weiterverfolgt wurde Krills Sichtweise in der Folge etwa von Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971, und Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 174. Lamprechts „Neuerungssucht und Überheblichkeit“ wurden Marcks freilich mit der Zeit zuwider, ebenso wie seine dominierende Methode „des Konstruierens, des Schematisierens, des Systematisierens“ (ebenda, S. 189 und 85 f.), so dass es 1901 zum Bruch kam. Vor diesem Hintergrund ist es auch verständlich, dass er nicht nach der Etablierung einer spezifischen akademischen ,Schule‘ strebte. „Ihm genügte vollauf die Freude, jeden unter seiner gütigen Anteilnahme

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IV. Seit 1890 stellte Bismarcks Arbeit für Marcks auch den Beurteilungsmaßstab aller Regierungstätigkeit dar, so dass er mit der Zeit zum desillusionierten Kritiker Kaiser Wilhelms II. wurde, dessen Willen zur Fortentwicklung der Bismarckschen Sozialpolitik er zunächst noch positiv vermerkt hatte. Die Grunderfordernisse innenpolitischen Handelns standen für ihn fest, und er verband damit den Wunsch nach einer von parlamentarischen Kräften unabhängigen, machtvollen Regierung im Reich. Die politischen Parteien maß er immer wieder neu daran, inwieweit sie in der gegenwärtigen Situation der Erfüllung der von ihm als vordringlich angesehenen Staatsaufgaben förderlich waren. Öffentlich vernehmen ließ Marcks vor dem Krieg indes, dass der im Guten Einuss nehmende Staat für ihn nur die eine Seite der Medaille war. Im Vortrag „Goethe und Bismarck“41 (1911) stellte er das 18. und das 19. als von Geist und Persönlichkeit einerseits, Staatsmacht und Allgemeinheit andererseits unterschiedlich stark geprägte Jahrhunderte deutscher Geschichte gegenüber. Beide Pole müssten in der Gegenwart vereinigt, das durch die Reichseinheit und den damit verbundenen Machtzuwachs des Staates entstandene Übergewicht der einen Seite ausgeglichen werden; dieser Wunsch sei auch in der Gesellschaft seit etwa 1880 real vorhanden42. Als seiner Erfüllung förderlich wertete Marcks die zeitgenössischen Entwicklungen auf dem Gebiet von Kunst und Literatur, die er etwa in der Tätigkeit des Hamburger Kunstpädagogen Alfred Lichtwark auch im Sinne einer integrierenden Erziehung der Massen angewandt sah, an der er sich durch seine freundschaftliche Beziehung zu Lichtwark beteiligt fühlte43. Größeres Interesse zeigte Marcks in der Öffentlichkeit freilich für die äußeren Verhältnisse des Reichs. 1899 unterzeichnete er mit anderen bedeutenden Geisteswissenschaftlern den Gründungsaufruf der „Freien Vereinigung für Flottenvorträge“, da er von der Unerlässlichkeit deutscher Weltpolitik überzeugt war. Wenn er sich auch nicht an den Vorträgen der Vereinigung beteiligte, fielen doch in diese Zeit seine ersten einschlägigen, öffentlichen Reden, die er – wie manche seiner Kollegen – hielt, um auf einen größeren Zuhörerkreis didaktisch einzuwirken, die publiziert wurden und durch ihre Veröffentlichung auch in den

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auf seine Art wachsen und sich entwickeln zu lassen“, hob Karl Stählin nach dem Tod seines Lehrers hervor (Stählin, Erich Marcks [Anm. 20], S. 531). Weitere bedeutende Schüler Marcks’ waren Willy Andreas – seit 1921 auch sein Schwiegersohn –, Werner Frauendienst, Karl Alexander von Müller, Otto Graf StolbergWernigerode und Wolfgang Windelband. Goethe und Bismarck. Festvortrag, gehalten in der 26. Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar am 3. Juni 1911, in: Goethe-Jahrbuch 32 (1911), S. 1–26. So Marcks 1914 in: 1814, 1864, 1914. Rede zur Reichsfeier der Nationalen Vereine, gehalten zu München am 16. Januar 1914, in: Süddeutsche Monatshefte, März 1914, S. 734–744. Vgl. auch seine Gedenkrede auf den noch vor Kriegsausbruch verstorbenen Lichtwark: Alfred Lichtwark. Gestorben zu Hamburg am 13. Januar 1914. Ein Gedenkblatt, in: Velhagen und Klasings Monatshefte, April 1914, S. 625–630.

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„Männern und Zeiten“44 Breitenwirkung erlangen konnten. Wenngleich Marcks hier die Vermittlung allgemeiner Erkenntnisse über die Geschichte anstrebte, so lenkte doch diese „Intention sein historisches Interesse in bestimmte Bahnen und setzt[e] zugleich auch dem universalen historischen Verstehenwollen Grenzen“45. In diesen Reden46 der Vorkriegszeit kennzeichnete Marcks imperialistische Politik als den Ausdruck gesteigerter Macht eines Staatswesens, das die starken sozialen und wirtschaftlichen Bewegungen in seiner Gesellschaft nach außen hin ableite und so gewissermaßen mit seinen Aufgaben wachse; schon Bismarcks Kolonialpolitik der 1880er Jahre sei vor diesem Hintergrund zu sehen. Das Reich könne sich den Tendenzen der Weltpolitik nicht entziehen, müsse seine wirtschaftlichen Interessen – und nur diese – wahren. Notwendig sei daher ein neues Weltgleichgewicht, inakzeptabel die Vormachtstellung Englands. Marcks plädierte in diesem Zusammenhang für Verständigung und äußerte sich bewundernd etwa zur gesellschaftlichen Integrationsleistung des englischen Staates, unterstellte diesem aber auch die feste historische Maxime einer „einkreisenden Politik gegen den jeweils stärksten europäischen Konkurrenten“47, und ebenso zeittypisch stellte er germanische (als überlegene) und romanische Welt holzschnittartig einander gegenüber. Er rief zur Vermeidung eines bewaffneten Konikts auf, zeigte jedoch zugleich eine „mangelnde Scheu vor dem Krieg“48, den er – wie nahezu alle deutschen Professoren – als der Einordnung des Individuums in den Staat förderlich wertete und schätzte. Beruich kam es für Marcks unmittelbar vor dem Krieg noch einmal zu Veränderungen. Zu Beginn des Jahres 1913 lehrte er für einige Monate als erster Gastprofessor im Rahmen der „Schiff Lectureships for the Promotion of German Culture“ der Cornell-Universität in Ithaka, USA. Im April zurückgekehrt, folgte er dann im Herbst einem Ruf nach München. Hier, auf dem Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität, wollte er im Sinne der Integration Bayerns in das Reich wirken und schlug aus diesem Grund auch ein im Frühjahr 1914 eintreffendes Angebot aus Freiburg aus. Lieber hätte er freilich die zur selben Zeit vakante Nachfolge Max Lenz’ in Berlin angetreten. Offiziell begründete die Berliner Berufungskommission, die am 30. Dezember 1913 über die Kandidatenliste befand, ihren Verzicht auf Marcks geschlossen damit, dass dieser München moralisch verpichtet

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Bis auf wenige Ausnahmen haben alle in diesem Beitrag zitierten, eigenständig oder als Zeitschriftenartikel veröffentlichten Reden und Aufsätze Marcks’ auch in die Männer und Zeiten (Anm. 32 f.) Eingang gefunden; ihre Aufnahme in dieses Sammelwerk wird daher nicht eigens angemerkt. So Wenger, Grundzüge der Geschichtschreibung (Anm. 18), S. 130, ausgehend vom Beispiel Marcks über die Problematik einer engen persönlichen Bindung an die Geschichte generell. Im Kern waren dies Deutschland und England in den großen europäischen Krisen seit der Reformation, Stuttgart 1900 (gehalten vor deutschem Publikum in London), Die imperialistische Idee in der Gegenwart, Dresden 1903 (gehalten in Dresden) und Die Einheitlichkeit der englischen Auslandspolitik von 1500 bis zur Gegenwart, Stuttgart 1910 (gehalten in Berlin). Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 257. Ebenda, S. 270.

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sei49. Tatsächlich brachten in den Beratungen nur Max Lenz und Gustav Schmoller dieses Argument vor, und dies nicht einmal vorrangig. Otto Hintze gab zu Protokoll, dass Marcks – ein „glänzender Dozent“ und Wissenschaftler – sich keineswegs an München gebunden fühle und überzeugt sei „in Berlin im Grösten wirksam w[erden] zu können“. Für Lenz dagegen war Marcks zwar ein „eleganter Redner, aber schwacher Historiker“ und viel zu modern (!) in seinen Ansichten, wie „Bismarcks Jugend“ gezeigt habe. Für Dietrich Schäfer war Friedrich Meinecke „der größere Gelehrte“, und auch Schmoller äußerte sich in diesem Sinne. Keine geringe Rolle spielten bei der Entscheidung offenbar die im selben Atemzug geäußerten, wenig schmeichelhaften Ansichten über Marcks’ Persönlichkeit: Er habe „allerd[ings] etwas weiches“ (Lenz), sei gar ein „[u]ngew[öhnlich] feiner, aber weicher Mensch, ohne rechtes Rückgrat“ (Schmoller), wohingegen Meinecke „die festere Natur“ besitze (Schäfer)50.

V. Der Kriegsbeginn im August 1914 stellte die alte Welt und den Bismarckschen Staat prinzipiell in Frage und verunsicherte Marcks, dessen Stimmung sich weiter verdüsterte, als noch vor dem Winter sein ältester Sohn fiel. Das öffentlich-didaktische Element seiner Tätigkeit gewann nun ein Übergewicht, das es nahe legt, zwischen dem „in modernen Strömungen des Faches stehenden Historiker vor 1914“ und dem „politisch redenden Professor, der er ... vor allem seit 1914“ war, zu unterscheiden51. Noch im ersten Kriegsjahr äußerte er Enttäuschung über die Feindschaft Großbritanniens und wiederholte seine schon zuvor öffentlich gemachten Ansichten über Imperialismus, Mächtegleichgewicht und Krieg52. 1915 wurde der Gegner für ihn dann endgültig zum Hassobjekt: Machtgierig und gewalttätig habe England stets beabsichtigt, Deutschland zu unterjochen und seit 1900 versucht, den Konkurrenten durch Einkreisung auszuschalten. Immerhin zeigte Marcks auch jetzt in der Sache Verständnis für den Feind, der aufgrund seiner Abhängigkeit vom Seehandel gar nicht anders agieren könne53. 1916 betonte er, dass das Reich auch im Krieg nur nach Selbstbehauptung strebe, so, wie es in der Vergangenheit eben nur aus wirtschaftlichen

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Undatierter Entwurf der Berufungsempfehlung mit Listung der in Frage kommenden Kandidaten (1. Meinecke, 2. Oncken, 3. Brandenburg); AHUB, Phil. Fak. 1466, Bl. 221–230, hier Bl. 221–221’. 50 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Protokoll der Kommissionssitzung ebenda, Bl. 219–220’. Mitglieder der Berufungskommission waren neben den genannten auch die Professoren Delbrück, Schiemann, Tangl, Meyer und Roethe, die dem von Schmoller vorgeschlagenen offiziellen Ablehnungsgrund ebenfalls zustimmten. 51 Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 242. 52 Wo stehen wir? Die politischen, sittlichen und kulturellen Zusammenhänge unseres Krieges. Eine Rede (Der deutsche Krieg, 19), Stuttgart 1914. 53 Die Machtpolitik Englands, in: Deutschland und der Weltkrieg, hrsg. von Otto Hintze u.a., Leipzig/Berlin 1915, S. 297–322.

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Gründen Kolonialpolitik betrieben habe54. Dabei nahm Marcks in allen seinen Kriegsreden hinsichtlich möglicher Eroberungen eine Mittelposition ein: Er hielt die Schaffung einer Hegemonie in Mitteleuropa und den Erwerb weiterer Kolonien für ausreichend, um die Sicherheit des Reichs zu gewährleisten, und plädierte in dieser Frage für Maßhalten und Abwarten. So wäre auch Bismarck verfahren, wie er 1916 gegen dessen Indienstnahme durch den Alldeutschen Verband festhielt55. Im Widerspruch dazu standen freilich öffentliche Stellungnahmen anderer Art: 1914/15 unterzeichnete Marcks die Schumacher-Denkschrift und die „Intellektuelleneingabe“ des Berliner Theologen Seeberg, die beide weitreichende Annexionen in Europa und Übersee forderten. Eigenen Aussagen zufolge wollte er die integrative Wirkung dieser und ähnlicher Aktionen unterstützen, was denn auch ihre eigentliche Funktion sei. Im selben Sinne forderte er 1916 – vor dem „Deutschen Nationalausschuss“, der von gemäßigten Kräften gegründet worden war, um gegen die Kriegsziele der Alldeutschen Front zu machen –, das Reich müsse einen Sieg-Frieden anstreben, um gegenüber den Feinden keine Schwäche zu zeigen56, und gleichermaßen wollte er auch seine eigene Mitgliedschaft im Alldeutschen Verband verstanden wissen57. Die genuin politische Bedeutung und zumindest potentiell auch Wirkung seiner Äußerungen und Handlungen negierte er, beseelt von dem Wunsch, „zu helfen, die seit August [1914] erlebte innere Einigung in den Frieden hinüberzuretten“58. 1916 wurde Marcks Sekretär der Historischen Kommission bei der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der er seit 1914 angehörte59. Sein historiographisches Œuvre erweiterte er in dieser Zeit maßgeblich durch ein Werk, das „Lebensbild“60, eine sehr 54



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Der Imperialismus und der Weltkrieg. Vortrag, gehalten in der Gehe-Stiftung in Leipzig am 9. Oktober 1915, Leipzig/Dresden 1916. Vom Erbe Bismarcks. Eine Kriegsrede, Leipzig 1916. Vgl. zu Marcks gemäßigter Haltung auch seinen Aufsatz Neue Horizonte, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 9 (1915), S. 409–426. An der Schwelle des dritten Kriegsjahres. Rede zum 1. August 1916, auf Einladung des Deutschen Nationalausschusses gehalten in München, Leipzig–München 1916. Dass Marcks 1916 zusätzlich zu seinen zahlreichen zivilen Ehrenzeichen mit dem bayerischen Ludwigskreuz schließlich auch einen Kriegsorden erhielt, wird indes als Anerkennung für sein Engagement im Ganzen zu deuten sein. Im Laufe seiner Karriere waren ihm bereits der sächsische Orden für Verdienst und Treue 4. Klasse, der badische „Zähringer Löwe“ 4. Klasse mit Eichenlaub, der preußische Rote Adler-Orden 4. Klasse und der bayerische Michaelsorden 3. Klasse verliehen worden, außerdem die Titel eines Großherzoglich Badischen Geheimen Hofrats und eines Königlich-Bayerischen Geheimen Rats. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 300. Marcks war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und der Historischen Kommission Badens. Im Frühjahr 1922 wurde er überdies in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen, und im Sommer 1936 wählte ihn schließlich auch die Akademie der Wissenschaften in Wien zu ihrem (korrespondierenden) Mitglied. Otto von Bismarck. Ein Lebensbild, Stuttgart/Berlin 1915. Zum 100. Geburtstag des Reichskanzlers gab er außerdem zwei Sammelbände heraus: Erinnerungen an Bismarck. Aufzeichnungen von Mitarbeitern und Freunden des Fürsten mit einem Anhang von Dokumenten und Briefen. In Verbindung mit A. von Brauer gesammelt, Stuttgart 1915 (mit Karl Alexander von Müller); Das Bismarckjahr. Eine Würdigung Bismarcks und seiner Politik in Einzelschilderungen, Hamburg 1915 (mit Max Lenz).

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knappe, doch zeitlich umfassende Biographie Bismarcks, die er 1915 auf der Grundlage von Notizen zu früheren Vorträgen verfasst hatte. Marcks bot hier keine grundsätzlich neue Sicht der Dinge, zeigte jedoch, dass er nicht für eine Konservierung des einmal Erreichten stand, indem er, „wie auch sonst seine Generation, in dem Bismarck nach der Entlassung denjenigen [begriff], der die Aufgaben der neuen Zeit vor allem in Sozialpolitik und Weltpolitik in ganz begreiicher Weise nicht mehr produktiv erfassen konnte“61. Dabei glitten seine Formulierungen jetzt zunehmend ins Blumig-Unscharfe, kompensierte er seine Verunsicherung durch eine schwülstige Kraftrhetorik, etwa wenn er Bismarcks Tugenden beschrieb62, was sich hier zugleich mit seiner Intention traf, einen „Beitrag zur nationalpolitischen Ertüchtigung, zur inneren moralischen Aufrüstung und zum Ansporn für die eigenen Landsleute“ 63 zu leisten. Privatim sprach sich Marcks noch 1917/18 für die Mobilisierung aller Kräfte im Krieg aus und gegen die sich mehrenden offiziellen Friedensbotschaften, die die Gesamtheit nur schwächten. Innenpolitisch hielt er in dieser Zeit „Fortentwicklungen der Verfassung für notwendig“, betonte jedoch zugleich „die Priorität des Krieges“64, da es gelte, den Nationalstaat als Grundlage für Kultur und Gesellschaft unbedingt zu erhalten. Dabei hatten sich schon zu Kriegsbeginn Arbeiterschaft und Sozialdemokraten mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten in seinen Augen fähig gezeigt, neben die traditionellen Träger von Staat und Gesellschaft zu treten – was sich dann freilich mit der Revolution von 1918, die er als den Staat schwächend ablehnte, wieder änderte.

VI. Seine mehrbändig angelegten biographischen Werke setzte Marcks nach 1918 nicht mehr fort65. „Er erkannte die Vorkriegsstimmung als ... abhanden gekommene Bedingung seines historischen Schreibens“ und konnte in der Folge „aus einer tragischen Verwachsenheit mit dem Alten zum Neuen kein Verhältnis finden“66, ganz anders als etwa sein liberaler Freund 61 62



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Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 231. Vgl. Otto von Bismarck (Anm. 60), S. 253 f.: „Bismarck war der Mensch der Tat. Er brauchte die inneren Gluten, die in ihm brodelten und drohten, zum Schmelzen von Stahl; er sprühte sie achtlos aus über die Welt ringsum, und ließ die zerbrechenden Kräfte in Flammen aus sich hervorgehen ... Das Stärkste in Bismarck blieb das Stärkste im neuen Deutschland: die auf das Handeln gerichtete, gesunde Kraft.“ Kraus, Bismarck im Spiegel seiner Biographien (Anm. 31), S. 146; vgl. dazu Otto von Bismarck (Anm. 60), S. VIII. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 312. Seine Archivstudien zur Fortsetzung der Bismarck-Biographie gelangten nicht über das Jahr 1851 hinaus. Zu Lebzeiten veröffentlichte Marcks daraus lediglich Aus Bismarcks Abgeordnetenjahren (1849–51). Persönliches und seelisches Leben, in: Der Greif, Dezember 1913, S. 220–233. Aus seinem Nachlass stellte dann sein Schwiegersohn Willy Andreas einen schmalen zweiten Band von Bismarck. Eine Biographie zusammen: Bismarck und die deutsche Revolution 1848–1851, Stuttgart/Berlin 1939. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 20 und 383. Dies galt über den politischen Bereich hinaus auch für den der zeitgenössischen Kunst: Es „waren als seine ,Heiligen‘ übriggeblieben: Kalckreuth,

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Friedrich Meinecke. Das Verhältnis der beiden hatte sich schon im Krieg aufgrund politischweltanschaulicher Differenzen eingetrübt und verschlechterte sich weiter, da Meinecke der Republik aufgeschlossener gegenüberstand. Schon die Annahme des Versailler Vertrags war für Marcks ein Zeichen der Untauglichkeit weil Machtlosigkeit des neuen Systems gewesen, und seine Prägung brachte ihn nun sogar zu einer schiefen Gewichtung politisch motivierter Verbrechen: Anschläge auf Repräsentanten der Linken missbilligte er lediglich als unklug und überüssig – ebenso wie auch den Kapp-Putsch und später den Hitler-Putsch –, während er Gewalt von links als staatsgefährdend und moralisch verwerich verurteilte. Dennoch ist seine Haltung zur Republik in dieser Zeit vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er, schon vor dem Krieg „bereit, einen Parlamentarismus anzuerkennen, so er denn leistungsfähig war“67, „unausgesetzt um ein befriedigendes Verhältnis zur veränderten Welt rang“68. Wenn Marcks im Januar 1919 den Aufruf deutschnationaler Hochschullehrer zur Wahl der DNVP unterschrieb, so auch hier wieder mit dem privatim gegebenen Hinweis auf eine integrative Wirkung unangesehen des konkreten Programms. Während der gesamten Weimarer Zeit blieb er konsequent auf der „Linie einer nicht parteipolitisch konservativen Haltung“69. Dabei befürwortete er zwar ein monarchisches Element im neuen Staat, nicht aber die Wiederbelebung des Kaiserreichs. Vielmehr sah er seine Aufgabe als Historiker darin, der Gegenwart das Positive im Alten zu Bewusstsein zu bringen, damit es bei der Fortentwicklung von Gesellschaft und Staat Berücksichtigung finden könnte70. Vorrangig ging es ihm – wie schon im Krieg – um den Zusammenhalt des von Bismarck geschaffenen

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Liebermann und Ludwig von Hofmann. Neuem konnte er sich nicht mehr öffnen“ (ebenda, S. 114). Thomas Mann, direkter Nachbar und Freund der Familie in München, nahm Marcks vor diesem Hintergrund sehr wahrscheinlich zum Vorbild für den entsprechend charakterisierten Geschichtsprofessor in seiner Novelle Unordnung und frühes Leid. Vgl. Jens Nordalm, Thomas Manns Unordnung und frühes Leid, Erich Marcks und Philipp II. von Spanien. Eine Beobachtung, in: Thomas Mann Jahrbuch 14 (2001), S. 225–232. Wolfgang Neugebauer, Die preußischen Staatshistoriographen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: derselbe (Hrsg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts (Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N.F., 8), Berlin 2006, S. 17–60, hier S. 57. Nordalm, Thomas Manns Unordnung und frühes Leid (Anm. 66), S. 226. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 358. Marcks’ universitäres Lehrprogramm büßte unterdessen nichts von seiner Vielfalt ein: „Die Themen seiner Vorlesungen kreisten vornehmlich um die Geschichte des 19. Jahrhunderts, die Epoche der Französischen Revolution und das Zeitalter der Reformation. Seine Übungen beschäftigten sich meist mit dem Thema der Hauptvorlesung. Neben seiner Vorlesung und der Übung hielt er [zwischen 1917 und 1922] manchmal eine zweistündige Vorlesung für Hörer aller Fakultäten, die sich mit Themen der Zeitgeschichte beschäftigte.“ Christoph Weisz, Geschichtsauffassung und politisches Denken Münchener Historiker der Weimarer Zeit. Konrad Beyerle, Max Buchner, Michael Doeberl, Erich Marcks, Karl Alexander von Müller, Hermann Oncken (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter, 5), Berlin 1970, S. 33. – Zumindest 1920 dozierte Marcks auch über Amerika im 19. Jahrhundert, mit dem Schwerpunkt auf der Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

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Staates, wie er 1921 in einem Vortrag zum 50. Jahrestag der Reichsgründung71 herausstellte, der indes auch einer grundsätzlichen Kritik der vergangenen Jahrzehnte deutscher Politik diente: Das Treiben von Weltpolitik sei gut und richtig gewesen, ihre Form jedoch falsch; im Inneren dagegen seien die Massen nicht ausreichend eingefügt worden. Der geeinte Staat mit Preußen als dem integrativen Element müsse als Kraftquell der Nation erhalten bleiben. Entsprechend hatte Marcks schon 1920 die untrennbare Verbindung der annektierten Ostprovinzen mit dem Reich betont, so wie er es dann 1924 auch in Bezug auf das (besetzte) Rheinland tat72. Wenn er unterdessen 1921 mit seinem von ihm besonders geschätzten Schüler Karl Alexander von Müller das zweibändige Sammelwerk „Meister der Politik“ herausgab – 1922/23 neu aufgelegt in drei Bänden, die „außerordentlichen Widerhall in Deutschland fanden“73 –, so mit der Intention, den gestaltenden, tatkräftigen Politiker nach Art Bismarcks als unverzichtbar auch für die Gegenwart herauszustellen. In Bayern fühlte sich Marcks angesichts der verbreiteten Abneigung gegen alles Preußische, mit dem – Landschaft, Konfession, Kultur – er sich identifizierte, zunehmend unwohl. 1920 wurde ihm indes ein Ruf nach Bonn vom sozialdemokratischen preußischen Kultusminister Konrad Haenisch verweigert, da er aufgrund seiner Stellungnahmen zur Gegenwart als Staatsdiener im besetzten Rheinland nicht tragbar schien. Marcks selbst hielt dies für eine Fehlentscheidung, verstand er sich doch als über den Parteien stehend und nur für die offenkundigen Interessen der Gesamtnation eintretend. Nach Berlin wurde er dann vom parteilosen Kultusminister Carl Heinrich Becker – der als Orientalist zeitgleich mit Marcks in Hamburg und Heidelberg tätig gewesen war – gerade auch deswegen gebeten, weil er öffentlich-erzieherisch wirken wollte. Bei den Beratungen über die Delbrück-Nachfolge nur noch von Dietrich Schäfer und Eduard Meyer abgelehnt74, wurde er im Frühjahr 1922 zum Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte75 und Direktor des Historischen Seminars

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Das Deutsche Reich von 1871 bis 1921. Rede zur Feier seines 50. Gedenktages, gehalten an der Universität München, in: Wissen und Wehr 2 (1921), S. 1–22. Ostdeutschland in der deutschen Geschichte, Leipzig 1921 (Vortrag, gehalten in München); Rheinland und Deutschland. Rede zur rheinischen Tausendjahrfeier der Universität Berlin, Berlin 1925. Scharfe antipolnische Töne, auch gegen den Staat Polen, ossen in den erstgenannten Aufsatz ein: Zeitlebens stellten die Slawen in Gestalt der Polen für Marcks ein Feindbild dar. Seit seiner Tätigkeit in Leipzig war er Mitglied im „Deutschen Ostmarkenverein“, die Posen-Politik des Kaiserreichs hatte er begrüßt. Stählin, Erich Marcks (Anm. 20), S. 520, über: Meister der Politik. Eine weltgeschichtliche Reihe von Bildnissen, 3 Bde., Stuttgart/Berlin 1922/23. Es handelt sich hier um eine Sammlung von wissenschaftlichen Kurzbiographien großer Staatsmänner aus der Zeit von der Antike bis um 1900 aus der Feder namhafter Experten. Marcks selbst steuerte einen Aufsatz über Philipp II. von Spanien bei. Schäfer führte bei den Kommissionsberatungen auch jetzt „wissenschaftlich-akademische Gründe gegen die Berufung“ Marcks’ an (Nordalm, Historismus und moderne Welt [Anm. 1], S. 342), dürfte aber ebenso wie Meyer vor allem politische Vorbehalte gegen den aus seiner Sicht nicht weit genug rechts stehenden Kandidaten gehabt haben. Zugleich erhielt Marcks einen gesonderten, unbefristeten Lehrauftrag, „die Geschichte der angelsächsischen Welt in Vorlesungen und, soweit nötig, in Übungen zu vertreten.“ Abschrift z. K. eines Schreibens des Preußischen Kultusministers vom 16.2.1922; AHUB, UK M56, Bl. 4.

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der Friedrich-Wilhelms-Universität ernannt, außerdem in die preußische Akademie der Wissenschaften berufen und überdies – wie zuvor vereinbart – zum „Historiographen des preußischen Staates“ erhoben, ebenso wie kurz darauf noch, als letzter Gelehrter überhaupt, Friedrich Meinecke. Nach dem Weltkrieg vor allem Ehrenstellung ohne besondere Aufgaben, war mit diesem Titel immerhin „das Privileg auf freien (oder doch wenigstens freieren) Zugang zur Überlieferung“ des Staates verbunden, von dem allerdings „beide Herren wohl keinen größeren Gebrauch mehr gemacht“76 haben. 1923 wurde Marcks schließlich auch Präsident der Historischen Kommission in München – und war indes froh, wieder in Preußen leben und wirken zu können.

VII. Mitte der 20er Jahre betrachtete Marcks die Republik kritisch-konstruktiv. Der Fortbestand des von Bismarck geeinten Reichs an sich war wesentlich für ihn, und Hindenburg verschränkte als Staatsoberhaupt in seinen Augen die Vergangenheit mit der Gegenwart. Den von Stresemann erwirkten Locarno-Pakt hielt er für einen richtigen, da realpolitisch zur Verbesserung der deutschen (Macht-)Stellung in Europa notwendigen Schritt, und ebenso goutierte er den Eintritt in den Völkerbund ein Jahr später. Dabei lehnte er jedoch das Bekenntnis der „Vereinigung verfassungstreuer Hochschullehrer“ zu Demokratie und Republik ab, da es denjenigen Teil der Bevölkerung verschrecke, der noch nicht mit der neuen Staats- und Gesellschaftsordnung versöhnt sei. Im Zusammenhang mit seinen öffentlichen Auftritten nahm Marcks auch jetzt für sich in Anspruch, ganz als Historiker zu reden, „der kein Politiker ist, nur ein Begleiter und kein Beeinusser der Dinge“77, nur über geschichtliche Grundbedingungen gegenwärtigen politischen Handelns informieren und belehren wolle. Ob er die gerade ihm als einem der meistgelesenen und -beachteten Autoren seiner Zeit gegebene Möglichkeit, auf die öffentliche Meinung Einuss zu nehmen, aus Widerwillen verdrängte oder aus Mangel an Selbstbewusstsein negierte, muss offen bleiben. Die Positionen, die er in seinen Vorträgen und Aufsätzen vertrat, hielt er jedenfalls nach wie vor schlicht für die den Dingen angemessene Sichtweise. Im Kern festmachen lässt sich diese an „der zentralen Veröffentlichung von Marcks in den 20er Jahren“78, dem Sammelband „Geschichte und Gegenwart“79. 1925 von ihm herausgegeben, um „durch historische Darlegung erhellend und mahnend auf die Gesinnungen /

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Neugebauer, Die preußischen Staatshistoriographen (Anm. 67), S. 22 und 58. So Marcks in Pfingstpredigt. Ein paar historische Betrachtungen, in: Geschichte und Gegenwart (s. Anm. 79), S. 159–168, hier S. 161. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 353. Geschichte und Gegenwart. Fünf historisch-politische Reden, Berlin / Leipzig 1925.

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einzuwirken“80, umfasst dieses Buch fünf Reden81, die Marcks seit 1922 vor unterschiedlichem Publikum gehalten und zum Teil bereits veröffentlicht hatte. Hier unterstrich er wie schon im „Lebensbild“ die Unfähigkeit des späten Bismarck, sich den neuen Herausforderungen der Sozial- und Weltpolitik anzupassen, lobte indes erneut die weise Selbstbeschränkung des Kanzlers als Außenpolitiker, der in den natürlichen Grenzen des Reichs zugleich dessen Machtgrenzen erkannt habe. Marcks beklagte Regionalismus und Separatismus in Deutschland als Schwachpunkte und verglich die gegenwärtige Lage mit der des Jahres 1648, das freilich auch der Ausgangspunkt für den Aufstieg des preußischen Staates als des prädestinierten Reichseinigers gewesen sei. Der Hoffnung auf einen Wiedereinstieg des Reichs in die Weltpolitik Ausdruck gebend, beschwor er die alte Rivalität zwischen England und Frankreich und forderte angesichts des unerwarteten Emporstrebens Frankreichs und Russlands – in Konkurrenz zum Kriegsprofiteur England – eine Abkehr vom lähmenden deutschen Zukunftspessimismus. Klar erkennbar waren für Marcks hier „Auswärtige Politik, Macht, Staat, Nation und Einheit ... die Gesinnungsinhalte, die der Historiker ins Neue hinüberretten soll“82 – wobei sein Hang, sich pathetisch-verwaschen auszudrücken83, sich weiter manifestierte. 1926 bekam er mehrfach die Gelegenheit, seine Sicht der Dinge auch über das neue Medium des Rundfunks zu verbreiten84. Historisch-wissenschaftlich blieb Marcks seinen überkommenen Ansichten und Perspektiven treu. 1928 emeritiert, lehrte er noch weitere drei Jahre an der Friedrich-WilhelmsUniversität und veröffentlichte 1930 in der von Walter Goetz herausgegebenen PropyläenWeltgeschichte noch einmal eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Gegenreformation85, die auf seinen Lehrveranstaltungen basierte, publizierte ansonsten aber wenig und brachte dabei inhaltlich nichts Neues86. Seine Freundschaft mit Friedrich Meinecke kühlte 80 81

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Ebenda, S. [3] (Hervorhebung im Original gesperrt). England und Frankreich während der letzten Jahrhunderte, zuerst Berlin/Leipzig 1923 (1923 gehalten in Rotterdam); Napoleon und Alexander I., zuerst in: Hamburger Übersee-Jahrbuch 1924, S. 146–166 (1924 gehalten in Hamburg); Tiefpunkte des deutschen Schicksals in der Neuzeit (1924 gehalten vor deutschem Publikum in Stockholm); Preußen als Gebilde der auswärtigen Politik (1923 gehalten in Braunlage); Pfingstpredigt. Ein paar historische Betrachtungen, zuerst in: Neue Freie Presse, 4. Juni 1922. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 349. Vgl. etwa die Ausführungen zum Ursprung der „Stärke“ Frankreichs in der Pfingstpredigt (Anm. 81): „Sie kommt aus historischen Tiefen, aus allen Erinnerungen und allem Willen, aller Überhebung, aber auch aller Hingabe der ... Volksseele herauf ... und die Wolke für unsere ganze Welt ... ist gewaltig“ (zitiert nach Marcks, Geschichte und Gegenwart [Anm. 79], S. 159–168, hier S. 163). Auf- und Niedergang im deutschen Schicksal. Fünf Rundfunkvorträge vor dem Deutschlandsender (Einzelschriften zur Politik und Geschichte, 22), Berlin 1927. Die Gegenreformation in Westeuropa, in: Walter Goetz (Hrsg.), Das Zeitalter der religiösen Umwälzung – Reformation und Gegenreformation – 1500–1660 (Propyläen-Weltgeschichte, 5), Berlin 1930, S. 219–314. In einer Reihe von Aufsätzen propagierte er dabei bis 1932 auch immer wieder – wie schon 1911 in Goethe und Bismarck (Anm. 41) – die Verbindung der „für ihn unverzichtbaren Traditionen von Macht und Staat ... mit denen von Persönlichkeit und Geist“. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 286. Vgl. etwa: Goethe und Bismarck. Das geistige und das politische Deutschland, in: Die neue Rundschau, Juli 1918, S. 865–883; Goethes Briefwechsel mit Karl August, in: Historische Zeitschrift 133 (1926), S. 41–66;

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sich weiter ab, da Marcks den wissenschaftlichen Ansatz des Kollegen als zu abstrakt und theorielastig kritisierte, ebenso wie die Arbeiten etwa Siegfried Kaehlers und Hans Rothfels’. Zugleich traten auch jetzt immer wieder Differenzen zwischen den beiden Gelehrten in der Frage der angemessenen Haltung zur Republik zutage: 1927/28 wurde in Berlin die „Historische Reichskommission“ ins Leben gerufen. Marcks hatte neben weiteren namhaften Historikern wie Meinecke, Goetz, Delbrück und Oncken bereits ihrer Vorläuferorganisation angehört, der 1920 von Reichspräsident Ebert gegründeten „Historischen Kommission für das Reichsarchiv“ in Potsdam. Diese hatte die wissenschaftliche und publizistische Arbeit des Archivs koordinieren sollen, war jedoch an finanziellen Schwierigkeiten und – mehr noch – Hemmnissen gescheitert, die den beteiligten Gelehrten von Vertretern aus Politik und Militär bereitet worden waren. Die neue „Reichskommission“ als unmittelbare Nachfolgeinstitution sollte diese Mängel beheben. „Kann man Meinecke als den geistigen Vater der Reichskommission bezeichnen, so war Walter Goetz ihr wissenschaftspolitischer Initiator“87 – beiden gemeinsam gelang es, Erich Marcks als Mitglied zu gewinnen, der prompt Meineckes Stellungnahmen für die Republik als mit dem Amt des Vorsitzenden unvereinbare, weil polarisierende Äußerungen kritisierte.

VIII. Mit dem Abrutschen der Republik in die Krise verschob sich auch die Haltung Erich Marcks’ wieder ganz in Richtung Ablehnung des parlamentarischen Systems. Kritik übte er vor allem an den Parteienkämpfen, die für ihn einem geschlossenen Einsatz aller Kräfte zum Wohle der Gesamtheit entgegenstanden, die Leistungsfähigkeit des Staates minderten88 und die Einheit des Reichs gefährdeten. Das Ende der großen Koalition unter Reichskanzler Müller im März 1930 stufte er als ein weiteres Zeichen für die Schwäche und Unfähigkeit des Systems ein. In der darauf folgenden, durch Hindenburg bewirkten Regierungsbildung sah er dann eine Parallele zu Bismarcks antiliberaler Wendung von 1880 und begrüßte das Regieren mittels Notverordnungen als richtigen Weg in der gegenwärtigen Situation. Rückblickend bewertete er die Zeit von 1930–32 weitaus positiver als die Jahre davor und sah die Phase der Präsidialkabinette als Anknüpfung an das bismarcksche Ideal einer konzentrierten, machtvollen Staatsleitung in übergeordnetem Interesse an, ja stufte sie sogar – zumindest der Form nach – als deren Fortsetzung ein, wie er in einem 1932 erschienenen Karl August von Weimar. Gedächtnisrede zur Hundertjahrfeier seines Todestages, Jena 1928; Goethe und die Politik, in: Velhagen und Klasings Monatshefte, April 1932, S. 157–164. 87 Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 13), Stuttgart 1966, S. 131. 88 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Im Oktober 1929 votierte Marcks gegen das vor allem von Hugenberg und Hitler betriebene – schließlich gescheiterte – Volksbegehren gegen den Youngplan, was seiner Auffassung von der Notwendigkeit entsprach, dem Staat als solchem nach außen hin wieder größere Handlungsfähigkeit zu verschaffen (vgl. Nordalm, Historismus und moderne Welt [Anm. 1], S. 358).

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biographischen Essay89 über Hindenburg deutlich machte. Dieser Aufsatz zeigte zugleich, dass für Marcks auch im veränderten politischen System die großen (Staats-)Männer und ihre Taten die Orientierungspunkte geblieben waren: Ebert als Bewahrer von Staat und Macht, Stresemann als erfolgreicher Außenpolitiker, schließlich Hindenburg als energischer Bekämpfer des Parteiengezänks – wobei er noch immer seiner Maxime treu blieb, „die Menschen danach zu würdigen, was sie erreichen konnten und wollten“90. Für die Nationalsozialisten, deren Aufstieg Marcks als Reaktion auf die Missstände der Gegenwart wertete, empfand er – ganz in der „Haltung ... des nationalen Bildungs­ bürgertums“91 – durchaus Sympathie, da er sie als willens und fähig einschätzte, eine positive Entwicklung des Reichs zu befördern. Gleichzeitig kritisierte er jedoch ihre Unzuverlässigkeit und ihr ungestümes, brutales Auftreten, hoffte darauf, dass Hindenburgs starke Hand und eine etwaige Regierungsverantwortung sie in die richtigen Bahnen lenken würden. Nachdem Marcks im Frühjahr 1932 einen Aufruf zur Wiederwahl Hindenburgs unterzeichnet hatte, erschien es ihm im August nur konsequent, dass der Reichspräsident eine Regierungsbeteiligung der in seinen Augen unseriösen NSDAP ablehnte, doch sollte er im Folgejahr wiederum bedauern, dass hier eine gute Gelegenheit verpasst worden sei, Hitler mäßigend an der Verantwortung zu beteiligen. Im Oktober 1932 unterzeichnete er einen Aufruf von Professoren für die Wahl Papens zum Reichskanzler. „Darin wurde der Putsch in Preußen begrüßt“ – das alte Preußen konnte für Marcks untergehen, wenn nur seine positiven Seiten in ein neues Reich übertragen werden würden – „und die Befreiung ,von der Vorherrschaft der Parlamente‘ gefordert“92. Zuletzt baute er auf die Fähigkeiten Kurt von Schleichers, für dessen Kanzlerschaft er noch nachträglich lobende Worte fand. Anlässlich der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kritisierte Marcks Hindenburg als zu alt und überfordert – für ihn die einzige Erklärung für die Aufgabe des Systems der Präsidialkabinette zugunsten des Parteiensystems, das nun in seinen Augen wieder zu erstarken drohte. Gegenüber den Fähigkeiten des neuen Regierungschefs, dessen Auftreten und mangelnde Intelligenz er nach wie vor bemängelte, zeigte er freilich „eine Skepsis, die sich gern belehren lassen“ wollte – „der gewaltsame, illiberale, maßlose Geist des Regimes [sollte] für Marcks kein wirkliches Hindernis sein ..., sich in ihm zurechtzufinden, wenn denn Leitung, Leistung, Regierung, Erfolge sich einstellten“93. Sein Ideal war nach wie vor der autoritäre Staat, der mit uneingeschränkter Befehlsgewalt und Machtbefugnis in 89



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Hindenburg als Mensch und Staatsmann, in: Oskar Karstedt (Hrsg.), Paul von Hindenburg als Mensch, Staatsmann, Feldherr, Berlin 1932, S. 39–76. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 361. Ebenda, S. 360. Jens Nordalm, Vom Staatssozialismus zum Nationalsozialismus. Der Historiker Erich Marcks (1861–1938) zwischen Bismarck und Hitler, in: Joachim Scholtyseck (Hrsg.), Universitäten und Studenten im Dritten Reich. Bejahung, Anpassung, Widerstand. XIX. Königswinterer Tagung vom 17.–19. Februar 2006, Münster 2008, S. 55–73, hier S. 66 (Titel des Aufrufs: „Für überparteiliche Staatsführung. Eine Kundgebung 250 deutscher Hochschullehrer“). Ebenda, S. 66 f.

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allen Belangen für die Wohlfahrt seiner Untertanen wirkte, und insofern zog er angesichts „einer ... strukturellen Kontinuität der Ausübung von Staatsgewalt“ eine Verbindung „von Bismarck zu Hitler“94. Wenngleich ihn der Missbrauch von Macht dabei immer wieder verunsicherte und verstörte, wertete Marcks die Auswüchse der neuen Herrschaft vor allem als Reaktion auf die Fehlentwicklungen früherer Jahre. Fühlte er sich einerseits zu schwach, um seinen von Repressionen betroffenen Freunden und Kollegen zu helfen – er beließ es, wenn überhaupt, bei aufmunternden Worten und dem Angebot der Fürsprache –, so kam es ihm doch andererseits so vor, „als habe die Weimarer Republik ihr Personal politisch selektiert, und als tue man es seit 1933 genauso, nur in der Gegenbewegung“95. Zugleich betonte er immer wieder das Unbedeutende des Einzelschicksals angesichts der zu beobachtenden Umwälzungen und – so seine kaum nachvollziehbare Ausucht – vor dem Hintergrund einer für alle gleichermaßen präsenten Gefahr, und verweigerte sich so „der Erkenntnis der klaren Schuldverhältnisse“96. Der NSDAP trat Marcks konsequenterweise nicht bei97. Als jedoch 1935 die Berliner „Historische Reichskommission“ von den Nationalsozialisten durch das „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“ ersetzt wurde, gelang es dessen Präsidenten Walter Frank, einem Schüler Karl Alexander von Müllers, für die von ihm selbst initiierte, nach Personal und Auftrag unübersehbar ideologische Zwecke verfolgende Neugründung nicht nur seinen Lehrer, sondern neben Heinrich Ritter v. Srbik auch Erich Marcks als Ehrenmitglied zu gewinnen. „Mit der Berufung von Marcks wurde – in Franks ... Worten – die Achtung bekräftigt, die das neue Deutschland vor der echten Tradition deutscher Wissenschaft empfinde“98. Marcks fühlte sich geehrt, nahm dankbar an und störte sich offensichtlich weder daran, von Frank als Aushängeschild benutzt zu werden, noch daran, sein Ehrenamt neben ausgewiesenen nationalsozialistischen Pädagogen bzw. ,Rasseforschern‘ zu bekleiden. Außenstehende Beobachter kommentierten insbesondere seine Entscheidung bestürzt „als ein Zeugnis für den moralischen Zusammenbruch einer Generation“99. Dabei „war Marcks ... einfach alt“100 und nur mehr bereit, „die Dinge gehen zu lassen, gegen die man doch nichts Fruchtbares tun“ konnte101, wie auch Friedrich Meinecke ihn sinngemäß 94

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Ebenda, S. 69. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 356. Ebenda, S. 369. Dass Marcks sein ganzes Leben hindurch entsprechend der weit überwiegenden Haltung seiner Generation antijüdische Ressentiments hegte – wovon allerdings in seinen Werken nichts zu spüren ist –, führte auch dazu, „daß er sich nach 1933 [nicht] über die Diskriminierungen empörte.“ Ebenda, S. 336 f. Auf Aufforderung des Verwaltungsdirektors der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin vom 31.08.1935 (gemäß Weisung des Reichs- und preußischen Kultusministers) erklärte Marcks mit Datum vom 15.09.1935, nicht der Partei anzugehören, aber der „nat.-soz. Opfergemeinschaft seit 9. IX. 1933“ (AHUB, UK M56, Bl. 39). Heiber, Walter Frank (Anm. 87), S. 268. Ebenda, S. 267. Ebenda, S. 574. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 372.

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einschätzte. Er selbst nahm seinen Ansehensverlust durchaus betroffen zur Kenntnis. Skeptisch gegenüber Frank und dessen ideologisch bestimmter Perspektive, verhielt er sich innerhalb des Instituts passiv, nahm keinen Einuss auf dessen Arbeit und vermied in diesem Zusammenhang auch öffentliche Äußerungen. Seine Beteiligung begründete er privatim mit Kraftlosigkeit und der diffusen Hoffnung, vielleicht doch eine Möglichkeit zur positiven Einussnahme aufrecht erhalten zu können; vor diesem Hintergrund hegte er auch den Wunsch nach fortgesetzter Mitarbeit bei der Historischen Zeitschrift. Die Bedrohung der universitären Autonomie betrachtete Marcks indes mit hinnehmendem Unbehagen – letztlich wollte er sich auch jetzt, eingeschüchtert durch die Macht der Entwicklungen, auf die beobachtende Rolle des Wissenschaftlers beschränken. Ausschlaggebend für seine grundsätzlich zustimmende Haltung gegenüber dem Regime waren unterdessen außenpolitische Erfolge wie etwa die von ihm ebenso wie von weiten Teilen des national-konservativen Bürgertums begrüßten ,Anschlüsse‘ des Saargebiets 1935 und Österreichs 1938.

IX. 1936 erschien Erich Marcks’ Alterswerk „Der Aufstieg des Reiches“102 über die deutsche Geschichte der Jahre 1807 bis 1871/78. Wenngleich er für diese schon in den 20er Jahren begonnene, zweibändige Monographie auch neu edierte Quellen heranzogen hatte, blieb er doch bei seiner überkommenen Sichtweise auf das 19. Jahrhundert, mit der durch Preußen bewerkstelligten kleindeutschen Reichsgründung als Zielpunkt aller Entwicklungen und konstitutivem Akt für das Sein allen Deutschtums, und mit Bismarck als der zentralen, den Staat formenden und führenden Persönlichkeit. Im Vorwort gab Marcks indes auch zu verstehen, dass er das ,Dritte Reich‘ in einer durch die Republik nur unterbrochenen Entwicklungslinie mit dem Kaiserreich sah, wobei es schlicht die der Gegenwart gemäße Form habe – Ausdruck „einer in den völligen Relativismus hinübergleitenden Betrachtungsweise“103, die er hier ohne äußere Not öffentlich machte. Marcks’ Ansatz und sein Bemühen um Verständnis für die Kräfte, die sich vergeblich gegen die in seinen Augen zwangsläufigen Entwicklungen gewandt hatten, waren nun endgültig von der Zeit überholt und „schal geworden“, hatten „ihre Substanz verloren“104. „Kriechend vor den Tatsachen, den Erfolgen, ... keinen Augenblick sich fragend, wozu denn am Ende das Ganze gut sei, ... kein Schauder, keine Warnung, kein Bedenken; die Sprache von hohler Pracht, routinierte Satzperioden, ... 102



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Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte von 1807–1871/78, 2 Bde., Stuttgart / Berlin 1936. In der Preußischen Akademie der Wissenschaften hatte Marcks um 1930 eine Reihe von Vorträgen gehalten, die als Vorarbeiten zum Aufstieg gelten können und Einblick in den Fortgang seiner Arbeit gaben, so etwa Bismarck-Dokumente der Jahre 1862–1866 und Handschriftliche Materialien zur Geschichte Bismarcks in den 1850er Jahren (beide unveröffentlicht). Krill, Die Rankerenaissance (Anm. 37), S. 253. Golo Mann, Erich Marcks ,Der Aufstieg des Reiches‘, in: derselbe, Geschichte und Geschichten, Frankfurt/M. 1973, S. 35–39 (zuerst 1938), hier S. 37.

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prätentiöse Wortwahl, blumige Bilder, eine zwei Bände dicke Festrede“105 – so charakterisierte Golo Mann den „Aufstieg“ aus der zu Recht kritischen Perspektive des Exils. Im Herbst 1936 verlieh Hitler Marcks auf Betreiben Walter Franks den „Adlerschild des Deutschen Reiches“, ein 1922 von Reichspräsident Ebert gestiftetes, nichttragbares Ehrenzeichen in Medaillenform für Verdienste in Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft mit jeweils individueller Inschrift auf der Rückseite, in Marcks’ Fall „Dem verdienten deutschen Geschichtsschreiber“106. Im Dezember schließlich gewährte ihm Hitler eine Audienz, was Marcks ebenso freudig auffasste. „Wir haben wieder einen Staatsmann“, hatte er noch kurz zuvor gegenüber seinem Schüler Karl Stählin geäußert107; nun wollte er, offenkundig vom Regime hofiert, die Gelegenheit nutzen, persönlich dem Diktator seine Sicht der Dinge nahe zu bringen und womöglich auf ihn Einuss zu nehmen. Über einen Mittelsmann teilte er Hitler mit, „dass er wünsche, die Vergangenheit“, und damit meinte er vor allem „die nationale und die staatssozialistische Idee“ Bismarcks, „möge lebendig erhalten werden, was einen ,Widerspruch‘ gegen Maßlosigkeiten einschließe. Und mit Hitlers [zustimmender] Reaktion war er gläubig zufrieden“108, ließ sich vom ,Führer‘ blenden. Auf welche Weise ihn unterdessen das Regime instrumentalisierte, verdeutlichen zwei zeitgenössische Presseberichte, die in seine Berliner Personalakte Eingang gefunden haben: „Doch was von Anbeginn die geistige Welt des Fünfundsiebzigjährigen ... beherrschte, war die gleiche geschichtliche Erscheinung, die unsere junge Zeit verwandelt und neu gestaltet: der große geschichtliche Führer, der beispiellose Mensch. ... Weil aber Erich Marcks die Geschichte des 19. Jahrhunderts als die Geschichte des Rufs nach dem gestaltenden großen Menschen schrieb, ist sie ein Werk geworden, das gültig bleibt“, so die letzten Worte einer Besprechung des „Aufstiegs“ in der Zeitung „Der Führer“ aus Karlsruhe vom 23. November 1936109. Die Kölnische Zeitung hatte kurz zuvor (18. November) zur Verleihung des „Adlerschildes“ bemerkt: „Unsere Zeit, die aus dem Erlebnis politischer Staats- und Menschenformung auch um ein neues Geschichtsbild umfassend nationaler Prägung ringt, wird nur in solchen Historikern wahre Wegbereiter sehen können, denen Geschichtsschreibung auch immer innerer politischer Auftrag war.“ Marcks’ „psychologische Durchdringung der Menschen und Ereignisse“110, die „Gerechtigkeit des Urteils“ und die sachliche und räumliche Weite 105



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Ebenda, S. 38. Warum sich Marcks angesichts der Fülle an Auszeichnungen, die ihm in seinem Leben zuteil geworden waren, im Frühjahr 1938 offensichtlich noch danach erkundigte, ob es möglich sei, das erst zu Jahresbeginn von Hitler gestiftete „Treudienst-Ehrenzeichen“ für altgediente Beamte zu erlangen, ist unklar. Jedenfalls musste er zur Kenntnis nehmen, das diese Auszeichnung an Emeriti nur verliehen werden sollte, wenn sie noch lehrten. Bescheid in Durchschrift an Marcks von N.N., mit Briefkopf des Berliner Universitätskurators, datiert Mai 1938 (mit Blaustift diagonal durchgestrichen und mit einem unleserlichen Vermerk versehen); AHUB, UK M56, Bl. 46. Zitiert nach Stählin, Erich Marcks (Anm. 20), S. 526. Nordalm, Vom Staatssozialismus zum Nationalsozialismus (Anm. 92), S. 72. Rezension von Dr. Karl Richard Ganzer; AHUB, UK M56, Bl. 43. Im Original gesperrt gedruckte Passage.

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seiner Betrachtung seien kennzeichnend für die Auffassung des Regimes von Geschichtsschreibung111.

* „[M]an kann Marcks in die Geschichte einer verhängnisvollen Prägung der deutschen Kultur und einer verhängnisvollen Rolle der deutschen Gebildeten in der Zeit vor 1933 einschließen. Bevorzugung autoritärer Staatsformen, Hochschätzung des Militärischen, die ,Ideen von 1914‘, Demokratie-, Parlamentarismus- und Parteienkritik, Ablehnung der Weimarer Republik, machtstaatlich orientierter Nationalismus, Verteidigung der ,Persönlichkeit‘ gegen die ,Masse‘ ... : Von allem ist etwas da“112. Dabei waren seine Standpunkte zum großen Teil diejenigen vieler konservativer Gelehrter, die sich auch öffentlich entsprechend äußerten und so gewollt oder ungewollt zur Stärkung der Nationalsozialisten beitrugen. Marcks’ schon zu Lebzeiten „über das übliche Maß hinausgehende Publizität“113 dürfte jedenfalls auf die genannten Elemente und den literarischen Stil seiner Arbeiten zurückzuführen sein. Beides sprach ein breites Publikum an, das zudem zwischen der – einst, wie nicht vergessen werden sollte, innovativen, dann freilich in eine Sackgasse geratenden – genuin wissenschaftlichen Arbeit des Historikers und seinen didaktisch ausgerichteten Reden und Aufsätzen kaum unterschieden haben wird, so dass Missverständnisse und einseitige Interpretationen vorprogrammiert waren, wozu Marcks freilich selbst nicht wenig beitrug. Seine unauösliche Verhaftung mit dem Bismarckreich, seine Orientierung an Macht und Stärke und sein gespaltenes Verhältnis zur Tagespolitik ließen ihn nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs mehr und mehr zu einem widersprüchlichen Charakter werden, der offenbar nicht merken konnte oder wollte, auf welche abschüssigen Bahnen er geriet. Gegen Ende seines Lebens war ihm gleichwohl bewusst geworden, dass er mit seinen Auffassungen im Gegensatz zur spezifischen Weltanschauung des NS-Regimes stand, auch wenn dieses manche Elemente des Alten wiederbelebt hatte. Am 22. November 1938 starb Erich Marcks in Berlin. Bis zuletzt hatte er auf eine Lenkung der inneren Verhältnisse in geordnete Bahnen gehofft – und damit wie so viele seiner Generation geirrt.

Werke (Auswahl) Die Zusammenkunft von Bayonne. Das französische Staatsleben und Spanien in den Jahren 1563–1567, Straßburg 1889. – Gaspard von Coligny, sein Leben und das Frankreich seiner 111

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Anonymer Artikel; AHUB, UK M56, Bl. 44. Nordalm, Historismus und moderne Welt (Anm. 1), S. 243. Weisz, Geschichtsauffassung und politisches Denken (Anm. 70), S. 37, im Hinblick auf die Anzahl der Auagen von Kaiser Wilhelm I. (Anm. 21; letzte Auage: 91943, letzte Auage zu Lebzeiten: 81918), Bismarcks Jugend (Anm. 26; letzte Auage: 211951, letzte Auage zu Lebzeiten: 16/171915) und Otto von Bismarck (Anm. 60; letzte Auage: 261944, letzte Auage zu Lebzeiten: 241935).

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Zeit, Bd. 1, Stuttgart 1892. – Königin Elisabeth von England und ihre Zeit, Bielefeld /Leipzig 1897. – Kaiser Wilhelm I., München / Leipzig 1897. – Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen. Versuch einer kritischen Würdigung, Berlin 1899. – Bismarck. Eine Biographie. Bd. 1: Bismarcks Jugend 1815–1848, Stuttgart 1909 (Bd. 2: Bismarck und die deutsche Revolution 1848–1851, aus dem Nachlass hrsg. von Willy Andreas, Stuttgart / Berlin 1939). – Männer und Zeiten. Aufsätze und Reden zur neueren Geschichte, 2 Bde., 1. und 2. Au. Leipzig 1911; 3. Au. 1912, 4. Au. 1916, 5. Au. 1918, 6. Au. 1922; 7. Au. 1942 (postum von Marcks’ Tochter Gerta Andreas erg. u. hrsg.). – Otto von Bismarck. Ein Lebensbild, Stuttgart 1915. – Geschichte und Gegenwart. Fünf historisch-politische Reden, Berlin / Leipzig 1925. – Auf- und Niedergang im deutschen Schicksal. Fünf Rundfunkvorträge vor dem Deutschlandsender (Einzelschriften zur Politik und Geschichte, 22), Berlin 1927. – Die Gegenreformation in Westeuropa, in: Walter Goetz (Hrsg.), Das Zeitalter der religiösen Umwälzung – Reformation und Gegenreformation – 1500–1660 (Propyläen-Weltgeschichte, 5), Berlin 1930, S. 219–314. – Hindenburg als Mensch und Staatsmann, in: Oskar Karstedt (Hrsg.), Paul von Hindenburg als Mensch, Staatsmann, Feldherr, Berlin 1932, S. 39–76. – Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte von 1807–1871/78, 2 Bde., Stuttgart / Berlin 1936. – Eine nahezu vollständige Bibliographie bietet Hartung, Gedächtnisrede (vgl.u.), S. 168–174; wenige Ergänzungen dazu finden sich bei Nordalm, Historismus und moderne Welt (vgl.u.), S. 390–392.

Literatur Jens Nordalm, Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861–1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft (Historische Forschungen, 76), Berlin 2003. – Jens Nordalm, Vom Staatssozialismus zum Nationalsozialismus. Der Historiker Erich Marcks (1861–1938) zwischen Bismarck und Hitler, in: Joachim Scholtyseck (Hrsg.), Universitäten und Studenten im Dritten Reich. Bejahung, Anpassung, Widerstand. XIX. Königswinterer Tagung vom 17.–19. Februar 2006, Münster 2008, S. 55–73. – Jens Nordalm, Thomas Manns Unordnung und frühes Leid, Erich Marcks und Philipp II. von Spanien. Eine Beobachtung, in: Thomas Mann Jahrbuch 14 (2001), S. 225–232. – Pierre Wenger, Grundzüge der Geschichtschreibung [!] von Erich Marcks, Affoltern am Albis 1950. – Karl Stählin, Erich Marcks zum Gedächtnis, in: Historische Zeitschrift 160 (1939), S. 496–533. – Walter Goetz, Erich Marcks (1861–1938) zum 70. Geburtstag, in: derselbe, Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuss, hrsg. von Herbert Grundmann, Köln/Graz 1957, S. 326–328 (zuerst 1931). – Fritz Hartung, Gedächtnisrede auf Erich Marcks, in: Jahrbuch der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1939, Berlin 1940, S. 167–174. – Hans-Christof Kraus, Bismarck im Spiegel seiner Biographien, in: Bernd Heidenreich/Hans-Christof Kraus/ Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Bismarck und die Deutschen, Berlin 2005, S. 143–155. – Wolfgang Neugebauer, Die preußischen Staatshistoriographen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: derselbe (Hrsg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und

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20. Jahrhunderts (Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N.F., 8), Berlin 2006, S. 17–60. – Christoph Weisz, Geschichtsauffassung und politisches Denken Münchener Historiker der Weimarer Zeit. Konrad Beyerle, Max Buchner, Michael Doeberl, Erich Marcks, Karl Alexander von Müller, Hermann Oncken (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter, 5), Berlin 1970. – Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 13), Stuttgart 1966. – Golo Mann, Erich Marcks ,Der Aufstieg des Reiches‘, in: derselbe, Geschichte und Geschichten, Frankfurt/M. 1973, S. 35–39 (zuerst 1938). – Hans-Heinz Krill, Die Rankerenaissance. Max Lenz und Erich Marcks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1880–1935 (Veröffentlichungen der Berliner Historischen Kommission beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, 3), Berlin 1962. – Wolfgang Hardtwig, Neuzeit-Geschichtswissenschaften 1918–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 413–434.

Werner Sombart Von Frank E. W. Zschaler „Diese Doppelexistenz hat ihren eigenen Reiz … Ganz wertvoll (und mir aus Herzensbedürfnissen heraus ganz unentbehrlich) … [ist] das viele Alleinsein inmitten einer fremden Welt“ Werner Sombart an Otto Lang, Mai 19091

I. Werner Sombart war bis 1920 ein typischer Berliner „Spagat-Professor“. Nachdem seine Ehe mit Felicitas, geb. Genzmer (1866–1920) 1905 zu scheitern drohte, zog es ihn weg von Breslau, der Universitätsstadt, in der er seit 1890 als Extraordinarius gewirkt hatte. Der Ruf der neu gegründeten Berliner Handelshochschule auf den Lehrstuhl für Staatswissenschaften kam gerade zur richtigen Zeit. In der Suarezstraße 47 in Charlottenburg bezog Sombart eine Wohnung, die er in der Regel von Dienstagmittag bis Donnerstagvormittag nutzte. Als im bisherigen Wochenend- und Ferienort Mittelschreiberhau im Riesengebirge 1909 eine eigens erbaute Villa als ständiges Domizil der Familie bezogen werden konnte, setzte sich diese „Doppelexistenz“ bis zur Berufung auf das für ihn geschaffene Ordinariat für wirtschaftliche Staatswissenschaften der Berliner Universität 1918 fort. Erst mit dem Verkauf des für die Familie nun zu groß gewordenen Hauses im Riesengebirge und dem Umzug nach Berlin 1919 ging ein unstetes Gelehrtenleben zu Ende2. Bis zu seinem Tod im Mai 1941 lebte Sombart in der preußischen und deutschen Hauptstadt. Bereits in Breslau führte er ein für einen Extraordinarius nach den damaligen Maßstäben opulentes Leben. Die sich aus dem gesellschaftlichen Umgang des noch jungen Ehepaars mit der bildungsbürgerlichen Elite der niederschlesischen Hauptstadt ergebenden Verpichtungen wären allein vom Universitätsgehalt inklusive aller Zulagen nicht

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Werner Sombart an Otto Lang, 2. Mai 1909, in: Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994, S. 184. Friedrich Lenger, Werner Sombart (Anm. 1), S. 42 f., 172–176, 257–259.

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Werner Sombart *19. Januar 1863 in Ermsleben, † 18. Mai 1941 in Berlin

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finanzierbar gewesen3. Tatsächlich war es zunächst der vermögende Vater, der diesen Lebensstandard ermöglichte. Dass sich Sombart das alles eines Tages auch aus eigener Kraft leisten könnte, war anfänglich nicht absehbar. Werner Sombart wurde am 19. Januar 1863 in Ermsleben im Harz geboren, das damals als Gemeinde im Landkreis Halberstadt zur preußischen Provinz Sachsen gehörte. Der Vater Anton Ludwig Sombart (1816–1898), Sohn eines Rittergutsbesitzers und selber zunächst Kommunalpolitiker, wurde nach der Aufgabe des Ermslebener Bürgermeisteramtes Mitte der 1850er Jahre ein erfolgreicher Zuckerindustrieller und war als Mitglied des Parlaments des Deutschen Zollvereins, des Preußischen Abgeordnetenhauses und des Reichstags politisch engagiert. Die Mutter Clementine, geb. Liebelt (1821–1895) spielte für die frühe Entwicklung ihres jüngsten Sohnes offensichtlich keine sehr große Rolle. Sombart wurde vielmehr von seiner 13 Jahre älteren Schwester Helene erzogen, neben der noch zwei ältere Brüder zur Familie gehörten. 1875 gaben die Eltern, der Vater lebte seit 1867 als Rentier, ihre Existenz im Harz auf und zogen mit der ganzen Familie nach Berlin4. Hier besuchte Werner Sombart das Königliche Wilhelms-Gymnasium an der Victoria­ straße in Tiergarten (heute Potsdamer Straße) und anschließend das Gymnasium im thüringischen Schleusingen, das er 1882 mit dem Reifezeugnis verlassen konnte. Danach studierte er in Pisa, Berlin und Rom Jura, besuchte aber auch philosophische, historische und nationalökonomische Lehrveranstaltungen. Prägend für seinen weiteren Entwicklungsweg wurden Gustav Schmoller (1838–1917) und Adolph Wagner (1835–1917). An Wagners Seminar nahm er im Sommersemester 1884 teil. Von Gustav Schmoller wurde er 1888 mit einer sozialökonomischen Studie über „Die römische Campagna“ promoviert. Das Thema war nicht nur aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse gewählt worden. Es gab ihm auch die Möglichkeit, seine in Rom lebende Verlobte öfter zu treffen5. Danach schien die wissenschaftliche Karriere beendet zu sein. Noch im Jahr der Promotion wechselte Sombart nach Bremen, wo der Fünfundzwanzigjährige zum Syndikus der Handelskammer gewählt worden war. Ebenfalls 1888 heiratete er in Rom seine Verlobte Felicitas Genzmer. Beide bezogen in Bremen ihr erstes gemeinsames Haus. Als Syndikus war er u.a. an der Vorbereitung der Bremer Handelsausstellung 1889 beteiligt. Neben dem Brotberuf blieb noch Zeit für wissenschaftliche und publizistische Tätigkeiten, insbesondere über Außenhandelspolitik und Verkehrsentwicklung. Das Leben der Sombarts änderte sich, als Werner Sombart auf maßgeblichen Einuss des Ministerialdirektors Friedrich Theodor Althoff (1839–1908), der im Preußischen Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten für das Hochschulwesen zuständig

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Ebenda, S. 58–63. Ebenda, S. 27–30. Ebenda, S. 33–37.

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war und die Reihung der Berufungsliste änderte, mit Wirkung zum 1. Oktober 1890 als Extraordinarius für Staatswissenschaften an die Philosophische Fakultät der Universität Breslau berufen wurde6. In Breslau blieb er, wie er selber schrieb, „hängen“7. Seine „für einen kgl. Preußischen Professor radikale Marxrezeption“, insbesondere das 1896 erschiene Werk „Sozialismus und soziale Bewegung“ und die Übernahme von Teilen der Marxschen Gesellschaftstheorie in der weiteren Publikations- und Vortragstätigkeit, war für die Fortsetzung einer akademischen Karriere im zweiten Kaiserreich wenig dienlich. „Sechs Berufungen nach Freiburg, Heidelberg und Karlsruhe, auch mitbetrieben von seinem Freund Max Weber, dessen Nachfolge er zweimal antreten sollte, scheiterten jeweils am Veto des Großherzogs von Baden, dem das Votum der Fakultät sowie Diskussionen im Landtag und in weiten Teilen der Presse nicht umstimmen konnten … Der einussreiche Gustav Schmoller wollte für Sombart solange nichts unternehmen, als dieser Marxist war“8. So blieb ihm nichts weiter übrig, als sich mit den Umständen zu arrangieren. Als parteiloses Mitglied der Stadtverordnetenversammlung von Breslau und in zahlreichen sozialreformerischen Vereinen, seit 1892 auch als Präsidiumsmitglied des „Vereins für Socialpolitik“, vertrat Sombart, obwohl seit „Mitte der 1890er Jahre als Sympathisant von Marxismus und Sozialdemokratie verdächtigt“, überwiegend sozialliberale Ziele9. Die wachsenden Einnahmen aus Kolleggeldern und der Vortrags- und Publikationstätigkeit erlaubten eine allmähliche finanzielle Sanierung. Mit dem Erbe des 1898 verstorbenen Vaters konnte ein Haus mit 14 Zimmern auf einem parkähnlichen Grundstück im Villenvorort Scheitnig gekauft werden, das genügend Platz für die um vier Töchter angewachsene Familie bot. Mit dem Jahr 1906, Sombart war als Autor des „Modernen Kapitalismus“ noch bekannter geworden, ging die Zeit als Breslauer Extraordinarius zu Ende. Das Ältestenkollegium der Korporation der Kaufmannschaft zu Berlin hatte ihn zum Professor für Staatswissenschaften an der im selben Jahr eröffneten Handelshochschule berufen10. Freilich war das nicht der erhoffte Universitätslehrstuhl, der Sombart bis zum Ende des Kaiserreichs wegen seiner politischen Einstellung verwehrt blieb. Der damalige Syndikus der Korporation der Kaufmannschaft Max Apt (1869–1957) hatte mit Ignaz Jastrow (1856–1937) und Hugo Preuß (1860–1925) zwei weitere Berufungen von Gelehrten durchgesetzt, die an staatlichen Hochschulen keine Chance hatten. „Diese Ernennungen 6



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Ebenda, S. 38–42. Vgl. Michael Appel, Werner Sombart. Theoretiker und Historiker des modernen Kapitalismus, Marburg 1992, S. 13. Ebenda, S. 12 f. (Zitat S. 12). Friedrich Lenger, Sozialwissenschaft um 1900. Studien zu Werner Sombart und einigen seiner Zeitgenossen, Frankfurt/M. 2009, S. 14–20 (Zitat S. 17). Vgl. Frank Zschaler, Vom Heilig-Geist-Spital zur Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. 110 Jahre Staatswissenschaftlich-Statistisches Seminar an der vormals königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität. 90 Jahre HandesHochschule Berlin, Berlin/Heidelberg/New York 1996, S. 27.

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führten dazu, dass man das Dozenten-Kollegium der Handels-Hochschule einen ,salon des refusés‘ nannte“11. Nach Berlin ging Sombart nicht in erster Linie, um nun endlich in der Hauptstadt Preußens und des Reiches wirken zu können, auch nicht wegen des Anfangsgehalts von 15.000 Mark, das in jährlichen Schritten von 1.000 Mark auf 20.000 Mark angehoben werden sollte und damit bei einem Mehrfachen seiner Breslauer Bezüge lag12. Stärker wog die Möglichkeit, der zerrütteten Ehe zu entrinnen und damit ein freies Leben zu führen. Auch in dem riesigen, von dem Architekten Fritz Schumacher (1864–1947) entworfenen Haus in Mittelschreiberhau, das die Familie seit 1909 bewohnte, konnten sich die Eheleute aus dem Weg gehen und Sombart seine Freundschaften zu Künstlern und Intellektuellen, darunter Carl (1858–1921) und Gerhardt Hauptmann (1862–1946), pegen. Die kurzen Aufenthalte in Berlin waren nicht nur mit universitären Verpichtungen gefüllt, Sombart setzte hier auch seine Vortragstätigkeit fort. In der Reichshauptstadt war dafür nicht nur ein größerer Interessentenkreis vorhanden. Durch die Presseberichterstattung wurde man auf ihn als wissenschaftlich-publizistischen Redner über Berlin und Preußen hinaus aufmerksam. Von Konzertagenturen vermittelt, die Sombarts Namen auch zu Werbezwecken nutzten, konnte er in Berlin für einen Abend bis zu 1.000 Mark Honorar fordern, in Frankfurt am Main und Hamburg bis zu 800 Mark, in München und Königsberg in der Regel 500 Mark. Da die Veranstalter gewinnorientiert kalkulieren mussten, werden an den Vorträgen mehrere Hundert Zuhörer teilgenommen haben. Die Einnahmen aus dieser Quelle haben Sombarts hohes Amtsgehalt deutlich übertroffen. „Wenn ihn die Deutsche Montags-Zeitung anlässlich seines 50. Geburtstages als einen ,Professor im Exil‘ ansprach, weil ihm der äußere Erfolg in Gestalt einer ordentlichen Professur an der Berliner Universität versagt geblieben war, war er zu diesem Zeitpunkt in einer breiteren bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit dennoch bekannter als die meisten seiner Kollegen“13. Jenseits der Gelehrtenwelt verkehrte Sombart in Berliner Literaten- und Künstlerkreisen, war ganz Lebemann, der in gehobene Etablissements ging und immer wieder die Bekanntschaft attraktiver Frauen suchte. Das alles entsprach so wenig der in der Öffentlichkeit erwarteten Würde professoralen Verhaltens, dass sich die Frauenrechtlerin Lily Braun (1856–1916) außerstande sah, Sombart mit seinem akademischen Titel anzureden14. In seiner Berliner Wohnung in der Suarezstraße wohnte er anfangs mit einem Diener, der später durch weibliches Dienstpersonal ersetzt wurde. 11



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Max Apt, Die Entstehung der Handels-Hochschule Berlin, in: Ein Halbjahrhundert betriebswirtschaftliches Hochschulstudium. Festschrift zum 50. Gründungstag der Handels-Hochschule Berlin, hrsg. vom Verband Deutscher Diplom-Kaueute e.V. Berlin, Berlin 1956, S. 21. Vgl. Friedrich Lenger, Werner Sombart (Anm. 1), S. 176 f. Vgl. ebenda, S. 180 f. (Zitat S. 181). Vgl. ebenda, S. 181–183.

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Als Adolph Wagner im Alter von 81 Jahren 1916 emeritiert wurde und damit die Suche nach einem geeigneten Nachfolger begann, gehörte Sombart zum Bewerberkreis. Wagner und Schmoller gelang es in den Kommissionssitzungen, Sombart, vom dem Friedrich Meinecke (1862–1954) meinte, dass es ihm am wissenschaftlichen Ernst mangele, durchzusetzen. Auf Platz zwei und drei wurden Heinrich Dietzel (1857–1935) und Gerhart von Schulze-Gävernitz (1864–1942) gelistet. Das Ministerium akzeptierte diesen Vorschlag nicht, auch nicht eine Umstellung der Liste durch die Fakultät mit Dietzel auf dem ersten Platz. Berufen wurde der Finanzwissenschaftler Hermann Schumacher (1868–1952). Zeitgleich wurden mit Sombart Verhandlungen über die „Übernahme einer Professur für wirtschaftliche Staatswissenschaften“ aufgenommen. Die Berufung erfolgte am 4. Februar 1918 und mit ihr war die Ernennung zum Geheimen Regierungsrat verbunden. Im akademischen Establishment angekommen, entwickelte Sombart schnell das von einem Ordinarius der Berliner Universität erwarteten habituelle Verhalten, ließ in der wissenschaftlichen Welt nur noch ordentliche Professoren gelten und sich selber bevorzugt mit „Herr Geheimrat“ anreden15. 1919 verkaufte Sombart die Villa im Riesengebirge für 250.000 Mark und siedelte mit seiner Frau, die Töchter waren in der Zwischenzeit verheiratet, nach Berlin. Weil er nicht sofort eine neue Immobilie erwarb, verlor dieses Geld mit der zunehmenden Ination seinen Wert, ebenso wie die nicht geringen, in Kriegsanleihen gehaltenen Verm�� ögensteile. Die Sechs-Zimmer-Wohnung, die das Ehepaar Sombart in Berlin-Wilmersdorf bewohnte, entsprach nicht dem bisherigen Lebensstandard. Auch Sombart musste einen sozialen Deklassierungsprozess hinnehmen. Friedrich Lenger schreibt in seiner SombartBiographie, dass das Gehalt, das „1913 etwa das Siebenfache des Lohns eines ungelernten Arbeiters … [betrug], … 1922 gerade noch das Doppelte aus[machte]“16. Nach der Währungsstabilisierung verbesserten sich die Einkommens- und Lebensverhältnisse, ohne aber jemals wieder das Niveau der Vorkriegszeit zu erreichen. Die fortgesetzte Vortragstätigkeit, Erträge aus wissenschaftlichen Publikationen und Lehrverpichtungen an der Handelshochschule ermöglichten 1927 den Kauf einer Villa in der Humboldtstraße 35a in Berlin-Grunewald, in die Sombart mit seiner zweiten Frau Corina, geb. Leon (1893–1970) einzog, einer rumänischen Studentin, die er zwei Jahre nach dem Tod von Felicitas Sombart 1922 geheiratet hatte. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, der Kultursoziologe Nicolaus Sombart (1923–2008)17 und die Malerin Ninetta Sombart (geb. 1925). Mit der Kürzung von Honoraren infolge der Weltwirtschaftskrise verschlechterte sich die materielle Situation der Familie wieder. Obwohl der Verkauf der Bibliothek 1928 143.000 Reichsmark eingebracht hatte, sah 15

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Vgl. Friedrich Lenger, Werner Sombart (Anm. 1), S. 255–257. Ebenda, S. 261. Nicolaus Sombart berichtet über seine Jugendjahre in Grunewald in dem Buch Jugend in Berlin 1933–1943, erweiterte und überarbeitete Au. Frankfurt/M. 2002.

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Berliner Gedenktafel an der Fassade des Wohnhauses Suarezstraße 27, Berlin-Charlottenburg

sich Sombart nach seiner Emeritierung 1931 außerstande, ein angemessenes Leben zu führen, ohne sein Vermögen aufzubrauchen, was er 1936 in einem Unterstützungsgesuch an die Universitätsverwaltung beklagte. Während in der Grunewald-Villa nach außen der Schein eines glänzenden Haushalts aufrechterhalten werden konnte, worüber zahlreiche Besucher berichteten, war das Alltagsleben von Sparsamkeit geprägt18.

II. Sombart gehörte zu den produktivsten Nationalökonomen seiner Zeit. Das wissenschaftliche und publizistische Werk, an dem er von seiner Promotion 1888 bis zum krankheitsbedingten Rückzug 1938 arbeitete, umfasste eine Vielzahl von Monographien, Aufsätzen und Handbuchartikeln (vgl. u. die Auswahl im Werke-Verzeichnis). Heute ist davon eigentlich nur noch das dreibändige, zwischen 1902 und 1927 publizierte Werk „Der 18



Vgl. Friedrich Lenger, Werner Sombart (Anm. 1), S. 271–281.

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moderne Kapitalismus“ übriggeblieben, „eine historisch ausgerichtete Darstellung der Genese und Durchsetzung des Kapitalismus im Mittelalter und in der Neuzeit“19, die auch dem befreundeten Max Weber (1864–1920) Denkanstöße vermittelte. Großen zeitgenössischen Einuss erlangte das 1903 erschienene kulturkritische Werk „Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert“. In der Zeit an der Handelshochschule arbeitete Sombart an einer Neuauage des „Modernen Kapitalismus“, die 1916 und 1917 veröffentlicht werden konnte. 1924 publizierte er die Marxismus kritische Schrift „Der proletarische Sozialismus“. Sombarts 1930 veröffentlichtes methodologisches Hauptwerk „Die drei Nationalökonomien“, in dem er drei Ansätze ökonomischer Theorie, einen richtenden, einen ordnenden und einen verstehenden diskutierte und Theorie und Methode einer „verstehenden Nationalökonomie“ entwickelte, erlangte nicht den erhofften Einuss in der Wissenschaft. In „Deutscher Sozialismus“ wird 1934 die Zukunft des Spätkapitalismus in einer „Stärkung des Mittelstandes, der Bauern und anderer selbstsuffizienter Produzenten und des Handwerks“20 gesehen. Seit den 1920er Jahren publizierte er bis 1936 regelmäßig zu soziologischen Themen und Fragestellungen. Als Nationalökonom mit breitem soziologischen Interesse blieb Sombart zeitlebens methodisch Mitglied der jüngeren historischen Schule. Dieses Verhaftetsein in der Traditionslinie seiner akademischen Lehrer Wagner und insbesondere Schmoller war ein Grund für Kritik und Ablehnung, nachdem sich der Paradigmenwechsel hin zur Neoklassik auch in Deutschland durchgesetzt hatte. Einen anderen Grund sieht Helge Peukert darin, dass Sombart, „und dies ist eine reale Konstante aller seiner Schriften – gegen Liberalismus und Kapitalismus opponierte, im Unterschied zu den meisten gegenwärtigen Sozialwissenschaftlern“21.

III. Ein weiterer, wahrscheinlich noch gewichtigerer Grund war die politische Sprunghaftigkeit Sombarts. Der Sohn aus wohlhabendem Elternhaus, der einen großbürgerlichen Lebensstil bevorzugte, bezeichnete sich selber zu Beginn seiner akademischen Karriere als Marxisten, obwohl er auch in frühen Schriften Kritik an grundlegenden Marxschen Theoremen übte. Jedenfalls galt er in Teilen der deutschen Sozialdemokratie bis zum Erscheinen seines „Sozialismus“ 1896 als Hoffnungsträger. Die Lektüre dieses Buchs mag viele enttäuscht haben. Sombart bezeichnete die sozialphilosophischen Theorien von Marx, 19



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Michael Appel, Werner Sombart – Theoretiker und Historiker des modernen Kapitalismus, Marburg 1992, S. 14. Helge Peukert, Werner Sombart, in: Jürgen Backhaus (Hrsg.), Werner Sombart (1863–1941). Klassiker der Sozialwissenschaften, Marburg 2000, S. 66. Ebenda, S. 17.

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insbesondere dessen historischen Determinismus als falsch. Auch wandte er sich gegen die Abschaffung des Privateigentums und forderte, „der Kampf für soziale Reform solle sich im Rahmen des gegebenen Rechts halten und auf eine evolutionäre Veränderung zielen“. Insgesamt argumen­tierte Sombart bereits in dieser Veröffentlichung „vor dem Hintergrund seiner späteren Soziologie und Anthropologie, angereichert mit konservativen, nationalen und paternalistischen Elementen“22. Bereits im Kaiserreich war er, wie viele andere Hochschullehrer auch, zu einem Verfechter deutschen Nationalismus geworden, was sich auch in seinen Publikationen zum Ersten Weltkrieg niederschlug. Im weiteren Verlauf des akademischen Lebens nahm das einen immer größeren Platz in seinem Denken ein. „Je mehr der Sozialismus den Charakter einer Bewegung mit Idealen aufgab und je mehr er zur Betonung rein materieller Interessen neigte, desto stärker lehnte Sombart ihn ab“23. In „Deutscher Sozialismus“ bekannte er sich 1934 zu einer nationalsozialistischen Ausrichtung des Sozialismus. In diesem Buch, dass er nicht wissenschaftlich, sondern politisch verstanden wissen wollte, fasste er „seine nationalen, antiliberalen Prinzipien zusammen … und [hat] als gesellschaftspolitisches Ziel jene Verbindung von Nationalismus und hingebungsvoller Untertanenmentalität, unter den Konservativen gewöhnlich Sozialismus genannt, empfohlen, die er bereits seit den zwanziger Jahren propagiert hatte“24. Allerdings stimmte er in zentralen Punkten mit der nationalsozialistischen Weltsicht nicht überein, lehnte z.B. die Rassentheorie mit ihren „Wertabstufungen zwischen Nationen oder Rassen als dem Willen Gottes fremde Vorstellung“ ab. Dennoch stellte er mit seinem unbedingten Bekenntnis zum Führerprinzip, dass er im Gegensatz zur nationalsozialistischen Propaganda aber mit der vormodernen Idee des Gottesgnadentums begründete, dem Nationalsozialismus ein Legitimationsangebot zur Verfügung, dass „hervorragend geeignet war, auch religiös orientierte Kreise für ein zentrales Element des nationalsozialistischen Krisenlösungskonzeptes zu gewinnen“25. Insofern muss Sombart als einer der Wegbereiter des deutschen Nationalsozialismus angesehen werden26. Auch als Vorsitzender des „Vereins für Socialpolitik“, zu dem er 1932 gewählt wurde, verfolgte Sombart zunächst einen Annäherungskurs gegenüber der nationalsozialistischen Wissenschaftsverwaltung. „Er versuchte zwischen nationalsozialistischer Gleichschaltung und wissenschaftlichem Anspruch zu vermitteln, indem er die Wissenschaft in ein we-

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Ebenda, S. 29 f. Ebenda, S. 31. Michael Appel, Werner Sombart (Anm. 19), S. 241. Fritz Reheis, Zurück zum Gottesgnadentum. Werner Sombarts Kompromiss mit dem Nationalsozialismus, in: Jürgen Backhaus (Hrsg.), Werner Sombart (Anm. 20), S. 253 f. Vgl. Bernhard vom Brocke, Werner Sombart 1863–1941. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, in: derselbe (Hrsg.), Sombarts „Moderner Kapitalismus“. Materialien zur Kritik und Rezeption, München 1987, S. 53.

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nig attraktives Reservat verwies“27. Trotzdem fand Sombart im neuen Regime keine Anerkennung. Einerseits unterschieden sich seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu stark von den nationalsozialistischen. Andererseits hielt er an seiner Überzeugung von der Werturteilsfreiheit der Wissenschaften fest und war nicht bereit, „die nationalsozialistische Ordnung als Wissenschaftler zu beurteilen und zu rechtfertigen“. In nationalsozialistischen Publikationen wurde er deshalb bestenfalls zu den „Vorläufern der nationalsozialistischen Ideenrichtung“ gezählt. Heinrich Bechtel (1889–1970) warf ihm 1939 „Richtungslosigkeit und … Mangel einer nationalen Haltung“ vor28. Sombart trat 1935 von der Spitze des Vereins für Socialpolitik zurück. In den folgenden Jahren veröffentlichte er keine bedeutenden wissenschaftlichen Arbeiten.

IV. Seit 1938 zog sich Werner Sombart aus der Öffentlichkeit zurück, die Publikationstätigkeit kam zum Erliegen. Seine Frau Corina schrieb in einem biographischen Aufsatz von einem Erlöschen des Lebenswillens ihres Mannes29. Am 18. Mai 1941 starb er im 78. Lebensjahr in Berlin und wurde am 22. Mai nach einer akademischen Trauerfeier auf dem Dahlemer Waldfriedhof beigesetzt. Kurze Zeit später beantragte Corina Sombart bei der Universität und bei der in Wirtschaftshochschule umbenannten ehemaligen Handelshochschule wegen der hohen Kosten für die medizinische Behandlung und die Beerdigung finanzielle Unterstützung. Auch der äußere Schein eines großbürgerlichen Haushalts war zusammengebrochen. Obwohl ein Rezensent 1927 prognostizierte, dass Sombarts Werk, das von Zeitgenossen enthusiastisch gefeiert wurde, „Generationen überdauern“ werde30, ist der Autor mit Ausnahme des „Modernen Kapitalismus“ auch in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit nahezu vergessen. Die Neuherausgabe seiner Werke und die bis in die jüngste Vergangenheit erscheinende biographische Literatur haben nicht zu einer Renaissance Sombartscher Ideen und Erklärungen beigetragen. Sein Leben und Werk zeigte, wie Ludwig von Mises (1881–1973) schrieb, „zugleich die Etappen der Meinungsänderung von Deutschlands geistiger Oberschicht“, und Thomas Nipperdey bezeichnete Sombart „als Seismographen politischer und kultureller Wandlungsprozesse der Zeit um die Jahrhundertwende“31. 27



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Hauke Janssen, Nationalökonomie und Nationalsozialismus. Die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, 3., überarbeitete Au. Marburg 1998, S. 195–201. Michael Appel, Werner Sombart (Anm. 19), S. 247 f. Corina Sombart, Werner Sombart, in: Ein Halbjahrhundert betriebswirtschaftliches Hochschulstudium. Festschrift zum 50. Gründungstag der Handels-Hochschule Berlin, hrsg. vom Verband Deutscher Diplom-Kaufleute e.V. Berlin, Berlin 1956, S. 201–204. Vgl. Michael Appel, Werner Sombart (Anm. 19), S. 9. Zitiert nach Friedrich Lenger, Sozialwissenschaft um 1900 (Anm. 9), S. 13.

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Grabstätte Werner Sombart und Corina Sombart auf dem Waldfriedhof Dahlem (Berliner Ehrengrabstätte)

Das Land Berlin erinnert an die widersprüchliche und kontroverse Persönlichkeit des zu Lebzeiten bekanntesten deutschen Nationalökonomen mit der Pege seines Grabes als Berliner Ehrengrabstätte.

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Werke (Auswahl) Die römische Campagna. Eine sozialökonomische Studie (Staats- und sozialwissenschaftliche Studien, VIII/3), Leipzig 1888. – Die Handelspolitik Italiens seit der Einigung des Königreichs, in: Die Handelspolitik der wichtigeren Kulturstaaten in den letzten Jahrzehnten, Bd. 1, Leipzig 1892, S. 75–166. – Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl Marx, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 7 (1894), S. 555–594. – Friedrich Engels und die soziale Bewegung, in: Die Zukunft 8 (1895), S. 122–134. – Friedrich Engels und der Marxismus, in: Die Zukunft 8 (1895), S. 59–72. – Nationale Eigenarten im sozialen Kampf, in: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) 7 (1896), S. 1037–1051. – Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert, Jena 1896. – Die Entwicklungstendenzen im modernen Kleinhandel, in: Verhandlungen der am 25., 26. und 27. September 1899 in Breslau abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik, Leipzig 1900, S. 136–157. – Technik und Wirtschaft, in: Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden 7 (1901), S. 51–74. – Wirtschaft und Kunstgewerbe. Einige Bemerkungen über den Zusammenhang beider, in: Neue Deutsche Rundschau 12 (1901), S. 1233–1248. – Wirtschaft und Persönlichkeit, in: Festgabe zum 20. Stiftungs-Fest der „Freien Wissenschaftlichen Vereinigung an der Universität Berlin“, Berlin 1901, S. 9–17. – Der moderne Kapitalismus, 2 Bde., Leipzig 1902. – Die deutsche Volkswirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert (Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung, VII), Berlin 1903. – Krieg und Kapitalismus (Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus, 2), München 1913. – Luxus und Kapitalismus (Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus, 1), München 1913. – Die Entstehung der kapitalistischen Unternehmung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 41 (1916), S. 299–334. – Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. I, 2 Halbbde, München 1916; Bd. II, 2 Halbbde., München 1917. – Soziologie, bearbeitet unter Mitwirkung von Dr. H. L. Stoltenberg (Quellenhandbücher der Philosophie), Berlin 1923. – Der proletarische Sozialismus (Marxismus), 2 Bde., Jena 1924. – Die Idee des politischen Führertums, in: Hans-Heinrich SchmidtVoigt/Hermann Platz/Martin Havenstein (Hrsg.), Deutsche Kultur. Ein Lesebuch von deutscher Art und Kunst für die Oberstufe höherer Schulen, Frankfurt/M. 1925, S. 165– 170. – Die Ordnung des Wirtschaftslebens (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, XXXV), Berlin 1925. – Die Triebkräfte der sozialen Bewegung, in: Der Arbeitgeber. Zeitschrift der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 15/2 (1925), S. 281 f. – Die Bedarfsgestaltung im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: Geist und Gesellschaft. Kurt Breysig zu seinem sechzigsten Geburtstage. Bd. 1: Geschichtsphilosophie und Soziologie, Breslau 1927, S. 27–65. – Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. III: Das

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Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, München 1927. – Art. Kapitalismus und Genossenschaftswesen, in: Internationales Handwörterbuch des Genossenschaftswesens, hrsg. von V. Totomianz, Berlin o. J. (1928), S. 537. – Das Warenhaus – ein Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters, in: Probleme des Warenhauses. Beiträge zur Geschichte und Erkenntnis der Entwicklung des Warenhauses in Deutschland, hrsg. vom Verband deutscher Waren- und Kaufhäuser e.V., Berlin 1928, S. 77–88. – (Hrsg.), Volk und Raum. Eine Sammlung von Gutachten zur Beantwortung der Frage: „Kann Deutschland innerhalb der bestehenden Grenzen eine wachsende Bevölkerung erhalten?“, Hamburg 1928. – Economic Theory and Economic History, in: Economic History Review 2/1 (1929), S. 1–19. – Emporkommen, Entfaltung und Auswirkung des Kapitalismus in Deutschland, in: Bernhard Harms (Hrsg.), Volk und Reich der Deutschen. Vorlesungen gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Bd. 1, Berlin 1929, S. 199–219. – Kapitalismus und kapitalistischer Geist in ihrer Bedeutung für Volksgemeinschaft und Volkszersetzung, in: Bernhard Harms (Hrsg.), Volk und Reich der Deutschen, Bd. 1, Berlin 1929, S. 280–292. – Capitalism, in: Encyclopaedia of the Social Sciences, hrsg. von Edwin R. Seligman/Alvin Johnson, Bd. 3, London 1932, S. 195–209. – Der Weg aus der Krise, in: Pforzheimer Anzeiger vom 26. 12. 1932. – Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin 1932. – Artvernichtung oder Arterhaltung, in: Heinrich Mann u.a. (Hrsg.), Gegen die Phrase vom jüdischen Schädling, Prag 1933, S. 249–253. – Zum Problem der Arbeitsbeschaffung, in: Die Wirtschafts-Wende. Zeitschrift für deutsche Wirtschaftserneuerung, Sonderheft: Gereke-Plan (Februar 1933), S. 25–30. – Deutscher Sozialismus, Berlin 1934. – Nationalsozialistische Wissenschaft?, in: Berliner Tageblatt vom 26. 8. 1934, 4. Beiblatt. – Das Wesen der ständischen Gliederung mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands, in: Deutsche Juristen Zeitung 39/8 (1934), Sp. 502–511. – Die mutmaßliche künftige Entwicklung des Anteils und Verhältnisses von privaten und öffentlichen Unternehmungen in der deutschen Wirtschaft, in: Der deutsche Volkswirt 10/1 (1935). – Die Stellung Adolf Wagners im Entwicklungsgange des nationalökonomischen Denkens, in: Independenta Economica 18 (1935), S. 73–76. – Das Zerbrechen der hochkapitalistischen Weltwirtschaft, in: Außenwirtschaft 6 (1936), S. 67–80. – Soziologie: Was sie ist und was sie sein sollte, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 1936, Berlin 1936, S. 47–75. – Weltanschauung, Wissenschaft und Wirtschaft, in: Probleme des deutschen Wirtschaftslebens. Erstrebtes und Erreichtes. Eine Sammlung von Abhandlungen, hrsg. vom Deutschen Institut für Bankwissenschaft und Bankwesen, Berlin 1937, S. 749–789. – Beiträge zur Geschichte der wissenschaftlichen Anthropologie, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1938, Berlin 1938, S. 96–130. – Gustav Schmoller 1838–1938, in: Der deutsche Volkswirt 13/4 (1938), S. 1945–1947. – Vom Menschen. Versuch einer geistwissenschaftlichen [!] Anthropologie, Berlin 1938. – Der Katholizismus als Kultureinheit, in: Edgar Salin (Hrsg.), Synopsis. Alfred Weber 30. VII. 1868–30. VII. 1948, Heidelberg o. J. [1948], 505–534.

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Literatur Michael Appel, Werner Sombart – Theoretiker und Historiker des modernen Kapitalismus, Marburg 1992. – Jürgen Backhaus (Hrsg.), Werner Sombart (1863–1941). Klassiker der Sozialwissenschaften, Marburg 2000. – Georg von Below, Die wirtschaftsgeschichtliche Auffassung Werner Sombarts, in: Schmollers Jahrbuch 45 (1921), S. 237–261. – Carl Brinkmann, Sombarts Drittes Reich, in: Schmollers Jahrbuch 55 (1931), S. 1–20. – Bernhard vom Brocke (Hrsg.), Sombarts „Moderner Kapitalismus“. Materialien zur Kritik und Rezeption, München 1987. – Werner Engel, Max Webers und Werner Sombarts Lehre von den Wirtschaftsgesetzen, Diss. Berlin 1932. – Gustav-Adolf Groß, Die wirtschaftstheoretischen Grundlagen des „Modernen Kapitalismus“ von Sombart. Eine kritische Untersuchung vom Standpunkt einer sozialindividualistischen Wirtschaftsauffassung, Jena 1931. – Günther Gürtler, Der moderne Kapitalismus nach Sombart, von Below und Passow, Diss. Breslau 1926. – Otto Hintze, Der moderne Kapitalismus als historisches Individuum, in: derselbe, Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hrsg. von Gerhard Oestreich, Göttingen 1964 (zuerst 1929), S. 374–427. – Gerhard Kessler, Werner Sombart und die Wirtschaftsgeschichte, in: Revue de la Faculté des Sciences economiques de l’Université d’Istanbul 3 (1942), S. 71–77. – Werner Krause, Werner Sombarts Weg vom Kathedersozialismus zum Faschismus, Berlin 1962. – Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994. – Friedrich Lenger, Sozialwissenschaft um 1900. Studien zu Werner Sombart und einigen seiner Zeitgenossen, Frankfurt/M. 2009. – Robert Michels, Werner Sombart, in: derselbe, Bedeutende Männer, Leipzig 1927, S. 140–154. – Arthur Nitsch, Sombarts Stellung zum Sozialismus, Leipzig 1931. – Helge Peukert, Werner Sombart, in: Jürgen Backhaus (Hrsg.), Werner Sombart (1863–1941), Marburg 2000, S. 15–82. – Karl Pintschovius, Werner Sombart. Zu seinem siebenzigsten Geburtstag, in: Die Volkswirte 32 (1933), S. 17–21. – Martin J. Plotnik, Werner Sombart and His Type of Economics, New York 1937. – Fritz Reheis: Zurück zum Gottesgnadentum. Werner Sombarts Kompromiss mit dem Nationalsozialismus, in: Jürgen Backhaus (Hrsg.), Werner Sombart, S. 239–258. – Daniel Riniker/Joachim Zweynert, Werner Sombart in Russland. Ein vergessenes Kapitel seiner Lebens- und Wirkungsgeschichte, Marburg 2005. – Leo Rogin, Werner Sombart and the Uses of Transcendentalism, in: American Economic Review 31 (1942), S. 492–511. – Hermann Schumacher, Werner Sombart. Gedenkrede bei der Trauerfeier am 22. Mai 1941, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 154 (1941), S, 129–131. – Rolf-Peter Sieferle, Die konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen: Paul Lensch, Werner Sombart, Oswald Spengler, Ernst Jünger, Hans Freyer, Frankfurt/M. 1995. – Corina Sombart, Werner Sombart, in: Ein Halbjahrhundert betriebswirtschaftliches Hochschulstudium. Festschrift zum 50. Gründungstag der Handels-Hochschule Berlin, hrsg. vom Verband Deutscher Diplom-Kaueute e.V. Berlin, Berlin 1956, S. 201–204. – Leopold von Wiese, Werner Sombart zum 70. Geburts-

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tag, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (1933), S. 251–257. – Leopold von Wiese, Werner Sombart zum Gedächtnis, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 101 (1941), S. 597–605.

Heinrich Triepel Von Ulrich M. Gassner I. Heinrich Triepel wurde am 12. Februar 1868 in Leipzig geboren. Er wuchs in einem besitzbürgerlichen, zugleich aber weltoffenen und gebildeten Milieu auf. Schon seit Jahren Klassenprimus, absolvierte Triepel im März 1886 das Leipziger humanistische Gymnasium zu St. Thomä (Thomasschule), eines der besten sächsischen Gymnasien jener Zeit, mit der Gesamtnote „vorzüglich“. Zum Sommersemester 1886 bezog er die Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, um dort Jura zu studieren. Nach drei Semestern wechselte er an die Universität seiner Heimatstadt. Die Alma mater Lipsiensis hatte in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen großen Aufschwung genommen und erfreute sich eines entsprechenden nationalen und internationalen Ansehens. Dies galt besonders auch für die juristische Fakultät, die sich vor allem aufgrund einer klugen ministeriellen Berufungspolitik mit ihren vielfach so bezeichneten „großen Vier“, Bernhard Windscheid, Rudolf Sohm, Adolph Wach und Karl Binding, zu hoher Blüte entwickelt hatte. Sie war, in den Worten des Staatsrechtlers Gerhard Anschütz, der dort unmittelbar vor Triepel zwei Semester studiert hatte, „damals – wie auch noch lange nachher – eine der hervorragendsten und angesehensten im Reich“1. Schon während der dem Studium folgenden Referendarzeit stand für Triepel fest, die akademische Laufbahn einschlagen zu wollen. Er mag in dieser Berufsperspektive dadurch bestärkt worden sein, dass seine von dem Straf- und Staatsrechtler Karl Binding betreute Dissertation über das Interregnum „summa cum laude“ bewertet wurde. Schon zwei Jahre nach der Promotion hat ihm die Leipziger Juristenfakultät die Venia legendi für Staatsrecht, Völkerrecht und Verwaltungsrecht erteilt. 1899 erschien sein erstes großes Werk „Völkerrecht und Landesrecht“, das seinen Autor mit einem Schlage berühmt machte und ihn in die erste Reihe der deutschen Völkerrechtsgelehrten beförderte. Dieser wegweisenden Leistung vor allem dürfte es Triepel auch zu verdanken haben, dass er nach nur sechs Jahren Privatdozentur zum außerordentlichen Professor an einer Fakultät avancieren konnte, die nach dem aus unmittelbarer Anschauung gewonnenen Urteil des Rechtsphilosophen und

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Gerhard Anschütz, Aus meinem Leben, hrsg. und eingel. von Walter Pauly (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 59), Frankfurt a.M. 1993, S. 44.

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Heinrich Triepel *12. Februar 1868 in Leipzig, † 23. November 1946 in Untergrainau

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späteren Reichsjustizministers Gustav Radbruch „damals in Deutschland wohl die besten Köpfe zählte“2. Im Sommer 1900 folgte der Ruf an die Staatswissenschaftliche Fakultät der Tübinger Eberhard-Karls-Universität. Für Triepels Berufung hatte sich sein Vorvorgänger auf diesem Lehrstuhl, der Berliner Ordinarius Ferdinand von Martitz, eingesetzt. Triepel hat in Tübingen nach eigener Einschätzung vielleicht die entscheidenden, sicher aber die glücklichsten seiner Mannesjahre verbracht. Seine reichen Anlagen entfalteten sich dort zur reifen Meisterschaft. In Tübingen empfing er auch maßgebliche Anregungen durch die von dem Zivilrechtler Philipp Heck begründete „Schule der Interessenjurisprudenz“. In der Rückschau hat er bekannt, in Tübingen methodisch ein anderer geworden zu sein3. Eine erste intellektuelle Frucht dieser Neuorientierung war die 1907 erschienene Abhandlung über „Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche“. Sie trägt den vielsagenden, weil antipositivistische Tendenzen signalisierenden Untertitel „Eine staatsrechtliche und politische Studie“. Dass er sich zu jener Zeit schon definitiv als Protagonist einer publizistischen Interessenjurisprudenz verstanden hat, kommt auch in der Abhandlung über „Die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung“ zum Ausdruck, die Triepel, wie er scherzhaft zu sagen pegte, als Kuckucksei in die 1908 erschienene Festgabe für Paul Laband, den anerkannten Altmeister positivistischen Staatsrechtsdenkens, gelegt hatte. Trotz der als glückhaft empfundenen Tübinger Zeit, begann sich bei Triepel langsam die Sehnsucht zu regen, auch äußerlich, nicht nur mit seinen weithin beachteten Veröffentlichungen, Anerkennung zu finden und weiterzukommen, um sein höchstes Ziel, eine Professur in Berlin, zu erreichen. Die Verleihung eines Berliner Ordinariats galt damals als der höchste äußere Erfolg, der einem Hochschullehrer, namentlich einem jüngeren, zuteil werden konnte4. Zudem bot das intellektuelle Zentrums Preußens und des Reichs gerade für Staatsrechtslehrer die Gewähr dafür, nicht allein vom akademischen Establishment, sondern ebenso von der Funktionselite sowie der politischen Prominenz wahrgenommen und geachtet zu werden. Als das Etappenziel der Berufung an eine preußische Universität in Gestalt eines auch vom Reichsmarineamt unterstützten Rufes nach Kiel überraschend in greifbare Nähe rückte, hat Triepel denn auch nicht lange gezögert und den Ruf zum Sommersemester 1909 angenommen. Er trat in eine Fakultät ein, die sich aufgrund steigender Studentenzahlen und neuartiger Rechtsentwicklungen am Beginn einer Expansions- und Umbruchphase sah. Die überragende Gestalt der Kieler Juristenfakultät war Albert Hänel, der mit seinem antipositivistischen Wissenschaftsprogramm, das eine stärkere Berücksichtigung rechtsphilosophischer und soziologischer Gesichtspunkte vorsah, auf das gesamte Kollegium eingewirkt hat. Seinem Bemühen um eine wirklichkeitsverhaftete Auffassung des Staatsrechts war es zu verdanken, dass in Kiel mehr als anderswo das Gefühl für die 2

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Gustav Radbruch, Der innere Weg. Aufriß meines Lebens, Stuttgart 1951, S. 45. Heinrich Triepel, Delegation und Mandat im öffentlichen Recht, Stuttgart/Berlin 1942, S. III. Anschütz, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 104.

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Abhängigkeit juristischen Denkens vom kulturellen und politischen Untergrund erhalten geblieben war. Der Einuss Albert Hänels auf Triepels Werk ist nicht zu verkennen. Triepel hat denn auch dessen Verdienste um das deutsche Staatsrecht gewürdigt und auf die teleologisch-politischen Implikationen seines gegen bloße Begriffsscholastik gerichteten Denkens aufmerksam gemacht5. Triepel nahm in Kiel an der dortigen Marineakademie auch eine Lehrtätigkeit wahr, die ihm wegen ihres starken Praxisbezugs hohe Befriedigung verschaffte. Hiervon angeregt begann er, sich verstärkt mit Fragen des See- und Seekriegsrechts zu beschäftigen. Doch sollte sich die schon vor seiner Berufung in einem Brief vom 31. Oktober 1908 ausgesprochene Ahnung Hänels, dass es sich bei der Kieler Tätigkeit nur um ein Übergangsstadium in größere Verhältnisse handeln würde, recht bald bewahrheiten. Mit Verfügung vom 18. März 1913 wurde er an die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin versetzt. Triepel war am Ziel seiner Hoffnungen angelangt.

II. Triepel trat zum 1. Oktober 1913 in eine juristische Fakultät ein, die sich zu jener Zeit gerade anschickte, wieder das größte Ansehen im Deutschen Reich, und zwar noch vor Leipzig und München, zu genießen. Gefiel sich die Berliner Universität insgesamt, besonders in der Zeit der Restauration nach 1848, mit einer gewissen Berechtigung darin, als „geistiges Leibregiment des Hauses Hohenzollern“ zu gelten6, so konnte dieses Attribut für die Juristenfakultät doch nur begrenzt Geltung beanspruchen. Zwar war sie, wie Ernst Heymann vermerkt hat, „wie die ganze Universität eine Schöpfung des preußischen Staates, eine seiner edelsten Schöpfungen“, und „in ihrer ganzen bisherigen Geschichte ein eigentümliches Spiegelbild der Geschehnisse und Stimmungen des preußischen Staatswesens und seiner führenden Kreise“7. Andererseits aber besaß die Fakultät von jeher, seit Friedrich Carl v. Savigny, der dort von 1810 bis 1848 gewirkt hat, einen deutschen, keinen spezifisch preußischen Charakter. Die einzige beherrschende Persönlichkeit von ausgesprochen preußischer Prägung, Rudolf v. Gneist, hatte gerade das preußische Wesen mit dem gesamtdeutschen Liberalismus in Einklang zu bringen versucht8. Für Triepel war es zunächst schwierig, das Vertrauen der Studenten zu gewinnen. Als dies aber gelungen war, haben sie, wie seine Gattin Marie Triepel in ihren Lebenserinne-

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Vgl. etwa Heinrich Triepel, Die Reichsaufsicht, Berlin 1917, S. 4 f. So Emil du Bois-Reymond, Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden, hrsg. von Estelle du BoisReymond, Bd. 1, 2. Au. Leipzig 1912, S. 418, in seiner Rektoratsrede vom 3. August 1870. Ernst Heymann, Hundert Jahre Berliner Juristenfakultät. Ein Gedenkblatt, in: Die juristische Fakultät der Universität Berlin von ihrer Gründung bis zur Gegenwart in Wort und Bild, in Urkunden u. Briefen. Mit 450 handschriftlichen Widmungen, hrsg. von Otto Liebmann (Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zur Jahrhundertfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin), Berlin 1910, S. 3–62. Rudolf Smend, Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: Studium Berolinense. Gedenkschrift, hrsg. von Hans Leussink, Edmund Neumann und Georg Kotowski, Berlin 1960, S. 109–127.

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rungen bekundet hat, mit hingebender Treue an ihm gehangen, so dass ihn die Lehrtätigkeit schließlich in vollstem Maße befriedigte. Dass Triepel ein vorzüglicher Pädagoge war, ist vielfach bezeugt. Ein Grund für seine Wirksamkeit als akademischer Lehrer lag darin, dass er Pathos und Rhetorik sorgfältig vermied9 und stattdessen fallorientiert und humorvoll vortrug. Auch der Politologe Theodor Eschenburg war voll des Lobes über Triepels Vorlesungen und berichtet, er habe sie im Wintersemester 1929 besucht und dort „noch einmal“ das gefunden, was er im Studium gesucht habe10. Für ihn war Triepel schlicht „der beste juristische Lehrer“11. Wie jeder gute Pädagoge stellte Triepel hohe Anforderungen, und zwar besonders auch gegenüber Seminarteilnehmern und Doktoranden. Dies schloss ein verständnisvolles, wohlwollendes Verhältnis zu Studenten nicht aus, wie eine Anekdote aus seiner Tätigkeit als Prüfer beim Ersten juristischen Staatsexamen belegen mag: Als es einmal um Wilhelm v. Humboldt ging, wollte er einem etwas unbedarften Kandidaten auf die Sprünge helfen, indem er diesen darauf hinwies, dass er jeden Morgen daran vorbeigehe. Damit versuchte er, auf die Denkmäler der Gebrüder Humboldt vor dem Haupteingang der Universität anzuspielen. Allein, es war vergeblich. Am nächsten Tag hieß es unter den Kandidaten nur: „Triepel prüft Denkmäler“12. Die herausragenden Leistungen Triepels in Forschung und Lehre fanden nicht nur extra muros hohe Anerkennung, so etwa durch Aufnahme in die exklusive Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, sondern auch im Kollegenkreis große Beachtung. So hätte es der berühmte Verwaltungsrechtler Otto Mayer gerne gesehen, wenn Triepel ab dem Wintersemester 1918/19 sein Nachfolger in Leipzig hätte werden wollen. Nachdem die Bleibeverhandlungen zu seiner Zufriedenheit ausgegangen waren, lehnte Triepel indes den ehrenvollen Ruf an die sächsische Heimatfakultät ab. Ein Grund hierfür mag auch gewesen sein, dass er sich in die „eigentümlich geschlossene menschliche Gemeinschaft“13 der Berliner Fakultät gut integriert hatte und die Chance sah, sich in ihr zur, wie sein Fakultätskollege Rudolf Smend im Rückblick festgestellt hat, „geistig und sittlich überragenden Figur des Fachs“14 zu entwickeln. In Berlin kam auch Triepels schon in Tübingen und Kiel erprobte Neigung zu organisatorischer Tätigkeit in der akademischen Selbstverwaltung zum Tragen. So wurde er von seinen Kollegen, unter denen er höchstes Ansehen genoss, in den Jahren 1918/19 sowie 1923 bis 1925 zum Mitglied des Akademischen Senats gewählt. Seine unbestrittene Autorität in diesen Dingen mag ein wesentlicher Grund für seine Wahl zum Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität für das Amtsjahr 1926/27 gewesen sein. Bei der Wahl zum Rektoramt, 9



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Rudolf Smend, Heinrich Triepel, in: Festschrift für Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag, hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Bd. 2, Tübingen 1966, S. 107–120. Theodor Eschenburg, Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 216. Ebenda, S. 217. Mündliche Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts an den Verfasser dieses Beitrags. Smend, Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät (Anm. 8), S. 127. Ebenda, S. 123.

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das turnusgemäß aus den Reihen der Juristenfakultät zu besetzen war, hatte er sich gegen die Mitbewerber Ernst Heymann und Ulrich Stutz mit großer Mehrheit durchgesetzt. Das Rektorat, das ihn in die erste Reihe der Berliner Prominenz brachte, bildete nicht nur für die beruiche Laufbahn Triepels, sondern auch für die Universität selbst einen Höhepunkt. In weit größerem Umfang als dies seine Vorgänger getan hatten, besuchte er im Interesse der Universität gleich in der ersten Woche des Rektorats viele bedeutende staatliche Institutionen. Wiederholt hatte Triepel auch Gelegenheit, die Universität Berlin bei festlichen Anlässen glanzvoll zu repräsentieren. In die Zeit seines Rektorats fielen die Jubiläen der Universitäten München, Marburg und Tübingen, an denen er allesamt teilnahm. Besondere Freude hat es ihm bereitet, am 25. Juli 1927 im Namen aller deutschen Universitäten eine Grußadresse zur 450-Jahr-Feier der Universität Tübingen in der dortigen Stiftskirche zu sprechen. Das Rektorat brachte auch die üblichen gesellschaftlichen Verpichtungen mit sich, denen Triepel häufig dadurch nachkam, dass er die jeweiligen Herren meist abends im eigenen Hause empfing. Im Übrigen versah er sein Rektorenamt mit bewährter administrativer Umsicht. Seine organisatorischen Fähigkeiten kamen nicht zuletzt auch den Studenten zugute. So veranlasste er beispielsweise, dass im hinteren Garten der Universität wunderschöne Bänke aufgestellt wurden, auf denen man in den Pausen frühstücken oder sonst seine Mußestunden verbringen konnte. Dass er gerade hierauf besonders stolz war, ist bezeichnend für Triepels tief empfundene Sorge um das Wohl aller seiner Universitätsbürger. Als er am letzten Tag seiner Amtsführung, dem 15. Oktober 1927, bei der feierlichen Übergabe des Rektorats seinem Nachfolger Eduard Norden nach altem Brauch den Rektormantel um die Schultern legte, prägte er den ebenso berühmten wie eindrucksvollen Satz: „Er ist schwer, aber weil er es ist, kann kein Rektor ihn nach dem Winde hängen“15. Diese „nicht pathetisch, sondern nüchtern und etwas grimmig“16 gesprochene Sentenz enthielt nicht nur ein Bekenntnis zu Wert und Würde akademischer Tradition und Selbstverwaltung, sondern war auch ein „seltenes aber richtiges Selbstzeugnis“ seiner stets charaktervoll aufrechten Haltung17. Dieses Wort Rudolf Smends hat Asche Graf Mandelsloh, ein Assistent Triepels, bei seiner Laudatio zu dessen 70. Geburtstag am 17. Februar 1938 aufgegriffen und auf seine Weise bestätigt: „Der Geheimrat allerdings, hat seine Mäntel, auch wenn er leichte trug, nie nach dem Winde gedreht, und das macht ihn uns heute noch so besonders verehrungswürdig“18. In seinem Rektoratsjahr hat Triepel auch die beiden Reden gehalten, die ihn weit über die engere Fachwelt hinaus bekannt gemacht haben: „Staatsrecht und Politik“ und „Die 15

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Heinrich Triepel, Bericht über das Amtsjahr 1926/27 erstattet bei der Rektoratsübergabe am 15. Oktober 1927, hrsg. von der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1927, S. 19; vgl. auch Smend, Heinrich Triepel (Anm. 9), S. 119; Carl Bilfinger, In memoriam Heinrich Triepel, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 13 (1950/51), S. 1–13. Smend, Heinrich Triepel (Anm. 9), S. 119. Ebenda. Asche Graf Mandelsloh, Geburtstagsrede (Typoskript), S. 6, Privatarchiv des Verfassers.

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Staatsverfassung und die politischen Parteien“. Besonders die am 3. August 1927 gehaltene Rektoratsrede über die Parteien erregte damals großes Aufsehen und fand starke Verbreitung19. Auch Triepels sonstiges literarisches Schaffen gelangte in Berlin zu hoher Blüte. Wie schon zuvor, pegte er die Monographie in der großen wie in der kleinen Form. So vollendete er 1917 seine auf jahrzehntelangen Forschungen beruhende „Reichsaufsicht“, die nach dem Urteil seines Berliner Fakultätskollegen Erich Kaufmann „größte und hervorragendste Monographie zum Bismarckischen Verfassungsrecht“20. Dass Triepel die strenge monographische Kunst meisterlich beherrscht hat, demonstrieren auch die anderen gedankenreichen Arbeiten zu verschiedenen Themen des Staats- und Völkerrechts, die in seiner Berliner Zeit entstanden sind. Von Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft an wurde die Berliner Juristenfakultät – allerdings zuweilen mehr volens als nolens – „gesäubert“. Auch in Berlin entsprach die Begeisterung der Studenten vor 1933 der bereitwilligen Unterstützung der Professoren nach der Machtübergabe21. Naturgemäß war auch und gerade das Staatsrecht von „Säuberung“ und Gleichschaltung betroffen. So wurde etwa mit Ministerialerlass vom 9. November 1933 Carl Schmitt berufen, dessen faszinierende Persönlichkeit zahlreiche Studenten sofort in ihren Bann schlug. Einen ebenso lebendigen wie aufschlussreichen Einblick in das fakultätsinterne Geschehen vermittelt der Brief eines Jurastudenten an Walter Jellinek vom 21. Dezember 1933: „Dies Semester steht bei mir ziemlich unter dem Zeichen von Carl Schmitts Staatsrecht, ich bin in sein zwanzigköpfiges Seminar aufgenommen, und außerdem bin ich in einer Facharbeitsgemeinschaft, in der ich im Januar auch ein Referat zu halten habe, die von einem begeisterten Schmitt-Jünger geleitet wird. Ich werde also ziemlich mit Carl Schmitt angefüllt, der nach seiner Berliner Berufung Smend, der dieses Semester nicht liest (man hört allerdings noch viel so etwas von ‚Integration‘ bei jeder Gelegenheit durch die Räume schwirren) anscheinend ganz an die Wand gedrängt hat. Auch Triepel hat sich sehr aus der Gegenwart zurückgezogen, er verteidigt in seiner Völkerrechtsvorlesung mit viel Schwung seine im Jahre 1899 aufgestellte Lehre vom Dualismus von Völker- und Landesrecht“22. Gleichwohl hatte sich der damals 65jährige, wohl nicht zuletzt aufgrund anfangs gehegter Illusionen über Charakter und Legitimität des neuen Regimes, trotz Erreichens der Altersgrenze noch nicht dazu verstanden, ein Emeritierungsgesuch zu stellen. Im Gegenteil: Er zeigte sich recht befremdet über Gerhard Anschütz, der diesen Schritt am 31. März 1933 aus fehlender innerlicher Verbundenheit mit dem neuen Staatsrecht vollzogen

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Theodor Eschenburg, Aus dem Universitätsleben vor 1933, in: Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, hrsg. von Andreas Flitner, Tübingen 1965, S. 24–37. Erich Kaufmann, Heinrich Triepel †, in: Deutsche Rechtszeitschrift 2 (1947), S. 60. So die generelle Diagnose von Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als ZeitgeistVerstärkung?, 2. Au. München 1990, S. 25. Brief E. v. Lauensteins an W. Jellinek, Bundesarchiv, Nachlass Walter Jellinek (N 1242), Bd. 22.

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hatte23. Mit der Zeit musste er allerdings erkennen, dass der verbrecherische Charakter des NS-Regimes immer deutlicher zutage trat und sich die Gleichschaltungspolitik auch auf seine persönlichen Verhältnisse immer stärker auszuwirken begann. Schon 1934 hatte sich die Regierung allen Vorstellungen aus der Mitte der Fakultät auf Hinausschieben der Altersgrenze für Triepel widersetzt. Als Grund hierfür gab man seine jüdische Versippung (seine Frau war jüdischer Abstammung) und das mehrfache Eintreten für jüdische Schüler und Kollegen an. So hatte er im April 1933 zugunsten seines damals in Göttingen lehrenden Schülers Gerhard Leibholz beim preußischen Wissenschaftsminister interveniert. Auch die von ihm mit unterzeichnete Eingabe der Historischen Reichskommission zugunsten eines jüdischen Extraordinarius könnte die nationalsozialistischen Machthaber provoziert haben. Vor dieser infamen antisemitischen Machtpolitik mag Triepel schließlich resigniert haben. Er hat wohl auch gewusst oder zumindest geahnt, dass, wie er später in einem vom 23. Januar 1946 datierenden Brief an seine Tochter Hertha v. Gebhardt voller Bitterkeit schrieb, seine „Professur für Karl Schmitt, also für einen kolossalen Nazi freigemacht werden musste“24. Vielleicht verlor er aber auch deshalb, weil sich die verbrecherischen Züge des „Dritten Reiches“ immer eindeutiger abzeichneten, nach und nach das Interesse, einem solchen widerwärtigen Regime weiterhin als Staatsrechtslehrer zur Verfügung zu stehen. Wie dem auch sei, Triepel hat es jedenfalls strikt abgelehnt, bei den Hochschulbehörden den formal zwar möglichen, aber wohl kaum erfolgversprechenden Antrag auf weitere Ausübung seiner Lehrtätigkeit zu stellen. So sah er sich genötigt, im Alter von knapp über 67 Jahren, vor dem „Eindringen der Pöbelherrschaft des Dritten Reiches in die Universität ... in ruhiger Würde“ vorzeitig Abschied vom Lehramt zu nehmen25. 1938 scharten sich Teile der Fakultät noch einmal um den Siebzigjährigen, um ihm die Geburtstagsglückwünsche darzubringen. Wie Erich Kaufmann berichtet hat, war es „eine ernste und mit schweren Sorgen belastete Feier, bei der Dekan und Jubilar in Erinnerung an die vergangenen ruhmreichen Jahre freier Forschung und freier Lehre und in tiefer Bekümmernis um den Verlust dieser Güter ihre Ansprachen mit gedämpfter und tränenerstickter Stimme hielten“26.

III. Triepel war nicht nur ein herausragender Wissenschaftler, der sich ein beeindruckendes Lebenswerk abgerungen hat, sondern auch ein unermüdlicher und erfolgreicher Wissenschaftsorganisator. So war er maßgeblich an der Gründung des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, des heutigen Max-Planck-Instituts für ausländisches

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Anschütz, Aus meinem Leben (Anm. 1), S. 329. Privatarchiv des Verfassers. Smend, Heinrich Triepel (Anm. 9), S. 120. Kaufmann, Heinrich Triepel (Anm. 20), S. 60.

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öffentliches Recht und Völkerrecht, beteiligt. Im Vorfeld wirkte er auch an der Entstehung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht mit. Auch der Deutsche Juristentag verdankt ihm viel. Triepel war maßgeblich daran beteiligt, dass das bis zur ersten Nachkriegstagung 1921 in Bamberg weitgehend gemiedene Verfassungsrecht in die Verhandlungsgegenstände einbezogen wurde, und hat dann auch selber thematisch einschlägige Referate beigesteuert. Auf dieser Tagung wurde Triepel als Mitglied in die Ständige Deputation des Deutschen Juristentags aufgenommen und 1931 zu deren Vorsitzendem gewählt. In dieser Funktion sah er sich aufgrund der im Frühjahr 1933 eingetretenen politischen Lage zum sofortigen Handeln gezwungen. Auf der eilig vorverlegten Sitzung der Ständigen Deputation wurde der schicksalsschwere Entschluss gefasst, den für September 1933 geplanten Deutschen Juristentag zu vertagen. Gleichzeitig lehnte es die Deputation ab, ihren Rücktritt zu erklären. Abschließend hielt Triepel eine würdevolle und bewegende Abschiedsrede. Begleitet von dem mutigen Wort des Deputationsmitglieds Alexander Graf zu Dohna „lieber in Ehren untergehen als in Schande weiter bestehen“ hatte der Deutsche Juristentag damit de facto sein Ende gefunden27. Noch größere Verdienste als um den Deutschen Juristentag hat sich Triepel um eine weitere zentrale Institution des heutigen Rechtslebens in Deutschland erworben: Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer verdankt ihm ihre Gründung. Schon auf dem Bamberger Juristentag, wo eine größere Anzahl von Lehrern des Staatsrechts zugegen war, hatte man sich darauf verständigt, in regelmäßigen Zwischenräumen Zusammenkünfte von deutschen Staatsrechtslehrern zu veranstalten. Allgemein bestand ein dringliches Bedürfnis, der wissenschaftlichen Diskussion einen stabilen organisatorischen Rahmen zu geben. Allein schon die neue Verfassungslage in Reich und Ländern ließ es als sinnvoll erscheinen, sich mit den Fachkollegen auszutauschen, um sich der eigenen Positionen zu vergewissern oder sie zu revidieren. Hinzu kam, dass die merkliche Politisierung innerhalb der eigenen Reihen sowie der noch nicht offen ausgetragene Methodenstreit den internen Diskussionsbedarf verstärkt hatte. Dass man Triepel angetragen hat, die Gründung der Vereinigung und die erste Tagung zu organisieren, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass er wie kaum ein anderer hierfür prädestiniert war: Er genoss nicht nur eine außerordentliche Reputation als Wissenschaftler, sondern repräsentierte auch in politischer Hinsicht die Mehrheitsströmung der deutschen Staatsrechtslehre. Mit seinem starken Integrationswillen ist es ihm in der Folge gelungen, die Staatsrechtslehrer in ihrer Gesamtheit vor einer ihre fachliche Autorität und Glaubwürdigkeit zerstörenden Fragmentierung in verschiedene, miteinander zerstrittene weltanschaulich-politische Lager zu bewahren. Der Vereinigung gelang es, die erste von den Zeitläuften diktierte Aufgabe, nämlich die wissenschaftliche Aufarbeitung und Durchdringung einer neuen Staatsverfassung, in vollem Maße zu erfüllen. Sie hat 27



Ernst Wolff, Erinnerungen aus der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages, in: Süddeutsche JuristenZeitung 5 (1950), Sp. 817–820; Peter Landau, Die deutschen Juristen und der nationalsozialistische Deutsche Juristentag in Leipzig 1933, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 16 (1994), S. 373–390.

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nahezu alle wichtigen Fragen des Öffentlichen Rechts, die damals nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die öffentliche Meinung in der noch jungen demokratischen Republik beschäftigten, in Referaten und Debatten gründlich erörtert. Auf diese Weise hat die Vereinigung in einer ganzen Reihe von Gegenständen nicht nur der Rechtslehre grundlegende Übersichten angeboten und neue Einsichten verschafft, sondern auch wertvolle Beiträge zur Gestaltung der Verfassungswirklichkeit geleistet. Freilich konnte sie die methodologischen Gegensätze nicht auösen, doch gebührt ihr das Verdienst, diese klar offen gelegt und so für den Methodenstreit jener Jahre wichtige Denkanstöße gegeben zu haben. Im April 1933 musste freilich selbst der überzeugte Integrator Triepel erkennen, dass es illusionär war, ein gemeinsames wissenschaftliches Forum mit den Parteigängern des NS-Regimes und ihren Sympathisanten aufrechtzuerhalten, zumal schon einige namhafte Mitglieder, wie zum Beispiel Gerhard Anschütz, ausgetreten sowie alle jüdischen Mitglieder „beurlaubt“ waren. Die mutigen und klaren Worte, die Triepel auch in dieser schwierigen Situation gefunden hatte, konnten die faktische Agonie der Vereinigung nicht verhindern. Dieselbe aufrechte Haltung wie bei der Auösung der Staatsrechtslehrervereinigung und des Deutschen Juristentags zeigte Triepel auch auf der Sitzung der „Rechtsschutzgemeinschaft der deutschen Fakultäten“ am 7. März 1933. Diese Organisation war aus einem von allen deutschen Juristenfakultäten unterstützten Protest hervorgegangen, der Ende 1931 an das Reichsministerium des Inneren gerichtet und gleichzeitig über die Presse öffentlich bekannt gemacht worden war. 1931 wurde Triepel als einziger Jurist in die Historische Reichskommission berufen. Auch in dieser Funktion hat er sich für Kollegen eingesetzt, die nach der Machtübergabe an Hitler von „Säuberungsmaßnahmen“ betroffen waren, gleichviel, ob sie ihm politisch und wissenschaftlich nahe standen oder nicht. Seine aufrechte Haltung gegenüber den Pressionen des NS-Regimes und seiner Parteigänger har er noch mehrfach bewiesen. So trat er zum Beispiel in seiner Eigenschaft als Mitherausgeber des „Archiv des öffentlichen Rechts“, der damals angesehensten öffentlichrechtlichen Zeitschrift, vehement gegen deren „Selbstgleichschaltung“ ein. Triepels zahlreiche außeruniversitäre Aktivitäten erstreckten sich auch auf die Felder der Politikberatung und der Verfassungspolitik. So ist er etwa von der Reichsregierung in Anerkennung seiner großen Expertise in Föderalismus-Fragen als unabhängiger Sachverständiger in den Verfassungsausschuss der Länderkonferenz 1928 berufen worden. Bedeutsamer und folgenreicher als seine dortige Tätigkeit ist der zusammen mit seinem Geistesverwandten Erich Kaufmann und anderen erstellte Verfassungsentwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft“, der als einziger von den der Weimarer Nationalversammlung vorliegenden zahlreichen Privatentwürfen auf die Beratungen der Weimarer Reichsverfassung wesentlich eingewirkt hat. Der Entwurf enthielt einen 40 Artikel umfassenden Katalog von Grundund Freiheitsrechten, die in bewusster Anlehnung an das amerikanische Vorbild und die Paulskirchenverfassung „Richtschnur und Schranke für die Verfassung, die Gesetzgebung und die Verwaltung im Reiche und in den Einzelstaaten bilden“ sollten (Art. 51). Man

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wollte „keine nichtssagenden allgemeinen Redensarten und Verheißungen machen, sondern dem großen Gedanken der Grenzen der Staatsgewalt, der Freiheit einer persönlichen Sphäre vom Staate einen juristischen Ausdruck geben“28. Den Schutz der Grundrechte wollte man nicht nur mittelbar über die Aufsichtsgewalt des Reiches über die Einzelstaaten garantiert sehen. Vielmehr traten die Verfasser dafür ein, dass alle Gerichte berechtigt und verpichtet sein sollten, die Verfassungsmäßigkeit der von ihnen anzuwendenden Gesetze zu prüfen (Art. 147). Triepel hat dieses Anliegen (auch) rechtsvergleichend untermauert: „Die Bürger der Vereinigten Staaten betrachten das richterliche Prüfungsrecht als ein Palladium ihrer Freiheit. Die Deutschen werden gut daran tun, nach einem gleichen Schutzmittel zu rufen“29. Gerade mit Blick auf rechtsschutzbewehrte Grundrechtsgarantien kann die Leistung der Verfasser dieses Entwurfs nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie ist vor allem vor dem Hintergrund bemerkenswert, das Hugo Preuß, der damals als der am weitesten links orientierte deutsche Staatsrechtslehrer galt, der Aufnahme eines umfassenden Grundrechtskatalogs in die Verfassung widersprach, indem er auf die Gefahr hinwies, dass nach den Erfahrungen von 1848/49 im endlosen Gerede über den individuellen Freiheitsschutz die Zeit für die lebenswichtige Herstellung und Wahrung der nationalen Einheit vertan werden würde. Freilich kann es kaum überraschen, dass sich gerade eher liberalkonservativ Gesinnte so vehement für die Verankerung von Grundrechten und richterlichem Prüfungsrecht in der Verfassung einsetzten. Gleichsam prototypisch für diese grundrechtsfreundliche – und damit zwangsläufig auch demokratiekritische – Haltung sind die Überlegungen Triepels aus der von ihm so empfundenen „wilden Zeit“ des Februar 1919: „Wie die Geschichte lehrt, vermag demokratischer Absolutismus entsetzlicher zu sein als monarchischer Despotismus“30. Deshalb sei es eine besondere Aufgabe, in der künftigen Verfassung Gegengewichte gegen diese Gefahr zu schaffen, was – wie Triepel klar erkannt hat – um so notwendiger sein werde, „als die sozialistische Gedankenwelt, die im künftigen Staate im großen Umfange zur Verwirklichung kommen wird, einer starken Ausdehnung der staatlichen Gewalt geneigt ist. Mehr als früher wird deshalb das Bedürfnis bestehen, die Freiheit des Bürgers vom Staate zu betonen“31.

IV. Triepel hat sich zwar nie aktiv politisch betätigt, besaß aber gleichsam schon von Berufs wegen eine politische Grundüberzeugung. Nach eigenem Bekunden ist er „immer ein

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Erich Kaufmann, Der Verfassungsentwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft“, in: Recht und Wirtschaft 8 (1919), S. 46–49. Heinrich Triepel, Die Entwürfe zur neuen Reichsverfassung, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 43 (1919), S. 459–484. Ebenda, S. 478. Ebenda.

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christlicher Konservativer gewesen“32. Vor dem Ersten Weltkrieg sah Triepel seine politische Heimat in dem von Friedrich Naumann 1896 gegründeten Nationalsozialen Verein. Seine anfänglichen Sympathien für die Naumannsche Bewegung erloschen, als diese sich dem Konzept eines sozialen Volkskaisertums zuwandte. Triepel tendierte demgegenüber zu einem gouvernemental getönten Konservativismus. Hiermit steht in Einklang, dass er bis 1918 Mitglied der Deutschen Reichspartei war, die er einmal selbst als den „linke[n] Flügel der Konservativen“ bezeichnet hat33. Trotz seiner Parteimitgliedschaft war Triepel aber ebenso wie die Mehrzahl der Professoren des Bismarckreiches der Meinung, dass sich Gelehrte nicht unmittelbar politisch engagieren oder gar aktive Parteipolitik betreiben sollten. Man betrachtete sich vielmehr als über den Parteien stehend und nur dem Gesamtwohl der Nation verpichtet. Diese quietistische Grundhaltung sollte sich mit Beginn des Ersten Weltkriegs ändern. An der zu jener Zeit verbreiteten Kriegspublizistik hat sich Triepel, als eher der nüchternen Analyse verpichteter Jurist, nicht beteiligt. Dem erhitzten Klima allgemeiner geistiger Mobilmachung vermochte sich Triepel aber ebenso wenig wie viele seiner Kollegen zu entziehen. So hat er die sog. „Intellektuelleneingabe“ vom 20. Juni 1915 unterstützt. Mit ihr sollten vor allem die Professorenschaft, aber auch breitere Teile der Öffentlichkeit, für eine entschieden annexionistische Kriegführung gewonnen werden. Die Intellektuelleneingabe bekräftigte den damals weitverbreiteten Glauben an den Verteidigungscharakter des Krieges. Annexionen in Ost- und Westeuropa sowie der Neuaufbau des afrikanischen Kolonialreichs wurden gefordert. Auch verlangte man, England im Falle eines Sieges hohe Kriegsentschädigungen aufzuerlegen. Unter den 1347 Unterzeichnern befanden sich neben Triepel noch 351 weitere, teils weltberühmte Hochschullehrer. Das öffentliche Engagement Triepels für die „Annexionisten“ verwundert insofern nicht, als er sich gleich zu Kriegsbeginn dem Kriegsmarineamt zur Mitarbeit in Fragen des Seerechts und des Kriegsrechts freiwillig zur Verfügung gestellt hatte. Triepel schreckte denn auch nicht davor zurück, der Marineleitung die völkerrechtliche Unbedenklichkeit des U-Boot-Krieges einschließlich der Torpedierung des britischen Hilfskreuzers Lusitania am 7. Mai 1915 zu bescheinigen. Triepels Sympathien gehörten auch während des weiteren Kriegsverlaufs den „Annexionisten“ und den weitgehend gruppenidentischen „Orthodoxen“. Er bezog noch zweimal öffentlich Stellung, und zwar in der Auseinandersetzung um die Alternativen „Siegfrieden“ oder „Verständigungsfrieden“34. Nachdem das Kaiserreich in Trümmer gegangen war, gedachten die konservativen Hochschullehrer nicht, sich schicksalsergeben auf Trauerarbeit zu beschränken: Schon vor der Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 war durch die DNVP ein „Reichs­ ausschuss deutschnationaler Hochschullehrer“ gegründet worden. Dieser Ausschuss ver32



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Schreiben Triepels an Otto Koellreutter vom 18. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen. Heinrich Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche. Eine staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen 1907, S. 99. Näher Ulrich M. Gassner, Heinrich Triepel – Leben und Werk, Berlin 1999, S. 178 f.

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öffentlichte Mitte Januar 1919 einen auch von Triepel unterzeichneten „Aufruf deutscher Hochschullehrer“ zur Wahl der DNVP, deren Mitglied er zu jener Zeit vermutlich schon geworden war. Der Aufruf enthielt neben einem damals bei allen Parteien üblichen Bekenntnis zum „Volksstaat“ die gängigen Standardtopoi der „nationalen Opposition“. So hat man ganz im Sinne der sog. Dolchstoßlegende der „revolutionären Sozialdemokratie“ die Schuld an der Niederlage zugewiesen. Späteren, im Ton nationalistischer Demagogie gehaltenen öffentlichen Erklärungen deutscher Hochschullehrer blieb Triepels Zustimmung ebenso versagt wie einem Wahlaufruf von Hochschullehrern für die DNVP 1924, obwohl er zu dieser Zeit noch Parteimitglied war. Dieses Verhalten offenbart eine zumindest graduelle Abkehr Triepels von deutschnationalen Ideologemen, die denn auch schließlich dazu geführt hat, dass er die DNVP zusammen mit Rudolf Smend Ende 1929/Anfang 1930 verließ, weil er der radikalen Richtung Hugenbergs nicht Folge leisten mochte. Seine Sympathien galten vielmehr dem DNVP-Dissidenten Gottfried Treviranus und der von diesem und seinen Anhängern gegründeten Volkskonservativen Vereinigung (VKV), die sich ausdrücklich auf den Boden der geltenden Verfassung stellte. Mit seiner Entscheidung gegen die DNVP Hugenbergscher Prägung vollzog Triepel auch äußerlich den Schritt hin zu einer gemäßigteren Haltung, die der Historiker Friedrich Meinecke, der derselben Generation angehörte, gleichsam prototypisch verkörpert hat. Meinecke ist ein eindrucksvoller Zeuge dafür, wie tragisch schwer der Prozess der Ablösung von kraft Biographie und Herkunft tief eingewurzelten monarchistischen Denktraditionen fallen musste. Schon im Januar 1919 brachte er jene Haltung zum Ausdruck, die einem zahlenmäßig nicht sehr großen, aber doch beachtenswerten Teil des geistigen Deutschland forthin eignen sollte: „Ich bleibe, der Vergangenheit zugewandt Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner“35. Zu der Zeit als Meinecke dieses politische Bekenntnis formulierte, traf Triepel mit seiner Mitarbeit im Verfassungsausschuss des Vereins „Recht und Wirtschaft“ de facto dieselbe Entscheidung. Denn dieser Ausschuss stellte sich mit seinem Verfassungsentwurf „vorbehaltlos auf den Boden der von der Revolution geschaffenen Tatsachen“ und war bestrebt, „eine auf rein demokratischer Grundlage stehende Verfassung zu entwerfen“36. Auch im akademischen Unterricht zeigte sich Triepel loyal gegenüber der Verfassung. Er übte Kritik an ihr, mied aber feindselige Bemerkungen37. Triepels „Vernunftrepublikanismus“ waren jedoch Grenzen gezogen. So konnte er sich selbst nach seinem DNVP-Austritt nicht, wie zum Beispiel Gerhard Anschütz und Richard Thoma, zu einem öffentlichen Bekenntnis zur Weimarer Republik in Form eines Professorenaufrufs durchringen. Er war eben kein

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Friedrich Meinecke, Zur nationalen Selbstkritik, in: derselbe, Politische Schriften und Reden, hrsg. und eingeleitet von Georg Kotowski (Friedrich Meinecke, Werke, II), Darmstadt 1958, S. 254–256. Kaufmann, Der Verfassungsentwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft“ (Anm. 28), S. 46. Eschenburg, Aus dem Universitätsleben (Anm. 19), S. 37.

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„Überzeugungsrepublikaner“ im Sinne einer bewussten, aus innerer Überzeugung getroffenen Entscheidung für die Weimarer Staatsverfassung. Triepels Haltung, die für die 1860er Generation keineswegs untypisch ist, lässt sich auch entwicklungspsychologisch erklären. Danach ist die weltanschauliche und politische Grundorientierung im Regelfall bis etwa zum 25. Lebensjahr herausgebildet. Mit fortschreitendem Alter werden die in dieser Prägephase erworbenen Einstellungen konsolidiert. Wegen dieser „Alterspersistenz“ waren wohl auch der Bereitschaft Triepels, seine monarchistisch geprägte Grundhaltung demokratisch zu läutern, Grenzen gesetzt. Darüber hinaus dürften auch die instabilen politischen Verhältnisse jener Zeit wenig dazu angetan gewesen sein, Triepels kritische Haltung gegenüber der modernen Parteiendemokratie und ihren Auswüchsen aufzuweichen. Daher konnte für ihn die konstitutionelle Monarchie mit ihrer starken, integrierenden Exekutive und ihren rechtsstaatlichen Gewährleistungen in einem umso helleren Licht erscheinen, zumal sie über lange Zeit mit einer Phase des nationalen Aufstiegs verbunden gewesen war. Triepels „Herzensmonarchismus“ offenbarte sich auch in Einzelfragen. Signifikant für eine gewisse reservatio mentalis gegenüber der republikanischen Staatsform war etwa das in der Diskussion mit seiner Tochter Hertha über den Weimarer Flaggenstreit geäußerte Votum für „Schwarz-Weiß-Rot“38. Seine Ablehnung von „SchwarzRot-Gold“ als Symbol der Republik und republikanischer Gesinnung entsprach freilich durchaus der damaligen Mehrheitsmeinung an der Friedrich-Wilhelms-Universität. War die innere Distanz zur Weimarer Republik unter Hochschullehrern alles andere als ungewöhnlich, so verwundert es nicht, dass die Machtübergabe Anfang 1933 auch in diesen Kreisen – jedenfalls zunächst – vielfach auf Zustimmung stieß. Die großen sozialen und nationalen Probleme der Weimarer Republik erschienen nur lösbar durch einen politischen Neubeginn, den nach Lage der Dinge im März 1933 nur eine Regierung Hitler leisten konnte, während alle anderen politischen Optionen als verbraucht angesehen wurden. Auch Triepel hielt diese Radikalkur offenbar für unvermeidbar und bezeichnete in einem kurz nach Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes erschienenen Zeitungsartikel die „nationale Revolution“ als legitim, weil er in ihr die berechtigte „Auehnung der deutschen Seele“ gegen das Diktat von Versailles und überhaupt gegen „alles Undeutsche“ sah. In Anknüpfung an seine Parteienrede von 1927 erklärte er auch das „Mißgebilde des Parteienstaats“ für erledigt und glaubte, „des fröhlichen Glaubens“ leben zu können, dass ihm „ein gnädiges Geschick noch vergönnen“ werde, was er „damals nur als schönen Traum zu deuten wagte“39. Zur offenen Apologie des Führerstaates, wie andere Staatsrechtslehrer, verstand er sich jedoch nicht. Genauso wenig machte er sich – anders als nicht wenige Fachkollegen – in irgendeinem Punkt zum Verfechter der nationalsozialistischen Staatsauffassung. Die seinerzeit im staatsrechtlichen Schrifttum verbreitete Hypostasierung des Führergedankens und der Volksgemeinschaft als Grundlagen der Staatsorganisation sucht man bei Triepel vergebens. Die 38 39



Mündliche Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts an den Verfasser. Heinrich Triepel, Die nationale Revolution und die deutsche Verfassung, in: Deutsche Allgemeine Zeitung 157, 2. April 1933.

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Trennlinie zwischen volkskonservativem und nationalsozialistischem Staatsdenken ist bei ihm doch recht klar gezogen, wobei er allerdings wohl im Stillen gehofft hat, die hässlichen Nebenerscheinungen der Machtübergabe an Hitler seien nur Einzelfälle, so dass auf längere Sicht mit einer maßvolleren Politik gerechnet werden könne. Die von ihm mit vielen Zeitgenossen geteilten Hoffnungen auf einen Ausweg aus der permanenten Krise des Weimarer Parteienstaates sollten sich indes sehr bald als trügerisch erweisen, so dass die anfänglich vorhandene Sympathie mit den neuen Machthabern nach kürzester Zeit erschöpft war40. Zwar leistete Triepel keinen aktiven Widerstand, machte aber als moralisch integere Persönlichkeit schon früh aus seiner genuin antinationalsozialistischen Gesinnung kein Hehl und wandte sich öffentlich mehrfach gegen die Abwertung des Rechtsstaats als eines angeblich nur formalen Gesetzesstaates41. Dementsprechend war Triepel nie Mitglied der NSDAP, deren Gliederungen oder angeschlossener Verbände. Aus seiner Distanz zum NS-Staat machte er auch im gleichgeschalteten beruichen Umfeld kein Geheimnis. Zu den zahlreichen „furchtbaren Juristen“ jener Zeit gehört Triepel nach alledem eindeutig nicht. Er ist vielmehr den Dissidenten unter den Staatsrechtslehrern zuzurechen42. Seine anfangs eher pragmatische und schwankende, dann aber aufrechte und unbeugsame Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus war kein Zufall. Sie gründet in einem Wissenschaftsethos, das Jurisprudenz und Rechtsgelehrte der Gerechtigkeitsidee unterwirft. In einem Glückwunsch zum 70. Geburtstag seines Berliner Fakultätskollegen Heinrich Titze am 23. Oktober 1942 fasste Triepel sein Wissenschaftsideal in folgende eindringliche Worte: „Vor langen Jahren nannte ein großer Rechtslehrer die Jurisprudenz eine Magd des Rechts; aber diese Magd, sagte er, trage eine Königskrone. Wiederholt hat es Zeiten gegeben, in denen man der Rechtswissenschaft ihre Krone hat rauben, sie zur bloßen Magd und nicht nur zur Magd des Rechts, sondern zur Dienerin maßloser Willkür hat erniedrigen wollen. Nichtswürdig waren diese Männer, die sich solcher räuberischer Gewaltthat fügten. Ein Rechtslehrer ist nicht nur Künder des Rechts, sondern auch Priester der Göttin Gerechtigkeit, deshalb ist sein, wie des Richters Amtskleid nicht die Uniform des Beamten, sondern der priesterliche Talar. Den Rechtslehrer in seiner priesterlichen Stellung antasten, heißt ein Sakrileg begehen, und der Rechtslehrer, der sich dem widerstandslos beugt, begeht einen Verrath an der Gottheit“43.

V. Wendet man den Blick nun hin zum literarischen Schaffen Triepels, so lässt sich sein Werk in seiner Fülle und Vielgestaltigkeit kaum auf eine knappe Formel bringen. Einerseits zeichnet es sich von Beginn an durch die spezifisch juristischen Tugenden des Strebens nach 40 41



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So Smend, Heinrich Triepel (Anm. 9), S. 120. Gerhard Leibholz, Einleitung zum Neudruck 1961, in: Heinrich Triepel, Die Hegemonie, Aalen 1974, S. VII– XI. So auch Gertrud Rapp, Die Stellung der Juden in der nationalsozialistischen Rechtslehre, Baden-Baden 1990, S. 170–176. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Nachlass Heinrich Titze, Bl. 38.

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analytischer Schärfe, präziser Formulierung des Begriffsinstrumentariums und konziser, lebensnaher Systembildung aus. Andererseits sind bei ihm Züge einer Zwischenbegabung erkennbar. Zwar wäre es unzutreffend zu behaupten, Triepels Neigungen hätten nicht primär der Jurisprudenz im strengen Sinne gegolten, doch ist kaum eine Schrift oder Abhandlung in seinem Lebenswerk zu entdecken, in der er nicht die je verschiedene soziale und vor allem geschichtliche Bedingtheit von Recht und Gesetz betrachtet und mit großem Einfühlungsvermögen, Liebe und tatsachengetreuer Sorgfalt dargestellt hätte. Dieses Grenzgängertum kulminiert in seinem bedeutenden Alterswerk „Vom Stil des Rechts“ (1947) wo, um die Frage nach dem Ästhetischen im Recht zu klären, Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Germanistik und Soziologie hilfswissenschaftlich herangezogen werden. Nicht zuletzt diesem modernen interdisziplinären Ansatz ist es zu verdanken, dass gerade diese Studie erst unlängst wieder in den Fokus der Staatsrechtswissenschaft geraten ist44. Was den eigentlichen Rechtsdenker Triepel anbelangt, so beeindruckt vor allem seine außerordentliche Originalität, die geradezu als inhaltstypologisches Signum seines Lebenswerks bezeichnet werden kann. Das ius primae inventionis gebührt ihm in mehrfacher Hinsicht. Am folgenreichsten war sicher die vom ihm verfochtene materiale Deutung des Gleichheitssatzes, d.h. einer gleichheitsrechtlichen Bindung nicht nur der rechtsprechenden und ausführenden, sondern auch der gesetzgebenden Gewalt, die dann über seinen Schüler Gerhard Leibholz in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Eingang fand, nachdem sie sich in der Weimarer Rechtsprechung noch nicht hatte durchsetzen können. Triepel war es auch, der die amerikanische Doktrin der implied powers (ungeschriebene Gesetzeskompetenzen) in das deutsche Verfassungsrecht eingeführt hat. Als einussreicher Protagonist materialen Rechtsstaatsdenkens hat er gerade auch in den krisenhaften Phasen der ersten deutschen Republik entscheidend zur inhaltlichen Aufwertung der Weimarer Verfassung beigetragen. So betrachtete Triepel die Grundrechte schon früh als „legalisierte Wertungen“45 und wollte ihnen damit, im Gegensatz zu dem damals verbreiteten formalistischen Verständnis, mehr Geltungskraft gegenüber dem Gesetzgeber verleihen. Außerdem sollte ihre Durchsetzung durch ein richterliches Recht zur Prüfung der Grundrechtskonformität von Gesetzen gesichert werden. Auch in seiner Kritik am Parteienstaat, die u.a. auch die Ämterpatronage ins Visier nahm, kam eine materiale Deutung der einschlägigen Verfassungsnormen zum Tragen. So sah er in der verfassungsrechtlichen Garantie des freien Abgeordnetenmandats eine Wertentscheidung gegen den absoluten Parteienstaat. Zwar mag die Motivation für eine solche Aufwertung der Grundrechte und grundrechtsähnlicher Grundsätze auch in einer gewissen inneren Distanz gegenüber der parlamentarischen Demokratie begründet liegen. Gerade Triepels – freilich heute nicht

44



45



Andreas von Arnauld/Wolfgang Durner, Heinrich Triepel und die Ästhetik des Rechts, in: Heinrich Triepel, Vom Stil des Rechts (1947), Berlin 2007, S. V–XLII. Heinrich Triepel, Redebeitrag, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 4 (1928), S. 89 f.

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weniger aktuelle – Kritik am Parteienstaat moderner Prägung zeugt von dieser skeptischen Haltung. Auch mag sein verfassungspolitisches Selbstverständnis als Vernunftrepublikaner deutschnationaler Prägung sicher mit ursächlich für seine kritische Sicht der Verfassungswirklichkeit gewesen sein. Dennoch wäre es verfehlt, diesem Erklärungsfaktor allzu große Bedeutung beizumessen. Triepel war aufgrund seines nüchternen, allein der Suche nach Wahrheit verpichteten Wissenschaftsethos durchaus davor gefeit, seine staatsrechtlichen Grundauffassungen den Tagesopportunitäten anzupassen. Der bloße Umstand, dass er das neue Regime nur vernunftmäßig akzeptierte, war ihm deshalb kein Anlass, strengere Maßstäbe an den Schutz des Individuums vor staatlichen Übergriffen zu stellen. Ursächlich hierfür dürften eher die konkreten Erfahrungen mit der Massendemokratie Weimarer Prägung sein. Zumindest fiel der Vergleich mit dem zwar weitgehend undemokratischen, aber doch rudimentär rechtsstaatlichen Kaiserreich in dieser Hinsicht nicht immer zugunsten der neuen Staatsform aus. Dies gilt etwa für die von Triepel heftig kritisierte „Flucht in den Verordnungsstaat“. Schließlich, und das ist der entscheidende Punkt, weist das Staatsrechtsdenken Triepels im Revolutionsjahr 1918/19 keinen opportunistisch motivierten Bruch auf. Seine zahlreichen Untersuchungen und Abhandlungen zu zentralen Fragen des Staatsrechts waren vielmehr konsequenter Aususs seiner schon 1907/08 entwickelten „publizistischen Interessenjurisprudenz“. Diese antipositivistische Methodenauffassung hat er dann in der Weimarer Zeit unter Rekurs auf verschiedene Strömungen der (Rechts-)Philosophie zum Drei-Stufen-Modell einer normativ geläuterten Wertungsjurisprudenz weiterentwickelt. Entscheidend sind danach zunächst die Wertungen, die im Gesetz ausgedrückt werden (1), dann das Rechtsbewusstsein der rechtlich verbundenen Gemeinschaft (2) und schließlich die Überlegung, wie die Gesetzgeber entscheiden müssten (3). Triepels Konzept der „publizistischen Wertungsjurisprudenz“ enthielt, wie besonders in seiner berühmten Berliner Rektoratsrede „Staatsrecht und Politik“ (1927) deutlich wird, eine eindeutige Kampfansage gegen die damals noch weitgehend dominierende Staatsrechtslehre Gerber-Labandscher Prägung. Trotz seiner antipositivistischen Haltung kann er nicht der sog. „geisteswissenschaftlichen“ Richtung der Weimarer Staatsrechtslehre zugeordnet werden. Denn er hat nie dafür plädiert, die Normativität des positiven Rechts preiszugeben. Wie sein Weggenosse Erich Kaufmann einmal treffend formulierte, war Triepel in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht für die Generation der jungen antipositivistisch eingestellten Staatsrechtler der zwanziger Jahre ein „wertvolles Bindeglied, das ihr etwas von dem Geiste der Wissenschaft vor 1870 vermittelt[e], die problematisch und mit dem Sinn für die Dynamik des politischen Lebens Reich und Staat gegenüberstand“46. Gerade seine Methode der „publizistischen Wertungsjurisprudenz“ hat Triepel dazu befähigt, die ausgetretenen Pfade der spätkonstitutionalistischen Staatsrechtslehre zu verlassen. Paradigmatisch hierfür ist nicht nur die erwähnte Aufwertung der Grundrechte und des Abgeordnetenstatus, sondern etwa auch seine – heute zum gesicherten Bestand heutiger Staatsrechtslehre gerechnete – Erkenntnis, 46



Erich Kaufmann, Heinrich Triepel / Zu seinem heutigen 60. Geburtstage, in: Der Tag, 12. Februar 1928.

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dass die Verfassung bereits ex definitione politisches Recht par excellence enthält, sein gegenstandsbezogenes Verständnis der Unterscheidung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht, seine These von den immanenten Grenzen der Verfassungsänderung oder seine berühmte, nach wie vor vielfach rezipierte Vier-Phasen-Lehre der Entwicklung politischer Parteien (von der Bekämpfung über die Ignorierung zur Legalisierung und Inkorporation in die Verfassung). Aus alledem erhellt, dass Triepel an dem heute weithin vollzogenen und im Bonner Grundgesetz konkretisierten Paradigmenwechsel von einem formalen zu einem materialen Verfassungsverständnis an führender Stelle beteiligt war. Hierin liegt sein Hauptverdienst und auch seine weiterwirkende Bedeutung, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, ihn zu den bedeutendsten deutschen Staatsrechtslehrern in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zu zählen. Nicht nur in der Staatsrechtslehre gelang es Triepel, Maßstäbe zu setzen und Bleibendes zu schaffen. Auch zur Weiterentwicklung des Völkerrechts hat er mit seiner dogmatischen Grundlegung der dualistischen Lehre in „Völkerrecht und Landesrecht“ (1899) und der damit verbundenen graduellen Abkehr vom klassischen Souveränitätsdogma einen Beitrag geleistet, der national wie international nach wie vor als wegweisend anerkannt ist. Sowohl mitten in den Stürmen des Ersten Weltkriegs als auch nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat er sich gegen die „Leugner des Völkerrechts“ gewendet und dessen Sinnhaftigkeit und Zukunftsfähigkeit hervorgehoben. Andererseits war er realistisch genug, die machtpolitischen Grenzen des Völkerrechts zu erkennen und hat etwa prognostiziert, dass ebenso wie schon der Völkerbund auch die UNO unter der Hegemonie der Großmächte stehen würde. Das Werk Triepels ist erst in neuerer Zeit wieder stärker in den Blick der Fachöffentlichkeit geraten. Allzu lange hat man verkannt, was ihn gegenüber seinen Altersgenossen Hans Kelsen, Carl Schmitt, Rudolf Smend und Hermann Heller, die gemeinhin als die maîtres-penseurs der Weimarer Staatsrechtslehre wahrgenommen werden, auszeichnet: Von allen fünf Protagonisten sind bei Triepel noch die wenigsten Anzeichen von Etatismus, der déformation professionelle der Staatsrechtslehre jener Zeit, zu diagnostizieren. Zwar hat er von seinem Lehrer Karl Binding einen gewissen etatistischen Einschlag seines Denkens übernommen, so dass Triepel teilweise noch dem spätkonstitutionalistischen Machtstaatskonzept verhaftet war. Doch ist die normative Begrenzung staatlicher Machtausübung nach außen und innen ein wesentliches Leitmotiv seines Lebenswerks. Auch wenn er im Ersten Weltkrieg einen konsequent nationalen Standpunkt einnahm, weitgehend am traditionellen Souveränitätsbegriff festhielt und auch die „Hegemonie“ (1938) machtstaatliche Züge aufweist, so war ihm doch auch das humanitäre Kriegsvölkerrecht zeitlebens ein besonderes Anliegen. Noch deutlicher sichtbar ist Triepels individualistische Grundorientierung im Staatsrecht. Sein in der Tradition der vorpositivistischen Staatsrechtslehre verwurzeltes materiales Rechtsstaatsdenken hat ihn befähigt, gerade auch das Drohpotenzial der modernen Massendemokratie für die individuelle Freiheitssphäre sensibler als viele seiner Fachkollegen

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zu erfassen. Weil Triepel insofern „unzeitgemäß“ dachte, war er auch für kollektivistische Ideologien nationalsozialistischen Zuschnitts nicht empfänglich. Auch und gerade in der Zeit des „Dritten Reiches“ hat sich erwiesen, dass Triepels frühere Selbstcharakterisierung als „Enthusiast des Rechtsstaats“47 trotz seiner anfangs pragmatischen Haltung – zur von ihm bewusst widersprüchlich so bezeichneten – „legalen Revolution“ des Jahres 1933 durchaus berechtigt ist. Das – material verstandene – Rechtsstaatsprinzip bildete für ihn unabhängig von der jeweiligen Staatsform schlicht einen rocher de bronce mit absolutem Ewigkeitswert. Mit seinem stets aus einem tiefen Gerechtigkeitsempfinden gespeisten und von einem wachen Sinn für den Freiheitsschutz des Individuums vor staatlicher Übermacht durchzogenen Denken repräsentiert Triepel eine der besten Traditionen der deutschen Staatsrechtswissenschaft.

Werke Das Interregnum, Leipzig 1892. – Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899 (Ndr. 1958). – Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, Tübingen 1907. – Staatsdienst und staatlich gebundener Beruf, Leipzig 1911. – Die Reichsaufsicht, Berlin 1917 (Ndr. 1964). – Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, Tübingen 1923 (Ndr. 1965). – Staatsrecht und Politik, Berlin/Leipzig 1927. – Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, Berlin 1928, 2. Au. 1930. – Die Hegemonie, Stuttgart 1938, 2. Au. 1943 (Ndr. 1961 und 1974). – Delegation und Mandat im öffentlichen Recht, Stuttgart/Berlin 1942 (Ndr. 1974). – Vom Stil des Rechts, Heidelberg 1947 (Ndr. 2007).

Literatur mit biographischen Angaben Andreas von Arnauld/Wolfgang Durner, Heinrich Triepel und die Ästhetik des Rechts, in: Heinrich Triepel, Vom Stil des Rechts (1947), Berlin 2007, S. V–XLII. – Emilio Betti, Heinrich Triepel (1868–1946), in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto 27 (1950), S. 131–137. – Carl Bilfinger, In memoriam Heinrich Triepel, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 13 (1950/51), S. 1–13. – Karl Erich Born, Geschichte der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Tübingen 1817–1967, Tübingen 1957, S. 82, 173 (Porträtfotografie o.S.). – José Luis Carro, Prólogo del traductor, in: derselbe, Derecho público y política. Prólogo (Cuadernos Civitas), Madrid 1974 (2., unveränderte Au. 1984), S. 9–29. – Ernst Conrad, Die Lehrstühle der Universität Tübingen und ihre Inhaber (1477–1927), Diss. phil. Tübingen 1960 (mschr.), S. 26, 175. – Immo Eberl/Helmut Marcon, Dr. iur. Carl Heinrich Triepel, in: 150 Jahre Promotion an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen: Biographien der Doktoren und Ehrendoktoren 47



Heinrich Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 5 (1929), S. 2–28.

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1830–1980, Stuttgart 1984, S. 576 f. (Porträtfotografie S. 777). – Theodor Eschenburg, Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 216 f. (Porträtfotografie S. 155). – Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 50), Berlin 1997, S. 345–348 und passim. – Ulrich M. Gassner, Heinrich Triepel – Leben und Werk (Tübinger Schriften zum Staatsund Verwaltungsrecht, 51), Berlin 1999. – Ulrich M. Gassner, Heinrich Triepel, in: Rafael Domingo (Hrsg.), Juristas Universales, Vol. III, Madrid–Barcelona 2004, S. 852–855. – Ernst Heymann, Zu Heinrich Triepels 65. Geburtstag, in: Deutsche Juristen-Zeitung 38 (1933), Sp. 222 f. – Alexander Hollerbach, Zu Leben und Werk Heinrich Triepels, in: Archiv des öffentlichen Rechts 91 (1966), S. 417–441, 537–557. – Alexander Hollerbach, Zum Gedenken an Heinrich Triepel, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 16 (1967), S. 3 f. – Erich Kaufmann, Heinrich Triepel †, in: Deutsche Rechtszeitschrift 2 (1947), S. 60 f. – Wolfgang Kohl, Triepel, Heinrich, in: Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, hrsg. von Wolfgang Benz und Hermann Graml, München 1988, S. 345 f. – Gerhard Leibholz, In Memoriam Heinrich Triepel (12.2.1868–23.11.1946), in: Deutsche Verwaltung 2 (1949), S. 141 f. – Gerhard Leibholz, Einleitung zum Neudruck 1961, in: Heinrich Triepel, Die Hegemonie, Aalen 1974, S. VII–XII. – Heinrich Mitteis, Heinrich Triepel, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung) 65 (1947), S. 487 f. – Ralf Poscher, Heinrich Triepel. Introduction, in: Arthur J. Jacobson/Bernhard Schlink (Hrsg.), Weimar – A Jurisprudence of Crisis, Berkeley 2000, S. 171–174. – Gertrud Rapp, Die Stellung der Juden in der nationalsozialistischen Rechtslehre, Baden-Baden 1990, S. 170–176. – Ulrich Scheuner, Triepel, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 7, 6. Au. Freiburg 1962, Sp. 1044 f. – Richard Schmidt, Heinrich Triepel zum sechzigsten Geburtstag, in: Deutsche Juristen-Zeitung 33 (1928), Sp. 231 f. – Rudolf Smend, Heinrich Triepel zum 70. Geburtstage, in: Forschungen und Fortschritte 14 (1938), S. 58 f. – Rudolf Smend, Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: Studium Berolinense. Gedenkschrift, hrsg. von Hans Leussink, Edmund Neumann und Georg Kotowski, Berlin 1960, S. 109–128 (123–125, 127) (wieder abgedruckt in: Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Au. Berlin 1968, S. 527–546). – Rudolf Smend, Heinrich Triepel, in: Festschrift für Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag, hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Bd. 2, Tübingen 1966, S. 107–120 (wieder abgedruckt in: Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Au. Berlin 1968, S. 594–608). – Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992, S. 448; Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, S. 61– 64, 171–174, 186–188 und passim. – Universitäts-Bibliothek der Humboldt-Universität (Hrsg.), Die Rektoren der Humboldt-Universität zu Berlin, Halle (Saale) 1966, S. 198 (Porträtfoto S. 199). – Friedrich Volbehr/Richard Weyl, Professoren und Dozenten der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel 1665–1954, 4. Au. bearb. von Rudolf Bülck (Veröffentlichungen der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft N.F., 7), Kiel 1956, S. 38. –

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Francesco Sosa Wagner, Maestros alemanes del Derecho público (II), Madrid/Barcelona 2004, S. 283–305 (2. Au. 2005). – Hans Wehberg, Heinrich Triepel 70 Jahre alt, in: Die Friedens-Warte 38 (1938), S. 39–41. – Volker Neumann, Das öffentliche Recht 1871–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 129–149.

Gustav Mayer Von Wolfgang Ribbe Es ist in unserer Zeit nicht mehr ungewöhnlich, wenn ein Fachjournalist nach absolviertem Studium und jahrelanger Berufspraxis zur Universität wechselt, um fortan als Hochschullehrer zu wirken. Dieser Weg ist gerade auch dann angezeigt, wenn so einer neuen Wissenschaftsdisziplin der Weg geebnet werden kann. Gustav Mayer scheiterte damit vor fast einem Jahrhundert. War die Zeit noch nicht reif, oder gab es andere, spezifische, auch persönliche Ursachen, die ihm eine solche Karriere verwehrten? Als Jude und Sozialist hatte es Gustav Mayer nicht leicht in Wilhelminischer Zeit, an der Berliner Friedrich-WilhelmsUniversität Fuß zu fassen. Eine konservativ-nationalistische Mehrheit im Lehrkörper verhinderte noch 1917 seine Habilitation, und erst nach dem Ende des Kaiserreiches berief ihn ein demokratisch orientierter preußischer Kultusminister auf eine außerordentliche Professur. Seine späte und kurze akademische Karriere beendeten die Nationalsozialisten, die ihn ins Exil zwangen, und von den kommunistischen Trägern der Berliner Humboldt-Universität erfuhr Mayer nach dem Ende der Nazi-Diktatur keine Rehabilitierung. Reduziert man seine wissenschaftliche Laufbahn auf diese nüchternen Fakten, wird man dem Leben und dem Werk Gustav Mayers nicht gerecht. Es sind die ganz persönlichen Lebensumstände, die seine Entwicklung seit frühester Jugend entscheidend beeinusst haben und die ihn auch gesellschaftlich isolierten, ein Umstand, der seine gradlinige Entwicklung auf Dauer behinderte. Als ältester Sohn einer großen jüdischen Kaufmannsfamilie in der uckermärkischen Hauptstadt Prenzlau geboren, verbrachte er seine Kindheit und Jugend in einer engen, provinziellen Umgebung. Private Kontakte zur christlichen Nachbarschaft bekam Gustav Mayer über seine eigene Familie kaum. In seinen „Erinnerungen“ bekennt er: „Wenn auch mein Vater und seine Brüder – der älteste war Stadtverordneter – sich mit dem Leben ihrer Heimatstadt und des sie umgebenden Landkreises zusammengehörig fühlten, so unterhielten sie doch keinen nahen privaten Verkehr mit der nichtjüdischen Bevölkerung. Der Zuschnitt ihres häuslichen Lebens wäre dem nicht entgegengekommen, und bei ihnen selbst bestand kein Bedürfnis danach. Sie beschränkten sich am liebsten auf die eigenen kinderreichen Familien, die miteinander eine Großfamilie bildeten, also eine kleine Welt für sich darstellten“1. Im Alltag hielten alle Familienmitglieder den rituell vorgegebenen Lebensstil 1



Gustav Mayer, Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung. Mit Erläuterungen und Ergänzungen, einem Nachwort und einem Personenregister von Gottfried Niedhart (Bibliothek

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Gustav Mayer *4. Oktober 1871 in Prenzlau, † 21. Februar 1948 in London

des deutschen Judentums, 5), Hildesheim/Zürich/New York 1993 [Nachdruck der Ausgabe Zürich/München 1949], S. 10.

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ein. An den jüdischen Feiertagen blieb das Geschäft geschlossen, am Sabbat gingen die Kinder zwar zur Schule, durften aber nicht schreiben: „Ich war gelehrt worden zu beten, nicht nur nach dem Aufstehen, nach jeder Mahlzeit und vor dem Schlafengehen, sondern auch bei Donner und Blitz, beim Erblicken eines Regenbogens, beim Gewahrwerden der Baumblüte oder wenn die einzelnen Früchte zum ersten Mal im Jahr auf den Tisch kamen“2. Auch wenn Gustav Mayer in der Rückbesinnung glaubt, sich weitgehend von der jüdischen Orthodoxie entfernt zu haben, so dürfte er doch als Kind und Heranwachsender noch voll darin gelebt haben. Seiner christlichen Umgebung erschien er als ein Fremdkörper, was er zu spüren bekam, ohne allerdings in der Lebensrückschau darin bereits eine Form des Antisemitismus erblicken zu wollen: „Ich hatte schon damals den Eindruck, dass die Religion bei der Abneigung meiner Landsleute gegen die Juden nur eine untergeordnete Rolle spielte. Wohl aber war ein starkes Gefühl des Andersseins vorhanden“3. Diese Wahrnehmung des latenten und auch offenen Antisemitismus in Deutschland begleitete ihn sein ganzes weiteres Leben, vom Studium in Berlin, Freiburg i. Br. und Göttingen bis zu seinem Tod im Londoner Exil, doch anders als seine autobiographischen „Erinnerungen“ lassen seine privaten Briefe, insbesondere die an die Eltern gerichteten, durchaus auch nuancierte Einschätzungen erkennen4. Dabei blieb er seiner Religion immer treu. Zu keiner Zeit dachte Mayer daran zu konvertieren, etwa um beruiche Vorteile zu erlangen. Andererseits hat er seinem Vater gegenüber vehement seine Schwester Gertrud verteidigt, die Christin wurde, als sie den Philosophen Karl Jaspers heiratete5. Bei seiner frühen beruichen Orientierung, so bei der Wahl des „Doktorvaters“, seiner Ausbildung zum Antiquar, vor allem aber im Zusammenhang mit seiner langjährigen Tätigkeit für die Frankfurter Zeitung setzte er auf die jüdische Komponente. Studiert hat Mayer vor allem Nationalökonomie, in Berlin bei Gustav Schmoller und Adolph Wagner und in Freiburg bei Georg Adler, der ihn nach einem Wechsel der Universität 1893 in Basel mit einer wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation über „Lassalle als Sozialökonom“6 promovierte. Darin behandelt Mayer Lassalle als Theoretiker der Nationalökonomie, dessen einzelne Thesen er systematisiert, um sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dabei gelangt er „mehr zu ablehnenden als zu zustimmenden Urteilen ... Insbesondere mussten wir die Fassung, in die Lassalle seine Hauptlehre, das von ihm 2

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Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 14. Einen reichen Zitatenschatz bietet Gottfried Niedhart, Identitätskonflikte eines deutschen Juden an der Wende von 19. und 20. Jahrhundert: Gustav Mayer zwischen jüdischer Herkunft und ungewisser deutscher Zukunft, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 20 (1991), S. 315–326. Ebenda, bes. S. 322. Hans-Ulrich Wehler, Gustav Mayer, in: derselbe (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 2, Göttingen 1971, S. 120–132, bes. S. 121, und Bernd Faulenbach, Gustav Mayer. Zwischen Historiker-Zunft und Arbeiterbewegung, in: Marieluise Christadler (Hrsg.), Die geteilte Utopie. Sozialisten in Frankreich und Deutschland. Biographische Vergleiche zur politischen Kultur, Opladen 1985, S. 183–195, bes. S. 185, nennen als Titel irrtümlich „Lassalle als Nationalökonom“.

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so genannte eherne Lohngesetz eingekleidet hat, entschieden verwerfen. Auch von seinem positiven Vorschlage, nämlich Produktivassoziationen mit Staatshilfe zu errichten, konnten wir uns keine wesentliche Förderung für die Hebung der sozialen Not versprechen. Wir mussten überhaupt zugeben, dass Lassalle als ökonomischer Schriftsteller nur wenig Originelles geleistet habe“7. Dagegen schätzt Mayer an Lassalle dessen frühe wissenschaftliche Werke als Philosoph8 und Jurist9, aber vor allem auch seinen wirkungsvollen agitatorischen Einsatz für die Arbeiterbewegung10. Das erklärt auch Mayers langjährige und schließlich erfolgreiche Bemühungen um den schriftlichen Nachlass Lassalles, aus dem er drei Jahrzehnte nach der Dissertation umfassende Teile ediert hat11. Mit seiner Dissertation beschritt Mayer einen Pfad, dem er wissenschaftlich auch weiterhin folgen sollte: Thematisch blieb er der frühen deutschen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, ihrer Organisation und ihren Zielen in Abgrenzung zu den revolutionär und internationalistisch ausgerichteten Bestrebungen stets verbunden. Methodisch bevorzugte er einen biographischen Zugang, der neben Ferdinand Lassalle besonders Johann Baptist von Schweitzer und – in Mayers Hauptwerk – Friedrich Engels berücksichtigt. Beruich hat Gustav Mayer aber keinen gradlinigen Weg eingeschlagen, doch erwiesen sich die Umwege, die schließlich doch noch zur Forschung und Lehre an der Universität führen sollten, als fruchtbar. Die Frühgeschichte der deutschen, aber auch der (west-)europäischen Sozialdemokratie sollte das Leitthema für Mayers wissenschaftliche Forschungen werden, zu denen er aber nur auf Umwegen gelangte. Noch bevor er Ende 1895 einen Posten in der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Zeitung annahm, um dann zu Neujahr 1897 als Korrespondent der Frankfurter Zeitung nach Holland zu gehen, begann Mayer auch, Rezensionen zu schreiben und Beiträge für die Handwerkerenquete des Schmollerschen Vereins für Sozialpolitik zu verfassen. Von dort aus schrieb er auch regelmäßig für die „Soziale Praxis“ und gelegentlich für das „Braunsche Archiv“. Im Frühjahr 1898 wechselte er nach Brüssel, wo er nun für sechs Jahre blieb, allerdings unterbrochen durch monatelange Aufenthalte in Paris zur Zeit der Dreyfus-Affaire. Auch in Brüssel pegte er politische Kontakte, u. a. mit dem Gesandten des Transvaalstaates bei den kontinentalen Großmächten während des südafrikanischen Krieges sowie mit dem neu gegründeten Institut des Sciences Sociale. Am Institut des Hautes Études und der damit verbundenen Université Nouvelle hielt er als Professor Vorlesungen zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsauffassung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. 1904 wechselte Mayer nach Hamburg. Von dort aus arbeitete er an einer Geschichte der Frankfurter Zeitung mit, wobei ihm die Aufgabe zufiel, 7

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Gustav Mayer, Lassalle als Sozialökonom [Diss. Basel], Berlin 1894, S. 137. Ferdinand Lassalle, Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos, 2 Bde., Berlin 1858. Ferdinand Lassalle, Das System der erworbenen Rechte, eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie, 2 Bde., Leipzig 1861, 2. Au. Leipzig 1880. Mayer, Lassalle als Sozialökonom (Anm. 7), S. 138. Gustav Mayer (Hrsg.), Ferdinand Lassalle. Nachgelassene Briefe und Schriften, 6 Bde., Stuttgart/Berlin 1921– 1925 [digitalisierte Ausgabe: Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften].

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die Stellung des Blattes zur Arbeiterbewegung zu behandeln, hatte aber auch Beiträge zur Innenpolitik einiger westeuropäischer Staaten zu liefern. Im Rahmen dieser Tätigkeit verspürte er seine Neigung zur Geschichtswissenschaft, und so entschloss er sich 1906, seine bisherige Tätigkeit aufzugeben, um sich künftig seinen neuen wissenschaftlichen Themen zu widmen. Er ging nach Heidelberg, wo er noch einmal studierte, zunächst bei Erich Marcks und später bei Hermann Oncken. Die Anfänge seines Buches über „Schweitzer und die Sozialdemokratie“ sind in Heidelberg zu lokalisieren, aber bereits im Herbst 1908 ging er dann nach Berlin, wo er weiterhin als Privatgelehrter lebte. 1909 veröffentlichte er diese umfangreiche und quellennahe Studie12. Seine erste bedeutende historische Biographie widmete Mayer also dem umstrittensten Nachfolger Lassalles, dem Juristen Johann Baptist von Schweitzer-Allesiana, der einer Frankfurter Patrizierfamilie italienischen Ursprungs entstammte und dem „Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“ von 1867 bis 1971 vorstand. Mit Schweitzer zeigte sich Mayer als Verfechter von Sozialreformen, verbunden mit einer Parlamentarisierung Deutschlands, und wandte sich gegen die marxistische „Diktatur des Proletariats“, was ihm noch Jahrzehnte später, auch nach seinem Tod, von der DDR-Geschichtsschreibung vorgeworfen werden sollte13. Besonders Schweitzers preußenfreundliche Haltung und seine Verbindungen zum Reichskanzler Bismarck kritisierten die marxistischen Sozialisten. Erst die Nachfolger Schweitzers in der Präsidentschaft des Arbeitervereins leiteten eine politische Umorientierung des Verbandes ein, die anderthalb Jahrzehnte nach seinem Tod zur Gründung der SPD führte. Mayer, der den Arbeiterführern die Fähigkeit zu objektiver Darstellung ihrer politischen Anliegen absprach, ergriff in seiner Biographie selbst Partei für seinen „Helden“. Nicht Marx, der auf revolutionärem Weg die Rechte der Arbeiterschaft einforderte, sondern Lassalle, der die parlamentarische Demokratie propagierte, hatte für Mayer die Richtung vorgegeben, um soziale Veränderungen zu erreichen und „der Mann, der die Lassalleanische Partei wirklich schuf, war Johann Baptist von Schweitzer“14. In der Zeit, als der Journalist Gustav Mayer die beruiche Weiche stellte, um in die Wissenschaft zu wechseln, wirkte er vorübergehend im Auftrag des Militärs und der Reichsregierung auf der politischen Ebene mit. Während des Ersten Weltkrieges stellte er sich – da er als nicht militärdiensttauglich eingestuft worden war – dem Auswärtigen Amt zur Verfügung, um sich im besetzten Belgien für die Belange des Landes und der Bevölkerung einzusetzen. Mit den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten war er von seinem langjährigen Aufenthalt als Korrespondent in Den Haag und in Brüssel her vertraut. Als er die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens erkannte, zog er sich wieder zurück, veröffentlichte 12



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Gustav Mayer, Johann Baptist von Schweitzer und die Sozialdemokratie: Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jena 1909. Hans Schleier, Zu Gustav Mayers Wirken und Geschichtsauffassung: Klassenkampf – Sozialreform – Revolution, in: Horst Bartel/Heinz Helmert/Wolfgang Küttler/Gustav Seeber (Hrsg.), Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Berlin 1976, S. 301–326, u. a. S. 404 f. Mayer, Johann Baptist von Schweitzer (Anm. 12), S. III.

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aber im Sommer 1916 einen Aufsatz über die deutschen Annexionsabsichten in Belgien, mit dem er sich die nachhaltige Feindschaft der Alldeutschen zuzog. Trotzdem übernahm er im Sommer 1917 einen Auftrag des Auswärtigen Amtes, um am Rande der in Stockholm tagenden II. Internationale Kontakte zu den dort anwesenden sozialistischen Führern herzustellen, um deren Friedensbereitschaft zu erkunden. Seinen Erinnerungen zufolge fasste er seine Berichte an das Auswärtige Amt mit dem Ziel ab, eine friedensbereite und reformwillige Politik der Reichsregierung anzuregen. Beide politischen Einsätze beruhten auf illusionären Vorstellungen und schlugen fehl. Im Einverständnis mit dem Auswärtigen Amt nahm Mayer 1917 als Beobachter in Stockholm an dem gescheiterten Versuch der informellen Diplomatie teil, die Möglichkeiten zu einem Frieden auszuloten. Dabei hatte Mayer Kontakt mit den involvierten deutschen Regierungsstellen und dem Generalstab, aber auch mit den Initiatoren der Beratungen, die aus neutralen Ländern stammten, sowie mit Vertretern der verschiedenen Richtungen der deutschen Sozialdemokratie und anderer europäischer sozialistischer Parteien, außerdem mit gemäßigten und radikalen Vertretern der russischen Sozialisten, die kurz zuvor den Zaren zur Abdankung gezwungen hatten und nun um die Macht in Russland konkurrierten. Während uns der Journalist und Historiker Mayer als produktiver Autor begegnet, blieb er in der Politik überwiegend ein Beobachter. Dabei verkehrte er in unterschiedlichen politischen Lagern, fühlte sich aber keinem Milieu gegenüber verpichtet. Gustav Mayer charakterisierte sich selbst als leidenschaftlichen Zeitgenossen, der Orte und Personen des Zeitgeschehens aufsuchte und seine Eindrücke darüber festhielt. So erlebte er z. B. am 4. August 1914 vor dem Reichstag, wie die mit ihm wartende Menge über den Stand der Dinge bei Kriegsbeginn informiert wurde. In seinen Briefen und Tagebuchaufzeichnungen zeigt sich Mayer nicht nur als Zeitzeuge, sondern vor allem auch als reektierender Zeitbeobachter. Lebenslang hat Mayer mit Personen seiner Umgebung korrespondiert, unter ihnen bekannte Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Kultur. Dazu zählten führende Repräsentanten beider Flügel der deutschen Sozialdemokratie, wie Eduard David, Philipp Scheidemann, Karl Kautsky und Eduard Bernstein sowie Vertreter der Sozialistischen Internationale, aber auch zahlreiche Diplomaten und nicht zuletzt seine Historikerkollegen, darunter vor allem Friedrich Meinecke und Hermann Oncken. Zahlreiche Beobachtungen des „Zeitgenossen Gustav Mayer“ vertraute er seinen Tagebuchaufzeichnungen an, was allerdings nicht kontinuierlich geschah, sondern sich auf Perioden beschränkte, in denen er selbst in politische Abläufe involviert war oder die er als Phasen von Zuspitzungen oder Veränderungen wahrnahm. Dazu gehörten seine Mitgliedschaft 1914/15 in der Zivilverwaltung des Generalgouvernements in der belgischen Hauptstadt Brüssel, die Zeit der Februar-Revolution in Russ­ land und des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten sowie seine Aufenthalte in Stockholm bei der Tagung der II. Internationale und die Ereignisse gegen Ende des Krieges beim Friedensschluss von Brest-Litovsk bis zur Bekanntgabe der Bedingungen des Versailler Vertrages. Auch nachdem Mayer 1905 aus einem festen Angestelltenverhältnis bei der Frankfurter Zeitung ausgeschieden war und sich nur noch als freier Mitarbeiter für die Zeitung betätigte,

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blieben seine Bemühungen um ein akademisches Amt zunächst erfolglos, was ihn besonders nach Kriegsbeginn 1914 belastete, denn in einer Zeit der nationalen Mobilisierung wollte er nicht abseits stehen. Mit seiner Berufung in den Dienst der Reichsregierung 1915 erhoffte er sich eine vollständige Integration in die deutsche Gesellschaft, die für Juden immer noch nicht erreicht war. Das zeigte auch die gescheiterte Habilitation an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, die ihm erst nach dem politischen Umsturz 1919 einen Lehrauftrag erteilte, der schließlich 1922 in eine außerordentliche Professur mündete. Als er kurz danach auch in die Historische Kommission für das Reichsarchiv berufen wurde, die u.a. bei der amtlichen Geschichtsschreibung zur Darstellung des Weltkrieges ein Gegengewicht zur Dominanz des Militärs bilden sollte, schien er in der wissenschaftlichen Welt angekommen zu sein. Insbesondere für seine politischen Erkundigungen in Schweden hatte Mayer bereits eingeleitete Bemühungen um seine Habilitation an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zurückgestellt. Nun sah er sich einer mächtigen, von Dietrich Schäfer, Michael Tangl und Eduard Meyer angeführten alldeutschen Fraktion an der Philosophischen Fakultät gegenüber, die sich der Habilitation widersetzte und sie letztlich auch verhinderte, obwohl die liberalen Historiker um Friedrich Meinecke, Hermann Oncken, sowie mit Bedenken auch Hans Delbrück und Otto Hintze sich für Mayer einsetzten. In dem Habilitationsverfahren setzte die Fakultät neben dem Nationalökonomen und Soziologen Heinrich Herkner den Historiker Friedrich Meinecke als Hauptgutachter ein, der in seiner Beurteilung zunächst die wissenschaftliche Persönlichkeit des Habilitanden charakterisierte, der „auf nicht ganz gewöhnlichem Wege zum Studium der neueren Geschichte gelangt[e]“, womit auch das bereits vorangeschrittene Lebensalter des Kandidaten (Mayer war fast 50 Jahre alt) erklärt war. Als Hauptwerk und somit als Habilitationsschrift hatte Mayer den gerade fertiggestellten ersten Band seiner Engels-Biographie eingereicht, deren Qualität Meinecke in seinem Gutachten hervorhob: „Noch höher bewerte ich den Wert der Jugendgeschichte Friedrich Engels. Sie fesselt von Anfang bis zu Ende durch die klare, durchsichtige Darstellung und die feine, oft geistvolle Charakterisierung der zeitgeschichtlichen Strömungen, die den Werdegang seines Helden berührt haben, der gewaltigen Gärung der Geister um 1840, des Übergangs und Umschlags von blutlosen Ideen in modernen Realismus“15. Schwierig war es, der Fakultät die politische Position Mayers zu vermitteln. In seinem Gutachten kam Meinecke zu dem Ergebnis, Mayers „eigene politische Überzeugung ist auch unverkennbar die der bürgerlichen Linken, doch holt er sich seine Urteilsmaßstäbe nicht allein aus ihren Parteischulen, sondern auch aus der Welt des Bismarckschen16 15



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Habilitationsgutachten Friedrich Meinecke vom 20.2.1917, in: Universitätsarchiv Berlin, UK M 109, Bl. 137 r. Im Manuskript durchgestrichen: „bürgerlichen“.

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Realismus und des preußischen und deutschen Staatsgedankens. Man könnte seinen Darstellungen vielleicht vorhalten, dass sie zuweilen zu einseitig den Ansturm der radikalen Bewegungen gegen die historisch erwachsenen alten Lebensmächte, zu wenig diese selbst zur Anschauung bringen. Aber die meisten der bürgerlichen Historiker begehen den umgekehrten Fehler, dass sie die radikalen Bewegungen zu wenig aus ihrer eigenen Voraussetzung heraus beurteilen. Diese Einseitigkeiten werden sich allmählich gegenseitig korrigieren“17. Meinecke ging wohl nicht fehl, wenn er in Mayer einen Wissenschaftler sah, der danach strebte, zwischen bürgerlicher und sozialistischer Geschichtsschreibung zu vermitteln, worauf sich aber weder die Radikalen von rechts noch die von links einließen. Die Alldeutschen verhinderten unter Führung von Dietrich Schäfer Mayers Habilitation, indem sie sein Habilitationskolloquium torpedierten18, um ihn so von der Universität fern zu halten, die Kommunisten schwiegen ihn tot, als sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg der Berliner Universität bemächtigt hatten. Nach dem negativen Ausgang des Habilitationsverfahrens an der Berliner Universität bot ihm Erich Marcks eine Habilitation in München an, was Mayer jedoch ablehnte. Er ging sicher nicht fehl in der Annahme, dass sein Scheitern auf dem „Hass der Alldeutschen“19 beruhte, die seine politische Einstellung nicht teilten, die aber darüber hinaus in Mayer auch den wissenschaftlichen Outsider ablehnten und wohl auch den Juden. Mit dem Ausgang des Krieges verbesserte sich aber Mayers Lage im Hinblick auf seine Bestrebungen, an der Universität Fuß zu fassen. In der Berliner Philosophischen Fakultät sollte eine Professur für die „Geschichte der Demokratie und des Sozialismus“ geschaffen werden20. Auch jetzt gab es wieder kollegiale Rangeleien um die Besetzung dieses Extraordinariats, allerdings mit anderem Ausgang als bei der Habilitation. Eine knappe Entscheidung verschaffte Mayer diese Professur21. Mit der Bestallungsurkunde vom 23. 11. 1922 übertrug der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Gustav Mayer „ein planmäßiges Extraordinariat mit der Verpichtung, die Geschichte der Demokratie und des Sozialismus in Vorlesungen und Übungen zu vertreten“. Gleichzeitig erhielt er „einen Lehrauftrag für Geschichte der politischen Parteien verliehen“22. Konrad Haenisch ernannte ihn mit dem Hinweis darauf, dass die „deutsche akademische Geschichtswissenschaft dem Sozialismus und dem Demokratismus ebenso wie der Massenbewegung, die

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Habilitationsgutachten (wie Anm. 15), Bl. 137 v. Universitätsarchiv Berlin, UK M 109, Bl. 35. So Mayer an Karl Jaspers; vgl. Gottfried Niedhart, Einsam als Jude und Deutscher: Gustav Mayer 1871–1948, in: derselbe (Hrsg.), Gustav Mayer. Als deutscher Historiker in Krieg und Revolution 1914–1920. Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 65), München 2009, S. 72. GStAPK, I. HA, Rep. 76: Kultusministerium Va, Sekt. 2, Titel IV, Nr. 68E, Bd. 2. Jens Prellwitz, Jüdisches Erbe, sozialliberales Ethos, deutsche Nation: Gustav Mayer im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Mannheimer Historische Forschungen, 17), Mannheim 1988, S. 188 ff. Universitätsarchiv Berlin, WK M 109, Bl. 3 r.

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diese trug, bis ganz vor kurzem keine hinreichende Bedeutung geschenkt“ hat23. Von nun an konnte Mayer Lehrveranstaltungen an der Berliner Universität durchführen, die thematisch der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung und den Denkern des Sozialismus gewidmet waren, aber er kündigte auch Überblicksvorlesungen zur allgemeinen Geschichte der politischen Parteien an. Obwohl nur Extraordinarius, zog Gustav Mayer eine Reihe von Studenten an. Mit der zunehmenden Radikalisierung der Studentenschaft, die sich großenteils dem äußersten rechten politischen Spektrum der Politik zuordnete, nahm das Interesse an seinen Vorlesungen ab. Das galt nicht für die Seminarveranstaltungen, in denen sich die wenigen verbliebenen linksorientierten Studenten drängten, die hier mit den grundlegenden Texten des Sozialismus bekannt wurden und sie auch diskutierten, so dass Mayer feststellen konnte: „hier blieben mir, während der bürgerliche Stamm allmählich fortschmolz, neben einem kleineren sozialdemokratischen Stamm die Kommunisten treu, wenngleich ich, wenn immer die Diskussion mich dazu zwang, keinen Zweifel daran ließ, dass ich nicht auf dem Boden des orthodoxen Marxismus stand“24. Inwieweit sie die Auffassungen Mayers teilten, der in der Geschichtsschreibung eine Synthese von Ranke und Marx anstrebte, mag dahingestellt bleiben. Der radikale Rechtsruck an der Universität unter Einschluss der Studenten war unübersehbar geworden, aber die linientreuen Kommunisten und die Sozialisten blieben seinen Übungen erhalten, weil diese das Studium der Klassiker des Marxismus förderten, verbunden mit ersten selbständigen wissenschaftlichen Ausarbeitungen und dadurch zu erwerbenden Seminarscheinen. Einer der ersten Doktoranden Mayers, der später, nach dem Zweiten Weltkrieg, an der Akademie der Wissenschaften der DDR als Historiker zu hohen Ehren kam, war Ernst Engelberg. An ihn vergab er das Thema „Die deutsche Sozialdemokratie und die Bismarcksche Sozialpolitik“25. Kurz nach der Einrichtung einer Professur für Mayer in Berlin ist ihm angeboten worden, der erste Direktor des später berühmt gewordenen Frankfurter Instituts für Sozialwissenschaft zu werden, doch daraus wurde nichts. Er bestand darauf, auch in dieser Funktion unabhängig zu bleiben, worüber mit den Geldgebern keine Einigung erzielt werden konnte, obwohl diese sehr daran interessiert waren, dem Institut eine Leitung zu geben, die auch gegenüber der Frankfurter Universität genügend Unabhängigkeit besaß, um nicht der Kommunistischen Partei zugeordnet zu werden. Mayer legte stets Wert auf seine wissenschaftliche Unabhängigkeit26. Parteilichkeit hat er stets und strikt vermieden, auch wenn diese erstrebte und konsequent eingehaltene 23

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Niedhart, Einsam als Jude und Deutscher (Anm. 19), S. 72 f. Mayer, Erinnerungen (Anm. 1), S. 330. Engelberg hatte damit ein „Lebensthema“ gefunden, das er mit seiner zweibändigen Bismarck-Biographie krönte. Nach Mayers Ausscheiden aus der Universität übernahm Hermann Oncken die Betreuung von Engelbergs Dissertation, bis er selbst 1935 die Universität verlassen musste. Dazu auch Schleier, Zu Gustav Mayers Wirken (Anm. 13), bes. S. 309. Niedhart, Einsam als Jude und Deutscher (Anm. 19), S. 73 f.

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Unabhängigkeit ihn isolierte. So beklagte er die fast ausschließliche Hinwendung der deutschen Geschichtswissenschaft zur politischen und zur Verfassungsgeschichte unter weitgehender Vernachlässigung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, was sich erst rund zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges grundlegend ändern sollte. Andererseits beklagte er Tendenzen in der Arbeiterbewegung und ihrer Historiographie, die nationalen Aspekte in der Geschichte weitgehend auszublenden, was ja teilweise noch immer zu beobachten ist. Wissenschaftlich arbeitete Mayer in den zwanziger Jahren intensiv am zweiten Band seiner Engels-Biographie. Im September 1928 konnte er im Moskauer Marx-Engels-Institut seine Quellensammlung für den zweiten Band erweitern27. Hier kam es auch zu einer Annäherung von Mayer und dem Begründer des Moskauer Marx-Engels-Instituts, David Rjasanow, der gegen Mayer polemisiert hatte und ihn einen „bürgerlichen Schriftsteller“ nannte, der unfähig sei, „den Marxismus als philosophische und revolutionäre Lehre zu begreifen und der bestenfalls Engels als einen guten patriotischen Deutschen verstehen könne“28. Mayers Forschungen sind in Moskau großzügig unterstützt worden. Parallel zur Engels-Biographie widmete sich Mayer einem weiteren Thema, dessen Bearbeitung ihm angetragen worden war: Hans Rothfels war 1920 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Reichsarchiv beauftragt worden, eine Edition zu Bismarcks Sozialpolitik zu erstellen, konnte aber das Projekt nicht weiterführen, nachdem er 1926 eine Professur in Königsberg erhalten hatte. Daher beschloß die Historische Reichskommission im März 1930, Gustav Mayer mit einer Teiledition zum Sozialistengesetz zu betrauen, für die als Bearbeiter ein Hamburger Historiker gewonnen werden konnte, der mit den Quellen bereits vertraut war29. Die Arbeiten an dem Projekt mussten 1933 eingestellt werden. Auch an der Berliner Universität konnte Mayer nur wenige Jahre wirken. Am 23. 5. 1933 teilte das Preußische Wissenschaftsministerium dem Verwaltungsdirektor der Universität mit: „Auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (RGBl. S. 175 ff.) werden die planmäßigen außerordentlichen Professoren in der Philosophischen Fakultät, Dr. Gustav Mayer und Dr. Ernst Lewy mit sofortiger Wirkung bis zur endgültigen Entscheidung aus ihrem Amte beurlaubt. Diese Beurlaubung gilt auch für jede Tätigkeit, die die beiden Professoren im Zusammenhang mit ihrer Universitätsstellung ausüben. Die Gehaltsbezüge werden Mayer und Lewy bis auf weiteres in der bisherigen Weise weiter gezahlt“30. Anfang September 1933 ist Mayer dann endgültig 27



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Gottfried Niedhart, Gustav Mayers Aufenthalt am Moskauer Marx-Engels-Institut 1928, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 24 (1995), S. 149–156. Mayer, Erinnerungen (Anm. 1), S. 350. Auf Deutsch sind diese Äußerungen von Rjasanow im „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ publiziert worden, auf die Mayer auch antwortet. Es handelte sich um Dr. Alfred Schulz, der mit einer Dissertation über die „Entwicklung der politischen Theorie bei Karl Marx 1842–1844“ promoviert worden war. Universitätsarchiv Berlin, UK M 109, Bl. 37.

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in den Ruhestand versetzt worden31. Das ihm zustehende Ruhegehalt hat das Ministerium schrittweise so gekürzt, dass die Familie davon ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten konnte. Einen Bittbrief seiner Kollegen aus der Philosophischen Fakultät beschied das Ministerium abschlägig32. In ihrem Schreiben charakterisierten Mayers Kollegen ihn als Wissenschaftler und als Person: „Seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Geschichte des Sozialismus und der sozialen Bewegungen genießen wegen ihrer kritischen Gründlichkeit und ihres Willens zu strenger Sachlichkeit großes Ansehen. Er hat sich grundsätzlich von parteipolitischen Bindungen frei gehalten und ist uns als Mann mit untadeligem Charakter und nationaler Gesinnung bekannt. Seine Tätigkeit während des Weltkriegs, zuerst im Dienst des Generalgouvernements in Brüssel, dann 1917 als Beauftragter des Auswärtigen Amtes in Stockholm zeugt von seiner nationalpolitischen Zuverlässigkeit“33. Doch Mayer war Realist. Im nationalsozialistischen Deutschland sah er weder für sich persönlich noch für sein wissenschaftliches Anliegen eine Zukunft. Im Herbst 1934 ließ er sich einen Studienaufenthalt in London genehmigen34, den ihm das Ministerium mehrmals verlängerte, letztmalig bis zum 31. Dezember 193835. Nach der Pogromnacht vom 8. November 1938 hat Mayer es vorgezogen, mit seiner Familie endgültig in England zu bleiben, von wo aus er für das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam tätig war. Größere wissenschaftliche Arbeiten hat er dann bis zu seinem Tod 1948 nicht mehr publiziert. Im Anschluss an den zweiten Band seiner Engels-Biographie konnte Mayer keine groß angelegen Projekte mehr realisieren, weder eine umfassende Geschichte der Sozialdemokratie noch eine internationale Geschichte der Arbeiterbewegung. Das war nicht nur der politischen Zäsur von 1933 geschuldet, sondern auch seinem bereits fortgeschrittenen Lebensalter. Zwar hat er im englischen Exil sich noch einmal in ein verwandtes Gebiet eingearbeitet, indem er eine groß angelegte Quellensammlung zur englischen Arbeiterbewegung in Angriff nahm, doch blieb diese unvollendet und konnte damit auch nicht publiziert werden. Gegen Ende seines Daseins hat er aber noch in einer Autobiographie die Bilanz seines Lebens gezogen, deren Veröffentlichung er nicht mehr erlebte36. Drei zentrale Gebiete bestimmten Mayers Leben und Arbeit, die Politik, die er überwiegend beobachtend begleitete, die Geschichtsschreibung, mit der er, ohne in den Wissenschaftsbetrieb wirklich integriert zu sein, als produktiver Autor hervortrat, und als Vertreter des Judentums, der unter der Distanz litt, die dem Außenseiter und Einzelgänger seitens der christlichen Gesellschaft entgegengebracht wurde. Im Rückblick auf dieses Gelehrtenleben kann in Übereinstimmung mit seinem akademischen Mentor Friedrich Meinecke 31 32

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Schreiben vom 4. September 1933, in: ebenda, UK M 109/2, Bl. 8. Ebenda, UK M 109/1, Bl. 50 r. Unterschrieben haben diesen Brief u. a. die Ordinarien Fritz Hartung, Erich Marcks, Friedrich Meinecke, Hermann Oncken, Max Sering, Werner Sombart und Karl Stählin. Ebenda, Bl. 50 r et v. Ebenda, Bl. 56 r. Ebenda, Bl. 57 r-60 r. Mayer, Erinnerungen (Anm. 1). Mayer starb am 21. Februar 1948 in London.

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festgehalten werden: „Gustav Mayer ist auf ungewöhnlichem, nicht ganz zünftigen Weg zum Historiker geworden. Begonnen hat er als Nationalökonom, war dann lange Zeit als Journalist, auch als Dozent im Ausland tätig, wobei er politische und soziale Erfahrungen sammeln konnte. Erst spät kam er zu seinem eigentlichen Arbeitsgebiet, der neueren Geschichte. Diese Beschäftigung erwuchs aus seinen ersten wissenschaftlichen Erfahrungen und aus seiner publizistischen Tätigkeit“37. Einen umfassenden wissenschaftlichen Diskurs über Mayers Oeuvre hat es zu seinen Lebzeiten nicht gegeben. Das haben nicht zuletzt die politischen Zeitumstände verhindert. Trotzdem schwankt „von der Parteien Gunst und Hass verwirrt ... sein Charakterbild in der Geschichte“. Was Schiller im Prolog zu „Wallensteins Lager“ auf seinen Helden münzte, gilt auch für Gustav Mayer und seine Historik: Von den Alldeutschen und ihrem nationalistischen Umfeld bekämpft, von den Liberalen und den „Vernunftrepublikanern“ geduldet, von den Nationalsozialisten verfolgt und verdrängt, von den Sozialdemokraten verstanden, jedoch nicht durchweg akzeptiert, sowie von den Kommunisten verfemt und nicht rehabilitiert, wird seine historische Leistung erst mit großer Verspätung erkannt und gewürdigt38. Seine „Alma Mater“, die Berliner Universität, ist daran bisher nicht beteiligt39. Als erster hat sich – ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mehr als zwei Jahrzehnte nach Mayers Tod – Hans-Ulrich Wehler mit einer Kurzbiographie zu Wort gemeldet40. Mayers Engels-Biographie zählte Wehler (der selbst wohl kein Freund historischer Biographien ist) zu den drei oder vier wichtigsten Werken dieser Gattung, die von der deutschen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert hervorgebracht wurden, und bedauert zugleich die durch die deutsche Wissenschaft vernachlässigte Anerkennung des Werkes, was er nur zum Teil darauf zurückführt, dass der Nationalsozialismus eine wissenschaftliche Resonanz in Deutschland verhindert hat. Was sonst dazu beigetragen hat, verrät er nicht41. Mehrere Jahre später hat es dann auch eine Rückbesinnung auf Mayer und sein Lebenswerk aus sozialistischer Sicht gegeben. Dabei sind seine Leistungen auf seinem Spezialgebiet, der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, als bahnbrechend 37 38



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Universitätsarchiv Berlin, UK M 109/1, Bl. 136 r. Zu nennen ist hier in erster Linie der Mannheimer Emeritus Gottfried Niedhart, der an seinem Lehrstuhl praktisch eine „Gustav-Mayer-Forschungsstelle“ einrichtete und in Mayerscher Manier dessen Nachlass sicherte, auswertete und publizierte. Am Anfang stand die erneuerte Herausgabe von Mayers Erinnerungen (Anm. 1), zuletzt erschien 2009 der Sammelband Gustav Mayer. Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914–1920 (Anm. 19), mit einer einleitenden vorzüglichen Kurzbiographie Mayers. Lediglich in der „Historikergalerie des Instituts für Geschichtswissenschaften“ der Humboldt-Universität zu Berlin im Internet gibt es eine biographische Notiz von Martin Baumeister, und in seiner ebenfalls nur im Internet zugänglichen Magisterarbeit Das Historische Seminar der Berliner Universität im „Dritten Reich“ geht René Betker auch kurz auf Gustav Mayer ein, ohne allerdings seine wissenschaftliche Leistung zu kennzeichnen. Als die Universität in ihrem Jubiläumsjahr 2010 mehrere Gedenktafeln für ihre in der NS-Zeit verfolgten und verdrängten Professoren anbringen ließ, war Gustav Mayer nicht unter den Geehrten. Hans-Ulrich Wehler, Gustav Mayer (wie Anm. 6), S. 228–240. Wehler, Gustav Mayer (Anm. 6), S. 120.

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anerkannt worden, wobei allerdings die Erschließung neuer Quellen im Vordergrund stand, weniger deren Interpretation. Hervorgehoben in der marxistischen Geschichtsschreibung wird das Auffinden zahlreicher Briefe von Marx und Engels und in diesem Zusammenhang die Entschlüsselung des Pseudonyms, das der junge Friedrich Engels für seine Zeitungsartikel verwendete42, besonders aber die erfolgreiche Recherche des Nachlasses von Ferdinand Lassalle mit der Publikation seiner Schriften und des Briefwechsels in sechs Bänden (darunter der von Marx und Engels mit Lassalle) sowie die Edition des Briefwechsel zwischen Lassalle und Bismarck. Das lakonische Fazit von Hans Schleier (in einer Festschrift für Ernst Engelberg) lautet dann auch: „Kurzum, auf seinem Spezialgebiet spürte Mayer mit Ausdauer und Erfolg neue Quellen auf“43. Von Mayers Hauptwerk heißt es hier, es sei „auch heute noch die umfangreichste Darstellung und ihr lag eine umfassende Materialsammlung zugrunde“44. Ähnlich ergeht es auch Mayers erstem Buch, das er als Historiker vorlegte, der Schweitzer-Biographie45. Der abschließenden Würdigung Gustav Mayers und seines wissenschaftlichen Oeuvres aus marxistischer Sicht durch Hans Schleier ist aber zuzustimmen: „Als Historiker, Journalist und politisch Interessierter verfolgte Mayer zeit seines Lebens den Aufstieg und die Ausbreitung der Arbeiterbewegung und ihrer revolutionären Ideologie. Dem Sozialismus aus humanistischen Prinzipien zugetan, aber niemals selbst Marxist geworden, schwankte er zwischen Hoffen und Befürchtungen, schreckte er oft vor der revolutionären Praxis des Klassenkampfes und der erbarmungslosen Härte der Klassenauseinandersetzungen zurück, obwohl er die Rolle der revolutionären Gewalt in der Geschichte zumindest teilweise anerkannte. An die Seite der revolutionären Arbeiterbewegung konnte der bürgerliche Humanist nicht finden. In den wenige Jahre vor seinem Tode fertiggestellten Erinnerungen bekennt Mayer zum Schluß noch immer voller Zweifel, daß ,wir Menschen von heute‘ die Umrisse des kommenden Zeitalters erst unklar sehen. Doch rekapituliert er als Gewinn seines langen Forscherlebens: ,… die Bewegungen, deren Geschichte ich erforschte, und die Persönlichkeiten, denen meine besondere Aufmerksamkeit galt, haben an Interesse für weite Kreise der zivilisierten Welt inzwischen nicht verloren‘46. Die Worte Mayers haben sich in den Jahrzehnten nach seinem Tode wirkungsvoll bestätigt. Dem Historiker der deutschen Arbeiterbewegung gebührt ohne Zweifel ein achtungsvoller Platz in der Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft“47.

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Engels Pseudonym war „Friedrich Oswald“. Schleier, Zu Gustav Mayers Wirken (Anm. 13), bes. S. 302. Ebenda, S. 301. Ebenda, S. 302. Zitiert aus Mayer, Erinnerungen (Anm. 1), S. 374. Schleier, Zu Gustav Mayers Wirken (Anm. 13), S. 326.

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Archivische Quellen Der schriftliche Nachlaß Gustav Mayers befindet sich im „International Institute of Social History“ [Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis] in Amsterdam. Ein Verzeichnis der „Gustav Mayer Papers“ hat das Institut 2009 im Internet veröffentlicht: http.//www. iisg.nl/archives/pdf/10761369.pdf bzw. http.//www.iisg.nl/archives/nl/files/m/10761369. php. – Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, UK M 109 und Phil. Fak. 1235. – Wirtschaftshochschule Berlin (WHB), Nr. 653/1. – Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK), I. Hauptabteilung (HA), Rep. 76: Kultusministerium Va Sekt. 2, Titel IV, Bd. 2.

Veröffentlichte Quellen Gustav Mayer, Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung. Mit Erläuterungen und Ergänzungen, einem Nachwort und einem Personenregister hrsg. von Gottfried Niedhart (Bibliothek des deutschen Judentums, 5), Hildesheim–Zürich–New York 1993 [darin ein Verzeichnis der bis 1993 veröffentlichten Schriften Gustav Mayers, S. 395–405]. – Gustav Mayer. Als deutscher Historiker in Krieg und Revolution 1914–1920. Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe, hrsg. von Gottfried Niedhart (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 65), München 2009.

Literatur Martin Baumeister, Gustav Mayer (1871–1948), in: Historikergalerie des Instituts für Geschichtswissenschaften [der HU Berlin], veröffentlicht im Internet: http://www.geschichte. hu-berlin/galerie/TEXTE/gmayer.htm. – René Betker, Gustav Mayer (1871–1948), in: derselbe, Das Historische Seminar der Berliner Universität im „Dritten Reich“ unter besonderer Berücksichtigung der ordentlichen Professoren, Phil. Diss. HU Berlin 1997, veröffentlicht im Internet: http://www.geschichtsredaktion.de. – Bernd Faulenbach, Gustav Mayer. Zwischen Historiker-Zunft und Arbeiterbewegung, in: Marieluise Christadler (Hrsg.), Die geteilte Utopie. Sozialisten in Frankreich und Deutschland. Biographische Vergleiche zur politischen Kultur, Opladen 1985, S. 183–195. – Eberhard Flessing, Gustav Mayer, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 16 (1993), S. 538 f. – Leo Haupts, Gustav Mayer und die Stockholmer Konferenz der II. Internationale, in: Historische Zeitschrift 247 (1988), S. 551–583. – Renate Karnowsky, Gustav Mayer – ein Historiker aus Prenzlau, in: Gerhard Kegel (Hrsg.), Prenzlau. Hauptstadt der Uckermark 1234–1984. Ein bürgerliches deutsches Lesebuch, 2. Au. Berendorf 1987, S. 354–359. – Gottfried Niedhart, Gustav Mayers englische Jahre, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 6 (1988), S. 98–107. – Gottfried Niedhart, Identitätskonflikte eines deutschen Juden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Gustav Mayer zwischen jüdischer Herkunft und ungewisser deutscher Zukunft, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte

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20 (1991), S. 315–326. – Gottfried Niedhart, Gustav Mayer als Historiker der deutschen Arbeiterbewegung, in: Ludger Heid/Arnold Paucker (Hrsg.), Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933, Tübingen 1992, S. 133–146. – Gottfried Niedhart, Gustav Mayers Aufenthalt am Moskauer Marx-Engels-Institut 1928, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 24 (1995), S. 149–156. – Gottfried Niedhart, Gustav Mayer und Rjazanov, in: Carl-Erich Vollgraf/Richard Sperl/Rolf Hecker (Hrsg.), David Birisivic Rjazanov und die erste MEGA (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung N.F. Sonderband 1), Hamburg 1957, S. 77–84. – Gottfried Niedhart, Mayer versus Meyer. Gustav Mayers gescheiterte Habilitation in Berlin 1817/18, in: Armin Kohnle/Frank Engehausen (Hrsg.), Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2001, S. 329–344. – Jens Prellwitz, Jüdisches Erbe, sozialliberales Ethos, deutsche Nation: Gustav Mayer im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Mannheimer Historische Forschungen, 17), Mannheim 1988. – Hans Schleier, Zu Gustav Mayers Wirken und Geschichtsauffassung, in: Horst Bartel/Heinz Helmert/Wolfgang Küttler/Gustav Sieber (Hrsg.), Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Festschrift für Ernst Engelberg, Bd. 1, Berlin 1976, S. 301–326. – Hans-Ulrich Wehler, Gustav Mayer, in: derselbe (Hrsg.), Deutsche Historiker, Göttingen 1973, S. 228–240. – Günter Wirth, Die Geschwister Mayer aus Prenzlau, in: Uckermärkische Hefte 2 (1995), S. 200–206. – Wolfgang Hardtwig, Neuzeit-Geschichtswissenschaften 1918–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 413–434.

Otto Hoetzsch Von Uwe Schaper Leipzig war die Heimatstadt von Otto Hoetzsch. Dort wurde er am 14. Februar 1876 als Sohn des Klempnermeisters Gustav Adolph Hoetzsch und seiner Ehefrau Alma als ältestes von insgesamt vier Kindern geboren. Die Mutter war die Tochter des Gerichtsdirektors und Advokaten Edmund Camillo Stahl und dessen Ehefrau Clara, geb. Volbeding. Da Otto Hoetzschs Vater, Spross einer alt eingesessenen Leipziger Handwerkerfamilie, früh starb, lag die Erziehung in den Händen der Mutter, einer Frau, die ihre literarische und musische Vorbildung entscheidend in die Erziehung und Ausbildung der Kinder einbrachte. Sie war in der Lage, englische und französische Literatur im Original zu lesen, sie spielte Klavier und begeisterte sich für die Musik von Richard Wagner. Die Werke Heinrich von Treitschkes und Gustav Freytags gehörten offensichtlich zur Pichtlektüre des heranwachsenden Otto Hoetzsch, haben ihn nachhaltig beeinusst und ihn sein Leben hindurch begleitet. Den Besuch der traditionsreichen humanistisch geprägten Thomasschule in Leipzig schloss Hoetzsch im Jahre 1894 mit dem Abitur als einer der besten seines Jahrgangs ab. Während der gesamten Schulzeit erhielt er wegen seiner durchgängig hervorragenden Leistungen etliche Preise und Stipendien1. Die Mutter ermöglichte ihrer Tochter Eva eine Buchhändlerlehre und ihren drei Söhnen Otto, Walther und Siegfried eine akademische Ausbildung. Nach einem Jahr Militärdienst begann Otto 1895 gemäß seinen Neigungen und Fähigkeiten das Studium der Geschichte, der Kunstgeschichte und der Nationalökonomie und hörte darüber hinaus Römisches Recht, Römische und Deutsche Rechtsgeschichte und Staatsrecht. Hoetzsch selbst bezeichnete Karl Lamprecht, „Auslöser“ des Methodenstreits2, den von Heinrich von Treitschke beeinussten Erich Marcks3 und den Nationalökonomen Karl Bücher, Vertreter der jüngeren 1



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Uwe Liszkowski, Osteuropaforschung und Politik. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken und Wirken von Otto Hoetzsch (= Osteuropaforschung. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, 19), 2 Bde., Berlin 1988, S. 15 f. und 265. Uwe Liszkowski hat mit seiner Publikation den bis heute maßgeblichen Beitrag zur Erforschung von Otto Hoetzschs Leben und Werk geleistet. Insofern gehen die Ergebnisse dieses Artikels in wesentlichen Teilen auf seine Forschungen zurück. Vgl. Karl Schlögel, Von der Vergeblichkeit eines Professorenlebens: Otto Hoetzsch und die deutsche Russlandkunde, in: derselbe, Das Russische Berlin. Osteuropas Bahnhof, München 2007, S. 403–424, hier S. 407. Vgl. Ines Mann/Rolf Schumann, Karl Lamprecht: Einsichten in ein Historikerleben, Leipzig 2006; Luise Schorn-Schütte, Lamprecht, Karl Nathanael (1856–1915), in: Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller (Hrsg.): Historikerlexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1991, S. 175. Vgl. http://www.geschichte.hu-berlin.de/galerie/texte/marcks.htm [Stand: 31.08.2010]. Vgl. Marc von Knorring, Erich Marcks, in diesem Band, S. 149–172.

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Otto Hoetzsch *14. Februar 1876 in Leipzig, † 27. August 1946 in Berlin

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historischen Schule der Nationalökonomie und Gründer des ersten deutschen Instituts für Zeitungskunde an der Universität Leipzig4, als seine wichtigsten Lehrer. Hoetzschs Entwicklung haben auch Friedrich Ratzel, Begründer der Anthropogeografie und der Politischen Geografie sowie Gründungsmitglied des „Alldeutschen Verbandes“, und die Theorien von Ernst Hasse zum kontinentalen Imperialismus beeinusst. Mit Hasse, der von 1893 bis 1908 geschäftsführender Vorsitzender des völkisch ausgerichteten Alldeutschen Verbandes war, verband Hoetzsch später die gemeinsame Verbandsarbeit. Otto Hoetzsch war schon zu Beginn seines Studiums dem Leipziger „Verein Deutscher Studenten“ (VDSt) beigetreten und blieb dem so genannten „Kyffhäuser-Verband“ resp. „Verband der Vereine Deutscher Studenten“ (VVDSt) sein Leben lang verbunden. Der Verband „war 1881 … als ausgesprochen nationalpolitischer ,Kampfverein‘ … [gegründet worden]. Pate standen eine strikte monarchische Gesinnung, ein völkischer Nationalismus, der mit scharfem Antisemitismus gepaart war und ein soziales Christentum Stoeckerscher Prägung … Das Ergebnis war ein aggressiver völkischer Nationalismus, dessen Aufgabe und Ziele darin erblickt wurden, ,eine Stärkung des nationalen Zusammenhanges der Deutschen auf der ganzen Erde, ein Zusammenraffen der ganzen Kraft unseres Volkstums zum Kampf um die Weltherrschaft‘ gegen alle Widerstände durchzusetzen. Er teilte die völkische Ausrichtung mit dem ,Alldeutschen Verband‘ und trat ihm, wie übrigens auch den anderen nationalen Agitationsvereinen korporativ bei“5. Verbandsarbeit und Studium scheinen den Tagesablauf des jungen Hoetzsch vollständig ausgefüllt zu haben. Mit einem breiten Allgemeinwissen, einer überdurchschnittlichen Rednergabe, unerschöpicher Schaffenskraft, Ehrgeiz und einem schier unglaublichen Fleiß war er mit Instrumentarien ausgestattet, die seine Karriere im Verband beügelten und gleichzeitig seine akademische Laufbahn zu befördern schienen. Hoetzsch wurde 1898 zum Vorsitzenden des Leipziger VDSt gewählt. Dass er bei seiner ausgeprägten Verbandsarbeit, die schnell die Grenzen von Leipzig hinter sich ließ, immer wieder auf seine akademischen Lehrer stieß, dürfte ebenfalls nicht von Nachteil gewesen sein6. Wissenschaftliche Forschung und politisch-publizistische Betätigung schlossen sich für Hoetzsch in keiner Weise aus, sie bedingten sich sogar. So forderte Otto Hoetzsch im Laufe seines Lebens immer wieder, dass eine allgemeine, „objektive“ politische Bildung und Erziehung die Grundlage für die politische und die öffentliche Meinungsbildung sein müsse. Erfolgreiche Politik, so der Umkehrschluss für Hoetzsch, war nur auf der Grundlage der Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse möglich. Bei Karl Lamprecht wurde Otto Hoetzsch im Jahre 1899 mit einer historisch-sozialstatistischen Dissertation unter dem Titel „Die wirtschaftliche und soziale Gliederung 4



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Vgl. Erik Koenen/Michael Meyen (Hrsg.), Karl Bücher. Leipziger Hochschulschriften 1892–1926, Leipzig 2002; Jürgen G. Backhaus (Hrsg.), Karl Bücher. Theory – History – Anthropology – Non Market Economies, Metropolis–Marburg 2000. Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 19 f. Ebenda, S. 26 f.

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vornehmlich der ländlichen Bevölkerung im meissnisch-erzgebirgischen Kreise Kursachsens. Aufgrund eines Landsteuerregisters aus der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts dargestellt“ promoviert7. Anschließend erhielt er die Stelle eines Bibliothekars am Historischen Seminar der Universität Leipzig. Die Zeit der Anstellung bis zum September 1900 nutzte er zu weiteren Studien in den Bereichen der neueren Verfassungs- und der Wirtschaftsgeschichte der USA, Englands und Russlands und er erweiterte seine englischen Sprachkenntnisse. Sein weiterer Lebensweg führte Otto Hoetzsch nach Berlin, wo er auf Rat des Leipziger Rechtshistorikers Siegfried Rietschel seine Studien an der Friedrich-WilhelmsUniversität fortsetzte. Unter seinen Lehrern finden sich hier Kurt Breysig, Otto Hintze, Gustav Schmoller und Adolph Wagner. Weiterer Grund für den Umzug nach Berlin war die Übernahme der Redaktion der 1886 ins Leben gerufenen „Akademischen Blätter“, der Zeitschrift des Kyffhäuser-Verbandes im Oktober des Jahres 1900. Die Akademischen Blätter erschienen im 14tägigen Rhythmus und erreichten ihr Publikum weit über Hochschulbereich und Verbandsmitglieder hinaus, da in ihnen Ausarbeitungen aus allen Bereichen von Politik und Kultur zu finden waren. Entsprechend seinen Interessen konnte Hoetzsch durchsetzen, dass sozialpolitische Themenfelder wieder verstärkt besetzt wurden. 1902 wurde er in den Vorstand der Berliner Ortsgruppe und 1904 in den Gesamtvorstand des Alldeutschen Verbandes gewählt. Als Nachfolger des verstorbenen Julius Lohmeyer wurde Hoetzsch zudem im Jahre 1903 bis zu ihrer Einstellung im Herbst 1907 Herausgeber der dem Alldeutschen Verband nahestehenden „Deutschen Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart“, in der neben politischen und kulturellen auch literarische Themen behandelt wurden. Darüber hinaus war er Mitglied im „Bund der Landwirte“, im „Allgemeinen Deutschen Schulverein“ und im „Deutschen Ostmarkenverein“. Otto Hoetzsch war somit in den wichtigsten Interessenvertretungen derjenigen Gruppierungen präsent, die seine politischen Interessen spiegelten und die seine publizistische Tätigkeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bestimmten. Hoetzschs Habilitationsschrift, die er im Jahre 1906 bei der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität einreichte, ging auf ein Projekt zurück, dass ihm Gustav Schmoller 1901 in Absprache mit Reinhold Koser, damals schon ordentlicher Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, angetragen hatte. Als Teil der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Reihe „Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der inneren Politik des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg“ bearbeitete Hoetzsch die Akten der Stände von Cleve und der Mark 1666–1697, eine Arbeit, die von Gutachtern und Fachkollegen uneingeschränkt gelobt wurde. Otto Hoetzsch erhielt im Sommer 1906 die venia legendi für Mittlere und Neuere Geschichte nach Annahme der Habilitationsschrift und aufgrund seiner Probevorlesung zum Thema „Die Gesamtstaatsidee 7



Otto Hoetzsch, Die wirtschaftliche und soziale Gliederung vornehmlich der ländlichen Bevölkerung im meissnisch-erzgebirgischen Kreise Kursachsens. Auf Grund eines Landsteuerregisters aus der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts dargestellt, Leipzig 1900.

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in Preußen und Österreich, Hannover und Bayern im 16. bis 18. Jahrhundert“ und der Antrittsvorlesung über „Die historischen Grundlagen eines konstitutionellen Lebens in Rußland“. Hoetzschs Neigungen entwickelten sich, wie aus seinem Habilitationsgesuch hervorgeht, zum Gebiet der Osteuropäischen Geschichte hin8. Zielstrebig erweiterte er seinen Wissensstand und seine sprachlichen Kenntnisse. Seit dem Herbst 1900 lernte er am Seminar für Orientalische Sprachen Russisch und Polnisch, schloss mit dem Dolmetscherexamen ab und beschäftigte sich zudem noch mit Tschechisch, Ukrainisch und Bulgarisch. Als Mitglied des 1902 gegründeten „Seminars für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde“ vertiefte er mit Förderung des Leiters, Theodor Schiemann, sein Wissen in russischer und polnischer Geschichte und las dort bis zum Wintersemester 1910/11 als Privatdozent allgemeine Neuere und Osteuropäische Geschichte. Was Hoetzsch tatsächlich veranlasst hat, sich dem Gebiet der Osteuropäischen Geschichte zuzuwenden, bleibt mit Ausnahme des Hinweises im Habilitationsgesuch mangels weiterer belastbarer Aussagen im Dunkeln und es kann nur der Versuch gemacht werden, sich über eine Art Indizienkette aus sich vermischenden wissenschaftlichen und politischen Motivationen einer Antwort zu nähern. Erste Grundlagen werden hier in seiner Erziehung und seinem politischen Interesse zu suchen sein. Aus einem nationalliberal geprägten oder beeinussten Elternhaus stammend, war sein politisches Interesse früh geweckt worden9. Hier dürften auch die Wurzeln für die Beschäftigung mit der imperialistischen Politik des Deutschen Reichs und seinen „Widersachern“ auf weltpolitischer Bühne liegen, die Hoetzsch in den USA, Großbritannien und Russland ausmachte. Früher als sein Förderer Schiemann hatte Hoetzsch erkannt, dass, wollte die historische Forschung ihren Einuss auf die politische Entwicklung geltend machen, für den osteuropäischen Raum allein eine Beschäftigung mit Russland nicht ausreichte. Die deutsche Ostpolitik war für ihn eine Existenzfrage. Aus der Erkenntnis, dass Russland vorerst militärisch nicht zu besiegen war, folgerte er, dass zwischen beiden Mächten ein Interessenausgleich herzustellen sei. Dies betraf eben nicht nur das bilaterale Verhältnis, sondern auch eine Verständigung über die Behandlung der beiderseitigen Interessengebiete wie das Baltikum, die polnischen Gebiete oder die Entwicklung in Südosteuropa. In diese Problemfelder spielten, einmal abgesehen vom Baltikum, immer auch Interessen der österreichischen Doppelmonarchie hinein. Von Haus aus – und hier traf er sich wieder mit Schiemann – war Hoetzsch daran gelegen, die Beschäftigung mit einem Interessengebiet von einem landeskundlichen und damit fachübergreifenden, auch dynamischen Ansatz aus zu betreiben. Hierzu gehörten das Erlernen der Sprache, das Reisen in die fraglichen Länder – was Hoetzsch auch ausgiebig wahrnahm – und neben der Auseinandersetzung mit der Geschichte das Kennenlernen der Kultur, der Wirtschaft, der Sozialstrukturen und des Verfassungs- und des Rechtssystems. Dieser komplexe Ansatz forderte vergleichende Untersuchungen – Landeskunde sollte somit 8



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Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 267–272. Vgl. Schlögel, Von der Vergeblichkeit (Anm. 1), S. 408.

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auch von direktem Nutzen für die Politik sein. Darüber hinaus war die Beschäftigung mit osteuropäischer Geschichte, die über Russland hinausging, ein eindeutiges Desiderat und stellte sich für Hoetzsch in der Gefolgschaft Schiemanns auch als eine Chance für eine wissenschaftliche Karriere dar. Otto Hoetzsch führte seit 1906 eine Art wissenschaftliches „Doppelleben“, da er „neben“ seinen Verpichtungen an der Universität Berlin zum Professor für Geschichte an der Königlichen Akademie zu Posen10 berufen wurde. Es ist zu vermuten, dass sich sein Lehrer und Förderer Gustav Schmoller bei Friedrich Althoff für ihn eingesetzt hatte. Hierbei erwies sich seine Verbandsarbeit im antisemitisch geprägten VVDSt zum ersten Mal als problematisch, da Althoff zwar in der von ihm stark geförderten Akademie einen Lehrer haben wollte, der in der Lage war, wissenschaftlich fundiert Osteuropäische Geschichte im Sinne der preußischen Deutschtumspolitik zu lesen, aber gleichzeitig wollte er die nicht gerade deutschfreundliche jüdische Bevölkerung in Posen nicht stärker irritieren. Insofern wurde vor Hoetzschs Berufung erst die Zustimmung des „Centralvereins Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ eingeholt11. Den Spagat zwischen Berlin und Posen nahm der „Netzwerker“ Hoetzsch sicherlich auf sich, um seine geknüpften politischen Kontakte zu pegen, insbesondere aber, um im preußischen Kultusministerium und an der Berliner Universität in Erinnerung zu bleiben und um seine Chancen auf eine Berufung nach Berlin zu erhöhen, denn die Akademie in Posen hielt er nicht für entwicklungsfähig und sie entsprach – eigenen Angaben zufolge – auch nicht seinen hohen wissenschaftlichen Ansprüchen. Seit 1911 lehrte Hoetzsch als Nachfolger und auf Empfehlung von Theodor Schiemann zudem noch an der Preußischen Kriegsakademie in Berlin und er hatte somit ein weiteres wissenschaftliches „Standbein“ in der Hauptstadt12. Auf Wunsch des Kultusministeriums reiste Hoetzsch im Jahre 1907 zu einer Vortragsreise in die Vereinigten Staaten, wurde sogar von Präsident Theodore Roosevelt empfangen und konnte ihm seine Publikation „Die Vereinigten Staaten von Nordamerika“ überreichen, die zeitlich neben seiner Habilitationsschrift entstanden war13. Auch bei dieser Reise werden Sprachbarrieren keine Rolle gespielt haben, hatte doch Hoetzsch seine englischen Sprachkenntnisse während seines Studiums vertieft. So hatte er im Frühjahr 1904 eine Studienreise zur Beschäftigung mit der Verfassungs- und Wirtschaftspolitik Englands nach London angetreten. Darüber hinaus war er mehrfach Gastdozent bei den Sommerkursen an der Universität Edinburgh. Insgesamt erwies es sich für Hoetzsch in seiner Entwicklung als Wissenschaftler und als politischer Publizist als äußerst vorteilhaft, dass er Quellen, Literatur 10

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Vgl. zur Geschichte der Akademie in Posen: Christoph Schutte, Die Königliche Akademie in Posen (1903– 1919) und andere kulturelle Einrichtungen im Rahmen der Politik zur „Hebung des Deutschtums“ (= Materialien und Forschungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, 19), Marburg 2008. Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 271. Ebenda, S. 274–281. Otto Hoetzsch, Amerikanische Eindrücke, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart 12 (1907), S. 460–479.

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und Presse im Original lesen konnte und sich zusammen mit seiner Reisetätigkeit und persönlichen Kontakten vor Ort ein differenziertes Bild von der historischen Entwicklung und den politischen und sozialen Verhältnissen der einzelnen Länder machen konnte. Dies ermöglichte es ihm, dass er in Posen englische Geschichte bis hin zur Gegenwart lesen konnte und es erklärt in Teilen auch seinen Erfolg bei den Studierenden14. Seit dem Spätherbst 1911 deutete sich das Ende von Hoetzschs Tätigkeit in Posen an. In diesem Jahr löste Philipp Schwartzkopff Wilhelm von Waldow-Reitzenstein im Amt des Oberpräsidenten der Provinz Posen ab. Von Waldow galt vielen Polen als „Verkörperung des Ostmarkenvereins, mit dem er auch sympathisierte. Als ,souverän und einseitig‘ charakterisierte ihn einer seiner Nachfolger im ostpreußischen Landratsamt, weshalb er auch vielen Deutschen wie ein ,gefrorenes Handtuch‘ erschien“15. Versöhnlicher in Bezug auf das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen war hingegen Philipp Schwartzkopff. Hoetzsch, wie auch von Waldow Mitglied im „Deutschen Ostmarkenverein“, zeichnete dagegen eine eindeutige Haltung in der Polenfrage aus. Die „Gefährlichkeit“ der Polen für das Deutsche Reich ergab sich für ihn aus der Teilungssituation des Landes. Die Polen würden mit Macht die Errichtung eines unabhängigen Staates anstreben. Dies könne nur auf Kosten der östlichen preußischen Provinzen geschehen und die Großmachtstellung des Deutschen Reichs gefährden. Damit wurde den Polen gleichzeitig die Schuld an der gespannten Situation zugewiesen. Die Polenfrage war in den Augen von Otto Hoetzsch nur in der Gesamtsicht auf die Polenpolitik resp. die Grundsätze der Minderheitenpolitik der Teilungsmächte zu klären. Hier forderte Hoetzsch ein abgestimmtes Vorgehen und hieraus entwickelte er auch einen der Eckpfeiler seiner Haltung zu Russland, wie später noch ausführlicher zu zeigen sein wird. Für das Deutsche Reich bzw. Preußen bedeutete dies die verstärkte Fortführung der so genannten Germanisierungspolitik, deren Durchsetzung für Hoetzsch über eine verstärkte Ansiedlungspolitik, eine Beschaffung von Grund und Boden für Deutsche, letztendlich auch über ein Enteignungsgesetz sowie über die Schaffung eines eigenen Ostmarkministeriums führte16. Schärfster Verfechter der Germanisierungspolitik war der 1894 gegründete Deutsche Ostmarkenverein. Hoetzsch spielte in diesem Verein eine bedeutende Rolle. Von 1907– 1910 leitete er die mit ca. 1.300 Mitgliedern stärkste Ortsgruppe des Vereins in Posen, er 14 15

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Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 95 f. Georg-Christoph von Unruh, Provinz (Großherzogtum) Posen, in: Gerd Heinrich/Friedrich-Wilhelm Henning/Kurt G. A. Jerserich (Hrsg.): Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815–1945. Organisation – Aufgaben – Leistungen der Verwaltung, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 404. Otto Hoetzsch, Nochmals Nationalstaat und Weltwirtschaft, in: Akademische Blätter. Zeitschrift des Verbandes der Vereine Deutscher Studenten (Kyffhäuserverband) 17 (1902/1903), S. 251–255. Als nahezu unerträglich empfand er es, dass mehrere Hunderttausend polnische Arbeiter als Saisonarbeiter oder fest angestellt aus dem Deutschen Reich, Österreich und Russland in den östlichen preußischen Provinzen tätig waren. Insofern war neben der Ansiedlung Deutscher seine Forderung zur Schließung der Grenzen für Polen nur konsequent. Auf die Frage, wie kurz- und mittelfristig tatsächlich der Ausfall der polnischen Arbeiter kompensiert werden könne, blieb Hoetzsch eine Antwort schuldig.

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ließ sich im August 1907 in den Gesamtausschuss wählen, 1908 wurde er Mitglied im Vorstand des Provinzialverbandes Posen des Ostmarkenvereins und 1909 schließlich Mitglied im Hauptvorstand17. Seit September 1909 hatte Hoetzsch mit finanzieller Unterstützung des preußischen Innenministers und des Oberpräsidenten der Provinz Posen die Zeitungskorrespondenz „Der Osten“ herausgegeben – eine glänzende Gelegenheit zur Verbreitung seiner Positionen, an denen er bis zum Ersten Weltkrieg festhielt und die er in seinen Vorlesungen und öffentlichen Vorträgen ausbreitete18. Nachdem von Waldow nicht zuletzt wegen seiner Haltung in der Polenfrage abberufen worden war19, hatte Hoetzsch seinen Förderer vor Ort verloren und war für den moderateren Schwartzkopff, der diese Position Hoetzsch in einem Gespräch offensichtlich deutlich gemacht hatte, nicht mehr haltbar20. Theodor Schiemann, mit dem Hoetzsch zusammen seit 1910 die „Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte“ herausgab, entwickelte von Berlin aus einen Lösungsansatz. Schiemann schickte dem Kultusministerium im April 1912 eine Denkschrift, die in dem Antrag mündete, aus seinem Seminar eine Zentralstelle der Osteuropaforschung zu machen. Argumentativ politisch und wissenschaftlich vermischt begründete er dies mit dem Interesse Preußens an der Polenfrage und den Beziehungen zu Russland, deren grundlegende wissenschaftliche Erforschung auch praktischen Nutzen nach sich ziehen würde. In diesem Zusammenhang forderte er die Einrichtung eines Extraordinariats und schlug Hoetzsch als geeigneten Kandidaten vor. Das Ministerium stimmte zu und in den Haushaltsverhandlungen wurden die Mittel bewilligt. Dies geschah allerdings nicht ohne größere Probleme, die zwischen der im Verfahren übergangenen Berliner Universität und dem Kultusministerium ausgefochten wurden. Es kann nur vermutet werden, dass Hoetzsch bei seiner Berufung, die schließlich zum 1. November 1913 vollzogen wurde und die mit Sicherheit aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht eine erhebliche Aufwertung der Osteuropaforschung darstellte, seine politischen Freunde zu Hilfe kamen21. Die Entstehung der Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte im Jahre 1910 war ein überaus großer Fortschritt in der historischen Osteuropaforschung. Ausgehend von einem langjährigen Plan Schiemanns gelang es diesem, zusammen mit Hoetzsch eine bestechende Konzeption zu erarbeiten, die im preußischen Kultusministerium auf so großen Anklang stieß, dass eine auf drei Jahre befristete Subvention gewährt wurde. Der weit über die 17



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Seine Auffassungen zur deutschen Polenpolitik veröffentlichte Hoetzsch ab 1912 als Mitherausgeber der Zeitschrift des Deutschen Ostmarkenvereins „Ostland. Jahrbuch für ostdeutsche Interessen“. Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 58. von Unruh, Provinz (Großherzogtum) Posen (Anm. 15), S. 405. Der „innere Abschied“ von Posen wird auch durch den Umzug von Otto Hoetzsch nach Berlin im Jahre 1911 deutlich. Dass der Umzug auch private Gründe hatte, kann vermutet werden. 1912 heiratete Otto Hoetzsch Cornelie Koenigs, verwitwete Spener. Hoetzschs Schwager wurde damit Gustav Koenigs, später Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium, der zu den Gruppierungen um die Verschwörer des 20. Juli 1944 gezählt wird. Ausführlich zum Konikt und der wissenschaftsgeschichtlichen und politischen Bewertung der Vorgänge: Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 281–288.

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Erforschung Russlands hinausgehende konzeptionelle Ansatz, der tatsächlich Osteuropa umfasste und der vergleichende Studien durch die starke Einbeziehung von Autoren aus dem Forschungsgebiet auf eine höhere Stufe hob, beruht auf Otto Hoetzsch. Lehrer und Schüler, Schiemann und der sich wissenschaftlich stetig entwickelnde Hoetzsch, waren eine „Symbiose“ eingegangen, die die Entwicklung des Fachs begünstigte und die internationale Anerkennung beider in Fachkreisen förderte22, aber die schließlich auch einen fachlichen und persönlichen Konikt nach sich zog. Im Zusammenhang mit der Besetzung des Extraordinariats kam es zur Entfremdung zwischen Schiemann und Hoetzsch, der eine unterschiedliche Bewertung der „Rußlandfrage“, besonders aber der deutschen Politik im Baltikum zugrunde lag. Während der in Grobin in Kurland geborene Schiemann vehement eine annexionistische deutsche Politik im Baltikum forderte, die den offenen Konikt mit Russland nach sich ziehen musste, hatte Hoetzsch durch seine intensiven Studien, verbunden mit etlichen Reisen zu den von ihm als solche eingeschätzten europäischen Weltmächten England und Russland, ein differenzierteres Bild entwickelt, dem die Beurteilung des Spiels der europäischen Mächte zugrunde lag. Auch regionale Konikte sowie innenpolitische Probleme und Entwicklungen beurteilte er unter diesem Gesichtspunkt. Übergeordneter Ausgang aller Überlegungen war bei Hoetzsch das deutsche Weltmachtstreben. Die Entwicklung der Nation bedingte und bestimmte für ihn aus wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Gründen eine imperialistische Politik Deutschlands. Das Schicksal der deutschen Nation entschied sich in der Lösung der Fragen nach ausreichendem Siedlungsraum, ausreichendem Zugang zu Rohstoffen und ausreichenden Absatzmärkten23. Hauptproblem im Verhältnis zu Russland war die lange deutsche Ostgrenze, die insgesamt militärisch gegen die Weltmacht Russland nicht zu schützen war. Die deutschen Weltmachtbestrebungen nicht zu gefährden, folgerte Hoetzsch, sei nur durch ein gutes Verhältnis zu Russland zu erreichen. Eine Konsequenz dieser Überlegungen war, den Konikt im Baltikum mit Russland zu vermeiden, eine andere war das gemeinsame Interesse beider Staaten an der Aufrechterhaltung der polnischen Teilung. „Die besten Garanten zur Aufrechterhaltung und Festigung dieser Interessengemeinschaft seien die Polen selbst. Ihre antirussischen Ausfälle während des Balkankrieges von 1912/13 hätten eine Verhärtung der russischen Polenpolitik bewirkt. Hinzu komme, dass sie durch ihr Vorgehen gegen die Ruthenen in Galizien und durch ihre offene Politik einer trialistischen Umgestaltung Österreich-Ungarns mit dem Ziel einer Slavisierung und Demokratisierung der Habsburger Monarchie diese geradezu in eine antipolnische Politik hineingetrieben hätten“24. Ein weiteres Argument für gute Beziehungen zu Russland waren für Hoetzsch die gegenseitigen guten wirtschaftlichen Beziehungen. Die deutsche Export22 23



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Ebenda, S. 338–349. Vgl. Otto Hoetzsch, Das Zeitalter Wilhelms II., in: Akademische Blätter (wie Anm. 16) 17 (1902/1903), S. 269–275 und 289–294; derselbe, Der deutsche Weltmachtgedanke, in: Akademische Blätter (wie Anm. 16) 18 (1903/1904), S. 17–19. Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 103.

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wirtschaft benötige den russischen Markt zur Expansion und die russische Landwirtschaft sei auf den deutschen Markt angewiesen. Die auseinanderstrebenden wissenschaftlichen Konzeptionen und politischen Bewertungen mögen ein Grund dafür gewesen sein, dass sich Schiemann weitgehend aus der inhaltlichen Gestaltung der Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte herauszog und sich auch kaum mehr bemühte, die finanziell schwierige Situation der Zeitschrift zu bessern25. War Hoetzsch die inhaltliche Gestaltung nach seinen eigenen Vorstellungen nur recht, konnte er nach wie vor auf die Unterstützung Schiemanns bei der Finanzierung nicht verzichten. Die im Jahr 1913 in Aussicht stehende Einstellung der Zeitschrift konnte noch vermieden werden, da sich Schiemann bereit erklärte, für neue Abonnenten zu werben und Finanzierungsmodelle zu bedenken, aber der Beginn des Ersten Weltkriegs setzte der Zeitschrift ein Ende. Erst 1930 gelang es Hoetzsch, sie zu neuem Leben zu erwecken, die endgültige Einstellung erfolgte mit seiner von den Nationalsozialisten verfügten Zwangspensionierung im Jahre 193526. Weiteres Koniktpotential zwischen Schiemann und Hoetzsch entwickelte sich mit der Gründung und Ausrichtung der „Deutschen Gesellschaft zum Studium Rußlands“. Zusammen mit dem Nationalökonomen Max Siering betrieb Otto Hoetzsch seit Februar 1913 die Einrichtung einer Gesellschaft, die mit einem umfassenden fachübergreifenden wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Programm die Russlandforschung zum politischen und wirtschaftlichen Nutzen fördern sollte. „Hoetzsch entwickelte ein umfangreiches Arbeitsprogramm. Zu den Aufgaben zählte er wissenschaftliche Darstellungen zum gesamten Bereich von Staat und Gesellschaft, die Herausgabe einer kritischen Bibliographie russischer Neuerscheinungen … die Unterstützung russischer Theateraufführungen und Kunstausstellungen, die Bereitstellung von Hintergrundwissen für die deutsche Wirtschaft, die Organisierung von Studienreisen und schließlich die Schaffung einer Korrespondenz zur Beeinussung der Presse“27. Das Auswärtige Amt, dem Hoetzsch eine Denkschrift mit seinen Gedanken vorlegte, lehnte die Gründung der Gesellschaft vorerst ab, da sie derzeit politisch nicht opportun sei. Unabhängig von der Ablehnung machte Hoetzsch im Juni 1913 über seine Bekanntschaft mit Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann im Auswärtigen Amt und unterstützt vom preußischen Kultusministerium einen neuen Vorstoß, der erfolgreicher ausfiel. Unter den Voraussetzungen, dass die Gesellschaft rein wissenschaftlich und institutionell ohne russische Beteiligung arbeiten solle, konnte sie Mitte Oktober 1913 25



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Wenn Hoetzsch im Jahre 1915 äußerte: „Die Balten haben seit bald drei Jahrzehnten unsere Ansicht über Rußland beherrscht … So sehr ich jetzt mitfühle, was in den Balten vorgeht, so ist mir klar, daß die Riesenfragen des Ostens nicht nur nach den Wünschen der 165 000 Deutschen in den Ostseeprovinzen orientiert werden können“, so zeigt dies nicht nur seine eindeutige Haltung, sondern derartige Aussagen mussten auch für Schiemann wie eine schallende Ohrfeige wirken. Zitiert nach Gerd Voigt, Otto Hoetzsch 1876–1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers, Berlin 1978, S. 313. Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 343–349. Ebenda, S. 485.

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konstituiert werden. Schiemann stand der Gesellschaft reserviert gegenüber. Unabhängig von der unterschiedlichen Bewertung des Verhältnisses zu Russland war er mit der Einbeziehung wirtschaftlicher Interessen nicht einverstanden, in der Hoetzsch nach den Erfahrungen mit der Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte nicht nur eine Möglichkeit zur dauerhaften Ausfinanzierung der Arbeit erblickte, sondern auch die Orientierung der Arbeit am praktischen Nutzen für Politik und Gesellschaft erhöhen wollte. Schließlich war Hoetzsch nicht verborgen geblieben, dass auch im Bereich der Geisteswissenschaften außeruniversitäre Projekte nur langfristig Erfolg hatten, wenn man sich neben der Akquise öffentlicher Mittel verstärkt um die Einbeziehung bürgerschaftlichen Engagements bemühte. Trotz seiner Bedenken ließ sich Schiemann zum Vizepräsidenten der Gesellschaft wählen, trat aber sofort aus, nachdem das Deutsche Reich mit Russland im Krieg stand. Nach dem Kriegsausbruch konnte die Gesellschaft, deren Name im Juli 1918 in „Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas“ geändert wurde, kaum noch wirksam werden28. Umso intensiver entwickelte Hoetzsch während der Zeit der Weimarer Republik höchst erfolgreich verschiedenste Aktivitäten zur Umsetzung der Ziele der Gesellschaft29. Ihr Präsident war vom Februar 1920 ab immerhin Friedrich Schmidt-Ott30. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erfolgt die „Gleichschaltung“ der Gesellschaft und Otto Hoetzsch legte seine Ämter 1935 nieder31. Zunehmend geriet seit seiner Rückkehr nach Berlin im Jahre 1911 Hoetzschs moderate Haltung gegenüber Russland, die Ablehnung der Annexionspolitik im Baltikum, aber auch seine Haltung in der Frage der Beschäftigung polnischer Arbeiter und Landarbeiter in die Kritik. Kriegsausbruch und Verlauf des Krieges verschärften die kritische Position der Parteigenossen und der Vertreter des Alldeutschen Verbandes gegenüber Hoetzsch. Als einer der wenigen in Deutschland wandte sich Hoetzsch während des Krieges gegen die weit verbreitete „Kulturpropaganda“ gegen Russland. Auch unter Fachkollegen waren seine Auffassungen umstritten. Insofern stellte der Bruch mit Schiemann keinen Einzelfall dar. Besonders scharf ging der Historiker Johannes Haller aus Tübingen mit ihm um, als er ihn 1917 als „russische Gefahr im deutschen Hause“ bezeichnete32. Im November 1914 beerbte Hoetzsch Schiemann, der dann 1916 seine Lehrtätigkeit im 70. Lebensjahr erkrankt aufgeben musste, in einer publizistischen Funktion. Er verfasste nun (bis 1924) die wöchentlich erscheinenden Kommentare zur Außenpolitik für die Kreuzzeitung. Hoetzsch wurde von den Verantwortlichen als profunder Kenner der internationalen 28

Ebenda, S. 487–490. ������������������������������������������������������������������������������������������������������� Ausführlich: Ebenda, S. 490–513. Hauptpublikationsorgan war seit 1925 die Zeitschrift „Osteuropa. Zeitschrift für die gesamten Fragen des europäischen Ostens“. 30 Wolfgang Treue, Friedrich Schmidt-Ott, in: derselbe/Karlfried Gründer (Hrsg.): Berlinische Lebensbilder. Bd. 3: Wissenschaftspolitik in Berlin, Berlin 1987. S. 235–250. 31 Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 510–512. 32 Johannes Haller, Die russische Gefahr im deutschen Hause (= Die russische Gefahr. Beiträge und Urkunden zur Zeitgeschichte, 6), Stuttgart 1917. 29

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Politik geschätzt und war zudem mit dem Chefredakteur der Zeitung, Hans Wendland, den er in der VVDSt-Zeit kennen gelernt hatte und der einer seiner Vorgänger in der Redaktion der Akademischen Blätter gewesen war, gut bekannt. Hoetzschs außenpolitische Kommentare „beeindruckten durch die überwältigende Materialfülle, die er ausbreitet und aus der regelmäßigen Lektüre der wichtigsten Zeitungen fast aller europäischen Länder sowie der USA gewann. Außer dem Kenntnisreichtum fällt die Sachlichkeit, Unabhängigkeit, Folgerichtigkeit und Beständigkeit seines Urteils auf. Seinem weiten Gesichtskreis entsprach es, wenn er neben der Außenpolitik auch Fragen der Innen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik der kriegführenden wie der neutralen Länder in Europa und Übersee behandelte“33. Bei Kriegsausbruch hatte sich Hoetzsch dem Auswärtigen Amt angeboten, als Kenner Osteuropas und als Dolmetscher tätig zu werden. Wichtiger waren für das Auswärtige Amt aber offensichtlich seine Erfahrungen in der Pressearbeit. Er arbeitete im Kriegspresseamt, leitete dort bis zum Kriegsende die für Russland, Polen und den Balkan zuständige Abteilung und nahm damit auch an den Pressebesprechungen im Auswärtigen Amt teil, was ihm unter anderem den unzensierten Zugang zur ausländischen Presse ermöglichte. Zur Frage der Kriegsschuld hatte Hoetzsch ebenfalls eine dezidierte Auffassung entwickelt. Die Schuld am Krieg wies er Russland zu, sah aber in England die eigentlich treibende und Russland unterstützende Kraft. Hoetzsch hatte England durch seine Studien und seine Reisen kennen und schätzen gelernt. Er erkannte England als Weltmacht an und erklärte hieraus dessen imperialistische Politik. Gleichzeitig forderte er aber das Verständnis Englands für die deutschen Weltmachtbestrebungen, quasi den freien Wettbewerb um die Weltmachtpositionen. Den Ausbruch des Krieges, so Hoetzsch, hatte England durch seinen Ausgleich mit Russland forciert und damit das labile politische und militärische System im Europa aus dem Gleichgewicht gebracht34. In Frankreich sah Hoetzsch nur den Bündnispartner von England und Russland ohne eigene Ambitionen – ausgenommen den Revanchegedanken für den verlorenen Krieg 1870/71 –, dessen Staatsgebiet nach dem Krieg bis auf wenige Korrekturen erhalten bleiben müsse35. Auch die USA spielten in Hoetzschs Überlegungen vorerst nur eine geringe Rolle. Er hielt einen Kriegseintritt Amerikas für wenig wahrscheinlich. Seiner in der Kreuzzeitung verbreiteten Auffassung nach werde der amerikanische Beitrag zum Krieg auf Waffenlieferungen und Finanzhilfen beschränkt. Andererseits fürchtete er den Kriegseintritt aber auch nicht, da er, gestützt auf seine Studien, mit inneren Unruhen in den USA rechnete und den Ausbruch der Interessengegensätze mit Japan vorhersagte36. Zur Frage der deutschen Kriegsziele hatte sich Hoetzsch schon im September 1914 in einer Denkschrift geäußert, deren Inhalt erstmals in der Arbeit von Uwe Liszkowski 33

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Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 129. Fritz T. Epstein folgend wertet Uwe Liszkowski die Artikel „gewissermaßen“ als Geschichte des Ersten Weltkrieges. Ebenda, S. 131–135. Ebenda, S. 143. Ebenda, S. 182.

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veröffentlicht worden ist. Diese Denkschrift, die das Grundgerüst für eine geplante und schließlich gescheiterte Publikation „Was Deutschland vom Frieden erwarten muss. Programm und Grundlage deutscher Zukunftspolitik“ darstellte, wurde im Dezember 1914 in überarbeiteter und erweiterter Version u. a. auch in der Reichskanzlei vorgelegt37. Während des Krieges machte Otto Hoetzsch zwei in seinen Augen fatale politisch-militärische Fehler Deutschlands bzw. der beiden Mittelmächte aus. Zum einen betraf dies die Proklamation eines Königreichs Polen am 5. November 1916 durch das Deutsche Reich und ÖsterreichUngarn, die er strikt ablehnte, da er in ihr den Weg zu einer Verschärfung der Konfrontation mit Russland sah38. Zum anderen war er strikter Verfechter des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs, den er für unausweichlich betrachtete, um die englische Zufuhr an Rohstoffen und Nahrungsmitteln zu unterbrechen. Für den Erfolg der Seeblockade nahm Hoetzsch auch den Angriff auf zivile Ziele und humanitäre Folgen billigend in Kauf. Die Aussetzung des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs nach dem Untergang der Lusitania am 7. Mai 1915 verurteilte er als Fehler – auch in Überschätzung der militärischen Wirksamkeit der deutschen U-Boote und vor allen Dingen in Unterschätzung der amerikanischen politischen Position und des militärischen Potentials der USA39. Seine Auffassungen hat Hoetzsch sicher mit dem Unterstaatssekretär, dann Staatssekretär Arthur Zimmermann im Auswärtigen Amt ausgetauscht, Verfasser des so genannten Zimmermann-Telegramms, der ebenfalls ein Verfechter des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs war und von dem er mehrfach empfangen wurde40. Das Ausscheiden Bulgariens aus dem Krieg Ende September 1918 muss für Hoetzsch wie ein Schock gewirkt haben, denn es besiegelte endgültig die Niederlage Deutschlands. Er hoffte nun auf Schadensbegrenzung, forderte, die öffentliche Diskussion der Schuldfrage für das Scheitern zurückzustellen und alle Kräfte auf ein annehmbares Kriegsende als Voraussetzung für einen günstigen Frieden zu konzentrieren. Unabhängig davon machte

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Ebenda, S. 139–141 und 167–170. Hoetzsch vertrat darin die Auffassung, dass der Krieg Deutschland aufgedrängt worden war und es sich deshalb politisch um einen reinen Verteidigungskrieg handelte. Hieraus erklärte er auch das Fehlen klarer Vorstellungen über die deutschen Kriegsziele in der Öffentlichkeit. Als Konsequenz forderte er eine auf breiter wissenschaftlicher Basis angelegte Kriegszieldiskussion bei Politikern und in der Öffentlichkeit, sowie eine sachliche Vorbereitung der Friedensverhandlungen durch Vertreter der Wissenschaft. 38 ���������������������������������������������������������������������������������������������������������� Ebenda, S. 186 f. Diese Auffassung änderte Hoetzsch erst kurz vor Kriegsende, als er mit der sich abzeichnenden Niederlage erkennen musste, dass sich seine Konzeption für Polen nicht durchsetzen ließ und er die Existenz eines „eigenständigen“ Polens anerkennen musste. 39 Ebenda, S. 182. 40 Das so genannte Zimmermann-Telegramm führte letztendlich zum Kriegseintritt der USA. Ziel war ein Bündnis zwischen Deutschland und Mexiko für den Fall, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Neutralität aufgeben sollten. Vgl. Martin Nassua, „Gemeinsame Kriegführung, gemeinsamer Friedensschluß“. Das Zimmermann-Telegramm vom 13. Januar 1917 und der Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg, Frankfurt am Main 1992.

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er das Versagen der politischen Führung des Deutschen Reichs für die Niederlage verantwortlich41. Während Hoetzschs Weltmachtträume für Deutschland zu zerplatzen begannen, kam auch seine wissenschaftliche Karriere nicht recht voran. Seine Ambitionen, Nachfolger des 1916 emeritierten Theodor Schiemann zu werden, wurden von der Fakultät und Schiemann selbst hintertrieben. Entscheidend für die Ablehnung waren Hoetzschs politische Tätigkeit und seine Arbeit als Publizist, aber nicht seine wissenschaftlichen Leistungen, obwohl deren Geringschätzung und vermeintliche Unzulänglichkeiten von der Fakultät in den Vordergrund geschoben wurden42. Die Auseinandersetzungen zogen sich über knapp vier Jahre hin und wurden erst durch Carl Heinrich Becker einer Lösung nähergebracht. Becker, mit dem Hoetzsch gut bekannt war, hatte von 1916 an Orientalistik an der Berliner Universität gelehrt und war in der Zwischenzeit zum Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium aufgestiegen43. Es ist Becker zu verdanken, dass Otto Hoetzsch am 6. Juli 1920 gegen den Widerstand der Fakultät zum ordentlichen Professor und zweiten Direktor des Seminars für osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Berliner Universität ernannt wurde. Hoetzsch empfand diese Entscheidung als Zurücksetzung. Direktor des Seminars wurde der von der Fakultät vorgeschlagene Karl Stählin. Das Verhältnis „zwischen dem demokratischen, künstlerisch und literarisch interessierten Stählin und dem konservativen, politisch interessierten Hoetzsch“44, die das Seminar immerhin bis zu Stählins Emeritierung im Jahre 1933 zusammen leiten mussten, wird als angespannt beschrieben. Stählin las russische Geschichte, während Hoetzsch thematisch wesentlich breiter aufgestellt war und mit seinen Veranstaltungen den Bereich osteuropäische Geschichte (mit der Geschichte der deutschen Ostgebiete) und Landeskunde abzudecken versuchte. 1927 erhielt Hoetzsch einen weiteren Lehrauftrag für Außenpolitik und internationale Beziehungen. Er erreichte mit seinen „Mittwochvorlesungen“ zum „politischen Weltbild der Gegenwart“, die er fakultätsübergreifend ankündigte und die eher den Charakter politischer Vorträge hatten, zeitweise mehr als 1000 Hörer. Der Lehrauftrag für Außenpolitik zog die Gründung eines Außenpolitischen Seminars nach sich, in dem Probleme der Außenpolitik, auch anhand von Dokumenten, referiert und diskutiert wurden. Darüber hinaus gab Hoetzsch in regelmäßigen Abständen Einschätzungen zur weltpolitischen Lage45. Hier konnte er nun seine Idee der Bildung durch die Verbindung von Wissenschaft und Politik verwirklichen. Beinahe rastlos nahm er deshalb auch weitere Lehraufträge an der Handels-

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Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 197 f. Ausführlich: Ebenda, S. 288–290. Später sollte Becker, der als bedeutender Hochschulreformer in der Weimarer Republik gilt, zweimal das Amt des preußischen Kultusministers inne haben. Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 290. Vgl. Schlögel, Von der Vergeblichkeit (Anm. 1), S. 410.

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hochschule Berlin46, an der Verwaltungsakademie, an der Hochschule für nationale Politik und an der 1920 gegründeten Deutschen Hochschule für Politik47 an, an der er 1928 einen Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten gründete. Im gleichen Jahr wurde die dann 1935 aufgelöste „Historische Reichskommission“ gegründet, die Hoetzsch zu ihrem Schriftführer wählte und in der er wissenschaftlich publizistisch tätig war. 1931 trat Hoetzsch dem „Weimarer Kreis“ bei, einer Vereinigung verfassungstreuer Hochschullehrer, zu deren Präsident er 1932 gewählt wurde48. Seit dem Kriegsende hatte sich Hoetzsch zum „Vernunftrepublikaner“ entwickelt, blieb aber innerlich der Monarchie, die er weiterhin für die geeignetste Staatsform hielt, ebenso treu wie seinen politisch in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten Einschätzungen. Otto Hoetzsch war zunächst als Vertreter der „Deutschkonservativen Partei“, der er seit 1906 angehörte, in die Programmkommission der „Deutschnationalen Volkspartei“ (DNVP) entsendet worden. „Ein Teil seiner sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen sind zumindest verbal ins Programm mit eingeossen, das einen Kompromiss aus bisherigen konservativen, freikonservativen, christlich-sozialen und völkischen Positionen darstellte und darauf angelegt war, möglichst breite Bevölkerungskreise der Partei zuzuführen“49. Hoetzsch trat der DNVP bei und wurde 1919 als ihr Abgeordneter in die preußische verfassungsgebende Versammlung gewählt. Auf Vorschlag Preußens sollte Hoetzsch als Kenner Ostdeutschlands und Osteuropas an den Friedensverhandlungen in Versailles teilnehmen, wurde von der Reichsregierung aber abgelehnt, da man eben nicht nur einen ausgezeichneten Fachmann haben wollte, sondern auch eine Person, die für den politischen Wandel in Deutschland stand50. In dieser Hinsicht wäre Hoetzsch tatsächlich der falsche Berater gewesen. Außenpolitisch stand er auf einer Linie mit der DNVP, die die totale Revision des Versailler Vertrags, den Schutz des Grenz- und Ausländerdeutschtums und das Recht des Anschlusses Österreichs an Deutschland verlangte. 1920 wurde er für den Wahlkreis Leipzig in den Reichstag gewählt, dem er bis 1930 angehörte. Bis 1929 war er Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Reichstags. Die außenpolitischen Annahmen, die Hoetzsch auf der Grundlage der dargestellten Maximen entwickelte, waren nicht realitätsfremd. Er ging davon aus, dass die USA zur Tilgung der Kriegsschulden ihrer Verbündeten einen starken europäischen Wirtschaftsraum wünschten und damit auch in letzter Konsequenz ein zahlungsfähiges Deutschland, was zumindest eine teilweise Revision der Friedensverträge bedeuten musste. Insofern betonte er die ökonomische Komponente dieser politisch hoch 46



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Vgl. Fritz Demuth, Die Handelshochschule in Berlin, in: Industrie- und Handelskammer zu Berlin: 1902– 1927, Berlin 1927. Antonio Missiroli, Die Deutsche Hochschule für Politik, Sankt Augustin 1988. Vgl. Erich Nickel, Sozialer Liberalismus und Mitteleuropa. Zum Gründungskonzept der Deutschen Hochschule für Politik nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, Berlin 1998. Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 299–302. Ebenda, S. 203. Ebenda, S. 222.

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brisanten Frage. Diese Überlegungen brachten ihn auch dazu, dem Dawes-Plan und später auch dem Young-Plan trotz Bedenken zuzustimmen, was ihm massive Angriffe aus den Reihen der DNVP einbrachte. Aus seinem Wahlkreis wurde er aufgefordert, sein Reichstagsmandat niederzulegen und ihm wurden, was ihn besonders getroffen haben wird, seine außenpolitischen Kommentare bei der Kreuzzeitung entzogen51. Mit der weiteren Entwicklung der DNVP vollzog sich schließlich auch der Bruch von Otto Hoetzsch mit der Partei. Die Übernahme des Parteivorsitzes durch Alfred Hugenberg im Jahre 1928 und vor allen Dingen das Volksbegehren gegen den Young-Plan führten dazu, das Hoetzsch am Jahresende 1929 mit anderen aus der DNVP austrat und auch die Reichstagsfraktion verließ. Otto Hoetzsch schloss sich der „Volkskonservativen Vereinigung“ an, die im Juli 1930 in der „Konservativen Volkspartei“ aufging und wenige Jahre später – zusammen mit Hoetzsch – in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwand52. Die Weimarer Zeit kann zweifellos als die fruchtbarste Schaffensperiode von Otto Hoetzsch bezeichnet werden. Er befand sich auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Karriere und hatte, trotz mancher Widrigkeiten, seine Vorstellungen von einer Osteuropäischen Geschichtswissenschaft durchgesetzt. Er war als anerkannter politischer Publizist und Wissenschaftsorganisator fest etabliert und er verfügte über glänzende Kontakte zu bedeutenden Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, die gerne auch seinen Einladungen zu regelmäßigen Zusammenkünften in seinem Haus in der Bendlerstraße im Berliner Bezirk Tiergarten folgten53. „Es war in erster Linie Otto Hoetzschs Persönlichkeit und Anstrengungen zu verdanken, wenn Berlin nach dem Ersten Weltkrieg zum weltweit anerkannten Zentrum der Rußland- und Osteuropa-Studien wurde. Sein Genie bestand darin, die in Berlin vorhandenen Kräfte miteinander ins Spiel zu bringen und in einen neuen Aggregatzustand zu überführen“54. Nach der „Machtergreifung“ deutete sich rasch das Ende von Hoetzschs akademischer und publizistischer Karriere an. Vor allen Dingen seine Haltung gegenüber der Sowjetunion, die auf der vor dem Ersten Weltkrieg und vor dem Hintergrund deutscher Weltmachtbestrebungen entwickelten Theorien beruhte, seine historischen und landeskundlichen Arbeiten sowie seine universitären und außeruniversitären Aktivitäten unter enger Einbeziehung ausländischer Wissenschaftler, nicht zuletzt seine politischen Kontakte und vielleicht auch sein Opportunismus machten Hoetzsch bei den nationalsozialistischen Machthabern zu einer missliebigen Person. Die Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas wurde als „Hort und Sammelbecken aller jüdisch-freimaurerisch-liberalistischen Sowjetfreunde 51



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Ebenda, S. 211–215. 1928 wurde ihm auch die Mitarbeit in der Zeitung „Der Tag“ entzogen, die zum Hugenberg-Konzern gehörte. Vgl. Erasmus Jonas, Die Volkskonservativen 1928–1933. Entwicklung, Struktur, Standort und staatspolitische Zielsetzung, Düsseldorf 1965; Horst Möller/Andreas Wirsching, Aufklärung und Demokratie: Historische Studien zur politischen Vernunft, Göttingen 2003, S. 232. Vgl. Schlögel, Von der Vergeblichkeit (Anm. 1), S. 413–415. Ebenda, S. 417.

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und Salonbolschewisten“ diffamiert55. Die massiven Angriffe der Nationalsozialisten auf seine Person und sein Werk beantwortete Hoetzsch mit einer eigentlich nicht erklärbaren opportunistischen Haltung, die sich u. a. in einer Reihe von „NS-freundlichen“ Publikationen zeigte. Sicher war aus dem „Vernunftrepublikaner“ Hoetzsch kein „Herzensrepublikaner“ geworden. Dass der „Tag von Potsdam“, wie Uwe Liszkowski vermutet, „eine Wende im Verhältnis zum Nationalsozialismus bewirkt“ hat56, vermag aber kaum zu überzeugen. Für Otto Hoetzsch, der im Grunde nach wie vor der Wertewelt und den Traditionen des Kaiserreichs verhaftet war, konnte es sicher verlockend wirken, wenn sich Hindenburg und Hitler als Vertreter der alten und der neuen Zeit die Hand reichten, jedoch musste er aufgrund seiner eindeutigen Haltung zu Osteuropa und den jahrelangen Angriffen, die diese nach sich gezogen hatte, wissen, dass sie in keiner Weise goutiert werden würde. Insofern dürfte eher anzunehmen sein, dass Hoetzsch mit einer vorerst defensiven Position – erfolglos – die weitere Entwicklung abzuwarten versuchte. Am 1. November 1933 trat er dem NS-Lehrerbund bei. In der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und in der Redaktion ihres Publikationsorgans „Osteuropa. Zeitschrift für die gesamten Fragen des europäischen Ostens“ übernahmen Nationalsozialisten ohne erkennbaren Widerstand von Hoetzsch nach und nach die Schlüsselpositionen. Otto Hoetzsch und seine engsten Mitarbeiter wurden aus dem Vorstand gedrängt. Am 14. Mai 1935 wurde Hoetzsch von seinen Verpichtungen in der Universität entbunden und in den Ruhestand versetzt. Hoetzsch zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und arbeitete an seiner Biografie über Zar Alexander II. Dieses Manuskript, dass bis heute auf seine Veröffentlichung wartet, war nahezu die einzige Habe, die Hoetzsch nach der Zerstörung seiner Wohnung durch Bombentreffer im Jahre 1943 verblieb. Zugrunde ging auch seine Privatbibliothek mit ca. 30.000 Bänden. Vollkommen mittellos verbrachte er die Zeit bis zum Kriegsende bei Freunden, Verwandten in der Nähe von Stettin oder, von Krankheit gezeichnet, in Krankenhäusern. Im März 1945 üchtete er zusammen mit seiner Frau von Stettin aus nach Berlin, wo seine Frau im April des Jahres verstarb. Schon am 15. Juni 1945 erfolgte seine Wiedereinsetzung als Ordinarius an der Berliner Universität, er konnte aber wegen seiner Krankheit kaum noch wirksam werden. In der Zeit, die Hoetzsch bis zu seinem Tode blieb, schrieb er ein weiteres Buch zur Geschichte Russlands. Otto Hoetzsch starb am 27. August 194657.

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Ebenda, S. 420. Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 304. Ausführlich zu Hoetzschs letzten Lebensjahren: Liszkowski, Osteuropaforschung (Anm. 1), S. 314–318.

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Werke (in Auswahl)58 Die wirtschaftliche und soziale Gliederung vornehmlich der ländlichen Bevölkerung im meissnisch-erzgebirgischen Kreise Kursachsens. Auf Grund eines Landsteuerregisters aus der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts dargestellt, Leipzig 1900. – Die vereinigten Staaten von Nordamerika (= Monographien zur Weltgeschichte, 20), Bielefeld/Leipzig 1904. – Stände und Verwaltung von Cleve und Mark in der Zeit von 1866 bis 1897 (= Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der inneren Politik des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 2), Leipzig 1908. – Rußland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904 bis 1912, Berlin 1913. – Rußland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte vom Japanischen bis zum Weltkriege, Berlin 1917. – Grundzüge der Geschichte Rußlands, hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Bernhard Stasiewski, Stuttgart 1949. – Rußland als Gegner Deutschlands, Leipzig 1914. – Der Krieg und die große Politik, 3 Bde., Leipzig 1917–1918. – Peter von Meyendorff. Ein russischer Diplomat an den Höfen von Berlin und Wien. Politischer und privater Briefwechsel 1826–1863. 3 Bde, Berlin/Leipzig 1923. – Osteuropa und deutscher Osten. Kleine Schriften zu ihrer Geschichte, Königsberg/Berlin 1934. – Katharina die Zweite von Rußland. Eine deutsche Fürstin auf dem Zarenthrone des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1940.

Literatur (in Auswahl) Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (Hrsg.), Russland-Studien: Gedenkschrift für Otto Hoetzsch. Aufsätze seiner Schüler anlässlich des 80. Jahrestages seiner Geburt und des 10. Jahrestages seines Todes, Stuttgart 1957. – Uwe Liszkowski, Osteuropaforschung und Politik. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken und Wirken von Otto Hoetzsch (= Osteuropaforschung. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, 19), 2 Bde., Berlin 1988. – Karl Schlögel, Von der Vergeblichkeit eines Professorenlebens: Otto Hoetzsch und die deutsche Russlandkunde, in: derselbe, Das Russische Berlin. Osteuropas Bahnhof, München 2007, S. 403–424. – Gerd Voigt, Otto Hoetzsch 1876–1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers, Berlin 1978. – Gerd Voigt, Otto Hoetzsch. 1876 bis 1946, in: Heinz Heitzer/Karl-Heinz Noack/Walter Schmidt (Hrsg.), Wegbereiter der DDRGeschichtswissenschaft. Biographien, Berlin (Ost) 1989, S. 93–106. – Wolfgang Hardtwig, Neuzeithistorie in Berlin 1810–1918, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität unter den Linden 1810–2010. Bd. 4: Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität, Berlin 2010, S. 291–315. – Wolfgang Hardtwig, Neuzeit-Geschichtswissenschaften 1918–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 413–434. 58

������������������������������������������������������������������������������������������������������ Ein ausführliches Verzeichnis der selbstständigen und unselbständigen Schriften sowie der Herausgeberschaften von Otto Hoetzsch findet sich ebenda, S. 577–597. Die Zahl der von Hoetzsch verfassten Schriften und Zeitungsartikel wird auf über 1.200 Stück geschätzt. Ein Nachlass von Otto Hoetzsch existiert nicht, da seine persönlichen Papiere im Krieg verloren gegangen sind.

Arnold Oskar Meyer Von Hans-Christof Kraus I. Blickt man zurück auf die in ihrer Zeit angesehensten Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft an der alten Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, dann wird man Arnold Oskar Meyer nicht übergehen können. Er gehörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sicher nicht zu den inhaltlich oder methodisch wegweisenden Vertretern der historischen Zunft wie etwa Friedrich Meinecke oder Otto Hintze, doch er konnte sich bedeutenden Respekt verschaffen als einer der führenden politischen Historiker seiner Generation, dazu als vielseitiger Gelehrter, den seine Forschungen auch auf seinerzeit eher abgelegene Gebiete geführt haben – wie in seinem Fall auf die frühneuzeitliche englische Geschichte, mit der sich deutsche Historiker damals eher selten befassten; gerade zu diesem Thema hat er grundlegende, noch heute beachtete Forschungen vorgelegt, und auch einige seiner Beiträge zur Bismarckforschung haben ihre Bedeutung bis heute nicht verloren. Geboren wurde Arnold Oskar Meyer am 20. Oktober 1877 in Breslau, doch der gebürtige Schlesier entstammte eigentlich einer alten niedersächsischen, ursprünglich im Oldenburgischen ansässigen Bauernfamilie1. Sein Vater, Professor Oskar Emil Meyer, lehrte als Ordinarius der Physik an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität, und auch der junge Arnold Oskar entwickelte zuerst starke naturwissenschaftliche Interessen, die er übrigens auch im späteren Leben gepegt hat, um sich indessen am Ende doch den Geisteswissenschaften zuzuwenden, ebenso übrigens wie sein Bruder Hermann, der als Rechtshistoriker die akademische Laufbahn ergreifen sollte. Im Jahr 1895 legte Arnold Oskar Meyer in seiner Geburtsstadt am humanistischen St. Maria Magdalena-Gymnasium das Abitur ab, anschließend studierte er zehn Semester lang Geisteswissenschaften mit den Schwerpunkten Geschichte, Philosophie, Germanistik und Anglistik an fünf verschiedenen Universitäten: in Breslau, Tübingen, Leipzig, Berlin, Heidelberg und endlich erneut in Breslau. 1



Die D�������������������������������������������������������������������������������������������������� biographischen Angaben nach der Personalakte Arnold Oskar Meyers im Archiv der Humboldt Universität, Berlin: M 170, Bde. I–III. – Einzelnes auch bei Fritz Hartung, Arnold Oskar Meyer †, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 72 (1944), S. XI–XVIII, und Wilhelm Schüßler, Arnold Oskar Meyer (20. 10. 1877 – 3. 6. 1944). Ein Historiker des Bismarckschen Deutschlands, in: Hans Leussink / Eduard Neumann / Georg Kotowski (Hrsg.): Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (Gedenkschrift der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin), Berlin 1960, S. 690–701.

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Arnold Oskar Meyer *20. Oktober 1877 in Breslau, † 3. Juni 1944 in Berlin

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Von seinen akademischen Lehrern haben ihn Erich Marcks und vor allem Dietrich Schäfer besonders stark geprägt; auf Schäfer, der ebenfalls in Breslau gelehrt hatte und damals in Tübingen wirkte, ging schließlich auch die Anregung zurück, sich mit der Geschichte Großbritanniens im 16. Jahrhundert zu befassen2. Jedenfalls promovierte Meyer im Juli 1900 an der Universität seiner Geburtsstadt mit einer Studie über das Thema „Die englische Diplomatie in Deutschland zur Zeit Eduards VI. und Mariens“. Ein halbes Jahr später legte er zudem er die Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen in den Fächern Geschichte, philosophische Propädeutik, Deutsch und Englisch ab. An die Schule zog es ihn freilich nicht, sondern er unternahm im Anschluss an sein Studium zuerst einmal eine Bildungsreise nach Großbritannien, bevor er anschließend bis 1903 private archivalische Studien im Breslauer Stadtarchiv betrieb, aus denen sein zweites Buch hervorging, die vornehmlich aus schlesischen Quellen gearbeiteten „Studien zur Vorgeschichte der Reformation“. Schon in dieser Zeit scheint er entschlossen gewesen zu sein, eine akademische Karriere einzuschlagen, doch bis dahin waren noch manche Umwege zu gehen: Zuerst einmal führten sie ihn nach Rom, wo er vom April 1903 bis April 1908 am dortigen Preußischen Historischen Institut als „Hilfsarbeiter“ tätig war, wohlwollend gefördert durch den damaligen Leiter des Instituts, den einussreichen Mittelalterforscher Paul Fridolin Kehr. Tatsächlich nutzte Meyer seine Zeit in Rom überaus intensiv; er brachte mit großem Fleiß nicht nur einen sehr umfangreichen, fast neunhundert Seiten umfassenden Band mit deutschen Nuntiaturberichten des 17. Jahrhunderts zustande3, sondern konnte gleichzeitig an einem weiteren Vorhaben arbeiten, aus dem schließlich seine nächstes großes Werk hervorgehen sollte, eine Darstellung des Verhältnisses der englischen Tudormonarchie zur katholischen Kirche. Mit einer Vorstudie hierzu habilitierte er sich im Mai 1908 an der Universität Breslau4; drei Jahre später erschien dann das stattliche Gesamtwerk unter dem Titel „England und die katholische Kirche unter Elisabeth und den Stuarts, 1. Bd.: England und die katholische Kirche unter Elisabeth“, fast fünfhundert Druckseiten stark; auf eine Fortsetzung (das Werk sollte ursprünglich die Zeit bis 1688/89 umfassen) hat Meyer später allerdings verzichtet5. Gleichwohl fand bereits der erste Band dieses Werkes, „das den schwierigen und umstrittenen Gegenstand unmittelbar aus den Quellen heraus mit streng wissenschaftlicher Methode und echt historischer Objektivität behandelte, … allgemeine Anerkennung“6. Eine 2



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Vgl. Hartung, Arnold Oskar Meyer † (Anm. 1), S. XII; siehe auch den Lebenslauf in: Arnold Oskar Meyer, Die englische Diplomatie in Deutschland zur Zeit Eduards VI. und Mariens, Phil. Diss. Breslau 1900, S. 113. Nuntiaturberichte aus Deutschland nebst ergänzenden Aktenstücken. IV. Abt.: Siebzehntes Jahrhundert. Die Prager Nuntiatur des Giovanni Stefano Ferreri und die Wiener Nuntiatur des Giacomo Serra (1603–1606), bearb. v. Arnold Oskar Meyer, Berlin 1913. Arnold Oskar Meyer, England und die katholische Kirche vom Regierungsantritt Elisabeths bis zur Gründung der Seminare, Rom 1908. Arnold Oskar Meyer, England und die katholische Kirche unter Elisabeth und den Stuarts. 1. Bd.: England und die katholische Kirche unter Elisabeth, Rom 1911 (Ndr. Turin 1971). Hartung, Arnold Oskar Meyer † (Anm. 1), S. XII.

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Übersetzung ins Englische wurde noch während des Ersten Weltkriegs angefertigt; sie ist übrigens lange nach Meyers Tod noch einmal neu aufgelegt worden – eine Tatsache, die den wissenschaftlichen Rang und die fortdauernde Bedeutung dieser ersten großen Arbeit noch einmal besonders unterstreicht7. In den Jahren 1905, 1907, 1909 und 1910 hatte sich der junge Gelehrte übrigens selbst zu Archivstudien in Großbritannien aufgehalten, mit finanzieller Unterstützung des preußischen Staates und mit wohlwollender Förderung Kehrs, dem Meyer denn auch „von Herzen aufrichtigen Dank“ sagte „für die freie und weite Auffassung, mit der er mir neben den amtlichen Arbeiten meiner Stellung auch den eigenen wissenschaftlichen Neigungen nachzugehen nicht nur gestattet, sondern mich darin sogar ermuntert und nach Kräften unterstützt hat“8. Meyer verstand die Regierungszeit Elisabeths, die im Mittelpunkt seiner Untersuchung stand, „als die für den englischen Katholizismus auf Jahrhunderte hinaus entscheidende Periode, als die Zeit, die der Machtstellung Roms auf angelsächsischer Erde bis heute kaum verrückbare Grenzen gezogen hat“9. Mit eindrucksvoll durchgehaltenem Willen zur sachlich-objektiven, partiell sogar von Sympathie (etwa für die katholischen Märtyrer jener Epoche) gekennzeichneten Darstellung und Deutung der Auseinandersetzungen und Kämpfe des englischen Katholizismus unter der letzten Tudorkönigin hat der zeitlebens gläubige evangelische Christ Meyer die Qualität seines von konfessionalistischer Verengung freien Werkes durchaus eindrucksvoll belegen können: Die „Geschichte der katholischen Kirche im England Elisabeths“, so sein Resümee, stelle „das rühmlichste Blatt in den blutigen Annalen der Gegenreformation“ dar. „Weder an Grösse der Gegner, noch an Höhe des Preises steht dieser Kampf hinter irgend einem anderen jener Zeit zurück. Seine volle Bedeutung aber hat erst die Zukunft offenbart: die Gegner, die sich damals gemessen, sind die beiden grössten Weltmächte der neueren Zeit geworden – England und die katholische Kirche“10. Die englische Geschichte hat Meyer auch später immer wieder beschäftigt; sie ist eines von zwei Lebensthemen und Hauptarbeitsgebieten geworden. Zwar hat er das bis in seine erste Berliner Zeit, also die späten dreißiger Jahre, langjährig geplante Vorhaben einer modernen Gesamtdarstellung der englischen Geschichte mit dem Kriegsausbruch von 1939 endgültig aufgegeben11, doch einzelne Gegenstände und Themen aus der Geschichte des Inselreichs hat er auch später noch bearbeitet. Als besonders beachtlich dürfte darunter vor allem die zuerst 1921 publizierte, sehr kenntnisreiche und tiefdringende Studie über Oliver Cromwell anzusehen sein, den Meyer als den „größte[n] aller Engländer“ charakterisierte, 7



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Arnold Oskar Meyer, England and the Catholic Church under Queen Elizabeth. Translated by J. R. McKee. Introduction to the 1967 edition by John Bossy, London 1967. In seiner Einleitung zur Neuausgabe (ebenda, S. xxiii–xxxiv) stellt J. Bossy ausdrücklich fest, „that Meyer’s is the best book on the subject. It seems likely to remain so for a good while to come“ (S. xxxiv). Meyer, England und die katholische Kirche (wie Anm. 5), S. XIV. Ebenda, S. IX. Die Zitate ebenda, S. 399. So Hartung, Arnold Oskar Meyer † (Anm. 1), S. XV.

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„weil die typischen Züge des englischen Charakters in ihm ihre gewaltigste Verkörperung gefunden haben“, darunter vor allem „Wirklichkeitssinn“ und „Verachtung für Theorie und System“, aber eben auch „Sinn für staatliche Ordnung“ und Kampf „für Freiheit des Gedankens und der Rede“12. Weitere Abhandlungen galten u. a. dem etwas rätselhaften ersten britischen König aus dem Hause Stuart, Jakob I., sowie der Entwicklung des britischen Empire13. Als Zeichen dafür, dass die Arbeiten des jungen deutschen Historikers auch in Großbritannien recht bald schon auf Interesse stießen, wird man seine Ernennung zum „Honorary Corresponding Member“ der Royal Historical Society im Mai 1913 ansehen dürfen; im Juni 1930 wurde diese Ehrenmitgliedschaft übrigens erneuert.

II. Der eigentliche Beginn von Meyers akademischer Karriere ließ allerdings noch ein wenig auf sich warten. Zwar konnte er im Jahr 1910, noch als Privatdozent, an die Universität Rostock wechseln, wo er zugleich das dortige Universitätsarchiv zu leiten hatte, zwar wurde er hier im April 1913 zum a. o. Professor ernannt, doch der so lange ersehnte Ruf kam erst nach Beginn des Ersten Weltkrieges: Zum 1. April 1915 wurde Arnold Oskar Meyer auf einen historischen Lehrstuhl an der Universität Kiel berufen; er blieb also in Norddeutschland. Noch in Rostock hatte er eine Familie gegründet: Seine Frau Bertha, geb. Thierfelder entstammte wie er selbst einer Professorenfamilie; der Ehe entsprossen vier Kinder, drei Töchter und ein Sohn. Arnold Oskar Meyer hat sich wie viele seiner Zeit- und Generationsgenossen von der patriotischen Begeisterung der ersten Kriegszeit mitreißen lassen; noch viele Jahre nach Kriegsende erinnerte er sich daran: In den „unvergeßlichen ersten Augusttagen 1914“ sei es den damals Lebenden erschienen, „als seien nun endlich die Schranken der Volkwerdung gefallen. Der Nationale Gedanke riß damals alle Parteischranken nieder, und das Bewußtsein der unlösbaren Zusammengehörigkeit aller Deutschen brach überwältigend durch“14. Am 4. August 1915 meldete sich auch der soeben neu ernannte Kieler Ordinarius als Kriegsfreiwilliger. Nach einem Jahr Militärdienst, zuerst in Tirol, später in Frankreich, erkrankte er schwer und wurde nach mehrmonatigem Lazarettaufenthalt im Oktober 1916 aus der Armee endgültig entlassen. Wie er später berichtete, hat Meyer schon 1916 und noch einmal im März 1918 „an Bord der Hochseeotte zahlreiche Vorträge für Offiziere und Mannschaften gehalten“15. 12



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Arnold Oskar Meyer, Cromwell, in: Meister der Politik. Eine weltgeschichtliche Reihe von Bildnissen, hrsg. v. Erich Marcks / Karl Alexander von Müller, 2. Au., Bd. 2, Stuttgart / Berlin 1923, S. 255–292, die Zitate S. 292. Beide enthalten in dem Sammelband: Arnold Oskar Meyer, Deutsche und Engländer. Wesen und Werden in großer Geschichte, München 1937. Ebenda, S. 34. Archiv der Humboldt-Universität/Berlin, M 170, Bd. I, Bl. 60r.

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Wie zahlreiche andere – deutsche ebenso wie außerdeutsche – Professoren hat sich auch Meyer an der geistigen Auseinandersetzung mit dem Gegner beteiligt und während des Krieges allerhand Vorträge gehalten und Schriften verfasst, die im weitesten Sinne zur akademischen Kriegspropaganda zu zählen sind: als erstes erschien schon 1914 eine Broschüre mit dem sprechenden Titel „Worin liegt Englands Schuld?“; ein Jahr später folgte eine (in zweiter Auage noch erweiterte) umfangreichere Auseinandersetzung mit dem politischen System Großbritanniens, beides aus einer für die Kriegszeit typischen national-patriotischen Perspektive heraus verfasst16. Meyer hat sich in der Tat stets als politischer Gelehrter verstanden, nicht erst seit Beginn des Krieges. Schon 1908 war er der Freikonservativen Partei beigetreten; in den Jahren 1917/18 schloss er sich der ultrapatriotischen, fest auf einen „Siegfrieden“ hoffenden und sich als nationale Sammlungsbewegung verstehenden Deutschen Vaterlandspartei an. Zwischen 1918 und 1930 wiederum war er Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei, anschließend für kurze Zeit der Konservativen Volkspartei. Sein politisches Engagement setzte er also nach dem verlorenen Krieg weiter fort; bald wurde er, dessen rhetorische Fähigkeiten nach der Erinnerung seines Kollegen Karl Brandi sehr eindrucksvoll gewesen sein müssen17, ein gefragter Vortragsredner, der insbesondere zu historischen Feier- und Gedenktagen sprach; zuerst noch in Kiel, wo er auch die „Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte“ zu betreuen hatte und mehrfach die deutsche Vergangenheit des nach dem verlorenen Weltkrieg abgetrennten nordschleswigschen Grenzlandes beschwor, sodann auch in Göttingen, wohin er 1922 berufen wurde. Am 18. Januar 1925 hielt er hier anlässlich einer Reichsgründungsfeier eine Rede über „Bismarcks Orientpolitik“18, die bereits auf sein neues Hauptforschungsgebiet der Nachkriegszeit verwies: die Geschichte Bismarcks und seiner Zeit. Noch in seinen Kieler Jahren hatte Meyer persönliche Kontakte zur Familie Bismarck in Friedrichsruh geknüpft, und besonders die beiden verwitweten Schwiegertöchter des „Eisernen Kanzlers“ haben jetzt und in den folgenden Jahren seine Forschungen auf vielfältige Weise unterstützt; Karl Brandi bemerkte rückblickend: „Reiche Förderung und einen schon damals gern gepegten Verkehr verdankte er [Meyer; H.-C.K.] der Fürstin Herbert Bismarck, der er jeweils Teile seiner entstehenden Werke vorlas“19. Die eigentliche Frucht seiner in Göttingen verbrachten Jahre (1922–1929) wurde Meyers grundlegendes, wiederum fast vollständig aus ungedruckten Quellen erarbeitetes Buch „Bismarcks Kampf mit Österreich am Bundestag zu Frankfurt (1851 bis 1859)“, das 1927 erschien und dem das Verdienst zukommt, die frühen Diplomatenjahre des späteren 16



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Arnold Oskar Meyer, Worin liegt Englands Schuld, Stuttgart 1914; derselbe, Deutsche Freiheit und englischer Parlamentarismus, München 1915 (stark erweiterte Au. ebenda 1916). Vgl. Karl Brandi, Nachruf auf Arnold Oskar Meyer, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Übergangsband für die Jahre 1944–1960, Göttingen 1962, S. 131–133, hier S. 131. Arnold Oskar Meyer, Bismarcks Orientpolitik. Festrede gehalten bei der Reichsgründungsfeier der Georg-AugustUniversität zu Göttingen am 18. Januar 1925, Göttingen 1925. Brandi, Nachruf auf Arnold Oskar Meyer (wie Anm. 17), S. 132 f.

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preußischen Ministerpräsidenten und ersten deutschen Reichskanzlers erstmals genau erforscht und vom Gestrüpp späterer borussischer Legendenbildung befreit zu haben. Indem der Historiker „auch die Gegenseite zu Wort kommen ließ und sowohl das spröde Material der Bundestagsprotokolle durcharbeitete wie im Wiener Archiv als erster die Berichte der österreichischen Präsidialgesandten studierte“, hat sich Meyer im rückschauenden Urteil Fritz Hartungs „ein großes wissenschaftliches Verdienst erworben“ – nicht zuletzt deshalb, weil in seinem Buch „der Grundsatz: audiatur et altera pars zu seinem Recht kommt“ und „wir die österreichische Politik und ihre Vertreter in Frankfurt nicht allein durch die Brille Bismarcks sehen, ihren Motiven und Zielen besser gerecht werden können“20. Jenes Buch, noch heute das Standardwerk zum Thema, begründete mit einem Schlag Meyers Ruf als führender Bismarckforscher seiner Generation, und das Thema hat ihn tatsächlich bis zu seinem Lebensende nicht mehr losgelassen. Der Erfolg dieses neuen Buches, aber wohl auch seine Fähigkeiten als Vortrags- und Festredner, mögen mit dazu beigetragen haben, dass Meyer im April 1929 als Nachfolger Hermann Onckens an die Universität München berufen wurde. Wenn man der späteren Erinnerung Brandis trauen darf, dann verlockten Meyer zur Annahme dieses ehrenvollen Rufes nicht nur der Rang und das Ansehen dieser führenden süddeutschen Hochschule, sondern mehr noch „das gesellschaftliche Leben großen Stils; er bezog eine prächtige Wohnung, hatte viel politischen und literarischen Verkehr, wurde Vizepräsident der Deutschen Akademie und erwarb sich Verdienste um ihre Organisation“21, etwa als Leiter ihrer Wissenschaftlichen Abteilung. Daneben gab es weitere Ehrungen: Seit 1923 gehörte Meyer der Göttinger, ab 1929 auch der Münchner Akademie der Wissenschaften an; schon 1928 war er Mitglied der angesehenen Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften geworden. Auch pegte er in diesen Jahren politische Kontakte bis in die höchste Ebene; so traf er 1932 mit dem damaligen Reichskanzler Franz von Papen zusammen22. Als gesuchter Vortragsredner sprach der soeben erst nach München berufene Historiker im Jahr 1930 gleich zwei Mal vor seiner neuen Universität, über Bismarcks Friedenspolitik und über das „Friedensdiktat“ von Versailles. Und weitere Aufgaben kamen auf ihn, dessen Arbeitskraft unerschöpich schien, bald hinzu: Nach dem plötzlichen Tod seines früheren Kieler, jetzt Erlanger Kollegen Otto Brandt übernahm Meyer 1935 auch noch die Herausgabe des neuen großen, im Potsdamer Athenaion Verlag erscheinenden „Handbuchs der Deutschen Geschichte“, das er „im Auftrag der Deutschen Akademie“ in München herausgab. Bis 1944 erschienen drei Bände und eine Reihe von Einzellieferungen, an denen u. a. Rudolf Stadelmann und Kurt von Raumer beteiligt waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg

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22 21

Alle Zitate: Hartung, Arnold Oskar Meyer † (Anm. 1), S. XIII. Brandi, Nachruf auf Arnold Oskar Meyer (wie Anm. 17), S. 133. Vgl. Meyers Brief an Oswald Spengler vom 29. 11. 1932, in: Oswald Spengler, Briefe 1913–1936, hrsg. v. Anton M. Koktanek, München 1963, S. 673.

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wurde das Werk allerdings unter der Leitung des neuen Editors Leo Just von Grund auf neu erarbeitet; von Meyer blieb nach 1945 nur der Name des von „Brandt-Meyer-Just“ begründeten und herausgegebenen Handbuchs auf dem Titelblatt bestehen. In Meyers Münchner Zeit gehört allerdings auch seine Bekanntschaft mit Oswald Spengler, der in der direkt an der Isar gelegenen Widenmayerstraße sein Hausgenosse gewesen ist. Der Universitätsprofessor fand tatsächlich einen persönlichen Zugang zu dem verschlossenen, allen gesellschaftlichen Verpichtungen abgeneigten und – besonders nach 1933 – sehr zurückgezogen lebenden und arbeitenden Geschichtsphilosophen, dessen zuerst 1918 erschienenes Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ ein zentrales, wenngleich natürlich ebenfalls äußerst umstrittenes Dokument der Zeit- und Geschichtsdeutung in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gewesen ist und auch später kaum etwas von seiner Faszination eingebüßt hat. Meyer hatte zwar den „Untergang des Abendlandes“ nach eigener Aussage „zugleich mit Bewunderung und mit Widerspruch aufgenommen“, und er hat in seinen Gesprächen mit dem Denker auch nie verhehlt, dass Spengler nach seiner Überzeugung „über die Grenzen des Erforschbaren hinausstrebe“, doch Meyer verdankte dem Philosophen eine immense Erweiterung der eigenen historischen Perspektive, und er hat Spengler gegenüber immerhin zugegeben, „daß das früher unbekannte Mittel der formvergleichenden Betrachtung, das in anderen Wissenschaften zu einem Erkenntnismittel von unermeßlicher Bedeutung geworden ist, auch für die Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht werden könne“23.

III. Ebenso wie Oswald Spengler hielt auch der nationalkonservativ eingestellte Arnold Oskar Meyer auf Distanz zum Nationalsozialismus; schon sein 1930 erfolgter Übertritt von der DNVP zu den Volkskonservativen zeigt, dass er damals nicht bereit gewesen ist, den vom deutschnationalen Parteiführer Hugenberg verfolgten scharfen Rechtskurs seiner Partei mitzutragen. Und soweit bekannt, hat Meyer nach 1933 lediglich ein einziges Mal, in einem 1934 publizierten Artikel mit dem Titel „Aus der Geschichte des deutschen Nationalgefühls“, dem neuen Regime einige Lippendienste geleistet und seine Ausführungen am Schluss sogar mit einem Hitler-Zitat garniert – freilich nicht ohne einen durchaus mehrdeutig zu verstehenden Hinweis darauf anzufügen, „daß das neue Nationalgefühl, das heute die Massen ergriffen hat, noch jung ist und die Probe des Ernstes, die Probe nach außen hin, noch zu bestehen hat!“24. Wie die meisten anderen deutschen Historiker dürfte auch Meyer damals über die Art und Weise empört gewesen sein, mit welcher der nationalsozialistische Historiker Walter Frank den an der Berliner Universität lehrenden Hermann Oncken mittels 23



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So Meyer in seinem Beitrag zu: Oswald Spengler zum Gedenken, hrsg. v. Paul Reusch (als Manuskript gedruckt) o. O. o. J. [München 1937], S. 99–111; die Zitate S. 100–102. Hier zitiert nach dem Neuabdruck in: Meyer, Deutsche und Engländer (Anm. 13), S. 69.

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eines denunziatorischen Artikels im „Völkischen Beobachter“ im Jahr 1935 von seinem Lehrstuhl verjagte25. Die Angelegenheit erregte inner- und auch außerhalb Deutschlands großes Aufsehen, aber sie musste zugleich auch als eine unmissverständliche Warnung an die deutschen Historiker der mittleren und älteren Generation verstanden werden, sofern sie sich nicht offen und unzweideutig (etwa durch Beitritt zur NSDAP) zum Nationalsozialismus bekannt hatten. Die Wiederbesetzung des besonders angesehenen, einst von Leopold Ranke besetzten Lehrstuhls an der Hauptstadtuniversität stellte natürlich ein Politikum ersten Ranges dar. Die Berufungskommission, zu der neben den Historikern Fritz Hartung, Robert Holtzmann, Willy Hoppe, Wolfgang Windelband, Walter Elze, Wilhelm Weber und Fritz Rörig auch der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder und der Philosoph Alfred Baeumler, ein fanatischer Nationalsozialist, gehörten, stellte nach langer und kontroverser Debatte beim Ministerium den Antrag, dass „ein Gelehrter berufen werde, der durch seine wissenschaftlichen Leistungen einen geachteten Namen hat und zugleich als Lehrer den Anforderungen der neuen Zeit vollauf gewachsen ist“. An erster und zweiter Stelle wurden Heinrich Ritter von Srbik/Wien und Karl Alexander von Müller/München gewünscht, vor allem der letztere als Parteimitglied seit 1933 dem Regime nahestehend. An dritter Stelle endlich nannte man – nach ausdrücklicher Erwähnung des „leider … unerreichbaren Walter Frank“ – „in einigem Abstand“, wie es hieß, Arnold Oskar Meyer: „Zwar steht er an Frische und Lebendigkeit mit dem Genannten nicht ganz in einer Linie, aber er zeichnet sich durch die Gediegenheit seiner Arbeiten und durch die Gewissenhaftigkeit seiner Lehrtätigkeit aus. Diese Vorzüge verdienen volle Anerkennung. Durch sein Arbeitsgebiet, das sich teils auf die englische Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, teils auf das Zeitalter Bismarcks erstreckt, würde er sich gut in den Rahmen unserer Lehrbedürfnisse einfügen“26. Der lediglich an dritter Stelle Platzierte kam nun tatsächlich zum Zug, nachdem Heinrich von Srbik und Karl Alexander von Müller den ehrenwerten Ruf auf den Berliner RankeLehrstuhl abgelehnt hatten. Schon mit dem Beginn des Sommersemesters 1936 trat Meyer sein neues Amt an27; er hatte, wie es scheint, mit dem Ministerium gut verhandelt, und er erhielt die offizielle Zusicherung, dass er „nicht verpichtet“ sei, „das Gebiet des Grenzund Auslandsdeutschtums und der deutschen Geschichte nach 1890 in Vorlesungen und Übungen zu vertreten“; außerdem sollte er alle vier Semester ein Forschungsfreisemester

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Umfassend hierzu: Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 200–241. Alle Zitate aus dem Antrag der Philosophischen Fakultät an den Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 22. 10. 1935, in: Archiv der Humboldt Universität, Berlin: UK O 032, Bd. 2, Bl. 5–7. Vgl. zu Meyers Berliner Zeit auch Wolfgang Hardtwig, Neuzeit-Geschichtswissenschaften 1918–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 413–434, hier S. 425–428.

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wahrnehmen dürfen28. In der Reichshauptstadt bezog er in der Wilhelmstraße 14 in Lichterfelde-Ost das Erdgeschoss einer einstöckigen Villa mit Garten; auch hier führte der Gelehrte, der viel auf gesellschaftliche Konventionen gab, ein großes Haus wie zuvor bereits in München. Zudem kamen neue dienstliche Aufgabe auf ihn zu: so etwa die Mitgliedschaft im „Sachverständigenbeirat“ von Walter Franks „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“, der er sich wohl nicht zu entziehen vermochte, sowie, hiermit verbunden, die Übernahme der Leitung der in den 1920er Jahren begonnenen großen Aktenpublikation „Die auswärtige Politik Preußens 1858–1871“29. Vielleicht mag man es neben anderem auch als Ausdruck einer langsam zunehmenden Distanz zum NS-Regime ansehen, dass der Großbürger Arnold Oskar Meyer zwei Jahre nach der Übernahme des neuen Lehrstuhls an der Friedrich-Wilhelms-Universität ausgerechnet einen Berliner Arbeitersohn zu seinem neuen persönlichen Assistenten machte – noch dazu einen aus sozialdemokratischer Familie und mit kommunistischen Neigungen (die Meyer aber verborgen geblieben sein dürften): Heinrich Scheel, der nach dem Krieg zu einem der führenden Historiker der DDR avancieren sollte. Scheel hat sich noch viele Jahre später mit kritischer Sympathie an seinen akademischen Lehrer aus der Vorkriegszeit erinnert: Meyer sei zwar „erzkonservativ“ eingestellt und „ganz im kaiserlichen Deutschland“ verwurzelt, gleichzeitig aber von einer seltenen „wissenschaftliche[n] Redlichkeit“ beseelt gewesen. Seine unzweideutige „Zentrierung auf Bismarck“ habe „einen unter den gegebenen Umständen unzweideutigen Vorzug“ gehabt, nämlich „daß – an Bismarck gemessen – ein Mann wie Hitler, auch wenn er todgefährlich war, in seinen Augen zu einem Zwerg zusammenschrumpfte. Ich habe Meyer“, so Scheel später, „nie mit ausgerecktem oder auch nur erhobenem rechten Arm erlebt. Er demonstrierte professorale Würde, verbeugte sich leicht vor seiner Hörerschaft und wünschte mit einem verbindlichen leisen ‚Heil Hitler!‘ zugleich einen guten Tag. Außer dieser vorgeschriebenen Begrüßung gab es in seinen Vorlesungen keine Bezüge auf die Gegenwart, geschweige denn Elogen auf den Führer“30, wie bei so manchem anderen seiner damaligen Berliner Kollegen. Tatsächlich lässt sich Scheels Bericht über die politische Haltung Meyers in dessen Berliner Zeit anhand anderer Quellen bestätigen. Denn wie alle Professoren und Dozenten der Friedrich-Wilhelms-Universität unterlag auch er der Überwachung durch den Nationalsozialistischen Dozentenbund, in dessen Akten sich ein aufschlussreiches Gutachten über den Historiker aus dem Sommer 1939 befindet: Meyer habe, heißt es darin, zwar zeitweilig der DNVP angehört, er habe „in den Jahren der Weimarer Republik bewußt im nationalen Lager“ gestanden und aus diesem Grund seinerzeit auch „als einer der wenigen Historiker“ gegolten, „die dem Nationalsozialismus sympathisch gegenüberstanden“. Doch: „In der

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Archiv der Humboldt Universität, Berlin: M 170, Bd. I, Bl. 83v (Berufungsvereinbarungen, 26. 3. 1936). Vgl. Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut (Anm. 25), S. 493 f. Die Zitate aus: Heinrich Scheel, Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts. Mein Weg in den Widerstand, Berlin 1993, S. 185.

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Folge­zeit entfernte er sich zunehmend von einer vorbehaltlosen Anerkennung der Bewegung und geriet gelegentlich in die Rolle eines politischen Besserwissers. Sein stark professorales Gehabe mochte hierzu ebenso beitragen wie eine ausgeprägte protestantische Gläubigkeit. Diese Tatsache ist nicht ohne Bedeutung, weil M[eyer] bei seinen weitreichenden Beziehungen zu den verschiedensten staatlichen Stellen auch heute noch einen gewissen Einuß besitzt; doch tritt M[eyer] seit seiner Übersiedelung nach Berlin im Rahmen der Universität kaum hervor, sondern zeigte … bei verschiedenen Gelegenheiten … eine eigenwillige Zurückhaltung“. Insgesamt werde man sagen dürfen, „daß M[eyer] zwar für irgendwelche politischen Aufgaben schwerlich selbständig eingesetzt werden kann; doch ist keinesfalls zu befürchten, daß M[eyer] irgendwie aktiv gegen die Forderungen der Bewegung oder des Staats Stellung nehmen wird“31. In einem etwas früher abgefassten Gutachten vom Januar 1938 war bereits festgestellt worden, Meyers Denken sei „im wesentlichen staatlich, nicht völkisch ausgerichtet“ und berühre „sich nur selten mit der nationalsozialistischen Gedankenwelt“32. Arnold Oskar Meyer galt den nationalsozialistischen Wissenschaftspolitikern, wie bereits diese Formulierungen zeigen, als einer jener konservativen Ordinarien aus dem Kaiserreich, die man an den Hochschulen noch gerade eben für einige Zeit dulden konnte – jedenfalls so lange, bis sich ein geeigneter, im nationalsozialistischen Sinne weltanschaulich gefestigter wissenschaftlicher Nachwuchs etabliert hatte. Intern hat Meyer jedenfalls – soweit dies überhaupt möglich war – aus seiner ablehnenden Haltung zum Regime niemals ein Hehl gemacht. Der in dieser Hinsicht gewiss unverdächtige Zeitzeuge Heinrich Scheel hat Meyers „Fassungslosigkeit“ angesichts einer von ihm gehörten Rede Julius Streichers in Nürnberg überliefert: Auch wenn der Historiker „von dem, traditionellen konservativen Antisemitismus nicht ganz frei“ gewesen sei, so habe dennoch „Streichers Judenhetze … seinen Ekel“ erregt, und „die sogenannte ‚Reichskristallnacht‘“ habe Meyer ohne Wenn und Aber „als eine abgrundtiefe Schande“33 empfunden. Dass der Historiker nicht etwa – wie so mancher anderer Ordinarius seiner Generation, darunter z. B. sein früherer Münchner Kollege Karl Alexander von Müller – auf die Täuschungen und Verlockungen des Nationalsozialismus hereinfiel, mag auch etwas mit Charakterfestigkeit zu tun gehabt haben. Sein damaliger Berliner Kollege Wilhelm Schüßler erinnerte sich später daran, dass Meyers „Pichtgefühl vielleicht der ausgeprägteste Zug in seinem Charakter“ gewesen sei. „Und auf dem Wissen um die eisern erfüllte Picht, aber auch um seine Leistungen und seine Leistungsfähigkeit beruhte sein starkes Selbstbewußtsein. … Er war kein Mann der Zugeständnisse, und niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, fünf gerade sein zu lassen. Alle Schwächlichkeit und Unwahrhaftigkeit verurteile er aufs strengste. Ohne Rücksicht sagte er seine Meinung, und oft genug trat er den Menschen mit Schroffheit entgegen, trotz seiner angeborenen Güte. Immer blieb er, trotz allen Wandels 31

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Archiv der Humboldt Universität, Berlin: NS-Dozentenschaft 188, Bl. 6. Ebenda, Bl. 8. Scheel, Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts (Anm. 30), S. 193.

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der Welt umher, ein knorriger Niedersachse, ein ganzer Mann, ein ganzer Charakter, auf den man sich unbedingt verlassen konnte“34. Nur diejenigen, die ihm auch persönlich etwas enger verbunden waren, wussten, dass sich hinter dem vielleicht etwas forcierten Bemühen um straffe Haltung und akademische Würde schweres familiäres Leid verbarg, das Arnold Oskar Meyer vermutlich auf diese Weise nach außen hin zu kompensieren versuchte. Er und seine Frau haben es erleben müssen, dass ihre drei Töchter vor ihnen starben: die 1915 geborene Tochter Hildegard wurde nur sechs Jahre alt, die jüngste Tochter Liselotte, geboren 1921, galt nach damaliger Diktion als „schwachsinnig“ und musste ihr Leben in einer Heil- und Pegeanstalt verbringen; sie starb 1943. Die älteste Tochter Ilse wiederum, 1912 geboren, starb 1941 bei der Geburt ihres ersten Kindes. Als einziger Sprössling blieb also der Sohn Hans-Ulrich (Jahrgang 1919) übrig, der seit 1939 am Krieg teilnahm; gegenüber seinem Assistenten Heinrich Scheel hat der sonst so verschlossene Meyer seine Sorgen um das Überleben auch dieses Kindes nicht verschwiegen35. Der Glaube mag ihm vielleicht über Manches hinweggeholfen haben, denn ihm war nach dem Zeugnis Wilhelm Schüßlers „ein dogmenfreies Christentum die Grundlage seines Lebens. Nur zwei Wahrheiten standen ihm fest: Offenbarung und Erlösung. Aber auch dieser Christ hat immer wieder ringen müssen mit der dunklen und unlösbaren Frage, warum denn Gott das Übel in der Welt zulässt und einzelne Menschen mit einem Leide belastet, das über das Erträgliche fast hinausgeht. So war ihm das Buch Hiob wohl vertraut, und auch die gläubige Demut, mit der sich der zagende und trauernde Mensch dem Willen Gottes zu unterwerfen hat“36.

IV. Den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat Arnold Oskar Meyer, wenn man der Überlieferung trauen kann, nicht mit positiven Erwartungen und schon gar nicht mit politischen Hoffnungen erlebt; die Sorgen – um den einzigen Sohn ebenso wie um die Zukunft Deutschlands – dürften wohl auch bei ihm letztendlich stärker gewesen sein als patriotische Gefühle. Vermutlich nur ein einziges Mal, nach der Niederlage Frankreichs im Sommer 1940, ließ sich auch Meyer, wie es scheint (ebenso wie andere, dem Nationalsozialismus fernstehende Kollegen, etwa der alte Friedrich Meinecke), von den Erfolgen Hitlers für kurze Zeit blenden. Nach Scheels Erinnerung hat ihn Meyer in dieser Zeit einmal „leuchtenden Auges“ gefragt: „‚Was sagen Sie dazu?! Straßburg ist wieder unser!‘“. Sein Assistent allerdings „erinnerte ihn an die in seiner Vorlesung geäußerte Auffassung, daß die Französische Revolution das Elsaß endgültig für Frankreich gewonnen hätte, und fragte ihn, ob er

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Schüßler, Arnold Oskar Meyer (Anm. 1), S. 700; ähnlich auch Hartung, Arnold Oskar Meyer † (Anm. 1), S. XVIII. Vgl. Scheel, Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts (Anm. 30), S. 227. Schüßler, Arnold Oskar Meyer (Anm. 1), S. 698.

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allen Ernstes annehmen könnte, daß England sich mit einer solchen Übermacht abfinden würde. Nein, das könne er nicht annehmen, und England, gestützt auf sein Empire und mit den USA im Rücken, würde sich am Ende als der Stärkere erweisen“37. Seine historisch-politische Bildung, seine Kenntnis der weltpolitischen Kräfteverhältnisse und auch seine besondere Vertrautheit mit der Geschichte der angelsächsischen Völker bewahrten Meyer vor der Selbsttäuschung, denen die meisten seiner deutschen Zeitgenossen unter dem Einuss der massiven Propaganda des NS-Regimes damals unterlagen: nämlich dass Deutschland diesen Krieg überhaupt gewinnen könne. In Meyers Augen war – so wiederum die Erinnerung seines Schülers Scheel – „die am 11. Dezember 1941 verkündete Kriegserklärung an die USA, deren Präsidenten er als den ‚mächtigsten Mann auf diesem Stern‘ bezeichnete, … heller Wahnwitz, denn nur wenn Deutschland Japan sich selbst überließ, hätte den Angelsachsen Kompromißbereitschaft signalisiert werden können“38. Und wenn man anderer Überlieferung trauen darf, dann hat der Historiker sogar „früher als andere … das furchtbare Ende vorausgesagt und den Lenker der deutschen Geschicke als ein Wesen bezeichnet, das die Hölle ausgespien habe“39. Wie um sich vor den traurigen Vorgängen der Außenwelt wenigstens zeitweilig abzuschotten und „trotz quälender Sorgen um seinen Sohn im Felde“ arbeitete Meyer seit Kriegsbeginn intensiv an seinem eigentlichen Hauptwerk, das er seit Jahren vorbereitet hatte: einer großen Bismarck-Biographie. Nach Aussage eines Berliner Kollegen schrieb er an diesem Buch „wie gejagt, wie gefoltert von der Vorstellung, daß es ihm vielleicht nicht mehr beschieden sei, das Werk zu vollenden!“40 In der Tat hatte das Thema Meyer seit seiner Göttinger Zeit, in der sein Werk über Bismarcks Frankfurter Gesandtenjahre entstanden war, nicht wieder losgelassen. Ein besonderes Anliegen war es ihm dabei gewesen, den religiösen, den gläubigen Protestanten Bismarck neu zu entdecken; Meyers erstmalige Auswertung der von Bismarck regelmäßig intensiv studierten und annotierten, jährlich neu aufgelegten Kalender der „Loosungen und Lehrtexte“, herausgegeben von der Herrnhuter Brüder-Gemeine, hatte zur Publikation eines seiner erfolgreichsten Bücher geführt: des kleinen, 1933 erschienenen und anschließend fünf Mal neu aufgelegten Bändchens „Bismarcks Glaube“. Indem er eine Fülle neuer Zeugnisse auswertete, kam Meyer damals zu dem (heute freilich umstrittenen) Resultat, „der Urquell seines [Bismarcks; H.-C.K.] religiösen Lebens“ sei auch im Alter „nicht versiegt, der Glaube an den persönlichen Gott, den er sich erkämpft, weil er ihn brauchte, um an einen Sinn des Lebens und Handelns in dieser Welt zu glauben – der ist ihm geblieben, bis zuletzt“41.

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Scheel, Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts (Anm. 30), S. 229. Ebenda, S. 256. Schüßler, Arnold Oskar Meyer (Anm. 1), S. 701. Ebenda, S. 694. Arnold Oskar Meyer, Bismarcks Glaube. Nach neuen Quellen aus dem Familienarchiv, 4. erg. Au. München 1933, S. 63.

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An dieser Deutung hat Meyer, was nicht verwundert, auch in seiner umfassenden Bismarck-Biographie festgehalten, und hiermit hängt es wohl ebenfalls zusammen, dass er den von ihm in dieser Weise während des Zweiten Weltkrieges gedeuteten und neu dargestellten Staatsmann nach einem Wort seines Berliner Kollegen Schüßler „als den denkbar größten Gegensatz zu Hitler“ empfunden hat – „so daß jedes Wort für den Wissenden von 1943/44 wie eine Mahnung klingt“42. Eigentlich aber war es Meyers Anliegen gewesen, die erste wirklich im strengsten Sinne wissenschaftlich-kritische, ganz aus den Quellen gearbeitete Lebensdarstellung des Reichsgründers von 1871 vorzulegen, nachdem die von Erich Marcks schon vor dem Ersten Weltkrieg begonnene historisch-kritische Bismarck-Biographie ein Torso geblieben war. Tatsächlich ist Meyer mit allergrößter Sorgfalt vorgegangen, er hat – trotz einer fast unübersehbaren Masse bereits gedruckt vorliegender Quellen zur Bismarckzeit – aufschlussreiche neue archivalische Quellenbestände erschließen und heranziehen können: darunter den Briefwechsel Wilhelms I. mit seiner Gemahlin Augusta aus der Konikts- und Reichsgründungszeit, aber auch einige der Forschung bis dahin unzugängliche Materialien aus Privatbesitz, die ihm z. T. durch befreundete Familien zugänglich gemacht wurden, wie etwa die des früheren Reichsministers Walter von Keudell, Sohn eines engen Mitarbeiters von Bismarck43. Als das Werk 1944 in Leipzig und dann noch einmal, nach fast vollständiger Vernichtung der Erstauage, nach dem Krieg 1949 in Stuttgart erschien, wirkte Meyers Werk, in das er seine letzten Kräfte investiert hatte, im Grunde nur noch wie ein Abgesang auf die von ihm beschriebene geschichtliche Epoche Deutschlands. Die Biographie erschien zu einer Zeit, in der für jeden Kundigen der Untergang des alten Deutschland nur noch eine Zeitfrage sein musste. Meyer, noch zu Bismarcks Regierungszeit geboren und im Kaiserreich aufgewachsen, hat den „Eisernen Kanzler“ denn auch, wie die spätere Kritik feststellte, allzu unkritisch gesehen, jedenfalls in Teilen stark harmonisierend gedeutet, einmal abgesehen von dem stilistischen Pathos, das kurz vor Kriegsende und erst recht nach 1945 nur noch anachronistisch wirken konnte und musste. Selbst dort, wo angesichts massiver von Bismarck begangener Fehler, etwa in der Innenpolitik – erwähnt sei nur der Kulturkampf –, Kritik nicht zu vermeiden war, hat der Biograph, bei dem die persönliche Bewunderung für den von ihm dargestellten Staatsmann immer überwog, sich zu sehr zurückgehalten; nur einige sehr milde kritische Bemerkungen vermochte er sich abzuringen44. Freilich darf man in diesem Zusammenhang nicht die Tatsache vergessen, dass es Meyer in seiner zwischen 1939 und 1943 entstandenen Darstellung auch darum ging, in Bismarck die Figur eines im Ganzen verantwortungsvoll handelnden Staatsmannes – und damit das genaue Gegenbild zu Hitler – zu zeichnen.

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Schüßler, Arnold Oskar Meyer (Anm. 1), S. 696. Siehe das Vorwort in: Arnold Oskar Meyer, Bismarck – Der Mensch und der Staatsmann, Stuttgart 1949, S. 6. Vgl. etwa ebenda, S. 461 f., 467, 469, 473 f.

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Doch diejenigen, für die das Buch eigentlich bestimmt war, also die historisch-politisch gebildeten und deshalb urteilsfähigen deutschen Leser, erreichte die Bismarck-Biographie nicht mehr. Das, so Meyer, „nach 4 1/2 Jahren angestrengtester Arbeit … in dem Gefühle, daß es einem Wettlauf mit dem Verhängnis galt“, fertiggestellte Buch verbrannte in seinen ersten Exemplaren am 4. Dezember 1943 während eines großen Luftangriffs auf Leipzig noch beim Buchbinder: „Das Manuskript war 8 Tage vorher in Berlin bei meiner Assistentin, die alles verlor, ebenfalls verbrannt. Für einige Wochen hing das Leben meines Werkes an 1 Korrekturexemplar, das hier mit mir täglicher Vernichtungsgefahr ausgesetzt war. Was ich ausgestanden habe, läßt sich nicht in Worte fassen“, schrieb Meyer an seinen Wiener Kollegen Heinrich von Srbik45. Mayer hatte indessen, was sein Werk anbetraf, Glück im Unglück: Aufgrund des einzigen erhaltenen Exemplars konnte der Druck von neuem beginnen, noch im Dezember 1944 lag das Buch in 10.000 Exemplaren, nun versehen mit einem Nachwort von Wilhelm Schüssler, neu gedruckt vor. Doch es gelangte nicht mehr auf den bereits unter starken Einschränkungen leidenden deutschen Buchmarkt46. Dem Historiker wird wohl bewusst gewesen sein, dass das Kriegsende nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Er selbst wurde im März 1944 in Lichterfelde ausgebombt, und der Brief, mit dem er beim Dekan der Berliner Philosophischen Fakultät um Verlängerung seines Urlaubs bat, spricht für sich: „Der furchtbare Angriff vom 25. März – wie ich höre, der schwerste von allen – hat auch mich um meine Wohnung gebracht. Sie ist durch eine Luftmine so stark zerstört worden, daß sie unbewohnbar geworden ist. Ob Wiederherstellung noch möglich ist, steht dahin. Könnte ich Möbelwagen bekommen, so wären wenigstens die Wohnungseinrichtung und die (bisher nur zum kleinen Teil weggeschaffte) Bibliothek zu retten. – Jedenfalls habe ich jetzt keine Bleibe mehr in Berlin. Ich wüßte nun gern, ob das vor einiger Zeit verbreitete Gerücht, die Universität solle aus Berlin verlegt werden, sich bestätigt hat. Es wäre das einzig Richtige. Ich weiß, daß viele Kollegen schon längst nicht mehr verstehen, warum man die Kulisse von Universität aufrecht hält – doch gewiß nicht wegen der Handvoll Studenten oder wegen der zusammengeschmolznen [sic] Zahl höherer Töchter. Nur eine Verlegung der Universität könnte die Hörerzahl wieder etwas heben. Aber das ist eine Frage, bei der ich nichts zu sagen habe…“47. Um den Bombenangriffen und der trostlosen Berliner Atmosphäre zu entiehen (seine Frau hatte die Hauptstadt ebenfalls bereits verlassen), nahm Meyer im Ende Mai 1944 eine Einladung der befreundeten Familie von Keudell an, um auf deren Gut Hohenlübbichow im Kreis Königsberg/Neumark einige Urlaubstage zu verbringen. Meyer war, wie überliefert ist, immer ein guter Reiter gewesen, doch jetzt wurde ihm ein Ritt zum tödlichen Verhängnis: 45



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Heinrich Ritter von Srbik, Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1912–1945, hrsg. v. Jürgen Kämmerer, Boppard a. Rh. 1988, S. 558 f. (Meyer an Srbik, 21.5.1944). Vgl. Herbert D. Andrews, Arnold Oskar Meyer’s Bismarck and recent German history, in: The Library Quarterly 36 (1966), S. 249–255, hier S. 250. Archiv der Humboldt-Universität/Berlin, M 170, Bd. III, Bl. 42r (Meyer an Dekan Hermann Grapow, 3. 4. 1944); vgl. ebenfalls Srbik, Die wissenschaftliche Korrespondenz (Anm. 45), S. 559.

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Er stürzte in der Nähe des Gutes vom Pferd und verstarb an den Folgen dieses schweren Unfalls kurz darauf in einem Krankenhaus im neumärkischen Königsberg am 3. Juni 1944. Im Kondolenzschreiben des Universitätsrektors an die Witwe vom 24. Juni heißt es: „Auch sein Tod ist uns hehre Verpichtung, für Deutschlands Sieg und unsere geliebte Alma mater bis zum letzten Atemzuge zu arbeiten und zu kämpfen“48 – Formulierungen, die wohl kaum zu kommentiert zu werden brauchen und die wenigstes andeuten, was Meyer durch seinen unerwarteten Tod im Sommer des letzten Kriegsjahres erspart geblieben ist. Den Untergang seiner Welt, den er befürchtete und schließlich auch unausweichlich kommen sah, hat er nicht mehr miterleben müssen. Am 21. Juli 1944 fand im Historischen Seminar der bereits zum großen Teil zerstörten Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden eine Trauerfeier für Arnold Oskar Meyer statt; die Gedenkrede hielt Wilhelm Schüßler. Sein anderer, ebenfalls für die Geschichte der Neuzeit zuständiger Berliner Kollege, Fritz Hartung, der im Jahr 1922 auch sein Lehrstuhlnachfolger an der Universität Kiel gewesen war, veröffentlichte einen ausführlichen Nachruf in der einst von Meyer herausgegebenen „Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte“, in dem es über Meyer heißt: „Er war gewiß nicht leicht zugänglich. Aber er ößte unbedingtes Vertrauen ein, und wem er sich erschloß, der fand in ihm einen warmherzigen Freund. Für seine Studenten war er ein trefflicher Lehrer. Wohl stellte er, durchdrungen von der Würde der Wissenschaft, nicht nur an sich selbst, sondern auch an sie hohe Anforderungen; Leichtfertigkeit und Nachlässigkeit vertrug er nicht. Aber für die, denen es ernst war mit dem Studium, war er ein verständnisvoller und wohlwollender Förderer“49. Für seinen Schüler Heinrich Scheel, der 1942 wegen seiner Kontakte zu einigen Angehörigen der kommunistischen Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ vor dem Reichskriegsgericht stand und dort nur knapp dem Todesurteil entkommen ist, hat er tatsächlich noch mehr getan, indem er dessen Verteidigung mit einer wichtigen Wortmeldung zugunsten des Angeklagten unterstützte50. Nach 1945 wurde es bald still um Meyer und sein Werk. Nur noch einmal, zu Anfang der 1950er Jahre, wurde nach dem nunmehrigen Erscheinen seiner Bismarck-Biographie (1949) über seine Deutung des Reichsgründers intensiv – und zumeist eher ablehnend als zustimmend – unter den deutschen Historikern diskutiert51, nicht zuletzt im Vergleich der Darstellung Meyers mit der zur gleichen Zeit entstandenen, allerdings sehr kritisch urteilenden dreibändigen Bismarck-Biographie des Emigranten Erich Eyck, die ebenfalls noch während des Krieges (1941 bis 1944 in der Schweiz) erschienen war. Da wog es viel, dass der aus Deutschland wegen „nichtarischer Abstammung“ vertriebene, im Jahr 1949 48

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Archiv der Humboldt-Universität/Berlin, M 170, Bd. III, Bl. 24r. Hartung, Arnold Oskar Meyer † (Anm. 1), S. XVIII. Vgl. Scheel, Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts (Anm. 30), S. 347. Die Texte sind heute leicht greifbar in den beiden Sammelbänden von Lothar Gall (Hrsg.): Das BismarckProblem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln – Berlin 1971; Hans Hallmann (Hrsg.): Revision des Bismarckbildes. Die Diskussion der deutschen Fachhistoriker 1945–1955, Darmstadt 1972.

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noch an der Universität Chicago lehrende Emigrant und eminente Bismarck-Kenner Hans Rothfels ein sachliches und zugleich kritisch-freundliches Vorwort zur Neuausgabe beisteuerte52. Für ihn war es selbstverständlich klar, dass Meyers Darstellung den Ansprüchen der Nachkriegszeit und den Notwendigkeiten eines neuen, unverstellten Blicks auf die jüngere deutsche Geschichte seit Bismarck zwar nicht mehr genügen könne, doch Rothfels‘ ausdrückliche Feststellung, „daß diese Bismarck-Biographie sehr wohl vor 1933 hätte geschrieben werden können“53, enthielt neben Tadel doch auch Lob – denn was hätte man über ein im Jahr 1943 in Deutschland fertiggestelltes Buch eines deutschen Historikers Besseres sagen können?

Werke Die englische Diplomatie in Deutschland zur Zeit Eduards VI. und Mariens, Phil. Diss. Breslau 1900; – Studien zur Vorgeschichte der Reformation. Aus schlesischen Quellen (Historische Bibliothek, 14), München 1903. – England und die katholische Kirche vom Regierungsantritt Elisabeths bis zur Gründung der Seminare, Rom 1908. – England und die katholische Kirche unter Elisabeth und den Stuarts. 1. Bd.: England und die katholische Kirche unter Elisabeth (Bibliothek des Kgl. Preussischen Historischen Instituts in Rom, 6), Rom 1911 (Ndr. Turin 1971). – Nuntiaturberichte aus Deutschland nebst ergänzenden Aktenstücken. IV. Abt.: Siebzehntes Jahrhundert. Die Prager Nuntiatur des Giovanni Stefano Ferreri und die Wiener Nuntiatur des Giacomo Serra (1603–1606), bearb. v. Arnold Oskar Meyer, Berlin 1913. – Worin liegt Englands Schuld (Der Deutsche Krieg, 18), Stuttgart 1914. – Deutsche Freiheit und englischer Parlamentarismus, München 1915 (stark erweit. Au. ebenda 1916). – Kaiserin Auguste Victoria. Gedächtnisworte gesprochen bei der Trauerfeier der Deutschnationalen Volkspartei in Burg Fehmarn am 19. April 1921, Leipzig 1921. – Fürst Metternich (Einzelschriften zur Politik und Geschichte, 5), Berlin 1924. – Bismarck (Velhagen & Klasings Volksbücher, 15), Bielefeld 1925. – Bismarcks Orientpolitik. Festrede gehalten bei der Reichsgründungsfeier der Georg-August-Universität zu Göttingen am 18. Januar 1925, Göttingen 1925. – Bismarcks Kampf mit Österreich am Bundestag zu Frankfurt (1851 bis 1859), Berlin/Leipzig 1927. – Das Erwachen des Nationalbewußtseins in Schleswig-Holstein. Festvortrag gehalten bei der Deutschen Feier zur Erinnerung an den Abstimmungstag des Jahres 1920 in Flensburg am 14. März 1928, Kiel 1928. – Bismarcks Friedenspolitik. Rede gehalten bei der Reichsgründungsfeier der Universität München am 18. Januar 1930 (Münchener Universitätsreden, 19), München 1930. – Versailles. Gedenkrede anlässlich des Jahrestages der Unterzeichnung des

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Das Vorwort von Rothfels klebte man nachträglich in die schon Ende 1944 gedruckte Auage ein, während das Nachwort von Schüssler entfernt worden war; vgl. Andrews, Arnold Oskar Meyer’s Bismarck (Anm. 46), S. 250. Meyer, Bismarck – Der Mensch und der Staatsmann (Anm. 43), S. 5 (Rothfels: Zum Geleit).

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Versailler Friedensdiktates (Münchener Universitätsreden, 21), München 1930. – Bismarcks Glaube im Spiegel der „Loosungen und Lehrtexte“, München 1933 (Münchener Historische Abhandlungen, R. 1, 1), München 1933 (2. bis 4. Au.: Bismarcks Glaube. Nach neuen Quellen aus dem Familienarchiv, jeweils München 1933). – Deutsche und Engländer. Wesen und Werden in großer Geschichte, München 1937. – Bismarck. Der Mensch und der Staatsmann, Leipzig 1944 / Stuttgart 1949. – England and the Catholic Church under Queen Elizabeth. Translated by J. R. McKee. Introduction to the 1967 edition by John Bossy, London 1967.

Literatur Herbert D. Andrews, Arnold Oskar Meyer’s Bismarck and recent German history, in: The Library Quarterly 36 (1966), S. 249–255. – Joachim Bahlcke, Meyer, Arnold Oskar, Historiker, in: Ostdeutsche Gedenktage 1994, Bonn 1993, S. 69–73. – John Bossy, Introduction to the 1967 edition, in: Arnold Oskar Meyer, England and the Catholic Church under Queen Elizabeth. Translated by J. R. McKee, London 1967, S. xxiii–xxxiv. – Karl Brandi, Nachruf auf Arnold Oskar Meyer, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Übergangsband für die Jahre 1944–1960, Göttingen 1962, S. 131–133. – Walter Goetz, Arnold Oskar Meyer, in: derselbe, Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze, Köln / Graz 1957, S. 379–381. – Helga Grebing, Zwischen Kaiserreich und Diktatur. Göttinger Historiker und ihr Beitrag zur Interpretation von Geschichte und Gesellschaft (M. Lehmann, A. O. Meyer, W. Mommsen, S. A. Kaehler), in: Hartmut Boockmann / Hermann Wellenreuther (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen (Göttinger Universitätsschriften, R. A, 2), Göttingen 1987, S. 204–238. – Wolfgang Hardtwig, Neuzeit-Geschichtswissenschaften 1918–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 413–434. – Fritz Hartung, Arnold Oskar Meyer †, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 72 (1944), S. XI–XVIII. – Dieter Hertz-Eichenrode, Die „Neuere Geschichte“ an der Berliner Universität. Historiker und Geschichtsschreibung im 19./20. Jahrhundert, in: Reimer Hansen / Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 82), Berlin / New York 1992, S. 261–322. – Wilhelm Schüßler, Arnold Oskar Meyer (20. 10. 1877 – 3. 6. 1944). Ein Historiker des Bismarckschen Deutschlands, in: Hans Leussink / Eduard Neumann / Georg Kotowski (Hrsg.): Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (Gedenkschrift der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin), Berlin 1960, S. 690–701.

Wilhelm Pinder Von Helmut Börsch-Supan I. Die ersten Sätze von Wilhelm Pinders unvollendetem Hauptwerk „Vom Wesen und Werden deutscher Formen. Geschichtliche Betrachtungen“, dessen erster Band 1935 erschien, lauten: „Gute Zukunft ist nur möglich auf Grund guter Herkunft  dies ist das eigentliche Bekenntnis dieses Buches. Es ist auch seine wirkliche Begründung. Dieses Buch will nicht noch einmal berichten und erzählen, es will betrachten und deuten, und zwar auf Grund einer neuen geschichtlichen Tatsache: die deutsche Geschichte, auch jene der Kunst, wird zur Zeit umgeschrieben. Das ist unvermeidlich und nur zu wünschen. Was aber not tut, ist, daß nicht etwa Gutes, ja Unersetzliches zertrümmert werde, daß vielmehr in uns diejenigen Gefühle gesichert werden, die unser Leben stärken, anstatt zu mindern. Diesem Buche geht es um das geschichtliche Selbstbewußtsein der Deutschen, darum, daß ihre Geschichte nicht zu bereuen, sondern zu bejahen ist“1. Schon zehn Jahre, nachdem diese Sätze niedergeschrieben worden waren, hatten sie ihre Gültigkeit restlos verloren. Der Autor, der als Inhaber des Lehrstuhles für Kunstgeschichte an der Berliner Universität, des angesehensten in Deutschland, über einen großen Einuß verfügte, einen immensen Wissensschatz besaß und dank einer geradezu dichterischen Wortgewalt die subtilsten Einsichten in Kunstwerke vermitteln konnte, hat weder die Vergangenheit, noch seine Gegenwart und erst recht nicht die Zukunft richtig beurteilt. Die Wissenschaft der Kunstgeschichte hat sich weit von seinem Standort entfernt, tritt jedoch heute kaum weniger selbstsicher auf. Da Pinder schon zwei Jahre nach Kriegsende an den Folgen einer Inhaftierung auf Grund einer Namensverwechselung, wie es heißt, starb, hatte er keine Gelegenheit mehr, die allgemeine und die persönliche Katastrophe zu verarbeiten. Es wäre ihm wohl auch bei längerer Lebensdauer kaum möglich gewesen. Sein Nachfolger als Ordinarius, der anders denkende Richard Hamann, endete einen noblen, Leistung und Begabung würdigenden Nachruf auf Pinder mit dem Satz: „… und wie die meisten erkannte er erst spät, welch verhängnisvoller Irrtum dieser Glaube an seine Zeit

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Wilhelm Pinder, Vom Wesen und Werden deutscher Formen. Bd. 1: Die Kunst der deutschen Kaiserzeit, Leipzig 1935, S. 6.

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Wilhelm Pinder *25. Juni 1878 in Kassel, † 13. Mai 1947 in Berlin

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war, für welche schlechte Sache er gefochten hatte“2, und Pinder selbst schrieb kurz vor seinem Tod, als er sich noch einmal in einem Büchlein „Von den Künsten und der Kunst“, in dem man eine Stellungnahme zu dem vollständigen moralischen Zusammenbruch vergeblich sucht, äußerte, am Schluß des Vorwortes lediglich: „Irrtümer sind immer unvermeidlich. Möge man den guten Willen sehen“3. Obwohl er uns fern steht, verdient er als einußreiche Persönlichkeit der Zeitgeschichte eine gerechte Beurteilung, eine Würdigung seiner Leistung und eine Erklärung seines Versagens aus den historischen und individuellen Bedingungen. Daß jemand, der in Kunstwerken die Nuancen ihrer Botschaften klar zu erkennen und in Worten zu übermitteln vermochte, politisch blind war, hat für jeden, der in diesem Fach tätig ist, etwas zutiefst Verstörendes. Indessen war Pinder nicht völlig blind, denn in seiner eingangs zitierten Äußerung ist eine Warnung vor zerstörenden Kräften, wie sie jeder radikale Umschwung mit sich bringt, enthalten. Für eine Beurteilung Pinders sind wir vor allem auf seine veröffentlichten Schriften angewiesen, daneben auch auf die belegten Fakten seines Lebens, bei denen die zwölf Jahre des Dritten Reiches, die Spanne also zwischen dem 55. und dem 68. Lebensjahr weit mehr Interesse hervorgerufen haben als die Zeit davor. Zeugnisse über ihn als Mensch und darüber, wie er eigentlich dachte, sind eher selten. Um etwas davon zu erfahren muß man bei seinen Schriften, vor allem bei denen nach 1933, als offene Worte gefährlich sein konnten, zwischen den Zeilen lesen. Eine eigentliche Biographie fehlt. Bezeichnend ist, daß es eine Holländerin war, Marlite Halbertsma, die 1985 zuerst ein um Objektivität bemühtes Buch über Pinders Wirken als Kunsthistoriker vorgelegt hat4. Die Verdrängung des Phänomens Pinder durch die deutsche Kunstgeschichte nach 1945 hat im Jahr darauf Robert Suckale kritisiert und sich um ein gerechtes Urteil bemüht5. Kaum etwas ist darüber bekannt, welche Erfahrungen Pinder als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg gemacht und wie er die militärische Niederlage und die Revolution von 1918 mit den daraus folgenden erbitterten Parteikämpfen beurteilt und verarbeitet hat. Aber eine starke Sehnsucht nach Einheitlichkeit des Denkens im Volk ist daraus erwachsen. Daß ihn das Grauen des Krieges im Innersten erschüttert hat, ist eher zu bezweifeln. Pazifismus jedenfalls und die christliche Grundhaltung eines Anerkennens eigener Schuld, waren ihm, der die Deutschen lehren wollte „nicht zu bereuen, sondern zu bejahen“, fremd. Pinder hat sich, wie der von ihm verehrte Georg Dehio, den er als seinen eigentlichen Lehrer ansah, weit überwiegend mit der deutschen Kunst beschäftigt, nicht nur, weil er, durchaus einer breiten Zeitströmung folgend, stark nationalistisch fühlte, sondern auch 2



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Richard Hamann, Nachruf auf Wilhelm Pinder, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1946/49, S. 216. Wilhelm Pinder, Von den Künsten und der Kunst, München 1948, S. 11. Marlite Halbertsma, Wilhelm Pinder en de Duitse Kunstgeschiedenis, Groningen 1985. Robert Suckale, Wilhelm Pinder und die deutsche Kunstwissenschaft nach 1945, in: Kritische Berichte 4 (1986), S. 5 ff.

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weil hier für die deutsche Kunstwissenschaft weite Forschungsfelder brach lagen und die Erhaltung der Denkmäler deren Bewertung erforderte6. In diesem Sinne hatte Dehio 1905 bis 1912 sein bis heute nützliches und ständig erweitertes fünfbändiges „Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler“ herausgebracht – die Grundlage für eine 1919 bis 1926 erschienene dreibändige „Geschichte der Deutschen Kunst“ –, waren 1906 die gewaltige „Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775–1875“ als Antwort auf eine ähnliche Übersicht in Frankreich sowie 1914 eine Fortsetzung „Deutsches Barock und Rokoko“ gezeigt worden, und hatte sich unter Wilhelm von Bode ein „Deutscher Verein für Kunstwissenschaft“ für die Herausgabe von Monographien zur deutschen Kunst zusammengefunden. Daß jede Nation in erster Linie die eigene Kunst erforscht, war in Italien, Frankreich, Holland oder England selbstverständlich. Ein internationaler Horizont dagegen war für die seit dem 19. Jahrhundert in Europa führende deutsche Kunstgeschichte kennzeichnend. Ihre Besinnung auf die Leistungen im eigenen Land erfolgte relativ spät und zeitlich parallel zum Aufbruch der modernen Kunst, die damals allerdings kaum Gegenstand der Kunstgeschichte war. Dehio, der Balte, der 1918 seinen Straßburger Lehrstuhl auf schmähliche Weise hatte räumen müssen, hatte bereits in seiner Kunstgeschichte, deren „eigentlicher Held das deutsche Volk“ sein sollte, in gefährlicher Weise den Unterschied von objektiver Wissenschaft und subjektiver Bildung als feindliches Gegensatzpaar konstruiert7. Auf diesem Weg schritt Pinder weiter, wenn er auf Grund einer „neuen geschichtlichen Tatsache“, also der Machtergreifung Hitlers, nicht auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnisse, die schmerzhaft sein können, die deutsche Geschichte umschreiben wollte. Sein Verzicht auf ein allein der Wahrheit verpichtetes Denken führte in einer Rede vom 7. Oktober 1933 zu dem Bekenntnis: „Wir wollen uns den neuen Stil verdienen, indem wir Menschen werden, die unser großer Führer aus uns machen will“8. Der „neue Stil“ kann aber, wie es an anderer Stelle heißt, nicht vor der neuen Gemeinschaft kommen, die Pinder sich, ähnlich wie im Mittelalter, als etwas Homogenes vorstellte: „Der Glaube macht den Stil. Stil ist Glaube und Gemeinschaft und gemeinschaftlicher Glaube“9. Die Kunst in ihren vorzüglichsten Werken – und mit ihr eine sie verherrlichende Kunstwissenschaft – erhielt dadurch eine religiöse Qualität, und diese verlangte vom Betrachter den Glauben. In seinem Buch über den Bildhauer Georg Kolbe von 1937, in dem Pinder diesen maßlos überschätzte und als einen Michelangelo der neuen Zeit ansah, ist diese Ansicht ausgesprochen, wohl auch in der Hoffnung, damit etwas für die seit 1937 offiziell verfemte moderne Kunst zu bewirken. Pinder traute der Kunst die Funktion eines Religionsersatzes zu und rückte damit selber in die Rolle eines Oberpriesters. So konnte er z.B. 6



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Wilhelm Pinder, Georg Dehio zu seinem 70. Geburtstag, in: derselbe, Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1907–1935, Leipzig 1938, S. 50 ff. Peter Betthausen, Georg Dehio. Ein deutscher Kunsthistoriker, München/Berlin 2004. Wilhelm Pinder, Reden aus der Zeit, Leipzig 1934, S. 93. Ebenda, S. 51.

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bei der Beschreibung von Stephan Lochners „Madonna mit dem Veilchen“, der Perle des Kölner Diözesanmuseums, schreiben: „… der Nichtsahnende wird nicht einen Augenblick theologisch berührt und nimmt den künstlerischen Gehalt rein und mühelos in sich auf – dieser selbst ist heilig!“10 Sein berühmtes Kölner Dombild möchte er gern an einem anderen Ort als dem angestammten bewundern können. Mit dem Sieg der Aufklärung war in seinen Augen die „gemeindebildende Kraft des Christentums“ nicht nur geschwächt, sondern erloschen11. Der Katholizismus war ihm fremd, und „protestantisch“ war für ihn kämpferischer Geist schon im 15. Jahrhundert. Der Buchtitel „Vom Wesen und Werden deutscher Formen“ – der Stabreim dürfte mit Bedacht gewählt sein  behauptet, daß es spezifisch deutsche, von Ausdrucksweisen anderer Nationen verschiedene Formen gibt, in denen die entscheidenden Aussagen enthalten sind, daß in ihnen eine unveränderliche Substanz in Erscheinung tritt, daß diese aber gewachsen, nicht gemacht ist. In dem Buch über Georg Kolbe heißt es: „Kunst ist ein Naturvorgang höherer Ordnung ... sie geschieht, und nicht nur wie Natur, sondern als Natur“12. In einem Gedanken von 1943 hat Pinder sogar eine Konvergenz zwischen der theoretischen Physik, der „vielleicht vornehmsten und edelsten und uns allen unerreichbarsten Wissenschaft“, wie sie bei Werner Heisenberg bis zur Forderung eines persönlichen Gottes führe, und den – im Sinne Pinders – betriebenen Geisteswissenschaften gesehen13. Geschichte und Theologie vermischte dieser, indem er deutsches Wesen mit dem Adjektiv „ewig“ bedachte. Daß jede Nation eine Eigenart besitzt, ist nicht zu bestreiten, Daß man dieses Eigene, weil man es besser versteht als das Fremde, mehr liebt als dieses, ist natürlich und hilfreich für die Verantwortung, die man für das Eigene trägt, aber der hohe Wert eines friedlichen Zusammenlebens der Nationen als Voraussetzung gegenseitiger kultureller Befruchtung war der durch Kriege geprägten Zeit Pinders nicht in dem Maße bewußt wie uns. Daß Geschichte auf Grund einer politischen Entwicklung, nicht etwa auf Grund einer neuen Erkenntnis, umgeschrieben werden soll, ist für einen der Wahrheitssuche verpichteten Wissenschaftler eine unmögliche Haltung, die auch nicht damit zu rechtfertigen ist, daß lediglich „geschichtliche Betrachtungen“ angestellt werden. Zwar verlangen die Kunstwerke genaue Betrachtung, aber die Erkenntnis der historischen Zusammenhänge, in denen sie stehen, ist damit nicht zu leisten. Und daß der Vorgang verstehenden, nicht nur physischen Sehens von der Zeitgenossenschaft abhängt, lehrt die Geschichte der Kunstgeschichte.

II. Der Satz „Gute Zukunft ist nur möglich auf Grund guter Herkunft“ hat auch eine private Dimension, die nur demjenigen deutlich wird, der die Vorfahren Pinders kennt. Verallge10

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Wilhelm Pinder, Vom Wesen und Werden deutscher Formen. Bd. 2: Die Kunst der ersten Bürgerzeit, Leipzig 1937, S. 252. Pinder, Vom Wesen und Werden deutscher Formen (Anm. 1), S. 87. Wilhelm Pinder, Georg Kolbe. Werke der letzten Jahre, Berlin 1937, S. 5. Wilhelm Pinder spricht über Kunstgeschichte, Göttingen 1957, S. 8.

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meinert wäre der Satz dann allerdings fragwürdig. Der Vater des am 25. Juni 1878 in Kassel geborenen Wilhelm Pinder, Dr. Eduard Pinder, war Direktor des dortigen Museum Fridericianum14. Dieses 1769–1779 errichtete Gebäude enthielt eine der größten Sammlungen chronologisch geordneter Gipsabgüsse nach der Antike, reiche Sammlungen originaler antiker Statuen, Bronzen, Münzen, Gemmen, kunstgewerblicher Gegenstände des Mittelalters und der neueren Zeit, dazu ethnographische Objekte und Naturalien. In einem großen Saal des Museums war die Landesbibliothek u.a. mit wertvollen Handschriften, darunter einem Fragment des Hildebrandsliedes, untergebracht. Die bedeutende Kasseler Gemäldegalerie, die Oskar Eisenmann unterstand, hat der junge Wilhelm Pinder sicher besucht. Den Vater verlor er im Alter von zwölf Jahren. Er war das einzige Kind aus dessen zweiter, 1877 mit Lisbeth Kunze geschlossener Ehe. Der Ururgroßvater war der zu seiner Zeit hoch angesehene Porträtmaler Friedrich (Johann Friedrich August) Tischbein (1750–1812), zuletzt Akademiedirektor in Leipzig, der einer der bedeutendsten Mitglieder dieser mehr als zwanzig Künstlerpersönlichkeiten umfassenden Malerdynastie war. Sie begründete mit Johann Heinrich Tischbein d.Ä. (1722–1789), einem Onkel von Friedrich, die Geltung der Kasseler Malerschule seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Vetter Friedrichs Wilhelm Tischbein (1751–1829), der „Goethe-Tischbein“, dem Wilhelm Pinder möglicherweise seinen Vornamen verdankt, war dem Zentralgestirn der deutschen Klassik verbunden, das für Pinder später die Leitfigur in neuerer Zeit bedeutete. Eine Nachkommin von Friedrich Tischbein war auch Wilhelms Mutter. Die Urgroßmutter Caroline Tischbein (1783–1840), die den Heidelberger Historiker und Orientalisten Friedrich Wilken (1777–1840) heiratete, war ebenfalls Malerin, wie auch die Urgroßmutter Betty Tischbein, verehelichte Kunze (1787–1867), die Schwester Carolines. Die Großmutter Sophie Wilken (1807–1871) vermählte sich mit dem Geheimen Oberregierungsrat im Preußischen Kultusministerium Moritz Pinder (1807–1871). Der Enkel konnte sich einem Geistesadel zugehörig fühlen und so ein starkes Selbstbewußtsein entwickeln. Ungeachtet seiner künstlerisch tätigen Vorfahren studierte Pinder nach dem Besuch des Friedrichsgymnasiums in Kassel zunächst 1896/97 in Göttingen Jura und wechselte dann zur Archäologie, der er sich 1897–1899 in Berlin und München widmete, den damals wichtigsten miteinander konkurrierenden Zentren auch der modernen Malerei. 1900 ging er nach Leipzig, um bei August Schmarsow (1853–1936) kunsthistorische Studien zu betreiben. Dieser, ein Schüler von Anton Springer und Carl Justi, suchte sich von der Kunstgeschichte der Gründerzeit zu befreien, entdeckte in den Formen der Kunst ihre wesentlichsten Aussagen, ließ sich vom Schaffen der eigenen Zeit inspirieren und propagierte eine lebens- und zugleich volksnahe Tätigkeit des Kunsthistorikers. Mit seiner Auffassung von Kunstgeschichte trat er in einen scharfen Gegensatz zur Wiener Schule. Sein Hauptwerk wurden die vier 1920–1922 erschienenen Bände „Kompositionsgesetze des Mittelalters“.

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Adolf Stoll, Der Maler Joh. Friedrich August Tischbein und seine Familie, Stuttgart 1923, S. 212 f.; Magdalena Bushart, Wilhelm Pinder, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, S 448–450.

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Die Prägung durch seinen Lehrer äußerte sich bei Pinder vor allem in seiner Vorliebe für das Mittelalter, in einem hoch entwickelten Sinn für Formen und in einer auf Breitenwirkung im Volk zielenden Kunsterziehung. Er promovierte 1903 bei Schmarsow mit einer Dissertation „Einleitende Voruntersuchung zu einer Rhythmik romanischer Innenräume in der Normandie“, die 1904 als Buch erschien. Mit dem gleichen Thema habilitierte er sich 1905 in Würzburg, wo er als Privatdozent seine Laufbahn als Hochschullehrer begann. Zu einem Umgang mit Kunstwerken im Museumsdienst fühlte er keine Neigung. 1905 nahm auch sein privates Leben eine Wendung. Er heiratete Ernestine Stenzel, eine Pfarrerstochter aus Kassel, mit der er eine Tochter und zwei Söhne hatte. Einer zweiten, 1924 geschlossenen Ehe mit Elisabeth Adenauer entstammten zwei weitere Söhne. Als Schmarsow 1907 eine Festschrift gewidmet wurde, steuerte Pinder einen Aufsatz bei, der für sein Selbstwertgefühl bezeichnend ist: „Ein Gruppenbildnis Friedrich Tischbeins im Leipziger Museum“15. Es zeigt außer dem Maler und seiner Gattin Pinders Urgroßmütter Caroline und Betty sowie deren Bruder Carl. Der nicht genauer informierte Leser erfährt nur aus einer Anmerkung, daß eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem Autor und dem Maler besteht. Das Gemälde befand sich damals im Besitz von Sophie Fromm geb. Pinder in Tarnowitz (Schlesien). Pinder unterstrich nachdrücklich die Verdienste seiner Familie bei der Überwindung des „traurigen Nichts, das seit Holbeins Tode die deutsche Malerei bedeutete.“ 1909 folgte ein zweiter Aufsatz, der sich mit Malerei des 18. Jahrhunderts befaßte, nun über den Franzosen Jean-Baptiste Chardin, für den in Deutschland das impressionistische Sehen ein Interesse erweckt hatte16. Über ausländische Künstler hat Pinder monographisch sonst nur noch einmal, 1943 über Rembrandt, gearbeitet. 1910 erschien das erste „Blaue Buch“ Pinders mit dem Titel „Deutsche Dome des Mittelalters“ in dem 1902 von Karl Robert Langewiesche gegründeten Verlag mit Sitz in Düsseldorf, seit 1913 in Königstein im Taunus. Die Absicht dieses erfolgreichen Unternehmens war es, Bücher für breite Leserkreise und gut bebilderte, mit anspruchsvollen Einleitungstexten versehene und dabei billige Kunstbände vorzulegen. Ein „Blaues Buch“ kostete 1,80 Mark. Bis 1943 hat Pinder in dieser Reihe neun Bände verfaßt, zuletzt den über Rembrandts Selbstbildnisse. Abgesehen von einem 1933 zuerst erschienenen Band über deutsche Barockplastik, befaßten sich die übrigen sieben Veröffentlichungen mit Themen der Baukunst und der Gartenbaukunst in Deutschland. Pinder beherrschte die Kunst, in allgemein verständlicher Sprache knapp gefaßte Überblicke auf hohem, durch den Stand der Forschung abgesicherten Niveau zu geben. Die Bände erlebten zahlreiche Neuauagen. Die „Deutschen Dome des Mittelalters“ erschienen zuletzt noch 1969. 1941 bereits waren 300 000 Exemplare dieses Buches gedruckt. Vor allem durch diese Bände und andere kleine Veröffentlichungen ist Pinder zu dem am mei15 16



Pinder, Gesammelte Aufsätze (Anm. 6), S. 15 ff. Ebenda, S. 21 ff.

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sten gelesenen kunsthistorischen Autor aufgestiegen. Ganz im Sinne Schmarsows hielt er Volksbildung für eine wichtige Aufgabe des Faches Kunstgeschichte und gewann damit eine öffentliche Reputation neben seinem Ansehen in Fachkreisen. Im Laufe der Zeit, vor allem nach 1933, wuchs mit seinem Aufstieg als Wissenschaftler das Gefühl einer Verantwortung für die Erziehung des ganzen Volkes zu einem geradezu missionarischen Eifer. Der Umgang mit der Kunst am Ort seiner ersten Lehrtätigkeit führte in der 1911 erschienenen Schrift „Mittelalterliche Plastik Würzburgs. Ein Versuch einer lokalen Entwicklungsgeschichte vom Ende des 13. bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts“ zu einem Vorstoß auf dasjenige Gebiet, das Pinders ureigenstes werden sollte, die deutsche Skulptur des 14. Jahrhunderts. Hier erwarb er sich seine größten wissenschaftlichen Verdienste. Im Jahr 1910 bereits war der Autor als ordentlicher Professor an die Technische Hochschule in Darmstadt berufen worden. Er kletterte später, über weitere vier Stufen  nicht unüblich  die Karriereleiter hoch, bis er 1935 mit dem Berliner Lehrstuhl den Gipfel erreicht hatte. In Darmstadt schrieb er 1911 den Text eines im Jahr darauf erschienenen „Blauen Buches“ über die großen deutschen Barockbaumeister. Damit schloß er sich der schon eine Generation früher erfolgten neuen Würdigung dieses Stiles durch Cornelius Gurlitt an, die von Dresden ausgegangen war, sich zunächst auf die Architektur erstreckte und von Pinder später auch auf die Skulptur übertragen wurde. Die Malerei blieb weitgehend ausgeklammert. Schon in dieser gedrängten Schrift findet sich ein hohes nationales Pathos, aus dem ein Gekränktsein über die mangelnde Anerkennung der deutschen Kunst durch das Ausland spricht, so in den Sätzen: „Es mag sein, daß die freiwillige Ignoranz in deutschen Werten, die namentlich in manchen französischen Kreisen noch als Nationalpicht gilt, das Ausland noch lange hindern wird, unserer Anerkennung beizupichten. Wir selbst dürfen uns sagen, daß das 18. Jahrhundert auch in der Baukunst kein ‚frivoles Jahrhundert‘ war“17. Zwischen 1911 und 1920 klafft im Schrifttum Pinders eine Lücke, von der nur der Zeitraum des Weltkrieges durch seine Teilnahme als Frontsoldat zu erklären ist. Nicht nur die militärische Niederlage, sondern auch die Demütigung Deutschlands führte offenbar zu einer tiefen seelischen Verletzung, die in späteren Schriften in einer Übersteigerung des Nationalismus ihren Niederschlag fand. Die Zerstörung der Kathedrale von Reims durch deutschen Artilleriebeschuß in den ersten Kriegtagen führte zu heller Empörung in Frankreich und auch in Deutschland zu kontroversen Diskussionen. Der hochangesehene französische Kunsthistoriker Émile Mâle nahm alsbald diese Katastrophe zum Anlaß, die deutsche Kunst pauschal zu verunglimpfen. Seine These war: „Deutschland hat in der Vergangenheit immer nur nachgeahmt, es war nie schöpferisch“18. Der französische Chauvinismus fachte den deutschen an, der Pinders Denken 17 18



Wilhelm Pinder, Deutscher Barock. Die großen Baumeister des 18. Jahrhunderts, Düsseldorf 1912, S. 26. Heinrich Dilly, Émile Mâle 1862–1954, in: derselbe (Hrsg.), Altmeister moderner Kunstgeschichte, Berlin 1990, S. 141 ff.

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vor allem nach 1933 vergiftete, ihn aber auch anspornte, die spezifischen Qualitäten der deutschen Kunst und ihre „Sonderleistungen“ aufzuspüren. Seine Schriften entstanden aus der Position eines Verteidigers heraus. Zu Mâle bemerkte er 1935 in „Die Kunst der Deutschen Kaiserzeit“, dieser habe „seine große Wissenschaft in den Schmutz der niedrigsten und gehässigsten Lügen gegen uns herabgezerrt“, und er ließ keine Gelegenheit aus, die Zerstörung bedeutender Bauten der Kaiserzeit durch französische Truppen in Erinnerung zu rufen (Speyer, Hirsau, Hersfeld)19. Als Pinders Werk 1952 in einer neuen Ausgabe erschien, wurden die meisten direkten Angriffe dieser Art wie auch einige andere auf die Gegenwart von 1934 bezogene Äußerungen entfernt. 1917 wurde Pinder auf den Lehrstuhl in Breslau und 1918 als Nachfolger Georg Dehios nach Straßburg berufen, hat jedoch an beiden Universitäten wegen des Krieges nicht wirken können. Die Abtretung Straßburgs an Frankreich muß ihn doppelt tief getroffen haben, wie aus einer Würdigung Dehios aus Anlaß von dessen 70. Geburtstag 1920 zu erschließen ist20. Inzwischen war Pinder 1919 erneut nach Breslau berufen worden, wechselte jedoch bereits im Jahr darauf nach Leipzig; Berufungen nach Göttingen und Wien schlug er aus. Die folgenden sieben Jahre bis zur Übernahme des Lehrstuhles in München sollten die fruchtbarsten für sein wissenschaftliches Schaffen werden. Die Veröffentlichungen der Leipziger Jahre befaßten sich hauptsächlich mit der deutschen Skulptur des vierzehnten Jahrhunderts, das bisher im Schatten der Hochblüte des Mittelalters im dreizehnten gestanden hatte. Es war der Expressionismus, der den Blick für die Seelentiefen in der Kunst dieser Epoche geschärft hatte. So entstanden ein Aufsatz zur Ikonographie „Die dichterische Wurzel der Pietá“ und, gleichsam als Gegenstück dazu, eine Studie „Zum Problem der ‚Schönen Madonnen‘ um 1400“21. Die umfassendsten Arbeiten jedoch, die weitgehend kunsthistorisches Neuland erschlossen, sind zwei Bände des Handbuches der Kunstwissenschaft, „Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance“, 1924–1929 erschienen. Neben der Architektur, die unter den sichtbaren Künsten für Pinder stets die Grundlage der anderen bildete und durch den Dialog von Körperhaftigkeit und Räumlichkeit, aber auch als Gemeinschaftsleistung überwältigend beeindrucken kann, hat die Skulptur als tastbare Menschendarstellung bei ihm das größte Interesse geweckt. Malerei, die in seinen Augen innerhalb größerer Epochenzusammenhänge stets relativ spät zur Blüte kam, hat ihn noch am meisten angesprochen, wenn sie Menschenbilder bot. Die Landschaftsdarstellung und erst recht die Genre- und die Stillebenmalerei standen ihm ferner. Er hielt immer Ausschau nach den Gipfelleistungen, an denen er sich mit seiner Interpretationskunst messen konnte. So hat er für den Naumburger Meister, dessen Bedeutung er gern mit der Beethovens

Pinder, Vom Wesen und Werden deutscher Formen (Anm. 10), S. 130. Pinder, Gesammelte Aufsätze (Anm. 6), S. 50 ff. 21 Ebenda, S. 29 ff., S. 91 ff. 19 20

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verglich, seit 1925 in mehreren auagenstarken Publikationen immer wieder geworben, daneben auch für die Schöpfer der Skulpturen des Bamberger Domes. In Leipzig entstand schließlich seine theoretische Schrift „Das Problem der Generation“, in der Pinder seine Vorstellung von geschichtlichen Entwicklungen in der Kunst erläuterte. Ihn beschäftigte die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“, das leicht einsehbare Phänomen, daß Künstler verschiedenen Alters zu einem bestimmten Zeitpunkt sich in abweichenden Stilen äußern. Die Gleichaltrigen schließen sich dagegen zu Gruppen zusammen. So entsteht eine „Polyphonie“ in der Kunstgeschichte, die man nur hören müsse. Diese sei „nicht einfach Geschichte des Sehens“, sondern „ewig rhythmische meerhaft wogende Bewegung unseres Schaffensdranges zwischen dem Ja und dem Nein zur Bedingtheit“. Stetige Faktoren seien „Kulturraum, Nation, Stamm, Familie und individueller Typus“. Diesem Modell lag  unausgesprochen  Pinders Erfahrung der Zugehörigkeit zur Generation der Expressionisten zugrunde, denen er sich verbunden fühlte. In einer „Skizze“ einer „nicht-anonymen Kunstgeschichte nach Generationen“ weitete er seinen nationalen Blickwinkel auf einen europäischen aus.22 Das Buch wurde kritisiert, so von dem Philosophen und Soziologen Karl Mannheim, der Pinders Modell als „romantisch-historisch“ und „phantasierend spekulativ“ bezeichnete. Er vermißte die „Ebene der gesellschaftlich formierenden Kräfte“23. Als Pinder 1927 nach München wechselte, erlebte er hier das Erstarken des Nationalsozialismus. Sein Ansehen war beträchtlich gestiegen. Er wurde Mitherausgeber der 1927 bis 1938 erscheinenden „Kritischen Berichte zur Kunstgeschichtlichen Literatur“, 1933 auch einer Zeitschrift „Kunst der Nation“, die bis 1935 bestand. Der Mitgliedschaft der Sächsischen Akademie der Wissenschaften seit 1922 folgte 1927 die in der Bayerischen. 1938 sollte er noch Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften werden. Einer 1925 gegründeten „Deutschen Akademie zur wissenschaftlichen Pege und Erforschung des Deutschtums“ gehörte Pinder 1927–1935 als Geschäftsführer der Sektion bildende Kunst und danach als Mitglied an24. 1933 übernahm er den Vorsitz des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, ohne jedoch, wie Rainer Kahsnitz nachgewiesen hat, hier tätig in die Geschäfte einzugreifen25. Reden zu festlichen Anlässen, so über Dürer (1928), Goethe (1932) oder Veit Stoss (1933) wurden ihm wichtiger als wissenschaftliche Forschung26. In drei Reden, die er 1934 als „Reden aus der Zeit. Über werdende Kunst in neuer Zeit und über denkmalpegerische Verpichtung“ veröffentlichte, glaubte er Einuß auf die Kunstpolitik und namentlich die Kontroverse zwischen Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg in 22

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Wilhelm Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Leipzig 1928. Karl Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus seinem Werk, Berlin/Neuwied 1969, S. 516 ff. Christian Fuhrmeister, Die Aktion Bildende Kunst der Deutschen Akademie 1925–1945, in: Ruth Heftrig u.a. (Hrsg.), Kunstgeschichte im „Dritten Reich“. Theorien, Methoden, Praktiken, Berlin 2008, S. 312 ff. Rainer Kahsnitz, Der Deutsche Verein für Kunstwissenschaft im Nationalsozialismus. Versuch einer Spurensuche, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 62 (2008), S. 77 ff. Pinder, Gesammelte Aufsätze (Anm. 6), S. 142 ff., 161 ff., 186 ff.

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der Bewertung des deutschen Expressionismus und des Bauhauses nehmen zu können, eine Diskussion, bei der sich der der Moderne feindliche Kurs von Rosenberg durchsetzte. Pinder hat dem Rechnung getragen, indem er seine Verteidigung der Expressionisten einstellte. Schon 1934 nannte er ihre Richtung einen „zeitbedingten Stilversuch“27. Als Reinhard Piper ihn 1935 um eine Einführung zu einem Band mit Barlach-Zeichnungen bat, da er 1929 bei der Ausstellung zum 25jährigen Bestehen des Piper-Verlages den Eröffnungsvortrag über die Rangstellung der deutschen Bildkunst gehalten hatte, lehnte er ab, weil er sich nicht wegen Barlach diffamieren lassen wollte.28 Der Band, zu dem dann Paul Fechter einen Text schrieb, wurde 1936 beschlagnahmt. 1937 sah Pinder in der Gegenwart den „Untergang des Malerischen Zeitalters“ und meinte, an die Spitze werde „in der nächsten Zukunft nur treten können, wer wieder echt zu bauen und von neuem am Bau und vom Baue aus die darstellenden Künste zu entfalten verstehen wird“29. Die wichtigste der drei oben genannten Reden ist die am 3.8.1933 gehaltene „Die bildende Kunst im neuen deutschen Staat“. Pinder forderte Freiheit in künstlerischen Fragen, wandte sich gegen die Einmischung inkompetenter Politiker in diese, verurteilte die Entlassung verdienter Museumsdirektoren, nur weil diese moderne Kunst gekauft hatten, und nannte seine Ziele: „Das Ja-Sagen zu uns selbst; die verachtungsvolle Abschüttelung aller Minderwertigkeits-, aller uns aufgelogenen Schuldgefühle; die Überwindung der Parteien; die Überwindung der parlamentarischen Schwatzbude; die Überwindung des politischen Katholizismus, nach tausend schweren Jahren jetzt endlich angebahnt; die Bekämpfung des Kommunismus, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und ganz besonders die Nationalisierung des Arbeiters“30. In der Vorstellung eines naturbedingten Rhythmus von Blütezeiten befangen, glaubte Pinder, mit dem Nationalsozialismus beginne eine neue große Zeit mit einem neuen Stil, dessen Ankündigung er im Bauhaus sah. Einer Zusammenarbeit mit Rosenberg hatte er sich allerdings 1932 verweigert, und als die kunsthistorische Fachschaft in München eine Aufnahme Pinders in die NSDAP beantragte, erfolgte eine Ablehnung. Der Konikt zwischen einer radikalen und einer kultivierteren Strömung innerhalb des Faches, soweit es dem Nationalsozialismus verfiel, spitzte sich zu, als Kurt Karl Eberlein, ein begabter, in seiner Rhetorik Pinder nicht unähnlicher, aber charakterloser Kunsthistoriker, 1933 versuchte, sich mit einem wüsten Pamphlet „Was ist Deutsch in der Deutschen Kunst“ der Richtung Rosenbergs anzudienen31. Pinder antwortete mit einer überaus scharfen Rezension, die er allerdings, in ihrer Taktik leicht durchschaubar, mit einem Angriff auf vier jüdische Schriftsteller, Maximilian Harden, Siegfried Jacobson, Kurt Tucholsky und 27

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Pinder, Vom Wesen und Werden deutscher Formen (Anm. 1), S. 120 f. Ernst Piper, Ernst Barlach und die nationalsozialistische Kunstpolitik, München/Zürich 1983, S. 22. Pinder, Vom Wesen und Werden deutscher Formen (Anm. 10), S. 131. Pinder, Reden aus der Zeit (Anm. 8), S. 29. Kurt Karl Eberlein, Was ist Deutsch in der Deutschen Kunst, Leipzig 1934. Zu Eberlein siehe Werner Weisbach, Geist und Gewalt, Wien/München 1956, S. 333 f.

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Alfred Kerr, einleitete32. Aus dieser Stellungnahme resultierten später Angriffe auf Pinder. Im Zusammenhang mit dem Röhm-Putsch 1934 erhielt er anonyme Drohungen und 1940 wurde seine Auffassung von Kunstgeschichte in der SS-Zeitschrift „Das schwarze Korps“ heftig kritisiert. Die Goethemedaille, für die er 1938 vorgeschlagen war, wurde ihm nicht verliehen. Andererseits schloß er sich 1933 dem „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten zu Adolf Hitler und den nationalsozialistischen Staat“ an und lieferte 1939 einen Beitrag in der Schrift zum 50. Geburtstag Hitlers, „Deutsche Wissenschaft, Arbeit und Aufgabe“. Hier begrüßte er das „Ausscheiden der jüdischen Kunstgelehrten aus Forschung und Lehre“ als einer „Gefahr eines allzu begrifflichen Denkens“33. Den ungeheuren Verlust, der der deutschen Kunstwissenschaft zugefügt wurde, hat er nicht wahrnehmen wollen. Die Billigung der Judenverfolgung ist die schwerste Schuld, die Pinder auf sich geladen hat. In einem ganz ungewöhnlichen Vorgang wurde Pinder 1935 vom preußischen Kultusministerium auf den Berliner Lehrstuhl berufen, den der unbeliebte Antisemit Albert Erich Brinckmann für ihn räumen mußte. Dieser hatte bereits 1934 alle jüdischen Kunsthistoriker aus dem Berliner Institut vertrieben und wurde mit dem Frankfurter Lehrstuhl entschädigt. Man hielt den gemäßigteren Pinder für repräsentativer34. 1934 konzentrierte Pinder seine schriftstellerische Tätigkeit auf das Werk „Vom Wesen und Werden deutscher Formen“, das seine nationalistische Kunstanschauung in aller Breite untermauern sollte. Der erste Band, „Die Kunst der deutschen Kaiserzeit bis zum Ende der staufischen Klassik“ erschien 1935. Zwei Jahre später folgte „Die Kunst der ersten Bürgerzeit bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts“, und 1939 legte er einen dritten Band, „Die deutsche Kunst der Dürerzeit“ vor. In diesen Bänden konnte er auf seine älteren Arbeiten zurückgreifen. Ein geplanter vierter, „Die Kunst der Fürstenzeit“, gedieh nicht über das Anfangskapitel „Holbein der Jüngere und das Ende der altdeutschen Kunst“ hinaus. Es wurde 1951 aus dem Nachlaß herausgegeben. Ein Erlahmen während der Kriegszeit ist festzustellen, es erschienen jedoch neben kleineren Arbeiten fünf „Blaue Bücher“: „Deutsche Wasserburgen“ (1940), „Innenräume deutscher Vergangenheit“ (1941), „Bürgerbauten aus vier Jahrhunderten deutscher Vergangenheit“ (1943) und schließlich im gleichen Jahr „Rembrandts Selbstbildnisse“, das einzige einem einzelnen Künstler der Vergangenheit gewidmete Buch Pinders. Die Folge der Selbstbildnisse interpretierte er als Autobiographie. Er suchte den Maler, der für ihn kein „normaler“ Holländer war, in einen weiteren Kreis nordischer Kunst, unter Ausklammerung der christlichen Dimension seines Werkes, hineinzuziehen. 32



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Wilhelm Pinder, „Was ist Deutsch in der Deutschen Kunst“. Zu der Schrift von K.K. Eberlein, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 2 (1933), S. 405 f. Wilhelm Pinder, Deutsche Kunstgeschichte, in: Dem Führer und Reichskanzler legt die Deutsche Wissenschaft zu seinem 50. Geburtstag Rechenschaft ab über ihre Arbeit im Rahmen der ihr gestellten Aufgabe, Leipzig 1939, S. 11 f. Suckale, Wilhelm Pinder und die deutsche Kunstwissenschaft (Anm. 5), S. 13.

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1943 und 1944 bestätigten zwei Rundfunkreden Pinders Übereinstimmung mit dem System. In der einen, „Vom Strahlungsbereich der deutschen Kunst“, sollte auch die Kunstgeschichte eine Rechtfertigung für die Expansionspolitik nach Osten liefern. Die andere „Von der Unzerstörbarkeit der Kulturdenkmaler der Völker“ suchte den Widerstandswillen des Volkes zu festigen, während solche Kulturdenkmäler dem Krieg zum Opfer fielen35. 1943 wurde über ihn in seiner Wohnung in Berlin-Grunewald ein Film gedreht, „Wilhelm Pinder spricht über Kunstgeschichte. Grundzüge seiner Methode und Lehre“, dessen Aussagen noch 1957 in einem kleinen Heft gedruckt wurden. Nach dem Zusammenbruch von 1945 war Pinder als Hochschullehrer in Berlin nicht mehr tragbar, jedoch bemühten sich die Universitäten in Hamburg und Göttingen um ihn. Einen Forschungsauftrag zur Kunst der Goethe-Zeit, die ihn in Vorlesungen beschäftigt hatte, konnte er nicht mehr ausführen. Seine Ausstrahlung als Kunstschriftsteller hielt nach seinem Tod 1947 noch einige Jahre an, und er wirkte nicht zuletzt in den mehr als hundert Doktoranden und Habilitanden weiter, unter denen Sir Nicolaus Pevsner, Otto von Simson, Alfred Hentzen, Hermann Beenken und Hans Gerhard Evers zu nennen sind. Noch 1993 erschien, 50 Jahre zuvor von Pinder autorisiert, eine Neuausgabe von „Aussagen zur Kunst“, die eine Hörerin aus Vorlesungsnachschriften von 1927 bis 1932 zusammengestellt hatte. Viele dieser Aussagen muten heute recht banal an. Die ersten beiden Bände des Werkes „Vom Wesen und Werden deutscher Formen“ wurden vom Verlag E.A. Seemann in Köln in 5. bzw. 3. Auage herausgebracht und von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft übernommen. Der Pinder-Schüler Georg Scheja behauptete in einem Nachwort, die Bände seien keine „Kunstgeschichte im Sinne einer üblichen wissenschaftlichen Darbietung des Stoffes, sondern eine leidenschaftliche Verteidigungsschrift der Kunst des deutschen Volkes. Sie wurde ausgelöst durch den Angriff, der von der Rassentheorie des Nationalsozialismus her gegen die Substanz der deutschen Kunst geführt wurde.36 Seit dem Buch von Marlita Halbertsma von 1985 befaßte sich die Kunstgeschichte aus der inzwischen gewonnenen Distanz kritisch mit Pinder. Dabei fällt eine Häufung der Publikationen im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts auf.

III. Nicht nur seine veröffentlichten Reden, auch seine Bücher und Aufsätze lassen die rhetorische Begabung Pinders erkennen, mit der er zu faszinieren verstand. Einer seiner Schüler, Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, erinnerte sich 1990 an die Berliner Vorlesungen nach 1935: „Seine in freier, sprudelnder Rede vorgetragenen Vorlesungen vermittelten höchst 35



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Forschungen und Fortschritte. Nachrichtenblatt der deutschen Wissenschaft und Technik 1943, S. 149 f.; Reichsrundfunk 1943/44, S. 88 ff. Wilhelm Pinder, Vom Wesen und Werden deutscher Formen (Anm. 1), 5. Au. Frankfurt 1952, S. 305.

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lebendig künstlerische Eigenarten vorgeführter Werke. Man spürte den durch und durch musisch empfindenden Menschen. Alles andere  Methodenfragen, Theorien, Ideologien  erschienen zweitrangig, obwohl ihn auch diese Seiten der Disziplin beschäftigten, sogar zu teilweise unglücklichen Steigerungen veranlaßten, an denen die Kritik ansetzte“37. Pinder war nicht nur „durch und durch musisch“ empfindend – was bei Kunsthistorikern keineswegs selbstverständlich ist , er war musikalisch, komponierte auch, und es war seine frappierend wortschöpferische Fähigkeit, die, mehr oder minder treffend, eine seltene Nähe zum Kunstwerk erkennen läßt. Seine Beschreibungen sind nie trocken, sondern reich an ungewöhnlichen, oft gewagten Bildern und Vergleichen. Nur ein Beispiel sei genannt. Bei den Malereien der Chorschranken im Kölner Dom (um 1320) stellte Pinder an den Figuren die „Widerstandslosigkeit für ein mühelos lesendes Auge“ fest; „ihre forellenhafte innere Schnelligkeit, ihre ächige Fügsamkeit lehren, wie sehr dem zeichnerisch denkenden Maler der Allgemeinvorgang der Entschwerung alles Gestalteten zugute kam“38. Auch bei Wortfindungen wie „Entstaltung“ oder „Ununterbrechlichkeit“ (einer Linie), spürt man die engagierte Suche nach dem allein treffenden Ausdruck. Pinder konnte Eigenarten benennen, auf ihre Ursprünge zurückführen und dem Betrachter die Augen für bisher nicht Wahrgenommenes öffnen. Darin lag eine große Verführungskraft, womit er sich von wissenschaftlicher Selbstzügelung entfernte und nicht selten ins Romanhafte hinüberglitt. Man kann auch sagen, daß er sich als eine Art Dirigent fühlte, der, Beifall heischend, der wie eine Symphonie verstandenen Kunstgeschichte ihre innewohnende Dramatik nachzugestalten versuchte. Dabei ließ er einfach weg, was nicht in sein Bild paßte. Diese Praxis hing mit seiner Auffassung von Kunst zusammen, die „eine Art eigener Gesetzlichkeit“ besitzt „und darum jenseits der „Allgemeingeschichte dargestellt werden“ kann39. Indem er sich der Auseinandersetzung mit störenden Realitäten entzog, gewann er die Schubkraft für seinen gedanklichen Höhenug. Der berauschenden Überschau über unterschiedliche Erscheinungen des geistigen Lebens, über Zeiten, Regionen, Individuen und Einzelwerke opferte er die Erdung, die der Forscher gewinnt, wenn er einen großen Gegenstand, zum Beispiel eine Künstlerexistenz, wirklich ergründet. Die künstlerische Empfindung, vielleicht sogar das Bewußtsein, selber ein Künstler zu sein, überwog bei Pinder die sich selbst kontrollierende Wissenschaftlichkeit. Der Konikt mit einer nüchternen Kunstwissenschaft war vorgegeben und steigerte sich zu gegenseitiger Ablehnung. Nicht nur die sichtbaren Künste, also Architektur, Plastik und Malerei, auch die hör­ baren – Dichtung und Musik – sind in geheimnisvollem Rhythmus miteinander verochten. So findet die Blütezeit der sichtbaren Künste um 1500 um 1800 eine Entsprechung in 37



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Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, in: Martina Sitt (Hrsg.), Kunsthistoriker in eigener Sache, Berlin 1990, S. 287. Sehr kritisch urteilt über Pinders Vorlesungsstil Hans Sahl, Memoiren eines Moralisten, Berlin 1990, S. 53. Pinder, Vom Wesen und Werden deutscher Formen (Anm. 10), S. 65. Wilhelm Pinder, Vom Wesen und Werden deutscher Formen. Bd. 3: Die deutsche Kunst der Dürerzeit, Leipzig 1940, S. 101.

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den hörbaren, und diese Theorien erlauben es Pinder, vielfach Vorahnungen von Späterem in Früherem zu vermuten, etwa Beethoven aus den Figuren des Naumburger Meisters herauszuhören. Goethe wird der Dürer um 1800. Diese Rhythmen, dem Wellenschlag eines Meeres gleich, beschränken sich auf das einzelne Volk, das seine Genies nach einem unerforschlichen Plan des Schicksals hervortreibt. Kunst, jedenfalls die „große“, mit der allein Pinder sich befaßt hat, wird nicht gemacht, sondern sie geschieht. So gewann Kunst bei ihm einen mythischen Charakter. Dabei projizierte er gegenwärtige und keineswegs allgemeine Befindlichkeiten auf die Vergangenheit und konnte so zuweilen zu verblüffenden Fehlurteilen gelangen, wenn er zum Beispiel schrieb: „Bei manchen großen Künstlern der späteren Zeit, so bei Shakespeare, Rembrandt, Bach oder Beethoven, spürt man das oft unbewußte Ringen um die allgemein verlorene, aber unersetzbare Grundlage jeder großen Kunst: den Glauben an ein Höheres über dem Menschen. Es konnte die tragische Aufgabe der Einsamsten werden, die Einheit allein zu vertreten“40. Pinders Schreibstil verwandelte den Leser in einen Zuhörer, der in Spannung gehalten werden mußte. Durch die Fülle des vorgeführten Materials, durch Abwechslung und Abschweifung in allgemeine Sentenzen wurde umfassendes Wissen und Beweglichkeit der Gedanken demonstriert. Rhetorische Fragen wurden eingeochten, und suggestiv ließ sich das schreibende Subjekt zum „wir“ dehnen. Wenn er „wir Deutschen“ sagte, erhob sich Pinder zum Sprecher des ganzen Volkes. So wurden mit verblüffender Selbstverständlichkeit alle ausgeschlossen, auf die seine Feststellungen nicht zutrafen. Diskussionen mit anderen Meinungen wurden gemieden, Übereinstimmungen mit Kollegen dafür gelegentlich mit Lob hervorgehoben. Kursiv gesetzte Worte betonen etwas. Kurze Sätze wurden bevorzugt. Als der aus der Fülle schöpfende und seine Einsichten mitteilende Lehrer dazustehen, war wichtiger, als den Leser in das mühsame Geschäft des Forschens mit seinen Unsicherheiten mitzunehmen. Von wenigen, meist frühen Arbeiten abgesehen, verzichtete Pinder auf Anmerkungen, Literaturangaben, durchweg auch auf Register. Das war bewußt gewählter volksnaher Stil. Pinders Lebenswerk ist ein Lehrstück in anderer Weise, als der Autor es sich vorgestellt hat. Ungenießbar ist es nach den Lehren der Geschichte durch seinen überheblichen Nationalismus auf Kosten anderer Völker, namentlich Frankreichs. In dieser Hinsicht kann es als Vergangenheit angesehen werden. Aktuell ist Pinder dagegen nach wie vor als Beispiel für Gelehrtenhybris. In den Wertungen von Kunstwerken, im Blick für Qualität und als Beispiel kunsthistorischer Formulierungskunst verdient er dennoch gerechte Anerkennung.

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Ebenda, S. 181.

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Werke Einleitende Voruntersuchung zu einer Rhythmik romanischer Innenräume in der Normandie, Diss. Leipzig 1904.  Deutsche Dome des Mittelalters, Düsseldorf [u.a.] 1910.  Mittelalterliche Plastik Würzburgs, Würzburg 1911.  Deutscher Barock. Die großen Baumeister des 18. Jahrhunderts, Düsseldorf 1912.  Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance, 2 Bde., Wildpark-Potsdam 1924–1929.  Die deutsche Plastik des 15. Jahrhunderts, München 1924.  Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Berlin 1926.  Der deutsche Park, vornehmlich des 18. Jahrhunderts, Königstein im Taunus 1927.  Deutsche Barockplastik, Königstein im Taunus [u.a.] 1933.  Reden aus der Zeit, Leipzig 1934.  Vom Wesen und Werden deutscher Formen, 4 Bde., Leipzig 1935–1951.  Georg Kolbe. Werke der letzten Jahre, Berlin 1937.  Deutsche Burgen und feste Schlösser, Königstein im Taunus [u.a.] 1938.  Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1907–1935, Leipzig 1938.  Deutsche Wasserburgen, Königstein im Taunus [u.a.] 1940.  Innenräume deutscher Vergangenheit, Königstein im Taunus [u.a.] 1941.  Georg Kolbe. Zeichnungen, Berlin 1942.  Bürgerbauten aus vier Jahrhunderten deutscher Vergangenheit, Königstein im Taunus [u.a.] 1943.  Rembrandts Selbstbildnisse, Königstein im Taunus [u.a.] 1943.  Von den Künsten und der Kunst, Berlin 1948.

Literatur Pierre Francastel, L’histoire de l’art. Instrument de la propagande germanique, Paris 1945. – Hans Jantzen, Nachruf auf Wilhelm Pinder, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 1 (1947), S. 73–76. – Richard Hamann, Nachruf auf Wilhelm Pinder, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1946/49, S. 213–216. – Robert Suckale, Wilhelm Pinder und die deutsche Kunstwissenschaft nach 1945, in: Kritische Berichte 4 (1986), S. 5–17. – Klaus Heinrich Meyer, Der Deutsche Wilhelm Pinder und die Kunstwissenschaft nach 1945, in: Kritische Berichte 1 (1987), S. 41–48. – Marlite Halbertsma, Wilhelm Pinder en de Duitse Kunstgeschiedenis, Groningen 1985 (deutsche Übersetzung Worms 1992). – Heinrich Dilly, Deutsche Kunsthistoriker 1933–1945, München 1988. – Marlite Halbertsma, Wilhelm Pinder 1878–1947, in: Heinrich Dilly (Hrsg.), Altmeister moderner Kunstgeschichte, Berlin 1990, S. 235–248. – Udo Kultermann, Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft, München 1990, S. 198–201. – Sybille Dürr, Zur Geschichte des Faches Kunstgeschichte an der Universität München, München 1993, S. 61–68. – Peter Betthausen, Wilhelm Pinder, in: derselbe u.a. (Hrsg.), Metzler-Kunsthistoriker-Lexikon, Stuttgart 1999, S. 309–312. – Magdalena Bushart, Wilhelm Pinder, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, S. 448–450. – Jutta Held, Kunstgeschichte im „Dritten Reich“. Wilhelm Pinder und Hans Jantzen an der Münchner Universität, in: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 5 (2003), S. 17–59. – Nicola Doll u.a. (Hrsg.), Kunstgeschichte im

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Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Wissenschaft 1930–1950, Weimar 2005. – Ruth Heftrig u.a. (Hrsg.), Kunstgeschichte im „Dritten Reich“. Theorien, Methoden, Praktiken, Berlin 2008. – Elisabeth Kraus, Die Universität München im Dritten Reich. Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, Bd. 4, München 2008. – Roland Kanz, Kunstgeschichte als „geisteswissenschaftliche Biologie“. Wilhelm Pinders Pathologisierung des Manierismus und Ernst Kretschmers Typenlehre, in: Tobias Kunz (Hrsg.), „Nicht die Bibliothek, sondern das Auge“, Beiträge zu Ehren von Hartmut Krohm, Petersberg 2008, S. 325–335. – Horst Bredekamp/Adam S. Labuda, Die institutionalisierte Kunstgeschichte 1873–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 435–458.

Bildnisse von Wilhelm Pinder Anonyme Fotografien, in: Heinrich Dilly (Hrsg.), Altmeister moderner Kunstgeschichte, Berlin 1990, S. 234. – Wilhelm Pinder, Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1907–1935, hrsg. von Leo Bruhns, Leipzig 1938. – Die Kunst der deutschen Kaiserzeit, Köln 51952. – Film: Pinder spricht über Kunstgeschichte. Grundzüge seiner Methode und Lehre (Reihe Filmdokumente der Zeitgeschichte), 1943.

Erich Caspar Von Franz-Reiner Erkens Am 22. Januar 1935 endete das Leben des fünfundfünfzigjährigen Erich Ludwig Eduard Caspar1. Der Tod kam, zumindest für die Freunde und Weggefährten, überraschend2. Von kurzer Krankheit und einer Lungenentzündung ist die Rede3, von „mitten aus dem Schaffen heraus uns entrissen“4, ja, sogar davon, dass der Tod so schnell gekommen sei, „daß er [Caspar] es nicht merkte, daß das Ende da war“5. Doch in Wirklichkeit hat Caspar sein Ende wohl selbst herbeigeführt, bewusst und in Vorahnung der Dinge, die einem Juden im nationalsozialistischen Deutschland noch bevorstehen konnten. Zwar war er von Erziehung und Selbstverständnis her kein Jude, sondern ein preußischer Protestant6, doch scherte dies die braunen Machthaber in ihrem Rassenwahn wenig, denn die Vorfahren waren Juden – und dies reichte für die rassische Klassifizierung aus. Das muss den Freunden, Kollegen und Schülern bekannt gewesen sein, die sich trotzdem nicht scheuten, des Verblichenen in bewegenden Trauerreden zu gedenken und die rhetorischen Zeugnisse freundschaftlicher Zuneigung und menschlicher Bindung auch noch drucken zu lassen7. Da es 1



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Vgl. Artikel Caspar, Erich, in: Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender, hrsg. von Gerhard Lüdtke, Berlin 1935, S. 190 f.; Christian Krollmann, Caspar, Erich, in: derselbe (Hrsg.), Altpreußische Biographie, Bd. I, Königsberg 1941, S. 101; Walther Holtzmann, Caspar, Erich, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3, Berlin 1957, S. 164 f.; Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Faches bis 1970, Frankfurt/M. ²1987, S. 86 f. Mittlerweile ist auch der Beitrag von Johannes Helmrath, Geschichte des Mittelalters an der Berliner Universität von der Jahrhundertwende bis 1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 371–411, erschienen, der dieses Lebensbild schon berücksichtigt hat. Vgl. Erich Seeberg, Trauerrede am Sarg Erich Caspars, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 54, 3. F. V (1935), S. 105–112, bes. S. 105. Vgl. die Nachrufe von Robert Holtzmann, Erich Caspar, in: Historische Zeitschrift 152 (1935), S. 218 f. (hier S. 218: „… nach kurzer Krankheit, durch eine Lungenentzündung mitten aus den Arbeiten zur Fortsetzung seiner großen Papstgeschichte vor der Zeit abgefordert.“), und P[aul] K[ehr], in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 50 (1935), S. 628 f. (hier S. 628: „nach kurzer Krankheit“), der im übrigen den 21. statt den 22. Januar als Todestag angibt. Robert Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier im Historischen Seminar der Universität Berlin, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 54, 3. F. V (1935), S. 114–123, hier S. 114. Seeberg, Trauerrede am Sarg Erich Caspars (Anm. 2), S. 109. Vgl. Holtzmann, Caspar, Erich (Anm. 1), S. 164. Erich Caspar in memoriam: Reden und Ansprachen zum Gedächtnis von Erich Caspar, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 54, 3. F. V (1935), S. 105–131, wo neben den in Anm. 2 und 4 genannten Reden auch

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Erich Caspar *14. November 1879 in Berlin, † 22. Januar 1935 in Berlin

noch die Ansprachen von Ulrich Gmelin (Gedenkworte am Grabe Erich Caspars, S. 112 f.), Wolfgang Pewesin (Erich Caspar als Lehrer, S. 123–128) und Wilhelm Weber (Nachruf in der Vorlesung am 25. Jan. 1935, S. 128–131) abgedruckt sind.

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keine biographi­schen Untersuchungen über Erich Caspar gibt, liefern diese Gedenkreden und einige wenige wissenschaftliche Nachrufe8 neben einzelnen versprengten Nachrichten wichtige Hinweise auf Lebensart und Lebensweise des Gelehrten, von dessen Wirken ansonsten nur ein beachtliches Œuvre Kunde gibt und eine überschaubare Anzahl von Archivalien, die heute bei den Monumenta Germaniae Historica in München9 und im Archiv der Humboldt-Universität in Berlin10 aufbewahrt werden. Warum aber Caspars trauernde Freunde nichts von dessen Freitod erwähnten, bleibt rätselhaft. Wussten sie wirklich nichts davon? Oder verschwiegen sie ihn, aus welchen Gründen auch immer? Aktenkundig ist er allerdings nicht (mehr)11. Der Sohn von Caspars Berliner Kollegen und Schicksalsgefährten Ernst Perels (1882–1945), der – gleichfalls unter die nationalsozialistischen Rassegesetze fallend – zum 1. Juli 1935 auf eigenen Antrag vorzeitig emeritiert wurde12, berichtet jedoch vom Suizid13.

I. Das Leben, das im Januar 1935 in Berlin endete, hatte am 14. November 1879 in Potsdam begonnen14, in der für die preußische Geschichte so bedeutsamen Garnisonsstadt, einem Ort, an dem Friedrich der Große ohne Sorgen verweilen und seine letzte Ruhe finden Vgl. Anm. 3 sowie F[riedrich] Baethgen, Erich Caspar †, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen 9/4 (1935), S. 45. 9 Personalakten Professor Caspar 1908–1924, Rep. 338, Monumenta Germaniae historica 202. 10 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin (AHUB), Personalakte (PA) Erich Caspar und Phil. Fak. Nr. 1474. 11 ����������������������������������������������������������������������������������������������������� Caspars Schwester Maria spricht in ihrem Brief, mit dem sie dem Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität) das Ableben des Bruders mitteilt, verständlicherweise nicht von den Umständen des Todes, sondern erklärt nur in einem einzigen Satz: „Hiermit zeige ich an, daß mein Bruder, Professor Dr. Erich Caspar, heute früh verstorben ist“ (PA Erich Caspar [Anm. 10], Bl. 5). Dementsprechend ist im Kondolenzschreiben des Rektors nur vom „plötzlichen Hinscheiden“ die Rede (ebenda, Bl. 6), während die offiziellen Dokumente lediglich den Tod erwähnen (ebenda, Bll. 7, 8 = 37V und 37R). 12 Vgl. Kaspar Elm, Mittelalterforschung in Berlin. Dauer und Wandel, in: Reimer Hansen/Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 82), Berlin 1992, S. 211–259, bes. S. 231. Zu Ernst Perels vgl. auch den Nachruf von Fritz Weigle, Ernst Perels, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 8 (1951), S. 262 f., sowie Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft (Anm. 1), S. 433. 13 Vgl. Elm, Mittelalterforschung in Berlin (Anm. 12), S. 232 mit Anm. 57, sowie Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zu Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970 (Europäische Hochschulschriften III/216), Frankfurt/M. ²1987, S. 429 in Anm. 343; Hartmut Boockmann, Die Königsberger Historiker vom Ende des 1. Weltkrieges bis zum Ende der Universität, in: Dietrich Rauschning/Donata v. Nerée (Hrsg.), Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren (Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr., 39), Berlin 1994, S. 257–281, hier S. 262 mit Anm. 13. 14 Vgl. dazu wie zum Folgenden Holtzmann, Caspar, Erich (Anm. 1), S. 164, und Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft (Anm. 1), S. 86. 8



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wollte und der für viele zum Sinnbild Preußens und den preußischen, auf den Dienst am Staatswesen ausgerichteten Geist geworden ist. Erich Caspar jedenfalls ist hier im symbolischen Zentrum des preußischen Staates in eine Familie von treuen und bedeutenden Staatsdienern hineingeboren worden. Vater wie Großvater hatten als Juristen Karriere gemacht: Der eine, Franz Caspar (1849–1927), durchlief im Kaiserreich verschiedene Ämter, war Direktor der sozial-politischen Abteilung im Reichsamt des Inneren, Präsident der Reichsversicherungsanstalt, Unterstaatssekretär im Reichsamt des Innern, Leiter des Reichswirtschaftsamtes, Unterstaatssekretär des Reichsarbeitsministeriums und in einem Maße an dem Entwurf der Reichsversicherungsordnung von 1911, einer Zusammenfassung und Ausgestaltung der geltenden Gesetze über die Sozialversicherung, beteiligt, dass er geradezu als ihr Schöpfer15 erscheinen konnte; der andere, Eduard Caspar (1816–1891), ist Justizrat und Notar am Berliner Kammergericht gewesen. Der Urgroßvater Gustav Heinrich (1780–1859), dessen Gemahlin Henriette (1792–1867) eine Nichte des jüdischen Schriftstellers David Friedländer16 (1750–1834) gewesen ist, soll in Ostpreußen der erste Großgrundbesitzer jüdischer Herkunft gewesen sein. Erichs Mutter Anna schließlich ist die Tochter des Senatspräsidenten am Berliner Kammergericht Ludwig Vonhoff gewesen. Erich Caspar wurde mithin in die gehobenen Kreise Preußens und des jungen Reiches hineingeboren, in Zirkel, die am Geschick der geeinten Nation mitwirkten und am gesellschaftlichen wie kulturellen Leben teilhatten. Die frühen Eindrücke, die er in dieser Atmosphäre einer wohlsituierten Familie großbürgerlichen Zuschnitts empfangen hat, und die standesgemäße Erziehung haben ihn gut auf sein weiteres Leben vorbereitet. Die Arbeitsdisziplin späterer Jahre17 dürfte jedenfalls schon früh grundgelegt worden sein und ebenso die musische Neigung, die ihn das Cello zu spielen und die Musik zu lieben lehrte18, die sich aber auch in einer gediegenen, von stilistischem Gestaltungswillen geprägten Sprache äußert und in einem besonderen Maße (aber keinesfalls nur) in den an ein breiteres Publikum gerichteten Darstellungen essayistischen Charakters19 zu Tage tritt. Zurecht wird die darstellerische Fähigkeit in den Rezensionen seiner großen Werke, aber auch in den Nachrufen betont20, und Paul Kehr weist dabei ausKrollmann, Caspar, Erich (Anm. 1), S. 101. Zu diesem vgl. Ludwig Geiger, Friedländer, David Joachim, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 7, Leipzig 1878, S. 393–397. 17 Vgl. Seeberg, Trauerrede am Sarg Erich Caspars (Anm. 2), S. 107, und Weber, Nachruf in der Vorlesung (Anm. 7), S. 129. 18 Vgl. Heinz Duchhardt, Arnold Berney (1897–1943). Das Schicksal eines jüdischen Historikers, Köln 1993, S. 56, und Seeberg, Trauerrede am Sarg Erich Caspars (Anm. 2), S. 108. 19 ����������������������������������������������������������������������������x��������������������� Vgl. vor allem die beiden Beiträge zu dem 1923 von Erich Marcks und Karl Alexander von Müller herausgegebenen Werk Meister der Politik. Eine weltgeschichtliche Reihe von Bildnissen. Bd. I: Gregor der Große (S. 325–356) und Bernhard von Clairvaux (S. 561–599). 20 Vgl. B[ernhard] Schm[eidler], in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 30 (1905), S. 529 (Anzeige von Erich Caspars Buch über Roger II.); Hans Erich Feine, in: Zeitschrift für 15 16



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drücklich darauf hin21, dass Caspar „(v)olle Befriedigung … erst als Geschichtsschreiber“ fand. Sein Kunstsinn ließ es daher in der Darstellung über Rogers II., des ersten Normannenkönigs von Süditalien, Wirken auch nicht dabei bewenden, die politische und ‚staatliche‘ Aufbauleistung des Herrschers aus dem Hause Hauteville zu würdigen, sondern in einem umfänglichen Schlusskapitel finden auch Äußerungen zu Kunst und Kultur der Epoche ihren Platz22. Auch dem Theater war er zugetan und dem neuen Medium des Films23, und dies – zumindest gelegentlich – in einem Maße, das nachsichtig-freundlich belächelt werden konnte wie etwa 1930, als der arrivierte Professor offenbar über längere Zeit hinweg nahezu täglich das „Casino“, ein Filmtheater, aufsuchte24, fasziniert von Heinrich Manns filmgewordener Verfallsgeschichte des „Professor Unrat“, angezogen vom „Blauen Engel“, mit dem grandiosen Bühnenschauspieler Emil Jannings und der jungen, aufstrebenden Marlene Dietrich in den Hauptrollen. Aber nicht nur Schauspiel und Musik konnten Erich Caspar in den Bann ziehen, auch für die kleinen Freuden des Lebens, für das Erblühen der Natur im Frühling25, für die Schlichtheit der märkischen Heide26 konnte er sich begeistern. Daneben jedoch war die Geselligkeit ein Erbteil seiner Herkunft. Das ausgeglichene Temperament, das Caspar besaß27, die herzliche Fröhlichkeit und menschliche Wärme, der trockene Humor und Berliner Witz, die gepaart waren mit Güte, Frohsinn, Heiterkeit, menschlicher Wärme, Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit sowie mit einer gewissen Schlichtheit und Bescheidenheit, kurz: ein teilnehmendes Wesen und die den Menschen zugewandte Gesinnung drängten auf Erfüllung in mitmenschlicher Runde, ließen den arbeitsasketischen Gelehrten ein gastliches Haus28 führen und in Berlin zum Initiator und Organisator, zur eigentlichen Seele des „mittelalterlichen Abends“ werden29, der am Mittelalter Interessierte jeglichen Alters und Standes in bürgerlichen Gaststätten zu geselliger Runde vereinte, wovon im Übrigen auch ein einsames Bilddokument aus dem Jahre 1934

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Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 20 (1931), S. 607–616 (Besprechung des ersten Bandes von Erich Caspars Geschichte des Papsttums), bes. S. 608; F[riedrich] Baethgen, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 24 (1935), S. 344–354 (Besprechung des zweiten Bandes von Erich Caspars Geschichte des Papsttums, bes. S. 344 f., sowie Holtzmann, Caspar, Erich (Anm. 1), S. 164. K[ehr], (Anm. 3), S. 629. Erich Caspar, Roger II. (1101–1154) und die Gründung der normannisch-sicilischen Monarchie, Innsbruck 1904, hier Abschnitt IV, Kap. 2: „König Roger und die normannisch-sicilische Kultur“. Vgl. Seeberg, Trauerrede am Sarg Erich Caspars (Anm. 2), S. 108. Vgl. Duchhardt, Arnold Berney (Anm. 18), S. 56. Vgl. Seeberg, Trauerrede am Sarg Erich Caspars (Anm. 2), S. 107 f. Vgl. Weber, Nachruf in der Vorlesung (Anm. 7), S. 128. Zu der Charakterisierung vgl. Seeberg, Trauerrede am Sarg Erich Caspars (Anm. 2), S. 106, 109; Gmelin, Gedenkworte am Grabe Erich Caspars (Anm. 7), S. 113; Weber, Nachruf in der Vorlesung (Anm. 7), S. 128, und Duchhardt, Arnold Berney (Anm. 18), S. 55 f. Vgl. Gmelin, Gedenkworte am Grabe Erich Caspars (Anm. 7), S. 113. Vgl. Seeberg, Trauerrede am Sarg Erich Caspars (Anm. 2), S. 109, und Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 123.

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Zeugnis ablegt30, auf dem Caspar in größerem Kreise zwischen Ulrich Stutz und Robert Holtzmann zu sehen ist. Die gelehrt-gesellige Vergesellschaftung wie überhaupt die Lust an der Geselligkeit bildeten freilich nicht nur ein Wesenselement von Erich Caspar, sondern sie dienten ebenfalls dem mentalen Ausgleich und der physischen Rekreation eines diszipliniert und angestrengt arbeitenden Wissenschaftlers und für den Junggesellen, der Caspar zeit seines Lebens blieb, wohl als gelegentlichen Ersatz für die eigene Familie.

II. Die schulischen Grundlagen für Caspars späteren Beruf wurden seit 1889 im Joachimsthalschen Gymnasium von Wilmersdorf gelegt31. Beim Wechsel zur Universität im Jahre 1898 schwankte der junge Student freilich noch, welche Wissenschaft er als sein Hauptfach erwählen sollte: in der Tradition der Familie die Jurisprudenz oder – wohl einer besonderen Neigung folgend – die Geschichte. Im dritten Semester fiel dann die Entscheidung zu Gunsten der Historie, doch legte der junge Student sein Studium breit an: Neben juristischen und natürlich historischen Veranstaltungen im engeren Sinne besuchte er germanistische und philosophische Vorlesungen, bei Adolf von Harnack hörte er Kirchengeschichte, bei Heinrich Brunner, Otto von Gierke und Gustav Schmoller Rechtsgeschichte und Staatswissenschaften. Die Hinwendung zur Geschichtswissenschaft bedeutete mithin keine völlige Abkehr von der familiär geprägten Ausrichtung auf das nach Rechtsmaßstäben wohlgeordnete und auf Institutionen gestützte Staatswesen. Im Gegenteil: Die spätere Auswahl zentraler Themengebiete seiner wissenschaftlichen Arbeiten ist ganz offenkundig von der innerhalb der Familie gepegten Staatsorientierung, von einem „lebendige(n) Sinn … für starke zukunftsreiche staatliche Gebilde“32 beeinusst worden: die Beschäftigung mit Roger II. und der von diesem geformten Monarchie in Süditalien, die Erforschung von Idee und Institution des Papsttums und die Betrachtung der Anfänge des Deutschordensstaates in Preußen. Caspar macht diesen Zusammenhang 1904 im Vorwort zu seinem Buch über Roger II. selbst deutlich, wenn er als Erläuterung für seine Themenwahl eigens hervorhebt33: „Die Normannen haben in Süditalien einen Staat geschaffen, der einzig in seiner Art genannt werden muß: ein Abbild des römisch-byzantinischen Staats, wie kein anderer im mittelalterlichen Europa, und zugleich mit seiner Beamtenverfassung und Finanzverwaltung das Vorbild aller späteren, so steht er als verbindendes Glied zwischen dem antiken und dem modernen Staat.“ 30



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Abgebildet bei Horst Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter. Unter Mitarbeit von Markus Wesche, München 1996, S. 103. Vgl. dazu wie zum Folgenden Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft (Anm. 1), S. 86, und Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 115. Holtzmann, Erich Caspar (Anm. 3), S. 218. Caspar, Roger II. (Anm. 21), S. V.

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Seine akademische Ausbildung hat Caspar in Heidelberg (1898), Berlin (1898/99 sowie 1900–1902) und Bonn (1899–1900) erhalten34. In Bonn studierte er bei Heinrich Nissen, Friedrich von Bezold und Moritz Ritter, hörte hier aber auch Karl Hampe (1869–1936), der damals noch ein junger Privatdozent war, später Karriere in Heidelberg machte, als Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica Quellen edierte, vor allem jedoch durch auch in die Breite wirkende Darstellungen über das Hochmittelalter und über bedeutende Herrscherpersönlichkeiten das allgemeine Geschichtsbild über Jahrzehnte hinweg prägen sollte35. In Berlin studierte Caspar bei Otto Hintze, vor allem jedoch bei Paul Scheffer-Boichorst (1843–1902)36 und Michael Tangl (1861–1921)37, dem aus Kärnten stammenden Vertreter der historischen Hilfswissenschaften. Bei diesen lernte er das historische Handwerk auf höchstem Niveau und auf der Höhe der Zeit. Die historischkritische Methode38, die sich während des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum entwickelt hatte und europaweit ausstrahlte, basierte auf einer gesicherten Quellenkenntnis, die wiederum zuverlässige Editionen benötigte. Wichtige Impulse hatte die mediävistische Quellenkritik und die Herausgabe kritisch gesichteter Quellen erfahren durch die 1819 gegründete Gesellschaft für Ältere deutsche Geschichtskunde und durch deren seit 1875 in Berlin ansässiges Editionsunternehmen der Monumenta Germaniae Historica (MGH)39 sowie durch das 1854 in Wien gegründete Institut für Österreichische Geschichtsforschung40, wo vor allem die Urkundenlehre perfektioniert worden ist. Von diesen außeruniversitären Unternehmungen aus wurde die universitäre Geschichtsforschung und akademische Lehre nachhaltig beeinusst, weswegen um 1900 die historischen Hilfswissenschaften einen hohen Stellenwert in Forschung und Lehre besaßen und im Reich die überwiegende Zahl der Ordinarien für Mittelalterliche Geschichte aus dem engeren oder weiteren Umfeld der MGH stammten. Berlin war dabei das unbestrittene Zentrum, wirkte hier doch die von Leopold von Ranke ausgegangene Neubestimmung der historischen Wissenschaft auch in-

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Vgl. das Personalblatt in PA Erich Caspar (Anm. 10). Zu Karl Hampe vgl. Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft (Anm. 1), S. 202 f. Zu diesem wie zum Folgenden vgl. ebenda, S. 505 f., und Elm, Mittelalterforschung in Berlin (Anm. 12), S. 216. Zu diesem wie zum Folgenden vgl. Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft (Anm. 1), S. 599 f.; Elm, Mittelalterforschung in Berlin (Anm. 12), S. 216 f., und Eckart Henning, Die Historischen Hilfswissenschaften in Berlin, in: Hansen/Ribbe (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Berlin (Anm. 12), S. 365–407, bes. S. 373–375. Vgl. zur wissenschaftlichen Entwicklung etwa Hans-Christof Kraus, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 82), München 2008, S. 16 und 74 (sowie die hier verzeichnete Literatur). Vgl. Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae Historica (Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, 42), Hannover 1931, S. 34 f., 516–518; Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“ (Anm. 30), S. 50. Vgl. Oswald Redlich, Einleitung, in: Wilhelm Erben, Die Kaiser- und Königsurkunden des Mittelalters in Deutschland, Frankreich und Italien, München 1907, S. 3–36, bes. S. 11; Emil von Ottenthal, Das k.k. Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1904, Wien 1904.

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stitutionell in dem von diesem geschaffenen Historischen Seminar mächtig nach, wobei sich im Bereich der Mediävistik zusätzlich eine enge Verechtung mit der MGH ergeben hatte. Paul Scheffer-Boichorst und Michael Tangl waren zudem nicht nur angesehene Repräsentanten des preußischen Wissenschaftssystems, sondern achteten ebenfalls auf die wissenschaftlichen Entwicklungen des Wiener Instituts, in dem Tangl seine Ausbildung erhalten hatte41, während Scheffer-Boichorst durch Julius Ficker, bei dem er in Innsbruck studiert hatte, mit den methodischen Einsichten der Wiener Schule vertraut gemacht worden war42. Die Quellenkritik und die für sie entwickelte Methode, die absolute Priorität der Quelle bei der akademischen Beschäftigung mit der Geschichte näherte die historische Forschung um 1900 zumindest nach dem Verständnis ihrer Vertreter den sog. exakten Wissenschaften an – und Erich Caspar ist ein mustergültiger Vertreter dieser Forschungsrichtung gewesen, der „mit allen Mitteln einer verfeinerten Kritik“ und „unbeeinußt von jeder einseitigen Stellungnahme“ arbeitete43. Im Vorwort des ersten Bandes seiner Geschichte des Papsttums etwa erklärte er 1930 angesichts der trümmerhaften Überlieferung der ältesten kirchlichen Quellen44, der Historiograph des frühen Papsttums habe die „Tugend der Selbstbescheidung [zu] üben: [sich] der inneren und äußeren Schranken, welche dem Historiker gesetzt sind, bewußt [zu] bleiben und der Versuchung [zu] widerstehen, die dürftigen Quellen von einem a priori der Überzeugung aus interpretatorisch zu pressen, oder sich über ihre Unzulänglichkeit in das freie Reich der Spekulation zu erheben“. Noch weit entfernt von kritischen Zweifeln an einer von äußeren Umständen unbeeinussten Erörterung historischer Ereignisse sowie von der postmodernen Skepsis gegenüber jeglicher historischen Erkenntnismöglichkeit und ebenfalls noch nicht angekränkelt von den durch die Ergebnisse der modernen Hirnforschung genährten Zweifeln an einer allgemeingültigen Aussagekraft einzelner, durch den Erinnerungsprozess überformter Quellennachrichten vertrat Caspar einen methodisch gezügelten Quellenoptimismus, der die Gediegenheit seiner editorischen und darstellerischen Arbeiten bewirkte und diesen – trotz mancher zeitgebundener Interpretationsansätze – bis heute den Charakter von wichtigen Grundlagenwerken bewahrte. Mancher Rezensent von Caspars Büchern, die alle auf einer profunden Quellenkenntnis und der sicheren Handhabung der Quellenkritik beruhen, hat daher zu Recht die solide Quellenbeherrschung als einen Vorzug dieser Werke gerühmt; von „wesentliche[n] Fortschritte[n] auf einem ungewöhnlich schwierigen Forschungsgebiete“ dank der „philologisch-kritischen Methode“45 ist dabei die Rede oder von „umfassender Quellenkenntnis“ 41

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Vgl. Anm. 37. Vgl. Anm. 36. So Holtzmann, Erich Caspar (Anm. 3), S. 219, über Caspars Geschichte des Papsttums. Erich Caspar, Geschichte des Papsttums von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft, Bd. I, Tübingen 1930, S. VII. K[arl] Voigt, in: Historische Zeitschrift 121 (1920), S. 314 (Rez. über Pippin und die römische Kirche. Kritische Untersuchungen zum fränkisch päpstlichen Bunde im VIII. Jahrhundert, Berlin 1914, ebenda, S. 314–319).

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und Herausarbeitung des Gegenstandes „in selbständiger Forschung aus dem Rohstoff des Quellenmaterials“46. Caspars eigentlicher Doktorvater ist Scheffer-Boichorst gewesen, nach dessen Tode am 17. Januar 1902 betreute jedoch Michael Tangl das etwa ein halbes Jahr später beendete Promotionsvorhaben weiter. Die Wahl des Doktorvaters stellte dabei nicht nur eine Persönlichkeitsentscheidung dar, die den Promovenden als Mitglied einer bestimmten Schule auswies, sondern sie konnte auch eine Weichenstellung für die künftige Karriere bedeuten, insofern sie den jungen Gelehrten in ein personales Netzwerk einband und dadurch nützliche Verbindungen für die Zukunft schuf oder doch ermöglichte. Scheffer-Boichorst war in dieser Hinsicht nicht unbedeutend, sind aus seiner Schule doch immerhin zwölf Ordinarien hervorgegangen47. Bedeutsam für den weiteren Berufsweg waren aber auch die Fäden, die sich gerade in Berlin zur MGH knüpfen ließen, und nicht zuletzt die Freundschaften, die während des Studiums geschlossen wurden und sich Jahre später über das Zwischenmenschliche hinaus positiv auswirken konnten. Ein solch enger Freund dürfte für Caspar der 1878 geborene Karl Andreas Kehr gewesen sein. Dieser hatte bei Scheffer-Boichorst mit einer 1902 erschienenen Arbeit über „Die Urkunden der normannisch-sicilischen Könige“ promoviert, an welche Caspar mit seiner eigenen, nach neunsemestrigem Studium vorgelegten und ebenfalls 1902 publizierten Dissertation über „Die Gründungsurkunden der sizilischen Bistümer und die Kirchenpolitik Graf Rogers I. (1082–1084)“ und vor allem mit der sich daraus ergebenden großen Arbeit über Roger II. anknüpfen konnte48. Karl Kehr starb aber bereits 1903, woraufhin Caspar dessen kleine Studie über „Staufische Diplome im Domarchiv zu Patti“ aus dem Nachlass49 herausgab. Spätestens damals werden sich auch Kontakte zum achtzehn Jahre älteren Bruder des Frühvollendeten ergeben haben, die bald50 sichtbar wurden, bis zu Caspars Lebensende hielten und für die weitere akademische Lauf-

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Baethgen (Rez. über die Geschichte des Papsttums, Bd. II, wie Anm. 20), S. 345, 344. Vgl. Weber, Priester der Klio (Anm. 13), S. 255. Vgl. Caspar, Roger II. (Anm. 22), S. VI f. Die 1902 in Innsbruck erschienene Doktorarbeit ist als Exkurs auf S. 583–634 dieses Buches erneut publiziert worden. In: Quellen und Forschungen aus Italienischen Archiven und Bibliotheken 7 (1904), S. 171–181. Schon früh (vgl. dazu auch Holtzmann, Erich Caspar [Anm. 3], S. 218) hat Caspar für das von P. Kehr 1896 ins Leben gerufene Unternehmen der Italia Pontificia (vgl. dazu Rudolf Hiestand, 100 Jahre Papsturkundenwerk, in: derselbe [Hrsg.], Hundert Jahre Papsturkundenforschung. Bilanz – Methoden – Perspektiven [Abhandlungen der Akad. d. Wiss. zu Göttingen, Phil.-Hist. Kl., 3. Folge, 261], Göttingen 2003, S. 11–44) Zuarbeiten geleistet: Vgl. Erich Caspar, Kritische Untersuchungen zu den älteren Papsturkunden für Apulien, in: Quellen und Forschungen aus Italienischen Archiven und Bibliotheken 6 (1904), S. 235–271, aber auch die lobende Erwähnung durch P. Kehr im Vorwort des 1909 erschienenen Bandes 4 der Italia Pontificia (S. VI): „Grato quoque animo prosequimur Ericum Caspar Berolinensem, cuius schedis summo cum studio elaboratis, quae Apruntinas provincias respiciunt, nostro sane quidem more usi sumus.“ Auch in späteren Vorworten zu einzelnen Bänden der Italia pontificia wird Caspars gedacht: Bd. 8, hrsg. von Paul Fridolin Kehr, 1935, S. VIII (vgl. dazu auch K(arl) J(ordan), in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 50 [1935] S. 744); Bd. 9, hrsg. von Walther Holtzmann, 1962, S. V, und Bd. 10, hrsg. von Dieter Girgensohn, 1973, S. V.

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bahn keinesfalls unwichtig waren, ist doch die Rede von Paul Fridolin Kehr (1860–1944)51, einem international angesehenen und äußerst einussreichen Gelehrten und großen Wissenschaftsorganisator, der sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein regelrechtes (das Preußische [seit 1920: Deutsche] Historische Institut in Rom [seit 1903], die Preußischen Staatsarchive [seit 1915], schließlich auch das Kaiser Wilhelm-Institut für Deutsche Geschichte [seit 1918] und die MGH [seit 1919] umfassendes) Forschungsimperium schuf. Scheffer-Boichorst war darüber hinaus als Lehrer nicht nur wichtig, weil er dem Schüler neben anderem die moderne Methode der Mediävistik vermittelte und sein Kreis Möglichkeiten für die Zukunft eröffnete, sondern vor allem auch deshalb, weil er mit dem Hinweis auf das von Caspar schließlich gewählte Promotionsthema52 das künftige Arbeitsfeld des aufstrebenden Gelehrten absteckte: Italienorientierte Themen, zu denen in einem speziellen Sinne ja auch die Geschichte des Papsttums gerechnet werden darf, sollten das gesamte wissenschaftliche Leben des angehenden Hochschullehrers begleiten. Die Dissertation, mit welcher der Dreiundzwanzigjährige im Sommer 1902 den Doktorgrad erwarb, ist ein zeitübliches schmales Opusculum gewesen, aber es mündete ein in eine grundlegende, insgesamt 671 Druckseiten umfassende und um 277 nützliche Regesten53 hauptsächlich der Urkunden Rogers ergänzte, bis heute wegen der Quellennähe unersetzte54 Darlegung der Bildung und Formung der normannischen Monarchie durch Roger II. (1101–1154), die durchaus in europäischen Bezügen stand. Nur fünf Jahre nach der Promotion legte Caspar dann sein zweites Buch vor, mit dem er sich im Sommersemester 190655 habilitierte und 51



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Zu diesem vgl. außer dem Beitrag von Rudolf Schieffer in diesem Band auch Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft (Anm. 1), S. 292 f.; Josef Fleckenstein, Paul Kehr. Lehrer, Forscher und Wissenschaftsorganisator in Göttingen, Rom und Berlin, in: derselbe, Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge, Göttingen 1989, S. 469–489 [erstmals 1987, in: Hartmut Boockmann/Hermann Wellenreuther (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen (Göttinger Universitätsschriften, A/2), S. 240– 260]; Elm, Mittelalterforschung in Berlin (Anm. 12), S. 220–223, und Stefan Weiss, Paul Kehr – Delegierte Großforschung: Die „Papsturkunden in Frankreich“ und die Vorgeschichte des Deutschen Historischen Instituts in Paris, in: Ulrich Pfeil (Hrsg.), Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz (Pariser Hist. Studien, 86), München 2007, S. 36–57 (in dessen Paul-Kehr-Bibliographie, in: Quellen und Forschungen aus Italienischen Archiven und Bibliotheken 72 [1992], S. 374–437, bes. S. 433–437, auch die umfangreiche Literatur über P. Kehr erfasst ist). Vgl. Anm. 48. Vgl. etwa die knappe, aber lobende Anzeige von B[ernhard] Schm[eidler] (Anm. 20), nach der „das Buch eine vollständige, kritische und dennoch lebendig geschriebene Darstellung des bezeichneten Gegenstandes“ bietet und in der die Regesten besonders hervorgehoben werden: „… dagegen sei nachdrücklich auf die trefflichen, dem Werke beigegebenen Regesten verwiesen, die dasselbe jedem Forscher auf diesem Gebiete unentbehrlich machen dürfte“. Vgl. die Charakteristik des Buches durch Peter Herde im Vorwort (S. VII) zu der Darstellung von Hubert Houben, Roger II. von Sizilien. Herrscher zwischen Orient und Okzident, Darmstadt 1997, der seinerseits von einem „bahnbrechenden Werk“ Erich Caspars spricht (S. IX). Das erst in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts angelegte Personalblatt in PA Erich Caspar (Anm. 10) nennt – ebenso wie Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 118 – 1907 als Jahr der Habilitation, im etwas älteren Personalbogen (PA Erich Caspar [Anm. 10], Bl. 2) ist jedoch der Eintrag 1907 gestrichen und durch „26. Mai 1906“ ersetzt worden. Auch H[ans] E[rich] F[eine], in: Zeitschrift

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das 1909 erschien. Auch diesmal hatte er ein italisches Thema gewählt – „Petrus Diaconus und die Monte Cassineser Fälschungen. Ein Beitrag zur Geschichte des italienischen Geisteslebens im Mittelalter“ – und eine profunde Erörterung diffiziler Fälschungsverhältnisse urkundlicher wie historiographischer Natur und zugleich die facettenreiche Schilderung einer schillernden Fälscherpersönlichkeit vorgelegt, ein gelehrtes Opus, das von Paul Kehr56, einem der großen Diplomatiker seiner Zeit, als „sein bestes Werk“ und „librum eximium“ bezeichnet wurde. Im Alter von 28 Jahren hatte Erich Caspar somit die Eintrittskarte zum erlauchten und hochangesehenen Kreis der Mittelalterordinarien des Deutschen Reiches in der Tasche; er sollte noch vierzehn Jahre warten müssen, bis er Mitglied dieses Kreises werden konnte.

III. Die kulturelle, wirtschaftliche, gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts hatte gegen Ende dieses Säkulums nicht nur zu einer weltweit ausstrahlenden Blüte des deutschen Universitätswesens, sondern auch zu wichtigen Änderungen gerade im Lehrbetrieb der Geisteswissenschaften und damit auch der Geschichtswissenschaft geführt57: Die Zahl der Studenten stieg von 1870 bis 1914 etwa um das Viereinhalbfache (von 13.068 auf 60.853, und speziell in Berlin von 2.208 auf 8.024)58; die Philosophische Fakultät wurde im Zuge dieser Entwicklung zu der am stärksten frequentierten Abteilung im Universitätsbetrieb, schrieben sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs doch knapp 50% Prozent aller Studierender in ihr ein59. Natürlich wuchs – ein bekanntes Phänomen – die Zahl der Ordinarien nicht in gleichem Maße mit60, doch verdoppelte sich immerhin die Zahl der geisteswissenschaftlichen Lehrstühle und kam es zusätzlich zu einer Vermehrung der Extraordinariate und zu einem beachtlichen Anstieg der Privatdozenturen61. Allerdings waren die Extraordinarien materiell deutlich schlechter gestellt als die Lehrstuhlinhaber und erhielten die Privatdozenten – außer Hörergeldern – überhaupt keine festen universitären Bezüge, sie waren zu ihrer Existenzsicherung auf das Vermögen der Familie angewiesen oder mussten sich außeruniversitäre Einnahmequellen erschließen. In Berlin war für die Mittelalterhistoriker die MGH dafür ein geeigneter Ort62; Paul Kehr hat daher 1923 als

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für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 24 (1935), S. 435, und Krollmann, Caspar, Erich (Anm. 1), S. 101, nennen 1906 als das Jahr, in dem Caspar sich habilitierte bzw. Privatdozent wurde. Vgl. zum Folgenden K[ehr], (Anm. 3), S. 629, und das Vorwort zum 8. Band der Italia Pontificia (S. VIII, wie Anm. 50). Vgl. dazu wie zum Folgenden Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. 1849–1914, München 1995, S. 1209–1224. Vgl. dazu ebenda, S. 1211, Übersicht 112 I. Vgl. dazu ebenda, S. 1212, Übersicht 113: 49,6% im Zeitraum 1910/1914. Vgl. ebenda, S. 1219, Übersicht 115. Vgl. dazu und zum Folgenden ebenda, S. 1220. Vgl. dazu Elm, Mittelalterforschung in Berlin (Anm. 12), S. 219.

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Präsident der MGH zu Recht darauf hingewiesen, wie sehr die Berliner Universität in der akademischen Lehre von den habilitierten Mitarbeitern der MGH profitiert habe63. Rosig war die finanzielle Lage dieser Mitarbeiter dennoch nicht, und sie blieben weiterhin auf zusätzliche Einkünfte oder das familiäre Vermögen oder auf beides angewiesen. Eine 1903 ausgesprochene Bitte dieser Mitarbeiter um eine Gehaltserhöhung verdeutlicht die prekäre Situation schlagartig64: Beklagt wurde die Herabsetzung der Gehälter in den letzten Jahrzehnten, wobei man besonders darauf hinwies, dass „heute kein Mitarbeiter der Monumenta“ mehr leben könne „von den Gehältern der unteren Stufen, zumal den beiden ersten von 1 500 und 1 800 Mark“, wobei mit diesen Zahlen das Jahresgehalt gemeint war, das bei Lehrern damals zwischen 2.700 Mark auf der untersten Stufe und 4.800 bis 7.200 für Oberlehrer lag65 und von Ordinarien noch weit übertroffen worden ist. Um 1900 belief sich deren Jahreseinkommen in Berlin nämlich auf etwa 6.500 Mark zuzüglich von Vorlesungshonoraren66 und unter Umständen von weiteren Einnahmen und erlaubte manchem Gelehrten einen durchaus großbürgerlichen, von Bediensteten unterstützten Lebensstil. Etwa zwanzig Jahre später jedoch bestätigte Paul Kehr noch immer die unerquickliche Lage der MGH-Mitarbeiter in einer nach dem verlorenen Weltkrieg insgesamt verschlimmerten Situation mit einer Äußerung gegenüber einem Mitglied der Zentraldirektion der MGH, als er mit Blick auf die Entlohnung der langjährigen habilitierten Mitarbeiter, die noch auf keinen Lehrstuhl berufen worden waren, von „gänzlich unzureichenden Gehältern“ sprach67 und dabei zugleich die Frustration hervorhob, die das lange und manchmal auch vergebliche Warten auf einen Ruf bei diesen „unlustige(n) und unwillige(n) Herren und Familienvätern“ auslöste. Auch Caspar sollte die bittere Erfahrung der Unterbezahlung und des langen Wartens machen. Erich Caspar ist, nachdem er zuvor für Kehrs „Italia Pontificia“ tätig gewesen war68, am 24. September 1908 zum Mitarbeiter bei den Monumenta bestellt69 und der Abteilung Epistolae, die damals von Michael Tangl geleitet wurde, zugeteilt worden. Das Monatsgehalt 63

������������������������������������������������������������������������������������������������������� Brief an den Ministerialrat im preußischen Kultusministerium W. Richter vom 20. Februar 1923, ed. Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“ (Anm. 30), S. 157 Nr. 5, hier S. 160: „Und dabei brachten und bringen die Monumenta für die Universitätsverwaltung von jeher grosse Opfer, indem sie ihren Assistenten bereitwillig gestatteten daneben als Privatdozenten tätig zu sein …“. 64 ������������������������������������������������������������������������������������������������������ Vgl. die Bitte der „Berliner Mitarbeiter“ an die Zentraldirektion um Gehaltserhöhung, ediert von Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“ (Anm. 30), S. 156 Nr. 4 (das nachfolgende Zitat auf S. 156). Zu den Einkommen der Mitarbeiter allg. vgl. auch ebenda, S. 184 Anm. 162 und 164. 65 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3 (Anm. 57), S. 1208. 66 ������������������������������������������������������������������������������������������������������ Vgl. dazu Ludwig Elster, Die Gehälter der Universitätsprofessoren und die Vorlesungshonorare unter Berücksichtigung der in Aussicht genommenen Reformen in Preußen und Oesterreich, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik III/13 (1897), S. 193–227, bes. S. 194, 210, 212–214. 67 Vgl. dazu wie zum folgenden Zitat Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“ (Anm. 30), S. 96, 95. 68 Vgl. Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 117. 69 Vgl. dazu wie zum Folgenden das Einweisungsschreiben des damaligen MGH-Präsidenten Reinhold Koser in den Personalakten E. Caspar, Rep. MGH 202 (Anm. 9); vgl. auch das Personalblatt in PA Erich Caspar (Anm. 10). Zur Lage in der Epistolae-Abteilung vgl. Bresslau, Geschichte der Monumenta (Anm. 39), S. 721 f.

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betrug 225 Mark. Mit 2.700 Mark Jahreseinkommen aus seiner neuen Tätigkeit stand er also auf derselben Gehaltsstufe wie ein Junglehrer und konnte damit finanziell kaum größere Sprünge machen. Ohne Zweifel ist er weiterhin auf Zuschüsse aus dem wohlsituierten Elternhaus und auf zusätzliche Einnahmen angewiesen gewesen70. Dass Caspar solche Einkünfte benötigte, belegt ein spätes Beispiel aus dem November 1919, als er in wirtschaftlich besonders schwierigen Zeiten für monatlich 500 Mark Redaktionsmitarbeiter der literarischen Gesellschaft „Die Fremde Presse“ werden wollte, was, obwohl das Anliegen offenkundig von Paul Kehr unterstützt worden ist, vom für den MGH-Mitarbeiter, der 1913 zum Direktorialassistenten und damit in den Reichsdienst71 aufgestiegen war, rechtlich zuständigen Reichsinnenministerium abgelehnt worden ist72. Offenkundig war man in diesem Ministerium darüber verärgert, dass man erst nach getroffener Vereinbarung über Caspars Nebenverdienst unterrichtet worden war, obwohl das Reichsbeamtengesetz etwas anderes vorschrieb, nämlich die Bitte um Genehmigung der Nebentätigkeit. Immerhin gestattete man aber „im Interesse des ungestörten Forterscheinens des Rotbuchs der Auslandspresse“, an dessen Redaktion Caspar mitwirkte, die Nebentätigkeit erst zum 31. Dezember 1919 zu beenden. Denkwürdiger ist die zweite Begründung, die für die Ablehnung der Nebentätigkeit angeführt wird: Caspar habe während des Krieges beim Kriegspresseamt gedient und in dieser Zeit seine eigentliche Aufgabe bei der MGH nicht wahrnehmen können, eine weitere Minderung seines regulären Einsatzes sei nicht wünschenswert, da „er sich jetzt mit allen Kräften an den in Rückstand gekommenen wissenschaftlichen Arbeiten des Unternehmens“ beteiligen solle. Caspar war, nachdem er, wie bereits erwähnt, 1913 „etatmäßiger“ und damit pensionsberechtigter Direktorialassistent bei den MGH geworden war73, 1914 – acht Jahre nach seiner Habilitation – zum nichtbeamteten Professor ernannt worden74; der Ruf auf ein Ordinariat ließ aber noch auf sich warten, und der Ausbruch des Weltkriegs machte vorerst alle Hoffnungen auf einen weiteren Aufstieg vergeblich. Caspar wurde zwar nicht zu den Waffen gerufen, sondern rückte „als Landsturm ohne Waffe“ ein und ist – nach einer Zu der Notwendigkeit solcher zusätzlicher Einkünfte für Privatdozenten vgl. Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“ (Anm. 30), S. 95. 71 ���������������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. das Personalblatt in PA Erich Caspar (Anm. 10): „planmäßiger Direktorialassistent bei den Monumenta Germaniae historica“, und ebenda den Personalbogen (Anm. 55): „etatmäßiger Direktorialassistent“, sowie die Mitteilung des „Reichsminister des Innern“ über Caspars Gesuch um Entlassung „aus dem Reichsdienst“ in den Personalakten Erich Caspar bei den MGH (Anm. 9). 72 Die Angelegenheit wird durch zwei Schreiben dokumentiert, die unter den Personalakten Caspars bei den MGH erhalten sind (Anm. 9). Das erste Schreiben (vom 3. November 1919 „An den Generaldirektor der Preuß. Staatsarchive Herrn Geheimen Oberregierungsrat Professor Dr. Kehr Hochwohlgeboren“) enthält den Dank der Gesellschaft „Die Fremde Presse“ für das Entgegenkommen hinsichtlich Caspars Mitarbeit, das zweite aus dem Reichsinnenministerium vom 20. November 1919 die Ablehnung einer Freistellung, aus der im Folgenden zitiert wird. 73 Vgl. neben Anm. 71 auch Bresslau, Geschichte der Monumenta (Anm. 39), S. 726. 74 Vgl. das Personalblatt in PA Erich Caspar (Anm. 10) sowie Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 119. 70



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kurzen Zeit beim Roten Kreuz – im Dezember 1914 aufgrund seiner italienischen Sprachund Landeskenntnisse zunächst der Pressestelle des „stellvertretenden Generalstabs“ und dann für die Jahre 1915 bis 1918 dem Kriegspresseamt unterstellt worden, um die „Auslandpresse Italien“ zu analysieren75. Es lag also nicht an ihm, wenn er sich über Jahre hinweg seiner eigentlichen Aufgabe nicht in vollem Umfange widmen konnte. Im Gegenteil: Der Einsatz für Kaiser und Vaterland hat ohne Zweifel das eigene Fortkommen behindert – umso unverständlicher ist zumindest dem rückblickenden Betrachter die ablehnende Härte des Ministeriums gegenüber der Bewilligung eines Zusatzverdienstes. 1920 dann, nach vierzehn Jahren des Wartens, kam endlich der Ruf auf einen Lehrstuhl. Wie erlösend dies für Caspar gewesen ist, zeigt eine brieiche Äußerung gegenüber Paul Kehr, dem Caspar natürlich weiterhin verbunden blieb76 und dessen Einuss er den langersehnten Erfolg (mit) zu verdanken hatte. Am 7. Juli 1920 schrieb er dem „verehrte(n) Herr(n) Geheimrat“77: „Da es mir gestern nicht gelungen ist, Sie zu treffen, so beeile ich mich, Ihnen heute schriftlich mitzuteilen, daß der Ruf nach Königsberg nun glücklich da ist. Geh(eim)rat Wende hatte mich gestern zitiert und ich habe natürlich ohne Ziererei und Bedenkzeit angenommen. Ich bin mir bewußt, wie ausschlaggebend für diese Lösung Ihre energische Nachhilfe gewesen ist und spreche Ihnen für diese Wiederottmachung meines etwas festgefahrenen Lebensschiffs meinen herzlichen Dank aus.“ In Königsberg folgte er Albert Brackmann nach, dem ältesten Schüler und Mitstreiter Kehrs78, mit dessen weiterer Karriere Caspars Werdegang auch zukünftig verknüpft blieb. Das Ordinariat garantierte Caspar – sieht man von den wirtschaftlich schwierigen Zeiten der frühen Weimarer Republik ab – endlich eine ansehnliche Besoldung, die sich nach zwei weiteren Rufen schließlich in den Dreißiger Jahren auf ein Nettojahresgehalt von etwa 11.460 Reichsmark und eine zusätzliche „Honorargarantie“ von (ebenfalls netto und jährlich) 5.215 Reichsmark belief79. Noch wichtiger aber dürfte die Steigerung des Sozialprestiges gewesen sein. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts war das Ansehen der Wissenschaften und ihrer Vertreter gewaltig gestiegen. Davon profitierten natürlich alle Wissenschaftler, in einem überaus

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Vgl. die vorhergehende Anm. sowie Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 119, und Michael Tangl, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae historica 1916–1918, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 43 (1922), S. III–XIII, bes. S. IV. Unter den bei den MGH gelagerten Archivalien (vgl. Anm. 9) finden sich fünf Briefe Caspars an Kehr aus dem Jahr 1920, drei aus dem Jahre 1921 und vier nicht genau datierte aus den folgenden Jahren. Sie beschäftigen sich mit akademischen Angelegenheiten, Fragen und Kosten der Drucklegung des Registers Gregors VII. und ähnlichem. Vgl. ebenda den ersten Brief vom 7. Juli 1920. Vgl. Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft (Anm. 1), S. 58 f., und Elm, Mittelalterforschung in Berlin (Anm. 12), S. 223 f., sowie Boockmann, Die Königsberger Historiker (Anm. 13), S. 261. Vgl. das Personalblatt in PA Erich Caspar (Anm. 10).

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großen Maße jedoch die ordentlichen Professoren80: „Im Bildungsbürgertum genoß Wissenschaft als Beruf … eine ungeheure Hochschätzung. In ihm hatte auch die neuhumanistische Bildungsreligion die tiefsten Wurzeln geschlagen. Häufig herrschte das Bewußtsein vor, einer ‚säkularen Priesterschaft‘ anzugehören. Das verstärkte die sozialaristokratischen Züge der kleinen Korporationen der Universitätslehrer.“ Da sich an dieser Einstellung trotz aller Schwierigkeiten, die die Jahre der Weimarer Republik bestimmten, kaum etwas änderte und auch das Universitätswesen trotz aller Belastungen prinzipiell weiter gedieh81, gehörte auch der bald einundvierzigjährige Erich Caspar seit dem 1. Oktober 1920 diesem sozialaristokratischen Kreis der weltlichen Wissenschaftspriesterschaft an. Die langen Jahre bei den MGH waren aber nicht nur eine Zeit des Wartens gewesen, sie brachten durch die neue Tätigkeit auch eine Erweiterung des wissenschaftlichen Blickfeldes. Als Mitarbeiter des seit 1819 bestehenden, groß angelegten Unternehmens einer Edition der mittelalterlichen Geschichtsquellen wurde Caspar nämlich zunächst die Herausgabe des Briefregisters von Papst Johannes VIII. (872–882) anvertraut82 und dann die kritische Ausgabe des für die Mittelalterforschung besonders bedeutenden Briefregisters Papst Gregors VII. (1073–1085). Damit war ihm eine langwierige Aufgabe übertragen worden, deren Bewältigung durch den Weltkrieg und dessen materielle Folgen stark behindert worden ist, deren sorgfältige und vorbildliche Ausführung aber zu bleibenden Ergebnissen führte. Erschienen sind die Editionen 191283 und 1920/192384 als dauerhafte, den Namen des Herausgebers über Generationen hinweg in Erinnerung bringende Leistungen von eminenter Bedeutung für die mediävistische Geschichtswissenschaft. Die mühevolle und zugleich äußerst fruchtbare Herausgebertätigkeit hat Caspar aber schließlich auch auf das Betätigungsfeld verwiesen, das seine gesamten Ordinarienjahre beherrschen sollte und mit dem sein Name ebenfalls auf Dauer verbunden bleiben wird: auf die Geschichte des Papsttums.

IV. In Königsberg bezog Caspar in der Herzog Albrechtallee 31–33 Quartier85. Die ostpreußische Universität war gerade für die Geschichtswissenschaft nicht unbedeutend und diente manchem Gelehrten als Sprungbrett für die weitere Karriere, nicht zuletzt auf dem Weg 80



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Zum Folgenden vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3 (Anm. 57), S. 1223 (wo das folgende Zitat zu finden ist) und 1220. Vgl. dazu Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. 1914–1949, München 2003, S. 462–472, bes. S. 463–465 und 470. Vgl. Bresslau, Geschichte der Monumenta (Anm. 39), S. 734; Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 119 (auch zum folgenden). MGH Epist. VII = Epist. Karolini aevi V, pars 1, Berlin 1912 (pars 2 ist erst 1928 erschienen, doch findet sich der Hauptanteil von Caspars Editionsbeitrag im ersten Teil, vor allem auf S. 1–272: Registrum Iohannis VIII. papae; vgl. Bresslau, Geschichte der Monumenta [Anm. 39], S. 744). Gregorii VII Registrum (MGH Epist. Sel., II) Fasc. 1, Berlin 1920; Fasc. II, Berlin 1923. Vgl. die in Anm. 76 genannten Briefe.

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nach Berlin86. Für Caspar jedoch bedeuteten die Königsberger Jahre, „vielleicht die schönste Zeit seines Lebens“, „die Zeit der ersten Liebe im Berufsleben“87, eine Epoche erfüllten Professorendaseins, in welcher die akademischen Ämter bis hin zum Rektorat durchlaufen wurden88 und in der sich ebenfalls wissenschaftliche Ehrungen einstellten89: 1924 die Mitgliedschaft in der Königsberger Gelehrten Gesellschaft und 1925 die Aufnahme in die Società Romana di storia patria. Vor allem jedoch reifte am Pregel der Plan zu einer monumentalen, aus den Quellen erarbeiteten „Geschichte des Papsttums von den Anfängen bis auf die Höhe der Herrschaftsstellung im Mittelalter“90. Bereits 1914 hatte Caspar unter dem Titel „Pippin und die römische Kirche“ „Kritische Untersuchungen zum fränkisch päpstlichen Bunde im VIII. Jahrhundert“ vorgelegt und dafür den Professorentitel verliehen bekommen91, und seither hatte ihn die Geschichte des Papsttums wie so manchen anderen Historiker evangelischen Bekenntnisses92 nicht mehr losgelassen. Ein Jahrzehnt später verdichtete sich Caspars Bemühen um die Papstgeschichte, und die Frucht seiner Arbeit bildeten – obwohl das Gesamtwerk unvollendet blieb – zwei stattliche Bände mit mehr als 1.450 Seiten Umfang, die auch heute noch als „wohl umsichtigste und quellentiefste Aufarbeitung der Frühzeit [des Papsttums] bis zum 8. Jahrhundert“93 gelten dürfen. Glänzende Schilderungen von einzelnen Pontifikaten und tiefschürfende Erörterungen von manchmal trüben Quellen sowie gelehrte Darlegungen historischer, aber auch ideengeschichtlicher Entwicklungen verbindet diese „Aufarbeitung“ zu einer profunden Gesamtdarstellung des frühen Papsttums, die manches Ereignis und manchen Zusammenhang in neuem Lichte erscheinen ließ94. Natürlich sind nicht alle Ergebnisse Caspars, die – wie das auch bei den früheren Werken der Fall gewesen ist – durch begleitende Studien95 ergänzt und vorbereitet wurden, ohne Vorbehalte akzeptiert worden; die Vorstellung etwa von einer Entstehung der Lehre vom päpstlichen Primat in Nordafrika und nicht in Rom konnte sich nicht durch-

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Vgl. Boockmann, Die Königsberger Historiker (Anm. 13), etwa S. 260–265, 277. Seeberg, Trauerrede am Sarg Erich Caspars (Anm. 2), S. 108. Vgl. Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 108, sowie Baethgen, Erich Caspar (Anm. 8). Die Rektoratsrede von 1928 handelte „Vom Wesen des Ordensstaates“. Vgl. das Personalblatt in PA Erich Caspar (Anm. 10). Vgl. Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 120. Vgl. Anm. 74 sowie Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 119. Vgl. dazu Horst Fuhrmann, Von Petrus zu Johannes Paul II. Das Papsttum: Gestalt und Gestalten, München ²1984, S. 11 f. (ergänzter ND unter neuem Namen 2005: Die Päpste: Von Petrus zu Benedikt XVI.), und Harald Zimmermann, Von der Faszination der Papstgeschichte, besonders bei Protestanten, oder Gregor VII. und J. F. Gaab, in: Jahrbuch für Geschichte des Protestantismus in Österreich 96 (1980 [Festgabe für Wilhelm Kühnert]), S. 53–73. So lautet das Urteil, das H. Fuhrmann in seinem in der vorhergehenden Anm. genannten Buch (auf S. 12) fällt. Vgl. dazu etwa die umfänglichen Besprechungen von Hans Erich Feine über den Ersten Band der Geschichte des Papsttums (wie Anm. 20) und von Friedrich Baethgen über den Zweiten Band (wie Anm. 20). Vgl. zu diesen das Schriftenverzeichnis Erich Caspars am Ende dieser Ausführungen.

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setzen96. Die Gesamtleistung aber bleibt eminent und allseits anerkannt, zumal hinsichtlich der Quellenerfassung und -erörterung Caspars Geschichte des Papsttums noch lange ein Referenzwerk bleiben wird, auch wenn sich Interpretationsansätze verändern und Verstehensperspektiven langsam verschieben. Caspars Königsberger Jahre waren allerdings nicht nur die hohe Zeit der Papsttumsforschung, sie brachten als Reverenz vor dem genius loci auch die Erweiterung des historischen Blickfeldes durch die Hinwendung zur frühen Geschichte des Deutschen Ordens und seines Herrschaftsgebildes im späteren Ostpreußen. Die 1924 vorgelegte Studie über „Hermann von Salza und die Gründung des Deutschordensstaates in Preußen“, nach einem jüngeren Kenner der Deutschordensgeschichte „auch heute noch die beste Abhandlung über dieses schwierige und oft diskutierte Problem“97, geht, wie so viele Arbeiten Caspars, von Urkundenuntersuchungen aus und beschreibt „in feinsinniger Form“98 das Bemühen des Hochmeisters Hermann von Salza um eine doppelt abgesicherte und unabhängige Positionierung des preußischen Ordenslandes zwischen den widerstreitenden Gewalten Papsttum und Kaisertum sowie um die Gleichrangigkeit des Hochmeisters mit den Reichsfürsten, ohne dabei ein Fürst des Reiches zu werden. Begleitet wurde Caspars Hinwendung zur „preußischen“ Geschichte durch die bereits erwähnte Mitgliedschaft in der Königsberger Gelehrten Gesellschaft und von dem Beitritt zum Verein für die Geschichte von Ost- und Westpreußen, dessen „Mitteilungen“ Caspar für 1928 und 1929 als Vorstandsmitglied ausweisen99.

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Vgl. Erich Caspar, Primatus Petri. Eine philologisch-historische Untersuchung über die Ursprünge der Primatslehre, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 16 (1927), S. 253–331, sowie derselbe, Geschichte des Papsttums (Anm. 44), Bd. I, S. 72–83, und dazu H[ans] von Campenhausen, in: Historische Zeitschrift 143 (1931), S. 104–107 (Rezension), mit der Feststellung auf S. 107: „So hat Caspars Studie die ganze Frage des römischen Primats in sehr förderlicher Weise wieder in Fluß gebracht. Aber sie selbst ist in ihrem Ergebnis doch ein Irrweg gewesen, und die alte ‚wahrscheinliche‘ Anschauung über die Ursprünge des Primats wird sich auch in Zukunft behaupten müssen ...“. Vgl. dazu etwa G. Krüger, in: Historische Zeitschrift 143 (1932) S. 107–112 (Rezension über den ersten Band der Geschichte des Papsttums), bes. S. 109. – Andere Werke Caspars sind ebenfalls nicht ohne Widerspruch geblieben (vgl. etwa die Besprechung von K. Voigt über Pippin und die römische Kirche [Anm. 45], bes. S. 314); die Berliner Berufungskommission hebt dies in der Begründung ihres Listenvorschlags vom 20. Juli 1929, AHUB, Phil. Fak. Nr. 1474 (Anm. 10), Bl. 444/445, auch eigens hervor: „Wurden seine früheren Bücher über ‚Roger II. und die Gründung der normannischen Monarchie‘ (1904), über ‚Petrus Diaconus und die Montekassineser Fälschungen‘ (1909) und über ‚Pippin und die römische Kirche‘ (1924 [sic statt 1914!]) in ihren Ergebnissen vielfach bestritten, so hat er mit seiner kleinen Schrift über ‚Hermann von Salza und die Gründung des Deutschordensstaates in Preussen‘ (1924) und vor allem mit dem scharfsinnigen und tief eindringenden Buch über ‚Die älteste römische Bischofsliste‘ (1926), einer Vorarbeit für die grosse Papstgeschichte des Mittelalters, deren erster Band jetzt vor dem Abschluss steht, einen starken Erfolg gehabt.“ Boockmann, Die Königsberger Historiker (Anm. 13), S. 262. Franz Kampers, in: Historisches Jahrbuch 45 (1925), S. 393 (Rezension). Vgl. den Jahresbericht für das Jahr 1928, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen 3/4 (1929), S. 49–51, hier S. 50: „Die satzungsgemäß ausscheidenden Vorstandsmitglieder, die Herren Professor Dr. Caspar, Archivdirektor Dr. Karge, … wurden einstimmig wiedergewählt.“

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Trotz der in jeder Hinsicht erfolgreichen Zeit in Königsberg und trotz der Verankerung in den wissenschaftlichen Institutionen der Region hielt es den Altrektor Caspar nicht in der Stadt Immanuel Kants. Vielmehr nahm er einen Ruf nach Freiburg an, wo er am 1. April 1929 als Nachfolger Georg von Belows100, der ähnlich wie Caspar ein Erforscher staatlicher Strukturen, Zusammenhänge und Gebilde war, seinen Dienst antrat und in der Lessingstr. 11 wohnte101. Doch sollte das Wirken an der Dreisam nur von kurzer Dauer sein und hinterließ deshalb im wissenschaftlichen Œuvre Caspars auch keine Spuren. Bereits 1930 wechselte er nämlich nach Berlin, die Nachfolge von Albert Brackmann hatte geregelt werden müssen102. Mit der Rückkehr in die Heimat, die Stadt und Universität Berlin für Caspar auch nach zehnjährigem Aufenthalt außerhalb der Reichshauptstadt wohl immer noch darstellten, erfüllte sich offenbar ein Lebenstraum, um dessen Verwirklichung freilich gebangt werden musste. Caspar war nämlich nicht konkurrenzlos bei der Kandidatenauswahl für Berlin, ja, er war noch nicht einmal der Wunschkandidat. Dies war vielmehr der Bonner Ordinarius Wilhelm Levison103, wie Caspar jüdischer Herkunft und ein eifriger Editor bei den MGH, mit dem sich Caspar auf der Berufungsliste den ersten Platz „pari loco“ vor Robert Holtzmann (auf Patz 2), Friedrich Baethgen und Ernst Perels (beide ohne wirkliche Plazierung) teilen musste. An Levison ist dann auch der Ruf ergangen, was Caspar „mit Recht sehr gedrückt“ hat, wie der Freiburger Professor Heinrich Finke in einem Brief vom 29. Dezember 1929 an Aloys Schulte nach Bonn mitteilte104, nicht ohne zu betonen, dass er Levison die Berufung gönne, „denn sie ist wohlverdient“. Nachdem Levison den Ruf jedoch am 13. Januar 1930 abgelehnt hatte, wegen der „Befürchtung, daß (s)eine körperlichen Kräfte“ den neuen Anforderungen „auf die Dauer nicht gewachsen“ seien105, schlug für Caspar die Stunde der Heimkehr: Er ließ sich in der Nikolsburger Straße 6 in 100



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Zu diesem vgl. Clemens Bauer, Die Freiburger Lehrstühle der Geschichtswissenschaft vom letzten Jahrzehnt des 19. bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, in: derselbe u. a. (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Freiburger Philosophischen Fakultät (Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 17), Freiburg im Breisgau 1957, S. 183–202, bes. S. 187–190, 194 f., sowie Otto Gerhard Oexle, Ein politischer Historiker: Georg von Below (1858–1927), in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 283–312. Vgl. das Ernennungsschreiben des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 20. Mai 1930 (PA Erich Caspar [Anm. 10], Bl. 1) sowie das Personalblatt (ebenda) und Holtzmann, Ansprache bei der Trauerfeier (Anm. 4), S. 121. Vgl. die vorhergehende Anm. sowie (auch für das folgende) die Begründung des Listenvorschlages durch die Berufungskommission der Berliner Universität vom 20. Juli 1929: AHUB, Phil. Fak. Nr. 1474 (Anm. 10), Bl. 441–452. Zu diesem vgl. Theodor Schieffer, Wilhelm Levison, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 40 (1976), S. 225–242. Max Braubach, Zwei deutsche Historiker aus Westfalen. Briefe Heinrich Finkes an Aloys Schulte, in: Westfälische Zeitschrift 118 (1968), S. 9–113, hier S. 101 f. mit Anm. 313: „Die Berliner Berufung hat unseren C. [= Caspar] mit Recht sehr gedrückt; doch gönne ich sie Eurem L. [= Levison] gern, denn sie ist wohlverdient.“ Brief Wilhelm Levisons vom 13. Januar 1930 an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin: AHUB, Phil. Fak. Nr. 1474 (Anm. 10), Bl. 464. Vgl. dazu aber auch Schieffer, Wilhelm Levison (Anm. 103), S. 233 f.

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Berlin-Wilmersdorf nieder und trat seinen neuen Dienst am 1. Oktober 1930 an106; keine dreieinhalb Jahre blieben ihm mehr für sein akademisches Wirken und die wissenschaftlichen Forschungen. Diese konzentrierten sich nun völlig auf die Geschichte des Papsttums: 1930, im Jahr des Wechsels nach Berlin, erschien der erste Band dieses monumentalen Unternehmens, nur drei Jahre später, 1933, im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, folgte bereits der zweite. Daneben erschienen in den dreißiger Jahren mit einer einzigen Ausnahme nur noch Arbeiten zur Papstgeschichte107. Aber auch der dritte Band der Geschichte des Papsttums wurde in Angriff genommen, weswegen Ulrich Gmelin 1935 im vierundfünfzigsten Jahrgang der Zeitschrift für Kirchengeschichte die Darlegungen über „Das Papsttum unter fränkischer Herrschaft“ aus dem Nachlass seines Lehrers herausgegeben konnte. Daneben liefen die akademischen Verpichtungen wie gewohnt weiter, und Caspar versuchte erfolgreich, seinen Studenten in mit Engagement gehaltenen Lehrveranstaltungen das wissenschaftliche Rüstzeug eines Mittelalterhistorikers beizubringen. Die Lehre war ihm108, wenn auch nicht immer Lust, so doch keine Last; sie konnte ihn beglücken, wenn es gelang, sie aus der Forschung, aus dem eigenen wissenschaftlichen Wirken und Werken heraus zu gestalten, und ein Austausch der Gedanken in angeregter Diskussion möglich war. Sein umgängliches Gemüt, ausgleichend, wenn nötig, und anfeuernd in den Seminarsitzungen, sein geselliges Talent halfen ihm offenbar, Zugang zu den Studenten zu finden, von denen einer, Wolfgang Pewesin, in seiner Gedenkrede über den geachteten Verstorbenen mit pathetischem Aplomb und innerlicher Zuneigung verkündete109: „Als Steuermann, der sich seiner Aufgabe mit ganzer Kraft widmete, war er [Caspar] am Schlusse der Doppelstunden wohl ermattet von der Mühe, aber zugleich erhoben und stolz in dem Wissen, an einem Werke gewirkt zu haben, das wichtig war.“ Doch während der akademische Alltag seinen vertrauten Gang nahm, braute sich schon das Verhängnis zusammen, das Deutschland verändern und Caspar zur Verzweifelung treiben sollte.

V. Ob und, wenn ja, wie Caspar die politischen Veränderungen wahrnahm, die sich in den frühen dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts anbahnten, ist ungewiss. Ob er ein politischer Mensch war, steht ebenfalls nicht fest; Mitglied einer politischen Partei ist er jedenfalls niemals110 gewesen. Spätestens nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten jedoch 106



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Vgl. das Personalblatt in PA Erich Caspar (Anm. 10) und Kürschners Deutschen Gelehrten-Kalender 1935 (Anm. 1), S. 190. Vgl. dazu Caspars Schriftenverzeichnis am Ende dieser Ausführungen. Vgl. dazu und zum Folgenden U. Gmelin und W. Pewesin in ihren Gedenkworten (siehe Anm. 7) über den Lehrer Erich Caspar. Pewesin, Erich Caspar als Lehrer (Anm. 7), S. 124. Vgl. das Personalblatt in PA Erich Caspar (Anm. 10).

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muss ihm das Unheil, das ihm, dem preußischen Protestanten nach Selbstverständnis und Gesinnung, als spätem Abkömmling jüdischer Vorfahren drohte, mit ahnungsvollem Grauen bewusst geworden sein. Die Nürnberger Gesetze wurden zwar erst 1935 erlassen, aber bereits zuvor hatte die Bedrängung ‚der Juden‘ eingesetzt. Schon am 7. April 1933 war das Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Kraft getreten111, das vor allem einer Entfernung der Nichtarier aus der Beamten- und damit auch aus der Professorenschaft diente (allerdings bis zu den Gesetzen von 1935 auch noch Ausnahmen vorsah, von denen in Berlin Ernst Perels und Erich Caspar profitieren konnten). Unverkennbar baute sich seit 1933 jedoch eine antijüdische Stimmung auf. Stellte um 1930 die universitäre Integration von jüdischen Lehrstuhlinhabern (die etwa fünf Prozent aller Ordinarien ausmachten) offenbar kein Problem dar112, favorisierte die Berliner Universität für ihre Mittelalterlichen Lehrstühle doch immerhin drei Professoren jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung (nämlich Wilhelm Levison, Erich Caspar und Ernst Perels113), so vergiftete sich die akademische Atmosphäre doch zusehends. Ob es gegen Caspar zu Aktionen nationalsozialistischer Studenten gekommen ist, wie sie Perels bereits vor der Machtergreifung erleiden musste114, ist nicht bekannt, doch können ihm solche Vorfälle nicht entgangen sein. Vor allem jedoch verspürte er in anderen, ihn selbst tangierenden Angelegenheiten die Verschärfung des Klimas. Als Mitglied des Redaktionsstabes der Historischen Zeitschrift kann ihm kaum die bei dem renommierten Publikationsorgan einsetzende Verdrängung jüdischer Mitarbeiter entgangen sein115. Ob er selbst auch, seit einigen Jahren zusammen mit Erich Seeberg Herausgeber der Zeitschrift für Kirchengeschichte116, unmittelbare Auswirkungen der antisemitischen Politik des neuen Regimes zu spüren bekam, bleibt freilich unbekannt; doch hatte er vielleicht von Paul Kehr erfahren, dass die nationalsozialistische Jagd auf jüdische Wissenschaftler eingesetzt hatte, hatte dieser als Präsident der MGH doch im April 1933 eine Anweisung des Reichs-

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Vgl. dazu allg. Ulrich von Hehl, Nationalsozialistische Herrschaft (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 39), München ²2001, S. 22 f., und Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln ³1970 (ND 2003), S. 233 f. und 277, sowie speziell und vor allem zum folgenden Elm, Mittelalterforschung in Berlin (Anm. 12), S. 230 f. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4 (Anm. 81), S. 469. Dieser erhielt 1931 in Berlin die Professur für Historische Hilfswissenschaften. Vgl. dazu Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft (Anm. 1), S. 433, aber auch schon den Berufungsvorschlag von 1930 für die Nachfolge Brackmann, in dem Perels lobend erwähnt wird: AHUB, Phil. Fak. Nr. 1474 (Anm. 10), Bl. 448. Vgl. Elm, Mittelalterforschung in Berlin (Anm. 12), S. 231; allg. zu solchen Aktionen gegen missliebige Professoren vgl. Bracher, Die deutsche Diktatur (Anm. 111), S. 291, und Klaus Hildebrand, Universitäten im „Dritten Reich“ – Eine historische Betrachtung, in: Joachim Scholtyseck/Christoph Studt (Hrsg.), Universitäten und Studenten im Dritten Reich. Bejahung, Anpassung, Widerstand (Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli, 9), Berlin 2008, S. 13–20, bes. S. 13–16. Vgl. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 13), Stuttgart 1966, S. 283, 291. Vgl. Holtzmann, Erich Caspar (Anm. 3), S. 219.

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innenministeriums pariert 117, jüdischen Mitarbeitern „bis auf weiteres Urlaub zu erteilen unter Enthebung von ihren Dienstgeschäften“, indem er kühl und keinesfalls korrekt auf dieses Ansinnen antwortete: „Auf den mir durch Schnellbrief zugegangenen Erlass … beehre ich mich zu berichten, dass während meiner Amtsführung kein jüdischer Beamter, Angestellter oder Arbeiter beschäftigt worden ist“. Wenn die Räume der MGH auch in den nächsten Jahren zu einem kleinen Refugium gefährdeter Gelehrter geworden sind und die Editionsgemeinschaft unter der Führung Carl Erdmanns Distanz zum neuen Regime zu halten suchte118, so war doch nicht abzusehen, wie lange noch im Stile Kehrs lapidare Reaktionen auf antijüdische Ansinnen möglich und hilfreich waren; die Geisteswissenschaften insgesamt und die MGH im besonderen standen jedenfalls unter nationalsozialistischer Beobachtung119. Mit dem Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 und der Übernahme nun auch noch des Präsidentenamtes durch Adolf Hitler verfestigten sich die staatlichen Machtverhältnisse weiter im Sinne einer nationalsozialistischen Diktatur120. Ohne gesetzliche Grundlage und noch vor Absegnung der neuen staatlichen Verhältnisse durch ein Plebiszit, das erst am 19. August 1934 stattfand, hatte die Wehrmachtsführung das Heer bereits am Todestag des greisen Feldmarschalls und Reichspräsidenten durch einen Eid persönlich auf den Führer verpichtet; Ende August folgten dann die Beamten nach, also auch die Professoren, die sich durch einen Schwur direkt gegenüber dem „Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler,“ verpichten und darüber einen formalisierten, auf den August 1934 ausgestellten „Vereidigungsnachweis“ ausstellen mussten. Auch Erich Caspar konnte sich dieser Picht nicht entziehen, kam ihr aber erst am 22. Oktober 1934 nach, wie die eigenhändige Datumsänderung auf dem Vereidigungsnachweis-Formular bezeugt121. Ob die späte Leistung des Eides nur zufällig bedingt war oder auf einen Versuch der Verzögerung zurückgeht, lässt sich nicht sagen, auch über die Gefühle ist nichts überliefert, die Caspar bewegten, als er schwören musste: „Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“ Genau drei Monate später, nachdem er zum Jahresende noch eine „Änderung der Habilitationsordnung im 117



Die beiden nachfolgend zitierten Schreiben vom 11. und 16. April 1933 wurden ediert von Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“ (Anm. 30), S. 161 Nr. 6. 118 Vgl. dazu ebenda, S. 98–103; Elm, Mittelalterforschung in Berlin (Anm. 12), S. 245, und Karl Jordan, Aspekte der Mittelalterforschung in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren, in: derselbe, Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters (Kieler Hist. Studien, 29), Stuttgart 1980, S. 329–344, bes. S. 334–336. 119 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. etwa den Bericht des SS-Obersturmführers H. Löffler über den Einbruch des Judentums in die Geschichtswissenschaften, speziell bei den Monumenta aus dem Jahre 1939, teilediert von Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“ (Anm. 30), S. 162 Nr. 7. 120 Vgl. dazu wie zum Folgenden allg. Hehl, Nationalsozialistische Herrschaft (Anm. 111), S. 9; Bracher, Die deutsche Diktatur (Anm. 111), S. 265–267, und Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1973, S. 650–655. 121 Vgl. den beglaubigten Vereidigungsnachweis in PA Erich Caspar (Anm. 10), Bl. 4.

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rassistischen Sinne“ erleben musste, die „die Erlangung der Dozentur von außerwissenschaftlichen Qualifikationen abhängig machte“122, entzog sich Caspar der abgezwungenen Verpichtung durch den Freitod, ohne dass bekannt ist, welche persönlichen Erlebnisse ihn zu diesem Schritt getrieben haben, von dem ihn als Junggesellen keine Sorgen um Frau und Kind abhalten konnten. Mit dem erschütternden Suizid endete eine akademische Laufbahn, die als „brillant“123 bezeichnet worden ist, wurde ein Lebenswerk zu einem Torso, obwohl es als vollendet begriffen werden konnte „gemäß“ „dem vollendeten Leben“, „das erfüllt ist, auch wenn es Stückwerk bleibt“124. Unabhängig jedoch von den wissenschaftlichen Meriten trifft wohl die Charakterisierung von Caspars Leben durch den Freund und Mitherausgeber der Zeitschrift für Kirchengeschichte Erich Seeberg zu, der „Caspars Leben ein Leben des ‚halben Glücks‘“ genannt hat und erklärte125: „Es gibt Glückskinder, denen alles zur rechten Zeit zufällt, und es gibt Pechvögel, denen das Zusammentreffen von Zeit und Person – und das heißt der Erfolg – versagt bleibt. Caspar war weder das eine noch das andere; er war ein Mensch des halben Glücks. Relativ spät kam er ins Ordinariat; aber er fand in Königsberg eine fruchtbare Wirksamkeit. Berlin erhielt er in dem Moment, wo er an die Berufung nicht mehr recht glaubte. Der Tod hat sein Lebenswerk zum Torso gemacht; aber der Tod kam so schnell, daß er es nicht merkte, daß das Ende da war; und die Hülle der Bewußtlosigkeit legte sich barmherzig um seinen Geist.“ Diesem Urteil ist wenig hinzuzufügen, außer einigen Gedanken über den schnell an das Gelehrtenleben herantretenden Tod. Zweifellos hat Caspar trotz aller Brillanz eine wohl hauptsächlich durch äußere Umstände (wie den Ersten Weltkrieg) verzögerte Karriere durchlaufen, weswegen seine akademischen Hoffnungen lange unerfüllt blieben; auch der Sprung auf den ersehnten Berliner Lehrstuhl gelang erst durch den Verzicht Levisons. Aber solche Vorkommnisse waren (und sind) in der universitären Welt nicht ohne Parallele. Sie haben Caspars Stimmung zu Zeiten sicherlich getrübt, ihn aber kaum zu einem unglücklichen Menschen gemacht, allein sein von trockenem Humor geprägtes und ausgeglichenes Wesen dürfte das verhindert haben. Hingegen war, wie bei vielen anderen Menschen auch, die eigentliche Katastrophe seines Lebens – und das haben die Trauerreden und Nachrufe nicht thematisieren können – die Errichtung des nationalsozialistischen Totalitarismus’ in Deutschland und die damit verbundene Ausbreitung des Rassenwahns. Die Charakterisierung des nach dieser Ideologie zum jüdischen Nichtarier gestempelten Caspar als eines preußischen Protestanten126,

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Bracher, Die deutsche Diktatur (Anm. 111), S. 294. K[ehr], (Anm. 3), S. 629. Vgl. die gewundenen Formulierungen von Weber, Nachruf in der Vorlesung (Anm. 7), S. 131. Seeberg, Trauerrede am Sarg Erich Caspars (Anm. 2), S. 108 f. Vgl. Anm. 2, 3, 4 und 7.

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„echte(n) deutsche(n) Forscher(s)“127 und „deutsche(n) Professor(s)“128 darf daher als ein kleiner Protest der Freunde und Gefährten des Verstorbenen gegen die herrschenden Anschauungen verstanden werden129; aber diese zweifellos noble Haltung hätte nicht ausgereicht, Caspars Existenz, das Dasein eines renommierten Wissenschaftlers und Trägers der „Rote Kreuzmedaille Dritter Klasse“130 im nationalsozialistischen Deutschland wirklich zu sichern. Ein rascher Tod mochte da als das kleinere Übel und leichtere Los erscheinen gegenüber den Schrecken einer düsteren Zukunft voll zunehmender Gefährdungen.

Schriftenverzeichnis Da es bislang keine auch noch so knappe Darstellung von Leben und Wirken Erich Caspars gibt, erübrigt sich neben der Nennung der in den Anmerkungen aufgeführten Referenzwerken eine eigene Literaturliste. Statt ihrer wird im folgenden ein Schriftenverzeichnis des Gelehrten geboten, das auf der Zusammenstellung seines Schülers Ulrich Gmelin beruht und dem Nachdruck der von diesem posthum herausgegebenen Untersuchung Caspars über „Das Papsttum unter fränkischer Herrschaft“ beigegeben ist. Rezensionen und kleinere Beiträge werden dabei nicht aufgenommen. 1. Editionen Registrum Iohannis VIII. papae, in: MGH Epistolarum Tomus VII, Karolini aevi V 1, Berlin 1912, S. 1–272. – Fragmenta registri Iohannis VIII., in: ebenda, S. 273–312. – Iohannis VIII. papae epistolae passim collectae (zusammen mit Gerhart Laehr), in: ebenda, S. 313–329. – Iohannis VIII. papae epistolae dubiae, in: ebenda, S. 330–333. – Fragmenta registri Stephani V. papae, in: ebenda, S. 334–353. – Registrum Gregorii VII. (MGH Epistolae selectae, II), pars I, Berlin 1920; pars II, Berlin 1923. – Epistolae ad res orientales spectantes (zusammen mit Gerhard Laehr), in: MGH Epistolarum Tomus VII, Karolini aevi V 2, Berlin 1928, S. 371–384. – Theoderich der Große und das Papsttum. Die Quellen zusammengestellt nach den Ausgaben der Monumenta Germaniae Historica, in: Hans Lietzmann, Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen, Bd. 162, Berlin 1931. 2. Monographien Die Gründungsurkunden der sizilischen Bistümer und die Kirchenpolitik Graf Rogers I. (10821084), Diss. Berlin, Innsbruck 1902 [auch als Exkurs im nachfolgend genannten Werk, S. 583–634]. – Roger II. (1101–1154) und die Gründung der normannisch-sizilischen Monarchie, Innsbruck 1904. – Petrus Diaconus und die Monte Cassineser Fälschungen. Ein Beitrag

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Gmelin, Gedenkworte am Grabe Erich Caspars (Anm. 7), S. 113. Pewesin, Erich Caspar als Lehrer (Anm. 7), S. 125. Vgl. Anm. 13. Vgl. das Personalblatt in PA Erich Caspar (Anm. 10).

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zur Geschichte des italienischen Geisteslebens im Mittelalter, Berlin 1909. – Pippin und die römische Kirche. Kritische Untersuchungen zum fränkisch päpstlichen Bunde im VIII. Jahrhundert, Berlin 1914. – Hermann von Salza und die Gründung des Deutschordensstaates in Preußen, Tübingen 1924. – Die älteste römische Bischofsliste. Kritische Studien zum Formproblem des eusebianischen Kanons sowie zur Geschichte der ältesten Bischofslisten und ihrer Entstehung aus apostolischen Sukzessionsreihen (Schriften der Königsberger Gelehrten-Gesellschaft, 2), Berlin 1926. – Geschichte des Papsttums von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft I: Römische Kirche und Imperium Romanum, Tübingen 1930; II: Das Papsttum unter byzantinischer Herrschaft, Tübingen 1933. 3. Aufsätze Kritische Untersuchungen zu den älteren Papsturkunden für Apulien, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 6 (1904), S. 235–271 [auch separat: Rom 1904, und auf ital.: Melfi 1907]. – Die Legatengewalt der normannisch-sizilischen Herrscher im 12. Jahrhundert, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 7 (1904), S. 189–219 [auch separat: Rom 1904]. – Die Chronik von Tres Tabernae in Kalabrien, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 10 (1906), S. 1–56 [auch separat: Rom 1906]. – Echte und gefälschte Karolingerurkunden für Monte Cassino, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 33 (1908) S. 53–73. – Zur ältesten Geschichte von Monte Cassino, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 34 (1909), S. 195–207. – Studien zum Register Johanns VIII., in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 36 (1911), S. 79–156. – Zum Register Johanns VIII. Erwiderung (auf P. Heigl), in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 33 (1912), S. 385–391. – Studien zum Register Gregors VII., in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 38 (1913), S. 145–226. – Gregor der Große, in: Erich Marcks/Karl Alexander von Müller (Hrsg.), Meister der Politik. Eine weltgeschichtliche Reihe von Bildnissen. Bd. I, Stuttgart 21923, S. 327–356. – Bernhard von Clairvaux, in: Marcks/von Müller (Hrsg.), Meister der Politik, S. 563–599. – Die Kreuzzugsbullen Eugens III., in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 45 (1924), S. 285–305. – Gregor VII. in seinen Briefen, in: Historische Zeitschrift 130 (1924), S. 1–30. – Die römische Kirche, in: Auslandsstudien. Hrsg. vom Arbeitsausschuß zur Förderung des Auslandsstudiums an der Albert-Universität Königsberg. I: Die romanischen Völker, Königsberg 1925, S. 9–35. – Die älteste römische Bischofsliste, in: Albert Brackmann (Hrsg.), Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur politischen Geschichte und Geisteskultur des Mittelalters. Paul Kehr zum 65. Geburtstag dargebracht, München 1926, S. 1–22. – Paläographisches zum Kanon des Eusebius, in: Mittelalterliche Handschriften. Festgabe für Hermann Detering, Leipzig 1926, S. 42–56. – Primatus Petri. Eine philologisch-historische Untersuchung über die Ursprünge der Primatslehre, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 16 (1927), S. 253–331 [auch separat: Weimar 1927]. – Kleine Beiträge zur Papstgeschichte I–III, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte

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46, N.F. 9 (1927), S. 321–355. – Kleine Beiträge zur Papstgeschichte IV–V, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 47, N.F. 10 (1928), S. 162–202. –Historische Probleme der älteren Papstgeschichte, in: Historische Zeitschrift 139 (1929), S. 229–241. – Der Orden und Hermann von Salza, in: Deutsche Staatenbildung und Deutsche Kultur im Preußenland, hrsg. vom Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen, Königsberg 1931, S. 50–53. – Aus der altpäpstlichen Diplomatie, in: Leo Santifaller (Hrsg.), Festschrift Albert Brackmann dargebracht, Weimar 1931, S. 1–16. – Die Lateransynode von 649, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 51, 3. F. II (1932), S. 75–137. – Papst Gregor II. und der Bilderstreit, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 52, 3. F. III (1933), S. 29–89. – Das Papsttum unter fränkischer Herrschaft (Aus dem Nachlaß Erich Caspars ausgewählt von Ulrich Gmelin), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 54, 3. F. V (1935), S. 132–264 [auch separat: Darmstadt 1965]. 4. Literaturberichte Zur „Papstgeschichte des Mittelalters“, in: Albert Brackmann/Fritz Hartung, Jahresberichte für Deutsche Geschichte 1 (1925), S. 381–384, §38; 2 (1926), S. 423–429, §36; 3 (1927), S. 347–350, §36; 4 (1928), S. 301–304, §37.

Fritz Hartung Von Hans-Christof Kraus I. Genau ein Vierteljahrhundert, von 1923 bis 1948, hat Fritz Hartung an der alten Berliner Universität den bedeutenden Lehrstuhl seines Lehrers Otto Hintze für Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte bekleidet. Dieser herausgehobenen Stellung an der damals angesehensten Universität Deutschlands entsprach auch Hartungs großes Ansehen innerhalb der damaligen deutschen Geschichtswissenschaft. Tatsächlich wird man ihn als einen der bekanntesten und auch meistgelesenen akademischen Historiker im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ansehen können, dazu als einen Gelehrten, der ebenso für die engere Fachwelt wie auch für Studierende, für Schullehrer und für ein breites, historisch interessiertes Publikum geschrieben hat. Hartung war ein Meister der knapp resümierenden, gut zusammenfassenden, aber zugleich umfassend informierten Überblicksdarstellung, die in klarer, verständlicher und zugleich präziser Sprache die Dinge auf den Punkt zu bringen und die großen Linien des historischen Geschehens anschaulich herauszuarbeiten vermochte. Die gesamte neuere deutsche Geschichte von der Reformation bis zum Ende des Ersten Weltkrieges hat er auf diese Weise dargestellt, und sein eigentliches Hauptwerk, die „Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit“, ist bis in die 1980er Jahre hinein das Standardwerk seiner Disziplin gewesen. Als bemerkenswert an Hartungs Biographie1 erscheint ebenfalls die Tatsache, dass er wohl der einzige deutsche Historiker von einiger Bedeutung gewesen ist, der in allen fünf politischen Regimen, die es seit dem Kaiserreich in Deutschland gegeben hat, wissenschaftlich aktiv gewesen ist: im Kaiserreich habilitierte er sich und wurde – noch während des Ersten Weltkrieges – zum Professor ernannt; seine beiden Rufe auf einen Lehrstuhl erhielt er in der Weimarer Republik, während er in der Zeit des Nationalsozialismus an der Berliner Universität lehrte und als angesehenes und einussreiches Mitglied der Akademie der Wissenschaften agierte. Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg wiederum blieb er, der im Westen Berlins wohnte, der alten Universität Unter den Linden, wenigstens bis 1948, ebenso treu wie der nun gleichfalls im Osten beheimateten ehemals Preußischen, nunmehr 1



Hierzu siehe vor allem, immer noch grundlegend: Werner Schochow, Ein Historiker in der Zeit – Versuch über Fritz Hartung (1883–1967), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 32 (1983), S. 219–250.

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Fritz Hartung *12. Januar in Saarmund, † 24. November 1967 in Berlin

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Deutschen Akademie der Wissenschaften; gleichzeitig war er aber ebenfalls in allen führenden wissenschaftspolitischen Gremien der jungen Bundesrepublik Deutschland tätig. Auf diese Weise erlangte er während der 1950er Jahre als Berliner „Grenzgänger zwischen West und Ost“ eine wenigstens zeitweilig einzigartige Bedeutung für den Neuaufbau der historischen Wissenschaften diesseits wie jenseits des Eisernen Vorhangs2. Obwohl Fritz Hartung am 12. Januar 1883 in Saargemünd im damals deutschen Lothringen geboren wurde, entstammte er väterlicherseits einer Berliner Kaufmanns- und Beamtenfamilie. Sein Vater Paul Hartung übte den Beruf des Bauingenieurs in staatlichen Diensten aus – zumeist mit Festungs- und Kasernenbauten befasst –, und in späteren Jahren amtierte er als Geheimer Baurat und Vortragender Rat im preußischen Kriegsministerium. Hartungs Mutter Marie, geb. Eckardt, stammte dagegen aus Baden; sie war eine Enkelin des angesehenen Freiburger Historikers und Staatswissenschaftlers Carl von Rotteck, eines der großen Vorkämpfer des südwestdeutschen Liberalismus während des Vormärz. Schon der junge Fritz Hartung, der zeitweilig das Gymnasium in Freiburg besuchte, hat die historischen Schriften des berühmten Urgroßvaters genau studiert und gelegentlich (so etwa in der Verfassungsgeschichte) auch gerne zitiert. Die im Breisgau verbrachte Zeit zählte Hartung auch später noch zu den schönsten Lebenserinnerungen; seine Hoffnung, an der dortigen Universität einmal einen Lehrstuhl bekleiden zu können, hat sich jedoch nicht erfüllt. Das Abitur legte Hartung allerdings nicht in Freiburg, sondern im Jahr 1901 am Berliner Prinz-Heinrich-Gymnasium ab. Infolge seiner seit Geburt schwach ausgebildeten und lebenslang gesundheitlich angegriffenen Konstitution blieb er vom Militärdienst befreit und konnte deshalb bereits als Achtzehnjähriger die Universität beziehen; als Fächer wählte er neben der Mittleren und Neueren Geschichte auch Philosophie und Nationalökonomie. Seine Studienzeit verbrachte er in Berlin und Heidelberg, und zu seinen akademischen Lehrern gehörten einige der berühmtesten damaligen deutschen Universitätsgelehrten, darunter Hans Delbrück, Gustav Schmoller, Adolph Wagner, Eduard Meyer, Dietrich Schäfer, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Wilhelm Dilthey, Friedrich Paulsen, Kuno Fischer und Henry Thode. Als seine wichtigsten und prägenden Lehrer im eigentlichen historischen Hauptfach sind indessen Erich Marcks, Max Lenz und vor allem Otto Hintze anzusehen; auch der stark historisch arbeitende Nationalökonom Schmoller ist in diesem Zusammenhang noch einmal zu nennen. Im Alter von erst zweiundzwanzig Jahren promovierte der junge Hartung bereits Ende 1905 bei Otto Hintze mit der Arbeit „Hardenberg und die preußische Verwaltung in Ansbach-Bayreuth 1792 bis 1806“, die alsbald – was seinerzeit eher ungewöhnlich war – als Buch bei einem angesehenen Wissenschaftsverlag erschien. Die fast dreihundert Druckseiten umfassende Monographie zeigte bereits alle Stärken des angehenden Gelehrten: die Fähigkeit zur klar und übersichtlich aufgebauten Darstellung komplexer Gegenstände sowie 2



Vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 183 ff. u. passim.

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zur einleuchtend durchstrukturierten Zusammenschau eines umfassenden und vielschichtigen Themas3. Die besondere Begabung Hartungs für die auf den ersten Blick eher spröden Gegenstände der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte tritt bereits hier sehr klar hervor. Merkwürdigerweise wurde der begabte Nachwuchshistoriker von seinem „Doktorvater“ Hintze jetzt und auch später nicht weiter gefördert4, doch einer Empfehlung (vermutlich von Max Lenz) verdankte Hartung schließlich die Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gesellschaft für fränkische Geschichte, für die er ab 1906, zuerst in Würzburg ansässig, die Geschichte des Fränkischen Reichskreises während der Reformationszeit erforschte. Diese Darstellung – als Pionierleistung sofort anerkannt – erschien bereits 19105. Wichtiger noch als die Beschäftigung mit diesem – jedenfalls aus dem Blickwinkel der damaligen historischen Forschung – etwas abgelegenen Thema erwies sich die Tatsache, dass Hartung einen neuen akademischen Mentor kennenlernte, den seinerzeit an der Universität Erlangen lehrenden Richard Fester. Der damals bereits bekannte und angesehene Neuzeithistoriker hatte offenbar die besonderen Fähigkeiten des jungen Mannes sogleich erkannt; er hielt fortan seine Hand über ihn, und auch wenn es ihm schließlich nicht gelang, für Hartung eine staatlich finanzierte Projektstelle zur Abfassung einer Geschichte der alten deutschen Reichskreise zu erwirken, so konnte er ihm doch die Habilitation ermöglichen – allerdings nicht im Fränkischen, sondern in Halle, wohin Fester 1908 berufen worden war6. Bereits im Februar 1910 habilitierte sich Hartung an der dortigen FriedrichsUniversität mit einer Arbeit, die gewissermaßen als Nebenprodukt der Forschungen über die Reichskreise im 16. Jahrhundert entstanden war: „Karl V. und die deutschen Reichsstände von 1546 bis 1555“7; die obligatorische Antrittsvorlesung hielt er über das Thema: „Kaiser Maximilian I.“. Seit 1910 also lebte und lehrte Hartung an der Universität Halle, und bald entwickelte er eine erstaunliche Produktivität. Eine Reihe grundlegender, zumeist verfassungshistorischer Einzelstudien konnte er in diesen Jahren publizieren8, darunter seinen ersten großen Aufsatz in den Historischen Zeitschrift über den Mainzer Kurfürsten Berthold von 3



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Fritz Hartung, Hardenberg und die preußische Verwaltung in Ansbach-Bayreuth von 1792 bis 1806, Tübingen 1906. Aufschlussreich hierzu eine Bemerkung in einem Schreiben des alten Hartung an seinen Schüler Gerhard Oestreich vom 13. 2. 1964: „Hintze … hat in mir, so ist mein Eindruck von Anfang an gewesen, nie mehr als den Schüler gesehen. Er hat z. B. nie mit mir über meine deutsche Verfassungsgeschichte gesprochen, weder zustimmend noch kritisch. Er hielt mich wohl, und damit hat er ja im Grunde Recht gehabt, nicht für philosophisch veranlagt genug. Deshalb hat er mit mir Fachprobleme nie besprochen“; nach dem Abdruck in: Otto und Hedwig Hintze: „verzage nicht und laß nicht ab zu kämpfen…“. Die Korrespondenz 1925–1940, bearb. v. Brigitta Oestreich, hrsg. v. Robert Jütte / Gerhard Hirschfeld, Essen 2004, S. 243. Fritz Hartung: Die Geschichte des fränkischen Kreises von 1521–1559, Leipzig 1910. Über Fester vgl. Hartungs knappen Nachruf: Nekrolog Richard Fester, in: Historische Zeitschrift 169 (1949), S. 446 f. Fritz Hartung: Karl V. und die deutschen Reichsstände von 1546 bis 1555, Halle 1910. Siehe dazu die genaue Aufstellung in der Hartung-Bibliographie von Werner Schochow (im Anhang angegeben).

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Henneberg, über die Wahlkapitulationen der deutschen Kaiser und Könige, die politischen Testamente der Hohenzollern – deren Bedeutung als große politische Texte erst er eigentlich entdeckt hat –, sodann über den deutschen Territorialstaat in der frühen Neuzeit und über die Reichsreform Kaiser Maximilians am Ende des 15. Jahrhunderts9. Doch das zentrale Problem aller von Hause aus nicht vermögenden Privatdozenten, die Frage der Finanzierung der eigenen Existenz, machte sich recht bald schon bei ihm bemerkbar, obwohl er eißig Vorlesungen hielt und entsprechende Hörergelder bezog. Vermittelt durch seinen alten Lehrer Erich Marcks konnte Hartung 1913 auf Honorarbasis mit der Arbeit an einer Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Großherzogtums Sachsen-Weimar in der Zeit Goethes und Carl Augusts beginnen; die fertige Darstellung konnte allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg im Druck erscheinen10. Noch wichtiger aber war eine andere Arbeit: Der Münsteraner Historiker Aloys Meister, der seinerzeit einen umfassend angelegten „Grundriss der Geschichtswissenschaft“ herausgab, hatte Hartung mit der Abfassung einer Darstellung der neuzeitlichen deutschen Verfassungsgeschichte beauftragt, der ersten Gesamtdarstellung dieser Art überhaupt. Schon 1914, kurz vor Kriegsausbruch, konnte Hartung das fertige Buch vorlegen: seine „Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, entsprechend den Vorgaben der Reihe zwar nur ein knapper, strikt durchgegliederter Grundriss von insgesamt 174 Druckseiten, dennoch ein fundierter, souverän entworfener und überzeugend dargestellter Überblick über ein komplexes und dazu zeitlich weit gespanntes, nämlich nicht weniger als fünf Jahrhunderte umfassendes Thema11. Das Werk des gerade einmal einunddreißig Jahre alten Verfassers, der inzwischen bereits vier Bücher aufzuweisen hatte, wurde von der Fachwelt mit großer Anerkennung aufgenommen. Die wissenschaftliche Karriere des eißigen jungen Historikers schien gesichert, und ein Ruf an die Universität Kiel deutete sich im Sommer 1914 bereits an.

II. Das Attentat von Sarajevo und der Anfang August 1914 ausbrechende Erste Weltkrieg machten alle Pläne dieser Art zunichte. Hartung selbst wurde als „Ungedienter“ zunächst nicht eingezogen, doch 1915 meldete er sich trotz seiner sehr schwachen Konstitution freiwillig zum Kriegsdienst. Warum tat er das? Hartung war ein ausgesprochen nüchterner Mensch, und von der allgemeinen Kriegsbegeisterung hat er sich, wenn überhaupt, vermutlich nur sehr kurze Zeit mitreißen lassen. Eher noch mag die Tatsache mitgespielt haben, dass sein Vater 1870/71 am Krieg gegen Frankreich teilgenommen hatte und lebenslang

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Die meisten dieser Studien sind erneut abgedruckt in: Fritz Hartung, Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940. Fritz Hartung, Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Carl Augusts 1775 bis 1828, Weimar 1923. Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig/Berlin 1914.

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darauf stolz gewesen war. Fritz Hartung selbst hat seinen Entschluss seinerzeit damit begründet, dass ein Historiker, so er die Gelegenheit dazu habe, an einem Krieg teilnehmen solle, um sich „von dem stärksten Erlebnis, das er haben kann“12, nicht fernzuhalten. Der ungediente, als einfacher Rekrut ins Heer eingerückte Gelehrte erfuhr anschließend eine recht eigenartige zweite „Erziehung“ durch seine Kameraden. Doch die Kriegsteilnahme des Gelehrten, der erst wenige Jahre zuvor mit einer schweren Tuberkuloseerkrankung zu kämpfen gehabt hatte, erwies sich bald als Fiasko, denn seine angegriffene Gesundheit hielt den enormen Strapazen des Dienstes schon bald nicht mehr Stand. Immerhin schaffte er es, bis nach Russland zu kommen; das Erlebnis der fast grenzenlosen Weite dieses Landes hat ihn auch später noch geprägt. Doch schon im Sommer 1916 brach die Tuberkulose erneut aus; Hartung verbrachte, Ende 1916 endgültig aus dem Heer entlassen, anschließend fast vier Jahre in verschiedenen Lazaretten, Kliniken und Sanatorien; nur langsam stellte sich seine Gesundheit wieder her. Die vermeintliche „Nutzlosigkeit“ seiner Existenz als Insasse von Heilanstalten in einer Zeit, in der Hunderttausende der eigenen Altersgenossen an der Front fielen, hat den jungen Hartung tatsächlich schwer belastet. Um wenigstens einen geistigen Beitrag zum Sieg und zur inneren Erneuerung Deutschlands zu leisten, verlegte er sich auf die politische Publizistik. Er trat der freikonservativen Reichspartei bei und publizierte in einigen dem Kurs dieser Partei nahestehenden Zeitschriften wie „Deutsche Politik“ und „Das neue Deutschland“, herausgegeben von Adolf Grabowsky. In seinem ersten ausführlichen politischen Aufsatz, erschienen im Mai 1917, nahm er entschieden zur – damals sehr umkämpften – preußischen Wahlrechtsfrage Stellung und forderte die Regierung zu einer raschen Reform des überholten Dreiklassenwahlrechts auf13. Noch bis in die frühe Nachkriegszeit hat er seine politisch-publizistischen Aktivitäten fortgeführt, vermutlich nicht zuletzt ebenfalls aus finanziellen Motiven. Den in seinen Grundüberzeugungen national-konservativ eingestellten Historiker traf die deutsche Niederlage vom November 1918 schwer, obwohl er sie vermutlich hatte kommen sehen. Es entsprach seiner unbestechlichen Nüchternheit, dass er schon kurz nach dem Zusammenbruch eine Wiederkehr der alten deutschen Monarchie für nicht mehr möglich hielt. An seinen Mentor Fester schrieb er schon am 20. November 1918: „Als Historiker, der die Gegenwart aus der Vergangenheit zu erklären bestrebt ist, stehe ich doch vor einem Trümmerfeld. Denn alles, was wir bisher für die feste Grundlage unseres staatlichen Lebens gehalten haben, liegt am Boden. Ich kann mich als Historiker nicht entschließen alles zu verbrennen, was ich bisher angebetet habe. Das Zeitalter Bismarcks erscheint mir auch jetzt noch als der Höhepunkt deutscher Geschichte, nicht als eine bedauerliche Verirrung in die Machtpolitik. ... Als Politiker haben wir meiner Überzeugung nach keine andere 12 13



Zitiert nach: Schochow, Ein Historiker in der Zeit (Anm. 1), S. 223. Fritz Hartung, Neuorientierung und auswärtige Politik, in: Deutsche Politik. Wochenschrift für Welt- und Kulturpolitik, 2 (1917), S. 757–761.

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Wahl als die Umwälzung anzuerkennen. Ich halte es nicht für möglich, die Monarchien wiederherzustellen, die sang- und klanglos zusammengebrochen sind. Der Nimbus des Gottesgnadentums ist endgültig dahin, u. den Glauben, daß die Monarchie die stärkste Staatsform für Deutschland darstelle, kann ich auch nicht mehr aufbringen Es widerstrebt meinem Gefühl, daß ich ... nun auf einmal Republikaner werden soll, aber ich weiß mir keinen Ausweg. Denn die Zukunft des ganzen Volkes muß höher stehen als die Frage der Staatsform“14. Jedenfalls fand Hartung eine andere Möglichkeit, um der Frage nach den Ursachen der deutschen Niederlage im Krieg nachzuspüren. Schon 1920 erschien in erster Auage seine „Deutsche Geschichte von 1870–1914“, eine nüchtern gehaltene, gut strukturierte und wohlinformierte Darstellung der jüngsten deutschen Zeitgeschichte, geschrieben freilich nicht nur in wissenschaftlicher, sondern vor allem auch in politischer Absicht. „Wir … müssen“, heißt es im Vorwort, „schon jetzt in den Tagen der Not und der Schmach den Mut haben, uns zum deutschen Gedanken, wie er geschichtlich geworden ist, zu bekennen und ihm Anhänger zu werben. Auch wir wollen von dem Glauben nicht lassen, der einst vor mehr als hundert Jahren in Zeiten tiefer Erniedrigung unsere Vorfahren aufrecht erhalten hat: daß wir nicht die Sprößlinge eines faulen Stammes seien, sondern die Nachkommen eines tüchtigen, starken, edlen Geschlechts“15. Dieses für den Autor eher ungewohnte Pathos drückte dennoch die Überzeugung vieler damals lebender Deutscher aus und dürfte vermutlich mit dazu beigetragen haben, dass dieses Buch zu einem begrenzten Erfolg wurde: schon 1924 erschien eine zweite Auage, nun erweitert um eine knappe Darstellung des Ersten Weltkrieges und der ersten Nachkriegszeit bis 1919. Das Buch, das lange als Standardwerk über das deutsche Kaiserreich gegolten hat, hat schließend noch fünf weitere Auagen erlebt und ist noch nach dem Zweiten Weltkrieg erneut in überarbeiteter Form herausgekommen16. Auf die ersten Nachkriegsjahre an der Universität Halle hat Hartung später immer wieder mit einer gewissen Wehmut zurückgeblickt. Denn trotz der großen materiellen (und immateriellen) Not jener Zeit gehörte er einem Kreis junger Gelehrter an – meist Privatdozenten wie er selbst –, den er als außerordentlich anregend und bereichernd empfunden hat17. Zu diesem Freundeskreis zählten u. a. neben dem Neuzeithistoriker Siegfried August Kaehler, Sohn eines bekannten Halleschen Theologen, auch der Nationalökonom Gustav Aubin, zeitweilig ebenfalls dessen jüngerer Bruder, der Wirtschaftshistoriker Hermann Aubin, sowie der junge Philosoph und Pädagoge Paul Menzer. Wohl etwas weniger eng, dafür aber in beruicher Hinsicht desto wichtiger blieb der Kontakt zu Richard Fester, der immerhin dafür sorgte, dass der stets eißig an der Universität lehrende Hartung wenigstens 14

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Bundesarchiv Koblenz (BAK), N 1107 (Nachlass Richard Fester), Nr. 249 (Hartung an Fester, 20.11.1918). Fritz Hartung, Deutsche Geschichte von 1871 bis 1914, Bonn 1920, S. V. Fritz Hartung, Deutsche Geschichte 1871–1919, 6. neubearb. Au. Stuttgart 1952. Noch die letzte Auage seiner „Deutschen Geschichte“ von 1952 (Anm. 14) trägt die Widmung: „Dem Freundeskreis in Halle in dankbarer Erinnerung“.

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zeitweilig in den Genuss eines – freilich eher mager dotierten – „Privatdozentenstipendiums“ kam; den Titel eines außerplanmäßigen Professors hatte Fester ihm bereits 1916 verschaffen können. Trotz seiner Lehrerfolge und seiner Produktivität – Hartung hatte zu Anfang der 1920er Jahre bereits fünf gewichtige Monographien sowie eine Reihe bedeutender Aufsätze vorzuweisen – befürchtete er, nicht zuletzt angesichts der Not der Zeit, als außerplanmäßiger Professor, d. h. als schlecht bezahlte Lehrkraft in Halle sitzen zu bleiben, doch da tat sich im Jahr 1922 plötzlich die Möglichkeit einer Berufung auf. Sein Lehrer Otto Hintze musste sich aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig emeritieren lassen, und tatsächlich passte auf den für Hintze im Kaiserreich seinerzeit ad personam geschaffenen Lehrstuhl für „Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte“ niemand besser als eben Hartung, dessen Forschungsprofil den Anforderungen dieses Lehrstuhls präzise entsprach. Er wäre berufen worden, hätte er nicht Willy Andreas zum Konkurrenten gehabt, der über den doppelten Vorteil verfügte, bereits Lehrstuhlinhaber (in Rostock) und vor allem aber Schwiegersohn des damals in Berlin lehrenden Erich Marcks zu sein. Gegen diese Konstellation kam Hartung nicht an, zumal Andreas auch von Friedrich Meinecke gewünscht wurde. Und trotzdem hatte Hartung Glück: Noch im gleichen Jahr wurde er als Nachfolger Arnold Oskar Meyers an die Universität Kiel berufen18. Damit hatte Hartung nach vielen Jahren harter Arbeit sein so lange erstrebtes Ziel endlich erreicht. In Kiel angekommen, gründete er zudem eine Familie; seine Frau Anni, die Witwe eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Marineoffiziers, brachte zwei Kinder mit in die Ehe, Hartung selbst blieb kinderlos. Seine Frau war ihm jahrzehntelang und in schwieriger Zeit eine zuverlässige Gefährtin, auf deren Rückhalt, Unterstützung und Fürsorge der seit den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges häufig kränkelnde Gelehrte sich zeitlebens verlassen konnte. Dass er trotz immer wieder auftretender schwerer gesundheitlicher Probleme, die ihn zuweilen für Monate arbeitsunfähig machten, schließlich doch das hohe Alter von fast 85 Jahren erreichen konnte, dürfte wesentlich ihr zu verdanken sein.

III. Ausgerechnet im trüben Inationsjahr 1923 wendete sich noch einmal unerwartet Fritz Hartungs Schicksal: Nachdem Willy Andreas nach nur einem Jahr der Hauptstadtuniversität wieder den Rücken kehrte, um einem Ruf nach Heidelberg zu folgen, wurde nun endlich Hartung auf den alten Hintze-Lehrstuhl berufen – und diesen Ruf nahm er selbstverständlich an. Immer noch galt ein Lehrstuhl an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität als die Krönung einer akademischen Karriere in Deutschland, und dieses Ziel hatte der 18



Vgl. Jordan, Karl: Geschichtswissenschaft, in: Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665–1965, Bd. V/2, Neumünster 1969, S. 79.

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soeben erst vierzig Jahre alt gewordene Gelehrte jetzt erreicht. Freilich hatte er sich hier von Anfang an neben mächtiger Konkurrenz zu behaupten; die beiden führenden Neuzeithistoriker Erich Marcks, sein alter Lehrer, sowie Friedrich Meinecke, Hauptvertreter der modernen Geistesgeschichte, behaupteten an der Berliner Friderica Guilelma vorerst ihre Stellung als akademische Platzhirsche, und sie waren es, die viele begabte Schüler um sich versammelten. Immerhin gelang es Hartung im Laufe der Jahre, ebenfalls einige interessierte und fähige Schüler an sich zu binden19. Der wohl bekannteste von ihnen, der nach 1945 sehr einussreiche Tübinger Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg, erinnerte sich später daran, dass in Hartungs Vorlesung „auch Attachés und regelmäßig Offiziere der Reichswehr“ saßen, „die im Rahmen ihrer Generalstabsausbildung bei ihm hörten“. Im Übrigen sei der schon damals angesehene Verfassungshistoriker „ein gemäßigter Konservativer und überzeugter Monarchist“ gewesen, „ohne daß diese Einstellung seine nüchterne historische Sicht beeinträchtigt oder ihn dazu veranlasst hätte, das Katheder politisch zu mißbrauchen. In seinem preußischen Pichtbewußtsein unterschied er streng zwischen ex cathedra und ex confessione, also zwischen den Äußerungen, die er in Ausübung seines Amtes machte, und jenen, denen er aus Überzeugung anhing“20. Eschenburg hat auch überliefert, dass Hartung – in deutlichem Gegensatz zu den teilweise noch lehrenden alten und würdigen Geheimräten der Kaiserzeit – einen wesentlich anderen, nämlich sachlich-nüchternen und freundlichen Umgang mit den Studenten pegte. Er lud seine Schüler zuweilen zum Bier ein und konnte mit ihnen bis in die Nacht hinein diskutieren, nicht nur über wissenschaftliche Fragen, sondern auch über aktuelle politische Probleme. Nach Eschenburg, der 1929 mit einer zeitgeschichtlichen Arbeit zur Geschichte des späten Kaiserreichs bei Hartung promovierte, gehörten in den 1930er Jahren die beiden Brüder Wilhelm und Wolfgang Treue, Richard Dietrich und Gerhard Oestreich zu seinen wichtigsten Schülern. Auch als Wissenschaftsorganisator begann Hartung seit den ersten Jahren seiner Berliner Zeit aktiv zu werden. Zusammen mit dem Mediävisten und Staatsarchivdirektor Albert Brackmann gab er seit 1927 im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften die „Jahresberichte für deutsche Geschichte“ heraus, die sehr viel mehr darstellten als eine bloße Bibliographie wissenschaftlicher Neuerscheinungen; denn die „Jahresberichte“ enthielten umfassende Forschungsberichte zu den jeweiligen historischen Teilthemen und Subdisziplinen, die jeweils von ausgewiesenen Fachleuten verfasst wurden und deshalb ein besonders 19



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Vgl. zum Zusammenhang der Berliner Geschichtswissenschaft dieser Zeit: Dieter Hertz-Eichenrode, Die „Neuere Geschichte“ an der Berliner Universität. Historiker und Geschichtsschreibung im 19./20. Jahrhundert, in: Reimer Hansen / Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen, Berlin/New York 1992, S. 261–322, hier S. 285 ff.; Wolfgang Hardtwig, Neuzeit-Geschichtswissenschaften 1918–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 413–434, hier S. 419 ff. Theodor Eschenburg, Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 194.

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wichtiges und gefragtes Hilfsinstrument für die wissenschaftliche Arbeit in dieser Zeit darstellten. Hartung hatte zwar sehr viel Arbeitskraft in die „Jahresberichte“ zu investieren, doch die Arbeit lohnte sich in mehrerlei Hinsicht: Er stieg dadurch nicht nur in eine wichtige Position innerhalb der damaligen deutschen Geschichtswissenschaft auf, sondern er lernte auch die im In- und Ausland (etwa in der damaligen Tschechoslowakei) mitarbeitenden Kollegen kennen, und zudem besaß er in dem etwas älteren Brackmann einen erfahrenen, versierten und besonders auch wissenschaftspolitisch einussreichen Kollegen, mit dem er sich sowohl menschlich als auch wissenschaftlich und politisch hervorragend verstand und bald auch auf anderen Gebieten eng kooperierte. Politisch gesehen stand Hartung in den Jahren der Weimarer Republik auf Seiten der gemäßigten Rechten. Er akzeptierte die Republik als solche – eben als die derzeitige Staatsform Deutschlands –, doch er konnte sich andererseits mit ihren Werten und Ideen nicht identifizieren. Im Gegensatz zu Friedrich Meinecke verstand er sich selbst ausdrücklich nicht als Vernunftrepublikaner, und die ihm angetragene Mitarbeit in der Organisation republiktreuer Hochschullehrer lehnte er strikt ab, obwohl er sich gegenüber den Institutionen der Republik stets loyal und staatstreu verhielt. Jetzt und auch später wurde er nicht noch einmal politisch aktiv; seine publizistische Tätigkeit während der letzten Jahre des Kaiserreichs sollte eine Ausnahme bleiben. Wichtiger war ihm sein Einsatz für die Belange seiner Wissenschaft, die er auch auf der internationalen Ebene vertrat, so etwa im Rahmen des internationalen Historikerkongresses 1928 in Oslo. Und nach dem Rückzug der beiden Großordinarien Erich Marcks und Friedrich Meinecke, die beide gegen Ende der 1920er Jahre emeritiert wurden, rückte Hartung sehr bald schon in die erste Reihe der Berliner Historiker vor. Von der Ernennung Adolf Hitlers zum deutschen Reichskanzler am 30. Januar 1933 scheint Hartung wie viele seiner Zeitgenossen überrascht worden zu sein; gerechnet hatte er damit offensichtlich nicht. Im laufenden Wintersemester 1932/33 war er von seiner Fakultät zum Dekan gewählt worden, und als das Sommersemester 1933 anbrach, gehörte er kraft Amtes zu denen, die an der von den neuen Herren verordneten „Säuberung“ der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität mitwirken mussten21. Er hat sich nicht geweigert, den Anordnungen von oben zu folgen, er hat sich andererseits aber jetzt und später für nicht wenige von ihm geschätzte Kollegen und Mitarbeiter, die aus „rassischen“ Gründen vom neuen Regime diskriminiert wurden, gemäß den ihm verbliebenen geringen Möglichkeiten eingesetzt. Wie es seinem Naturell entsprach, setzte er sich zumeist für pragmatische Lösungen ein; so hat er etwa in dem bekannten Konikt um den Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger – dem man den explizit nationalsozialistisch orientierten Philosophen Alfred Baeumler als neuen Professor für „politische Pädagogik“ gegen den ausdrücklichen Willen der Fakultät an die Seite gestellt hatte – vermittelnd gewirkt

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Vgl. hierzu besonders Schochow, Ein Historiker in der Zeit (Anm. 1), S. 228 ff.

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und endlich erreicht, dass der angesehene Spranger (übrigens ein Berliner Studienkollege Hartungs) der Fakultät und der Universität erhalten blieb22. Die ernüchternden Erfahrungen dieses Semesters hat er auch später nicht vergessen; in einem Brief an den Freund Kaehler vom 3. August 1933 heißt es denn auch: „Ich habe, wie Sie sich denken können, ein ziemlich hartes Semester hinter mir. Dekan zu sein unter den heutigen Verhältnissen, ist keine reine Freude, und der materielle Ertrag des Dekanats ist auch nicht mehr so, dass man sich für alle Mühe und Ärger entschädigt fühlt. ... Lehrreich ist dieser Sommer immerhin für mich gewesen, ich habe die verschiedensten Menschen und Charaktere kennengelernt, seltsame Streber, die es nicht abwarten können, bis das Ministerium die jüdischen Kollegen entfernt, und die sich rechtzeitig für Lehraufträge und Professuren vormerken lassen, aber auch scharfe Kritiker des heutigen Rassekurses“23. Immerhin hat er an der Bedeutung wissenschaftlicher Standards und am Wahrheitsanspruch der Wissenschaft ebenso strikt wie kompromisslos festgehalten; in einer Rede anlässlich der Promotionsfeier am 14. Oktober 1933 hat er sie denn auch nachdrücklich gegen ideologische Vereinnahmungsversuche verteidigt: Die Picht eines Akademikers, so hieß es in der Rede, bestehe darin, in seiner Arbeit durch sorgfältigste Erforschung eines Gegenstandes zu einem „festbegründeten Urteil zu gelangen. Wer das gelernt hat, der wird auch den Aufgaben, die das Leben stellt, nicht hilos gegenüberstehen, er wird nicht Schlagworten oder Parteiparolen ausgeliefert sein, sondern … ein selbständiges Urteil fällen können“24. Die physischen und vielleicht mehr noch die psychischen Belastungen des Dekanats führten Anfang 1934 zum Wiederausbrechen der alten Lungenerkrankung, was zur Folge hatte, dass Hartung nicht nur das Dekanat abgeben, sondern auch seine Lehrtätigkeit gleich zwei Semester lang unterbrechen musste; die meiste Zeit – fast ein Jahr lang – verbrachte er zudem fern von Berlin in einem Heilsanatorium in St. Blasien im Schwarzwald. Hier beschäftigte er sich, sobald ihm dies wieder möglich war, mit wissenschaftlicher Arbeit; der Berliner Seminarassistent musste ihm Bücher und Zeitschriften per Post zusenden. Die Hauptfrucht der auf diese Weise erzwungenen Auszeit in der akademischen Lehre war eine kleine, für den Reclam-Verlag verfasste Hindenburg-Biographie, die kurz nach dem Tod des Reichspräsidenten im August 1934 erschien und eine dementsprechende Beachtung erfuhr25. Das ohne Nachweise und ohne Literaturverzeichnis, also für einen größeren Leserkreis geschriebene Bändchen wertete und würdigte den verstorbenen Generalfeldmarschall

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Vgl. dazu der aus der Rückschau nach 1945 verfasste Bericht des Betroffenen: Eduard Spranger, Mein Konflikt mit der national-sozialistischen Regierung 1933, in: Universitas 10 (1955), S. 457–473; siehe dazu auch Takahiro Tashiro, Affinität und Distanz. Eduard Spranger und der Nationalsozialismus, in: Pädagogische Rundschau 53 (1999), S. 43–58. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. S. A. Kaehler, 1, 59 (Hartung an Kaehler, 3. 8. 1933). Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Fritz Hartung, K 59/29; vgl. auch Schochow, Ein Historiker in der Zeit (Anm. 1), S. 229. Fritz Hartung, Hindenburg, Leipzig 1934.

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des Ersten Weltkrieges und späteren deutschen Reichspräsidenten uneingeschränkt positiv; der Historiker sah in dem soeben Verstorbenen nicht in erster Linie eine – freilich durch die Ereignisse seit dem 30. Januar 1933 in den Hintergrund getretene – Gestalt von gestern, sondern ein Vorbild auch für Gegenwart und Zukunft. Was im Rahmen der Hindenburg-Biographie nur in der Form vorsichtiger kritischer Zwischentöne sichtbar wurde, kam kurz darauf sehr viel deutlicher in Hartungs Auseinandersetzung mit Carl Schmitt zum Ausdruck. Der bekannte Jurist, inzwischen Professor an der Berliner Universität, der sich in den Jahren zwischen 1933 und 1936 als eifriger Nationalsozialist gerierte, hatte Anfang 1934 eine kleine Schrift mit dem Titel „Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches – Der Sieg des Bürgers über den Soldaten“ publiziert. Die in der Tat vollkommen überzogene These, die Schmitt hier verfocht: der preußische „Soldatenstaat“ habe, indem er in der Folge des Verfassungskonikts der 1860er Jahre den endgültigen Übergang zum im Kern liberalen „Verfassungsstaat“ vollzog, seine innere Kraft aufgegeben, was wiederum eine zentrale Ursache der deutschen Niederlage von 1918 gewesen sei26, – diese aus durchsichtigen politischen Zwecken formulierte These also konnte Hartung als Verfassungshistoriker nicht akzeptieren. In der „Historischen Zeitschrift“ wies er die Unzulänglichkeit dieser Argumentation nach27und bekam dafür, wenn auch nur brieich, allgemeine Zustimmung aus dem Kollegenkreis; sogar sein alter Lehrer Hintze bescheinigte ihm, dass ihm „die schwere Aufgabe so gut gelungen ist, die schielende Dialektik des Herrn C. Schmitt mit dem Rüstzeug einer gesunden und vernünftigen historischen Kritik zu überwinden“28. Fritz Hartung war kein Nationalsozialist; er verweigerte einen ihm mehrfach dringend nahegelegten Eintritt in die NSDAP, und mit der nationalsozialistischen Ideologie, vor allem mit der Rassenlehre, konnte der nüchterne Gelehrte schon überhaupt nichts anfangen. Aber er zählte sich ebenfalls nicht zu den expliziten Gegnern des neuen Regimes, sondern versuchte, so gut es eben ging, die wissenschaftlichen Standards aufrecht zu erhalten. Gleichwohl glaubte er – wohl auch, um sich Freiräume eigener Arbeit sichern zu können –, dem Regime wenigstens einen Schritt entgegenkommen zu müssen, und so ließ er sich im Jahr 1935 von dem damals führenden nationalsozialistischen Historiker Walter Frank in den Sachverständigenbeirat des von diesem geleiteten, soeben neu begründeten „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“ berufen, dem auch sein alter Lehrer Erich 26



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Vgl. Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934. Fritz Hartung, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, in: derselbe: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze. Berlin 1961, S. 376–392 (zuerst in: Historische Zeitschrift 151 (1935), S. 528–544); vgl. zum Zusammenhang auch Hans-Christof Kraus, Soldatenstaat oder Verfassungsstaat? – Zur Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Fritz Hartung über den preußisch-deutschen Konstitutionalismus (1934/35), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 45 (1999), S. 275–310. Otto Hintze an Fritz Hartung, 4. 4. 1935, abgedruckt in. Gerd Heinrich, Otto Hintze und sein Beitrag zur institutionalisierten Preußenforschung, in: Otto Büsch / Michael Erbe (Hrsg.), Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft, Berlin 1983, S. 43–59, hier S. 55 f.

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Marcks sowie Richard Fester angehörten. Außer einem knappen Gutachten hat er, wie man heute weiß, zur Arbeit dieses Instituts gar nichts beigetragen; wie sich anhand seiner privaten Korrespondenz zeigen lässt, hat er sich gelegentlich sogar über die Aktivitäten Franks und seiner Mitarbeiter lustig gemacht. Hartung gehörte lediglich, wie treffend gesagt worden ist, zu den „Konzessions-Gelehrten“, bekannten und angesehenen Wissenschaftlern der mittleren und älteren Generation, deren einzige Funktion darin bestand, dieser Neugründung eine gewisse Seriosität zu verleihen29. Letztlich überwog doch die Distanz zum Nationalsozialismus, und Hartung war bestrebt, manchen seiner Kollegen, die als „jüdisch“, „halbjüdisch“ oder als „jüdisch versippt“ galten und dementsprechend diskriminiert wurden, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu helfen; das betraf u. a. Hans Rothfels und Hans Herzfeld, aber auch einzelne Mitarbeiter und Beiträger der „Jahresberichte für deutsche Geschichte“, die er, so lange es irgend möglich war, in ihren Positionen zu halten versuchte. Auch in anderer Hinsicht ließ sich Hartung nicht einschüchtern: Unter seiner Beteiligung wurde noch 1934 der junge kommunistische Historiker Ernst Engelberg – ein Schüler Gustav Mayers und nach dem Zweiten Weltkrieg einer der führenden Historiker der DDR – an der Universität Berlin zum Doktor promoviert30. Und Anfang 1939 wehrte er sich entschieden, wenngleich am Ende vergeblich, gegen die Berufung des hohen SS-Führers und SD-Angehörigen Franz Alfred Six an die Philosophische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität31; Hartungs mutiges Gegengutachten in dieser Angelegenheit ist mit Recht als „ein bemerkenswerter Akt der Beharrung“32 bezeichnet worden. Es spricht ebenfalls für Hartung, dass er nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, den er übrigens von Anfang an mit Sorgen und Zweifeln begleitete, zu keiner Zeit in Euphorie verfiel und sich auch nicht durch die deutschen militärischen Anfangserfolge des Jahres 1940 täuschen ließ. Während Friedrich Meinecke im Juli 1940 in einem Brief an seinen Schüler Siegfried Kaehler über „das Gewaltige, das wir erlebt haben“33, räsonierte, gab sich Hartung zur gleichen Zeit, ebenfalls in einem Brief an Kaehler, ausgesprochen skeptisch: „Ihre Warnung vor Größenwahn kommt, wie ich fürchte, zu spät. Ich war gestern mit allerhand Kollegen zusammen und wunderte mich über die Unersättlichkeit. Der nächste Gegner ist Rußland ... Es mag sein, daß in der Zeit der Motorisierung und der Flugzeuge ein Marsch nach Moskau leichter durchzuführen ist als 1812. Aber wo wir die Menschen

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Vgl. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 597. Vgl. Mario Keßler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln/ Weimar/Wien 2001, S. 224. Vgl. dazu Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998, S. 120 ff. Ebenda, S. 121. Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 6: Ausgewählter Briefwechsel, hrsg. v. Ludwig Dehio / Peter Classen, Stuttgart 1962, S. 363 (Meinecke an Kaehler, 4. 7. 1940).

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hernehmen sollen um all unsere Protektorate usw. im Zaum zu halten, danach fragt anscheinend kein Mensch. ... Freilich, wer sollte es wagen, jetzt schon die Zukunft zu deuten! Sind unsere Protektorate dauernde Schöpfungen oder Eintagsiegen à la cisalpinische und parthenopäische Republik? Und wer kann die Rückwirkung der zweifellos gewaltigen Erschütterung des britischen Empires auf die Stellung Europas in der Welt ermessen ... Werden wir neben der europäischen Aufgabe die Kraft und die Menschen haben, die ganze Welt zu unterjochen. Über die Vereinigten Staaten finde ich unsere Presse auffallend still. Das scheint mir kein gutes Zeichen zu sein“34. Während des Krieges blieben weitere kleinere Konikte mit dem Regime nicht aus: Wegen einer vorsichtig-kritischen Rezension des zeitgeschichtlichen Buches eines „alten Kämpfers“ der Partei, Ernst Graf zu Reventlow35, wurde Hartung 1941 vom Wissenschaftsminister Bernhard Rust scharf verwarnt; es war ihm fortan untersagt, zeitgeschichtliche Neuerscheinungen zu rezensieren. Zu einer regelrechten Zitterpartie entwickelte sich die äußerst mühselige Publikation der dreibändigen Aufsatzsammlung Otto Hintzes, die Hartung nach dem Tod seines 1940 verstorbenen wichtigsten Lehrers und Doktorvaters unternahm. Der wegen seiner (bald nach 1933 emigrierten) jüdischen Ehefrau aus der Berliner Akademie der Wissenschaften ausgeschiedene Hintze galt offiziell als Persona non grata, und Hartung musste den Forderungen der „Parteiamtlichen Prüfungskommission“ der NSDAP nachkommen, einzelne Aufsätze kürzen, andere (darunter die Abhandlungen über jüdische Autoren wie Max Scheler und Franz Oppenheimer) sogar fortlassen. Im Einvernehmen mit dem Verlag Koehler & Amelang fügte sich der Herausgeber, wenn auch nur äußerst ungern, diesen Vorgaben, um das verstreute Aufsatzwerk Hintzes für Gegenwart und Nachwelt präsent zu halten; es sei besser, bemerkte er einmal, wenigstens etwas zu bringen als überhaupt nichts. Diese intensiven Bemühungen Hartungs um die weitere Präsenz des Werkes seines akademischen Lehrers sind nicht zuletzt auch als ein Versuch zu werten, die von Hintze etablierte, von ihm selbst fortgeführte moderne Verfassungsgeschichte gegen die Zumutungen einer nationalsozialistisch imprägnierten, rassisch grundierten „Volksgeschichte“ zu verteidigen oder doch wenigstens zu stärken. Seit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 gab sich Hartung, der die Weiten und das Klima des Landes aus der eigenen Kriegserfahrung der Jahre 1915/16 genau kannte, keinen Illusionen über den weiteren Kriegsverlauf mehr hin. Vielleicht mag er zeitweilig – dann fraglos in Unkenntnis der Verbrechen des NS-Regimes – noch auf die Möglichkeit eines für Deutschland einigermaßen glimpichen Friedensschlusses gehofft haben, doch bald schien auch diese Möglichkeit vorbei zu sein. Seit der Jahreswende 1944/45 erwarteten er und seine Frau in stoischer Haltung das bevorstehende Kriegsende:

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Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. S. A. Kaehler, 1, 59 (Hartung an Kaehler, 3. 7. 1940). Fritz Hartung, (Besprechung von) Graf Ernst zu Reventlow: Von Potsdam nach Doorn, Berlin 1940, in: Berliner Monatshefte 18 (1940), S. 814–818.

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So schreibt er am 4. Februar 1945 an seinen Göttinger Freund und Kollegen Siegfried Kaehler von der „Galgenfrist“ der Berliner Bevölkerung, und er fügt hinzu: „Von den Flüchtlingserlebnissen werden Schauerdinge berichtet. Vieles ist handgreiich übertrieben und knüpft an die Kindermordgeschichten aus dem 1. Weltkrieg an. Aber was unsere Flüchtlinge im Haus erzählt und was ich selbst an den Bahnhöfen gesehen habe, genügt mir. Meine Frau und ich wollen deshalb – und das ist die Stimmung fast aller älteren Leute – hier bleiben. Aber vielleicht werden wir eines Tages kurzer Hand zwangsevakuiert. Wir haben schon entsprechend gepackt. Aber ich muß offen sagen, daß der Gedanke, für den Rest meiner Tage omnia mea mecum portare [lat. meine gesamte Habe mit mir zu tragen; H.-C.K.] und aus einem Handkoffer und einem Rucksack zu leben, mir wenig verlockend erscheint. Vielleicht werden wir auch schon vorher aus der Luft erledigt. Der gestrige Angriff war ein besonders passender Auftakt dazu“36. Den deutschen Zusammenbruch erlebte Hartung vor Ort in Berlin in seinem Wohnviertel Schlachtensee als aufmerksamer Augenzeuge; während der kritischen Tage im April und Mai 1945 führte er Tagebuch und stellte kritische – auch durchaus selbstkritische – Reexionen über das Geschehene an. Am 29. April, einen Tag vor Hitlers Selbstmord, stellte er fest: „Ich finde keine historische Parallele dafür, daß eine Führung ihr Volk bis aufs letzte hat verbluten lassen, ohne jede Aussicht auf eine Wendung. Untergang Karthagos 1476 v. Chr.? Vernichtung der Ostgoten? ... Wenn Ley das Wort Clemenceaus ‚Ich kämpfe vor Paris, ich kämpfe in Paris, ich kämpfe hinter Paris‘ auf Berlin anwandte …, so vergaß er, daß hinter Clemenceau die Amerikaner als Bundesgenossen standen, hinter uns aber als Feinde. Vielleicht sind wir Historiker mitschuldig an solchen falschen historischen Parallelen. Wir haben uns nicht gewehrt gegen die politische Verfälschung der Geschichte, haben – davon weiß ich mich frei – sie sogar mitgemacht oder doch – das gilt auch von mir – nicht dagegen angekämpft; die Aussichtslosigkeit des Kampfes hat uns abgeschreckt, die Opfer haben wir gescheut“37.

IV. Der Neubeginn nach der Katastrophe gestaltete sich für Fritz Hartung, jedenfalls nachdem die schlimmsten Tage des Frühjahrs und Sommers 1945 vorübergegangen waren, ein wenig leichter als für viele andere Deutsche: Er hatte weder seine Heimat noch seine Wohnung oder seinen Besitz verloren; lediglich zeitweise mussten er und seine Frau ihre Wohnräume verlassen und in einem benachbarten Gebäude Zuucht nehmen, weil die amerikanische Besatzungsmacht das Haus, in dem sie gewohnt hatten, vorübergehend für eigene Zwecke 36



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Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. S. A. Kaehler, 1, 59 (Hartung an Kaehler, 4. 2. 1945). Fritz Hartung, Erlebnisse beim Kampf um Berlin, aufgezeichnet auf Grund von Tagebuchnotizen, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Fritz Hartung, K 29/1; vgl. auch Schochow, Ein Historiker in der Zeit (Anm. 1), S. 234.

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beschlagnahmte. Als einer der nur sehr wenigen politisch unbelasteten Historiker in der ehemaligen Reichshauptstadt war Hartung von Anfang an am Neubeginn des akademischen Lebens – sowohl in der Akademie der Wissenschaften wie auch in der jetzt (wenigstens vorübergehend) namenlosen Universität – in führender Stellung beteiligt. Ende 1945 bis Ende 1946 amtierte er als erster Nachkriegsdekan der Philosophischen Fakultät, und in der nunmehrigen Deutschen Akademie der Wissenschaften übernahm er schon im Sommer 1945 die wichtige Funktion des Sekretars der Philosophisch-Historischen Klasse (später: der Gesellschaftswissenschaftlichen Klasse), die er bis Ende 1952 innehaben sollte. Seinen in den Jahren bis etwa 1949/50 unternommenen Versuchen, neue Professoren für die Berliner Universität und auch neue angesehene Mitglieder für die 1945 „gesäuberte“ Akademie zu gewinnen, um die durch Tod, Flucht oder Amtsenthebung entstandenen Lücken zu füllen, war indessen nur wenig Erfolg beschieden. Das betraf nicht nur die beiden seit dem Tod Arnold Oskar Meyers und der Entfernung Wilhelm Schüßlers verwaisten Professuren für neuzeitliche Geschichte38, sondern ebenfalls die Philosophie, die mit dem Weggang Eduard Sprangers nach Tübingen und Nikolai Hartmanns nach Göttingen ebenfalls keinen Vertreter von Rang mehr aufzuweisen hatte. Für Hartung bedeutete dies u. a., dass er neben seinen anderen Verpichtungen an der Akademie auch noch die Leitung der Arbeitsstelle für die Kant-Ausgabe zu übernehmen hatte. Immerhin gab es noch einige der alten akademischen Größen, die mit ihm in der Hauptstadt ausharrten, darunter Friedrich Meinecke. Mit dessen Buch über „Die deutsche Katastrophe“, 1945 geschrieben und ein Jahr später publiziert, hat sich Hartung eingehend auseinandergesetzt, so wie er überhaupt in diesen Jahren um eine gedankliche Klärung der Voraussetzungen der säkularen deutschen Niederlage des Jahres 1945 bemüht war. Dabei reektierte er, der sich selbst immer als Preuße empfunden hat und von vielen Fachkollegen auch als solcher wahrgenommen wurde, über die geschichtliche Rolle und Verantwortung des preußischen Staates. Es sei die Schwäche Preußens gewesen, schrieb Hartung am 6. April 1946 an Meinecke, „daß es die Enge und Härte, die ihm von seiner Entstehung an anhaftete und die in dem Mißverhältnis zwischen den zur Verfügung stehenden materiellen Kräften und der selbst gewählten Aufgabe der Großmachtbildung begründet war, niemals hat überwinden können. Alle Anläufe, aus der Enge herauszukommen und wahrhaft deutsch zu werden, sind immer wieder gescheitert und haben das Junkerliche und Ungeistige nur immer stärker ausgeprägt, sodaß es jetzt wohl mit Preußen endgültig vorbei ist“39. Er sollte auch darin Recht behalten.

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39



Vgl. zur Lage nach 1945: Hertz-Eichenrode, Die „Neuere Geschichte“ an der Berliner Universität (wie Anm. 18), S. 305 ff. sowie neuerdings Wolfgang Hardtwig / Alexander Thomas, Forschungen und Parteilichkeit. Die Neuzeithistorie an der Berliner Universität nach 1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 6: Selbstbehauptung einer Vision, Berlin 2010, S. 333–359. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, Nachlass Friedrich Meinecke, Nr. 14, 137 (Hartung an Meinecke, 6. 4. 1946).

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Seit 1947 gestalteten sich die Dinge an der Universität immer unerfreulicher für Hartung. Im Jahr zuvor hatte er noch eine gewisse Aufbruchstimmung wahrgenommen: Im Rahmen der ersten, bereits im Mai 1946 in Ost-Berlin abgehaltenen deutschen Historikerkonferenz nach dem Krieg hatte er im Rahmen eines Vortrags über „Die Aufgaben der Geschichtswissenschaft in der heutigen Zeit“ ein deutliches und überaus kritisches Resümee der deutschen Historiographie der Zwischenkriegsära formuliert: Es müsse mit Erschütterung seitens der Geschichtswissenschaft zur Kenntnis genommen werden, „daß das deutsche Volk aus dem Zusammenbruch von 1918 nichts gelernt hat. Hier liegt auch ein Verschulden der deutschen Historie vor. Sie hat … nicht energisch genug Stellung genommen gegen die aus politischen und militärischen Kreisen stammende Behauptung, daß wir den Krieg lediglich wegen der Schwäche unserer durch humanitäre Rücksichten allzu sehr gehemmten politischen Leitung verloren hätten“; immerhin mahnte er bereits jetzt ahnungsvoll an, dass den Irrtümern und Denkverboten der soeben überwundenen Epoche keine neuen folgen dürften, denn „Irrtümer werden nicht durch Verbote beseitigt, sondern durch bessere und tiefere Erkenntnisse, und diese erwächst [sic] allein aus der freien Aussprache und Kritik auf wissenschaftlicher Grundlage“40. Wie berechtigt diese genau ein Jahr nach der deutschen Kapitulation ausgesprochene Mahnung war, zeigten alsbald die Ereignisse an der Universität, an der die kommunistischen Kräfte nach und nach an Boden gewannen, massiv unterstützt durch die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone. Der Einführung einer neuen „Pädagogischen Fakultät“, die vor allem für die weltanschauliche Schulung und Beeinussung der Studierenden zuständig sein sollte, hat sich Hartung mit aller Kraft ebenso widersetzt wie der ansteigenden Tendenz zur Überwachung und Einschränkung der Meinungsfreiheit, von der er selbst in zunehmendem Maße betroffen war. In einer persönlichen Notiz, wohl aus dem Sommer 1947, stellte er fest, er nehme für sich „das Recht einer Lehrfreiheit in Anspruch, wie ich sie mit meinem wissenschaftlichen Ruf und meinem Gewissen decken kann. … Ich bin entschlossen, Übergriffe seitens der SED mit aller Schärfe zurückzuweisen“41. Natürlich konnte ihm dies unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr gelingen; bereits im Dezember 1948 hatte er nach üblen Erfahrungen resigniert. In einem Brief an Gerhard Ritter aus dieser Zeit beklagte er ganz offen „die planmässige Sowjetisierung der Hochschule“; im übrigen sei, so fügte er an, „die ganze Behandlung der Universität, zumal der Studenten, doch schlimmer als je nach 1933, und für mich ist nunmehr die Grenze erreicht, hinter die ich mich nicht zurückdrängen lasse. Es gibt natürlich Kollegen, die meinen, ich sollte aushalten und kämpfen, bis es wirklich zum offenen Konikt kommt. Ich würde mich darauf vielleicht eingelassen haben, wenn ich nicht in der

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Anke Huschner, Deutsche Historiker 1946. Aus dem Protokoll der ersten Historiker-Tagung in der deutschen Nachkriegsgeschichte vom 21. bis 23. Mai 1946, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 41 (1993), S. 884–918, hier S. 899, 901. Hier zitiert nach: Schochow, Ein Historiker in der Zeit (Anm. 1), S. 236.

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nationalsozialistischen Zeit gesehen hätte, wie leicht man auf der schiefen Ebene, die man den Boden der Tatsachen nennt, ins Bodenlose abrutscht“42. Hartung ließ sich noch Ende 1948 vorzeitig emeritieren und schied damit aus der „Linden-Universität“ (wie man sie in jener Zeit nannte) aus. Gleichzeitig hatte er einen Ruf an die soeben begründete Freie Universität im Westteil der Stadt, in dem Hartung selbst lebte, erhalten, doch er lehnte diesen Ruf ab. Er vermochte diese Neugründung nur als eine Totgeburt anzusehen – ein großer Irrtum, wie sich bald zeigen sollte. Die neue Universität sei, wie er meinte, lediglich von der amerikanischen Besatzungsmacht und den in WestBerlin regierenden politischen Parteien getragen, außerdem müsse sie wegen fehlenden Lehrpersonals und einem Mangel an Büchern als kaum lebensfähig angesehen werden43. Er selbst hielt sich fortan verstärkt an die im Osten beheimatete Deutsche Akademie der Wissenschaften, deren prominentes Mitglied er weiterhin war und blieb. Er wurde nun hauptamtlich für die Akademie tätig; er amtierte nicht nur weiterhin als Klassensekretar, sondern beaufsichtigte und leitete auch verschiedene Akademieunternehmen, darunter die Arbeitsstelle der Kant-Ausgabe, seit 1952 die Berliner Arbeitsstelle der Monumenta Germaniae Historica und natürlich die bald nach dem Krieg erneut ins Leben gerufenen, von der Akademie herausgegebenen „Jahresberichte für deutsche Geschichte“. Daneben wirkte er allerdinge ebenfalls eifrig in diversen westdeutschen Beiräten und Kommissionen mit, so u. a. in der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, im Beirat des Anfang der 1950er Jahre gegründeten Instituts für Zeitgeschichte44 und nicht zuletzt in der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica. Auch an den Bonner Verhandlungen über die Gründung einer (später jedoch nicht zustande gekommenen) „Historischen Bundeskommission“ war er beteiligt – zumeist nicht nur als kenntnisreicher und erfahrener Gelehrter, sondern besonders auch in seiner Eigenschaft als zeitweilig von beiden Seiten sehr gefragter „Grenzgänger“ und Vermittler zwischen den beiden sich auch im wissenschaftlichen Bereich immer stärker auseinander entwickelnden Teilen Deutschlands. Hartungs Hauptanliegen, die Berliner Akademie – soweit es eben möglich war – von politischer Beeinussung frei zu halten und überhaupt der Spaltung der deutschen Wissenschaft entgegenzuarbeiten, waren anfangs noch gewisse Erfolge beschieden: So gelang ihm seit 1946 noch vereinzelt die Zuwahl bedeutender Gelehrter aus dem Westen in die Akademie, darunter die des Münchner Historikers Franz Schnabel, auch konnte Hartung die Kooptation prominenter, aber wissenschaftlich nicht oder nicht hinreichend ausgewiesener Marxisten wie etwa des früheren Soziologen und jetzt als Professor für Geschichte in Berlin tätigen Alfred Meusel noch im Jahr 1949 verhindern. Doch nach dem mit großem 42

44 43

Bundesarchiv Koblenz, N 1166 (Nachlass Gerhard Ritter), Nr. 333 (Hartung an Ritter, 16. 12. 1948). Vgl. Schochow, Ein Historiker in der Zeit (Anm. 1), S. 237 ff. Vgl. Horst Möller, Das Institut für Zeitgeschichte 1949–2009, in: derselbe / Udo Wengst, 60 Jahre Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Geschichte – Veröffentlichungen – Personalien, München 2009, S. 9–100, hier S. 31 ff.

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äußerem Aufwand gefeierten Akademiejubiläum von 1950 begann sich das Blatt langsam zu wenden; die Zuwahl Meusels und anderer prominenter SED-Funktionäre wie etwa des zeitweiligen Politbüromitglieds Fred Oelßner konnte Hartung nun nicht mehr verhindern. Im Sommer 1952, in dem Ulbricht den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ verkündete, charakterisierte Hartung seine eigene Lage mit einem Vergleich aus der militärischen Sphäre: „Wer hier geblieben ist, kann kaum mehr tun, als seine Position zu verteidigen in der Hoffnung, daß Entsatz kommt, bevor sie überrannt wird“45. Bis 1958 harrte Fritz Hartung gegen vielerlei Widerstände und trotz zunehmend übler werdender Erfahrungen an der Akademie aus, und erst dann, als sein alter Widersacher Alfred Meusel die Aufsicht über die „Jahresberichte“ an sich reißen und Hartungs jungen Assistenten und jahrelangen Mitarbeiter Werner Schochow aus der Akademie vertreiben konnte, gab der alte, inzwischen fünfundsiebzigjährige Gelehrte auf. Hartung ging in den Ruhestand, die Kontakte nach Ost-Berlin wurden immer brüchiger, bevor sie nach dem Bau der Mauer im August 1961 fast vollständig zum Erliegen kamen. Freilich blieb Hartung bis zuletzt ordentliches Mitglied der Akademie, die sich selbst bald in Akademie der Wissenschaften der DDR umbenannte. Sein Ruhegehalt bezog er jetzt allerdings aus dem Westen. Letzter Höhepunkt seiner Laufbahn war die Teilnahme am 10. Internationalen Kongress für Geschichtswissenschaften im September 1955 in Rom gewesen, wo Hartung zusammen mit seinem französischen Kollegen Roland Mousnier ein gemeinsames Positionspapier zum Thema der vergleichenden Absolutismusforschung vorlegte, auch ein Zeichen dafür, dass er jetzt „zur absoluten Spitzengruppe“46 der deutschen historischen Zunft gehörte. – In den letzten Lebensjahren allerdings wurde es langsam still um Hartung. Er arbeitete weiter an einer Neuauage seines wichtigsten und erfolgreichsten Buches, der „Deutschen Verfassungsgeschichte der Neuzeit“, und er verfasste hier und da noch einzelne kleinere Beiträge. Der 1959 gegründeten Historischen Kommission zu Berlin gehörte er ebenfalls – nicht zuletzt als gerne konsultierter Ratgeber – an. Insgesamt also ein höchst erfolgreiches Gelehrtenleben, mit manchen Höhen und nicht wenigen Tiefen, aber eben doch mit bedeutenden Erfolgen. Hartung selbst hat dies am Ende allerdings nicht so gesehen. Das Buch, an dem er in seinen letzten Lebensjahren arbeitete, eine international vergleichende Geschichte des Föderalismus, kam ebensowenig mehr zustande wie die als eigentliches Hauptwerk geplante vergleichende Verfassungsgeschichte der Neuzeit, an der er – immer wieder unterbrochen – bereits seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gearbeitet hatte. Auch hier liegen Fragmente im Nachlass vor, doch die aus einem Guss geschaffene druckfertige Darstellung fehlt. Merkwürdigerweise ging es Hartung damit ebenso wie seinem berühmteren Lehrer Otto Hintze, dessen vergleichende Verfassungsgeschichte zwar fertiggestellt wurde, jedoch in ihren Hauptteilen wohl durch 45 46



Bundesarchiv Koblenz, N 1182 (Nachlass Eduard Spranger), Nr. 378 (Hartung an Spranger, 24. 6. 1952). So Heinz Duchhardt, Der römische Weltkongress und die Absolutismusdiskussion, in: La storiografia tra passato e futuro – Il X Congresso Internazionale di Scienze Storiche (Roma 1955) cinquant’anni dopo. Atti del convegno internazionale, Roma, 21–24 settembre 2005, Roma 2008, S. 121–129, hier S. 121.

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Kriegseinwirkung verloren ging. Hartung hat unmittelbar nach Kriegsende intensiv danach suchen lassen – das inzwischen legendäre Manuskript blieb jedoch verschollen. Vielleicht vermochte er selbst eine innere, wohl nur psychologisch zu verstehende Hemmschwelle nicht zu überwinden und war deshalb unfähig, das verlorene Original seines Lehrers durch etwas Eigenes zu ersetzen. Dennoch bleibt die Erinnerung an eine bedeutende Historikerpersönlichkeit, die man wohl am besten mit deren eigenen Worten charakterisieren kann: An seinem Studienfreund Eduard Spranger rühmte Hartung einmal dessen „strenge Zucht“ und „verhaltene innere Leidenschaft“, die er anschließend als „ein ins Wissenschaftliche übersetztes Preußentum“ charakterisierte. Werner Schochow folgend, darf man diese für Hartung sehr bezeichnende Formulierung auch auf ihn selbst beziehen47.

Werke Hardenberg und die preußische Verwaltung in Ansbach-Bayreuth von 1792 bis 1806, Tübingen 1906. – Die Geschichte des fränkischen Kreises von 1521–1559, Leipzig 1910. – Karl V. und die deutschen Reichsstände von 1546 bis 1555, Halle 1910. – Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig/Berlin 1914 (8 weitere Au. bis 1969) – Österreich-Ungarn als Verfassungsstaat, Halle 1918. – Deutsche Geschichte von 1871 bis 1914, Bonn 1920 (ab der 2. Au.: … bis 1919; 5 weitere Au. bis 1952). – Deutschlands Zusammenbruch und Erhebung im Zeitalter der französischen Revolution von 1792 bis 1815, Bielefeld 1922. – Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Carl Augusts 1775 bis 1828, Weimar 1923. – Die Marokkokrise des Jahres 1911, Berlin 1927. – Neuzeit. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Französischen Revolution 1789, Leipzig/Wien 1932 (Ndr. Darmstadt 1965). – Preußen und das Deutsche Reich seit 1871. Rede, gehalten bei der Reichsgründungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 18. Januar 1932, Berlin 1932. – Hindenburg, Leipzig 1934. – Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940. – König Friedrich Wilhelm I. Der Begründer des preußischen Staates, Berlin 1942. – Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, Teile 1–3, Berlin 1942–1948. – Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776–1946 (ab der 2. Au.: … bis zur Gegenwart), Berlin 1948 (5 weitere Au. bis 1998). – Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, der Gegenreformation und des 30jährigen Krieges, Berlin 1951 (2 weitere Au. bis 1971). – Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1961. – Ausführliche Werkverzeichnisse: Werner Schochow, Bibliographie Fritz Hartung, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 3 (1954), S. 211–240; derselbe, Nachtrag zur Bibliographie Fritz Hartung, in: Dietrich, Richard / Oestreich, Gerhard (Hrsg.): Forschungen zu Staat und Verfassung – Festgabe für Fritz Hartung, Berlin 1958, S. 537–538; derselbe, Zweiter Nachtrag zur Bibliographie Fritz Hartung, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 16/17 (1968), S. 729–732.

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Vgl. Schochow, Ein Historiker in der Zeit (Anm. 1), S. 250.

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Literatur Richard Dietrich / Gerhard Oestreich (Hrsg.), Forschungen zu Staat und Verfassung – Festgabe für Fritz Hartung, Berlin 1958. – Richard Dietrich, Fritz Hartung zum Gedächtnis, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 16/17 (1968), S. 721–729. – Richard Dietrich, Fritz Hartung †, in: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 525–528. – Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, München 2005. – Dieter Hertz-Eichenrode, Die „Neuere Geschichte“ an der Berliner Universität. Historiker und Geschichtsschreibung im 19./20. Jahrhundert, in: Reimer Hansen / Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 82), Berlin/New York 1992, S. 261–322. – Carl Hinrichs, Fritz Hartung zum 75. Geburtstag, in: derselbe: Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. Gerhard Oestreich, Berlin 1964, S. 398–411. – Hans-Christof Kraus, Soldatenstaat oder Verfassungsstaat? – Zur Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Fritz Hartung über den preußisch-deutschen Konstitutionalismus (1934/35), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands 45 (1999), S. 275–310. – Hans-Christof Kraus, Verfassungslehre und Verfassungsgeschichte – Otto Hintze und Fritz Hartung als Kritiker Carl Schmitts, in: Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Dietrich Murswiek / Ulrich Storost / Heinrich A. Wolff, Berlin 2000, S. 637–661. – Gerhard Oestreich, Fritz Hartung als Verfassungshistoriker (1883–1967), in: derselbe: Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Brigitta Oestreich, Berlin 1980, S. 34–56. – Werner Schochow, Ein Historiker in der Zeit – Versuch über Fritz Hartung (1883–1967), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 32 (1983), S. 219–250. – Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989. – Peter Thomas Walther, Fritz Hartung und die Umgestaltung der historischen Forschung an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, in: Martin Sabrow / Peter Th. Walther (Hrsg.): Historische Forschung und sozialistische Diktatur. Beiträge zur Geschichtswissenschaft der DDR, Leipzig 1995, S. 59–73. – Wolfgang Hardtwig, Neuzeit-Geschichtswissenschaften 1918–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 413–434. – Wolfgang Hardtwig / Alexander Thomas, Forschungen und Parteilichkeit. Die Neuzeithistorie an der Berliner Universität nach 1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 6: Selbstbehauptung einer Vision, Berlin 2010, S. 333–359.

Nachlass Der umfangreiche wissenschaftliche Nachlass Fritz Hartungs befindet sich in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (Handschriftenabteilung).

Personenregister

Adler, Georg 213 Ahrens, Heinrich 21 Althoff, Friedrich 78, 101, 103, 116, 119, 131–133, 137, 140, 175, 232 Andreas, Gerta, geb. Marcks 150 Andreas, Willy 155, 159 f., 314 Anschütz, Gerhard 189, 195, 198, 201 Apt, Max 176 f. Aristoteles 17, 19, 21, 91, 97 Arons, Leo 80 Aubin, Gustav 313 Aubin, Hermann 313 Augusta, Königin von Preußen, Deutsche Kaiserin 258 Bach, Johann Sebastian 277 Baethgen, Friedrich 298 Baeumler, Alfred 253, 316 Baggesen, August Haller 11 Barlach, Ernst 273 Baumgarten, Hermann 149 f. Bechtel, Heinrich 182 Becker, Carl Heinrich 161, 240 Becker, Karl Ferdinand 11 f. Beenken, Hermann 275 Beethoven, Ludwig van 271, 277 Bekker, Immanuel 14, 50 Below, Georg von 298 Berger, Johann Erich von 9, 11, 14 Bernays, Jacob 94 Bernstein, Eduard 216 Beyschlag, Willibald 24 Bezold, Friedrich von 287 Binding, Karl 191, 206 Bismarck, Herbert Fürst von 56, 152, 250

Bismarck, Marguerite Fürstin von, geb. Gräfin von Hoyos 250 Bismarck, Otto Fürst von 56, 151–153, 155, 158 f., 162, 164, 166, 215, 250 f., 257 f. Bock, Friedrich 139 Bode, Wilhelm von 266 Boeckh (Böckh), August 11, 14, 31, 90 Boeckh, Richard 51 Bonitz, Hermann 95 Bopp, Franz 11 Boutroux, Émile 105 Brackmann, Albert 136, 140, 294, 315 f. Brandi, Karl 250 Brandis, Christian August 14 Brandl, Alois 113–125 Brandt, Otto 251 Braun, Lily 177 Braun, Otto 136 Brentano, Franz 12 Brentano, Lujo 55 Bresslau, Harry 141 Breysig, Kurt 38, 230 Brink, Bernhard ten 117 Brinkmann, Albert Erich 274 Brodersen, Sönke 67 Brucker, Johann Jakob 14 Brunner, Heinrich 286 Bücher, Karl 228 Bülow, Bernhard Fürst von 132 Buhle, Johann Gottlieb Gerhard 14 Butler, Nicholas Murray 65, 71 f. Caspar, Anna, geb. Vonhoff 284 Caspar, Eduard 284

330 Caspar, Erich 281–305 Caspar, Franz 284 Caspar, Gustav Heinrich 284 Caspar, Henriette 284 Caspar, Maria 283 Cassirer, Ernst 23 Chalybäus, Heinrich Moritz 21 Chardin, Jean-Baptiste 269 Clemenceau, Georges 321 Cohen, Hermann 22 Conrad, Johannes 51 Croce, Benedetto 138 Cromwell, Oliver 248 f. Dahlmann, Friedrich Christoph 9 Darwin, Charles 23 David, Eduard 216 Dehio, Georg 265 f., 271 Delbrück, Hans 120, 154, 157, 161, 164, 217, 309 Dessoir, Max 77 Deubner, Ludwig 107 Dibelius, Wilhelm 118 Diels, Berta, geb. Dübell 93, 107 Diels, Emma, geb. Rossel 87 Diels, Friedrich Ludwig Emil 93, 107 Diels, Hermann 87–111 Diels, Ludwig 87, 90 Diels, Otto Paul Hermann 93 f. Diels, Paul 93 Dietrich, Marlene 285 Dietrich, Richard 315 Dietzel, Heinrich 178 Dilthey, Wilhelm 12, 22, 25, 309 Dohna, Alexander Graf zu 197 Droysen, Johann Gustav 13, 30 f., 35 f., 40, 90, 102, 105 Dübell, N.N. 93 Dühring, Eugen 50 Dümmler, Ernst 140

Personenregister Dürer, Albrecht 272 Duncker, Max 35 f. Eberlein, Kurt Karl 273 Ebert, Friedrich 164 f., 168 Eckhardt, Karl August 143 Ehrle, Franz 134 Einstein, Albert 108 Eisenmann, Oskar 268 Elisabeth I., Königin von England 248 Elze, Walter 253 Engel, Wilhelm 143 Engelberg, Ernst 219, 223, 319 Engels, Friedrich 214, 217, 223 Erdmann, Carl 139, 301 Eschenburg, Theodor 193, 315 Eucken, Rudolf 12, 22, 24 f. Evers, Hans Gerhard 275 Eyck, Erich 260 Falk, Adalbert 36 Fechter, Paul 273 Fedele, Pietro 134 Fester, Richard 310, 312–314, 319 Fichte, Immanuel Hermann 21 Fichte, Johann Gottlieb 20, 81 Ficker, Julius 288 Finke, Heinrich 298 Fischer, Kuno 71, 309 Fontane, Theodor 120 Forchhammer, Peter Wilhelm 11 Frank, Walter 166–168, 252–254, 318 f. Frauendienst, Werner 155 Freytag, Gustav 227 Friedländer, David 284 Friedrich II. der Große, König von Preußen 79, 284 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 53, 90 Fries, Jakob Friedrich 11

Personenregister 331 Fritze, August 94 Fromm, Sophie geb. Pinder 269 Furnivall, Frederick 115 Galsworthy, John 119 Gebhardt, Hertha von, geb. Triepel 196, 202 Gierke, Otto von 286 Giesebrecht, Wilhelm 32, 38 Gladstone, William Ewart 36 Gmelin, Ulrich 299 Gneist, Rudolf von 192 Goebbels, Joseph 272 Goethe, Johann Wolfgang (von) 11, 82, 272 Goetz, Walter 163 f. Gomperz, Theodor 94 Gothein, Eberhard 40 Grabowsky, Adolf 312 Gregor VII., Papst 295 Gundlach, Gustav 56 Gurlitt, Cornelius 270 Hänel, Albert 191 f. Haenisch, Konrad 161, 218 Halbertsma, Marlite 263, 275 Haldane, Lord Richard Burdon 121 Haller, Johannes 237 Hamann, Richard 263 Hampe, Karl 287 Hanssen, Georg 47 Harden, Maximilian 273 Harnack, Adolf (von) 25, 65, 78, 137, 286 Hartmann, Nicolai 23, 322 Hartung, Fritz 221, 251, 253, 260, 307– 327 Hartung, Marie, geb. Eckardt 309 Hartung, Paul 309 Hasse, Ernst 229 Haupt, Moriz 30

Hautpmann, Carl 177 Hauptmann, Gerhart 177 Heck, Philipp 191 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 21 Heisenberg, Werner 267 Held, Adolf 55 Heller, Hermann 206 Hellwing, Ernst 50 Hentzen, Alfred 275 Herbart, Johann Friedrich 16, 19 Herkner, Heinrich 217 Hermann, Gottfried 11 Hertling, Georg (Graf ) von 12, 24 Herzfeld, Hans 319 Hettner, Hermann 117 Heymann, Ernst 194 Heyse, Paul 149 Hindenburg, Paul von 165, 301, 317 f. Hintze, Otto 29, 40, 45, 151, 157, 217, 230, 245, 287, 307, 309 f., 314, 318, 320, 325 Hitler, Adolf 142, 164, 166, 168, 202 f., 301, 316 Hobbes, Thomas 20, 81 Hoetzsch, Alma, geb. Stahl 227 Hoetzsch, Cornelie, geb. Koenigs, verw. Spener 234 Hoetzsch, Eva 227 Hoetzsch, Gustav Adolph 227 Hoetzsch, Otto 227–244 Hoetzsch, Siegfried 227 Hoetzsch, Walter 227 Hofmann, Ludwig von 149, 160 Holder-Egger, Oswald 140 Holtzmann, Robert 253, 286, 298 Holtzmann, Walther 139 Hommel, Hildebrecht 104 Hoppe, Willy 253 Hugenberg, Alfred 164, 201, 242, 252 Humboldt, Alexander von 193

332 Humboldt, Wilhelm von 193 Hume, David 81 Jacobson, Siegfried 273 Jaeger, Werner 100 Jahn, Jakob 9 Jahn, Juliane, geb. Trendelenburg 9 Jannings, Emil 285 Jaspers, Gertrud, geb. Mayer 213 Jaspers, Karl 213 Jastrow, Igna(t)z 37 f., 40, 176 Jellinek, Walter 195 Joachim, Erich 133 Johannes VIII., Papst 295 Just, Leo 252 Justi, Carl 268 Kabitz, Willy 72 Kaehler, Siegfried 164, 313, 316, 319, 321 Kaftan, Julius 63 Kahsnitz, Rainer 272 Kaibel, Georg 94 Kalckreuth, Leopold Graf von 149, 159 Kant, Immanuel 16, 18–20, 68, 71, 298 Kappstein, Theodor 77 Kaufmann, Erich 195, 198, 205 Kautsky, Karl 216 Kehr, Doris, geb. vom Baur 135 Kehr, Ivo 135 Kehr, Karl 129 Kehr, Karl Andreas 289 Kehr, Paul Fridolin 127–146, 247 f., 284, 290–294, 300 f. Kehr, Romulus 135 Kelsen, Hans 206 Kerr, Alfred 274 Keudell, Walter von 258 Keyserling, Eduard Graf von 149 Kirchhoff, Adolf 95, 103 Koellreutter, Otto 200

Personenregister König, Georg Ludwig 9 Koenigs, Gustav 234 Körner, Theodor 11 Kolbe, Georg 266 f. Kopp, Georg Kardinal 132 Koser, Reinhold 37, 127, 136, 140 f., 151, 230, 293 Krause, Karl Christian Friedrich 21 Krug, Wilhelm Traugott 14 Kunze, Betty, geb. Tischbein 268 f. Laband, Paul 191 Lachmann, Karl 30 f. Lamprecht, Karl 31, 154 f., 227, 229 Lang, Otto 173 Lange, Friedrich Albert 68 Langewiesche, Karl Robert 269 Lassalle, Ferdinand 79, 213–215, 223 Leibholz, Gerhard 196, 204 Leibniz, Gottfried Wilhelm 21 Lenger, Friedrich 180 Lenz, Max 154, 156 f., 309 f. Lepsius, Richard 13 Levison, Wilhelm 298, 300, 302 Lewy, Ernst 220 Ley, Robert 321 Lichnowsky, Karl Max Fürst von 121 Lichtwark, Alfred 149, 155 Liebermann, Max 120, 149, 160 Lindau, Hans 81 Lindau, Paul 81 Linde, Otto zur 76 List, Friedrich 51 Lochner, Stephan 267 Locke, John 81 Lohmeyer, Julius 230 Lorenz, Theodor 73 Macaulay, Thomas Babington 40 Maiorescu, Titu 24

Personenregister 333 Mâle, Émile 270 f. Mandelsloh, Asche Graf von 194 Mann, Golo 168 Mann, Heinrich 285 Mann, Thomas 147, 149, 160 Mannheim, Karl 272 Marcks, Albert 147 Marcks, Albert jun. 150, 157 Marcks, Erich 147–171, 215, 218, 221, 227, 247, 258, 309, 311, 313–316, 318 f. Marcks, Erich jun. 150 Marcks, Friederike, geb. von Sellin 150 Marcks, Heinrich 150 Marcks, Otto 150 Marcks, Therese, geb. Coqui 147, 149 f. Martitz, Ferdinand von 191 Marx, Karl 180, 184, 215, 219, 223 Maximilian I., Erzherzog von Österreich, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 311 Mayer, Gustav 211–225, 319 Mayer, Otto 193 Mayer, Theodor 143 Meinecke, Friedrich 150, 151, 159 f., 162–164, 167, 178, 201, 216 f., 221, 245, 256, 314–316, 319, 322 Meinert, Hermann 140 Meister, Aloys 311 Meitzen, August 51 Menger, Carl 55 Menzer, Paul 313 Mercati, Angelo 134 Mercati, Giovanni 134 Meusel, Alfred 324 f. Meyer, Arnold Oskar 245–262, 314, 324 Meyer, Bertha, geb. Thierfelder 249 Meyer, Conrad Ferdinand 149 Meyer, Eduard 104 f., 157, 161, 217, 309 Meyer, Eugen 142

Meyer, Hans-Ulrich 256 Meyer, Hermann 245 Meyer, Hildegard 256 Meyer, Ilse 256 Meyer, Liselotte 256 Meyer, Oskar Emil 245 Michelangelo (Michelangelo Buonarotti) 266 Mill, John Stuart 55 Mommsen, Theodor 27, 35, 87, 95–98, 102, 105, 147 Mousnier, Roland 325 Müller, Karl Alexander von 155, 161, 166, 253, 255 Murray, John 115 Nagler, Karl Ferdinand von 11 Naudé, Albert 151 Naumann, Friedrich 75, 200 Neander, August 11 Nell-Breuning, Oswald von 55 f. Niebuhr, Barthold, Georg 14, 27, 29, 31, 102 Niedhart, Gottfried 222 Nissen, Heinrich 140, 287 Nitzsch, Gregor Wilhelm 29 Nitzsch, Karl Wilhelm 27–46 Norden, Eduard 103, 194 Oelsner, Fred 325 Oestreich, Gerhard 39, 315 Ohm, Martin 50 Oncken, Hermann 154, 164, 215–217, 219, 221, 251 f. Oppenheimer, Franz 58, 320 Paczka, Cornelia, geb. Wagner 59 Papen, Franz von 165, 251 Paul, Hermann 117 Paulsen, Emilie, geb. Ferchel 68

334 Paulsen, Friedrich 12, 24 f., 63–86, 309 Paulsen, Laura, geb. Ferchel 68 Paulsen, Rudolf 75 Perels, Ernst 283, 298, 300 Pesch, Heinrich 56 Pevsner, Sir Nicolaus 275 Pewesin, Wolfgang 299 Pfitzner, Hans 149 Pichler, Adolf 113 Pinder, Eduard 268 Pinder, Elisabeth, geb. Adenauer 269 Pinder, Ernestine, geb. Stenzel 269 Pinder, Lisbeth, geb. Kunze 268 Pinder, Moritz 268 Pinder, Sophie, geb. Wilken 268 Pinder, Wilhelm 253, 263–279 Piper, Reinhard 273 Pius X., Papst 134 Pius XI., Papst 134, 138 f. Platon 21, 91 Pölnitz, Götz Freiherr von 143 Porter, Noah 24 Posner, Max 41 Preuß, Hugo 176, 199 Radbruch, Gustav 191 Ramackers, Johannes 140 Ranke, Leopold (von) 13, 27, 29, 33–36, 103, 219, 253, 287 Ratzel, Friedrich 229 Rau, Karl Heinrich 54 f. Raumer, Friedrich von 50 Raumer, Kurt von 251 Reinhardt, Karl 100 Reinhardt, Max 120 Reinhold, Karl Leonhard 9 Rembrandt (Rembrandt Harmenszoon van Rijn) 269, 277 Reventlow, Ernst Graf zu 320 Richter, Werner 292

Personenregister Riemann, Heinrich Arminius 9 Rietschel, Siegfried 230 Ritschel, Friedrich 30 Ritter, Gerhard 323 Ritter, Moriz 287 Rjasanow, David 220 Robert, Carl 94 Röder, Karl David August 21 Rörig, Fritz 253 Roethe, Gustav 115, 157 Roger II., König von Sizilien 286 Roosevelt, Theodore 232 Roscher, Wilhelm 47, 50 Rosenberg, Alfred 272 f. Rossel, Karl 89 Rothfels, Hans 164, 220, 261, 319 Rotteck, Carl von 309 Rust, Bernhard 320 Salza, Hermann von 297 Salzmann, Christian Gotthilf 11 Samter, Ernst 104 Savigny, Friedrich Carl von 192 Schäfer, Dietrich 157, 161, 217 f., 247, 309 Scheel, Heinrich 254–257, 260 Scheffer-Boichorst, Paul 287–289 Scheidemann, Philipp 216 Scheja, Georg 275 Scheler, Max 320 Scherer, Wilhelm 53, 115 Schiaparelli, Luigi 134 Schiemann, Theodor 231 f., 234–237, 240 Schiller, Friedrich (von) 82, 222 Schipper, Jakob 115 Schlegel, Friedrich 11 Schleicher, Kurt von 165 Schleier, Hans 223 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 11, 13, 21

Personenregister 335 Schmarsow, August 268 f. Schmidt, Erich 115 Schmidt, Gustav 129 Schmidt-Ott, Friedrich 237 Schmitt, Carl 195 f., 206, 315, 318 Schmoll, Josef Adolf, gen. Eisenwerth 275 Schmoller, Gustav (von) 29–31, 36, 38– 40, 45, 50 f., 54 f., 58, 151, 154, 157, 175 f., 178, 180, 213, 230, 232, 286, 309 Schnabel, Franz 324 Schochow, Werner 325 f. Schopenhauer, Arthur 68 Schüßler, Wilhelm 255, 258, 260, 322 Schulte, Aloys 133, 298 Schulz, Alfred 220 Schulze-Gävernitz, Gerhart von 178 Schumacher, Fritz 177 Schumacher, Hermann 178 Schwartzkopff, Philipp 233 f. Schweitzer, Johann Baptist von 214 f. Seeberg, Erich 300, 302 Seeberg, Reinhold 158 Sering, Max 221 Shakespeare, William 277 Sickel, Theodor 130, 140 Siering, Max 236 Simson, Otto von 275 Six, Franz Alfred 319 Smend, Rudolf 193–195, 201, 206 Sohm, Rudolf 189 Sombart, Anton Ludwig 175 Sombart, Clementine, geb. Liebelt 175 Sombart, Corina, geb. Leon 178, 182 Sombart, Felicitas, geb. Genzmer 173, 175, 178 Sombart, Helene 175 Sombart, Nicolaus 178 Sombart, Ninetta 178 Sombart, Werner 173–187, 221

Spengler, Oswald 252 Spinoza, Baruch de 16, 68 Spranger, Eduard 71 f., 76, 316 f., 322, 326 Springer, Anton 268 Srbik, Heinrich Ritter von 166, 253 Stadelmann, Rudolf 251 Stählin, Karl 155, 168, 221, 240 Stahl, Clara, geb. Volbeding 227 Stahl, Edmund Camillo 227 Stahl, Friedrich Julius 21 Stengel, Ernst 143 Sternberg, Kurt 70 Stieda, Wilhelm 53 Stoecker, Adolf 55 Stolberg-Wernigerode, Otto Graf zu 155 Streicher, Julius 255 Stresemann, Gustav 165 Stutz, Ulrich 194, 286 Suckale, Robert 265 Sweet, Henry 115 Sybel, Heinrich von 34, 36, 131, 152 Tangl, Michael 141, 157, 217, 287–289, 292 Tellkampf, Johann Ludwig 50 Tennemann, Wilhelm Gottlieb 14 Thausing, Frieda, geb. Wagner 59 Thilly, Frank 67 Thode, Henry 309 Thoma, Richard 201 Thomasius, Christian 20 Thomsen, Claus 67 Tiedemann, Dietrich 14 Tischbein, Carl 269 Tischbein, Johann Friedrich August 268 Tischbein, Johann Heinrich d. Ä. 268 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 9, 268 Titze, Heinrich 203

336 Tönnies, Ferdinand 65, 69, 74 Treitschke, Heinrich von 33–35, 41, 120, 150 f., 227 Trendelenburg, Adolf 9 Trendelenburg, Ferdinande 12 Trendelenburg, Ferdinande, geb. Becker 12 Trendelenburg, Friedrich 12, 25 Trendelenburg, Friedrich Adolf 9–26, 68 Trendelenburg, Karoline 12 Trendelenburg, Marie 12 Triepel, Heinrich 189–209 Triepel, Marie 192 Treue, Wilhelm 315 Treue, Wolfgang 315 Treviranus, Gottfried 201 Trübner, Karl 118 Tucholsky, Kurt 273 Twesten, Detlef Christian 9 Ulbricht, Walter 325 Usener, Hermann 90–93, 101 f., 108 Vahlen, Johannes 95, 103 Villari, Pasquale 134 Vonhoff, Ludwig 284 Wach, Adolph 189 Wagner, Adolph 47–61, 175, 178, 180, 213, 230, 309 Wagner, Elisabeth 59 Wagner, Hermann 50, 56 Wagner, Johanna 59 Wagner, Johanna, geb. Buse 47 Wagner, Johanna, geb. Hahn 47, 59 Wagner, Marie 59

Personenregister Wagner, Martha, geb. Schöneberg 47 Wagner, Richard 227 Waitz, Georg 31 f., 36 Waldow-Reitzenstein, Wilhelm von 233 Walpole, Hugh 119 Walter, Bruno 149 Warburg, Aby 149 Wattenbach, Wilhelm 35 Weber, Max 176, 180 Weber, Wilhelm 253 Wehler, Hans-Ulrich 222 Weiland, Ludwig 129, 131 Wellhausen, Julius 100 Wende, Erich 294 Wendland, Hans 238 Wicksell, Knut 56 Wiederhold, Wilhelm 136 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 87, 90–95, 98, 100, 102–105, 116, 309 Wilhelm I., König von Preußen, Deutscher Kaiser 50, 53, 152, 258 Wilhelm II., König von Preußen, Deutscher Kaiser 74, 135, 155 Wilken, Caroline, geb. Tischbein 268 f. Wilken, Friedrich 268 Windelband, Wolfgang 155, 253 Windscheid, Bernhard 189 Winkelmann, Eduard 47 Wirth, Johann Ulrich 21 Wölfflin, Heinrich 149 Zeller, Eduard 93, 95 f., 105 Zeumer, Karl 37, 41 Zimmermann, Arthur 236, 239 Zippel, Otto 118 Zupitza, Julius 115

Bildnachweis

1. Friedrich Adolf Trendelenburg bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin, Bildnummer 10022975 / Holzstich nach einer Fotografie von Loescher & Petsch 2. Karl Wilhelm Nitzsch Karl Wilhelm Nitzsch, Geschichte des deutschen Volkes bis zum Augsburger Religionsfrieden, unveränderter Nachdruck der Zweiten Auage von 1892, hrsg. von Bruno Opalka, Stuttgart 1959, S. 2 3. Adolph Wagner bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin, Bildnummer 10013076 / J. C. Schaarwächter 4. Adolph Wagner protraitiert von seiner Tochter Cornelia von Paczka UB der HU zu Berlin, Portraitsammlung 5 Friedrich Paulsen ullstein bild, Berlin / Carl Niemeyer, Berlin 6. Hermann Diels bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin, Bildnummer 50033713 / Bayerische Staatsbibliothek / Ferdy Dittmar 7. Alois Brandl bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin, Bildnummer 50140956 / Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer / Ernst Gränert 8. Paul Fridolin Kehr ullstein bild, Berlin / Dephot 9. Erich Marcks bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin, Bildnummer 70000537 / Hermann Ziesemer

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Bildnachweis

10. Werner Sombart bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin, Bildnummer 10007789 / N. Ruschkow 11. Gedenktafel, Werner Sombart Landesarchiv Berlin, F Rep. 29 (02) Nr. 0298585 / Filipp Israelson 12. Ehrengrab Werner Sombart Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 D_002133 / Thomas Platow 13. Heinrich Triepel ullstein bild, Berlin 14. Gustav Mayer ullstein bild, Berlin 15. Otto Hoetzsch ullstein bild, Berlin / Rudolph Duehrkoop 16. Arnold Oskar Meyer Bundesarchiv, Bild 183-J03826 / Dorneth 17. Wilhelm Pinder ullstein bild, Berlin 18. Erich Caspar Monumenta Germaniae Historica, München 19. Fritz Hartung ullstein bild, Berlin