Gefühl, Geste, Gesicht: Zur Phänomenologie des Ausdrucks 9783495860069, 9783495484128


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Table of contents :
Inhalt
Michael Großheim/Stefan Volke: Ausdruck – Erinnerung an ein Thema
Nachrichten aus einer fremden Welt
Das vielsagende Lächeln der Mona Lisa
Hermann Schmitz: Die zeichenlose Botschaft
Norbert Meuter: Die Universalität des Ausdrucks. Zur empirischen Grundlage eines anthropologischen Phänomens
I. Die Universalitätsthese
II. Ausdruck in der Emotionspsychologie
II.1 Basisemotionen
II.2 Funktionen des Ausdrucks
III. Empirische Studien zur Universalität des Ausdrucks
III.1 Ekmans Interkulturelle Beurteilungsstudien
III.2 Beobachtungsstudien zur Ontogenese des Ausdrucks
IV. Emotionspsychologische Theorien des Ausdrucks
IV.1 Die neuro-kulturelle Theorie der Gefühle
IV.2 Die verhaltensökologische Theorie des Ausdrucks
IV.3 Fazit
Heiner Ellgring: Mimischer Ausdruck von Emotionen – Assoziation und Dissoziation von Erleben und Verhalten
I. Einführung
II. Was sind Emotionen und Gefühle?
II.1 Funktionen von Emotionen und Emotionsausdruck
Motivationale Funktionen
Kommunikative Funktionen
II.2 Zusammenhang zwischen Stimulus, Emotion und (Ausdrucks-)Verhalten
Emotionen: Prozesse und Komponenten
III. Mimischer Ausdruck von Emotionen
Mimische Muskulatur
Systematische Erfassung der Mimik
III.1 Ausdruck und Eindruck
Auslöser mimischen Verhaltens
Mimische Aktivität beim Betrachten von Filmen
Mimische und subjektive Reaktionen auf Geschmacksreize
Embodying Emotion
»Emotionale Überblendungen« (»Emotional blends«)
Wahrnehmung und Beurteilung des Lächelns
Gibt es emotions-spezifische prototypische Affekt Programme?
IV. Dissoziation von Erleben und Verhalten
IV.1 Charakteristika mimischen Verhaltens bei psychiatrischen Störungen
IV.2 Charakteristika Mimischen Verhaltens bei Neurologischen Störungen
Beziehungen zwischen Stimulus, Emotion und Ausdruck
V. Schlussfolgerungen zum Mimischen Ausdruck
Multiple Funktionen mimischen Verhaltens
Flexibilität der Interaktion von Organismus und Umgebung
Janette Friedrich: Das Erleben von Ausdruck – Einfühlung oder Zeichen?
Einleitende Bemerkungen
I. Das Problem des Ausdrucks
I.1 Indiz oder Erlebnis?
I.2 Vergegenwärtigung und Versinnlichung
I.3 Ein behavioristisch orientierter Ausdrucksbegriff
II. Ausdruck als Sprache
II.1 Eine innere Beziehung zwischen Sprache und Welt
II.2 Sprache als Medium
Magnus Schlette: Kreativität der Artikulation
I. Der Sinn von ›selbst‹
II. Sich-zu-sich-Verhalten
Wolfgang Tunner: Linie und Farbe – zwei Versuche
Walter Sendlmeier: Stimme – Stimmung – Persönlichkeit
I. Einleitung
II. Geschlechtsspezifische Wirkungsweisen
III. Alter und Stimme
IV. Emotionaler Ausdruck durch Stimme und Sprechweise
V. Stimme und Persönlichkeit
VI. Synchronstimmen
VII. Bildhafte Vorstellungen von Radiomoderatoren
VIII. Das vegetative Nervensystem
IX. Einstellung und Ironie
X. Conclusio
Stefan Volke: Wortgesichter – Zur physiognomischen Artikulation des Zeichenkörpers
I. Einleitung
2. Heinz Werners Sprachphysiognomik
III. Die relative Arbitrarität des Zeichens
IV. Gesichter als Situationen
V. Karl Bühlers Konzept des Klanggesichts
VI. Physiognomische Artikulation
VII. Epilog
Marcel Dobberstein: Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck
I. Musikalischer Ausdruck ist ästhetischer Ausdruck und mehr
II. Systematisierung musikalischer Ausdrucksphänomene
II.1 Das Kontinuum des musikalischen Ausdrucks
II.2 Ausdrucksformen
II.2.1 Zeichenqualitäten
II.2.2. Anmutungsqualitäten
II.2.3. Spezifisch tonlich ästhetische Anmutungen
II.2.4. Anmutungen mit semantischen Beiklängen
Hartmut Möller: Der Orchesterdirigent – Bewegungssuggestionen und solidarische Einleibung
I. Luft sortieren und Atmosphären erzeugen
II. Musik als Bewegung
III. Akustische Gebärdefiguren
IV. Typen des Kraftgeschehens
V. Probenarbeit und solidarische Einleibung
VI. Schluss
Miriam Fischer: Vom Sinn des Tanzes oder: Zum Problem des Verstehens von Tanz
I. Philosophie und Tanz
I.1 »Tanz verstehen«
I.2 Die Idee einer »anderen Intelligenz«
I.3 Phänomenologie des Tanzes
II. Phänomenologische Ansätze zum Problem des »Verstehens von Tanz«: Husserl, Merleau-Ponty und Schmitz
II.1 Edmund Husserl: »Der Mensch ist in seinen Sinnesartikulationen Mensch!«
II.2 Maurice Merleau-Ponty: Die Künste als Formen leiblichen Denkens
II.3 Hermann Schmitz: Tanz als eine Praxis leiblicher Intelligenz
III. Schlussbemerkung
Ludwig Fromm: Raum und Bewegung – Orientierte phänomenale Räume
I. Raum-Sichten
II. Raum und Bewegung
III. Bewegungsmotivationen
IV. Räumliche Situationen
IV.1 Dimension des Raums (Richtungsorientierung)
IV.2 Raumgefüge (Zustandssorientierung)
IV.3 Raumöffnungen (Mobilitätsorientierung)
IV.4 Raumverbund (Anschlussorientierung)
V. Orientierte phänomenale Räume
Die Autoren
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Gefühl, Geste, Gesicht: Zur Phänomenologie des Ausdrucks
 9783495860069, 9783495484128

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https://doi.org/10.5771/9783495860069 .

NEUE PHÄNOMENOLOGIE

© Verlag K

https://doi.org/10.5771/9783495860069

A n 2013 .

Zu diesem Buch: In den letzten Jahren bahnt sich eine Renaissance des Ausdrucksdenkens an. In den Geistes- und Kulturwissenschaften gibt es ein neues Interesse an der Physiognomik, hinzu kommt die Wiederentdeckung der Stimme als Ausdrucksphänomen, und schließlich wird dem Ausdruck auch in der Philosophie wieder breitere Aufmerksamkeit geschenkt. Das Buch versammelt Beiträge zur Kategorie des Ausdrucks u. a. aus den Bereichen Philosophie, sprachliche Kommunikation, Tanz, Architektur, Musik, Gesichts- und Formwahrnehmung und gibt damit einen Einblick in die aktuelle Forschungslage. Die Herausgeber: Michael Großheim, geb. 1962, promoviert 1993, habilitiert 2000, seit 2006 Inhaber der Hermann-Schmitz-Stiftungsprofessur für Phänomenologische Philosophie an der Universität Rostock. Stefan Volke, geb. 1971, Studium der Germanistischen Sprachwissenschaft, Philosophie und Geschichte an der Universität Rostock, Promotion im Fachbereich Linguistik an der FU Berlin.

© Verlag K

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n 2013 .

Michael Großheim / Stefan Volke (Hg.)

Gefühl, Geste, Gesicht

© Verlag K

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n 2013 .

Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 13

© Verlag K

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n 2013 .

Michael Großheim / Stefan Volke (Hg.)

Gefühl, Geste, Gesicht Zur Phänomenologie des Ausdrucks

Verlag Karl Alber Freiburg / München

© Verlag K

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n 2013 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48412-8

ISBN 978-3-495-86006-9 (E-Book) © Verlag K

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Inhalt

Michael Großheim/Stefan Volke Ausdruck – Erinnerung an ein Thema

. . . . . . . . . . .

9

Hermann Schmitz Die zeichenlose Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

Norbert Meuter Die Universalität des Ausdrucks. Zur empirischen Grundlage eines anthropologischen Phänomens . . . . . .

30

Heiner Ellgring Mimischer Ausdruck von Emotionen – Assoziation und Dissoziation von Erleben und Verhalten .

56

Janette Friedrich Das Erleben von Ausdruck – Einfühlung oder Zeichen? Zu Bühlers Ausdruckstheorie . . . . . . . . . . . . . . . .

88

Magnus Schlette Kreativität der Artikulation. Über Ausdruck und Verstehen in praktischen Selbstverhältnissen . . . . . . . . . . . . . 114 Wolfgang Tunner Linie und Farbe – zwei Versuche . . . . . . . . . . . . . . 133 Walter Sendlmeier Stimme – Stimmung – Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . 139

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Inhalt

Stefan Volke Wortgesichter – Zur physiognomischen Artikulation des Zeichenkörpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Marcel Dobberstein Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck . . . . . . . 196 Hartmut Möller Der Orchesterdirigent – Bewegungssuggestionen und solidarische Einleibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Miriam Fischer Vom Sinn des Tanzes oder: Zum Problem des Verstehens von Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Ludwig Fromm Raum und Bewegung – Orientierte phänomenale Räume . 261 Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

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Michael Großheim/Stefan Volke

Ausdruck – Erinnerung an ein Thema

Nachrichten aus einer fremden Welt »Ein langsamer, lockerer, mittelschwerer Gang, weich, rund, strömend, nur wenig ausladend, ohne Forcierungen und mit geringer Straffheit, dabei in hohem Maße ganzkörperlich.« 1 »Ein Gang von wuchtig-kraftvoller Steifheit und klotziger Schwere. Bei sehr aufrechter Haltung werden die Beine in unerhörter Steifheit eckig nach vorn geschwungen und die Füße nicht nur mit äußerstem Gewicht, sondern auch mit starker zusätzlicher Kraft hart und schwer, ohne eine Spur von Elastizität mit den Hacken zuerst auf den Boden hingestampft.« 2 »Ein sehr zarter, leiser, verhaltener, elastischer, zügiger Gang von harmonischer Abgewogenheit und ästhetisch stilvoller Geformtheit.« 3

Das sind nicht die Personenvorstellungen eines Romanschriftstellers. So beginnen die Beschreibungen der Versuchspersonen, deren Auftreten die Psychologin Gertraud Kietz in ihrer Arbeit über den »Ausdrucksgehalt des menschlichen Ganges« untersucht hat. Diese 1948 in Leipzig erschienene Schrift ist ein aufschlussreiches Dokument aus dem zu Ende gehenden Ausdruckszeitalter in der Wissenschaft. Es zeigt u. a., dass in der Epoche des Ausdrucksdenkens von den zwanziger bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Beherrschung der Worte offenkundig mehr galt als der gekonnte Umgang mit Zahlen. Zugleich werden die Stellen erkennbar, an denen die Überwindung des Paradigmas ansetzen wird: Es bedarf, so ein späterer Kritiker, zum Verstehen des Aus1 2 3

Gertraud Kietz: Ausdrucksgehalt des menschlichen Ganges, Leipzig 1948, S. 126. Ebd., S. 134. Ebd., S. 135.

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Michael Großheim/Stefan Volke

drucks also nur des »Sichaufschließens für den unreflektierten Eindruck«. 4 Nach dem weitgehenden Abschied der Wissenschaft vom Thema Ausdruck muss es zunächst überraschen, dass sich in den letzten Jahren so etwas wie eine Renaissance des Ausdrucksdenkens anbahnt. In einer Kultur, die sich durch einen ständig wachsenden Bedarf an Plakaten auszeichnet, in der sogar etwas Nüchternes wie der deutsche Aktienindex nach einem ausdrucksvollen Gesicht verlangt, in der der eigene manipulierte Ausdruck zum Karriere-Instrument wird, wächst auch ein entsprechendes theoretisches Interesse nach. Auf der anderen Seite gibt es starke politische Motive, die die Arbeit an einer computergestützten Personenidentifizierung und Ausdruckserkennung vorantreiben. In den Geistes- und Kulturwissenschaften der letzten Jahre stand am Anfang wohl das neue Interesse an Physiognomik, 5 hinzu kam die Wiederentdeckung der Stimme als Ausdrucksphänomen, 6 und schließlich wurde dem Ausdruck auch in der Philosophie wieder breitere Aufmerksamkeit geschenkt.7 Um diese neueren Tendenzen besser einordnen zu können, empfiehlt es sich, den bereits begonnenen Rückblick noch etwas zu erweitern. Der Versuch, eine Art Panorama über die Publikationen der letzten hundert Jahren zum Thema »Ausdruck« zu bieten, ergibt folgendes Bild: Es besteht ein ziemlich kontinuierliches Interesse am Thema, aber die Anteile verschieben sich. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unbestritten die Wissenschaft auf dem Feld des Ausdrucks dominiert, tritt in der zweiten Hälfte, vor allem seit den achtziger Jahren die populäre Ratgeberliteratur immer mehr in den Vordergrund. Dabei ist zu beobachten, dass sich auch hier noch eine Verschiebung vollzieht: Der Schwerpunkt verlegt sich vom Verstehen zum Darstellen. Während man früher besonders 4

Peter Hofstätter: Psychologie, Frankfurt/Main 1957, S. 47. Vgl. Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe – Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin 1995. 6 Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001. 7 Vgl. Norbert Meuter: Anthropologie des Ausdrucks – Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006. 5

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Ausdruck – Erinnerung an ein Thema

den Ausdruck des Anderen zu verstehen versuchte, bemüht man sich heute zunehmend, den eigenen Ausdruck zu optimieren (z. B. in Bewerbungsgesprächen). Als Beispiel kann hier ein vor zehn Jahren erschienener kleiner Ratgeber dienen mit dem Titel »Stimme. Mehr Ausdruck und Persönlichkeit«, der auf dem Umschlag dazu noch den bezeichnenden Werbeslogan trägt: »Privaten und beruflichen Erfolg steigern«. 8 Das Interesse von Menschen an einer Verbesserung ihrer AlltagsMenschenkenntnis hat es auch zuvor gegeben, doch es wurde noch von den wissenschaftlichen Werken mitbedient, während die Wissenschaft seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts dazu neigt, das Ausdrucksthema aufzugeben, es beispielsweise durch »nonverbale Kommunikation« zu ersetzen. Das alte »Handbuch der Psychologie« berücksichtigte die Ausdruckspsychologie 1965 noch mit einem eigenen (allerdings schon ziemlich defensiv angelegten) Band. Zwei Jahre später erschien im für das Fach Psychologie besonders wichtigen Hogrefe-Verlag eine Studie, die geeignet war, die alte Ausdruckswissenschaft mit ihrer Betonung der Unmittelbarkeit in Bedrängnis zu bringen: Joachim Franke, Ausdruck und Konvention. Ein Beitrag zur Erfassung der sozial-kulturellen Bedingtheit des Ausdrucks. 9 Fast als eine Art Abgesang lässt sich dann schon der kleine Band »Ausdruckspsychologie« betrachten, den der Schweizer Psychologe Remo Buser 1973 veröffentlicht. Er gesteht gleich in der Einleitung, dass es um die Ausdruckswissenschaft heute »recht still« geworden sei, während ein engeres, positivistisch bestimmtes Wissenschaftsideal triumphiere. Die Leitwissenschaft selbst, eine seit ihren Anfängen zwischen Psychologie und Philosophie angesiedelte »Wissenschaft vom Ausdruck«, ist so in den letzten Jahrzehnten zwar vernachlässigt worden. Das bedeutet nicht unbedingt, dass alle Begleitwissenschaften ein ähnliches Schicksal erlebt haben. Das Ausdrucksmotiv spielt in der Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft 8 Vgl. Claudia Hammann: Stimme. Mehr Ausdruck und Persönlichkeit, München 1997. 9 Joachim Franke: Ausdruck und Konvention. Ein Beitrag zur Erfassung der sozialkulturellen Bedingtheit des Ausdrucks, Göttingen 1967.

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Michael Großheim/Stefan Volke

eine besondere Rolle, last not least in der Pädagogik. 10 An diesen Orten ist eine gewisse Abnahme des Interesses an Ausdrucksfragen zu verzeichnen, eine Zunahme dagegen bei den Themen Tanz und Pantomime. Relativ kontinuierlich ist dagegen das Interesse im medizinischen Bereich; dafür stehen Publikationen mit Titeln wie: – Theodor Kirchhoff, Der Gesichtsausdruck bei inneren Krankheiten, Leipzig 1909 – Carl Fervers, Der Ausdruck des Kranken. Einführung in die pathologische Physiognomik, München 1935 – Max de Crinis, Der menschliche Gesichtsausdruck und seine diagnostische Bedeutung, Leipzig 1942 – Jörgen Schmidt-Voigt, Das Gesicht des Herzkranken. Eine Sammlung physiognomischer Leitbilder zur Aspekt-Diagnose kardio-vasculärer Erkrankungen, Aulendorf 1958 – Michael Hertl, Das Gesicht des kranken Kindes. Physiognomischmimische Studie und Differentialdiagnose unter Bevorzugung des seelischen Ausdrucks, München/Berlin 1962 – R. Zihlmann, Ausdruck und diagnostische Situationen, Diss. Zürich 1979 – Michael Hertl, Der Gesichtsausdruck des Kranken. Aussagen zur Diagnose und zum Befinden, Stuttgart/New York 1993 Die großen theoretischen Werke der Leitwissenschaft vom Ausdruck entstehen nach dem ersten Weltkrieg. Ein erster Höhepunkt ist Mitte der zwanziger Jahre zu erkennen. 1923 erscheint die wesentlich erweiterte zweite Auflage von Ludwig Klages »Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft«, nun mit dem programmatischen Untertitel »Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck«. Drei Jahre später folgt eine Sammlung seiner Aufsätze zur Ausdruckslehre und Charakterkunde. 11 1925 veröffentlicht Helmuth Plessner zusammen mit Buytendijk seine Abhandlung »Die Deutung des mimi10

Vgl. z. B. Robert Reigbert: Ausdruckspsychologie und praktische Pädagogik, Weimar 1929; Richard Kienzle: Die Schülerzeichnung als Ausdruck des Charakters. Eine praktische Anleitung zur charakterkundlichen Beurteilung von Zeichnungen, Eßlingen 1938. 11 Ludwig Klages: Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde, Heidelberg 1926.

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Ausdruck – Erinnerung an ein Thema

schen Ausdrucks«; im gleichen Jahr publiziert der Außenseiter Ottmar Rutz sein Buch »Vom Ausdruck des Menschen«. 1932 erscheint Philipp Lersch »Gesicht und Seele«, ein Jahr später Karl Bühlers »Ausdruckstheorie«. Die Kritiker lassen nicht auf sich warten. Schon Mitte der zwanziger Jahre klagt Hermann Ammann in einer sprachphilosophischen Untersuchung über »das heute bis zur Erschlaffung ausgeweitete Kautschukwort Ausdruck«.12 Damit sind wir bei einer der Fragen, die uns in diesem Tagungsband sicher beschäftigen werden: Wo sind die Grenzen des Ausdrucks? Gibt es Ausdruck nur dort, wo es um Menschen, vielleicht noch Tiere geht? Oder können wir auch vom Ausdruck eines Musikinstruments, einer Landschaft, einer Farbe, eines Gemäldes sprechen? Der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, hat in der Frage nach dem Umfang des Ausdrucksbegriffs für eine sehr weitgehende Beschränkung plädiert. Er will gerade das Mienenspiel und die Gesten ausschließen, »mit denen wir unser Reden unwillkürlich und jedenfalls nicht in mitteilender Absicht begleiten oder in denen, auch ohne mitwirkende Rede, der Seelenzustand einer Person zu einem für ihre Umgebung verständlichen ›Ausdrucke‹ kommt.« 13 Derartige Ausdrücke haben für Husserl keine Bedeutung im prägnanten Sinne sprachlicher Zeichen; sie sind bloße Anzeichen. Lediglich wenn ein Anderer sie »deutet«, bedeuten sie auch etwas, und zwar ihm, dem Deutenden. Diese enge Fassung des Ausdrucksbegriffs ist nun für unser Projekt sicher nicht brauchbar, denn hier geht es eben um die von Husserl ausgeschlossenen Mienen und Gesten, um die unwillkürlichen »Ausdrucksbewegungen«.14 So wie man die Grenzen des Ausdrucksbegriffs bedenken muss, so muss man auch noch in anderer Hinsicht auf die Sprache achten, die in diesem Zusammenhang – oft voreilig, unreflektiert – ge12

Hermann Ammann: Die menschliche Rede. Sprachphilosophische Untersuchungen, I. Teil: Die Idee der Sprache und das Wesen der Wortbedeutung, Lahr i. B. 1925, S. 54. 13 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen II/1 – Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, hrsg. von Ursula Panzer, Bosten/London/ Nijhoff 1984, S. 30 f. 14 Ebd., S. 38.

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Michael Großheim/Stefan Volke

braucht wird. Schon die Wahl ganz unauffällig wirkender Wörter wie »lesen«, »deuten«, »entziffern« etc. stellt nämlich entscheidende Weichen für die Gesamtauffassung des Phänomens »Ausdruck«. Besonders in der neueren Populär-Literatur wird so gut wie gar nicht auf die Implikationen der jeweiligen Wortwahl geachtet. Daher sollen die fünf wichtigsten Grundmöglichkeiten hier kurz vorgestellt werden. Erschöpfende Analysen der Modelle sind in diesem Rahmen nicht möglich; es kann nur der Sinn für die Fragen geweckt werden, die sich bei genauerer Betrachtung ergeben. 1. So spricht das gegenwärtig verbreitetste Modell vom »Lesen« des Ausdrucks. Die deutsche Übersetzung von Paul Ekmans Buch »Emotions revealed« etwa heißt »Gefühle lesen«. Das Lesemodell – manchmal ist übrigens auch davon die Rede, dass man den Ausdruck »ablesen« könne – das Lesemodell ist konsequenterweise häufig verbunden mit dem Begriff der »Körpersprache«. 15 Hier stellt sich verschiedene Fragen: Was sind die Buchstaben, Silben und Wörter, die man lesen kann? Gibt es diese Elemente in der Ausdruckserfahrung überhaupt (z. B. bei Säuglingen oder höheren Tieren, die intensiv auf Ausdruck reagieren)? Wann und wie lernt man sie? 2. Einem anderen, ebenfalls optisch konzipierten Modell zufolge kann man dem Mitmenschen »ansehen«, wie ihm zumute ist. Das von Peter Hofstätter verfasste »Fischer Lexikon Psychologie« leitet den Artikel über »Ausdruckskunde« mit folgendem Beispiel ein: »Die Erfahrung lehrt, daß uns andere Menschen bisweilen Stimmungen und Regungen ›ansehen‹, deren Mitteilung nicht in unserer Absicht lag, ja die wir uns nicht zu zeigen vorgenommen hatten.«16 Etwas ansehen, heißt eigentlich soviel wie: etwas sehen, das 15

Vgl. z. B. Fritz Lange: Die Sprache des menschlichen Antlitzes. Eine wissenschaftliche Physiognomik und ihre praktische Verwertung im Leben und in der Kunst, München 1952 (4., völlig neubearb. Aufl.); Ludwig Eckstein: Die Sprache der menschlichen Leibeserscheinung, Leipzig 1943. 16 Hofstätter: Psychologie, S. 46. Vgl. das Beispiel von Ludwig Klages. »Die feinfühlige Frau aus dem Volke, die dem heimkehrenden Gatten mit einem Blick leichte Gereiztheit, dem Sohn leise Verstimmung ansieht, wäre, wenn darum befragt, völlig außerstande anzugeben, wie die Veränderung der Gesichtszüge beschaffen war, auf die sich ihr Urteil stützte. Sie würde sagen, sie habe leichte Gereiztheit oder leise

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Ausdruck – Erinnerung an ein Thema

man nicht sehen kann (jedenfalls nicht nach herkömmlichen Auffassungen des Sehens). Wie macht das Sehen das? 3. Husserl wählt als Zugang zum Ausdruck, wie wir eben feststellen konnten, weder das Lesen noch das Sehen, sondern das »Deuten«. Hier scheinen die Ansprüche an das Verstehen höher zu sein und die Irrtumsmöglichkeiten größer. Man deutet z. B. ein Orakel, d. h. der Sinn liegt alles andere als auf der Hand, das Vorliegende ist vieldeutig. Die optischen Modelle wirken demgegenüber simpler, sowohl das Lesen wie auch das Sehen ähneln – verglichen mit dem Deuten – eher einem Registrieren, Zur-Kenntnis-Nehmen einer unproblematisch zugänglichen, vor Augen stehenden Botschaft. 4. Eine weitere Variante orientiert sich sprachlich an den Ermittlungsmethoden von Ägyptologen oder Geheimdienstlern: das »Entziffern«, »Dechiffrieren«. Hier wird auch gerne von einem »Code« geredet. Das Entzifferungsmodell impliziert, dass Lesbarkeit nicht einfach vorliegt, sondern erst hergestellt werden muss. Dieses Modell teilt mit anderen die Voraussetzung, dass das Ausdrucksverstehen bei einzelnen Zeichen ansetzt, die entweder registriert oder übersetzt werden müssen. 5. Neben dem »Lesen« und dem »Sehen«, dem »Deuten« und dem »Entziffern« gibt es schließlich noch das seltener verwendete »Spüren«. 17 Was der Andere ausdrückt, spüre ich am eigenen Leib – wie der Andere mir über leibliche Kommunikation nahe kommen kann. Das Dilemma des Vaters der modernen Physiognomik, Johann Caspar Lavater, war übrigens, dass er sich zwischen den kognitiven Zeichenmodellen und dem leiblichen Spüren nicht entscheiden konnte. Die gegenwärtig einflussreichste Strömung in der Ausdruckswissenschaft baut ebenfalls auf einem Inventar einzelner körperlicher Zeichen auf. Das soll abschließend noch an einem Beispiel gezeigt werden, einem Bild nämlich, das einen entscheidenden VorVerstimmung gesehen; das aber wüßte sie nicht, welche Verschiebung beweglicher Gesichtsteile mit den ›gesehenen‹ Gemütszuständen einherging«, in: Ludwig Klages: Sämtliche Werke VI – Ausdruckskunde, Bonn 1964, S. 379. 17 Vgl. u. a. Ulrich Pothast: Lebendige Vernünftigkeit, Frankfurt/Main 1998.

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Michael Großheim/Stefan Volke

zug hat: Es ist so bekannt, dass wohl jeder zumindest eine Abbildung davon gesehen hat und erinnern kann. Das vielsagende Lächeln der Mona Lisa Der Berliner »Tagesspiegel« druckte am 15. Dezember 2005 eine Meldung der Nachrichtenagentur AFP, die uns endlich exakte Ergebnisse zu einem schwierigen Fall von Ausdruck präsentierte: »Mona Lisas Lächeln war zu 83 Prozent glücklich, aber ihr Gesichtsausdruck ist auch zu neun Prozent angewidert, zu sechs Prozent ängstlich und zu zwei Prozent zornig. Das ergab eine computergestützte Emotionsanalyse der Uni Amsterdam. Das Programm erkennt angeblich sechs menschliche Basisemotionen.« 18 Das Thema kommt in den Zeitungen nicht zur Ruhe. Eineinhalb Jahre später klärt uns das Feuilleton der »Frankfurter Allgemeine Zeitung« über die inzwischen auf sieben angewachsene Anzahl der Basisemotionen auf und fragt unter der Überschrift »Gefühlstest« erneut: »Lächelt Mona Lisa eigentlich? Wissenschaftlicher formuliert: Welches emotionale Ausdrucksmuster möchten Sie ihr am ehesten zusprechen? Sieben Basisemotionen stehen nach der bislang empirisch am besten belegten Klassifikation zur Auswahl: Fröhlichkeit, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung. Diese kulturübergreifenden Grundmuster von Mimik verzeichnet Paul Ekmans Codierungsraster von Gesichtsausdrücken (›Facial Action Coding System‹).« 19 Der amerikanische Psychologe Paul Ekman hat schon vor zwanzig Jahren zusammen mit einem Kollegen einen »Gesichtsatlas« präsentiert, »eine systematische Beschreibung, in der mit Worten, Foto- und Filmmaterial dargelegt ist, wie sich Gesichtsbewegungen anatomisch messen lassen«. 20 Das »Facial Action Coding System« 18

Der Tagesspiegel vom 15. Dezember 2005, S. 28; Quelle: Nachrichtenagentur AFP. 19 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. August 2007, S. 33. 20 Paul Ekman: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, übers. v. Susanne Kuhlmann-Krieg, München 2007, S. 19.

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Ausdruck – Erinnerung an ein Thema

(FACS) ist das gegenwärtig ausgefeilteste elementaristische Modell, und es setzt am Körper an, genauer an seinen Muskeln: Das FACS beansprucht, aus 43 »Facial Units« (grundlegenden Gesichtsmuskelgruppen) jede beliebige Mimik rekonstruieren zu können. Computerwissenschaftler sind inzwischen eifrig bemüht, die von Ekman entworfenen Verfahren zur Messung von Gesichtsbewegungen zu automatisieren und zu beschleunigen. Hier kommt ein letzter auffälliger Zug der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Ausdruck ins Spiel, ihre ausgeprägte Zuhandenheit: Ausdrucksforschung ist immer leicht verwertbar, zu jeder Zeit steht sie in der Gefahr, von jeweils herrschenden Strömungen für ihre Zwecke in Dienst gestellt zu werden. So erklärt sich die Bedeutung der deutschen Ausdruckswissenschaft in den dreißiger Jahren mit der massiven Förderung der Wehrpsychologie; Ausdruckswissenschaftler wurden gebraucht bei der professionellen Auswahl des Offiziersnachwuchses. In der Gegenwart liegen die Dinge anders: Die neue Wertschätzung der amerikanischen Ausdruckswissenschaft hat mit dem Interesse von Sicherheitsexperten zu tun, brauchbare biometrische Überwachungssysteme einsetzen zu können. Bisher stand an den amerikanischen Flughäfen und Bahnhöfen die Gesichtserkennung anhand fester körperlicher Daten im Mittelpunkt; das »Department for Homeland Security« plant nun zusätzlich, die Mimik der Passagiere auf verdächtige Ausdrucksmomente zu scannen. Mona Lisas Gesichtsausdruck ist ja bereits erfolgreich auf verborgene »Mikroexpressionen« untersucht worden. Ob sich allerdings durch diese Technik auch der Grund für ihr Lächeln wird entziffern lassen, bleibt bis auf weiteres eine offene Frage. Rostock/Freiburg, im August 2010

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Hermann Schmitz

Die zeichenlose Botschaft

Eine Mitteilung oder Meldung liegt vor, wenn etwas (als Melder) mit Hilfe von spezifischen Sinnesqualitäten (Farben, Schälle, Gerüche, Geschmäcke, Tastqualitäten) oder unspezifischen (Größe, Gestalt, Zahl, Ruhe, Bewegung, Lage, Anordnung) einem geeignet vorbereiteten Empfänger etwas zu verstehen gibt, das mehr als diese Qualitäten und auch nicht der dingliche Typus dieses Melders ist. Diese Umschreibung, so umständlich sie auch abgezirkelt ist, bleibt weit hinter der Erfordernis scharfer Begriffsbestimmung zurück. Mindestens müsste noch geklärt werden, was es heißt, etwas zu verstehen zu geben. Aber diese Mühe ist nicht nötig. Man kann die gesuchte Präzision nämlich auch durch Einteilung erreichen, weil es genau drei Arten von Mitteilung zu geben scheint: die Nachricht, das Symptom und den Ausdruck. Eine Nachricht im engeren, gewöhnlichen Sinne ist die Darstellung einzelner (auch vieler einzelner) Sachverhalte als Tatsachen in stimmlicher oder schriftlicher Rede oder für diese eintretenden Symbolen; um den Spielraum auszuschöpfen, kann man die Darstellung beliebiger Sachverhalte, Programme und Probleme hinzunehmen, doch spielt das hier keine Rolle. Ein Symptom ist eine Konstellation von Zuständen oder Ereignissen, die gemäß bekannten kausalen Zusammenhängen eine Ursache anzeigen. Was Ausdruck ist, lässt sich zunächst nur für den nächstliegenden Fall angeben, da der den allgemeinen Fall abdeckende Begriff erst nachher eingeführt werden kann. Ausdruck im nächstliegenden Fall oder im engeren Sinn ist die körperliche oder lautliche Erscheinung davon, wie ein Mensch oder Tier erlebt, z. B. der Ausdruck des Gesichts, des Ganges, der Haltung, der Stimme. Das Wort »Mitteilung« ist insofern doppelsinnig, als sowohl das mitteilende Objekt, der Melder, als auch die Mitteilungsbezie-

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Die zeichenlose Botschaft

hung so heißen kann. Ich verwende ihn hier nur im ersten Sinn. Für die Mitteilungsbeziehung wähle ich den Namen »Botschaft«. Eine mehr oder weniger unbezweifelte Vormeinung, auf die sich eine heute sehr einflussreiche Wissenschaftssynthese, die Semiotik, stützt, unterstellt, dass jede Mitteilung ein Zeichen ist, die Mitteilungsbeziehung also nur dort stattfindet, wo Zeichen sind. Was aber ist ein Zeichen? Ich gebe dafür zwei nach meiner Ansicht notwendige und mit einander zureichende Merkmale an, von denen das erste sich darauf beruft, dass jede Mitteilung sich in einem sinnfälligen Medium (z. B. der Schälle, Farben, Flächen, Körper, auch in Kombinationen) abspielt. Die beiden Merkmale sind: Das Zeichen ist in dem Medium durch dem Empfänger merkliche Züge hervorgehoben. Das Zeichen ist durch eine (auch Regel genannte) Übersetzungsvorschrift dem Mitgeteilten zugeordnet. Die Auswahl dieser Merkmale ist durch die Erwartung bestimmt, dass die semiotische Grundannahme, jede Botschaft sei an Zeichen gebunden, auf dem in der Neuzeit herrschenden Dogma des Singularismus beruht, der Lehre, dass alles ohne Weiteres (ohne Zusatz zu seiner sonstigen Beschaffenheit) einzeln ist. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Angewandt auf das Thema der Mitteilung, führt dieses Dogma zum Ansatz von drei einzelnen Sachen als Zubehör: des Empfängers, des Mitgeteilten und des mitteilenden Trägers der Botschaft. Wenn jede ohne Weiteres einzeln ist, kann die Botschaft nur durch eine der Mitteilung aufgesetzte Beziehung zum Mitgeteilten entstehen, und damit diese dem Empfänger verständlich wird, bedarf dieser einer Übersetzungsregel, die ihm das Relat der Beziehung (der Botschaft) anzeigt. Die Mitteilung oder der Melder muss ferner in seinem Medium abgehoben sein, damit er als einzelne Sache nicht übersehen wird. So ergeben sich ganz natürlich die beiden für das Zeichen vorgesehenen Merkmale. Beide Anforderungen sind für die Nachricht und das Symptom offensichtlich erfüllt; in diesen Fällen liegt also Mitteilung im semiotischen Sinn vor, Mitteilung durch Zeichen. Merkwürdiger Weise 19 © Verlag K

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ist das beim Ausdruck nicht der Fall; seine Botschaft ist also im angegebenen Sinn zeichenlos. Ich habe den Beweis mehrfach geführt 1 und werde nun für beide Merkmale zeigen, dass sie im Fall der Mitteilung durch Ausdruck nicht erfüllt sind. Die Botschaft des Ausdrucks wird auch verstanden, wenn sich im Medium der Mitteilung kein Zeichen abhebt. Zur Bestätigung möge eine bekannte Bemerkung von Ludwig Klages diesen: »Die feinfühlige Frau aus dem Volke, die dem heimkehrenden Gatten mit einem Blick leichte Gereiztheit, dem Sohn leise Verstimmung ansieht, wäre, wenn darum befragt, völlig außerstande anzugeben, wie die Veränderung z. B. der Gesichtszüge beschaffen war, auf die sich ihr Urteil stützte. Sie würde sagen, sie habe leichte Gereiztheit und leise Verstimmung gesehen; das aber wüsste sie nicht, welche Verschiebung beweglicher Gesichtsteile mit den ›gesehenen‹ Gemütszuständen einherging.« 2 An Mängeln im anatomischen Sprachschatz kann das nicht liegen; die Frau könnte ja mit einigen umgangssprachlichen Erläuterungen zeigen, aber, wenn man sich das vorstellt, wird die Zumutung nur noch unrealistischer. Die Unregulierbarkeit des Ausdrucksverständnisses – die Unmöglichkeit, es durch Anwendung einer Übersetzungsvorschrift zu erlangen – ergibt sich aus der Unübertragbarkeit des Ausdrucks. Dadurch unterscheidet er sich von der Nachricht und dem Symptom, die sich mühelos aus einem Medium in ein anderes übertragen lassen, z. B. indem man eine geschriebene Nachricht vorliest oder den Thermometerstand als Symptom des Fiebers in eine Fieberkurve einzeichnet. Ganz aussichtslos wäre dagegen der Versuch, den hochmütigen, nörgelnden oder enthusiastischen Ausdruck einer Stimme mit Hilfe einer Ausdrucksschrift so unverändert wiederzugeben wie eine von dieser Stimme mitgeteilte Nachricht mit 1

Hermann Schmitz: »Über leibliche Kommunikation«, in: Zeitschrift für klinische Psychologie und Psychotherapie 20, 1972, S. 4–32 (wieder abgedruckt in: Leib und Gefühl, 2. Auflage, Paderborn 1992, S. 175–217); Ders.: »Ausdruck als Eindruck in leiblicher Expressivität«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, S. 339– 347 (auch in: Jahrbuch für Lebensphilosophie II, 2006, S. 197–207) 2 Ludwig Klages: Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, 7. Auflage, Bonn 1950, S. 52

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Hilfe der gewöhnlichen Schrift. Der Ausdruck ginge dabei verloren, während von der Nachricht nichts verloren geht. Man muss schon ein geschickter Schauspieler oder Parodist sein, um den komplizierten Ausdruck der Freude – die lachenden Augen, den beschwingten Gang, die gehobene Stimme u. dgl. – täuschend echt nachzuahmen, während gar keine ungewöhnlichen Anforderungen an den gestellt werden, der eine Nachricht oder ein Symptom überträgt. Aus dieser Unübertragbarkeit des Ausdrucks ergibt sich die Unregulierbarkeit des Ausdrucksverständnisses durch folgendes Lemma: »Nur dann, wenn die Botschaft einer Mitteilung von der ursprünglichen Darbietung unversehrt in jedes andere zur Darbietung überhaupt geeignete Medium übertragen werden kann, genügt zum Verständnis der Mitteilung die Anwendung einer Übersetzervorschrift.« Die Notwendigkeit dieser Bedingung ergibt sich logisch aus dem Zureichen in umgekehrter Richtung: Immer dann, wenn zum Verständnis die Anwendung einer Übersetzungsvorschrift genügt, kann die Botschaft unversehrt in ein anderes Medium übertragen werden. Dann ist es nämlich möglich, erstens die Übersetzungsvorschrift so umzukehren, dass sich eine Regel R1 für die Zuordnung des Mitgeteilten zu der Darstellung im ursprünglichen Medium M1 ergibt, und zweitens dieser Regel eine Regel R2 für die Übersetzung aus M1 in das neue Medium M2 vorzuschalten; dadurch wird eine Regel3 als Produkt der Umkehrung von R2 und R1 definiert, durch die die Mitteilung in M2 dieselbe Leistung übernimmt wie die in M1. Damit ist die Unregulierbarkeit des Ausdrucksverständnisses bewiesen. Unbeschadet dessen besteht die Möglichkeit, den Ausdruck in ein Symptom umzudeuten und dieses, sofern das erste Merkmal erfüllt ist, als Zeichen zu behandeln. Dann wird aber vom Ausdruck als solchem abgesehen. Der Ausdruck als Mitteilung meldet demnach eine zeichenlose Botschaft. Wie ist das möglich? Man braucht sich nicht mehr zu wundern, wenn man den Irrtum des Singularismus, den ich an der Wurzel der semiotischen Deutung des Ausdrucks vermutet habe, korrigiert: Etwas ist nicht ohne Weiteres, sondern immer nur durch eine Bedeutung als Fall von etwas einzeln. Ich habe definiert: Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Gleichwertig ist die Formulierung: … was Element einer endlichen Menge ist; denn jedes 21 © Verlag K

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solche Element vermehrt deren Anzahl um 1, und alles, was eine Anzahl um 1 vermehrt, ist mindestens Element der endlichen Menge des mit ihm Identischen. Mengen sind aber nur möglich als Mengen der …, z. B. der Steine oder der im Jahr 2007 vorhandenen Kinder oder Haare oder runden Gegenständen usw., also der Fälle einer Gattung, wobei ich »Gattung« alles nenne, wovon etwas ein Fall sein kann. Einzeln kann etwas daher nur als Fall einer Gattung sein. Nicht nur dieses Fallsein als Sachverhalt, sondern auch die Gattung oder Bestimmung, die dem Fall die Bestimmtheit als Fall dieser Gattung verleiht, ist ein Sachverhalt, der viele Sachverhalte, Programme und Probleme enthalten kann, und solche Bestimmtheit ist nur möglich durch Verbindung mit Bestimmungen, die nicht einzeln sind. Ich übergehe hier die formalen Überlegungen, die zur Präzisierung und Begründung des Gesagten nötig sind, 3 und gehe gleich dazu über, dass der partielle Verlust der Einzelheit im Mannigfaltigen, das Scheitern der Hoffnung, die Welt als riesige Vernetzung einzelner Faktoren übersichtlich zu machen, aufgewogen wird durch die Ganzheit von Situationen, die in anderer Weise für Übersichtlichkeit sorgen. Eine Situation, wie ich das Wort verstehe, umfasst Mannigfaltiges, das ganzheitlich (d. h. mehr oder weniger nach außen abgehoben und in sich zusammengehalten) integriert wird durch eine Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte (dass etwas ist, einschließlich des So- und Nichtseins), Programme (dass etwas sein soll oder als erwünscht sein möge) und Probleme (ob etwas ist) sind; diese Bedeutsamkeit ist ganzheitlich und in dem Sinne binnendiffus, dass nicht alles (eventuell nichts) in ihr einzeln ist, und kann auch die ganze Situation sein. Situationen sind das, womit wir in erster Linie – als Säuglinge und Tiere ausschließlich – zu tun haben; einzelne Gegenstände, darunter auch Situationen, holen wir aus ihnen heraus mit unserem Vermögen satzförmiger Rede, das uns gestattet, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen einzelne Bedeutungen zu explizieren, in deren Licht dann etwas als Fall einer Gattung oder Bestimmung einzeln sein kann. Situationen können aktuell oder zuständlich, impressiv oder 3

Vgl. aber Schmitz: Freiheit, Freiburg/München 2007, S. 88–94.

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segmentiert sein. Aktuell sind sie, wenn ihr Verlauf sich in beliebig dichten Abständen verfolgen lässt, wie bei Gesprächen oder in der Auseinandersetzung mit unverzüglicher Bewältigung bedürftigen Gefahren, z. B. im Straßenverkehr, zuständlich dagegen, wenn solche Prüfung des Verlaufs erst nach mehreren Fristen sinnvoll ist. Eine zuständliche Situation ist z. B. die Muttersprache, eine binnendiffus-ganzheitliche Bedeutsamkeit aus Programmen oder Rezepten für die Darstellung von Sachverhalten, Programmen und Problemen, d. h. aus Sätzen; der Könner greift treffsicher in diese Ganzheit hinein und holt in sprechendem Gehorsam, ohne vorherige Musterung einzelner Rezepte, die zu seiner Darstellungsabsicht passenden Sätze heraus. Zuständlich ist auch die Situation, die ich als persönliche Situation oder Persönlichkeit einer Person ausführlich beschrieben habe. 4 Zuständliche Situationen sind auch Freundschaften, Feindschaften, die Mentalitäten von durch eine spezielle Beschäftigung zusammengeschlossenen Personengruppen, die Milieus von Familien oder Krankenhäusern, die Sinne viele Wörter in der Gemeinsprache oder im Ideolekt einzelner Sprecher. Impressiv sind Situationen, deren Bedeutsamkeit mit einem Schlag zum Vorschein kommt, wie zu sofortiger Bewältigung anstehende Gefahren oder der typische oder individuelle Charakter, an dem wir etwas als Ding dieser Art oder als dieses Ding (z. B. diesen Menschen mit seinem Gang, seiner wohlbekannten Stimme) erkennen, segmentiert dagegen Situationen, die immer nur in Ausschnitten zum Vorschein kommen, wie eine Sprache, eine persönliche Situation oder ein Problem, das einen nicht loslässt. Impressive Situationen bezeichne ich als vielsagende Eindrücke. Der Dichter, namentlich der lyrische, bringt sie durch die geschickte Sparsamkeit seiner Explikation aus ihnen mittelbar zum Vorschein, indem er durch das dünne Netz seiner Explikate wie durch einen Schleier die unversehrte Ganzheit der explizierten Situation durchscheinen lässt. Vielsagende Eindrücke sind die ersten Gegenstände der Wahrnehmung, meist unauffällig im Griff unseres Umgangs, gelegentlich aber auch markant wie eine eigenartige Naturstimmung, ein fesselndes Por4

Ders.: System der Philosophie, Band IV, S. 287–473; Ders.: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 109–136.

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trät, der erste Einruck von einem Menschen oder des Reisenden von fremder Lebensart, die Erinnerung an einen schönen Urlaub oder eine Wohnung, die einem gleich kahl oder behaglich vorkommt, noch ehe man sich umgesehen hat. Damit ist das Verständnis der zeichenlosen Botschaft des Ausdrucks genügend vorbereitet. Keineswegs bedarf sie eines durch herausgehobene Einzelzüge markierten Dinges, das als Träger des Ausdrucks erst fungierte, wenn seine Einzelheit ergänzt würde durch eine Deutungsregel, die es zur Mitteilung des Ausgedrückten für den Empfänger machte. Vielmehr ist der vielsagende Eindruck das mit seiner Bedeutsamkeit direkt Gegebene, gesammelt um einen Kern, der als Träger der Botschaft fungiert, dabei aber nicht einzeln hervorzutreten braucht, erst recht nicht so, dass einzelne Züge, woran die Bedeutsamkeit gleichsam hängt, für sich unterscheidbar und benennbar sein müssten. Ausdruck in diesem erweiterten Sinn ist also eine impressive Situation, die nicht ungreifbar bloß »in der Luft liegt«, sondern sich sinnfällig an einem Gegenstand verdichtet, so dass dieser zur Mitteilung wird; was er mitteilt, ist eine Situation in ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit, meist durchzogen von Gefühlen, die flächenlos ausgebreitete Atmosphären sind und entweder bloß wahrgenommen werden oder in leiblich-affektivem Betroffensein mit der Chance anschließender personaler Stellungnahmen in Preisgabe oder Widerstand ergreifen. 5 Weil solche vielsagenden Eindrücke ubiquitär sind, kann Ausdruck in diesem erweiterten Sinn überall aufscheinen, nicht nur, indem es als Ausdruck in diesem erweiterten Sinn anzeigt, wie Menschen und Tieren erleben. Der engere Begriff des Ausdrucks bleibt dennoch wichtig, weil er erkennen lässt, dass der Ausdruck über die Darstellung einer impressiven, meist mit der Atmosphäre eines Gefühls erfüllten Situation hinaus eine Anzeigefunktion besitzt, die bei seiner praktischen Benützung die Hauptsache ist. Ich denke etwa an einen Untergebenen, der in einer kritischen Situation am Gesicht seines Vorgesetzten einen Ausdruck abliest, der nichts Gutes ahnen lässt, 5

Vgl. zuletzt ders.: »Gefühle als Atmosphären«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag, Bonn 2007, S. 260–280.

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und sein Verhalten danach einrichtet, um aus der Situation für sich noch das Beste zu machen. In diesem Fall wird der vielsagende, im Gesicht des Vorgesetzten sich abzeichnende Eindruck, selbst eine impressive Situation, zur Anzeige einer anderen, unheilschwangeren und für die Zukunft bedrohlichen Situation. Muss deswegen nicht doch in diesem Fall, ähnlich in anderen Fällen menschlichen und tierischen Erlebnisausdrucks, der Ausdruck als Zeichen aufgefasst werden, anders als beim Ausdruck einer Gewitterwolke oder eines Gedichtvortrages? Das ist in gewisser Weise, nämlich mittelbar, der Fall. Unmittelbar ist der Ausdruck des Gesichts die Selbstdarbietung einer impressiven Situation, die sich in diesem Gesicht verdichtet und abzeichnet. Diese Situation kann als ganze wieder Zeichen einer anderen Situation werden, auf Grund eines Verhältnisses zwischen Situationen, das bei Nachrichten und Symptomen keine Rolle zu spielen braucht. Ich bezeichne dieses Verhältnis als Plakatierung einer Situation durch eine andere. Es trägt zur Klärung insbesondere dann bei, wenn eine impressive Situation eine segmentierte plakatiert. Segmentierte Situationen können sich zu impressiven gleichsam zusammenziehen, so dass so etwas wie die Quintessenz der segmentierten Situation im Augenblick, auf einen Schlag, in der Bedeutsamkeit eines vielsagenden Eindrucks zum Vorschein zu kommen scheint. Ein solcher ist z. B. die Figur des Bamberger Reiters, in der der »hohe Mut« der mittelalterlichen Adels- und Ritterkultur, einer segmentierten Situation mit binnen diffuser Bedeutsamkeit, schlagartig aufscheint. So sieht Tersteegen Jesus, wenn er dichtet: »Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart.« Die Liebe im christlichen Sinn, eine gefühlsgesättigte segmentierte Situation, wird ihm schlagartig offenbar in der Verkörperung durch Jesus und deswegen in diesem angebetet. Alltäglich wird die Plakatierung, wenn man gleich bei der ersten Begegnung mit einem Menschen einen sehr prägnanten, vielsagenden Eindruck davon gewinnt, was für ein Mensch das ist. Man nimmt das als Ausdruck wahr, der gleich dazu verhilft, sich auf den Mitmenschen einzustellen, auch wenn man noch weit entfernt davon ist, die empfangene Information zulänglich in Worte fassen zu können. Diese impressive Situation kann trügen, aber sie öffnet einen analytischen Zugang zu der zuständlichen persönlichen Situation, 25 © Verlag K

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die die Persönlichkeit des Anderen ist, indem man den ersten Eindruck durch weitere Erfahrungen mit ihm anpasst, korrigiert, ergänzt, bis man glaubt, sich ein einigermaßen zuverlässiges »Bild« von ihm gemacht zu haben, das aber kein Bild ist, sondern eine zuständliche Situation. Tiefgreifende, dramatische und manchmal tragische Bedeutung gewinnt die Plakatierung der Persönlichkeit eines Menschen im ersten Eindruck eines Anderen von ihm als erotischer Leiteindruck: Jemand spürt an diesem Eindruck, dass der begegnende Mensch ihm viel zu sagen hat, das er noch nicht durchschaut, während es ihn so fesselt, dass er diesem Menschen folgen, ihn kennen lernen, ihn lieben muss. Wenn diese Empfängnis einer zuständlichen impressiven Situation ein Missverständnis war, können die Folgen für den Liebenden tragisch sein, wovon Goethe, geradezu ein Spezialist des trügenden erotischen Leiteindrucks, in Dichtungen wie Clavigo, Werther, Gretchentragödie, Die Wahlverwandtschaften Schicksale nachzeichnet.6 In kleinerem Maßstab liegt das Entsprechende vor, wenn die Miene oder der Stimmfall des Vorgesetzten den bedrängten Untergebenen nichts Gutes ahnen lässt, und ebenso, wenn man im Ausdruck des Gesichts oder anderer Körperzüge einen Menschen die Andeutung einer Situation liest, auf die man sich unwillkürlich einstellt oder planmäßig einstellen kann. Dann plakatiert die zeichenlose Botschaft eines Ausdrucks eine weitere Situation; sie wird zum vermittelnden Ausdruck, selbst zeichenlose Mitteilung, aber als Plakat ein weiterführendes Zeichen. Bisher habe ich den Ausdruck nur als Gegenstand, als Mitteilung mit zeichenloser Botschaft, besprochen; jetzt will ich noch etwas über die Subjektseite, den Empfang und die Verarbeitung von Ausdruck, sagen. Der Umgang mit vielsagenden Eindrücken besteht teils in der sprachlich vermittelnden Explikation einzelner Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit, zuvor aber noch in einem Fingerspitzengefühl, das Gelegenheit gibt, an den Ausdruck heranzukommen und in ihn einzudringen. Dieses Fingerspitzengefühl ist leibliche Kommunikation vom Typ der antagonistischen Einleibung. Ich habe diese von mir eingeführten phänomenologi6

Schmitz: Die Liebe, Bonn 1993, 2. Auflage 2007, S. 90–97.

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schen Begriffe vielfach erläutert 7 und will jetzt nur das zum augenblicklichen Verständnis Unentbehrliche angeben. Dafür muss ich vom vitalen Antrieb ausgehen, der Achse der von mir analysierten Dynamik des spürbaren Leibes. Er besteht in antagonistischer Verschränkung von Engung und Weitung, wie sich am Schwinden des Antriebes beim Zerreißen diese Bandes zeigt: Wenn es zur Engung hin reißt, wie im heftigen Schreck, ist der Antrieb erstarrt oder gelähmt, und wenn es zur Weitung hin ausläuft, wie in Müdigkeit, beim Einschlafen, beim Dösen und nach der Ejakulation, ist er erschlafft. Diese Verschränkung spreizt sich zum Dialog, wenn sich in der Begegnung mit etwas ein gemeinsamer vitaler Antrieb bildet. Das ist leicht verständlich, wenn es sich um eine Begegnung mit Menschen oder Tieren handelt, geschieht aber auch im Verhältnis zu leiblosen Gegenständen, etwa einer Landschaft, einem heranfliegenden Stein, ja fast beliebigen Gestalten. Das wird möglich durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere als Brückenqualitäten leiblicher Kommunikation. Bewegungssuggestionen sind anschauliche Vorzeichnungen von Bewegung an ruhenden oder bewegten Gestalten oder auch Bewegungen über das Maß der eventuell ausgeführten Bewegung hinaus. Synästhetische Charaktere sind zunächst intermodale Erweiterungen spezifischer Sinnesqualitäten, wie Wärme und Kälte von Farben, Helle und Spitzigkeit von Geräuschen, Härte und Weichheit von Konsonanten (oder von Gang oder Stimmung); sie kommen aber auch ohne Sinnesqualitäten vor, etwa als Weite, Gewicht und Dichte einprägsamer Stille. Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere können sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an Gestalten wahrgenommen werden; als solche Brückenqualitäten schaffen sie daher Gelegenheit zur leiblichen Kommunikation mit Gestalten aller Art, auch solchen, die selbst nicht leiblich »mitmachen«, an denen sich solche Qualitäten aber abzeichnen. Antagonistische Einleibung, d. h. leibliche Kommunikation 7

Ders.: System der Philosophie, Band III/5, S. 78–102 und Band V S. 23–43, Bonn 1978 und 1980 (jetzt in Studienausgabe 2005); ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1990, 3. Auflage 2007, S. 135–153; ders.: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 34–43.

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durch einen gemeinsamen vitalen Antrieb in Zuwendung zu etwas, das einem begegnet oder zustößt, kommt sowohl motorisch als auch sensibel vor. Für den motorischen Fall wähle ich als besonders einleuchtendes Beispiel unter unzähligen anderen gern das Ausweichen vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse. Das gelingt in geschickter Anpassung an unvorhersehbare Umstände, obwohl man den eigenen Körper dann nicht sieht, also auch nicht der Lage und dem Abstand nach beurteilend auf das drohende Objekt einstellen kann, weil der Blick als Richtung des spürbaren Leibes sich in einseitiger antagonistischer Einleibung an dieses Objekt gleichsam hängt und dessen Bewegungssuggestion in das motorische Körperschema 8 , zu dessen Richtungen er selbst gehört, so überträgt, dass dank der Führung durch dieses Schema Ausweichen glücken kann. Die sensible Einleibung bewährt sich etwa im unwillkürlichen Verständnis für die Bewegungssuggestionen der winzigen Bewegungen, von denen der Gebärdesinn von Gebärden gesteuert wird, etwa beim Augenaufschlag, der je nach dem ironisch, bittend, verführerisch usw. sein kann, beim Zurückwerfen des Kopfes, beim Zeigen auf nahe stehende, das peinlich sein kann, weil die der harmlosen kleinen Bewegung aufgeladene Bewegungssuggestion wie ein Dolch den, auf den gezeigt wird, spürbar durchbohrt. Synästhetische Charaktere begünstigen besonders am Stimmklang die sensible antagonistische Einleibung in Ausdruck. Diese kommt aber ebenso wie im motorischen Fall auch noch zustande, wenn ihr Bezugsobjekt weder Mensch noch Tier ist; bei Xerxes in Händels berühmter Arie handelt es sich um eine Platane. Das wichtigste Organ der sensiblen Einleibung in Ausdruck ist die Fassung. 9 Fassung ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert. Jeder Mensch hat seine eigentümliche Fassung, die sowohl leiblich als auch personal ist. In der Fassung identifiziert sich der Mensch mit etwas, das eindeutiger ist als er selbst. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, da er als Person seine ambivalente Schieflage zwischen personaler Emanzipation und leiblich-affektivem Be8

Zum motorischen Körperschema vgl. ders.: System der Philosophie, Band III/1, Bonn 1967, S. 239–259; Ders., Phänomenologie, S. 30–34. 9 Ders., Phänomenologie, S. 157–173: Fassung als Spielraum der Person.

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troffensein, zwischen Distanzierung und Resubjektivierung, nicht anders stabilisieren kann, als indem er sich eine Fassung gibt. 10 Deswegen ist die Fassung, obwohl sie auch aufgesetzt und gekünstelt sein kann, unter der Oberfläche oder ohne sie im Kern unwillkürlich, als spielerische Identifizierung der von mir vielfach untersuchten Art 11 ohne Verwechslung oder Fiktion wie die unreflektierte Bildnahme. Wir sehen dann das Bild nicht als Bild, sondern als das Abgebildete, z. B. die bedruckte oder bemalte Fläche als schöne Landschaft oder fesselndes Gesicht, aber wir sind ebenso weit davon entfernt, beides zu verwechseln, wie zu fingieren eine Fläche sei eine Landschaft. Mit gleicher Selbstverständlichkeit identifiziert sich schon der naive Mensch mit seiner Fassung. Er bezieht diese gern wenigstens teilweise aus seiner Berufs- oder Familienrolle, tiefer und ursprünglicher aber aus dem, was der Psychiater Jürgen Zutt die »innere Haltung« nennt12 , aufgeschichtet in Grundhaltung und je nach Anlass eingesetzte Einzelhaltungen. Als Beispiele von Grundhaltungen gibt er an: Aufrichtigkeit, Stolz, Liebenswürdigkeit, Bedächtigkeit; mir fallen ein paar Beispiele mehr ein: misstrauische Vorsicht, bescheidene Zurückhaltung, Jovialität, sanfte Bestimmtheit, der anale Charakter nach Freud mit den Merkmalen: ordentlich, sparsam, eigensinnig. Die Fassung ist der sensibelste Fühler der Einleibung im zwischenmenschlichen Kontakt. Wenn man den Anderen am eigenen Leibe spürt, weil man sich von ihm eigentümlich berührt fühlt, dann ist es im Wesentlichen die eigene Fassung, an die er gerührt hat. Wer sich nicht so rühren lässt, indem er seine Fassung starr festhält, sieht am Partner vorbei. Ideal für partnerschaftliche Sensibilität ist eine Elastizität, die die eigene Fassung immer ein wenig aufs Spiel setzt, dabei aber nicht entgleiten lässt.

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Ebd. und ders., Gegenwart, S. 84–106. Ders.: System der Philosophie, Band III/4, Bonn 1977, S. 453–488; ders., Gegenstand, S. 17–192; ders., Phänomenologie, S. 270–272. 12 Jürg Zutt: Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 1–88 (Die innere Haltung). 11

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Norbert Meuter

Die Universalität des Ausdrucks Zur empirischen Grundlage eines anthropologischen Phänomens I. Die Universalitätsthese Der leibliche Ausdruck und das Ausdrucksverstehen sind philosophisch gehaltvolle Phänomene, die der universalistischen Frage nach dem Menschen – die den Kern der philosophischen Anthropologie ausmacht – eine solide Basis geben können, ohne dass damit die kulturelle Heterogenität menschlicher Lebensformen bestritten wird. Ich werde diese These hier allerdings nicht in ihrem philosophischen Kontext diskutieren, 1 sondern nur anhand der wissenschaftlichen, insbesondere der emotionspsychologischen Forschung überprüfen, ob und inwieweit sie sich empirisch stützen lässt. In der jüngeren wissenschaftlichen Diskussion zum Ausdruck wird die Universalitätsthese vor allem von dem amerikanischen Emotionspsychologen Paul Ekman vertreten, der dazu seit den 60er Jahren eine Vielzahl von Untersuchungen durchgeführt hat. Ekman ist der Meinung, dass er eine grundlegende Gruppe universeller Formen des Gesichtsausdrucks für bestimmte Gefühle nachgewiesen habe: »Diese Ausdrucksformen stellen keine Sprache dar, die von einem Ort zum anderen verschieden ist; man muss keine ganz neuen Muskelbewegungen und auch keine ganz neuen Regeln für die Deutung mimischen Verhaltens gelehrt bekommen, wenn man von einer Kultur zu anderen reist.« 2 Ein weiterer Emotionspsycho1

Vgl. hierzu Norbert Meuter: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006. 2 Paul Ekman: Gesichtsausdruck und Gefühl. 20 Jahre Forschung von Paul Ekman, hrsg. von Maria von Salisch, Paderborn 1988, S. 77.

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Die Universalität des Ausdrucks

loge, der die Universalitätsthese vertritt, ist Carroll Izard. Izard ist davon überzeugt, dass bestimmte Emotionen »universelle (pankulturelle) Phänomene« sind. Sowohl die Enkodierung als auch die Dekodierung dieser Emotionen ist die gleiche für Menschen in der ganzen Welt, ungeachtet der Kultur, Sprache oder Vorbildung.« 3 Insgesamt stehen Ekman und Izard mit ihren Auffassungen nicht alleine. Im Gegenteil, die These von der Universalität bestimmter grundlegender Emotionen und ihrer mimischen Ausdrucksformen ist eine Position, die in vielen Lehrbüchern der Emotionspsychologie vertreten wird. 4 Sie ist allerdings nicht unumstritten. 5 Ich gehe nun so vor, dass ich zunächst einige sehr grundlegende Annahmen der Emotionspsychologie skizziere, 6 um dann die empirischen Untersuchungen von Ekman und anderen darzustellen. Ein letzter Teil wird sich mit ausgewählten emotionspsychologischen Modellen hinsichtlich der Natur/Kultur-Differenz beschäftigen. Neuere ökologische Ansätze kritisieren die theoretischen Modelle, die von Ekman und anderen aus den empirischen Untersuchungen zur Universalitätsthese gezogen werden, als Rückfall in stratigraphische Konzeptionen der menschlichen Existenz. Eine »stratigrapische Konzeption« geht davon aus, dass der Mensch aus zwei relativ unabhängigen Schichten besteht: eine 3

Carroll E. Izard: Die Emotionen des Menschen. Eine Einführung in die Grundlagen der Emotionspsychologie, 2. Aufl., Weinheim 1994, S. 127. 4 Vgl. hierzu die Hinweise bei James A. Russell: »Is There Universal Recognition of Emotion From Facial Expression? A Review of the Cross-Cultural Studies«, in: Psychological Bulletin 115/1, 1994, S. 102. Die deutschsprachigen Lehrbücher von Schmidt-Atzert und Meyer/Reisenzein/Schützwohl sehen die Universalitätsthese jedoch durchaus kritisch. Vgl. Lothar Schmidt-Atzert: Lehrbuch der Emotionspsychologie, Stuttgart/Berlin/Köln 1996 u. Wulf Uwe Meyer/Rainer Reizenzein/ Achim Schützwohl: Einführung in die Emotionspsychologie, Bd. 2. Evolutionstheoretische Emotionstheorien, 2. korr. Aufl., Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 1999. 5 Vgl. Scheerer/H. G. Wallbott: »Evidence for universality and cultural variation of differential emotion response patterning, in: Journal of Personality and Social Psychology 66, 1994, S. 311. 6 Ich stütze mich dabei u. a. auf Izard, Emotionen; Schmidt-Atzert, Lehrbuch; Meyer/Reizenzein/Schützwohl, Einführung (1999, 2001) sowie die Beiträge in: Klaus R. Scherer (Hrsg.): Psychologie der Emotionen, Göttingen/Toronta/Zürich 1990.

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Norbert Meuter

grundlegende Schicht der »Natur«, die seine biologischen Funktionen ausmacht, und eine darauf aufbauende Schicht der »Kultur«, die seine geistigen Leistungen beinhaltet. Eine solche Sicht auf den Menschen ist anthropologisch jedoch höchst unbefriedigend. Ein antithetischer Dualismus von Natur und Kultur steht, wie es bei Edgar Morin treffend heißt, »im Widerspruch zum Augenschein. Offensichtlich besteht der Mensch nicht aus zwei übereinander liegenden Schichten, einer biologisch-natürlichen und einer psychosozialen;« im Gegenteil: der Mensch ist gerade deshalb menschlich, weil er »zur gleichen Zeit voll und ganz natürlich und voll und ganz kulturell ist«. 7 Dieser Einsicht haben auch die wissenschaftlichen Modelle zu Erklärung des Ausdrucksphänomens Rechnung zu tragen. II. Ausdruck in der Emotionspsychologie II.1 Basisemotionen Die meisten Emotionspsychologen vertreten die Annahme, dass es mindestens drei maßgebliche Aspekte gibt, die bei der Erforschung von Emotionen zu berücksichtigen sind. Emotionen haben demnach (1) für das jeweilige Individuum selbst eine subjektive Erlebniskomponente; sie weisen (2) einen objektiven, d. h. mit wissenschaftlichen Methoden feststellbaren physiologischen und neuronalen Bezug auf, und sie äußern sich (3) in intersubjektiv bedeutsamen Formen des körpergebundenen Verhaltens und speziell des Ausdrucks. 8 Im Hintergrund dieser Annahme steht ein evolutionstheoretisch-funktionalistisches Paradigma, nach dem Emotionen in der Phylogenese entstanden sind und als funktional wirksame Zustände der Adaption des Organismus an die Umwelt dienen. Die adaptive Funktion wird dabei vor allem in der Bewer7

Edgar Morin: Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie, München / Zürich 1974, S. 22 f. 8 Vgl. u. a. Izard, Emotionen, S. 20 und Klaus Schneider/Winand Dittrich: »Evolution und Funktion von Emotionen«, in: Scherer, Psychologie, S. 41.

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tung interner (innerorganismischer) oder externer (situativer) Wahrnehmungsinhalte gesehen, die ständig auf ihre Relevanz für den Organismus überprüft werden. In einem weiteren Schritt wird das funktionalistische Paradigma dann auf einzelne spezifische Emotionen angewendet. Neben der generellen Funktion von Emotionalität interessiert nun, welche Funktion die jeweiligen verschiedenen Emotionen besitzen. Ekman formuliert dies so: »(1) Die Emotionen sind in der Evolution entstanden, um grundlegende Lebensaufgaben zu meistern. (2) Um in der Anpassung erfolgreich zu sein, dürften sich in der Evolution verschiedene Erregungsmuster für jede Emotion ausgeprägt haben, so dass das, was passiert (im Ausdruck oder im physiologischen System), und das, wodurch es passiert (d. h. Ereignisse, die ein Gefühl auslösen), emotionsspezifisch und damit unterschiedlich für Ärger, Kummer, Glück usw. ist.« 9 Demnach hat z. B. Angst die Funktion, Gefahr zu signalisieren und Fluchtverhalten auszulösen; Ärger ein Angriffsverhalten vorzubereiten usw. Damit ist das Konzept der sogenannten Basisemotionen formuliert. Nach diesem Konzept gibt es eine begrenzte Anzahl von sehr grundlegenden und differenzierbaren Emotionen, zu denen mindestens Ärger, Ekel, Furcht, Freude, Trauer und Überraschung gehören. Diese Basisemotionen haben sich evolutiv herausgebildet, wobei jede Basisemotion subjektiv durch einen spezifischen Gefühlszustand und objektiv durch spezifische physiologische und neurologische Prozesse sowie durch einen spezifischen mimischen Ausdruck charakterisiert ist. Nun ist es allerdings so, dass das Konzept der Basisemotionen nicht unumstritten ist. Darauf werde ich später noch einmal zurückkommen, zunächst jedoch einige Anmerkung zur spezifischen Funktion des Ausdrucks machen.

9

Ekman: »Der Ausdruck und das Wesen von Gefühlen«, in: ders., Gesichtsausdruck, S. 178 f.

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II.2 Funktionen des Ausdrucks Die von der Emotionspsychologie angenommenen adaptiven Funktionen des emotionalen Ausdrucks lassen sich im wesentlichen in zwei Bereiche einteilen: (1) innere bzw. organismische Funktionen und (2) äußere bzw. soziale oder kommunikative Funktionen. 10 Zu den organismischen Funktionen zählt u. a. die Optimierung der Informationsaufnahme und -verarbeitung. So können z. B. bestimmte Ausdruckbewegungen die Bedingungen für die Wahrnehmung externer Reize verbessern: durch Zuwendung des Blickes, Hochziehen der Augenbrauen, Öffnen des Mundes und der Nasenflügel. Eine weitere organismische Funktion des Ausdrucks besteht in der Modulation des erlebten Gefühls. Nach der Facial-FeedbackHypothese haben die mimischen Ausdrucksbewegungen und die mit ihnen verbundenen physiologischen und neuronalen Prozesse eine direkte Rückwirkung auf das Erleben des Gefühls. 11 Beim zweiten Bereich – die kommunikativen bzw. sozialen Funktionen des Ausdrucks – geht es in erster Linie um Interaktionen zwischen Artgenossen. In evolutionstheoretischer Perspektive ist es für sozial lebende Arten außerordentlich wichtig, den jeweiligen motivationalen und emotionalen Zustand des anderen zu erkennen und dessen Reaktion auf äußere Ereignisse oder Verhaltensweisen anderer Artgenossen einschätzen zu können. Die Annahme liegt daher nahe, dass in der Evolution ein Selektionsdruck für die Mitteilung der Emotion und Motivation und der mit ihnen verbundenen Handlungsintentionen bestand. Damit war ein evolutiv wirksamer Anlass für die Ausbildung unterschiedlicher und emotionsspezifischer Ausdrucksmuster und damit einhergehend zur Ausbildung von Mechanismen des Ausdrucksverstehens gegeben. 12 Darüber besitzt das Ausdrucksverhalten eine soziale Integrations-

10

Vgl. Scherer/Wallbott, »Evidence«, S. 350 ff., Meyer/Schützwohl/Reisenzein, Einführung, S. 55 ff. 11 Vgl. Izard, Emotionen, und kommentierend Scherer/Wallbott, »Evidence«, S. 390. 12 Vgl. Schneider/Dittrich, »Evolution«, S. 50 ff.

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funktion, es dient der Etablierung, Aufrechterhaltung und Veränderung der sozialen Strukturen einer Gruppe. 13 Die Annahme, dass der Ausdruck kommunikative (Signal-) Funktion hat, findet sich übrigens schon bei Darwin, wobei er allerdings meint, dass sich der Emotionsausdruck nicht ursprünglich zum Zweck der Kommunikation und Mitteilung ausgebildet habe. 14 Aber man muss hier keinen Gegensatz aufbauen, insofern man von der Möglichkeit einer ursprünglichen und unwillkürlichen kommunikativen Funktion ausgehen kann. Und genau eine solche Funktion schreibt die heutige evolutionstheoretische Emotionspsychologie dem Ausdruck vorrangig zu: »Die Evolution hat unsere Formen des Gefühlsausdrucks ausgebildet und beibehalten, weil sie informativ sind, aber das bedeutet nicht, dass wir solche Formen des Gefühlsausdrucks absichtlich zeigen, um Informationen an andere zu übermitteln.« 15 Insgesamt lässt sich folgendes festhalten: Nach der skizzierten emotionspsychologischen Auffassung haben sich beim Menschen evolutiv eine begrenzte Anzahl Basisemotionen ausgebildet, die im Hinblick auf spezifische Situationen einen adaptiven Wert für den Organismus besitzen, indem sie diesen Situationen eine emotionale Bedeutung zuweisen und zu einem angemessenen Verhalten motivieren. Über den für die Basisemotionen jeweils spezifischen Ausdruck werden diese sowie die zugehörigen Motivationen und Verhaltenswahrscheinlichkeiten »öffentlich« gemacht. Der Emotionsausdruck besitzt daher eine hohe kommunikative Funktion, die eine soziale Verhaltenskoordination ermöglicht. Damit sind die theoretischen Hintergrundannahmen skizziert, die den konkreten Untersuchungen von Ekman, Izard und anderen zur empirischen Verifikation der Universalitätsthese zugrunde liegen.

13

Vgl. Scherer/Wallbott, »Evidence«, S. 351 f. Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren, Kritische Edition, Einleitung, Nachwort und Kommentar von Paul Ekman. Frankfurt/Main 2000 (1872), S. 394. 15 So Ekman: Einführung [S. XV-XXXIII], Kommentare [im laufenden Text], Nachwort [S. 407–439] zu Darwin 1872, S. 419; vgl. auch Schneider/Dittrich, »Evolution«, S. 51. 14

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III. Empirische Studien zur Universalität des Ausdrucks III.1 Ekmans Interkulturelle Beurteilungsstudien Das Design der Studien Ekmans sieht in seinem Kern so aus, dass Versuchspersonen aus verschiedenen Kulturen ca. 15 Sekunden lang Photographien gezeigt bekommen, auf denen Gesichter zu sehen sind, die einen mimischen Ausdruck zeigen, der eine bestimmte Basisemotion wiedergibt. Bei jedem Bild können die Versuchspersonen aus einer vorgelegten Liste mit Emotionswörtern, welche die angenommenen Basisemotionen bezeichnen (Freude, Trauer, Furcht, Überraschung usw.) einen Begriff auswählen, der ihrer Auffassung nach zu der jeweiligen Photographie am besten passt. Eine »korrekte« Zuordnung liegt dann vor, wenn die Versuchspersonen denjenigen Emotionsbegriff auswählen, den die Versuchsleiter vorhergesagt haben. Es wird dann der Prozentsatz der korrekten Zuordnungen festgehalten und festgestellt, ob das Ergebnis signifikant ist, d. h. ob und wie weit es über dem Zufallswert liegt. Ekman und andere haben von 1966 an eine Vielzahl von Studien nach diesem Verfahren durchgeführt. 16 Für Ekman ist ihr Ergebnis eindeutig, sie stellen »einen klaren Beweis dafür dar, dass der Gesichtsausdruck universell mit den gleichen Einzelgefühlen verknüpft ist«. 17 Nun lassen sich allerdings gegen die Beurteilungsstudien Ekmans eine Reihe von Einwände erheben, 18 u. a. auch der Einwand der »ökologischen Validität«. Dieser Einwand richtet sich prinzipiell gegen jede Art psychologischer »Experimente«, insofern hierbei die natürlichen Kontexte des Verhaltens ausgeblendet werden

16

Eine Synopse von 31 Studien findet sich bei James A. Russell: »Is There Universal Recognition of Emotion From Facial Expression? A Review of the Cross-Cultural Studies«, in: Psychological Bulletin 115/1, 1994, S. 108. 17 Vgl. Ekman, Gesichtsausdruck, S. 68. 18 Auf die methodischen Einwände im engeren Sinne kann ich hier nicht eingehen, ich habe sie ausführlich diskutiert in: Meuter, Anthropologie, S. 248 ff.; vgl. auch Russel, »Universal Recognotion« und Hugh L. Wagner: »Methods for the study of facial behavior«, in: James A. Russell/José Miguel Fernández-Dols (Hrsg.): The Psychology of Facial Expression, Cambrigde 1997, S. 31–54.

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(müssen). Dies trifft ohne Zweifel auf die Beurteilungsstudien Ekmans zu. Zwar gehören Photographien zu unserer Lebenswelt, aber die Situation, dass uns ein Versuchsleiter auffordert, anhand einer Photographie den mimischen Ausdruck einer Person einer Liste mit Emotionswörtern zuzuordnen, wohl kaum. In wirklichen Lebenssituationen erfassen wir den Ausdruck einer realen Person innerhalb einer konkreten Situation. Der Ausdruck ist nur ein Teil dieses natürlichen Kontextes. Die Künstlichkeit der Untersuchungssituation kann also zu einem falschen, jedenfalls tendenziell verzerrten Bild über die Prozesse des Ausdrucksverstehens führen. Psychologische Untersuchungen stehen hier generell in einem kaum auflösbaren Spannungsverhältnis. Einerseits müssen sie, um zu objektiven Ergebnissen zu kommen, kontrollierbare Bedingungen herstellen, unter denen sich gezielt Parameter isolieren und verändern lassen, anderseits besitzt jeder Eingriff Implikationen im Hinblick auf das Verhalten, das eigentlich erforscht werden soll. In bezug auf die Beurteilungsstudien Ekmans kann man aber argumentieren, dass diese ja gerade darauf abzielen, Kontextinformationen zu so weit wie möglich zu eliminieren, um den kontextunabhängigen Signalwert der mimischen Ausdrucksformen zu ermitteln. 19 Wie dem auch sei, die Universalitätsthese ist empirisch nicht allein auf die Studien Ekmans angewiesen, sondern kann sich auch auf Beobachtungsstudien des Ausdrucksverhaltens von Säuglingen und Kleinkindern stützen. Izard sieht in ihnen sogar eine größere Relevanz für die Universalitätsthese als in den Beurteilungsstudien mit Erwachsenen.20 Beobachtungen früh- und kleinkindlichen Ausdrucksverhaltens sind auch deswegen von besonderer anthropologischer Bedeutung, weil man annehmen kann, dass die Ausdrucksmuster hier noch nicht oder wenig von sozialen und kulturellen Einflüssen geprägt sind. Beim Kleinkind tritt der emotionale Ausdruck unmittelbar und unmodelliert auf. Es existieren noch keine Schemata, die auf 19

Izard: »Emotions and facial expressions. A perspective from Differential Emotion Theory«, in: Russell/Fernández-Dols, Facial Expression, S. 62. 20 Izard: »Innate ans Universal Facial Expressions. Evidence From Development ans Cross-Cultural Studies«, in: Psychological Bulletin 115/2, 1994, S. 291.

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Lernen und Erfahrung basieren. 21 Neuere Untersuchungen können diese Annahme bestätigen. Zwar beginnen Emotions- und Ausdruckssozialisierung bereits sehr früh – zwischen drei und sechs Monaten werden z. B. individuelle Besonderheiten des mütterlichen Gesichtsausdrucks, etwa eine bestimmte Art zu lächeln, übernommen –, aber insgesamt stellt der Gesichtsausdruck in den ersten anderthalb Jahren eine »ziemlich unverstellte Wiedergabe der aktuellen Gefühlslage« 22 des Kleinkindes dar. Es bestehen bis zu diesem Alter auch keine oder wenige Anzeichen einer bewussten Kontrolle des Ausdrucks. Man geht davon aus, dass der Ausdruck erst ab ca. drei Jahren intentional eingesetzt werden kann und ein implizites Wissen um bestimmte Ausdrucksregeln vorliegt. 23 III.2 Beobachtungsstudien zur Ontogenese des Ausdrucks Untersuchungen mit Neugeborenen zeigen, dass man bei ihnen durch verschiedene Geschmacks- und Geruchsstoffe zwei verschiedene mimische Reaktionen auslösen kann. Tröpfelt man Säuglingen eine Zuckerlösung auf die Zunge oder hält ihnen ein mit angenehmen Lebensmittelaromen präparierten Tupfer unter die Nase, wird die mimische Reaktion anschließend von unabhängigen Versuchspersonen signifikant häufig als Lächeln interpretiert. Die auf bitter schmeckende Flüssigkeit und unangenehme Duftstoffe gezeigten mimischen Ausdrücke werden dagegen ebenfalls signifikant als Ausdruck des Ekels interpretiert. 24 In einer anderen Studie wur21

Vgl. Ulrich Geppert/Heinz Heckhausen: »Ontogenese der Emotionen«, in: Scherer, Psychologie, S. 130 f. 22 Martin Dornes: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt a. M. 1993, S. 115. 23 Vgl. auch hier Dornes, Säugling, S. 115 und zur ontogenetischen Entwicklung insgesamt Geppert/Heckhausen, »Ontogenese«, S. 132. 24 Vgl. Schmidt-Atzert, Lehrbuch, S. 21; Paul L. Harris: Das Kind und die Gefühle. Wie sich das Verständnis für die anderen Menschen entwickelt, Bern/Göttingen 1992, S. 20; Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie, 3. überarbeitet und erweiterte Auflage. München 1997, S. 58 weist auf die adaptive Bedeutung des Phänomens hin.

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den sieben Monate alte Säuglinge frustriert, indem man ihnen einen Keks, an dem sie einige Sekunden lang saugen durften, wieder wegnahm. Die anschließenden mimischen Reaktionen wurden mit Hilfe des FACS Codiersystems 25 analysiert und enthielten mehrere Bestandteile von Ärger: Zusammenziehen der Augenbrauen, Anspannung der Augenlider, Mund fest geschlossen oder zu einem Rechteck geöffnet. 26 Durch den sogenannten visual cliff test (ein Tisch, der durch eine optische Täuschung so aussieht, als ob er in der Mitte plötzlich steil abfällt) lassen sich bei Säuglingen von zehn bis zwölf Monaten mimische Ausdrucksformen der Furcht auslösen. 27 Hier zeigt sich, »dass der Gesichtsausdruck des Babys alles andere als eine zufällige Kombination von Bewegungen ist, sondern auf psychologisch sinnvolle Weise mit dem verknüpft ist, was sich kurz vorher ereignet hat« 28 – oder anders formuliert: bereits Kleinkinder verhalten sich ausdrucksmäßig nicht nur differenziert sondern auch situationsangemessen. Dies wird durch weitere Studien, in denen der Gesichtsausdruck der Mutter als emotionsauslösender Reiz verwendet wird, eindrucksvoll belegt. Diese Studien sind von besonderem Interesse, weil sie auch die Fähigkeit des Ausdruckverstehens dokumentieren. Gesichter gehören generell »zu den merkmalreichsten Reizen (Helligkeit, Kontrastunterschiede, Komplexität), mit welchen schon Neugeborene konfrontiert werden«. 29 Die Ausdrucksqualitäten von Gesicht und Stimme sind die entscheidenden bzw. einzigen Quellen für das Kleinkind, um etwas über den emotionalen und motivationalen Zustand des Kommunikationspartners zu erfahren. Neugeborene und Kleinkinder schauen daher signifikant häufiger menschliche Gesichter im Vergleich mit anderen Reizen an. 30 Sie 25

Das u. a. von Ekman entwickelte FACS – Facial Action Coding System – identifiziert die einzelnen bei mimischen Ausdrucksformen benutzen Gesichtsmuskeln; vgl. Schmidt-Atzert, Lehrbuch, S. 115. 26 Vgl. Harris, Das Kind, S. 19, Dornes, Säugling, S. 117. 27 Vgl. Harris, Das Kind, S. 19, Dornes, Säugling, S. 116. 28 Harris, Das Kind, S. 18 f. 29 Schneider/Dittrich, »Evolution«, S. 72. 30 Vgl. Ebd. und Alan J. Fridlund: »The new ethology of human facial expressions«, in: Russell/Fernández-Dols, Facial Expression, S. 67.

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können dabei sehr früh differenziert wahrnehmen. In einem Experiment wurden Mütter angeleitet, einen glücklichen, traurigen oder wütenden Gesichtsausdruck zu zeigen. Mit diesen Ausdrücken schauten sie ihre zehn Wochen alten Säuglinge jeweils 15 Sekunden an. Deren mimischen Reaktionen wurden wiederum mit einem Codiersystem analysiert, außerdem wurde die Blickrichtung festgehalten. Die Säuglinge reagierten auf die drei Emotionsausdrücke signifikant unterschiedlich. Der Freudeausdruck der Mutter führte ebenfalls zu Freude und zu Blickzuwendung (Interesse). Der traurige Gesichtsausdruck bewirkte, dass die Kinder den Mund verzogen und dabei den Blick oft nach unten senkten. Der wütende Ausdruck führte oft zu einem Nachlassen jeglicher Gesichtsbewegungen (freezing response), der Blick ging dabei häufig zur Seite. 31 Ein weiteres mimisches Verhalten, das die Kleinkinder sichtlich beeinflusst, ist das »Einfrieren« des Gesichtsausdrucks der Mutter. In einer Studie sollten Mütter von drei bis sechs Monate alten Säuglingen folgendes Verhalten zeigen: zunächst drei Minuten lang mit dem Kind mit normaler Mimik reden und es dabei anschauen, dann es zwei Minuten lang schweigend mit neutralem Gesicht anschauen, worauf eine weitere normale Phase einsetzt. Während des eingefrorenen Gesichtsausdrucks der Mutter zeigten die Kinder signifikant häufig selbst ein neutrales Gesicht, sie lächelten deutlich weniger. Auch das Blickverhalten änderte sich: sie blickten die »starre« Mutter weniger häufig an und stattdessen im Raum umher. 32 Beide Studien belegen, dass bereits Kleinkinder zwischen zehn Wochen und einem halben Jahr nicht nur differenziert, sondern auch angemessen auf das mimische Verhalten ihrer Mutter reagieren. Ein weiteres Experiment zeigt, dass sieben Monate alte Säuglinge in der Lage sind, verschiedene Modalitäten (optische und akustische) eines Emotionsausdrucks richtig zuzuordnen. Man zeigte ihnen parallel zwei Filme, einer mit einem wütenden und einer mit einem fröhlichen Gesicht. Gleichzeitig hörten sie vom Tonband entweder eine fröhliche oder eine wütende Stimme. Die Säuglinge wendeten ihren Blick eher dem Gesicht zu, das zu der jeweili31 32

Vgl. Schmidt-Atzert, Lehrbuch, S. 23. Vgl. Ebd., S. 223.

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gen Stimme passte. Sie blickten mehr auf das fröhliche Gesicht, wenn sie die fröhliche Stimme hörten und umgekehrt. 33 Bereits Kleinkinder stellen demnach einen richtigen Zusammenhang zwischen dem Emotionsausdruck des Gesichts und dem der Stimme her; sie reagieren nicht nur isoliert auf einzelne Ausdrucksmodalitäten, sondern integrieren diese zu einer Gesamtwahrnehmung. In den hier kurz geschilderten und in einer Vielzahl von weiteren Beobachtungsstudien lassen sich also »gute Belege dafür finden, dass im ersten Lebensjahr Freude, Interesse/Überraschung, Ekel, Angst, Wut/Unbehagen und (wahrscheinlich) Traurigkeit vorkommen. Mit diesen sechs Emotionen sind im ersten Lebensjahr alle mimischen Ausdrucksformen beobachtbar, die sich in Untersuchungen mit Erwachsenen als relativ gut erkennbar und unterscheidbar erwiesen haben.« 34 Die besondere Frage bei Kleinkindern ist natürlich, ob von einem – durch Beobachter oder mit Codiersystemen festgestellten – Gesichtsausdruck tatsächlich auf das Vorhandensein eines entsprechenden Gefühls geschlossen werden kann. Viele Entwicklungspsychologen gehen jedoch davon aus, dass emotionaler Ausdruck und Erleben ursprünglich isomorph sind. Demnach lässt sich das Vorliegen einer bestimmten Emotion identifizieren, wenn ihr typischer Ausdruck in der Entwicklung auftritt. 35 Izard spricht in diesem Zusammenhang von einem angeborenen »expression-feeling-link«. 36 Dies bedeutet, dass die Konkordanz von Ausdruck und Gefühl der primäre, nicht-erlernte Zustand ist, der unter dem Einfluss kultureller Faktoren modifiziert werden kann: »Lernen ist notwendig, um Ausdruck und Gefühl voneinander zu trennen, nicht aber, um sie zusammenzubringen.« 37 Für die Universalitätsthese spricht noch eine weitere Beobachtung, nämlich dass taub-blind geborene Kinder das gleiche Aus33

Vgl. Harris, Das Kind, S. 22 f. und Dornes: Die frühe Kindheit – Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre, Frankfurt/Main 1997, S. 60. 34 Schmidt-Atzert, Lehrbuch, S. 226. 35 Vgl. Geppert/Heckhausen, »Ontogenese«, S. 120. 36 Izard, »Emotions«. 37 Dornes, Säugling, S. 121; vgl. generell auch Daniel Stern: The Interpersonal World of the Infant. A View from Psychoanalysis and Development Psychology, New York 1985.

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drucksverhalten wie gesunde Kinder zeigen: »taub und blind Geborene lächeln, wenn die Mutter sie kost, sie lachen beim Spielen, weinen, wenn sie sich anstoßen und äußern dazu auch die entsprechenden Laute, machen senkrechte Stirnfalten und beißen die Zähne zusammen, wenn sie in Wut geraten.« 38 Obwohl es sich hier nur um einzelne Beobachtungen und nicht um systematische Studien handelt, sind sie doch eine sehr starke Bestätigung der Universalitätsthese, da hier Beobachtungs- und Imitationslernen als Ursache des mimischen Ausdrucks ausgeschlossen werden können. 39 Damit möchte ich die Darstellung der empirischen Studien und Beobachtungen, die von der Emotionspsychologie zur Universalität des Ausdrucks vorgelegt werden, abschließen. Wie sind die Ergebnisse nun zu bewerten? Stimmt die Universalitätsthese empirisch? Gibt es mimische Ausdrucksmuster, die kulturübergreifend verstanden werden? Ist die primäre Expressivität universal? Die Position von Ekman und Izard ist natürlich eindeutig. Ekman sieht »strong evidence for universals in facial expression«, 40 und auch Izard spricht von der »Last des Beweismaterials«. 41 Andere Autoren sind etwas vorsichtiger: »Befunde aus der vergleichenden Verhaltensforschung, Beobachtungen an Taub-Blind-Geborenen und indirekte Hinweise aus Dekodierungs- und Fragebogenuntersuchungen [lassen] die Existenz mimischer ›Universalien‹ wahrscheinlich erscheinen«.42 Auch ich meine, dass trotz der methodischen Kritik an den Beurteilungsstudien Ekmans, das empirische Material insgesamt sehr gute Argumente dafür liefert, dass bestimmte mimische Ausdrucksformen eine universale Dimension besitzen. Dafür sprechen vor allem die Beobachtungsstudien zur Ontogenese des Ausdrucks, auch weil hier der Einwand der ökologischen Validität weitgehend ausgeschlossen werden kann: es handelt sich nicht um »Spielereien im Labor«. 43 38

Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie, S. 59. Vgl. hierzu auch die interkulturellen Studien bei Harris, Das Kind, S. 88 f. 40 Vgl. Ekman: »Strong Evidence for Universals in Facial Expressions. A Reply to Russell’s Mistaken Critique«, in: Psychological Bulletin 115/2, 1994, S. 268–287. 41 Vgl. Izard, Emotionen, S. 92. 42 Scherer/Wallbott, »Evidence«, S. 383 ff. 43 Dornes, Säugling, S. 120. 39

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Mit den empirischen Befunden ist die wissenschaftliche Diskussion um die Universalitätsthese jedoch noch nicht abgeschlossen, jedenfalls hängt »die Empirie« auch hier von theoretischen Hintergrundannahmen ab. Wie sich gezeigt hat, ist das empirische Material bezogen auf eine ganz bestimmte Theorie, nämlich auf eine funktionalistische Evolutionstheorie. Damit komme ich zur Diskussion einiger theoretischer Konzepte der Emotionspsychologie. Es muss u. a. geklärt werden, was denn überhaupt mit dem oder im Ausdruck verstanden wird. Die Antwort von Ekman, Izard und vielen anderen lautet kurz gesagt: Basisemotionen. Das ist, wie weiter oben bereits angedeutet, nicht unproblematisch. Ein ernster Einwand kommt z. B. von linguistischer Seite und steht in der Tradition der Sapir/Worf-These. Danach lässt sich die Annahme, es gebe ein bestimmtes Set universaler Basisemotionen mit dem Argument angreifen, dass das Feld des emotionalen Erlebens je nach Kultur sprachlich anders strukturiert wird. 44 Diese Kritik läuft darauf hinaus, dass das Konzept der Basisemotionen eine Aussage darüber macht, dass bestimmte Emotionen für englischsprachige Personen fundamentale und differenzierte Emotionen sein mögen, dies aber nicht für Personen aus anderen Kulturen gelten müsse. Es ist zumindest ungeklärt, ob und inwieweit das emotionale Erleben auch davon abhängt, welche sprachlichen – und allgemeiner: welche symbolischen – Möglichkeiten den erlebenden Individuen überhaupt zur Verfügung stehen. 45 Der Emotionspsychologe Alan Fridlund kritisiert jedoch nicht nur das Konzept der Basisemotionen, sondern die auf diesem Konzept beruhende emotionstheoretische Sicht (Emotion View) des 44

Anna Wierzbicka: Semantic, Cultur, and Cognition. Human Concepts in CultureSpecific Configuations, New York/Oxford 1992, S. 119–134. 45 James A. Russell: »Culture and the Categorization of Emotion«, in: Psychological Bulletin 110/3, 1991, S. 426–450, hier S. 444, vgl. hierzu auch Paul Heelas: »Emotion Talk across Cultures«, in: Rom Harré, W. Gerrod Parrott (Hg.): The Emotions. Social, Cultural, and Biological Dimensions, London 1996, S. 171–199 und generell zur Kritik an den Basisemotionen Richard A. Shweder: »›You’re Not Sick, You’re Just in Love‹ – Emotion as an Interpretative System«, in: Paul Ekman/Richard J. Davidson (Hg.): The Nature of Emotion – Fundamental Questions, New York/Oxford 1994, S. 32–44.

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Ausdrucks insgesamt und damit die von dieser Sicht angenommene Verbindung von Emotionen und Ausdruck (expression-feeling-link). Gegenüber der vorherrschenden emotionstheoretischen Sicht entwickelt Fridlund eine verhaltensökologische Theorie (Behavioral Ecology View) des Ausdrucks. 46 Bevor ich auf Fridlund selbst eingehe, will ich die von ihm kritisierte emotionstheoretische Sicht, wie sie von Ekman, Izard und vielen anderen vertreten wird, skizzieren. IV. Emotionspsychologische Theorien des Ausdrucks IV.1 Die neuro-kulturelle Theorie der Gefühle Die angenommene Tatsache der Universalität bestimmter mimischer Ausdrücke, impliziert keineswegs die Annahme, dass sie kulturell nicht beeinflussbar sind. In der emotionspsychologischen Literatur findet sich entsprechend oft der Hinweis, dass kulturelle und soziale Konventionen bestimmte Emotionen, oder doch zumindest ihren Ausdruck, regulieren. 47 Auch Ekman betont ausdrücklich die Bedeutung kultureller Normen und Regeln für das mimische Ausdrucksverhalten des Menschen. Der Ausdruck von Emotionen unterliege sowohl kulturellen als auch historischen Veränderungen. Ekman schlägt in diesem Zusammenhang eine »neurokulturelle Theorie der Gefühle« vor, 48 die von zwei wesentlichen Komponenten des Emotionalen ausgeht. Die erste Komponente besteht in einem genetisch fundierten »Affektprogramm«, die zweite in einem Set kultureller »Darbietungsregeln« (display rules). Das Affektprogramm bezieht sich auf die Basisemotionen, hat sich phylogenetisch entwickelt, läuft, wenn bestimmte Auslöser auftreten, mehr oder weniger automatisch ab und besitzt die eingangs skiz46

Vgl. Alan J. Fridlund: Human Facial Expression – An Evolutionary View, San Diego 1994. Eine kürzere Zusammenfassung der Theorie findet sich in Fridlund, »The new ethology«. 47 Vgl. Scherer/Wallbott, »Evidence«, S. 360; Izard, »Emotions and facial expressions«, S. 107. 48 Ekman: »Weltweite Gleichheit und kulturbedingte Unterschiede des Ausdrucks von Gefühlen im Gesicht«, in: ders., Gesichtsausdruck, S. 15–80, hier S. 20–36.

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zierten adaptiven innerorganismischen und kommunikativen Funktionen. Interessant im Hinblick auf die Universalitätsthese ist zunächst Ekmans nähere Position zu den Gefühlsauslösern. »Die Auslöser rufen das Gefühl schnell hervor, doch was abläuft, ist kein Reflexbogen. Die Verbindung zwischen einem bestimmten Reiz und einer bestimmten Reaktion ist nicht angeboren und auch nicht feststehend.«49 Wenn man also den mimischen Ausdruck z. B. des Ekels, der Trauer oder der Überraschung sieht, kann man allein aufgrund des Ausdrucks nicht wissen, wovor sich die betreffende Person ekelt, worüber sie traurig oder wovon sie überrascht ist. Die jeweiligen Auslöser hängen sowohl von individuellen Erfahrungen als auch von bestimmten kulturellen Vorgaben ab. Allerdings, so Ekman, gibt es auch einige Gemeinsamkeiten: die Auslöser von Ekel etwa sind eher giftig als schmerzlich; Überraschungsauslöser treten unerwartet, neu und plötzlich auf; Glücksauslöser haben die Befreiung von angesammeltem Druck, Spannung oder Unbehagen gemeinsam; charakteristisch für Trauer ist der Verlust von etwas, an das man emotional gebunden war. 50 Ekman nimmt also »weltweit gleiche prototypische Situationen«51 als Auslöser für die einzelnen Basisemotionen an. Die kulturelle Variation und Ausgestaltung der prototypischen Situationen ist dabei allerdings beträchtlich, z. B. kann fast jedes Objekt psychisch so besetzt werden, dass man über seinen Verlust bekümmert ist. 52 Der Einfluss kultureller Faktoren betrifft aber nicht nur die Auslöser der Emotionen, sondern auch – und darauf kommt es ja hier an – das Ausdrucksverhalten. Dies versucht Ekman, mit der zweiten Komponente seiner Theorie (den Darbietungsregeln) festzuhalten. Die Darbietungsregeln beschreiben explizite oder implizite kulturelle Normen, Gewohnheiten oder Konventionen, die angeben, »wer wann welches Gefühl wem gegenüber zeigen darf«. 53 Der Aus49 50 51 52 53

Ebd., S. 26. Ebd., S. 28. Ekman, »Ausdruck und das Wesen«, S. 174. Ebd., S. 175. Ekman, »Weltweite Gleichheit«, S. 30.

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druck von Emotionen ist ganz offensichtlich einer wirksamen kulturellen und sozialen Normierung unterworfen. 54 Für Ekman sind die Darstellungsregeln »von klein auf erlernte Techniken, um das Mienenspiel ausführen und kontrollieren zu können«.55 Er unterscheidet dabei vier Möglichkeiten; die erste dient dem »Herunterspielen emotionaler Zustände«, wenn z. B. jemand z. B. eine gelassene Miene in einer Situation zeigt, in der er sich eigentlich fürchtet. Die zweite Möglichkeit besteht in der »Intensivierung der Emotionen«, die dritte, sich »möglichst neutral oder emotionslos zu verhalten«, und die vierte darin, »seine tatsächliche Emotionen so gut wie möglich zu verbergen und dafür andere vorzutäuschen«: jemand gibt sich glücklich, obwohl er traurig ist. 56 Die display rules können den natürlichen Ausdruck des Affektprogramms also intensivieren, abschwächen, neutralisieren oder durch einen anderen ersetzen. Sie werden durch verschiedene Sozialisationsprozesse in der Ontogenese erworben. Zum Beispiel kann durch Bekräftigungslernen kulturell angemessener Ausdruck unterstützt, durch Ignorieren und Bestrafen unangemessener Ausdruck unterdrückt werden. 57 Ekmans neurokulturelle Theorie der Gefühle wird von vielen Emotionspsychologen akzeptiert oder in ähnlicher Weise selbst vertreten. 58 Gemeinsam ist die Annahme, dass eine ursprünglich natürliche Übereinstimmung zwischen emotionalen Zuständen und Ausdruck besteht, die sich durch soziale und kulturelle Faktoren immer mehr auflösen kann. Die Sozialisation lenkt das natürliche Ausdrucksverhalten in kulturspezifische Bahnen, was auch Verstellungen und Maskierungen einschließt. Im Hinblick auf die Universalitätsthese formuliert Ekman noch einmal eindeutig: »Angehörige verschiedener Kulturen zeigen den gleichen Gesichtsausdruck,

54

Vgl. auch Schneider/Dittrich, »Evolution«, S. 53. Ekman: »Universale emotionale Gesichtsausdrücke«, in: Gerd Kahle (Hg.): Logik des Herzens. Die soziale Dimension der Gefühle, Frankfurt/Main 1981, S. 177– 186, hier S. 179. 56 Ebd. 57 Hierzu Schmidt-Atzert, Lehrbuch. 58 Scherer/Wallbott, »Evidence«, S. 354. 55

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wenn sie das gleiche Gefühl empfinden, außer wenn kulturspezifische Darbietungsregeln dazwischentreten.«59 Ist an dieser Sicht etwas problematisch? Sie scheint lebensweltlichen Intuitionen doch sehr nahe zu kommen. Sie scheint allerdings auch den »stratigraphischen« Vorstellungen der menschlichen Existenz zu entsprechen, die eingangs als anthropologisch unbefriedigend kritisiert habe. Treten hier also die natürliche und die kulturelle Existenz des Menschen erneut auseinander und werden in einem »Schichtenmodell« angeordnet: zuerst und primär der natürliche Ausdruck, und dann, darauf aufbauend, die kulturellen Darbietungsregeln? Abschließend will ich nun auf eine alternative Theorie des mimischen Ausdrucks eingehen, die eine solche einfache Dichotomie versucht zu vermeiden. Es handelt sich um die verhaltensökologische Theorie (Behavioral Ecology View) des Ausdrucks von Alan Fridlund. IV.2 Die verhaltensökologische Theorie des Ausdrucks Von einer verhaltensökologischen Theorie des Ausdrucks zu sprechen, ist eigentlich nicht zutreffend. Fridlund selbst benutzt zwar auch den Begriff facial expression, zieht aber den Begriff facial display vor. Der Begriff sei neutraler und fasse die beobachtbaren »Muster von Gesichtsbewegungen« nicht sofort als »äußeren« Ausdruck einer »inneren« Emotion auf. In dieser Vorsicht steckt ein durchaus berechtigter Rest des behavioristischen Programms. Anstatt also von problematischen Basisemotionen auszugehen, hält es Fridlund jedenfalls für sinnvoller, sich auf die Untersuchungen der displays selbst zu konzentrieren. Displays sind für ihn kein Ausdruck von »inneren« Emotionen, sondern haben Signalfunktion und dienen der Kommunikation sozialer Motive und der Information von Verhaltenswahrscheinlichkeiten. Ein »ärgerliches« Gesicht drückt aus verhaltensökologischer Sicht nicht Ärger aus, sondern signalisiert den Interaktionspartnern, dass das Individuum u. U. be59

Ekman: »Der Gesichtsausdruck als Ausdruck von Gefühlen«, in: ders., Gesichtsausdruck, S. 115–147, hier S. 117 f.

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reit ist, anzugreifen, ein »trauriges« Gesicht drückt keine Trauer aus, sondern signalisiert das Bedürfnis nach Beistand usw. Nun haben wir gesehen, dass die emotionstheoretische Sicht ja gar nicht bestreitet, dass Expressivität auch eine kommunikative Funktion, besitzt, im Gegenteil. Für Ekman sind die emotionalen Ausdrucksformen eine besondere Art von Signalen, wobei die Besonderheit genau darin besteht, dass sie normalerweise unwillkürlich, nicht absichtlich – etwa zu Zwecken der Kommunikation – produziert werden: sie treten einfach mit der entsprechenden Emotion auf (wenn sie nicht durch kulturelle Regeln unterdrückt werden). Und Ekman meint nun, dass gerade dies für die kommunikative Funktion von entscheidender Bedeutung sei: »Der kommunikative Wert eines Signals unterscheidet sich, je nachdem ob das Signal beabsichtigt oder unbeabsichtigt ist. Emotionale Ausdrucksformen sind äußerst wirksam; wir trauen ihnen gerade deshalb, weil sie unbeabsichtigt sind. Wir zeigen keinen Gefühlsausdruck, um etwas mitzuteilen, auch wenn eine Mitteilung empfangen wird.« 60 Die Formen des Gefühlsausdrucks haben sich demnach ausgebildet, weil sie informativ sind, was aber nicht heißt, dass sie absichtlich gezeigt werden, um Informationen zu übermitteln. Der Gefühlsausdruck transportiert die Information, wenn man so will, ungeschminkt und verrät anderen etwas darüber, wie sich das Individuum wahrscheinlich verhalten wird. Das sei, so Ekman, »eine nützliche Information für beide Beteiligten, für denjenigen, der sie erhält, und denjenigen, der den Ausdruck zeigt«. 61 Genau das wird nun aber von Fridlund bestritten. Dabei argumentiert er strikt evolutionstheoretisch. Er hält die »Kosten« automatischer, unwillkürlicher Signale für das produzierende Individuum einfach für zu hoch. 62 Signale hätten sich in der Evolution nicht entwickelt, wenn sie Informationen weitergeben würden, die dem Individuum schaden könnten. So könnte z. B. der Ausdruck von Furcht gegenüber einem aggressiven Artgenossen, diesen in seiner Aggressivität noch unterstützen, weil er weiß, dass er es mit einem furchtsamen Riva60 61 62

Ders., »Einführung«, S. 418 f. Ebd., S. 418. Fridlund, Human Facial Expression, S. 76.

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len zu tun hat. Zur Ausbildung von displays, die Informationen enthalten, komme es nur dann, wenn dies nicht nur für den Rezipienten, sondern auch für den Produzenten einen adaptiven Vorteil bringe. Insgesamt geht Fridlund daher von einer Koevolution von Produktion und Rezeption des Ausdrucks aus. 63 Ob und inwieweit dabei »innere« Gefühle beteiligt sind, ist für die Ausbildung des Kommunikationssystems ohne zentrale Bedeutung. 64 Ein starkes Indiz für diese Sicht sieht Fridlund darin, dass sich empirisch nur eine sehr schwache Verbindung von Ausdruck und Gefühlen nachweisen lässt. Dies entspricht der lebensweltlichen Einsicht, dass wir bei weitem nicht nur lächeln, wenn wir tatsächlich fröhlich sind, nicht nur weinen, wenn wir traurig sind usw. Oft ist unser Gesicht auch regungslos, obwohl wir u. U. heftigste Gefühle empfinden. 65 Der mimische Ausdruck hat dann weniger mit den »tatsächlichen inneren Gefühlen« zu tun hat, sondern mit der sozialen Kommunikationssituation. Fridlund spricht in diesem Zusammenhang von einem audience effect. Ob ein facial display gezeigt wird, hängt in ganz entscheidender Weise davon ab, ob und welche Interaktionspartner anwesend sind. Fridlund diskutiert in diesem Zusammenhang auch eine Untersuchung von Ekman mit japanischen und amerikanischen Studenten bei der Betrachtung angenehmer und stressauslösender Filme. 66 Der Aufbau sah so aus, dass die Versuchspersonen in einem Fall davon ausgehen konnten, bei der Betrachtung der Filme alleine zu sein, während in einem anderen Fall der Versuchsleiter und eine andere Personen anwesend waren. Insbesondere die japanischen Versuchspersonen versuchten bei Anwesenheit von anderen, ihren Ausdruck möglichst zu neutralisieren und zu lächeln. Sie taten dies jedoch nicht in der unbeobachteten Situation. Die Studie zeigt, 63

Ebd., S. 75. Vgl. hierzu bereits Paul Leyhausen: »Biologie von Ausdruck und Eindruck«, in: Psychologische Forschung 31/1967, S. 113–176 (Teil 1), 177–227 (Teil 2), hier S. 115. 65 Vgl. José Miguel Fernández-Dols/María-Angeles Ruiz-Belda: »Spontaneous facial behavior during intense emotional episodes – Artistic truth and optical truth«, in: Russel/Fernández-Dols, Psychology, S. 255–274. 66 Vgl. Fridlund, Human Facial Expression, S. 285–293. 64

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dass die Existenz des sog. »asiatischen Lächeln« nicht unbedingt bedeuteten muss, dass die Mitglieder asiatischer Kulturen sich in ihrem emotionalen Erleben von den Mitgliedern anderer Kulturen unterscheiden, sondern, dass es für sie stärkere kulturelle Regeln gibt, negative Emotionen in Gegenwart anderer möglichst nicht auszudrücken, sondern durch ein Lächeln zu maskieren. 67 Ekman sieht in dieser Studie einen Beleg für seine neurokulturelle Theorie der Gefühle: in Situationen, in denen sich die Versuchspersonen unbeobachtet fühlen konnten, zeige sich der natürliche und authentische Ausdruck, während unter Bedingungen der Beobachtung die kulturellen Darbietungsregeln einsetzten. Fridlund kommt zu einer anderen Interpretation. Auch er führt das unterschiedliche mimische Verhalten der japanischen und amerikanischen Versuchspersonen auf kulturelle Differenzen zurück, er ist allerdings nicht der Meinung, dass es sich bei den japanischen Studenten um eine Maskierung ursprünglich authentischer Ausdrucksformen durch kulturelle Regeln handelt: »There is a simpler explanation than masking via display rules to account for the results Frieses reports. Simply statet, the japanese subjects smiled out of politeness to the graduate student interviewer. Indeed, Japanese custom is to smile when beeing addressed, especially by an authority. When the film was beeing replayed, the positioning of the interviewer left subjects the choice to look at him or the film. Although the object of the film replay was to obtain reactions to the film with the interviewer present, it would be rude for the Japanese student to ignore the interviewer who was addressing him, and thus the Japanese students’ faces were uneffected by the replay. It would be far less for the American student to view the film while being addressed. Thus the cultural difference may not have been in managing facial behavior, but in attending to the film. In the Behavioral Ecology View, the faces issued by the Japanese and Americans were equally authentic displays of social motives. The Americans were authentically moved to comment facially on the film, whereas the

67

Vgl. Ekman, »Weltweite Gleichheit« und auch Scherer/Wallbott, »Evidence«, S. 358.

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Japanese were authentically moved to show politeness to the experimenter.« 68 Im Unterschied zu Ekman muss Fridlund also nicht zwei verschiedene Faktoren oder Schichten – eine natürliche und eine kulturelle – annehmen, um das beobachtete Verhalten erklären zu können. Die verhaltensökologische Sicht erlaubt es vielmehr, von einem Gesamtverhalten des Individuums in konkreten Umweltsituationen auszugehen. Beim Menschen sind in diese Umweltsituationen auch die kulturellen Traditionen eingeschrieben, auf die er dann durchaus »natürlich« reagiert. Zwar kann es zu Spannungen in bezug auf die kulturellen Regeln und Traditionen kommen, dabei handelt es sich aber nicht um eine Spannung zwischen einer natürlichen und kulturellen Schicht. Wenn man davon ausgeht, dass die natürliche und die kulturelle Existenz des Menschen koevolutiv miteinander verwoben und nicht stratigraphisch angeordnet sind, ist das Verhalten der japanischen Versuchspersonen ebenso natürlich und authentisch wie dasjenige der amerikanischen. Sie müssen sich nicht kulturell »verbiegen«, um ein ursprünglich natürliches Gefühl mimisch zu unterdrücken. Und ebenso wenig lassen die amerikanischen Versuchspersonen ihren natürlichen Gefühlen freien Lauf. Beide Verhaltensweisen sind ebenso natürlich wie kulturell. Man kann in der verhaltensökologischen Theorie des Ausdrucks von Fridlund also eine starke Alternative zur emotionstheoretischen Sicht von Ekman und Izard sehen, die Frage ist allerdings, ob die Radikalität mit der Fridlund das Konzept der Emotionalität insgesamt aufgibt, nicht zu einem (behavioristischen) Reduktionismus führt. Mit dem Emotionspsychologen Nico Frijda lässt sich eine vermittelnde Position beziehen. 69 Ebenso wie Fridlund verweist Frijda auf die empirisch schwache Verbindung zwischen Emotionen und Ausdruck. 70 Darüber hinaus diskutiert er in einer Kritik der Beurteilungsstudien Ekmans, das 68

Fridlund, Human Facial Expression, S. 291 f. Vgl. Nico H. Frijda: The Emotions, Cambrigde/London/New York 1986; sowie Frijda/Anna Tcherkassof: »Facial expressions as modes of action readiness«, in: Russel/Fernández-Dols, Psychology, S. 78–102. 70 Ebd., S. 81. 69

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Versuchspersonen bei freigestellter Reaktion auf vorgeführte mimische Ausdrucksmuster in erster Linie nicht mit der Nennung von (Basis-)Emotionsbegriffen reagieren, sondern Situationen oder kleine Geschichten erzählen oder imaginieren, die dem gezeigten Ausdruck einen plausiblen Kontext geben. 71 Anders als Fridlund betont Frijda jedoch, dass bei den geschilderten Situationen bzw. Geschichten Emotionalität natürlich sehr wohl eine Rolle spiele. 72 Der Rekurs auf Emotionalität ist demnach nicht gänzlich überflüssig, wohl aber zu verkürzt. Die Emotionalität, auf die der Ausdruck auch verweist, ist nur ein Teil eines übergeordneten Verhaltens, das mit dem Ausdruck in Verbindung gebracht werden kann, etwa den »Zuständen der Handlungsbereitschaft« (states of action readiness), in denen sich das Individuum befindet. 73 Mit diesen Zuständen ist eine Etablierung, eine Aufrechterhaltung oder ein Wechsel der Umweltbeziehung – insbesondere im Hinblick auf Interaktionspartner – des Individuums verbunden. Und genau dies drückt der mimische Ausdruck aus. 74 Frijda spricht daher insgesamt auch von expression behavior. Dadurch das Frijda (ebenso wie Fridlund) das umweltbezogene Verhalten zum theoretischen Ausgangspunkt seiner Analyse macht, erhält der Kontext des mimischen Ausdrucks von Beginn an eine entscheidende Bedeutung: »Facial expression literature curiously neglects that context. The expressions are generally treated as if they stand on their own. This neglect most probably is a mistake. Facial expressions tend to appear in a context of head and body orientations, gross body movements, posture changes, and other object-related actions whith a similar relational sense.« 75 Im Ausdruck zeigt sich die aktuelle Umweltsituation des Individuums, zu der es sich verhält. Expressivität ist genuin praktisch. Bedeutet dies aber, dass der mimische Ausdruck überhaupt nichts mit Emotionen zu tun hat, wie Fridlund (zumindest aus methodischen Gründen) annimmt? Frijda ist anderer Meinung: 71 72 73 74 75

Ebd. Ebd., S. 84. Frijda The Emotions, S. 69 ff. Frijda/Anna Tcherkassof, »Facial expressions«, S. 87. Ebd., S. 90 f.

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»Emotions and facial expressions are intrinsically related for the simple reason that emotions are states of action readiness. More precisely, emotions are best viewed as action dispositions or states of action readiness elicited by antecedent events as appraised and manifesting some degree of control precedence.«76 Die Verbindung zwischen Emotion und Ausdruck ist dabei, wie Frijda betont, »neither necessary nor exclusive«. 77 Der Ausdruck ist ebenso wie die Emotion nur eine Komponente innerhalb eines komplexen Umweltverhaltens in einer Situation. Sie müssen nicht notwendig auch gemeinsam auftreten. Man kann also weder eindeutig von der Emotion auf den Ausdruck schließen noch umgekehrt. Oder von einer anderen Perspektive aus formuliert: weil beim Menschen natürliche und kulturelle Existenz miteinander verwoben sind, ist der Ausdruck kein eindeutiges Signal (mehr), sondern ein Symbol, das einen gewissen Spielraum der Interpretation offen lässt. 78 IV.3 Fazit Was lässt ich nun aus empirischer Sicht abschließend zur Universalitätsthese festhalten? Die emotionspsychologischen Untersuchungen liefern eine Vielzahl von Belegen dafür, dass der mimische Ausdruck und das Verstehen von mimischem Ausdruck kulturübergreifende Aspekte aufweist. Man sollte aufgrund der Befunde zwar nicht gleich zu solchen vereinfachenden Formeln wie »sind eben alles Menschen gewesen« greifen, 79 aber der gängige Antiuniversalismus und Kulturrelativismus der Philosophie und der Kulturwissenschaften greift wohl ebenfalls zu kurz. Die Kritik an den Beurteilungsstudien Ekmans ist zwar ohne Zweifel ernst zu 76

Ebd., S. 95. Ebd., S. 96, vgl. auch Frijda, The Emotions, S. 66. 78 Vgl. hierzu Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen – Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996 (1944). 79 Vgl. Ernst Hans Gombrich: »›Sind eben alles Menschen gewesen‹ – Zum Kulturrelativismus in den Geisteswissenschaften«, in: A. Schöne (Hg.). Kontroversen, alte und neue. Bd. 1, Tübingen 1986, S. 17–28, die Formel selbst stammt aus Goethes Zahmen Zenien. 77

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nehmen, sie bedeutet aber keine wirkliche Widerlegung der Universalitätsthese, sondern nur eine wichtige Korrektur: weitere Untersuchungen sollten die ökologische Validität ihres Vorgehens in größerem Maße berücksichtigen. Hinzu kommen, wie sich gezeigt hat, starke ontogenetische Belege. Die Universalitätsthese ist also keine überholte philosophische Spekulation, von der man sich angesichts der Heterogenität der Kulturformen verabschieden müsste, sondern hält einer empirischen Überprüfung stand. Die interessante Frage ist jedoch, was den eigentlich interkulturell verstanden wird, wenn man ein bestimmtes mimisches Ausdrucksmuster sieht und nur wenig andere, insbesondere kulturelle Kontextinformationen zur Verfügung hat. Die Diskussion hat ergeben, dass wir in solchen Fällen nicht einfach bestimmte »Basisemotionen« verstehen, sondern ein mehr oder weniger wahrscheinliches kommunikatives und interaktives Verhalten der betreffenden Person in einer Situation erwarten. Entgegen der behavioristischen Sicht von Alan Fridlund müssen wir dabei auf die Zuschreibung von Emotionalität nicht verzichten (was unserer lebensweltlichen Erfahrung auch widersprechen würde), aber die Zuschreibung von Emotionen bezeichnet nur einen Aspekt. Wir verstehen vielmehr, in welcher Gesamtsituation sich ein anderer, der einen bestimmten körpergebundenen Ausdruck zeigt, befindet und wie er sich in dieser Situation wahrscheinlich weiter verhalten oder auch nicht verhalten wird. Die wahrgenommenen Ausdrucksformen ziehen uns damit in die Situation, so wie sie von dem anderen erlebt wird, hinein. In diesem Sinne bedeuten sie nicht den End-, sondern den Ausgangspunkt einer möglichen Kommunikation und Interaktion. Sie liefern einen Anhalt dafür, wie wir uns dem anderen nähern können, indem wir seine Sicht auf die Situation berücksichtigen. Selbstverständlich können wir uns bei der Wahrnehmung von leiblichem Ausdruck irren (oder auch bewusst in die Irre geführt werden). Der körpergebundene Ausdruck führt nicht zur Herstellung von Eindeutigkeit, sondern er ist vielmehr ein wichtiger Faktor, der die Kommunikation organisieren und lenken kann. Am Ausdruck des anderen lesen wir ab, wie wir uns im nächsten Schritt dem anderen gegenüber möglichst angemessen verhalten könnten. 54 © Verlag K

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Der Ausdruck gibt dabei Richtungen vor, denen wir uns, jedenfalls was das Verstehen betrifft, nicht entziehen können: ein freudiges und ein trauriges Gesicht sind, um mit Gregory Bateson zu sprechen,80 »ein Unterschied, der einen Unterschied macht« – und zwar kulturübergreifend!

80

Gregory Bateson: »Double Bind«, in: ders.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt/Main 1985, S. 353–361, hier S. 353.

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Mimischer Ausdruck von Emotionen – Assoziation und Dissoziation von Erleben und Verhalten I. Einführung Wie selbstverständlich gehen wir von einer unmittelbaren Beziehung zwischen dem subjektiven Erleben von Gefühlen und dessen Ausdruck im mimischen Verhalten aus. Kaum ein anderer Verhaltensaspekt scheint einem Beobachter so unmittelbaren Zugang zum Erleben des Anderen zu gewähren wie die Mimik. Andererseits ist ebenso evident, dass die Mimik kontrolliert werden kann, dass z. B. das »Poker Face« eben keinerlei Rückschluss auf den Gefühlszustand des Spielers erlaubt. Und es gibt – empirisch und experimentell begründet – Zweifel daran, dass die Mimik ein valider »Ausdruck der Gemütsbewegungen« 1 sei, dass sie vielmehr als ein willkürlich kontrolliertes, kulturell determiniertes Verständigungsmittel wie die Sprache eingesetzt werde. 2 Andererseits wird die Mimik nicht selten sogar als notwendiger Bestandteil von Emotionen betrachtet. Auf einige Aspekte der Verknüpfung von mimischem Verhalten und dem subjektiven Erleben soll dieser Beitrag eingehen. Spezifisch möchte ich der Frage nachgehen, in welcher Weise mimisches Verhalten und subjektives Erleben verbunden sind und wie sich damit effektiv kommunizieren lässt. Im Einzelnen geht es um folgende Themen: 1

C. Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei Menschen und Thieren, Halle a. S. 1874. 2 J. A. Russel/J. M. Fernández-Dols: »What Does a Facial Expression Mean?«, in: J. A. Russel/J. M. Fernández-Dols (Hrsg.): The Psychology of Facial Expression, New York 1997.

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Mimischer Ausdruck von Emotionen

– Welches sind die emotionstheoretischen Grundlagen, auf deren Basis eine Verknüpfung zwischen subjektivem Erleben und Ausdrucksverhalten angenommen werden? – Wie lässt sich die Verknüpfung von Emotionen und mimischem Verhalten beschreiben? Dazu ist zunächst die psychophysiologische Basis des mimischen Ausdrucks zu betrachten. – Welches sind Auslöser für mimisches Verhalten? – Welche Bedeutung hat die Differenzierung von Ausdruck und Eindruck? – Wie steht es um den mimischen Ausdruck diskreter Emotionen? – Welche Bedeutung hat die Dissoziation von Erleben und Ausdrucksverhalten bei verschiedenen klinischen Phänomenen, d. h. bei neurologischen und psychischen Störungen? – In welcher Weise spielen die multiplen Funktionen mimischen Verhaltens als Mittel (partner-)adaptiver Kommunikation und Mittel sozialer Emotionsregulation eine Rolle? Die Frage nach dem Zusammenhang von subjektivem Erleben und mimischen Verhalten berührt unter semiotischer Perspektive vor allem semantische und pragmatische Aspekte der Mimik. Es geht um para-semantische und para-pragmatische Funktionen dieses nonverbalen Verhaltens. 3 Legt man Bühlers Organon-Modell 4 zugrunde, so stellt sich die Frage nach den Beziehungen zwischen dem mimischen Verhalten als Zeichen und dem internen Zustand des Individuums, d. h. zwischen Zeichen und Bezeichnetem und außerdem nach den Beziehungen zwischen Zeichen und dem Benutzer der Zeichen. Die Mimik erscheint hierbei wie kein anderer Verhaltensbereich des Menschen besonders eng an unser emotionales Geschehen, vor allem das Erleben und das Mitteilen von Gefühlen gebunden zu sein. Diese Verknüpfung ist aus zwei Perspektiven zu betrachten:

3

Klaus R. Scherer: »Die Funktionen des nonverbalen Verhaltens im Gespräch«, in: D. Wegner (Hrsg.): Gesprächsanalysen, Hamburg 1977. 4 Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungstheorie der Sprache, Stuttgart 1965 (1. Ausgabe 1934)), S. 24 ff. Das Organon-Modell der Sprache.

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a) Wie ist die Mimik mit den emotionalen Zuständen der Person verbunden, die den Ausdruck zeigt? b) Wie sieht ein Betrachter diese Verknüpfung, wenn er die Mimik beim Gegenüber wahrnimmt? II. Was sind Emotionen und Gefühle? Hierbei geht es um die Frage: Was sind Emotionen und wie manifestieren sie sich? Emotionen sind ganz sicher ein subjektives Erleben, das Erleben von Angst, Freude, Trauer usw. Emotionen sind aber noch mehr. Neben dem subjektiven Erleben gehört zu einer Emotion immer auch eine physiologische Reaktion. Dies kann der erhöhte Herzschlag bei Freude oder Ärger sein oder der Schweißausbruch bzw. das mulmige Empfinden im Magen bei Angst. Diese physiologische Reaktion ist besonders wichtig bei emotionalen Störungen, die sich vielfach dadurch auszeichnen, dass gerade diese Reaktionen fehlerhaft gedeutet werden, wenn etwa bei einer Panikstörung die physiologische Erregung als Todesangst erlebt wird. Dies ist insbesondere wichtig, wenn man an die Therapie verschiedener psychischer Störungen denkt, bei denen Fehlinterpretationen physiologischer Reaktionen und deren Korrektur in der Therapie eine zentrale Rolle spielen. Eine dritte Komponente des emotionalen Geschehens ist dessen Ausdruck im nonverbalen Verhalten, insbesondere der Mimik. Dieser Punkt ist keineswegs unumstritten, vor allem die Frage, ob der mimische Ausdruck konstituierender, notwendiger Teil eines emotionalen Prozesses ist, oder ob Emotionen auch ohne diesen Ausdruck auftreten. Eine große Schwierigkeit der Emotionsforschung ist seit jeher die unscharfe Begrifflichkeit, die nicht zuletzt auf die Komplexität der Phänomene zurückzuführen ist. Während das Verhalten von außen beobachtbar und beschreibbar ist oder das Denken über die Lösung von Aufgaben mit kognitiven Anforderungen der Beobachtung und dem Experiment zugänglich ist, sind die Gefühle als subjektives Erleben häufig von der Person selbst nur schwer zu beschreiben. Auch die Manifestationen von Gefühlen in der Mimik lässt sich von 58 © Verlag K

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einem Beobachter vielfach schwer in Worte fassen. Aber auch die physiologischen Reaktionen als Teile des emotionalen Geschehens sind wenig eindeutig und lassen z. B. nur bedingt eine Differenzierung zwischen verschieden erlebten Gefühlen zu. In der psychologischen Theorienbildung besteht allerdings weitgehend Konsens, dass sich emotionales Geschehen auf verschiedenen Ebenen beschreiben lässt, nämlich in einer physiologischen Reaktion, im subjektiven Erleben und im Ausdruck. Nach dem Verständnis einer streng experimentellen Psychologie wären Emotionen als bio-regulatorische Mechanismen ein übergreifendes Konzept, das vom subjektiven Erleben des Gefühls als eines Teilbereichs zu trennen ist. 5 Emotionen sind danach spezifische und konsistente Muster physiologischer Reaktionen, die durch bestimmte Systeme des Gehirns – insbesondere die Amygdala wird immer hervorgehoben – getriggert werden. Sie sind Teile der bio-regulatorischen Mechanismen. Zu den Mustern physiologischer Reaktionen sollten auch körperliche Reaktionen etwa der Viscera gerechnet werden. D. h. Emotionen spielen sich nicht nur im Gehirn sondern auch peripher-physiologisch ab. Gefühle wiederum sind mentale Zustände aufgrund neuronaler Repräsentationen von Reaktionsmustern (= Emotionen) unter Beteiligung geeigneter Hirn-Strukturen. Das Gefühl ist also ein subjektives Erleben, das die emotionalen Reaktionsmuster repräsentiert. Ein Gefühl konstituiert immer auch eine Emotion; es gibt kein Gefühl ohne hirnphysiologische Erregungsmuster, die das Substrat darstellen. Wohl aber sind hirnphysiologische bio-regulatorische Erregungsmuster denkbar, ohne dass damit ein Gefühl verbunden wäre. Beispiele hierfür wären etwa verschiedene Schlafstadien oder epileptische Anfälle. Es macht also durchaus Sinn, den bio-regulatorischen Mechanismus »Emotion« von dem subjektiven Erleben des »Gefühls« zu unterscheiden. Über den emotionalen Ausdruck in Mimik, Stimme etc. käme

5

Antonio R. Damasio: »A Second Chance for Emotion«, in: R. D. Land/L. Nadel (Hrsg.): Cognitive Neuroscience of Emotion, New York 2000.

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zu dem bio-regulatorischen Mechanismus noch der sozio-regulatorische Mechanismus hinzu. 6 Im Allgemeinen wird allerdings diese Differenzierung selten explizit gemacht, d. h. die Begriffe »Emotion« und »Gefühl« werden synonym gebraucht. Auch der Begriff »Affekt« wird ähnlich wie der der Emotion gebraucht, wobei ersterer sich durch eine höhere Intensität des Erlebens auszeichnet. Vielfach wird auch die Gesamtheit der beim emotionalen Geschehen beteiligten psychischen und physiologischen Systeme als »Affekt-System« zusammengefasst. Als »Affekt-Programme« werden angeborene Mechanismen bezeichnet, die hirnphysiologisch und im Verhalten in relativ fester Form ablaufen, wenn eine Emotion ausgelöst wird. Inwieweit die Annahme von Affekt-Programmen für die Mimik plausibel ist, wird an späterer Stelle behandelt. Zumindest die Trennung der verschiedenen beim emotionalen Geschehen beteiligten Ebenen soll explizit vorgenommen werden. Diese drei Ebenen – physiologische Erregung, subjektives Erleben und nonverbaler Ausdruck – sind dem Individuum in unterschiedlicher Weise zugänglich. Der dem Individuum nicht unmittelbar zugängliche Teil ist die Aktivität des autonomen, endokrinen und Immun-Systems. Dem erlebenden Selbst zugänglich ist die Ebene des subjektiven Erlebens von Gefühlen. Die Ebene des emotionalen Ausdrucks ist vor allem anderen zugänglich und erlaubt über deren Reaktionen ein soziales Feedback. Auslöser für eine emotionale Reaktion ist eine Situation, die wahrgenommen und bewertet wird. Der Ausdruck wiederum führt zu einer Reaktion der sozialen Umgebung, die wiederum die eigene Wahrnehmung und Bewertung der Situation beeinflusst. Ich nehme eine große Menschenmenge wahr, die mir ihre Aufmerksamkeit zeigt, mein Herzschlag erhöht sich, ich erlebe Freude, zeige dies in einem breiten Lachen und anderen Verhaltensweisen und erfahre noch mehr Zustimmung von der Menge – die Bilder von Wahlkämpfern könnten als Beispiel dienen. Oder der Herzschlag erhöht sich bereits, wenn ich nur wenigen Menschen gegenüber bin, ich 6

R. Buck: »The Biological Affects: A Typology«, in: Psychological Review 106/2, 1999.

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beginne zu schwitzen, erlebe Angst und weiche zurück, so wie es Sozialphobiker tun. Bei diesem recht schlichten Modell wird, wie man sich denken kann, jeder Aspekt von wissenschaftlicher Seite her kritisch hinterfragt. Welche Rolle spielt die Bewertung der emotionsauslösenden Situation? Ist ein Ausdruck unabdingbar dafür, dass ich von einer Emotion sprechen kann? II.1 Funktionen von Emotionen und Emotionsausdruck Emotionen haben sowohl auf den Organismus bezogene motivationale als auch auf die soziale Umgebung bezogene Funktionen. Diese zwei Funktionsbereiche könnte man als motivationale bzw. kommunikative Funktionen von Emotionen bezeichnen. Motivationale Funktionen Über die motivationalen Funktionen werden durch die Emotionen zum einen Handlungstendenzen aktiviert, zum anderen wird eine Entkoppelung von Stimulus-Situation und Reaktion erreicht. Eine zentrale motivationale Funktion der Emotionen wird in der Aktivierung von Handlungsbereitschaft bzw. Handlungstendenzen (»Action Tendencies«) 7 gesehen. Emotionales Erleben und vor allem die physiologische Erregung führen zu einer Handlungsbereitschaft. Die physiologische Erregung bei Ärger macht den Organismus bereit für einen Angriff; bei der Angst bereiten subjektives Gefühl und physiologische Erregung auf die Flucht vor. Die Aktivierung von Handlungsbereitschaft wird besonders deutlich bei den Emotionen Ekel, Angst und Ärger. Eine Emotion dient also dazu, den Körper auf eine Handlung vorzubereiten. Angst oder Furcht bereitet den Körper auf Flucht vor, Ekel auf Abstoßung, Ärger auf Angriff etc. Eine weitere wichtige motivationale Funktion, die weit weniger beachtet wird, ist die des »Interface« zwischen relevanten StimulusEreignissen und Verhalten. Eine Emotion »entkoppelt« den Stimu7

N. H. Frijda: »Moods, Emotion Episodes, and Emotions«, in: M. Lewis/J. M. Haviland (Hrsg.): Handbook of Emotions, New York/London 1993.

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lus von der Reaktion. Indem ich mich über jemanden ärgere, brauche ich nicht reflexartig anzugreifen. Ich könnte, müsste mich aber nicht aggressiv verhalten. Indem ich emotional und nicht direkt mit einer Handlung reagiere, erreiche ich eine höhere Flexibilität der Interaktion von Organismus und Umgebung. Bei Störungen der Impulskontrolle ist diese Möglichkeit der emotionalen Reaktion vielfach gemindert. Kommunikative Funktionen Ein zweiter Funktionsbereich bezieht sich auf die Ebene des Ausdrucks und der Kommunikation von Gefühlszuständen. Über die kommunikativen Funktionen werden andere Personen über mein subjektives Erleben informiert und es kann eine Stimmungsübertragung und eine Regulation der sozialen Interaktion erreicht werden. Mit dem mimischen Ausdruck und anderen nonverbalen Verhaltensweisen signalisiere ich nach außen und informiere andere Personen über mein subjektives Erleben. Mit dem Ausdruck einer Handlungsbereitschaft informiere ich meine soziale Umgebung über mein zu erwartendes Verhalten. Der mimische Ausdruck meines Ärgers signalisiert meiner sozialen Umgebung eine mögliche Handlungsbereitschaft. Weiterhin erreicht das Individuum über den Ausdruck von Emotionen eine Stimmungsübertragung. Über den Ausdruck meines subjektiven Erlebens kann ich die Emotionen, die Stimmung, das Befinden anderer Personen beeinflussen. Sehr deutlich wird dies in der Interaktion mit depressiven Patienten, in der ein Gegenüber selbst gedrückter Stimmung werden kann, oder bei länger dauernder Interaktion auch ärgerlich reagiert. Mit Hilfe des Ausdrucks und der damit verbundenen Stimmungsübertragung kann ich z. B. soziale Unterstützung und soziale Responsivität auslösen. Mit dem Ausdruck von Traurigkeit spreche ich beim Gegenüber die Tendenz zur Zuwendung und Unterstützung an. Diese Stimmungsübertragung ist, und dies ist auch bei anderen sozial lebenden Organismen der Fall, zusammen mit anderen Verhaltensweisen eine ganz wesentliche Funktion des mimischen Ausdrucks von Emotionen, die durch kein anderes Verhalten so differenziert erreicht werden kann. 62 © Verlag K

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Mimischer Ausdruck von Emotionen

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen Stimulus – Emotion – und Verhalten

Eine auf die soziale Umgebung bezogene Funktion des Emotionsausdrucks, die augenblicklich weniger beachtet wird, ist die der Beziehungsregulation. Durch den Ausdruck und die Mitteilung meiner Emotionen findet eine kontinuierliche Steuerung meiner Beziehung zur anderen Person unter den Perspektiven von Nähe und Distanz, Dominanz und Submission sowie Sympathie und Antipathie statt. Bindungs- und Paarungs-Verhalten ohne kontinuierlichen Austausch von Emotionen ist in der Regel kaum erreichbar. II.2 Zusammenhang zwischen Stimulus, Emotion und (Ausdrucks-)Verhalten In einem sehr einfachen Modell kann man das Ausdrucksverhalten als Konsequenz einer Emotion betrachten, die wiederum durch eine Stimulus-Situation ausgelöst wird (s. Abb. 1). Darin wird auch eine der wesentlichen Funktionen von Emotionen deutlich, nämlich dass sie das Verhalten von der Stimulus-Situation entkoppeln können. Die Emotion Ärger etwa entkoppelt ein mögliches aggressives Verhalten von dem Anblick meines Gegners und statt ihn zu schlagen, zeige ich meinen Ärger im Gesicht. Damit gewinnt die Person eine Menge an Freiheitsgraden in ihrem

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Verhalten, kann also viel flexibler reagieren, als wenn sie reflexhaft zuschlagen würde. Beeinflusst wird dieser Zusammenhang zwischen einem situativen Auslöser, der Emotion und dem Verhalten jeweils durch verschiedene »Filter«, d. h. durch überdauernde Verhaltenstendenzen bzw. Persönlichkeitsmerkmale. Diese überdauernden, stabilen Merkmale können durch Disposition gegeben sein oder durch Übung und Erfahrung erworben werden. Welche Stimulus-Situation aufgesucht wird, hängt vom Aktivitätsniveau, z. B. Annäherungs-Vermeidungs-Tendenzen, »sensation seeking« usw. ab. Das expressive Verhalten wiederum hängt von dem verfügbaren Repertoire ab, das z. B. beim Schauspieler höher geübt ist als bei anderen Personen. Kulturelle Unterschiede spielen bei der Expressivität ebenfalls eine Rolle. So wird vielfach in Bezug auf die Ausdrucksfreudigkeit ein Süd-Nord-Gefälle selbst innerhalb eines relativ homogenen Kulturkreises beobachtet. Emotionen: Prozesse und Komponenten Die Prozesse und Komponenten von Emotionen und deren Ausdruck lassen sich in einem Modell zusammenfassen, dass in einer Sequenz von Bewertung, Handlungsvorbereitung und Kommunikation besteht (s. Abb. 2). Auf eine auslösende Stimulus-Situation folgt ein komplexes Geschehen, dass als Emotion zusammengefasst wird und in dem der nonverbale Ausdruck eine Teilkomponente bildet. Ausführlich wurden die Bewertungsprozesse am Beginn eines emotionalen Prozesses in den »Appraisal-Theorien« 8 ausgearbeitet. Bewertungs-Prozesse und damit verbundener Ausdruck im Verhalten bilden darin den wesentlichen Bestandteil einer Emotion. Danach findet zunächst eine Einschätzung bzw. eine Bewertung von einer Situation statt, und zwar in einer Sequenz: Zunächst wird die Situation danach bewertet, ob sie neu oder alt ist, danach, ob die Situation als angenehm oder unangenehm erlebt wird (positiv oder negativ) ist, dann, ob sie für die eigenen Ziele hilfreich oder 8

Klaus R. Scherer: »Emotion«, in: Miles Hewstone/Wolfgang Stroebe: Introduction to Social Psychology: A European Perspective (3rd. Ed.), Oxford 2000.

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Mimischer Ausdruck von Emotionen

Stimulus + Emotion Prozess

Komponenten

Bewertung

Wahrnehmungs-Filterung »Neuigkeit, Angenehm, Ziel-Relation, Standards«

Vorbereitung a) Biologisches Signal zum Organismus b) Psychologisches

Handlungsbereitschaft a) Physiologische Reaktion b) Motivation,

Kommunikation a) Internales feedback b) Freigabe zur Kommunikation

a) Gefühl b) Darstellungs-Regeln, Ausdruck

+ Verhalten + Auswirkung auf die Umgebung Abbildung 2: Emotionen: Prozesse und Komponenten

hinderlich ist, ob man in der Lage ist, sie zu bewältigen und schließlich ob sie mit eigenen Werten und Normen kompatibel ist. Diese Bewertungen oder auch Filterungen der Wahrnehmung laufen mehr oder weniger automatisch ab, müssen also nicht bewusst sein und sie sind es in der Regel auch nicht. Dieses »Appraisal« löst nun eine Aktivität vorprogrammierter neuronaler Strukturen aus, die zu Reaktionen auf den bereits besprochenen Ebenen führt; die Bewertung manifestiert sich dann in den physiologischen Reaktionen, dem Ausdrucksverhalten und dem subjektiv erlebten Gefühl. Die Bestandteile der Emotion stehen jeweils in Wechselbeziehung zueinander. So kann der nonverbale Ausdruck etwa das subjektive Gefühl verstärken oder modifizieren. Wenn man sich hängen lässt, so ver65 © Verlag K

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stärkt das etwa meine negative Stimmung. Als psychopathologisches Phänomen wird von Borderline-Patienten angenommen, dass sie sich ritzen, um sich selbst zu erleben. D. h. hier werden körperliche Schmerzen gezielt eingesetzt, um dieses subjektive Erleben, das ansonsten fehlt, zu erreichen. Im Sinne einer Vorbereitung liefert also die Emotion mit ihrer physiologischen Reaktion ein biologisches Signal und mit ihrer psychologisch motivierenden Komponente ein psychologisches Signal an den Organismus, so dass eine Handlungsbereitschaft gefördert wird. Die dritte Ebene ist die Kommunikation von Handlungsbereitschaft und Stimmungsübertragung nach außen. Bei diesem Prozess wird vor allem das erlebende Individuum betrachtet und darin im Wesentlichen drei kommunikative Prozesse: Zwei davon spielen sich im Organismus ab, kommunizieren also nach innen, der dritte ist die Kommunikation nach außen. Die physiologische Reaktion wirkt als biologisches Signal an den Organismus. Das subjektive Erleben bewirkt als psychologisches Signal die Veränderung der Motivation. Beide tragen dazu bei, dass eine Handlungsbereitschaft entsteht. Der Ausdruck wiederum bewirkt sowohl das interne Feedback, stellt vor allem aber auch das soziale Signal an die Umgebung dar. Hier manifestiert sich das subjektive Gefühl im Verhalten und hat damit einen Einfluss auf die soziale Umgebung. III. Mimischer Ausdruck von Emotionen Mimische Muskulatur Den wohl differenziertesten und komplexesten Ausdruck von Emotionen erkennen wir in der Aktivität der mimischen Muskulatur. Etwa 30 verschiedene Muskeln im Gesicht tragen zum Ausdrucksgeschehen bei. Nur drei dieser Gesichtsmuskeln haben auch andere als kommunikative Funktion, nämlich der m. orbicularis oculi (Ringmuskel um das Auge), m. orbicularis oris (Ringmuskel um den Mund) und der m. masseter (Kaumuskel). Sämtliche übrigen Muskeln dienen lediglich der Veränderung der Gesichtsoberfläche bzw. der Kommunikation. Diese Muskulatur bildet die anato66 © Verlag K

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mische Basis für vielfältige, hoch komplexe Veränderungen auf der Oberfläche des Gesichts, die bereits im frühen Kindesalter in vielfältigen Ausdrucksmustern zu beobachten sind. Die Nervenversorgung dieser Muskulatur ist äußerst dicht. Ein Neuron versorgt zwischen 3 und 25 Muskelzellen, während in der Skelettmuskulatur ein Neuron mehrere Hundert Muskelzellen versorgt, d. h. es besteht eine ungeheure neuronale Dichte in der Gesichtsmuskulatur. Dies wiederum mag als Hinweis für die Wirkweise des »facial feedback« gelten, d. h. der Hypothese, dass propriozeptives Feedback aus der Gesichtsmuskulatur auf das subjektive Erleben von emotionalen Zuständen zurückwirkt. Systematische Erfassung der Mimik Mimisches Geschehen ist sehr komplex und läuft sehr rasch ab. Die meisten mimischen Aktionen sind sehr kurz (250–500 mscs), so dass es für deren Analyse notwendig ist, die einzelnen Verhaltensabläufe mit Hilfe technischer Mittel, insbesondere bei variabler Geschwindigkeit z. B. im Video vor- und rückwärts mehrfach zu betrachten. Das Facial Action Coding System (FACS) 9 ist nun ein Verfahren zur objektiven Beschreibung der sichtbaren Veränderungen auf der Gesichtsoberfläche. Die Basis lieferte ein System des schwedischen Anatomen Hjortsjö, 10 in dem die Veränderungen auf der Gesichtsoberfläche auf einer funktional-anatomischen Grundlage anhand eines Zahlencodes beschrieben werden. Das FACS umfasst 44 »Action Units« (AUs), die einzeln oder in Kombination das Erscheinungsbild des mimischen Ausdrucks beschreiben. Das System ist recht aufwändig zu erlernen, man rechnet etwa 100 Stunden. Die Auswertung von 1 Minute Video-Aufzeichnung kann bis zu 2 Stunden oder auch länger dauern. Eine mimische Aktion wird im FACS durch einen Zahlencode beschrieben, z. B. als AU4, das Zusammenziehen der Augenbrauen oder AU 1+2, das Anheben der Augenbrauen oder AU 6+12, das »Duchenne Smile« mit Aktivierung des m. zygomaticus major 9

Paul Ekman/Wallace F. Friesen/Joseph C. Hager: Facial Action Coding System, Salt Lake City 2002. 10 Carl-Herman Hjortsjö: Man’s Face and Mimic Language, Lund 1969.

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(AU12) und eines Teils des m. orbicularis oculi (AU6). Dieses System liefert eine objektive Beschreibung des mimischen Geschehens, ohne dass eine Interpretation der Mimik im Hinblick auf ein erlebtes subjektives Gefühl notwendig oder auch möglich ist. Vorschläge zu einfachen Interpretationen der Action Units bzw. ihrer Muster sind bislang sehr kritisch zu sehen. Dies mag als Nachteil erscheinen, doch sollte man angesichts des Scheiterns der traditionellen Ausdruckspsychologie mit ihren weitgehenden Interpretationen auch in Richtung von Persönlichkeitstendenzen den Fortschritt nicht gering schätzen, der mit der Trennung von Deskription und Inferenz bzw. Interpretation erreicht wurde. III.1 Ausdruck und Eindruck Immer wieder wird in Frage gestellt, inwieweit nicht ein großer Teil unserer Eindrücke aufgrund von mimischem Ausdruck lediglich Interpretationen des Beobachters sind, ohne dass tatsächlich Emotionen erlebt werden. So kann sich hinter einem neutralen Ausdruck ein durchaus hohes emotionales Arousal abspielen wie es in den Bildern von Hahn11 von Kindern beim Betrachten von wahrscheinlich emotional aufregenden Fernsehsendungen erscheint. Bei genauerer Betrachtung findet man allerdings im scheinbar ausdruckslosen Gesicht sehr subtile Anzeichen von mimischer Aktivität bzw. muskulärer Anspannung. Auch durch Gesichts-Elektromyographie konnte nachgewiesen werden, dass bei emotionalen Stimuli eine Aktivierung spezifischer Gesichtsmuskeln auftritt, die für den einfachen Beobachter nicht sichtbar ist. 12 Im Folgenden möchte ich speziell auf den mimischen Ausdruck von Emotionen eingehen, d. h. auf dynamische Merkmale des psychischen Geschehens und dessen Korrelat mit Verhaltensabläufen in der Gesichtsmuskulatur. Es geht daher nicht um die Diagnose 11

Wolfram Hahn: Entzaubert, Berlin 2007. Ulf Dimberg/Monika Thunberg/Kurt Elmehed: »Unconscious Facial Reactions to Emotional Facial Expressions«, in: Psychological Science 11/1, 2000.

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überdauernder Persönlichkeitsmerkmale, die sich in überdauernden physiognomischen Merkmalen abbilden sollen. Dieser Ansatz, der in der Phrenologie vertreten wurde, hat bislang keine Zusammenhänge nachweisen können. Wohl aber haben physiognomische Merkmale einen Einfluss auf den Betrachter, wie sich immer wieder z. B. in der Wirksamkeit des Kindchen-Schemas von Konrad Lorenz zeigt. Auch die Asymmetrien des Gesichts mit meist stärkerer Ausprägung des Ausdrucks auf der linken Seite führen immer wieder zu Spekulationen darüber, dass damit eine rechtshemisphärische Verarbeitung emotionaler Information beim Beobachter gefördert werde. Ein weiteres Phänomen sollte erwähnt werden, das die Problematik von Eindrucksurteilen zeigt. So ist der Eindruck, den ich von einer Mimik gewinne, in hohem Maße abhängig von dem jeweiligen Kontext.13 Das gleiche Lächeln gewinnt eine vollständig andere Qualität je nach der Umgebung, in der es betrachtet wird. Dieses Phänomen ist aus der Filmtheorie z. B. als Kuleschow-Effekt bekannt. Diese Phänomene – Eindrucksurteile, die basieren auf physiognomischen Merkmalen und Kontext, Vielfalt des Ausdrucks mit unklaren Beziehungen zwischen dem Verhalten und dem zugrunde liegenden Erleben – verdeutlichen, dass konzeptuell verschiedene Ebenen unterschieden werden müssen. Diese Unterscheidung von Ausdruck und Eindruck trennt das Verhalten und dessen Produktion von der Beobachtung und Verarbeitung der Verhaltensinformation. So wurde bereits von dem Verhaltensforscher Leyhausen 14 sehr deutlich herausgearbeitet, dass im Verhalten als Ausdruck zu unterscheiden ist zwischen spontanem, unmittelbarem Ausdruck einerseits sowie der willkürlichen Darstellung andererseits. In der Verarbeitung der Verhaltensinformation als Eindruck sind es wie-

13

Harald Wallbott: Mimik im Kontext. Die Bedeutung verschiedener Informationskomponenten für das Erkennen von Emotionen, Göttingen 1990. 14 P. Leyhausen: »Biologie von Ausdruck und Eindruck«, in: Psychologische Forschung 3, 1967.

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derum der unmittelbare Eindruck einerseits und das bewusste Erkennen und Benennen von Emotionen andererseits (s. Abb. 3). Beide Prozesse innerhalb des Ausdrucks, d. h. der Verhaltensproduktion bzw. im Eindruck, d. h. in der Wahrnehmung können jeweils gleichzeitig auftreten und sich wechselseitig beeinflussen. Vielfach ist es schwierig, sie zu trennen, weder im Experiment und noch viel weniger im Alltag. Bei jedem Begrüßungslächeln können spontaner Ausdruck und willkürliche Darstellung zusammentreffen. Und der unmittelbare Eindruck, den ich von jemandem gewinne, indem ich einen minimalen unerwarteten mimischen Ausdruck beobachte, kann unterbrochen werden durch die Frage »Meint er es wirklich ehrlich?«. Nicht nur die klassische Ausdruckspsychologie sondern auch ein großer Teil der Untersuchungen zum Thema »expression of emotions« befassen sich weniger mit dem Ausdruck sondern vor allem mit dem bewussten Eindruck, d. h. dem bewussten Wahrnehmen und Erkennen und Benennen von Emotionen. Das Postulat von der Universalität von Emotionen und des Emotionsausdrucks basiert weitgehend auf Beurteilungsstudien. Darin haben die Probanden anhand eines statischen Photos eine Emotion zu interpretieren und mit einem verbalen Etikett, meist aus einer begrenzten Anzahl von Etiketten ausgewählt, zu benennen. Es ist dies eine emotionale Leistung, die im psychologischen Experiment den Standard zur Untersuchung bildet, die allerdings im Alltag wohl am seltensten vorkommt. Auslöser mimischen Verhaltens In Folgenden möchte ich einigen Fragen zur Produktion des Verhaltens nachgehen, d. h. welche Bedingungen führen zu einem mimischen Verhalten und welche von den Bedingungen lassen sich als emotionsauslösend qualifizieren? Die Auslöser mimischen Verhaltens sind vielfältig. Ganz sicher sind es die Artgenossen, deren Anblick bei den meisten Menschen mimische Reaktionen auslösen. Mimisches Mimikri geht soweit, dass selbst bei der Präsentation von ärgerlichen oder fröhlichen Gesichtern die entsprechenden Muskeln aktiviert werden. 15 In den entsprechenden Experimenten 15

Dimberg/Thunberg/Elmehed, »Unconscious Facial Reactions«.

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Abbildung 3: Ausdruck und Eindruck

wird die Muskelaktivität, meist des m. corrugator supercilii, der die Augenbrauen zusammenzieht bzw. des m. zygomaticus major, der für das Lächeln verantwortlich ist, in der elektrischen Aktivität durch das Elektro-Myogramm erkennbar, selbst wenn sich äußerlich keine Veränderungen der Mimik beobachten lassen. Mimische Aktivität beim Betrachten von Filmen Die Frage, ob die mimische Aktivität an das Erleben von Emotionen gekoppelt ist, wird verschiedentlich untersucht, indem man Personen beim Betrachten von Filmen mit positiver, negativer oder neutraler Valenz videographiert. Dabei lässt sich folgendes Phänomen beobachten: Bei positiven oder negativen Filmen zeigt sich mehr mimische Aktivität als bei neutralen Filmen. Diese mimische Aktivität geht allerdings auf ein sehr geringes Niveau zurück, wenn die Probanden gebeten werden, über den gesehenen Film nachzudenken, unabhängig davon, welche Filme betrachtet wurden. Die meiste mimische Aktivität wird allerdings gezeigt, wenn die Probanden dem Versuchsleiter darüber berichten, wie sie den Film empfanden. Dies war nicht nur für den positiven oder negativen sondern auch für den neutralen Film der Fall. Dies zeigt deutlich, dass mimisches Verhalten an die Kommunikation gekoppelt ist. 71 © Verlag K

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Und es weist auf die Doppelfunktion unserer Verständigungsmittel 16 hin, nach der unser nonverbales Verhalten gleichzeitig Ausdruck unseres Zustands und Mitteilung an den Partner ist. Über diese Mitteilung wiederum wird eine Stimmungsübertragung möglich, d. h. eine Veränderung und Anpassung des emotionalen Zustands des Partners an den meinen. Mimische und subjektive Reaktionen auf Geschmacksreize Geschmacks- und Geruchsreize sind sehr basale, fest verdrahtete Auslöser für mimische Reaktionen. Der saure Geschmack einer Zitrone, ja selbst der Anblick oder die Vorstellung von einer Person, die in eine Zitrone beißt, kann eine mimische Reaktion auslösen. Der Frage, inwieweit sich mimische Reaktionen auf Geschmacksreize durch Emotionen der Traurigkeit bzw. Freude modifizieren lassen, wurde in einem Experiment von Greimel et al. 17 nachgegangen. Einer Gruppe von 36 Probanden (18 männlich, 18 weiblich) im Alter von durchschnittlich 25 Jahren wurden jeweils 6 ml Geschmacksreize verabreicht: Bitter (Chinin), süß (Schokoladentrank) und bitter-süß (Bitter Lemon). Die Probanden hatten die Angenehmheit, die Bitterkeit und die Süße zu beurteilen. Die mimischen Reaktionen wurden von den Video-Aufzeichnung mit Hilfe des Facial Action Coding Systems analysiert. Prototypische mimische Reaktionen auf den bitteren Geschmack traten sowohl in der unteren als auch in der oberen Gesichtshälfte auf, während sie auf den süßen Geschmack, wenn überhaupt, nur in der unteren Gesichtshälfte sichtbar wurden. Fasst man die Ergebnisse zusammen, so lassen sich folgende Aussagen machen: Es finden sich spezifische mimische Reaktionen auf verschiedene Geschmacksreize, d. h. die Mimik reagiert empfindungsabhängig. Die mimischen Reaktionen weisen starke Ähnlichkeiten mit mimischen Reaktionsmustern von Neugeborenen auf, so wie 16

D. Ploog: »Evolutionsbiologie der Emotionen«, in: F. Henn/H. Helmchen/ H. Lauter/N. Sartorius (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart, I Grundlagen der Psychiatrie, Heidelberg 1999. 17 E. Greimel et al.: »Facial and Affective Reactions to Tastes and Their Modulation by Sadness and Joy«, in: Physiology & Behavior 89, 2006.

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sie von Steiner 18 beschrieben wurden. D. h. einige der angeborenen Verhaltensweisen bleiben auch bei Erwachsenen erhalten. Einige der erwachsenen mimischen Reaktionen haben zudem auch kommunikative Funktion, wenn z. B. beim bitteren Geschmack die AU 12 (Lächeln) auftritt. Aus den Daten der Untersuchung geht auch hervor, dass die experimentell induzierten unterschiedlichen emotionalen Zustände zwar die Beurteilung der angenehmen Geschmacksreize, nicht aber die mimischen Reaktionen beeinflussten. Die Beurteilungen der bitteren Geschmacksreize wurden nicht durch die unterschiedlichen emotionalen Zustände beeinflusst ebenso wenig wie die mimischen Reaktionen darauf; dies mag eine Dominanz biologisch bedeutsamer Mechanismen bei diesem Geschmack reflektieren. Je nach biologischer Bedeutsamkeit und Intensität der Reizsituation sind wahrscheinlich Empfinden und mimischer Ausdruck in unterschiedlichem Ausmaß modifizierbar. Embodying Emotion Die Wechselwirkung zwischen Verhalten und Erleben wird für die Mimik unter dem Konzept der »Facial Feedback Hypothese« diskutiert. In allgemeinerer Form wird diese Wechselwirkung unter dem Begriff »Embodying Emotion« 19 untersucht, d. h. die Frage, ob durch mein nonverbales Verhalten – Mimik, aber auch Körperhaltung – mein Befinden verändert wird. In einem vielfach zitierten Experiment von Strack et al. 20 wurden Probanden gebeten, Texte auf ihre Witzigkeit hin zu bewerten. Dabei hatten sie einmal einen Stift mit den Lippen zu halten und in der zweiten Bedingung mit den Zähnen. Während das Halten des Stiftes mit den Lippen keiner Emotion zugeordnet werden kann, ließ sich mit der Zahnhaltung ein mimisches Lächeln induzieren, ohne dass dies den Personen als Lächeln bewusst war. Es zeigte sich, dass mit dem experimentell 18

J. E. Steiner et al.: »Comparative Expression of Hedonic Impact: Affective Reactions to Taste by Human Infants and Other Primates«, in: Neuroscience & Biobehavioral Reviews 25/11, 2001. 19 Paula M. Niedenthal: »Embodying Emotion«, in: Science 316, 2007. 20 Fritz Strack/L. L. Martin/S. Stepper: »Inhibiting and Facilitating Conditions of the Human Smile: A Nonobtrusive Test of the Facial Feedback Hypothesis«, in: Journal of Personality and Social Psychology 54/5, 1988.

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induzierten »Lächeln« die Texte positiver bewertet wurden. Dies ist ein Hinweis darauf, dass propriozeptives facial feedback aber auch willkürliche Körperhaltungen meine affektiven Reaktionen, d. h. das subjektive Erleben beeinflussen. »Emotionale Überblendungen« (»Emotional blends«) Gemeinhin wird in der Forschung versucht, Formen und Funktionen möglichst einer einzelnen Emotion in ihrer Reinform zu beschreiben und zu erklären. Man betrachtet die Angst, den Ärger usw. als diskrete, eindeutig unterscheidbare Zustände. Dabei sind im Alltag vielleicht gerade die wenig eindeutigen emotionalen und motivationalen Zustände die Regel. Auf Konrad Lorenz gehen die Beobachtungen zurück, die im tierischen Ausdrucksverhalten eine Mischung von Antriebszuständen erkennen lassen, etwa wenn eine Krähe vor einem unbekannten Objekt gleichzeitig Annäherungsund Vermeidungsverhalten zeigt. Dabei lassen sich z. B. im Ausdrucksverhalten gleichzeitig Angriffs-Tendenzen und zum anderen die Fluchttendenzen beobachten, d. h. in ihrer Mischung ergibt sich ein Verhalten, das gleichzeitig gegensätzliche Motivationen – Kampf und Flucht ausdrückt. Als emotionale Überblendungen findet man auch im mimischen Ausdruck vielfach Mischungen von positiven und negativen Ausdrucksweisen. Wahrnehmung und Beurteilung des Lächelns Am häufigsten findet man emotionale Überblendungen beim Lächeln, das verbunden ist mit einem gleichzeitigen Ausdruck von Verachtung, Ärger etc. Daraus ergeben sich komplexe Ausdrucksmuster, bei denen zwei unterschiedliche Motivationen im Konflikt zu stehen scheinen: Hier das Lächeln als soziales »display«, das im Kontrast zu anderen unwillkürlichen, gleichzeitig in der Mimik erkennbaren Ausdruckselementen steht. So kann im Eindruck anhand zusätzlicher mimischer Elemente zwischen einem gefühlten, echten Lächeln, einem falschen Lächeln und einem unglücklichen Lächeln unterschieden werden. Vielfach wird durch ein soziales Lächeln eine Abschwächung eines negativen Ausdrucks erreicht. Das Lächeln zusammen mit einem Anheben des Kinns (AU17) und dem Zusammenpressen der Lippen (AU24) gibt eine Mischung 74 © Verlag K

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von positiver emotionaler Gestimmtheit mit starkem Ärger wieder. Solche »emotionalen Überblendungen« (»emotional blends«) sind meist nur schwer mit Worten zu beschreiben. Sie wirken »irgendwie« nicht eindeutig positiv oder eindeutig negativ, ohne dass man sagen könnte, welche negativen Elemente zusätzlich enthalten sind. Die Beschreibung von emotionalen Überblendungen durch einfache Emotionsbegriffe ist kaum möglich. Mit Hilfe des Facial Action Coding Systems lassen sich die verschiedenen Komponenten des mimischen Ausdrucks beschreiben, die zu den uneindeutigen, schwer zu beurteilenden und als unangenehm empfunden Eindruck führen. Hinzu kommt, dass solche Ausdrucksweisen in der Regel nur extrem kurzzeitig sichtbar sind. Sie machen somit die Kommunikation vielfältig aber auch »verhandelbar«: Ich kann mein Gegenüber nicht daraufhin explizit ansprechen, dass er gleichzeitig mit seinem Begrüßungslächeln seine Verachtung mir gegenüber ausgedrückt hat. Überprüft man die Beurteilung und Erkennbarkeit von verschiedenen Formen des Lächelns, so zeigt sich, dass die emotionalen Überblendungen als unangenehmer, angespannter und schwieriger zu beurteilen eingestuft wurden. Die Zuordnung der einzelnen Emotionen, wobei die am ehesten zutreffende gewählt werden sollte, war weniger eindeutig. Während dem offenen Lächeln eindeutig der Begriff »Freude« zugeordnet wurde, war dies bei den anderen Stimuli weniger eindeutig und es wurden am ehesten die Emotionen »Verachtung« und »Abscheu« zugeschrieben. In diesem Falle sind es also ein Herabziehen der Mundwinkel und ein Anheben der Oberlippe zusammen mit dem Lächeln, die insgesamt den Eindruck von negativen Emotionen hervorrufen. Gibt es emotions-spezifische prototypische Affekt Programme? Theorien zu »diskreten« oder »Basis-Emotionen« gehen in der Regel davon aus, dass beim Menschen universell, d. h. unabhängig von kulturellen Besonderheiten 6 bis 7 dieser Emotionen zu finden sind: Freude, Ärger, Trauer, Angst, Abscheu, Überraschung. Nicht einheitlich werden die Emotionen Interesse, Verachtung und Scham genannt. Die Frage, ob es emotions-spezifische prototypische Affekt-Programme gibt, die sich im mimischen Verhalten ma75 © Verlag K

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nifestieren, wurde anhand von Darstellungen von Emotionen durch 12 professionelle Schauspieler überprüft. 21 Die Schauspieler hatten sich in einem Szenario-Ansatz bestimmte emotionale Situationen vorzustellen und diese im Sinne der Stanislawski-Technik möglichst intensiv zu erleben. Wenn sie diese Vorstellung intensiv erreicht hatten, sollten sie Standard-Sätze mit dem entsprechenden stimmlichen, mimischen und gestischen Ausdruck aussprechen. Es waren 14 verschiedene Emotionen, die sie in dieser Weise darzustellen hatten. Die Video-Aufzeichnungen wurden mit verschiedenen Verfahren der systematischen Verhaltensbeobachtung, u. a. auch mit dem FACS ausgewertet. Für die Analyse wurden aus den umfangreichen Aufzeichnungen die 224 Sequenzen herausgenommen, bei denen die intendierten Emotionen von Beurteilern mit hoher Übereinstimmung erkannt wurden. Es zeigte sich, dass für die meisten dargestellten Emotionen signifikante Abweichungen in den Häufigkeiten der Facial Action Units von den nach Zufall zu erwartenden Häufigkeiten auftraten. Es zeigte sich also eine signifikante Assoziation spezifischer mimischer Elemente mit den Emotionen. Weiterhin zeigte sich, dass die Gruppierung der Muster mimischer Aktionen bei einer 5-Cluster Lösung zwar ähnliche Emotionen nahe beieinander sah, dass sich allerdings die klassischen 6–7 Emotionen nicht anhand der mimischen Muster klar abgrenzen ließen. So gab es ein mimisches Muster von Langeweile und Scham, gekennzeichnet durch geringe mimische Aktivität. Ärger, Angst, Traurigkeit und Interesse lagen als mimische Muster beieinander, was schwer zu interpretieren ist. Eindeutiger sind die mimisch ähnlichen Emotionen Verachtung und Abscheu, Panik und Verzweiflung sowie überschäumende Freude, stille Freude und Stolz. Es zeigt sich also, dass die immer wieder postulierten Basis-Emotionen selbst bei eindeutiger Darstellung durch Schauspieler und guter Erkennbarkeit im mimischen Verhalten keineswegs als diskrete Entitäten auftraten. Aus der AppraisalTheorie lässt sich ableiten, dass sich im mimischen Verhalten in rascher Folge die Bewertungs-Sequenzen während der Wahrnehmung 21

Scherer/Ellgring: »Are Facial Expressions of Emotion Produced by Categorical Affect Programs or Dynamically Driven by Appraisal?«, in: Emotion 7/1, 2007.

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einer Situation abbilden und zu hoch komplexen mimischen Ausdrucksweisen führen. Bislang lassen sich allerdings nur für einzelne Action Units überprüfbare Hypothesen aus dieser Theorie ableiten, deren experimentelle Validierung erst am Beginn ist 22 . Festzuhalten bleibt, dass selbst im willkürlich dargestellten und somit mehr noch im alltäglichen Verhalten bei Erwachsenen die mimischen Muster für die postulierten 6–7 Basis-Emotionen in ihrer prototypischen Form selten auftreten. Dennoch werden in Studien zur Erkennung von Emotionen bei Beurteilern hohe Übereinstimmungen erreicht, wenn entsprechende Ausdrucksmuster dargeboten werden und Emotionsbegriffe zuzuordnen sind. Diese Diskrepanz zwischen Vielfalt und Komplexität des Ausdrucks einerseits und Zuordnung zu vergleichsweise wenigen Kategorien oder gar Dimensionen der Eindrucksurteile andererseits ist bislang nicht aufgelöst. IV. Dissoziation von Erleben und Verhalten Wenn also mimisches Verhalten und Emotionen nicht in einfacher, eindeutiger, diskret unterscheidbarer Weise assoziiert sind, wie steht es dann mit Störungen im Verhalten und Erleben und deren Auswirkungen auf das mimische Verhalten? Hierzu sollen psychische und neurologische Störungen betrachtet werden, für die teils experimentelle Befunde, teils aber auch nur klinische Beobachtungen vorliegen. Insbesondere soll dabei betrachtet werden, in welchen Fällen wir von einer Dissoziation von mimischem Verhalten und emotionalem Erleben ausgehen können. Als Dissoziation bezeichnen wir einen Zustand, in dem ein ansonsten gegebenes Zusammengehen von Erleben und Verhalten aufgelöst ist, d. h. ein Zustand bei dem emotionales Erleben und mimische (soziale) Signale voneinander unabhängig auftreten.

22

Ebd.

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IV.1 Charakteristika mimischen Verhaltens bei psychiatrischen Störungen Betrachten wir die beiden prägnantesten psychiatrischen Störungen, so zeigt sich im depressiven Verhalten der anscheinend angemessene Ausdruck des internen Zustands. Genauere Analysen zeigen zudem einen hohen Anteil von Ausdrucksweisen, die auf erlebten Ärger und Anspannung in der Depression hindeuten.23 Mit dem Verhalten wird gleichzeitig eine Appell-Funktion deutlich, es findet eine Stimmungsübertragung statt. Eine andere Person kann sich leicht in einen depressiven Zustand einfühlen, fühlt mit, bzw. zeigt bei längerfristiger Interaktion auch Ärger-Reaktionen. Innerer emotionaler Zustand und nonverbaler Ausdruck erscheinen also im depressiven Zustand als assoziiert und dieser innere Zustand ist damit auch für einen außen stehenden Beobachter nachvollziehbar. Bei schizophrenen Patienten wird eine erhebliche Reduktion sozialer Signale, d. h. vor allem der Aktivität der Augenbrauen beobachtet.24 Dieses geringe Ausmaß sozial gerichteter mimischer Signale mag die reduzierte soziale Motivation reflektieren. Zudem wird klinisch eine Desintegration des mimischen Verhaltens beschrieben, 25 Verhaltensweisen, die möglicherweise dem chaotischen inneren Erleben geschuldet sind. Darüber hinaus findet man eine Dissoziation von Kommunikation und Ausdruck, d. h. mimisches Verhalten ist weniger an die sprachlichen Äußerungen gekoppelt als dies bei nicht-schizophrenen Personen der Fall ist. 26 Das Erkennen von Emotionen vom Video ist bei Schizophrenen häufiger beeinträchtigt als bei Depressiven, das Erkennen von Emotionen anhand 23

Ellgring: Nonverbal Communication in Depression, in: Editions de la Maison des Sciences de l’Homme ed., European Monographs in Social Psychology, Cambridge 1989. 24 Rainer Krause: Sprache und Affekt – Das Stottern und seine Behandlung, Stuttgart 1981. 25 H. Heimann/T. Spoerri: »Das Ausdruckssyndrom der mimischen Desintegrierung bei chronisch Schizophrenen«, in: Schweizerische medizinische Wochenschrift 35, 1957. 26 Ellgring/Marcia Smith: »Affect Regulation during Psychosis«, in: William F. Flack/James D. Laird (Hrsg.): Emotions in Psychpathology, New York 1998.

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von statischen Bildern hingegen kaum. 27 Auffälligkeiten finden sich bei schizophrenen Patienten also weniger in emotional-kognitiven Aufgaben als vielmehr im spontanen und willkürlichen mimischen Verhalten. Während sich in den generellen Verhaltens- und ErkennensMaßen kaum Unterschiede zeigten, verdient ein anderes Resultat im Zusammenhang mit der Frage nach der Dissoziation oder auch Desintegration besondere Beachtung. Normalerweise zeigen wir den größten Teil unseres mimischen Verhaltens während wir sprechen. Etwa 80 % unserer Mimik tritt beim Sprechen auf, nur 20 % beim Zuhören. In einem Vergleich verschiedener Gruppen zeigte sich Folgendes: Während Kontrollpersonen im klinischen Interview etwa 80 % der Mimik während des Sprechens zeigten, waren es bei »endogen« depressiven Patienten nur ca. 60 %, bei »neurotisch« depressiven Patienten etwa 77 %. Schizophrene Patienten zeigten hingegen nur 50 % ihrer Mimik während des Sprechens. Das bedeutet, dass sich normalerweise die Mimik an die sprachliche Kommunikation koppelt, dass hingegen bei Schizophrenen die Mimik zufällig an die Phasen des Sprechens bzw. Zuhörens gekoppelt ist. Es tritt hier eine Dissoziation zwischen Kommunikation und mimischem Verhalten auf, die möglicherweise zu dem Eindruck des bizarren Verhaltens dieser Personen beiträgt und die die Kommunikation und die Einfühlung in diese Personen erschwert. 28 IV.2 Charakteristika Mimischen Verhaltens bei Neurologischen Störungen Bei neurologischen Störungen findet man eine Vielzahl mimischer Auffälligkeiten. Sie beruhen vor allem auf den durch die hirnphysiologische Störung bedingten motorischen Defiziten, bei denen die Emotionen aber eine besondere Rolle spielen. 27

Wolfgang Gaebel/Wolfgang Wölwer: Affektstörungen schizophrener Kranke, Stuttgart 1996, S. 75–79. 28 Ellgring/Smith, »Affect Regulation«.

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Dissoziation von willkürlicher und unwillkürlicher Mimik: Für unser Verständnis von der motorischen Steuerung der Mimik bedeutsam sind corticale motorische Dysfunktionen in Folge etwa eines Schlaganfalls. Hier kann es zu einer unilateralen Paralyse von willkürlichen Bewegungen kommen, während weiterhin spontane bilaterale Bewegungen auftreten. In der neurologischen Literatur wird ein Patient mit einem Tumor in der Gesichtsregion des rechten motorischen Kortex beschrieben. 29 Es gelingt ihm links kein willkürliches Lächeln aufgrund der linksseitigen Paralyse. Das unwillkürliche Lächeln erfolgt allerdings symmetrisch, d. h. auch auf der paralysierten Seite. Dies zeigt, dass die Mimik sowohl cortical als auch subcortical gesteuert wird, dass weiterhin beide Formen der Steuerung unabhängig voneinander folgen können. Pathologische Lachen und Weinen: Eine Besonderheit stellt auch die Amyotrophe Lateral Sclerose dar, ein schwerer neurologischer Zustand, bei dem eine pseudobulbäres nicht-emotionales Lachen und Weinen bei jeder Art von lautem Stimulus, etwa einem Türschlagen auftreten kann. Diese Lachen oder Weinen tritt also reflexhaft als Reaktion auf einen Stimulus auf, ohne dass der Stimulus durch eine Emotion gefiltert würde. Ein akustischer Reiz löst dabei unmittelbare emotionale Verhaltensreaktionen aus, ohne dass dem ein subjektives Erleben entspräche. Beim Apallischen Syndrom nach schwerstem Hirntrauma wiederum finden wir auch im Ausdruck eine hierarchische Re-Integration von emotionalen Reaktionen, die wieder beginnen mit undifferenzierten Unlust-Reaktionen, dann mit Anzeichen von positivem Erleben und erst im Verlauf der Besserung wieder zu differenziertem Ausdruck zurückkehren. Hierbei ist anzunehmen, dass auf der subjektiven Erlebens-Ebene ein Rückschritt zu undifferenzierten Reaktionen stattgefunden hat, sofern man annimmt, dass das gezeigte Verhalten dem Erleben entspricht, d. h. assoziiert ist. Erst nach und nach kehrt die Differenziertheit im Erleben wieder ein. Blindheit, bei der man ein intaktes emotionales Erleben annehmen kann, zeigt wiederum den Einfluss des sozialen Feedbacks, der 29

R. N. DeJong: The Neurologic Examination, New York 1967.

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Mimischer Ausdruck von Emotionen

hier auf dem visuellen Kanal fehlt. Blinde Personen zeigen eine geringere willkürliche Kontrolle der Mimik und mehr Bewegungen der Augenbrauen als sehende Personen. Nur wenige dieser Phänomene sind bislang in ihrer Bedeutung für das emotionale Erleben und die Auswirkungen auf die interpersonale Interaktion und Kommunikation hinreichend verstanden. Morbus Parkinson: Am prominentesten und bekanntesten ist der fehlende oder zumindest reduzierte mimische Ausdruck bei M. Parkinson. Die Erkrankung, die auf einer Degeneration der Zellen in der Substantia Nigra beruht, die wiederum zu einem Dopamin-Mangel und daraus folgend schweren motorischen Symptomen führt, zeichnet sich durch die Kardinal-Symptome: Tremor, Rigor, Akinese und Posturale Instabilität aus. Es zeigt sich eine starke Abhängigkeit der Symptome von psychologischen Faktoren, insbesondere minimalem psychologischen Stress bzw. von positiver wie negativer emotionaler Erregung. Teil der motorischen Defizite ist eine Bewegungsverlangsamung oder gänzliche Unbeweglichkeit der Mimik. Dies führt zu dem, häufig irrigen, Eindruck, dass der Patient depressiv sei. Angehörige beklagen auch, dass der Patient unehrlich sei, dass man nicht wisse, ob er sich ärgere oder freue. Die Kommunikation und auch die Pflege können durch den fehlenden emotionalen Ausdruck erheblich erschwert werden. Die Patienten wiederum geben an, dass sie emotional sehr wohl empfinden, dass dies teilweise so intensiv sei, dass sie etwa einen aufregenden Film nicht anschauen, da ihre Symptomatik sich zu sehr verstärke. Eine Patientin beschrieb dies einmal sehr anschaulich mit dem Satz: »Der Tremor ist der Seismograph meiner Gefühle.« Sie bemerken andererseits, dass sie in Stimme und Mimik reduziert sind. Sie beschreiben das als Unfähigkeit, »die eigene Persönlichkeit ausdrücken zu können«. Die Frage ergibt sich, wie sich die zu beobachtenden und von den Patienten auch selbst erlebten Defizite experimentell überprüfen lassen. In einer Untersuchung von Smith et al. 30 zeigten sich in 30

M. C. Smith/M. K. Smith/H. Ellgring: »Spontaneous and Posed Facial Expression in Parkinson’s Disease«, in: Journal of the International Neuropsychological Society 2, 1996.

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der Tat Defizite im mimischen Verhalten von Parkinson-Patienten im Vergleich zu Kontrollpersonen in Bezug auf spontanes weniger jedoch auf willkürliches mimisches Verhalten. Diese Defizite waren stärker bei stärkerer Ausprägung der Erkrankung. Hingegen zeigten sich im subjektiven Erleben als Reaktion auf die Betrachtung von Video-Clips mit unterschiedlich emotionalem Gehalt keinerlei Unterschiede zu Gesunden. Der reduzierte oder fehlende mimische Ausdruck trägt wahrscheinlich dazu bei, dass Personen mit Parkinson-Erkrankung negativer beurteilt werden. So zeigte sich in den Befunden einer Untersuchung von Pentland et al., 31 dass Parkinson-Patienten als besonders wenig intelligent und wenig positiv gesehen werden. Dieser negative Eindruck beruht besonders auf dem mangelnden emotionalen Ausdruck. Beziehungen zwischen Stimulus, Emotion und Ausdruck Zusammengefasst ergibt sich also, dass sowohl auf der Ebene des spontanen Ausdrucks- wie auf der der willkürlichen Kommunikation Emotionen und mimisches Verhalten dissoziiert sein können. Die Parkinson-Erkrankung ist ein Beispiel für das intakte Fühlen ohne den entsprechenden Ausdruck. Im Pathologischen Lachen und Weinen wiederum findet sich ein Ausdruck ohne Fühlen. Auf der Ebene der Kommunikation zeigen schizophrene Personen vielfach mimischen Ausdruck unabhängig von der sprachlichen Kommunikation. Beim Stottern wieder finden sich bei ansonsten verminderter Mimik »Explosionen« mimischer Aktivität bei Artikulations-Blockaden. 32 Das bedeutet für den Zusammenhang zwischen Stimulus-Emotion-Ausdruck dass sowohl die Beziehungen zwischen der Stimulus-Situation und dem emotionalen Zustand bzw. der Kommunikations-Absicht variabel sind und durch verschiedene Prozesse der Dysregulation beeinflusst bzw. modifiziert werden können (s. Abb. 4). Diese Dysregulationen beziehen sich vor allem auf das Affekt31

B. Pentland et al.: »The Effects of Reduced Expression in Parkinson’s Disease on Impression Formation by Health Professionals«, in: Clinical Rehabilitation 1, 1987. 32 Krause: Sprache und Affekt.

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Mimischer Ausdruck von Emotionen

Abbildung 4: Dysregulation der Beziehungen zwischen Stimulus, Emotion und Verhalten

Appraisal-System. So ist z. B. in der Depression jede Situation Auslöser für eine noch gedrücktere Stimmung der Person. Bei Essstörungen werden nahezu alle Situationen gewichts- bzw. leistungsbezogen erlebt. Situationen verlieren also ihre Bedeutung als Auslöser vielfältiger Emotionen. Bei Alexithymie kann das subjektive Erleben nicht in Bezug zur auslösenden Situation gebracht werden. 33 Ebenso können die Beziehungen zwischen emotionalem Zustand und spontanem Ausdruck wie auch die Beziehung zwischen 33

J. Müller/M. Bühner/Ellgring: »Is There a Reliable Factorial Structure in the 20-Item Toronto Alexithymia Scale? A Comparison of Factor Models in Clinical and Normal Adult Samples«, in: Journal of Psychosomatic Research 55/6, 2003.

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kommunikativer Absicht und willkürlicher Darstellung durch Dysregulation des ZNS verändert werden. Die zuvor beschriebenen Beispiele der Parkinson-Erkrankung, Schlaganfall, Blindheit fallen hierunter. Auch das Verhalten schizophrener Personen könnte hierunter gesehen werden. V. Schlussfolgerungen zum Mimischen Ausdruck Mimische Aktivität ist differentiell mit emotionalen Prozessen und Zuständen assoziiert, d. h. unterschiedliche mimische Elemente drücken unterschiedliche Emotionen aus. Allerdings korrespondieren unsere verbalen Bezeichnungen nur lose mit entsprechenden Mustern mimischer Aktivität. In der Regel sind auch nur Teile prototypischer mimischer Action Units in einem mimischen Muster aktiviert. Mimische Elemente scheinen mit emotionalen Zuständen eher im Sinne von logischen »Oder«Verknüpfungen, nicht »Und«-Verknüpfungen assoziiert zu sein. Ärger kann sich z. B. nur im Obergesicht – Zusammenziehen der Augenbrauen, AU 4 – oder nur im Untergesicht – Zusammenpressen der Lippen AU 24 – oder sowohl im Ober- als auch im Untergesicht manifestieren. Es gilt also nicht die Summenregel, nach der die einzelnen Elemente additiv zu einem Ausdruck kombiniert werden, sondern sie sind mit Einschränkungen frei kombinierbar. Selbst antagonistische Bewegungen wie z. B. das Anheben der Mundwinkel beim Lächeln kann mit einer Aktivierung der antagonistischen Muskeln (depressor labii) simultan einhergehen. Jedes Element kann für sich den Eindruck bestimmen, wobei dieser Eindruck bei höherer Komplexität nur schwer verbal zu beschreiben ist. Mimische Aktionen sind nicht notwendigerweise hinreichend für eine Emotion. Sie sind zwar konstituierende Bestandteile von Emotionen, aber es sind emotionale Prozesse ohne mimisches Verhalten möglich. Allerdings zeigen Untersuchungen zur subliminalen Aktivierung der Gesichtsmuskulatur, dass eine zwar nicht sichtbare, allerdings im Gesichts-EMG messbare mimische Muskelaktivität weit häufiger das emotionale Geschehen begleitet und dies sichtbar ist, als es bislang angenommen wurde. 84 © Verlag K

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Umgekehrt sind mimische Aktionen sind nicht notwendigerweise Signale, d. h. partnergerichtete Kommunikation im Sinne sprachlicher Zeichen. Vielfach besteht sogar eine Gleichzeitig von kommunikativem, partner-gerichteten mimischem Verhalten gemeinsam mit nicht willkürlich kontrolliertem, unbewussten Ausdruck. Multiple Funktionen mimischen Verhaltens Die Gleichzeitigkeit von kommunikativen und expressiven Komponenten im mimischen Verhalten erschwert einerseits eine eindeutige Zuordnung von Verhalten und inneren Zuständen. Damit gewinnt das Individuum aber auch eine größere Flexibilität in der Interaktion und mehr Freiheitsgrade gegenüber dem Interaktionspartner. Die Doppelfunktion der Mimik als Verständigungsmittel – gleichzeitig Ausdruck des inneren Zustands und partner-gerichtetes Signal als Mittel der Stimmungsübertragung – ist eine Voraussetzung für flexible Möglichkeiten, andere explizit und implizit zu beeinflussen. Die Dissoziations-Phänomene weisen auf die Bedeutung der Mimik sowohl für die soziale Interaktion, interpersonale Kommunikation als auch die emotionale Selbstregulation hin. Dies wird an den pathologischen neurologischen Phänomenen deutlich ist aber auch im Alltag in dem durch »Darstellungsregeln« bestimmten Verhalten allgegenwärtig. Flexibilität der Interaktion von Organismus und Umgebung Damit ermöglicht unser System der Emotionen und ihres Ausdrucks eine sehr hohe Flexibilität bei der Interaktion von Organismus und sozialer Umgebung. Emotionen erlauben eine Entkoppelung von Stimulus-Situation und Reaktionen. Das Individuum muss also nicht reflexhaft handeln, sondern gewinnt durch die emotionale Verarbeitung einer Stimulus-Situation Freiheitsgrade im Handeln. Der Ausdruck ermöglicht die Mitteilung von Handlungsbereitschaft und »Stimmungsübertragung«. Dabei sind diese Mitteilungen im Vergleich zu sprachlichen Äußerungen in der Regel weit weniger präzise und eindeutig. Dem Interaktionspartner

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Abbildung 5: Karl Bühlers Organon-Modell: Darstellungs-, Ausdrucksund Appellfunktion von Zeichen

bleiben Interpretationsmöglichkeiten, die auch seiner eigenen Stimmungs- und Antriebslage gerecht werden. Die multiple Funktion – Darstellungs- Ausdrucks- und AppellFunktion – des mimischen Verhaltens lässt sich in Karl Bühlers Organon-Modell für sprachliche Zeichen sehr gut zusammenfassen (s. Abb. 5): Das mimische Verhalten ist als Zeichen gleichzeitig für den Sender Ausdruck eines inneren Zustandes und damit Symptom. Für den Empfänger ist die Mimik die Mitteilung, mit der ein Appell an ihn gerichtet wird. Schließlich stellt die Mimik als Symbol das Objekt, d. h. den emotionalen Zustand oder Prozess dar. Ausgangspunkt sollte bei der Frage nach dem Ausdruck, zumindest was das nonverbale Verhalten und speziell die Mimik angeht, in jedem Falle die konzeptuelle Trennung der verschiedenen Betrachtungsebenen sein: Spreche ich vom spontanen, unwillkürlichen Ausdruck eines inneren seelischen Zustands oder von dessen willkürlicher Darstellung im Verhalten? Spreche ich vom unmittel86 © Verlag K

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Mimischer Ausdruck von Emotionen

baren Eindruck, den ich ganzheitlich gewinne oder von der bewussten, analytischen Beurteilung des Verhaltens, dem ich einen sprachlichen Namen gebe? Erst mit dieser konzeptuellen Trennung zwischen Ausdruck und Eindruck kann ich den Wirrwarr der traditionellen »Ausdruckspsychologie«, die sich vornehmlich mit dem Eindruck beschäftigte und auch zahlreiche empirische Arbeiten zum Thema »facial expression of emotions« angemessen in Bezug auf ihren Beitrag zu dem Problem des Ausdrucks unseres Erlebens einordnen. Ausdruck und Eindruck folgen unterschiedlichen Prinzipien und sollten entsprechend differenziert behandelt werden.

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Das Erleben von Ausdruck – Einfühlung oder Zeichen? Zu Bühlers Ausdruckstheorie Einleitende Bemerkungen Das Phänomen des Ausdrucks gehörte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem der meistdiskutierten Themen. Angefangen bei Ludwig Klages über Helmuth Plessner und Philipp Lersch findet man bei Autoren ganz unterschiedlicher theoretischer Orientierung ein Interesse an dem, was mit dem Begriff des Ausdrucks thematisiert werden kann. Wodurch dieses Interesse am Ausdrucksbegriff motiviert ist, möchte ich im Folgenden mit Hilfe eines Autors näher untersuchen. Es handelt sich um den Psychologen und Sprachtheoretiker Karl Bühler (1879–1963). Bühlers Name wird vor allem und zuerst mit dem Organonmodell der Sprache verbunden, das klar drei Funktionen der Sprache unterscheidet: die Funktion der Darstellung, des Ausdrucks und die des Appells. Dieses Organonmodell wird oft in einem Satz resümiert: »Jemand spricht zu jemandem über etwas« und als Minimalmodell der menschlichen Kommunikation vorgestellt. Demzufolge ist jedes sprachliche Zeichen dreierlei, es erfüllt drei semantische Funktionen und zwar immer gleichzeitig, es ist: »Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert«.1 D. h. jedes sprachliche Phänomen, auch wenn eine der drei Funktionen überwiegt, stellt dar, drückt aus und appelliert. »Hör auf zu reden!« – 1

Karl Bühler: Sprachtheorie. Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1982 [1934], S. 28.

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Das Erleben von Ausdruck – Einfühlung oder Zeichen?

bezieht sich auf Welt, auf den Fakt, dass der mir gegenüber redet, ist eine Aufforderung an ihn, vielleicht sogar ein Befehl, und kann gleichzeitig mein Genervtsein ausdrücken. So besehen scheint Ausdruck in dem Bühlerschen Sprachmodell schon immer integriert, er ist eine wesentliche Dimension des sprachlichen Zeichens und damit auch des Verstehens sprachlicher Zeichen. Der Ausdruck erfüllt eine klar definierte Aufgabe, er stellt nicht Welt dar, sondern drückt die Innerlichkeit, den Zustand des kognitiven oder moralischen Subjekts aus. Der Ausdruck wird als eine semantische Funktion des sprachlichen Zeichens definiert und es wird das am sprachlichen Zeichen untersucht, was eben gerade diese Funktion erfüllen hilft, wie z. B. die Intonation, der Rhythmus u. ä. In diesem Sinne kann Ausdruck als Mitteilung, als Information aufgefasst werden, er teilt nur etwas anderes mit und auf eine andere Weise als die Darstellung und der Appell. Solch eine funktionalistische Lesart Bühlers lässt nun zwei Möglichkeiten offen. Entweder man diskutiert das Phänomen des Ausdrucks konsequent innerhalb dieser zeichentheoretischen Konzeption von Sprache und charakterisiert ihn dementsprechend als ein Mittel der Informationsübertragung oder man benutzt den Ausdrucksbegriff als eine Art von Residualkategorie, um andere Formen des Verstehens, die eben zeichentheoretisch nicht zu erklären sind, in den Mittelpunkt zu stellen. Wählt man die zweite Möglichkeit, können mit dem Begriff des Ausdrucks Prozesse thematisiert werden, die beim Verstehen ebenfalls stattfinden, jedoch in den informations- und zeichentheoretischen Modellen keinen Platz finden. Man stellt den Ausdruck dann der Sprache gegenüber, diskutiert Ausdruck als etwas, das eben nicht Sprache ist, oder fragt nach den »Medien, die ihm ohne definierte Zeichen seine Verständlichkeit verschaffen«. 2 Aber es gibt m. E. noch eine dritte Möglichkeit den Ausdrucksbegriff einzusetzen. Meine These ist, dass man bei Bühler eine Sprachauffassung findet, die die Darstellung, den Ausdruck und 2

So ist im Begleittext zur Konferenz m. E. die Aufforderung enthalten ist, den Ausdruck als eine Residualkategorie den vorherrschenden informationstheoretischen Sprachkonzeptionen gegenüberzustellen.

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den Appell »überwölbt« und so jedes dieser drei Phänomene in seiner Spezifik, in seiner eigenen Leistungsfähigkeit und dennoch als der Sprache zugehörig analysiert. Mein Vorgehen orientiert sich an einem von Hans Joas in der soziologischen Handlungstheorie vor einigen Jahren eingebrachten Vorschlag. Joas sucht das menschliche Handeln auf eine Weise zu bestimmen, die eben gerade verhindert, dass das vorgeschlagene Handlungsmodell logisch notwendig eine Residualkategorie erzeugt. Solch eine Herangehensweise war den meisten Kritiken an den vorherrschenden rationalen und normativen Handlungsmodellen eigen. Die Kritiker der rationalen Handlungsmodelle suchten diese mit Hilfe von Residualkategorien zu ergänzen ohne dass, so Joas, die in ihnen »stillschweigend enthaltenen Annahmen deutlich (ge)macht« 3 wurden und sie durch ein anderes, sie überwölbendes, d. h. die Randbedingungen für ihre sinnvolle Anwendung spezifizierendes Modell ersetzt wurden. Ich frage im Folgenden was ist nun eigentlich Ausdruck und behaupte, aus der Antwort Bühlers auf diese Frage die von mir gesuchte überwölbende Sprachauffassung rekonstruieren zu können. Das heißt auch zu behaupten, dass der Ausdruck in seiner eigenen, besonderen Leistung uns etwas sehr Wichtiges über das Wesen von Sprache sagt. In meiner Lektüre von Bühler geht es also nicht darum, den Ausdruck zu diskutieren, um ein Verstehen außerhalb der Sprache zu verorten, ein Verstehen ohne Sprache aufzuweisen. Man könnte das, was ich vorhabe vielmehr als eine doppelte Bewegung bezeichnen: der Ausdruck wird als ein eigenes und spezifisches Phänomen untersucht und in dieser seiner Besonderheit wird versucht, das wesentliche Charakteristikum von Sprache sichtbar zu machen. Anders gesagt, es geht im Folgenden darum, aus den Schriften Bühlers ein die zeichen- und informationstheoretischen Sprachmodelle überwölbendes Sprachkonzept herauszuarbeiten. Ich werde diese doppelte Bewegung über mehrere Schritte realisieren und beginne meine Ausführungen mit Bühlers Antwort auf die Frage: Worin besteht das Problem des Ausdrucks?

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Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/Main 1996, S. 15–16.

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I. Das Problem des Ausdrucks I.1 Indiz oder Erlebnis? Im Roman Die Mittagsfrau von Julia Franck findet man eine treffende Beschreibung des Problems, das der Ausdruck stellt. Als Wilhelm im kommenden Frühjahr einmal nach einem guten Monat Planungsarbeiten aus Pommern zurückkehrte, kaufte er beim Juwelier am Bahnhof zwei Ringe zur Verlobung und holte Helene vom Krankenhaus ab. Er hielt ihr den Ring unter die Nase und fragte Helene, ob sie seine Frau werden wolle. Helene konnte ihn nicht ansehen. Sie überlegte was sie ihm antworten sollte, sie wusste, wie es ging, das Strahlen, das Lächeln, es war ganz einfach, man musste nur die Mundwinkel hochziehen und die Augen dabei aufreißen, vielleicht war es mit dieser Mimik gar möglich, einen Augenblick Freude zu empfinden? 4

Diese Beschreibung der Mimik des Freuens könnte aus dem Buch Mimik und Physiognomik (1886) von Piderit stammen oder aus den Arbeiten Lerschs 5 , sie könnte aus einem der vielen Lexika der Ausdruckssymptome entnommen sein, die seit dem 17. Jahrhundert verstärkt geschrieben wurden und die Bühler so intensiv in seiner Ausdruckstheorie diskutiert. Wie jeder andere bedarf Helene zur Kenntnis der Mimik des Freuens kein Lexikon, diese Mimik ist abgesehen beim anderem und an sich selbst oft genug praktiziert worden. Aber gerade dieses Praktizieren, die Möglichkeit es zu produzieren, es willentlich hervorzubringen ist hier problematisiert. Helene weiß wie es geht, aber wird es auch den gewollten Effekt haben? Wird sie auch Freude empfinden? Oder ist das Freudeempfinden nicht gerade die Bedingung dafür, dass durch Mimik ausgedrückt werden kann? 4

Julia Franck: Die Mittagsfrau, Frankfurt/Main 2007, S. 317–318. Bei der Diskussion der Gegenwartsforschung verweist Bühler auf die Arbeit von Philipp Lersch: Gesicht und Seele: Grundlinien einer mimischen Diagnostik, München 1932, und stellt sie als »ein neues Lexikon der fruchtbaren Momente mimischen Geschehens« vor. Karl Bühler: Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt, Jena 1933, S. 204.

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Hier, im Schwanken Helenes, sind die zwei hauptsächlichen Ausdruckstheorien illustriert, die Bühler zu Folge in der Geschichte aufzeigbar sind. Die eine stellt den Resonanzfaktor in den Mittelpunkt: Ausdruck ist demzufolge immer durch das Erlebnis bedingt. »Alles geht mechanisch ohne unser Bewußtsein zu … Es gibt keine Theorie, nach welcher wir unserem Gesichte die Traurigkeit einprägen können. Sind wir aber wirklich traurig, so setzt sich alles von selbst in die gehörige Gestalt«. 6 Im anderen Typ der Ausdruckstheorien verlässt man sich eher auf das Indizienverfahren: Ausdruck wird als eine Form von Sprache vorgeführt, die man erlernen und praktizieren kann, um sich verständlich zu machen und um verstanden zu werden. Hier wird behauptet, dass man mit den in den Lexiken herausgearbeiteten Ausdruckselementen einen jeden Gesichtsausdruck »mit mathematischer Bestimmtheit zu konstruieren und in einem Gesicht darzustellen« 7 vermag. Helene schwankt zwischen beiden. Zuerst greift sie auf das Indizienverfahren zurück: es gibt eine Reihe von Körperbewegungen, von denen man aus Erfahrung weiß, dass sie Freude ausdrücken. Aber Helene bezweifelt gleichzeitig, dass ein gewolltes und gewusstes Hineingreifen in die Lexikographie der ausdruckshaltigen Symbole wirklich die Empfindung der Freude erzeugt. Wird die willentliche Benutzung der Ausdrucksgesten die Seele in den Stand setzen, das zu fühlen, was in ihnen ausgedrückt wird? Oder braucht es dazu nicht doch des Erlebnisses der Freude, das im Ausdruck seine Resonanz findet? Hier sind zwei Ausdrucksbegriffe bemüht, die verschiedener nicht sein können. Der erste betrachtet den Ausdruck als auf das wirklich Erlebte beruhend, der zweite sieht in ihm eine Form von Sprache, die man erlernen und praktizieren kann. Entweder man beteuert, dass der Ausdruck nicht systematisch eingefangen und erlernt werden kann, dass der echte, reine Ausdruck sich immer nur unmittelbar einstellt oder man behauptet, dass jeder Ausdruck mit mathematischer Bestimmtheit in einem Gesicht dargestellt werden kann. Stellt man das Problem des Ausdrucks auf diese Weise, so bleibt es ein Problem, denn die resonanztheoretische Position ist 6 7

Sulzer zitiert von Bühler, Ausdruckstheorie, S. 31. Piderit (1886) zitiert von Bühler, Ausdruckstheorie, S. 91.

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mit der indizientheoretischen unversöhnlich. Wenden wir uns also dem künstlerischen Ausdruck zu, in dem Bühler eine Auflösung dieser Streitfrage zu finden meint. I.2 Vergegenwärtigung und Versinnlichung Im 3. Kapitel der Ausdruckstheorie, das Johann Jakob Engel, einem der genauesten Theaterkenner des 18. Jahrhunderts gewidmet ist, diskutiert Bühler, was uns das Theatergeschehen über das Problem des Ausdrucks zu sagen hat. 8 Und genau in diesem Kapitel stellt Bühler einen Vergleich zur Deixis am Phantasma an, die einen breiten Platz im ersten Teil seiner Sprachtheorie einnimmt, in der die Darstellung durch Zeigzeichen eine zentrale Rolle spielt. Was macht den Vergleich zwischen der Deixis am Phantasma und dem Bühnengeschehen so interessant? Beginnen wir unsere Analyse mit der Deixis am Phantasma. Folgt man Bühler so handelt es sich bei dieser vor allem um eine Situationsvergegenwärtigung oder anders gesagt, bei der Deixis am Phantasma werden Erinnerungssituationen oder Phantasiesituationen von wahrnehmungsähnlichem Charakter produziert. Diese ersetzen die gegebene Wahrnehmungssituation, da sie sich auf etwas in dieser nicht Wahrnehmbares beziehen, besitzen aber, und darin besteht ihre Besonderheit, einen wahrnehmungsähnlichen Charakter. Es geht bei ihnen um ein Präsentieren, ein Präsentmachen des Abwesenden, ein Vorführen des Abwesenden vor unserem »geistigen Auge«. Nehmen wir eines der von Bühler zitierten Beispiele, um dieses Vergegenwärtigen zu illustrieren. Es geht um die Wiedererweckung einer gemeinsam erlebten Szene, die den Gesprächspartnern noch gut im Gedächtnis ist: […] dann bedarf es nicht vieler Worte. Vor allem können Nennwörter, welche die Wasbestimmtheit der Dinge und Ereignisse angeben, gespart werden. Es bedarf nur einer Aufstellungsskizze, um den präsenten Wahrnehmungsraum zur Bühne umzugestalten, auf welcher der Sprecher mit sinnlichen Gesten Anwesendes zu zeigen vermag. Der mitwis8

Bühler diskutiert ausführlich Johann Jakob Engels Schrift: Ideen zu einer Mimik, Berlin 1785–1786.

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sende Hörer wird ›dort‹ jetzt mit geistigem Auge wiedersehen, was er damals mit leiblichem gesehen hat. 9

Was geschieht hier? Jemand präsentiert mit sprachlichen Mitteln (hier den Gesten und einigen Wörtern) Abwesendes; er macht es wahrnehmbar, indem er einen eigens dafür vorgesehenen Präsenzraum vor unseren Augen schafft. In diesem konstruierten Wahrnehmungsraum nimmt das Abwesende Platz, hat seinen Platz und kann gezeigt werden. Deshalb arbeitet die Deixis am Phantasma, so Bühler, auch und ausschließlich mit Versetzungen. Entweder das, was gezeigt werden soll, wird in meinen gegenwärtigen Wahrnehmungsraum hineintransportiert oder ich werde in einen anderen Wahrnehmungsraum versetzt, in dem ich, wie in meinem gegenwärtigen, orientiert bin. Es ist dieses Orientiertsein im Raume, oder wie Bühler sagt, die Auswertung des Orientierungsfeldes der gegenwärtigen Wahrnehmungssituation, die das Abwesende durch Zeigen wahrnehmbar macht, es anwesend macht. 10 Das Abwesende wird dadurch sichtbar gemacht, dass es in Funktion meines Orientiertseins, in bezug auf mein Körpertastbild im Wahrnehmungsraum gezeigt wird. Diesen Prozess bezeichnet Bühler als Vergegenwärtigung. Besonders interessant an Bühlers Überlegungen zur Deixis am Phantasma ist, dass hier beschriebene Funktionieren der Darstellung. Letztere ist nämlich in allen Fällen immer eine vermittelte: die (abwesende) Welt ist nicht unmittelbar dargestellt, sondern wird durch die Konstitution eines orientierten, einjustierten Wahrnehmungsraumes, in dem mit Hilfe von Zeigwörtern gezeigt wird, gegenwärtig gemacht. Welt wird also präsentiert. Es kommt bei der Deixis am Phantasma zu einer Produktion von Präsenz, ohne welche die durch Zeigzeichen und Zeigwörter realisierte Darstellung unmöglich wäre. Auch auf der Bühne arbeitet man mit der Produktion von Präsenz oder, um in der Terminologie Bühlers zu bleiben, mit Vergegenwärtigungen. Der Schauspieler zeigt das Erinnerte, gibt einen Bericht über Abwesendes und Geschehenes, indem er das Erinnerte 9 10

Bühler, Sprachtheorie, S. 139. Siehe: Ebd., S. 140.

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und das Geschehene wie ein hier und jetzt noch einmal Durchlebtes darstellt. Engel formuliert dies als Regel des künstlerischen Ausdrucks, ich zitiere bei Bühler: »daß er (der dramatische Dichter) nichts in seiner Nachahmung bringen muß, was die Idee der Gegenwart nur im mindesten erschweren, und noch viel weniger, was sie aufheben könnte«.11 Es gibt verschiedene Möglichkeiten und Mittel dieses Vergegenwärtigen auf der Bühne zu produzieren. Bühler diskutiert sie mit Hilfe der äußerst illustrativen Beispiele Engels. So wäre da zum einen das Sichtbarmachen des Handlungsoder Denkverlaufs: Die Personen des Dramas tragen Gedanken vor, die eben jetzt erst entstehen; der Volkslehrer Gedanken, die er vorhin schon durchdacht hat: jene sind in äußerer Unruhe und schwanken zwischen Ideen und Empfindungen hin und her; dieser ist in äußerer Ruhe und hat mit seinem Einen Gegenstande auch nur eine bleibende Hauptempfindung, die er nach Wohlgefallen ausbilden kann. In Hamlets Monolog über den Selbstmord ist der Gegenstand äußerst wichtig und persönlich aktuell. 12

Das Vergegenwärtigen realisiert sich also über eine Darstellung des Verlaufs; auf der Bühne wird gezeigt wie eine Handlung sich von Moment zu Moment »entspinnt, verwickelt, umwälzt, endigt«. Während wir im Alltagsleben, aber auch im Rahmen der rationalen Handlungstheorien daran gewöhnt sind, eine Handlung vor allem von ihren Motiven und Zielen her zu beschreiben, wobei wir uns auf eine gut ausgearbeitete Semantik der Handlung stützen können, findet im Prozess der Vergegenwärtigung keinerlei Sinn- oder Zielzuweisung statt. Es wird »nur« der Verlauf dargestellt, die Handlung wird als etwas ständig Ablaufendes, oder wie Bühler es auch bezeichnet, als aktuelles Erlebnis des Handelnden ausgedrückt. Auf der Bühne ist ein Hamlet zu sehen, der »ganz in sich selbst versenkt ist, eben jetzt erst nachgrübelt, von Idee auf Idee, von Zweifel auf Zweifel gerät«. 13 Das Denken und Fühlen Hamlets wird als Abfluss, Ablaufendes, sich Konstituierendes gezeigt, als im 11 12 13

Engel (1785–1786) zitiert bei Bühler, Ausdruckstheorie, S. 45. Ebd. Ebd.

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Fluss, im Werden, im Aufnehmen, im Wiederaufnehmen sich befindend, als aktuelles Erlebnis. Damit nähert sich Bühler bei seiner Diskussion von Engels Theaterkonzeption einem Handlungsbegriff an, der fast zur gleichen Zeit vom Phänomenologen Alfred Schütz entwickelt wurde. Die Handlung im Prozess ihres Verlaufes ist für Schütz eine Serie von sukzessiven und unterschiedlichen Zuständen die das Ego (der Handelnde) durchläuft. Schütz verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der inneren Zeit (durée) 14 , den er den Arbeiten Bergsons entlehnt, und die er von unserer verräumlichten Zeit unterscheidet, in der die Erfahrungen des Handelnden als isolierte, jede an einem bestimmten Typ von Motivation oder Disposition gebundene, und damit sauber voneinander unterscheidbare erscheinen. Das folgende Zitat Schütz’ zeigt dieses Verbundensein der innere Zeit (durée) mit der Prozessualität der Handlung: Aber selbst diese gegensätzlichen Neigungen haben nur eine einzige, wirkliche Existenz: X und Y sind nur Symbole für verschiedene Tendenzen meiner Persönlichkeit in aufeinanderfolgenden Phasen meiner durée. Es gibt streng genommen keine entgegengesetzten Zustände, sondern eine Folge sukzessiver und verschiedener Phasen, die das Ich durchläuft, in denen es wächst und sich kontinuierlich erweitert; so bewegt sich das Ich zwischen den imaginären Tendenzen hindurch, die im Prozeß des Abwägens sich ebenso ändern wie das Ich selbst. Daher ist die Rede von zwei Tendenzen oder von zwei Richtungen rein metaphorisch: in Wirklichkeit gibt es weder zwei Tendenzen noch zwei Richtungen, sondern nur ein Ich, das gerade durch seine Unschlüssigkeit lebt und sich entwickelt, bis das freie Handeln sich von ihm löst wie eine reife Frucht.15

Vielleicht kann man diese innere Zeit Schütz’ mit dem aktuellen Erlebnis vergleichen, von dem Bühler im Zusammenhang mit dem auf der Bühne stattfindenden Vergegenwärtigungen spricht. 16 So14 Siehe Alfred Schütz: »Das Wählen zwischen Handlungsentwürfen«, in: Gesammelte Aufsätze I, Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, S. 98–105. 15 Schütz, »Das Wählen«, S. 99. 16 Schütz verwendet ebenfalls den Begriff des »aktuellen Erlebnisses«, siehe: Schütz: »Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten«, in: Gesammelte Aufsätze I, Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, S. 247 f.

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wohl Schütz wie auch Bühler thematisieren die Handlung gerade nicht als Realisation eines Zieles, als Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungszielen und -mitteln, sondern als »Werden des Egos«, als seine Evolution hin zur Aktion, man könnte auch sagen: als Ausdruck, denn genau hier hat Bühler zufolge der Ausdruck seinen Platz. Dieser angedeutete Zusammenhang zwischen Schütz’ Handlungstheorie und Bühlers Diskussion des Ausdrucks macht auch verständlich, wieso Bühler Engel als einen der ersten Aktionstheoretiker des Ausdrucks bezeichnet, und erlaubt uns eine erste Spezifikation des Ausdrucksbegriffs. Ausdruck wird also von Bühler als ein Gleichnis von Handlung diskutiert: Furcht, wenn sie ausgedrückt ist, ist Drang zur Flucht, Staunen ein Drang sich zu orientieren. 17 Deshalb schlussfolgert er, dass Ausdruck im Sichtbarwerden der Haltungs- und Handlungsinitien des Individuums besteht, er wird von ihm als kommende Handlung, als initiierter Bezug auf Welt definiert. Aus den Initien soll die kommende Handlung und das aktuelle Erlebnis des Handelnden erkannt werden. Das ist wie mir scheint, einer der Hauptsätze, welche in jeder Ausdruckslehre vorkommen und vom Theoretiker des Ausdrucks diskutiert werden müssen. Engel hat ihn nicht explizite in seinem Buche stehen, wohl aber implizite in den drei formalen Sätzen über die Deixis auf Präsentes, die Bezugswendungen zum Präsenten hin. 18

Diese letzte Bemerkung verweist auf einen weiteren Aspekt des Ausdrucksbegriffs, den Bühler aus den genauen Beobachtungen Engels ableitet. Bühler resümiert, dass der Schauspieler seine affektiven Bezugswendungen zum Präsenten hin ausführt. Beim Bühnengeschehen passiert damit etwas Ähnliches und gleichzeitig etwas anderes als bei der Deixis am Phantasma. Es wird zwar auch der Körper benutzt, aber diesmal handelt es sich nicht um das Körpertastbild, das Orientiertsein im Raum, sondern der Körper wird »be17

Im Kapitel IX der Ausdruckstheorie, das der Konzeption Klages gewidmet ist, stellt Bühler diesen ebenfalls als einen Aktionstheoretiker des Ausdrucks vor. Hier zitiert Bühler den Aphorismus Klages: »Der Ausdruck ist ein Gleichnis der Handlung«. Bühler, Ausdruckstheorie, S. 153. 18 Ebd., S. 43

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nutzt«, um die affektiven Bezüge des Subjekts zur Welt an der Welt auszuführen, sichtbar zu machen. Der Schauspieler setzt seinen Körper ein »läßt ihn geschüttelt, umhergeworfen, gewendet werden von der unsichtbaren Flut, die ihn bedrängt«, denn er will den Zuschauer teilnehmen lassen »an dem Fluten und Gewoge der inneren Bilder und der Gedanken«. 19 Nehmen wir nochmals ein Beispiel von Engel, das Bühler zitiert: Wenn Hamlet die Ursache entdeckt hat, warum der Selbstmord ein so bedenklicher Schritt sey?, so ruft er aus: ›Ach da liegt der Knoten!‹ und in demselbigen Augenblicke bewegt er den Finger vor sich hin, als ob er äußerlich mit dem Auge gefunden hätte, was er doch innerlich mit dem Scharfsinne fand. Wenn Lear sich des schändlichen Undanks seiner Töchter erinnert, womit sie in einer so stürmischen Nacht sein graues Haupt Wind und Wetter Preis gaben, und er dann auf einmal ausruft: ›Oh hier auf diesem Wege komm ich zum Wahnwitz; ich muß ihm ausweichen; nichts mehr davon!‹ so ist da kein äußerer Gegenstand, von dem er Blick und Körper mit Abscheu verwenden dürfte, und doch wird er sich von der Seite wegdrehn, gegen die er gerichtet war, wird mit verwandter Hand die unangenehme Erinnerung gleichsam von sich stoßen, zurückscheuchen. 20

Bühler bezeichnet diese (affektiven) Bezugsverwendungen des Körpers zum Präsenten hin als Versinnlichungen und unterstreicht damit, dass es sich nicht um eine unmittelbare Reaktion des Körpers auf Welt handelt. Der Ausdruck ist wie die Deixis am Phantasma für Bühler kein unmittelbares Phänomen, kein unmittelbares Manifestwerden des Inneren im Äußeren. Der Ausdruck ist nicht mit dem Zorn gleichzusetzen, der sich direkt und unwillkürlich im Gesicht zeigt. Im Ausdruck ist das Innere immer vermittelt dargestellt, vermittelt über die affektive Bezugswendung des Körpers; eine Bezugswendung, die der Körper an der Welt ausführt, die – wie bei der Deixis am Phantasma – dadurch erst für die Wahrnehmung präsent wird. Engel beschreibt das Geschehen ganz klar: Lear wendet seinen Körper mit Abscheu von einer Welt ab, die ihn von außen bedrängt, der er zu entfliehen sucht; aber da ist keine Person, 19 20

Ebd., S. 45. Engel zitiert bei ebd., S. 44.

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kein äußerer Gegenstand und doch sind diese gegenwärtig. Man kann diese Art von »Versinnlichungen«, wie Bühler sie nennt, bei Theaterbesuchen aber auch im Alltagsleben beobachten: nach dem Vorschlag zusammen essen zu gehen, reagiert A spontan mit einer Abwehrbewegung des Körpers, ein Zurückweichen, schnell, aber gut wahrnehmbar und dann kommt die gesittete Antwort »ja, warum nicht?«. Es ist diese affektive Bezugswendung auf Welt, welche die Welt erst sehen lässt, auf die sie sich bezieht, sie sinnlich macht für den Zuschauer, für den Gesprächspartner und auch für den Akteur selbst. Verortet man das Phänomen des Ausdrucks im Bereich der Produktion von Präsenz, 21 einer gegenwärtig werdenden Welt, die dem Ausdruck ihre Wahrnehmung verdankt, dann wird es schwierig Bühlers Ausdrucksbegriff als psychologischen zu bezeichnen oder anders gesagt, es wird verständlich, warum Bühler sich in seiner Ausdruckstheorie immer wieder gegen die Erlebnispsychologie wendet. I.3 Ein behavioristisch orientierter Ausdrucksbegriff Versucht man eine erste Antwort auf unsere Eingangsfrage zu geben, ob Ausdruck Erlebnis oder Indiz sei, dann ist die bei Bühler gefundene Auskunft sehr deutlich, und es erscheint mir schwierig, ihn in die ausdruckspsychologische Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts einzuordnen, wie dies so oft in Übersichtswerken getan 21

Ein interessantes Plädoyer für eine Wiederaufwertung des Präsenzbegriffes in den Kultur- und Geisteswissenschaften, der dem in diesen vorherrschenden Sinnbegriff gegenübergestellt wird, findet man bei Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/Main 2004. Gumbrecht diskutiert den Prozess der Produktion von Präsenz ebenfalls in seiner räumlichen Dimension, als unmittelbare physische Wirkung präsenter Gegenstände auf den Körper, als einen unmittelbar in der Wahrnehmung erfolgten Bezug auf Welt, der gerade durch Kunstwerke produziert wird. Es finden sich eine Reihe interessanter Parallelen zu der von mir vorgeschlagenen Lektüre Bühlers, die – interessiert am Ausdruck – ebenfalls auf das Phänomen der »Produktion von Präsenz« gestoßen ist. Es bleibt jedoch zu bemerken, dass für Gumbrecht das Paradigma des Ausdrucks im gleichen epistemologischen Kontext wie das Paradigma der Interpretation entstanden ist und dadurch ohne Interesse für seine Überlegungen erscheint.

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wird. 22 Ausdruck ist für Bühler nicht Ausdruck des Erlebnisses, nicht Ausdruck der inneren Welt des Subjekts. Bühler ruft vielmehr als Psychologe auf, den so genannten Raum der Psyche, das Innere, den Bereich der Seele zu verlassen. Wenn der Ausdruck eine Bezugswendung auf Welt, auf Präsentes hin ist, dann bleibt manches von dem, was erlebt wird, unausdrückbar, anderes, das introspektiv nie erfassbar ist, wird manifest. Am sichtbaren Ausdruck kommt also mehr und weniger zum Vorschein, als der Auszudrückende selbst erlebt. Bühler bezeichnet deshalb seine Herangehensweise an mehreren Stellen der Ausdruckstheorie als behavioristisch orientierte. Was meint er damit? Man muß ein Lebewesen in seinem Aktionsraum vor sich haben, um den Bewegungen dieses Lebewesens ablesen zu können, wie und wohin es sich wendet. Das konnte Engel an den Bewegungen des Schauspielers auf der Bühne, das kann der Behaviorist, welcher die Reaktionen eines Tieres oder Kindes in gegebener Versuchssituation beobachtet, wir können es auch in den natürlichen Lebenssituationen, unter denen wir Tiere und Mitmenschen mit verstehendem Blick verfolgen. Nur einer kann es nicht, […] und dieser eine ist der Innenschauer, welcher dem Erlebnis als solchem abzulesen versucht, was man im Grunde doch nur mit nach außen gerichteten (körperlichen) Augen sehen kann. Mit anderen Worten: Bezugswendungen sachgemäß aufnehmen und analysieren ist eine Aufgabe, die man im behavioristischen Aspekt der Psychologie ausführen muß. 23

Der Begriff des Behaviorismus ist in der Psychologie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts negativ konnotiert und als eine reduktionistische, nur an der Beobachtung der kausal interpretierten Reaktionen der Lebewesen auf Umwelt interessierte Herangehensweise von vie22

Solch eine Einordnung findet man z. B. bei Hans Ulrich Gumbrecht, »Ausdruck«, in: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkart Steinwachs: Ästhetische Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 2000, S. 427. Auch die Besprechungen der von Bühler diskutierten Autoren ordnen diese oft als Ausdruckspsychologen ein, obwohl, wie mit Bühler gezeigt werden kann, andere Lektüren möglich sind. Siehe z. B. die ausdruckspsychologische Interpretation von Engel in: Alexander Koenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. 23 Bühler, Ausdruckstheorie, S. 163.

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len Psychologen abgelehnt worden. Was Bühler mit dem Begriff des Behaviorismus thematisiert, ist jedoch etwas anderes als das, was dieser Begriff in bezug auf den Behaviorismus als Denkströmung der Psychologie bedeutet. 24 Was im Außen, in der Welt zu beobachten ist, sind nach Bühler nicht die Reaktionen der Lebewesen auf Welt (auf Reize). Im Außen existiert ein Verhältnis zwischen dem Lebewesen und der Welt, das weder allein aus der Welt (Ursache für das Verhalten) noch allein aus dem Lebewesen selbst (aus seinem inneren psychischen Zustand, seiner Disposition) erklärt werden kann, weil in ihm innen und außen, Subjekt und Objekt nicht voneinander zu trennen sind. In diesem Sinne ist Bühlers Hinweis auf den Aktionsraum des Lebewesens zu interpretieren. Nur in diesem Raum wird die Bezugswendung des Lebewesens verständlich, weil Bezugswendungen und Aktionsraum sich gegenseitig bedingen oder anders gesagt, nur zusammen präsent sind, was auch heißt, dass sie nur in dieser »Assoziation« wahrnehmbar sind. Bühlers metaphorisch klingender Verweis auf das »körperliche Auge« meint ja gerade, dass der Gegenstand dieses Auges die Aktionsbereitschaft des Lebewesens, sein Orientiertsein auf die Lebenssituation hin ist. Man könnte auch sagen, es geht hier um eine bestimmte Intentionalität, die sich nur zeigt, wenn man die Beziehung zwischen der Aktion des Lebewesens und der Welt in den Blick nimmt. Und diese ist eben am Körper, genauer an den Körperbewegungen des Lebewesens »auf etwas hin« zu sehen. Es ist wie mit den Bezugswendungen zum Präsenten hin, die vom Schauspieler ausgeführt werden und die dem Zuschauer die Welt sehen und präsent werden lassen, auf die sie sich ja eben beziehen. 24

Normalerweise wird mit dem Begriff des Behaviorismus die Aufteilung jeder sinnvollen Handlung in eine äußere, körperlich beobachtbare und eine innere, im Seelenleben ablaufende Parallelhandlung, die der Beobachtung unzugänglich ist, identifiziert. Diese Definition lässt jedoch nicht verstehen, warum Bühler von Behaviorismus spricht. Wie übrigens auch nicht verstanden werden kann, wieso Wittgensteins radikale Ablehnung der Existenz eines Innenlebens, einer Privatsprache, von einer Reihe von Autoren als eine Form von Behaviorismus diskutiert wird. Wir schlagen also dem Leser vor, den Begriff des Behaviorismus »offen zu halten« für andere Bedeutungserfüllungen, die der Begriff ebenfalls in der Ideengeschichte erhalten hat.

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Bühlers Behauptung, dass die Ausdrucksphänomene nur im behavioristischen Teil der Psychologie 25 eine adäquate Erfassung erfahren können, stellt also die Dualität von Ausdruck und Auszudrückendem, von Innerem und Äußerem als konstitutive Beziehung des Ausdrucks in Frage. Im Gegenteil, der Ausdruck erscheint hier als der Begriff, der eben eine strikte Unterscheidung zwischen innen und außen unmöglich macht. Die Ausdrucksbewegungen lassen, so Bühler, die Beziehung auf Welt schon beim Tier als intentionale und sinnvolle erscheinen. Damit nähert sich Bühler den Debatten an, die besonders in der sich entwickelnden philosophischen Anthropologie zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine große Rolle spielten. 26 Er bezieht sich in seiner Ausdruckstheorie direkt auf sie, indem er den von Plessner und Buijtendijk 1925 veröffentlichten Artikel »Die Deutung des mimischen Ausdrucks« zitiert. In diesem findet man nun folgende Beschreibung der Beziehung zwischen Lebewesen und Welt: »Aber auch Wahrnehmung und Deutung der Ausdrucksbewegungen beim Menschen geschehen auf Grund einer historischen Reaktionsbasis, die bis in die früheste Kindheit zurückreicht, und einer ursprünglichen Fähigkeit zur Erfassung und zum Verständnis des fremden Ichs, welche sich besonders in dem Verhalten des ganz jungen Kindes zeigt. Sehen wir den Säugling bei Annäherung irgendwelcher Personen lächeln oder die Stirn runzeln, eine freundli25

Bühlers Auffassung von Psychologie, die er 1927 in der Krise der Psychologie entwickelt, unterscheidet drei dieser unbedingt zugehörende Bereiche: einen behavioristischen, der das sinnvolle Benehmen der Lebewesen untersucht, einen geisteswissenschaftlichen, der die Korrelationen dieses Benehmen mit den Gebilden des objektiven Geistes zum Gegenstand hat und einen erlebnispsychologischen Teil. Anstatt hierin nur eine eklektische Kompromisslösung Bühlers zu sehen, sollte man diese Bereiche eben nicht mit den drei in der Psychologie heute maximal ausdifferenzierten Strömungen identifizieren, sondern vielmehr als konstitutive Momente einer »noch unbenannten Einheit« ansehen, die der eigentliche, erst noch zu bestimmende Gegenstand von Psychologie ist. Siehe: Karl Bühler: Die Krise der Psychologie, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1978 [1927], S. 29. 26 Siehe zur Bestimmung der Philosophischen Anthropologie als besondere Richtung in der deutschsprachigen Philosophie zu Anfang des 20. Jahrhunderts und den in ihr vorherrschenden Fragestellungen: Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München 2008.

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che Geste freundlich, eine unfreundliche unfreundlich erwidern, so spielt sich vor unseren Augen derselbe unmittelbar verständliche und doch so schwer begreifliche Zusammenhang zwischen Organismus und Umwelt ab […]. Ob man eine junge Schwalbe im Herbst nach dem Süden ziehen sieht oder an einem kühlen Frühlingsmorgen ein winziges Radspinnchen beim Netzbau beobachtet oder das zu jedem Verständnis bereite ursprüngliche Gebahren des Kindes in seiner Umgebung bestaunt, – in all diesen Fällen vermeint man fast eine unsichtbare Welt mit Händen zu greifen, in der die Eintracht zwischen Lebewesen und Umgebung liegt und welche die apriorische Bereitschaft zu einer bestimmten sinnvollen Betätigungsform mitenthält.« 27 (Hervorhebung – J. F.) Für Plessner und Buijtendijk spricht die Ausdrucksbewegung ebenfalls von einer Eintracht zwischen Lebewesen und Umgebung, von einer apriorischen Bereitschaft zu einer bestimmten sinnvollen Betätigungsform. Was also beim Wahrnehmen des Ausdrucks verstanden wird, ist die Existenz solch einer fast mit den Händen greifbaren unsichtbaren Welt, in der eine Eintracht zwischen Lebewesen und Welt existiert und die die sinnvolle Aktionsbereitschaft des Lebewesens mitenthält; die Existenz einer Welt, die genau soviel Realität besitzt wie die sogenannte objektive, physikalische Welt. Es handelt sich um die Welt, mit der die Lebewesen, könnte man sagen, in einer inneren Beziehung stehen. Auch in bezug auf die Existenzform dieser sogenannten Eintracht zwischen den Lebewesen und der Umwelt besteht Einigkeit zwischen den Autoren. Plessner und Buijtendijk sprechen von einer »direkt erlebbaren Umweltintentionalität des Leibes«. 28 Das, was Bühler mit dem »körperlichen Auge« meint, lässt sich mit Hilfe ihrer Überlegungen noch einmal klarer fassen. Die Umweltintentionalität ist, so zeigen Plessner und Buijtendijk, immer eine bildhaft erscheinende oder anders

27

F. J. J. Buijtendijk & Helmuth Plessner: »Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des anderen Ichs«, in: Philosophischer Anzeiger 1, 1925, S. 76. 28 Ebd., S. 80.

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gesagt, das sie ausdrückende Benehmen der Lebewesen entfaltet »sich an rein sinnlichen Daten« und ist demzufolge »nur« vorerfahrungsmäßig erfassbar. 29 Das von beiden Autoren verwendete Adjektiv vorerfahrungsmäßig verweist auf dieses unmittelbar und direkt sich realisierendes Verständnis, das z. B. im Zurücklächeln des Säuglings erscheint und ausschließlich auf rein sinnlichen Daten (auf Anschauung) beruht. Es ist weder durch einen assoziativen Bezug auf schon gemachte Wahrnehmungen und Erfahrungen erklärbar, noch beruht es auf einer irgendwie realisierten begrifflichen Verallgemeinerung. Das »körperliche Auge« meint also, so kann man schlussfolgern, diese direkt am Leib sinnlich wahrnehmbare Umweltintentionalität. Folgt man nun dem von Bühler, Plessner und Buijtendijk unterbreiteten Vorschlag, den Ausdruck als unmittelbar »verständlichen« Zusammenhang zwischen Organismus und Umwelt, als diesen unmittelbar wahrnehmbaren Zusammenklang zwischen Mensch und Welt zu erfassen, dann bleibt eine zentrale, von uns zu Anfang gestellte Frage offen. Ich fragte nicht nur: was ist Ausdruck, sondern behauptete gleichzeitig, dass bei Bühler eine Sprachkonzeption zu finden ist, die es ermöglicht, den Ausdruck in seiner Spezifik eben als ein Phänomen von Sprache auszuweisen. Dass eine solche Sprachauffassung denkbar ist und ebenfalls zu Anfang des 20. Jahrhundert antizipiert wurde, soll nun im letzten Teil angedeutet werden. Dazu wende ich mich einem Zeitgenossen Bühlers, Kurt Goldstein, zu, aus dessen Arbeiten zur Aphasie das gesuchte Sprachverständnis im Rahmen des mir verbleibenden Platzes schneller und illustrativer als aus der Sprachtheorie Bühlers herausgearbeitet werden kann. 30

29

Siehe auch Ebd., S. 75 u. 77. Zur Herausarbeitung dieser überwölbenden Sprachkonzeption aus der Sprachtheorie Bühlers siehe: Janette Friedrich: Présentation, in: Bühler: La théorie du langage. La fonction représentationnelle, Marseille 2009, S. 21–58. 30

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II. Ausdruck als Sprache II.1 Eine innere Beziehung zwischen Sprache und Welt Kurt Goldstein war ein Zeitgenosse Bühlers, ihre Wissenschaftlerschicksale gleichen sich nicht nur bezüglich ihrer Erfolgsseiten in Europa, sondern auch in bezug auf ihre Schattenseiten in der amerikanischen Emigration. 31 Die theoretischen Parallelen sind ebenfalls erstaunlich und gerade für mein Problem interessant. Goldsteins Sprachkonzeption findet sich am deutlichsten in seinen Untersuchungen zur Aphasie entwickelt. 1933 publizierte er in der Sondernummer des französischen Journal de psychologie, die den Problemen der Sprachpsychologie gewidmet war, einen langen Artikel, dessen Ideen im Deutschen nur teilweise zugänglich sind. 32 Goldstein beendet diesen Text mit einer für einen medizinisch ausgebildeten Psychopathologen auf den ersten Blick eher verwunderlichen Schlussfolgerung: So wie der Patient, wenn er die Sprache [auf der von uns beschriebenen äußeren Weise – zusätzlich im frz.] benutzt, wie entseelt in einer entseelten Welt zu handeln scheint, so auch der Normale, wenn er in einer von ihm gelösten entseelten Welt handelt. Überall wo der Mensch in lebendiger Beziehung zu sich oder zu seinen Mitmenschen Sprache benutzt, ist Sprache nicht nur Werkzeug, ist sie nicht nur Mittel, sondern Erscheinung, Offenbarung des tiefsten Wesens und der seelischen Verbundenheit mit dem Mitmenschen.33 31

Siehe z. B. Uta Noppeney: Abstrakte Haltung. Kurt Goldstein im Spannungsfeld von Neurologie, Psychologie und Philosophie, Würzburg 2000, S. 15–24 und Charlotte Bühler: »Die Wiener Psychologische Schule in der Emigration«, in: Psychologische Rundschau 3, 1965, S. 187–196. 32 Siehe: Kurt Goldstein: »L’analyse de l’aphasie et l’étude de l’essence du langage«, in: Jean-Claude Pariente: Essais sur le langage, Paris 1969 [1933], S. 257–330. Kurze Teile dieses Textes sind fast wortwörtlich in einem 1932 veröffentlichten Vortrag Goldsteins zu finden: Kurt Goldstein: »Die pathologischen Tatsachen in ihrer Bedeutung für das Problem der Sprache«, in: Gustav Kafka: Bericht über den XII. Kongress der deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg vom 12.–16. April 1931, Jena 1932, S. 145–164. Sofern dies möglich ist, schlage ich im Folgenden keine Rückübersetzung vor, sondern zitiere aus dem deutschen Text. 33 Goldstein, »Die pathologischen Tatsachen«, S. 164 (frz.: S. 330).

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Goldstein leitet aus seinen Untersuchungen zur Aphasie den Unterschied zwischen einem normalen und einem instrumentalen Gebrauch der Sprache ab, wobei er letzten als charakteristisch für das Sprechen der Aphasiekranken ansieht.34 Das Unterscheidungskriterium zwischen diesen beiden Arten der Sprachverwendung ist die Beziehung zwischen Sprache und Welt (Sprecher und Sprache), die sich in ihnen offenbart. Bei den Aphasiekranken handelt es sich, Goldstein zufolge, eindeutig um eine äußere Beziehung. Für den Aphasiekranken sind die Worte »mit der Person durch eine rein äußere Beziehung verbunden« 35 oder anders gesagt, der Aphasiekranke benutzt die Sprache, um etwas über die Welt in Form sprachlichen Wissens zu sagen, etwas über die Welt in Form sprachlichen Wissens zu erfahren. In seinem Artikel finden sich eine Reihe sehr interessanter Fälle, an denen Goldstein dies illustriert. So berichtet er von einem Patienten der auf die Frage, woher die Wellen auf dem Wasser kommen, abwesend murmelt: »Es säuselt der Wind: vom Wind.« (Was war das »es säuselt der Wind«?) Er sagt: »Wellen: es murmeln die Wellen, es säuselt der Wind.« (Er spricht dies mit völlig leerem Gesichtsausdruck heruntergeplappert.) (Was ist denn das?) Nach einer Pause: »Das muß ein Gedicht sein, das weiß ich jetzt selbst nicht, wie das gekommen ist, ja wie soll ich das erklären? Was sollte ich sagen? Wellen? Von was kommen die Wellen? Dann kam: es murmeln die Wellen, es säuselt der Wind. Also: vom Wind«. 36 34

Walter Benjamin diskutiert diesen Text Goldsteins in einem Sammelreferat und begrüßt Goldsteins Unterscheidung zwischen einem instrumentalen und einem normalen Sprachgebrauch als Ausgangspunkt einer jeden modernen Sprachsoziologie. Walter Benjamin: »Probleme der Sprachsoziologie. Ein Sammelreferat«, in: Gesammelte Schriften III, Kritiken und Rezensionen, Frankfurt/Main 1991 [1935], S. 452–480. Benjamin schlägt in seinen Zitaten eine Rückübersetzung aus dem Französischen vor, was zu kleinen, nicht immer unwesentlichen Modifikationen führt. So wurde die oben zitierte »seelische Verbundenheit« im Französischen mit »psychischen Band« übersetzt. Ich behaupte jedoch, dass der Begriff der »Seele«, der in vielen Arbeiten deutscher Psychologen zu Anfang des 20. Jahrhundert verwendet wurde, eine besondere Funktion besitzt und von vielen Autoren bewusst dem Begriff der Psyche vorgezogen wurde. 35 Goldstein, »L’analyse de l’aphasie«, S. 319. 36 Goldstein, »Die pathologischen Tatsachen«, S. 162.

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Es ist das vor der Krankheit erworbene verbale Gedächtnis, sein sprachliches Wissen, das es dem Patienten in diesem Fall ermöglicht, das gesuchte Wort zu finden, es richtig zu verwenden und damit die ihm gestellte Aufgabe zu lösen. Auf rein sprachliche Weise, in Form einer rein sprachlichen Deduktion wird durch den Patienten Wissen von Welt produziert. Goldstein zeigt sich erstaunt darüber, wie viel Wissen der Patient auf diese Weise mobilisiert, jedoch dürfe man nicht übersehen, dass dieses Verhalten gleichzeitig die völlige Unspontaneität und Unproduktivität einer so vom lebendigen Gesamtverhalten losgelösten Sprache zeige. Denn Sprache wird in diesem Fall zum einzigen, wenn auch exzellenten Mittel, die Welt zu kennen. Man könnte auch sagen, der Patient produziert mit Hilfe der Sprache ein Wissen von Welt, ohne sich wirklich auf Welt zu beziehen, ohne in eine Beziehung zu ihr zu treten. Dieser Mangel der instrumentalen Sprachverwendung zeige sich vor allem im Fehlen eines, wie Goldstein es bezeichnet, momentanen Denkens: Der Patient spricht zweifellos zunächst, ohne zu denken. Dieses Aussprechen erfolgt nicht über Nachdenken, es handelt sich, wie Hochheimer es ausdrückt, um ein Handeln mit Hilfe ungewollter Worte. Etwas Geschraubtes, Formelhaftes liegt in seinem Ausdruck. Aber dieses Sprechen ist nicht sinnlos, inhaltlich enthält es eine beträchtliche Menge Wissen und führt auch meist zu einer gewissen Lösung der Aufgabe, aber diese Sprache enthält keine eigene momentane Gedankenarbeit, sie birgt kluge Argumente, aber sie stammen nicht aus seinem momentanen Denken. 37

Wir stoßen hier auf ein Synonym des schon in Bühlers Überlegungen zum Ausdruck eine große Rolle spielenden Adjektivs aktuell. Ein momentanes (aktuelles) Denken ist beim Finden und Benutzen der Wörter durch den Aphasiekranken gerade abwesend, während es für den normalen Gebrauch eines jeden Wortes charakteristisch ist. Was wird denn nun eigentlich durch dieses momentane Denken beim Sprechen geleistet? Im momentanen Denken erscheinen die Worte, so Goldstein, als mit der Welt durch eine Sinnbeziehung ver37

Ebd.

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bunden, als eine besondere Beziehung auf Welt Ausdrückende. 38 Die Sinnbeziehung, die Goldstein hier verortet, darf nicht psychologisch interpretiert werden. Es handelt sich nicht um den persönlichen Sinn, den ein Sprecher dem Wort in einer bestimmten konkreten Situation gibt. Es geht vielmehr darum, dass die Worte der Sprache immer eine bestimmte Sinnbeziehung auf Welt haben, diese aber nur existiert, soweit wir sie benutzen, sie also denken, mitdenken und gegenwärtig (präsent) halten. Die dem Wort zugehörige Sinnbeziehung existiert nur im momentanen Denken. Wie könnte man dies illustrieren? Ich versuche dies in meinen Seminaren immer mit einem selbst erlebten Beispiel. Ich würde im Deutschen das Wort hart nie im selben Sinne benutzen, wie ich es im Französischen tue. Jedes Mal wenn man einem Französischsprachigem eine schwierige Lebenssituation erzählt, ein gelebtes Problem darlegt, kommt der Kommentar »oh, c’est dur« (oh, das ist hart). Dabei wurde das von mir Erzählte gar nicht als hart erlebt und das Wort dur war für mich, als Deutschsprachige, auch nicht das Wort, das auf die Situation passt. Aber im französischen hat dieses Wort diese Sinnbeziehung auf Welt, drückt es die von mir geschilderte Beziehung zur Welt auf diese Weise als sinnvolle aus. Entweder man akzeptiert das und akzeptiert damit nicht nur mit Franzosen, sondern auch mit ihrer Sprache zu leben, oder die gelebte Situation erhält nachträglich die Färbung, den Sinn des deutschen Wortes hart und dann kann es sein, dass sie plötzlich als unerträglich wahrgenommen wird. Das meint m. E. Goldstein wenn er sagt, dass jedes Wort uns über eine spezifische Beziehung zur Welt, über einen spezifischen Weltbezug aufklärt. Es bietet sich also an, diese Beziehung zwischen Sprache und Welt im Gegensatz zu der beim Aphasiekranken angetroffenen äußeren Beziehung als innere zu bezeichnen. Innere Beziehung meint dann auch, dass die Übereinstimmung des Wortes mit der Welt (die Beziehung zwischen dem Wort hart und meiner gelebten Situation) nicht erklärbar ist. Diese Beziehung zwischen Wort und Welt ist nicht aus den Erlebnissen der Sprechenden, nicht psychisch ableitbar. Es gibt auch keine Überein38

Siehe: Goldstein, »L’analyse de l’aphasie«, S. 319.

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stimmung zwischen dem Wort und der Welt selbst, das Adjektiv dur ist nicht aus einer objektiven Eigenschaft von Welt erklärbar, der es sozusagen adäquat zugeordnet worden ist. Davon zeugt auch, dass diese Sinnbeziehung des Wortes auf Welt sich in keinem Wörterbuch findet, sie wird im Französischunterricht nicht gelehrt. Diese Sinnbeziehung muss gelebt werden, sie muss beim Benutzen und Hören der eigenen oder einer fremden Sprache wahrgenommen werden. Außerhalb der Wahrnehmung von Sprache existiert diese Sinnbeziehung des Wortes auf Welt nicht, was eben gerade auch heißt, dass diese Beziehung nicht das Resultat meiner willentlichen sinngebenden Tätigkeit sein kann. Die Anregung, diese Beziehung zwischen Sprache und Welt als innere oder interne zu bezeichnen, habe ich den Reflexionen Wittgensteins entnommen. 39 In den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie diskutiert Wittgenstein die Paraphrasen und stößt dabei auf eine der eben dargestellten Sinnbeziehung der Wörter auf Welt sehr ähnliche Beziehung, die er als interne bezeichnet: 854. Die Trauer dem bleigrauen Himmel ähnlich?! Und wie kann man das herausfinden? Indem man den Trauernden und den Himmel betrachtet? Oder sagt es der Trauernde? Und ist es dann nur für seine Trauer wahr, oder für die Trauer eines Jeden? 855. Wenn aber nun Einer sagt, seine Trauer gleiche einer grauen Wolke, – soll ich es glauben, oder nicht? – Man könnte ihn fragen, ob sich die beiden in etwas gleichen, in einer bestimmten Hinsicht. (Wie z. B. zwei Gesichter; oder wie ein plötzlicher starker Schmerz einem Aufflammen.) Man kann Beziehungen – interne Beziehungen und Zusammenhänge – dessen angeben, was man bei verschiedenen Eindrücken ›Intensitäten‹ nennt.40 Der Inhalt der Paraphrase ist, wie die Sinnbeziehung des Wortes auf Welt, weder psychologisch (als seine Trauer) noch physisch (als 39

Ich verdanke die Anregung dazu einem Vortrag vom Jean-Jacques Rosat »Les paraphrases, images du langage et images de l’esprit« gehalten auf dem Kolloquim des Collège de France »Wittgenstein: les images de l’esprit«, 10. und 11. April 2008, Paris. 40 Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Band I. Bemerkungen I-I.137, in: Werkausgabe Band 7, Frankfurt/Main 1984, S. 158.

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Ähnlichkeitsbeziehung des Wortes mit der Welt, hier der Trauer mit dem bleigrauen Himmel) erklärbar. Oder wie es Jean-Jacques Rosat in seiner Interpretation Wittgensteins sagt: »[…] die Adäquatheit der Paraphrasen, mit dem was sie beschreiben, ist ausschließlich aus dem geteilten Gefühl ihrer Richtigkeit (Genauigkeit, Schärfe) als Ausdrücke begründbar«. 41 Die Beziehung zwischen den Paraphrasen und der Welt, kann wie die zwischen den Wörtern und der Welt nicht erklärt werden, deshalb ist sie intern. Wittgenstein sagt dies auf seine Weise: 853. […] Man stellt die Freude dar durch ein lichtumflossenes Gesicht, durch Strahlen, die von ihm ausgehen. Natürlich heißt das nicht, daß Freude und Licht einander ähnlich sind; aber wir assoziieren – gleichgültig warum – die Freude mit dem Licht.42 In diesem gleichgültig warum besteht m. E. der Kern der inneren Beziehung. Gleichgültig warum die von mir gelebten problematischen Lebenssituationen mit dem französischen Adjektiv dur verbunden werden, es ist Fakt, dass sie von den Sprechern dieser Sprache mit diesem Wort assoziiert werden. Diese Beziehung zwischen Wort und Welt ist im geteilten Gefühl der Richtigkeit des Ausdrucks begründet und das heißt auch sie kann nur erfahren, sie kann nur beim Gebrauch der Sprache wahrgenommen und über diese Wahrnehmung »unmittelbar verstanden« werden. Damit führt uns diese kurze Diskussion von Sprache direkt zum Problem des Ausdrucks zurück. II.2 Sprache als Medium Goldstein vergleicht die Welt, die beim Benutzen der Wörter aufscheint, mit einer beseelten, von Geistern bevölkerten Welt. Die affektiven Bezugswendungen zum Präsenten hin, die Bühler als Ausdrucksphänomene diskutiert, rufen ebenfalls die Geister auf, 41

Rosat, »Les paraphrases«, S. 1. Wittgenstein, Philosophie der Psychologie, S. 157. (Benjamins Ähnlichkeitskonzept)

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welche die Welt für das Subjekt bevölkern, so wie die Verwendung eines Wortes den Sinn anmahnt, der das Wort mit der Welt verbindet. Diese beseelte Welt ist im Ausdruck inkorporiert, in der Körperbewegung, in der Mimik vollkommen sichtbar, in den Wörtern enthalten und gleichzeitig ist sie unsichtbar, denn sie ist verborgen durch die Evidenz der körperlichen und physischen Merkmale des Ausdrucks und der Wörter. Sie erscheint als Welt nur im aktuellen Erlebnis des Ausdrückenden, wie der Sinn des Wortes nur im momentanen Denken des Sprechenden erscheint. Sowohl Sprache wie auch Ausdruck existieren also in einer Beziehung auf Welt, die einen ganz besonderen Charakter hat, sie ist durch eine ursprüngliche Intentionalität charakterisiert, die wie Plessner und Buijtendijk zeigen, schon im Bereich der Lebwesen anzutreffen ist. Das Funktionieren von Sprache und Ausdruck setzt solch eine Intentionalität voraus, wobei das voraus hier gerade nicht zeitlich zu verstehen ist. Denn diese Intentionalität wird konstituiert im Moment des Sprechens und des Denkens selbst, existiert also ausschließlich in aktueller Form, in der unmittelbaren Beziehung des Sprechenden und des Ausdrückenden auf Welt. Sie setzt gerade kein Objekt voraus in bezug auf das eine Beziehung hergestellt wird, wie dies oft beim Benutzen des Intentionalitätsbegriffs suggeriert wird. 43 Und diese Charakteristik von Sprache und Ausdruck, Intentionalität zu konstituieren, d. h. Welt als Gegenstand einer vorerfahrungsmäßigen Wahrnehmung zu präsentieren, hat auch in die Definition von Sprache Eingang gefunden. Man findet sie in der Identifizierung der Sprache mit einem medialen Gerät, so wie Bühler sie, fast nebenbei, in der Sprachtheorie vorschlägt: »[…] das sprachliche Darstellungsgerät gehört zu den indirekt Darstellenden, es ist ein mediales Gerät, in welchem bestimmte Mittler als Ordnungsfaktoren eine Rolle spielen. Es ist nicht so in 43

Siehe zum hier nur angedeuteten Begriff der Intentionalität Mulligan, der eine ganz spezifische Verwendung dieses Begriffs in der so genannten österreichischen Philosophie aufzeigt, zu deren Vertretern er übrigens auch Bühler zählt. Kevin Mulligan: »De la philosophie autrichienne et de sa place«, in: Jean-Pierre Cometti/Kevin Mulligan: La philosophie autrichienne de Bolzano à Musil. Histoire et actualité, Paris 2001, S. 13–17.

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Janette Friedrich

der Sprache, daß die Lautmaterie kraft ihrer anschaulichen Ordnungseigenschaften direkt zum Spiegel der Welt erhoben wird und als Repräsentant auftritt, sondern wesentlich anders. Zwischen der Lautmaterie und der Welt steht ein Inbegriff medialer Faktoren, stehen (um das Wort zu wiederholen) die sprachlichen Mittler, steht z. B. in unserer Sprache das Gerät der indogermanischen Kasus.« 44 Diese Bühlersche Feststellung, dass Sprache ein mediales Gerät ist und zu den indirekt Darstellenden gehört, kann in den Bereich des Ausdrucks übertragen werden. Ich habe versucht zu zeigen: die Beziehung zwischen dem sichtbaren Ausdruck (den Körperbewegungen und der Mimik) und der Welt ist nicht direkt. Sie ist vermittelt durch die im aktuellen Erlebnis wahrgenommene beseelte Welt, durch die Welt also, an welche die affektiven Bezugswendungen sich wenden und damit von ihrer Existenz sprechen. Es ist dieselbe Welt in der, Buijtendijk und Plessner zufolge, es einen Einklang von Lebewesen und Welt gibt. Und diese Welt verdankt ihre Wahrnehmung bestimmten Mittlern, z. B. der Prägnanz (dem geteilten Gefühl der Richtigkeit) im Bereich des Ausdrucks oder dem indogermanischen Kasussystem bei der sprachlichen Darstellung. Ich empfehle also Bühlers Vergleich der Sprache mit einem Medium ernst zu nehmen und zwar in seiner spiritualistischen Interpretation. Ein Medium, das in seinen Aktionen mit Hilfe bestimmter »Mittler« den an der spiritualistischen Sitzung Teilnehmenden eine Welt präsent macht, wahrnehmbar macht, die »jenseits der Welt existiert«. Ich habe versucht zu zeigen, dass die Produktion solch einer präsenten, unmittelbar wahrnehmbaren, »beseelten«, Welt den Ausdruck auszeichnet. Für Bühler ist diese Art von Präsenzproduktion jedoch charakteristisch für die Sprache im Ganzen. 45 Dass dies auf eine andere Weise beim Darstellen als beim 44

Bühler, Sprachtheorie, S. 151. Es ist kein Zufall, dass Bühler einem seiner der Sprache gewidmeten Texte den Titel gibt: »Das Ganze der Sprachtheorie, ihr Aufbau und ihre Teile«, in: Gustav Kafka: Bericht über den XII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1931, Jena 1932, S. 95–112.

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Das Erleben von Ausdruck – Einfühlung oder Zeichen?

Ausdrücken passiert, unterscheidet die beiden, bedeutet aber nicht, dass Ausdruck nicht Sprache sei. Es erklärt vielmehr warum Ausdruck für Bühler schon in der tierischen Welt existiert, in der die Darstellung keinen Platz hat, und gibt somit der Sprache in der Welt der Lebewesen einen wirklichen Platz. Der Beweis, dass der Ausdruck wie die Darstellung vom Funktionieren der Sprache als medialem Gerät zeugt, schließt andererseits den Ausdruck zweifelsfrei in die sprachlichen Phänomene ein. Damit hätte ich die von mir versuchte Ableitung abgeschlossen. Es fehlt noch die Antwort auf die im Titel gestellte Frage: Das Erleben von Ausdruck – Einfühlung oder Zeichen? Sie lautet: weder – noch. Ausdruck ist das aktuelle Erleben der Welt jenseits der scheinbar immer schon erfahrenen, verstandenen, begriffenen Welt, ein Erleben, das sich in einer sichtbaren Bezugswendung auf Präsentes hin manifestiert und versinnlicht. Und damit ist Ausdruck vor jedem Verstehen durch Einfühlung oder Zeichen wesentlicher Bestandteil der lebendigen Beziehung des Individuums auf Welt. Ausdruck ist vielleicht genau das, was es ermöglicht, auch die sprachlich vermittelten Beziehungen auf Welt als lebendige und eben nicht nur als zu verstehende zu erfassen.

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Magnus Schlette

Kreativität der Artikulation Über Ausdruck und Verstehen in praktischen Selbstverhältnissen

Die meisten von uns Menschen scheinen ein Bewusstsein ihrer Besonderheit und Unverwechselbarkeit zu haben. Ich denke nicht nur an diejenigen, die miteinander Schach ohne Brett spielen können oder die uns beim 5000-Meterlauf immer schon von der Ziellinie aus zuwinken, während wir anderen uns noch durch die vorletzte Kurve quälen. Ich denke auch und vor allem an diejenigen unter uns, die kaum etwas tun, das andere nicht so oder ähnlich auch tun. Ich denke an alle Menschen, die in dem Tableau des normalen Lebens zu verschwinden scheinen, anstatt aus ihm herauszustehen wie ein prunkender oder rebellierender Farbtupfer. Das Bewusstsein, ein besonderer Mensch zu sein, verrät sich meines Erachtens in der stillen Hoffnung, geliebt oder geschätzt zu werden – um unserer selbst willen. Es ist nicht zuletzt die Hoffnung darauf, dass der Andere uns in unserer Besonderheit gleichsam erkenne. Wir hegen diese Hoffnung in der Gewissheit, dass sie einen Grund in uns selbst hat, auch wenn wir uns natürlich keineswegs gewiss sind, dass sich das Erhoffte tatsächlich einstellt. Der Grund in uns selbst ist das Bewusstsein unserer Besonderheit. Wir hoffen nicht schuldbewusst und verstohlen auf Liebe und Wertschätzung, sondern mit einer Unbefangenheit, die uns das Gefühl eines Anrechts auf diese Hoffnung schenkt. Wir hoffen sozusagen selbstbewusst. Diese Hoffnung wird nicht zuletzt dann enttäuscht, wenn wir erfahren, dass die Zuneigung von Menschen, die uns etwas bedeuten, gerade nicht uns selbst, sondern beliebigen unserer Eigenschaften gilt. Warum enttäuscht uns das, warum machen wir soviel des Aufhebens um uns selbst, obwohl wir doch wissen, dass es im Grunde genommen gar nicht so weit her ist mit uns? Aber auch dann, wenn wir uns gelegentlich verwundert fragen, womit wir uns eigentlich die 114 © Verlag K

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Zuneigung, die offenbar uns selbst gilt, verdient haben, zweifeln wir nicht wirklich daran, ob es uns zusteht, dass wir uns ihr öffnen. Wir stellen dann vielmehr nur unsere Ratlosigkeit fest, was an uns sie eigentlich erweckt hat. Und das ist wiederum bezeichnend. Wir wissen offenbar gar nicht so genau, wer wir selbst sind, die doch offenkundig um ihrer selbst willen geliebt oder geschätzt werden. Kein Zweifel, es ist häufig ein Rätsel, was das Besondere an uns selbst gerade auch dann ist, wenn wir nichts Besonderes tun, uns nichts Besonderes begegnet und wir schon gar nicht etwas Besonderes, sondern eben nur wir selbst sind. Allerdings kann uns keine philosophische Überlegung bei der Lösung dieses Rätsels helfen. Wer daran interessiert ist, sollte besser seine Freunde konsultieren. Philosophisch wird die Frage danach, wer ich selbst bin, erst dann, wenn sie erfragt, was es heißt, zu einer Spezies zu gehören, die sich wesentlich dadurch auszeichnet, dass die ihr zugehörigen Individuen ein Bewusstsein ihrer Eigentümlichkeit, ihrer Besonderheit, dass sie Selbstbewusstsein in diesem spezifischen Sinne haben. Das ist eine Frage nach der qualitativen Bedingtheit dieses Selbstbewusstseins durch etwas, das uns als Menschen unbeschadet aller kulturellen und geschichtlichen Unterschiede auszeichnet. Die folgenden Überlegungen sollen zu einer Antwort auf diese Frage beitragen. Dabei lasse ich mich von unserer alltagssprachlich ganz unproblematischen Verwendung des Pronomens ›selbst‹ führen. Es wird von uns allen nämlich unter anderem auch benutzt, um damit das Bewusstsein unserer Eigentümlichkeit zu artikulieren. I. Der Sinn von ›selbst‹ Das Selbst ist ein bevorzugter Gegenstand philosophischen Nachdenkens. Und es ist zwar kein Geheimnis, dass sich der Selbstbegriff einer Substantivierung des alltagssprachlich gebräuchlichen Pronomens ›selbst‹ verdankt, aber daraus hat erstaunlicherweise bisher niemand die Konsequenz gezogen, sich dem Sinn von ›Selbst‹ über den Verwendungssinn des Pronomens anzunähern. Es zeigt an, dass ein bestimmter Sachverhalt von dem Referenten eines dem Pronomen voranstehenden Eigennamens, Nomens oder Personalpro115 © Verlag K

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nomens ausgesagt wird. Dieser Wortgebrauch ist grundsätzlich in folgenden drei Verwendungszusammenhängen üblich: erstens dann, wenn eine Verwechselung des Referenten möglich ist und vermieden werden soll (›Der Kaiser selbst‹ bzw. ›er selbst – er höchstpersönlich, keine bevollmächtigten Gesandten – erschien zu den Verhandlungen.‹); ferner zweitens, wenn der Referent nicht (bzw. anders als) in einer bestimmten erwarteten bzw. erwartbaren Eigenschaft oder Rolle gemeint ist (›Der Schlawiner will das Boot selbst segeln‹ – er kauft es nicht, wie er stets behauptet, als liebender Vater zum Vergnügen seiner Kinder); und schließlich drittens, wenn der auf den Referenten bezügliche Sachverhalt ungewöhnlich ist, Staunen erregt und möglicherweise eben auch Zweifel erweckt (›Der kleine Mozart hat das Orchester selbst – kein anderer als dieser Knirps, allein, ohne Hilfe anderer!! – dirigiert.‹). In den ersten beiden Fällen dient das Pronomen der identifizierenden Zuschreibung von Sachverhalten, im dritten der expressiven Glaubwürdigkeitsversicherung des Sprechers, der als überraschend erlebte Sachverhalt habe sich tatsächlich so und nicht anders zugetragen. Alle drei Verwendungsweisen sind auch in Kombination mit dem Personalpronomen in der ersten Person gebräuchlich. Entweder bezeuge ich zur Vermeidung von Vieldeutigkeit, tatsächlich derjenige zu sein, auf den ein bestimmter Sachverhalt zutrifft, oder ich konstatiere, dass dieser Sachverhalt auf mich anders als in der im sprachpraktischen Zusammenhang erwartbaren oder erwarteten Hinsicht zutrifft, oder ich drücke die Außerordentlichkeit eines auf mich bezüglichen Sachverhaltes aus und versichere mein Gegenüber der Glaubwürdigkeit meiner Aussage; der Authentizitätsjargon kennt für den dritten Fall auch die Redeweise ›Ich habe das echt gemacht‹ ›Es ist mir echt passiert‹, ›Ich habe das echt erlebt‹ usw. Ich werde meine folgenden Überlegungen auf diesen zuletzt genannten Typus von Verwendungsfällen beschränken, also auf den Sinn von expressiven Glaubwürdigkeitsversicherungen, durch die ich die Außerordentlichkeit eines auf mich bezüglichen Sachverhaltes ausdrücke und diesen gegenüber Dritten gleichsam authentifiziere. In diesen Fällen artikuliere ich eine subjektive Bedeutsamkeitserfahrung, die auf Ausdruck, Darstellung, Mitteilung und – vermittels ihrer Mitteilung – auf Anerkennung drängt. Ihre Pointe 116 © Verlag K

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besteht darin, dass etwas jeweils mir wichtig ist, ich mir aber in der Gewahrung dieser Bedeutsamkeit für mich nicht gegenständlich werde. Die expressive Verwendung von ›selbst‹ drückt vielmehr eine Art Selbstgegenwärtigkeit im Vollzug von Tätigkeiten bzw. im Bewusstsein von Gegenständen, Situationen oder Zuständen aus, die mir bedeutsam sind. Und die subjektive Bedeutsamkeit ist in der Perspektive der ersten Person auf diese Tätigkeiten, Gegenstände, Situationen oder Zustände fundiert. Gegenwärtigkeitsbewusstsein ist also der allem Erleben eigentümliche vorintentionale und unthematische Aspekt des Selbstbewusstseins, der mir als das Bewusstsein zugänglich wird, von dem Erlebten unmittelbar – gleichsam im Augenblick – betroffen zu sein. Die expressive Verwendung des Pronomens ›selbst‹ klärt uns über unser Selbstbewusstsein im Sinne dieses Gegenwärtigkeitsbewusstseins auf. Nehmen wir zum Beispiel an, ein neunjähriges Kind kehrte mit den Großeltern von einem Ausflug ins Legoland nach Hause zurück und platzte nun mit der Ungeheuerlichkeit heraus, es habe den Nachbau Amsterdams ausschließlich aus Legosteinen selbst gesehen. Eine solche Äußerung könnte sinngemäß auch durch Sätze wiedergegeben werden, in denen kein Selbstbezug enthalten ist. Es könnte Sätze äußern wie ›Da gibt es Kanäle mit echtem Wasser, und da fahren so viele Schiffe, die sind alle aus Legosteinen‹. Sinngemäß könnte es auch sagen: ›Ich habe selbst gesehen, dass es dort Kanäle gibt, in denen Schiffe aus Legosteinen fahren‹. Die Expressivitätspartikel können also durch Konstruktionen mit der expressiven Verwendung von ›selbst‹ sinngemäß substituiert werden (und natürlich kann auch beides kombiniert werden). Die Substituierbarkeit der genannten Beispielsätze zeigt die Ineinanderverwobenheit der intensiv erlebnishaften Gewahrung von Welt oder einzelnem in ihr und die Gegenwärtigkeit des Erlebenden im Augenblick des Erlebens an. Im Übrigen zeigt das Beispiel, dass Erlebnisse im Bemühen ihrer Schilderung erneut evoziert werden und mit ihnen die Gegenwärtigkeit meiner selbst im Erleben. In solchen Fällen stellen wir zumeist fest, dass die Schilderung uns beschwingt. Es ist nun überaus interessant, was uns daran eigentlich beschwingt. Jedenfalls werden wir keinesfalls in Schwingung versetzt, wenn während unseres Ringens um Worte ständig das Handy klingelt oder der Zu117 © Verlag K

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hörer pausenlos und verärgert den Kopf schüttelt. Die meisten von uns werden durch solche Umstände eher aus der Bahn geworfen, und am Ende haben wir dann das Gefühl, dass das Erlebnis, zu dessen Schilderung wir angetreten sind, sich uns im Fortgang immer weiter entzogen hat, bis von ihm schließlich nicht viel mehr übrig geblieben ist als ein kurzer Abschiedsgruß vor seiner Verflüchtigung in die Belanglosigkeit. Denn selbst daran, es tatsächlich gehabt zu haben, können wir unter der Einwirkung einer störungsfreudigen Umwelt noch zweifeln. Vielleicht war ja alles gar nicht so himmelhochjauchzend, wie wir uns zu erinnern glaubten. Wie anders geht es uns aber, wenn uns wohlwollende Aufmerksamkeit zuteil wird! Was dann geschieht, hat Heinrich von Kleist in einer kleinen Notiz »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« pointiert. »Der Franzose sagt«, so Kleist, »l’appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l’idée vient en parlant.« 1 Der Jurist Kleist berichtet, wie er oft an seinem Geschäftstisch über den Akten sitze und in einer verwickelten Streitsache den Gesichtspunkt erforsche, aus welchem sie beurteilt werden müsse. »Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne sagte […] Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt […]. Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, dass die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist.« 2 Aber wie kommt hierbei nun die Schwester als Hebamme der Gedanken ins Spiel? Nun, sie 1

Heinrich v. Kleist: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: ders.: Sämtliche Werke, München 1982, S. 880. 2 Ebd.

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ermuntert Kleist durch ihre ungeduldige Erwartung, die seinen Gestaltungswillen hochspannt und seinem Gemüt die Rede förmlich zu entreißen scheint. »Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen halbausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganze andere Hälfte desselben.« 3 Die in Kleists Überlegungen zwar nicht ausdrücklich formulierten, aber implizit mitlaufenden sprachphilosophisch einschlägigen Generalthesen lauten, dass Sprache qua Sequentialität und Konventionalität der Bedeutungsgenese die Prägnanzbildung dunkler Vorstellungen leistet, und dass die Prägnanzbildung von Vorstellungen sich in spezifischen pragmatischen Kontexten vollzieht, die – insofern sie das Vorstellungssubjekt affektiv bestimmen – ihr nicht äußerlich bleiben, sondern sie beeinflussen. Kleists beiläufig anmutender Denkanstoß ist deshalb innovativ, weil er einerseits die unteren und oberen Erkenntnisvermögen zu Momenten innerhalb eines – avant la lettre – hermeneutischen Erschließungsprozesses dynamisiert, und diesen andererseits als genuin performative Sinnbildung begreift. Dass die Sprache der Prägnanzbildung dunkler Vorstellungen diene, greift auf die zur Zeit Kleists gebräuchliche Konzeptualisierung der sinnlichen und der begrifflichen (logischen) Erkenntnis zurück. Dunkel sei ein Begriff, so schreibt etwa Leibniz, der nicht genüge, die dargestellte Sache wiederzuerkennen, 4 zum Beispiel eine Blume, ein Tier, derer ich mich erinnere, von denen ich aber keine Vorstellung habe, die klar genug wäre, um das Vorgestellte wiederzuerkennen oder von Ähnlichem zu unterscheiden, d. h. zweifelsfrei zu reidentifizieren. Ist die Vorstellung dagegen klar, dann kann sie doch immer noch verworren sein, wenn ich sie nämlich zwar wiederzuerkennen und von anderem zu unterscheiden vermag, aber nicht die Merkmale einzeln aufzählen könnte, die zur Unterscheidung der fraglichen Sache von anderen 3

Ebd., S. 881. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: »Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen«, in: ders.: Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, hg. v. Herbert Herring, Stuttgart 1995, S. 422 f.

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notwendig sind, obschon sie diese Merkmale objektiv besitzt. So verhält es sich mit Farben, Gerüchen, Geschmäcken und anderen Qualitäten, die uns erlebnishafte Vorstellungen von der Welt vermitteln. Wir können sie durch ein einfaches Zeugnis der Sinne, nicht aber durch begrifflich angebbare Merkmale identifizieren. Dunkle wie verworrene Begriffe sind also vorbegriffliche Vorstellungen, die dunklen nichts anderes als sinnlich undifferenzierte, die klaren, aber verworrenen zwar sinnlich differenzierte, aber immer noch undeutliche Vorstellungen. Der rationalistischen Schulphilosophie zufolge sind die dunklen und die verworrenen Vorstellungen allemal defizitär gegenüber den deutlichen. Gleichwohl enthalte das, was im ästhetischen Eindruck nur dunkel und unentwickelt liegt, gleichsam eine promesse du bonheur, so Leibniz, die freilich erst von der begrifflichen Erkenntnis erfüllt werde. 5 Kleist greift den Gedanken des Glücksversprechens auf, das in den dunklen Vorstellungen schlummere, nur interpretiert er dessen Einlösung völlig anders. Ist sie für Leibniz ein Wissen qua Repräsentation von auch vorstellungsunabhängigen Sachverhalten, so für Kleist die individuelle Mitteilung qua Expression der Vorstellungen, zu denen ich angeregt werde; steckt für Leibniz das Glück im Resultat der Repräsentation, so für Kleist im Vollzug der Expression, denn in ihm erfahre ich das Passungsverhältnis von Vorstellung und Sprache als Überwindung der Widerstände, die der Versprachlichung der Vorstellung entgegenwirken. Kleists Text macht deutlich, dass erlebnishafte Zustände durch ihre Versprachlichung eine Prägnanzbildung erfahren, die es erlaubt, ihren Gehalt zu identifizieren und erneut erlebnishaft zu evozieren. Sprachpragmatisch handelt es sich dabei nicht um Prozesse der retrospektiven Zuschreibung von Eigenschaften an das jeweilig Erlebte, sondern um die Expression dieses Erlebens. Sie besitzt – sofern es sich um keine holophrastische Lautproduktion, sondern um eine intendierte Ausdrucksgestalt handelt – einen der sequentiellen Struktur von Sprache entsprechenden sequentiellen Charakter,

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Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1916, S. 102 f.

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und sie hat ein prinzipiell offenes, also anfänglich nicht antizipierbares Ende oder Ergebnis. Die Implikationen von Kleists Überlegungen sind eine Dekade nach seinem Tod von Wilhelm von Humboldt sprachwissenschaftlich erfasst worden. Und Humboldt reserviert dafür den Begriff ›Artikulation‹, unter dem er deutlich mehr versteht als – dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts entsprechend – die konsonantische Lautproduktion. 6 Im Rekurs auf Humboldts Sprachphilosophie können wir das anhand des Kleistzitates entwickelte Argument präzisieren, dass – mit einem Wort Saussures – die parole das Medium ist, in dem Erlebnisgehalte einschließlich der Kopräsenz unserer selbst im Erleben begrifflich prägnanzbildend artikuliert werden. Wiederholt betont Humboldt, Sprache sei wesentlich gesprochene Sprache und die Schrift davon abkünftig, oder, wie es einmal heißt, eine mumienartige Aufbewahrung. 7 Auf die naheliegende Frage, warum das so ist, gibt er in einer Rede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften Auskunft, die von der metasprachlichen Funktion der Buchstabenschrift handelt. Darin heißt es, die Buchstabenschrift vermittle eine Einsicht in die Gliederung der Sprache und wenig später, dass Gliederung das Wesen der Sprache sei. Nichts gehöre ihr an, das nicht Teil und Ganzes sein könne, also sowohl der Zusammensetzung getrennter Elemente diene, als auch seinerseits wiederum ein Element in einem größeren Zusammenhang sei, in den es systemisch integriert ist. 8 Die Buchstabenschrift macht mithin den Aufbau der Sprache von den bedeutungsunterscheidenden über die verschiedenen Ebenen der bedeutungstragenden Elemente und Sequenzen deutlich, die später Gegenstand phonetischer, morphologischer, semantischer und textlinguistischer 6

Vgl. Jürgen Trabant: Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt/Main 1998, S. 68 f. 7 Wilhelm v. Humboldt: »Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts«, in: ders., Gesammelte Schriften, im Auftrag der (Königlich) Preußischen Akademie der Wissenschaften hrsg. v. Albert Leitzmann u. a., Berlin 1903 ff., Bd. VII, S. 45. 8 Wilhelm v. Humboldt: »Ueber die Buchstabenschrift«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 121 f. Vgl. Trabant, Artikulationen, S. 80–82.

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Teildisziplinen der Sprachwissenschaft werden. Das Vermögen der Sprache zur Gliederung ihrer Elemente qua Teilung und Zusammensetzung erfolgt darüber hinaus nach konstitutiven Regeln, deren sprachpraktische Befolgung sich als Algorithmus vollzieht. 9 Gleichwohl betont Humboldt, dass die algorithmische Generierung regelgeleiteter sprachlicher Sequenzen ein schöpferischer Akt sei. 10 Der Grund liegt darin, dass der Sprecher an jeder Verknüpfungsstelle sprachlicher Elemente die Auswahl zwischen einer Vielzahl ebenfalls regelgeleiteter Anschlussmöglichkeiten besitzt und folglich durch die Freiheit der Kombination sowohl die Kreativität des Sprechers wie die prinzipiell undeterminierbare Zukunftsoffenheit der Sprache sichergestellt ist. 11 Nach einer berühmten Formulierung Humboldts ist die Sprache das bildende Organ des Gedankens, 12 dabei steckt in dem Satz sogar nur die halbe Wahrheit. Ebenso gut könnte man – im Sinne Humboldts – sagen, die Sprache sei das bildende Organ der Vorstellungen. Im ersten Fall wird das Resultat des Bildungsprozesses betont, im zweiten dessen Initiator, der durch innere oder äußere Reize verursacht ist. Von diesen Vorstellungen gilt, dass sie im Vollzug ihrer Artikulation an Prägnanz gewinnen, die sie schließlich zum Gedanken oder zur Idee, d. h. zu einem begrifflich identifizierten Gehalt läutern. So gilt laut Humboldt vom Begriff der Gliederung, dass er die logische Funktion der Sprache, wie die des Denkens selbst sei. 13 Besonders wichtig für unseren Zusammenhang ist Humboldts Antwort auf die Frage, warum überhaupt Vorstellungen ihre Versprachlichung initiieren sollen. Der Grund dafür sei, dass der »Drang seiner Seele« den Menschen zur Artikulation nötige. 14 Laut Humboldt verschränkt die Artikulation Laut- und Be9

Vgl. ders.: »Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 4. 10 Vgl. ders.: »Ueber die Verschiedenheit«, S. 211. 11 Ebd., S. 57 f. 12 Ebd., 53. 13 v. Humboldt, »Ueber die Buchstabenschrift«, S. 122. 14 Ders.: »Ueber die Verschiedenheit«, S. 65. Diese Worte erinnern an Herders Fundierung der Sprachentstehung in der expressiv-referentiellen Doppelfunktion

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deutungsbildung im Vollzug eines individuellen Ausdrucksbedürfnisses. Die Stimme geht als lebendiger Klang, »wie das athmende Dasein selbst« aus der Brust hervor, begleitet »Schmerz und Freude, Abscheu und Begierde« und »haucht also das Leben, aus dem sie hervorströmt, in den Sinn, der sie aufnimmt«. 15 Folgerichtig fährt er fort, dass die Sprache mit dem dargestellten Objekt zugleich auch die durch es hervorgebrachte Empfindung wiedergebe. Die Artikulation dient dem Ausdruck des Erlebens, dessen Gehalt dadurch explizite sprachliche Prägnanz gewinnt; referentieller Welt- und expressiver Selbstbezug sind in der Artikulation ineinander verschränkt. In der Doppelseitigkeit von gegliederter Laut- und Bedeutungsproduktion sind Artikulationen zugleich bestimmend und bestimmt; sie sind bestimmend, denn sie heben den Gehalt der Vorstellungen aus der schillernden Vorbegrifflichkeit des Erlebnisaugenblicks und legen ihn auf eine objektive Bedeutung fest, auf die sich nicht nur der Sprecher sondern auch Dritte beziehen können und die insofern das private Erleben veröffentlicht; sie sind bestimmt, weil diese Bedeutung eine Funktion des grammatischen, semantischen und pragmatischen Gesamtzusammenhanges der Sprache ist. Jeder muttersprachliche Sprecher einer bestimmten gesprochenen Sprache kann daher intuitive Angemessenheitsurteile über die Bedeutung der Artikulationen Dritter abgeben, auch wenn er niemals wissen kann, wie es wäre, als der andere das artikulierte Erlebnis gehabt zu haben. Die besagte Doppelseitigkeit der Artikulation ist auch der Grund eines Widerstreits in der Seele, wie Humboldt sagt. Die Sprache sei nämlich der Seele der Sprache. Herder spekuliert, die Sprache sei als empfindsame – daher expressive – Nachbildung von Sinnesempfindungen entstanden: »Er (der Mensch – M. S.) erkannte das Schaf am Blöken […] seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblökt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte und wiedergeblökt, da sie ihn daran erkannte – die Sprache ist erfunden!« [Siehe Johann Gottfried Herder: »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, in: ders: Werke in zwei Bänden, hrsg. v. Karl-Gustav Gerold, Bd. 1, München 1953, S. 756. Vgl. Jürgen Trabant: »Vom Schrei zur Artikulation«, in: Magnus Schlette/Matthias Jung (Hrsg.): Anthropologie der Artikulation. Begriffliche Grundlagen und transdisziplinäre Perspektiven, Würzburg 2005, S. 67.] 15 v. Humboldt, »Ueber die Verschiedenheit«, S. 54 f.

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zugleich fremd wie ihr angehörend, d. h. sie ermögliche dem Individuum, sein phänomenal ihm eigentümliches qualitatives Erleben auszudrücken und mitzuteilen und erfahre im Vollzug dieses Ausdrucks gleichsam die Entfremdung des Privaten, sofern es nun in dem intersubjektiv geteilten Raum der Bedeutungen entäußert wird. 16 Der Widerstreit bedarf nur deshalb nicht der Auflösung, weil er kreativ ist. Denn keine Gattung der Vorstellungen, so Humboldt, könne als ein bloß empfangendes Beschauen eines schon vorhandenen Gegenstandes betrachtet werden. Der Begriff der Vorstellung kann in Humboldts Formulierung zwanglos im Sinne der dunklen und verworrenen Vorstellungen ausgelegt werden, die sich Kleist zufolge im Vollzug des Sprechens zu Ideen verdeutlichen. Für diesen Prozess gilt dann laut Humboldt dreierlei: Erstens sind Vorstellungen keine bloßen Spiegelungen der Welt in uns oder Bündel unterschiedlicher Perzeptionen, sondern bereits subjektive Gestaltbildungen; zweitens werden diese – durch den »Drang der Seele« nach affektivem Ausdruck und nach Mitteilung an Dritte – vermittels der doppelten Artikulation von Laut- und Bedeutungsbildung objektiviert; und drittens wirken die sprachlichen Objektivationen auf die Vorstellungstätigkeit zurück.17 II. Sich-zu-sich-Verhalten Die in der Auseinandersetzung mit Kleist und Humboldt entwickelten Überlegungen zum Hintersinn unserer expressiven alltagssprachlichen Verwendung des Pronomens ›selbst‹ können nun zwanglos zu einer Konzeption des Sich-zu-sich-Verhaltens fortgeführt werden, die auf den Begriff bringt, was es heißt, zu einer Spezies zu gehören, deren Individuen ein Bewusstsein ihrer Eigentümlichkeit, ihrer Besonderheit, die Selbstbewusstsein in diesem spezifischen Sinne haben. Dazu möchte ich auf die Hermeneutik Wilhelm Diltheys zurückgreifen, deren für unser Thema einschlägige Einsichten mit denjenigen Humboldts durch den Artikulati16 17

v. Humboldt, »Ueber die Verschiedenheit«, S. 63. Ebd., S. 55.

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onsbegriff verbunden werden können. Aber während sich Humboldts Artikulationsbegriff stark an der linguistischen Begriffsverwendung im Sinne der konsonantischen Lautbildung orientiert, die er zwar auf einen Begriff der doppelten Artikulation hin übersteigt, ohne aber das Reich der sprachlichen Ausdrucksbildung zu verlassen, fasst Dilthey unter ›Artikulation‹ schlechthin alle denkbaren Phänomene des Erlebnisausdrucks zusammen: »Die Struktur und Artikulation des Lebens ist überall, wo psychisches Innen auftritt, sonach in der ganzen Tier- und Menschenwelt dieselbe.« 18 Diltheys Artikulationsbegriff ist also offenkundig zu weit gefasst, um die Ausdrücklichkeit des Menschen als eine spezifisch menschliche Weise des Sich-zu-sich-Verhaltens zu qualifizieren; »das Leben artikuliert sich« 19 , schreibt Dilthey, gewiss, aber wie artikuliert sich der Mensch im Bemühen um die lebenspraktische Prägnanzbildung seiner Erlebnisgehalte? Immerhin: Diltheys Begriffsverwendung zufolge setzt Artikulation notwendig eine Weise des Für-sichseins im Sinne vorprädikativer Selbstgewahrung voraus. Die ist gemeint, wo er unter Rückgriff auf die irreführende, weil dualistisch anmutende Raummetaphorik des Inneren und Äußeren Artikulationen als Ausdruck eines »psychischen Innen« als solchen bestimmt. Und wir können erproben, in welchem Sinn wir Diltheys Diktum, dass das Leben sich artikuliere, auslegen müssten, damit es uns zu einer für unser Thema einschlägigen Konzeption des artikulatorischen Sich-zu-sich-Verhaltens führt; und dann müssen wir prüfen, ob diese Auslegung durch Diltheys Philosophie gedeckt ist. Die Artikulation des menschlichen Lebens unterscheidet sich, wie schon Dilthey betont, und woran wenige Jahrzehnte später Helmuth Plessner und George Herbert Mead anknüpfen werden, von den Artikulationen der nicht-humanen Gattungen dadurch, dass der Mensch aus dem evolutionären Ausdruckskontinuum allen höheren Lebens heraustreten kann, indem er sich das Ausdrucksgeschehen als Medium der Selbstbekundung aneignet. Erst der 18

Wilhelm Dilthey: »Leben und Erkennen. Ein Entwurf zur erkenntnistheoretischen Logik und Kategorienlehre«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. XIX, Göttingen 1982, S. 345. 19 Ebd.

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Mensch macht aus dem Ausdrucksverhalten eine Tätigkeit, die im Vollsinne Intentionalität einschließt und sich dadurch signifikant vom unwillkürlichen Ausdruck unterscheidet. Unter Berücksichtigung dieses spezifisch menschlichen Aneignungsprozesses könnte es so scheinen, als ob wir den Sachverhalt, dass auch das Leben des Menschen sich artikuliert, wie folgt reformulieren dürften: ›Menschen artikulieren sich‹. Dann aber würden wir Diltheys metonymischer Formulierung »das Leben« nicht gerecht werden, deren Sinn in der Vermeidung des Missverständnisses liegt, mit der Verwendung des Reflexivpronomens würde eine reflexionslogische Selbstbeziehung angezeigt. Dilthey will dieses Missverständnis nicht nur deshalb vermeiden, weil seine Verwendung des Artikulationsbegriffs das biologische Ausdruckskontinuum umfasst und nicht-humane Lebewesen zu einer solchen Selbstbeziehung nicht in der Lage sind, sondern auch darum, weil der Mensch sich das Artikulationsgeschehen des ›Lebens‹ nicht etwa dadurch aneignet, dass er sich nun vermittels seiner Artikulationsmächtigkeit in einem reflexionslogischen Sinne auf sich selbst bezieht. Das Proprium der menschlichen Artikulation gegenüber der nichtmenschlichen besteht vielmehr in der Fähigkeit, sein Leben mit Bedacht – Herder würde von Besonnenheit sprechen – artikulieren zu können, und folgerichtig wird der Sachverhalt, dass auch das Leben des Menschen sich artikuliert, unter Umgehung der diltheyschen Metonymie allein in der folgenden Weise richtig paraphrasiert: ›Menschen artikulieren ihr Leben‹. Die Aufgabe besteht also jetzt darin herauszufinden, wie Dilthey den Sachverhalt, dass Menschen ihr Leben artikulieren, als Tatbestand eines Sich-zu-sich-Verhaltens expliziert, eines Sich-zu-sich-Verhaltens, das uns Aufschluss darüber gibt, was es heißt, zu einer Spezies zu gehören, deren Individuen ein unverbrüchliches Bewusstsein ihrer Besonderheit und Unverwechselbarkeit besitzen. Fündig werden wir in Diltheys Spätwerk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Darin befasst Dilthey sich unter anderem mit der Frage, auf welche Weise Geisteswissenschaftler einen Zugang zu Fremdpsychischen gewinnen, der von dem des Naturwissenschaftlers kategorial verschieden ist. Seine Antwort lautet, dass Menschen, ihre Zustände und Verhaltenswei126 © Verlag K

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sen als Gegenstand der Geisteswissenschaften nur gegeben sind, »sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden«. 20 Geisteswissenschaftlich zugänglich wird der Andere also erst dadurch, dass sein Ausdrucksverhalten mit dem des Geisteswissenschaftlers ein beiden gleichermaßen vertrautes Medium gemeinsam hat, in dem es sich gestaltet. Zur Bestimmung des Mediums, in dem das Fremdpsychische zugänglich wird, greift Dilthey in der Aufbauschrift auf Hegels Begriff vom ›objektiven Geist‹ zurück und versteht darunter zusammenfassend intersubjektiv zugängliche, historisch gewachsene Medien des Erlebnisausdrucks: das Gesamt an symbolischen Ordnungen, woraus die von Menschen gemachte Welt im Gegensatz zur natürlichen besteht. Der Geisteswissenschaftler kann also die intrinsischen Gehalte des Fremdverhaltens verstehen, sofern es sich in denselben symbolischen Ordnungen objektiviert, in denen seine eigenen Lebensvollzüge sich objektivieren. Soll die das Verhalten des Menschen kennzeichnende Triade aus Erleben, Ausdruck und Verstehen eine Antwort auf die Frage geben, wie der Sachverhalt, dass Menschen ihr Leben artikulieren, als ein Sich-zu-sich-Verhalten zu denken sei, dann muss Dilthey zeigen, dass das Selbstverhältnis des Menschen über das Ausdrucksglied innerhalb der triadischen Struktur des menschlichen Verhaltens vermittelt ist. Das ist auch seine Absicht. Er konstatiert, dass den Menschen »nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere … über sich selbst [belehren];« und Dilthey fährt fort: »so lernt er sich nur auf dem Umweg des Verstehens selber kennen«.21 Zumindest ist mit dem dritten Glied der Trias also auch das Sich-Verstehen gemeint. Sich-Verstehen ist demnach das Verstehen der Gehalte des eigenen Erlebnisausdrucks. Handelt es sich bei dem Mittelglied der Trias um individuelle Instanziierungen symbolischer Ordnungen, dann müsste daraus allerdings auch folgen, dass ich mich selbst 20

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/Main 1990, S. 98. 21 Ebd., S. 98 f.

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nicht besser verstehen kann als den Anderen und vice versa der Andere mich mindestens ebenso gut verstehen kann wie ich mich selbst. Das aber scheint in beiderlei Richtung nicht zu stimmen. Unsere Intuitionen sagen uns jedenfalls anderes und scheinbar Widersprüchliches: dass wir uns besser verstehen als den Anderen und ebenso, dass der Andere uns besser versteht als wir uns selbst. Dabei handelt es sich aber nur um einen Scheinwiderspruch, denn in den genannten Fällen verwenden wir das Wort ›verstehen‹ jeweils anders. Wenn wir nämlich sagen, dass wir uns selbst besser verstehen als andere das tun, meinen wir, dass Erlebtes sich nicht hat ausdrücken lassen bzw. in dem Ausdruck, den wir dafür finden, nicht aufgeht. Und wir haben häufig die Empfindung, dass wir unser Erleben vor dem Horizont dessen ausdrücken, was wir nicht, oder noch nicht oder nicht zugleich auch noch ausdrücken können. Was in solchen Fällen empfunden wird, ist schlechterdings nicht objektivierbar, allenfalls kann man sagen, dass ein diffuses Ungenügen empfunden wird. Dieses privilegierte Sich-Verstehen ist mithin gar kein Verstehen, sondern allenfalls eine qualitative Variante des zuständlichen Vertrautseins mit dem eigenen Erleben, das sich in seiner symbolischen Verdichtung nicht erschöpft. Sagen wir dagegen, andere würden uns besser verstehen als wir uns selbst, dann meinen wir, dass wir nicht über die gleiche Distanz zu unserem Ausdrucksverhalten verfügen, die andere haben, wenn sie unsere Erlebnisausdrücke deuten. Ob daraus folgt, dass andere uns besser verstehen können als wir uns selbst, bleibe dahingestellt. Das ist schwer zu beurteilen, zumal der Komparativ eine Vergleichbarkeit insinuiert, die trotz des gemeinsamen Verstehensmediums durchaus fraglich ist. Denn die unterschiedliche Distanz anderer und unserer selbst zu unserem Ausdrucksverhalten zeigt eine wesentliche Differenz zwischen Selbst- und Fremdverstehen an. Im Selbstverstehen sind Erlebnisausdruck und Ausdrucksverstehen intrinsisch miteinander verbunden. Nun haben Kleists Überlegungen zu der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden gezeigt, dass das auch beim Fremdverstehen der Fall ist. Signale des Gegenübers, ja schon die Erwartungen solcher Signale wirken auf die Ausdrucksbildung ein; wie ich eine Geschichte erzähle, hängt auch vom Verhalten meines 128 © Verlag K

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Gegenübers ab. Und doch ist der Unterschied offensichtlich: Im Selbstverstehen sind Ausdrucks- und Verstehenssubjekt identisch, und die Tätigkeiten dieses Subjekts, nämlich Ausdruck und Deutung, treten in eine rasche Wechselwirkung miteinander. Wir können die Eigenart des Selbstverstehens daher nur dann erfassen, wenn wir berücksichtigen, dass Diltheys Triadisierung des Sich-zusich-Verhaltens keineswegs im Sinne der kausalen Verknüpfung diskreter Glieder verstanden werden soll; Erlebnis, Ausdruck und Verstehen stoßen nicht einander an wie Billardkugeln und folgen nicht aufeinander wie die Wagons eines Güterzuges. Sie ist vielmehr als analytische Differenzierung von Aspekten einheitlicher geistiger Prozesse zu verstehen. Sie trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass die Rezeptivität des Erlebens und die Spontaneität von Ausdrucksbildung und Verstehensvollzug ineinander verschränkt sind. Erinnern wir uns an dieser Stelle an Diltheys meistzitierten Satz aus der Vorrede der Einleitung in die Geisteswissenschaften: »Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen […].« 22 Der ›ganze Mensch‹ ist in jeder Verhaltenssequenz immer schon da. Das bedeutet für die Trias von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen, dass Ausdrucksbildung und Verstehensvollzug erlebnishaft sind bzw. das Erleben ausdruckshaft und verstehensförmig, allerdings in Abhängigkeit davon, in welchem Maße das zu Verstehende uns existentiell betrifft. Diese Einschränkung ist gegenüber Dilthey zu betonen: Die besagte Trias taugt recht eigentlich nur zur Charakterisierung der geistigen Bewältigung bewussten, emphatischen Erlebens, eben eines solchen, das im Menschen, mit Humboldts Wort, den »Drang seiner Seele« wachruft, sich auszusprechen und das Erlebte mitzuteilen. Erhellendes zu der Frage, wie wir uns die Verschränkung von Ausdrucksbildung und Verstehensvollzug zu denken haben, finden 22

Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Gesammelte Schriften, Bd. I, Leipzig/Berlin 1933, S. XVIII.

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wir bei Ludwig Wittgenstein, der dort sachlich bündig an Diltheys Triadisierung des menschlichen Verhaltens anschließt, wo er die Unwillkürlichkeit des Erlebnisausdrucks am Beispiel des Schmerzempfindens verdeutlicht. Da »werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen, Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen.« 23 Sie lehren es zum Beispiel, eine Schmerzempfindung mit dem Laut ›au‹ auszudrücken. Das heißt, dass sie es empraktisch mit der Verwendungsregel solcher Schmerzausdrücke vertraut machen. »›So sagst du also, dass das Wort ›Schmerz‹ eigentlich das Schreien bedeute?‹ – Im Gegenteil; der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht.«24 Mit anderen Worten, so paradox es klingt: Wir lernen uns unwillkürlich auszudrücken. Die Unwillkürlichkeit des Empfindungs- bzw. Erlebnisausdrucks verbindet sich mit der Bedeutungshaltigkeit des erlernten Ausdrucksmediums zu einem Sinnbildungsprozess, der zwischen der Unwillkürlichkeit des Ausdrucks und der Reflexivität des Ausdrucksverstehens unablässig oszilliert. Der Reichtum dieses Prozesses hängt in einer Verschränkung phylo- und ontogenetischer Lernschübe von der fortschreitenden symbolischen Komplexitätssteigerung unseres Ausdrucksinstrumentariums ab. »Im Fortgang vom Kind zum Jüngling, vom Naturvolk zu den Kulturnationen«, so Dilthey, lernt der Mensch Empfindungen und Erlebnisse von anfänglichen Holophrasen über Verbinselkonstruktionen bis zu Abstrakta, von Basishandlungen über komplexere Handlungssequenzen bis zu symbolischen Handlungen zunehmend prägnanter, weil differenzierter zu artikulieren, und im Medium dieses Artikulationsgeschehens »gestaltet sich eine Innerlichkeit […]«, 25 die 23 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Werkausg. Bd. 1, Frankfurt/Main 1989, S. 357. 24 Ebd. Bei dem Zitat handelt es sich um den § 244 der Philosophischen Untersuchungen, der im Kontext von Wittgensteins Privatsprachenargument steht. 25 Dilthey: »Breslauer Ausarbeitung«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. XIX, a. a. O., S. 105.

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ihrerseits zum intuitiven Maßstab der Angemessenheit unserer Ausdrucks- und Verstehensbemühungen wird. Robert Musil schrieb einmal über die Entstehung eines Gedankens, damit verhalte es sich wie mit einem Hund, der einen langen Knochen quer im Maul trägt und nun versucht, damit durch eine schmale Tür hindurchzugelangen: Er dreht und wendet den Kopf immer wieder und irgendwann ist er durch. Irgendwann ist er durch: das gilt auch für den Erlebnisausdruck. Der auch ontogenetisch vollentwickelte Kulturmensch verwirklicht sein Selbstverhältnis durch die höchstvermittelte Unmittelbarkeit kreativer Artikulation. Wollen wir subjektiv komplex anmutende Erlebnisse artikulieren, dann können wir zu Beginn unserer Ausdrucksbemühung noch gar nicht absehen, was am Ende dabei herauskommt. Unser Erlebnisausdruck ist uns undurchsichtig. Wir verfügen über keine auktoriale Perspektive, von der aus wir das Erlebte und das Ausgedrückte vergleichen. Wir lassen uns vielmehr durch die sequentielle Gestaltung von Ausdrucksperioden kraft ›Einsprache‹ und ›Zuspruch‹ unserer vorsprachlichen Intuitionen zur sukzessiven, korrekturbereiten und ergebnisoffenen Prägnanzbildung der Erlebnisgehalte fortführen. Weil das Verstehen des Erlebnisausdrucks seinerseits erlebnishaft ist, gilt für es dasselbe, was auch das sozusagen anfängliche, initiale Erlebnis auszeichnete: es resultiert seinerseits in einem Ausdruckshandeln, das sich im Augenblick seines Vollzugs nicht durchsichtig auf seinen Grund ist. Dilthey hat den Zusammenhang zwischen Erlebnisausdruck, Ausdrucksverstehen und Verstehenserlebnissen in seiner Poetik benannt: »Die Gestalt muss Leben werden und das Leben Gestalt … Ich werde den Satz, dass der ästhetische Vorgang die im Gefühl genossene Lebendigkeit in der Gestalt erfasst und so die Anschauung beseelt, oder diese Lebendigkeit in Anschauung darstellt und so das Leben in Gestalt überträgt, dass also Übersetzung von Erlebnis in Gestalt und von Gestalt in Erlebnis hier beständig stattfindet, als das Schillersche Gesetz bezeichnen.«26 Obgleich Dilthey sich hier auf eine Charakterisierung des poetischen Produktionsprozesses be26

Dilthey: »Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VI, Göttingen 1978, S. 117.

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schränkt, steht dieser unmissverständlich als pars pro toto des menschlichen Lebensvollzugs. Denn im Künstler verdichtet sich in besonders virtuoser und sensibler Weise das menschliche, allzumenschliche Sinnbildungsvermögen; Diltheys Poetik ist eine anthropologisierte Genieästhetik. Erleben, Ausdruck und Verstehen sind demnach faktisch immer schon – aber im Künstler in gesteigerter Weise – integrale Aspekte eines einheitlichen Sinnbildungsgeschehens. Dieses Sinnbildungsgeschehen ist gemeint, wenn wir den Satz »[D]as Leben artikuliert sich« auf das spezifisch menschliche Leben beziehen. Der Mensch, heißt das, ist ein Wesen, das in der Weise seines triadischen Lebensvollzugs ein kreativ-artikulatorisches Selbstverhältnis hat. Ich komme auf den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück. Was also zeichnet unser Selbstbewusstsein im Sinne des Bewusstseins der Besonderheit und Eigentümlichkeit unserer selbst aus? Es ist meines Erachtens die substantielle Undurchsichtigkeit unserer Sinnbildungstätigkeit auf seinen Grund. Sie qualifiziert unsere Selbstgegenwärtigkeit in dem Geschehen von Ausdruckbildung und Verstehensvollzug atmosphärisch als unergründliches Geheimnis. Wir bleiben uns trotz aller Bemühung um Selbsterhellung am Ende doch verborgen. Die Kreativität der Artikulation nährt sich aus diesem Geheimnis und bleibt ihm in Redlichkeit und Demut verbunden. Unsere Hoffnung, vom Anderen gleichsam erkannt zu werden, ist Hoffnung darauf, dass das Geheimnis, das wir selbst uns sind, sich ihm zeige und von ihm nicht wortreich zerredet oder gar denunziatorisch oder verdachtshermeneutisch enträtselt, sondern in Liebe oder Wertschätzung anerkannt werde. Vor allem der Liebe eignet ein ganz eigenes Sensorium für seine Verletzlichkeit durch die öffentliche Sprache. Denn sie ist bekanntlich beredt ohne Worte und scheu in ihren Gesten.

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Linie und Farbe – zwei Versuche

Farben und Linien erfüllen im Allgemeinen drei Funktionen. Die eine liegt in der Trennung der Flächen, die an den Gegenständen wahrgenommen werden. Sie gliedern, setzen Konturen zwischen den Teilen und trennen die Gegenstände selbst voneinander, so dass sie deutlicher gesehen werden können. So hat der Farbenblinde Mühe, Beeren zu pflücken. Er kann sie im Gewirr der Blätter nur schwerlich erkennen und muss sie ertasten. Die Formen und die Graustufen allein heben sich aus der ungleichmäßigen Licht- und Schattenbildung nicht genug vom Hintergrund ab, um Gegenstände rasch unterscheiden zu können. Die Grenzlinien allein genügen nicht, um die Form klar herauszubilden. Die zweite Funktion von Farben und Linien liegt in ihrer Zeichenbildung. Sie weisen auf Bedeutung. Die reife Frucht ist rot, gelb oder blau und nur selten grün. Im Ausdruck des Gesichts bedeutet das frische leichte Rot Lebendigkeit, das wächserne fahle Gelb Krankheit und Tod. Linien als Spuren von Bewegung weisen auf Leichtes und Schweres, Strenges und Festes, Sprödes oder Elastisches. Von hier ist der Übergang zur reinen Ausdrucksfunktion fließend. Die nach oben strebende Linie zieht uns in die Höhe. Das Rot wird oft als warm, das helle Türkisblau als kalt empfunden. Die Merkmale des Ausdrucks von Linien und Farben sind vielfältig, und manche davon wirken bei allen Menschen auf ähnliche Weise. Ein Beispiel für eine hohe Übereinstimmung bei einfachen Linien zeigt eines unserer Experimente. 1 Es bestand aus zwei Teilen. Im ersten wurde geprüft, inwieweit die Teilnehmer des Versuchs imstande sind, sich vorstellungsmäßig in emotionale Erleb1

Sylvia Jilg/Christoph Piesbergen/Wolfgang Tunner: »Graphischer Ausdruck und Erkennen von Gefühlsqualitäten«, in: Gestalt Theory 17, 1995, S. 293–300.

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Wolfgang Tunner

Abb. 1: Wut

nisse hineinzuversetzen und dabei einfache Linien auszuführen. Im zweiten Teil erfolgt eine Zuordnung dieser Linien zu den Begriffsbezeichnungen der Emotionen, die im ersten Teil zum Ausdruck kommen sollten. Gezeichnet wurde mit schwarzen Graphitstiften auf 70  70 cm großen Zeichenbögen. Ein großer stabiler Tisch diente als Unterlage. Zur Darstellung kamen die drei Basisemotionen Wut, Trauer und Freude. Die Instruktionen ermutigten die 21 Teilnehmer, die Erregungen durch die lebhafte Vorstellung eines emotionalen Ereignisses aufkommen zu lassen und dann einfach darauf los zu kritzeln. Um Serieneffekte zu meiden, wurde die Reihenfolgen der Emotionen entsprechend variiert. Da es in der Selbsteinschätzung der Stärke der induzierten Erregungen zwischen den drei Emotionen keine signifikanten Unterschiede gab und das expressive Zeichnen von allen Teilnehmern als positiv erlebt wurde, waren die Zeichnungen gut vergleichbar. Die Beurteilungen, die im zweiten Teil des Versuchs von 26 weiteren Personen durchgeführt wurden, ergaben eindeutige Übereinstimmungen zwischen den Zeichnungen und Gefühlsbegriffen. Die Linien hatten für jede Emotion ihre charakteristischen Merkmale. In der Wut gehen sie stets von einem Zentrum aus und erstrecken sich explosionsartig in alle Richtungen. Die Striche sind zerhackt, spitz und immer wieder auf eine Stelle zurückkehrend. Oft 134 © Verlag K

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Linie und Farbe – zwei Versuche

Abb. 2: Trauer

sind sie gegenläufig, mit harten Zusammenstößen und immer neuen Ansätzen. Die Druckstärke ist stark. Bei der Trauer hingegen ist sie schwach. Die Linien laufen parallel zum unteren Blattrand und von links nach rechts mit kleinen Auf- und Abwärtsbewegungen und in immer sich neigender Tendenz. Ganz anders die Freude, die sich über das ganze Blatt offen und schwungvoll verteilt. Die Linien gehen meist diagonal von links unten nach rechts oben und sind weich und rund. Die Druckstärke wechselt ständig zwischen stark und schwach. Dieser Zusammenhang zwischen Emotion und Ausdruckmerkmalen gegenstandsloser graphischer Formen wurde schon in älteren Untersuchungen beobachtet 2 und, wie zu erwarten, auch bei verschiedenartigen dreidimensionalen Gebilden festgestellt. 3 Ausdruck und Eindruck, wie sehr sie divergieren können, bei bestimmten Formmerkmalen entsprechen sie einander und weisen auf universell gültige Zusammenhänge. Viel weniger deutlich als bei den Linien sind die Beobachtungen bei Farben. Experimentelle Untersuchungen zur Frage, ob den Grundfarben bestimmte Emotionen zugeordnet werden können, ob Lust und Unlust, Spannung und Lösung, Erregung und Beruhigung den Farbtönen eindeutig entsprechen, kommen zu keinen übereinstimmenden Ergebnissen. Zwar wird allgemein davon aus2

Reinhold Krauss: »Über graphischen Ausdruck«, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie/Beiheft 58, 1930. 3 Theodor Lipps: Grundlegung der Ästhetik, Bd. 1 und 2, Hamburg 1903 und 1906.

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Wolfgang Tunner

Abb. 3: Freude

gegangen, dass Rot und Gelb eher aktivierend, Blau und Grün eher beruhigend wirken, die Ausnahmen jedoch sind zu häufig, als dass sie die Regel bestätigen würden. In einem einfachen Versuch überprüften wir die Wirkung der vier Grundfarben auf das so genannte psychomotorische Tempo. 4 Dabei wurden die Teilnehmer unter dem Einfluss intensiver Farbwahrnehmung dazu aufgefordert, in einer für sie entsprechenden Weise mit dem Finger auf eine Unterlage zu klopfen. Die Annahme war, dass der Anblick der aktivierenden Farben Rot und Gelb im Vergleich zu den als beruhigend geltenden Farben Blau und Grün zu einer höheren Erregung führen würde, die dann in einer gestei4

Michael Metzner/Wolfgang Tunner: »Farben, Wahrnehmung und Zeit«, in: Wolfgang Tunner: Krahofer Blätter – Originaltexte zu Kunst und Psychologie, Grein 2000, S. 39–43.

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gerten Geschwindigkeit der Klopfbewegungen zum Ausdruck kommt. 48 Personen (35 Frauen und 13 Männer) nahmen an diesem Versuch teil. Sie kamen einzeln ins Labor und erhielten die Aufgabe, sich emotional auf die Farben, welche der Reihe nach als großflächige Diaprojektionen gezeigt wurden, einzustellen. Sobald sie das Gefühl hatten, sich in die Farbe vertieft zu haben, sollten sie für die Dauer einer halben Minute in der für sie persönlich als angenehm empfundenen Geschwindigkeit auf die Taste einer Computertastatur klopfen. Da die Reihenfolge, in der die Farben gezeigt werden, ihre Wirkung beeinflussen kann, wurden alle möglichen Folgen – das sind bei 4 Farben 24 – zweimal durchgespielt. Jede der 48 Personen sah also die Farben in einer dieser 24 Folgen. Die statistische Berechnung der Daten erbrachte keinen der erwarteten Unterschiede. Auch Alter und Geschlecht zeigten keinen Einfluss auf die Motorik. Die nach dem Versuch durchgeführte Befragung aller Teilnehmer ergab jedoch klare Hinweise auf ausgeprägte individuelle Unterschiede im Erleben der vier Grundfarben. Was für den einen beruhigend erschien, war für den anderen aufregend. Was den einen beispielsweise an das Grün eines Operationssaales erinnerte, war für den anderen die beruhigende Farbe einer schönen Landschaft, so dass sich die Motorik erheblich verlangsamte. Blau wirkte auf die einen meditativ entspannend, auf andere durch seine Raum füllende Dunkelheit als bedrohlich. Das satte Rot war für einige vitalisierend, worauf das Tempo anstieg, während andere sich geborgen fühlten und ihr persönliches Tempo verlangsamten. Bedenkt man, wie mannigfaltig und widersprüchlich die Erfahrungen, die mit Farben gemacht werden können, sind, wird das Ergebnis nicht überraschen. Hinzu kommt, dass jede der vier Grundfarben selbst auf sehr unterschiedliche Weise erscheinen kann. Farbton, Sättigung, Helligkeit, Temperatur, Klarheit und die Bewegung der Farben gehören zu ihrer Wirkung. Außerdem erscheint im allgemeinen Farbe nicht als abstrakte Fläche, wie sie in unseren Versuchen vorgegeben wurde, sondern an Gegenständen und ist dadurch an ein bestimmtes Material gebunden, das seinerseits Einfluss auf die Farbwirkung ausübt. Farbe selbst ist eine stoff137 © Verlag K

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liche Substanz und kann dick und schmierig oder dünn und lasurartig aufgetragen werden. Sie gibt dadurch Anreiz für unterschiedliche synästhetische Wirkungen. Ähnliches gilt für die Qualitäten der Linie. Ihre Wirkungen unterscheiden sich im Allgemeinen je nachdem, ob sie von einem dünnen Graphitstift oder mit Kohle, Kreide oder Pinsel gezeichnet werden. Linien an den Kanten einer Fassadenarchitektur wirken anders als solche in einem Drahtgeflecht, auch wenn Teilabschnitte sehr ähnliche Formen aufweisen. Hinzu kommt: Farben wie Linien haben ihre zweckgebundene praktische Bedeutung, aber sie sind auch Gegenstand reiner Betrachtung, für die es zunächst nur darauf ankommt, dass sie erscheinen.

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Stimme – Stimmung – Persönlichkeit

I. Einleitung In der Alltagskommunikation sind wir ständig damit konfrontiert, dass wir unbewusst aus all’ den zur Verfügung stehenden Hinweisen, die uns unsere Kommunikationspartner geben, Schlüsse über diese Personen ableiten. Eine solche Zuordnung geschieht in der Regel ganzheitlich, spontan und intuitiv. Die Stimme und Sprechweise eines Menschen bieten hier zahlreiche Anhaltspunkte. Hörer sind in hohem Maße sensibel, derartige Informationen zu verarbeiten. Innerhalb eines Kulturkreises fällt die Beurteilung von negativen und positiven Stimmeigenschaften recht homogen aus. Allerdings sind geschlechtsspezifische Unterschiede zu berücksichtigen. Eine sympathische Frauenstimme ist nicht durch die gleichen Eigenschaften charakterisiert wie eine sympathische Männerstimme. Die Stimme eines Menschen ist ganz individuell. Es dürfte tatsächlich keine zwei Menschen mit derselben Stimme geben. Diesen Tatbestand macht man sich schon seit einigen Jahrzehnten im Rahmen kriminaltechnischer Analysen bei der Sprechererkennung zunutze. Neben der bloßen Bestimmung der Identität eines Menschen anhand der Stimme lassen sich viele weitere Eigenschaften über einen Menschen anhand der Stimme und der spezifischen Sprechweise ableiten. Das Alter, das Geschlecht, der Bildungsgrad, die regionale und die soziale Herkunft, der gesundheitliche Zustand sowie der momentane emotionale Zustand können sehr zuverlässig von Hörern aus dem Stimmklang und der Sprechweise eines Menschen entnommen werden. So erkennen wir sofort an der Sprechweise eines Menschen, ob er gerade eher freudig, traurig, ängstlich oder ärgerlich ist – und zwar auch dann, wenn der Spre139 © Verlag K

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cher uns über den Inhalt etwas anderes vormachen möchte. Mit dem Inhalt von Wörtern können Menschen sehr leicht lügen; Gefühlszustände und Charaktermerkmale sind sehr viel schwieriger im stimmlichen und sprecherischen Ausdruck zu verstellen. Nur sehr gute Schauspieler sind in der Lage, Stimmungen und Gefühle auch im Stimmklang und Sprechausdruck auf eine vollständig glaubwürdige Art darzustellen. Neben den oben genannten Eigenschaften von Menschen, die uns über die Stimme und die Sprechweise zugänglich sind, ist die Stimme eines Sprechers für den Hörer immer auch Ausdruck seiner Persönlichkeit im Sinne überdauernder charakterologischer Eigenschaften. Das Wort »Person« ist aus dem Griechischen »per sona« abgeleitet, was »durch den Klang« bedeutet. Gemeint ist der Klang der Stimme. Und in der Tat liefert uns die Stimme eines Menschen viel mehr Hinweise auf seine Persönlichkeitsstruktur als die visuelle Erscheinung. Selbst die Augen, die oft als Spiegel der Seele betrachtet werden, können nicht so subtil und variantenreich die Persönlichkeit eines Menschen zum Ausdruck bringen. Die Dominanz der visuellen Medien hat in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, dass der Mensch nahezu auf ein »Augentier« reduziert wurde und oberflächliche visuelle Informationen in den Vordergrund gerückt wurden. Auch bei der Partnersuche stehen oft Merkmale des äußeren Erscheinungsbildes im Vordergrund. In der Alltagskommunikation sollten jedoch alle Informationen genutzt werden, die Hinweise auf die Innerlichkeit eines Menschen liefern; und diese Hinweise sind zahlreich und weitgehend unverfälscht in der Stimme und Sprechweise eines Menschen enthalten. Ob der Sprechbewegungsablauf in seinem rhythmischen Erscheinungsbild eher unruhig und labil oder eher gleichmäßig und fließend erscheint, kann von Hörern mit großer Leichtigkeit eingeschätzt werden. Solche Einschätzungen sind es letztlich, die in das unbewusst gebildete Gesamturteil einfließen. Hinzu kommt, dass es den meisten Menschen leichter fällt, Gefühle oder Einstellungen durch die Stimme oder in der Sprechweise auszudrücken, als sie in Worte zu fassen. Dies ist dadurch begründet, dass diese »nonverbale« Art der Kommunikation die ursprünglichere ist. Schon bevor der Mensch eine voll entwickelte Sprachfähigkeit besaß, konnte er 140 © Verlag K

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durch Affektlaute und Warnschreie die für das Überleben notwendigen Formen der Kommunikation realisieren. II. Geschlechtsspezifische Wirkungsweisen 1 Will man allgemeine Hinweise zur Wirkung von Stimme und Sprechweise geben, so muss zumindest nach geschlechtsspezifischen Eigenarten unterschieden werden. Bei allen individuellen Verschiedenheiten einzelner Sprecher/Sprecherinnen lassen sich doch zwischen den beiden Geschlechtern einige systematische Unterschiede aufzeigen. Zudem können bestimmte Stimm- und Sprechmerkmale ganz unterschiedliche Wirkungen auslösen, je nachdem, ob sie von einem Mann oder einer Frau erzeugt werden. An der Stimme können wir in aller Regel das Geschlecht sehr zuverlässig erkennen. Eine wichtige Ursache dafür sind die unterschiedlichen biologischen Prädispositionen; längere und dickere Stimmlippen führen dazu, dass Männer mit einer tieferen mittleren Stimmlage sprechen als Frauen (120 Hz gegenüber 220 Hz). Doch die mittlere Grundfrequenz, mit der ein Sprecher / eine Sprecherin spricht, kann bis zu einem gewissen Grad selbst gewählt werden. Dies geschieht in der Regel unbewusst. Durch Spannung bzw. Entspannung der an der Stimmgebung beteiligten Muskeln im Kehlkopf kann die Grundfrequenz innerhalb der jeweiligen biologischen Gegebenheiten erheblich variieren. Mit Blick auf professionelle Sprecherinnen und Sprecher im Rundfunk und Fernsehen hat sich in den 80er Jahren die Sichtweise verbreitet, dass tiefe Stimmen generell positiver wirken, da in manchen Untersuchungen höhere Frauenstimmen nachteilig beurteilt wurden. Eine tiefe Stimme gilt als angenehm, als kompetent und als vertrauenswürdig. In der Tat ist in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten, dass Frauen1

Iris Wittlinger/Walter Sendlmeier: »Stimme und Sprechweise erfolgreicher Frauen«, in: Walter Sendlmeier (Hrsg.), Sprechwirkung, Berlin 2005, S. 71–120; Jana Zscheischler: Die Sprechwirkung von Männer- und Frauenstimmen im Radio, Berlin 2006 (Magisterarbeit am Institut für Kommunikation und Sprache der TU Berlin, betreut durch Walter Sendlmeier.)

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stimmen generell tiefer geworden sind. Es spielen offensichtlich soziokulturelle Gründe und Vorurteile eine nicht unerhebliche Rolle. Dieses Phänomen hat sogar dazu geführt, dass Nachrichtensprecherinnen, sobald die Mikrophone eingeschaltet sind, ihre Sprechstimmlage von ihrer konstitutionell gegebenen hin zu einer tieferen, männlicheren ändern. Inwieweit generell tiefere Frauenstimmen positiver auf Hörer wirken, ist damit jedoch nicht beantwortet. Neuere Untersuchungen deuten daraufhin, dass eine zu tiefe Sprechstimmlage bei Frauen zu einer negativen Bewertung führt, da sie möglicherweise zu »unweiblich« klingt. Interessanterweise haben sich trotz aller Veränderungen des Frauenbildes im westeuropäischen Kulturraum viele Geschlechtsstereotype erhalten. Die Wiederholung einer Untersuchung des Sozialpsychologen Hofstätter aus dem Jahre 1963 im Jahre 2006, in dem anhand eines Polaritätenprofils die Attribute typisch männlich versus typisch weiblich beurteilt wurden, ergab, dass 14 von 25 erfragten Eigenschaften bezogen auf Männer und Frauen immer noch signifikant unterschiedlich eingestuft wurden. Die Geschlechterwahrnehmung wird also auch heutzutage stark von Stereotypen bestimmt. Für die Beurteilung von Männer- und Frauenstimmen gelten somit unterschiedliche Maßstäbe. Zu tiefe Frauenstimmen werden von vielen Männern als zu männlich eingestuft; gleichzeitig erscheint vielen Männern bei Frauen aber auch die sehr hohe »Klein-Mädchen-Stimme« als nicht mehr zeitgemäß. In anderen Kulturen – wie z. B. im Japanischen – gilt diese sehr hohe Stimmlage noch als Norm für Frauenstimmen. Sie wird als schwach, unsicher, hilfsbedürftig und subdominant eingestuft. Sicherlich gibt es auch im hiesigen Kulturkreis Männer, die eine solche Stimmlage positiv bewerten. Wie dies Männer auch immer im Einzelnen beurteilen mögen, wichtig ist, dass Frauen sich der unterschiedlichen Stimmlagen und der damit verknüpften Wirkungen bewusst werden. Um effektiv zu kommunizieren und um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man sich selbst Klarheit verschaffen, welche Signale man aussendet. Mit einer mittleren Sprechstimmlage von ca. 170 bis 220 Hz braucht sich eine Frau keine weiteren Gedanken um ihre Stimmlage zu machen; dies ist eine gute Ausgangslage für zahlreiche situations- und Adressaten spezifische Variationen. 142 © Verlag K

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Generell gilt, dass Männer wie Frauen versuchen sollten, in ihrer Indifferenzlage zu sprechen; dies ist eine konstitutionell mittlere Stimmlage, in der sie ohne viel Anspannung und Anstrengung auch längere Zeit sprechen können. Durch Aufregung oder Angst entsteht jedoch oft eine Erhöhung des Muskeltonus, der die Stimme nach oben rutschen lässt. Oft wird in solchen Situationen nicht mehr richtig ausgeatmet und die Spannung nimmt noch mehr zu. Bewusst und gründlich auszuatmen ist ein einfacher und durchaus wirkungsvoller Weg, der zunehmenden Verspannung entgegen zu wirken. Es ist davon auszugehen, dass die hörbare Anspannung, die durch die Anspannung der an der Stimmerzeugung beteiligten Muskeln bedingt ist, vom Zuhörenden körperlich mitempfunden wird. Wenn also ein Sprecher / eine Sprecherin über einen längeren Zeitraum mit angespannter Stimme spricht, kann dies auch für Hörer und Hörerinnen eine physische Anstrengung bedeuten, da die Anspannung des Sprechenden auf die Zuhörenden übertragen wird. Die Folge ist eine negative Wirkung der gesamten Sprecherpersönlichkeit. Eine zu tiefe Stimmlage für Männer gibt es eigentlich nicht. Tiefe Männerstimmen werden in aller Regel positiv bewertet. Tiefe Stimmen werden als entspannt, gütig, Vertrauen erweckend, glaubwürdig, kompetent und Autorität ausstrahlend interpretiert. Liegen Männerstimmen dagegen deutlich über dem Mittelwert männlicher Sprecher, so stellt sich eine negative Wirkung ein. Sie werden dann als überspannt, unglaubwürdig, unsicher, Aggression auslösend und erregt empfunden. Neben systematischen Unterschieden in der mittleren Stimmlage lassen sich auch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Art und dem Ausmaß der Tonhöhenvariation beobachten. Männer weisen in aller Regel eine monotonere Intonation auf. Frauen zeichnen sich in ihrer Sprechweise durch mehr Tonhöhenvariation und mehr Dynamik aus; Frauen sprechen also melodiöser als Männer. Dies wird von Hörern als emotional expressiver wahrgenommen. Frauen werden als verspielter, abwechslungsreicher und emotionaler, Männer als ernster, eintöniger und rationaler wahrgenommen. Auch auf der segmentalen Ebene sind Unterschiede in der Aussprachegenauigkeit festzustellen. Frauen artikulieren mit einer grö143 © Verlag K

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ßeren Aussprachegenauigkeit als Männer. Vor allem junge Männer scheinen oft ihre Nachlässigkeiten in der Aussprache zu kultivieren; »Nuscheln« wird von manchen Männern als Ausdruck von Coolness gesehen – frei nach dem Motto: »Schaut her, ich hab’ es nicht nötig, mich anzustrengen«. Die gewünschte Wirkung auf das andere Geschlecht wird jedoch meist nicht erfüllt. Ein sehr markantes Merkmal, das häufig bei Frauen anzutreffen ist und eher negativ wirkt, ist das Nach-oben-Gehen mit der Stimme am Satzende, obwohl es sich nicht um eine Frage handelt. Wird ein Aussagesatz – eine Feststellung – zum Satzende hin mit ansteigender Stimme, also mit Frageintonation gesprochen, so wirkt dies unsicher. Von Hörern wird zum Ende einer Feststellung oder Mitteilung in Aussageform ein finales Absinken der Stimme erwartet. Häuft sich eine zum Äußerungsende hin ansteigende Art der Satzmelodie etwa bei der Vorstellung und Charakterisierung der eigenen Person oder bei allgemeinen Stellungnahmen, so entsteht beim Hörer der Eindruck, dass die Sprecherin quasi ängstlich darum bittet, die Äußerungen zu akzeptieren und zu bejahen. Wird auf der letzten Silbe einer Äußerung die Stimme wieder nach oben geführt, so wird dies häufig durch eine Dehnung der letzten Silbe begleitet. Dadurch wirkt die Melodieführung zusätzlich sehr geleiert und für Hörer fehlt eine Gliederung in Sinnabschnitte. Nicht selten wird mit dieser Sprechweise versucht, die Satzmelodie durch eine Art Aufzählung als weiter weisend zu kaschieren. Wer sicher und selbstbewusst wirken möchte, sollte ein Ansteigen der Satzmelodie zum Satzende hin unbedingt vermeiden – es sei denn, es handelt sich um eine Frage. Auch das Ausmaß und die Wirkung einer behauchten Stimme sind für Männer und Frauen sehr unterschiedlich. Bei einer behauchten Stimme schließen die Stimmlippen nicht vollständig; es entsteht ein glottaler Spalt; die Stimmlippen vibrieren dann uneffizient. Sehr viel Luft wird verbraucht, und in der Glottis, dem Raum zwischen den Stimmlippen, entstehen zusätzlich zum periodischen Stimmanteil Turbulenzen, die sich als leises Rauschen, eben die hörbare Behauchung, niederschlagen. Dieser Effekt tritt besonders stark bei unbetonten Silben und am Ende von Äußerungen auf. Frauenstimmen werden gegenüber Männerstimmen öfter als be144 © Verlag K

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haucht eingestuft. Interessanterweise werden behauchte Frauenstimmen als erotisch wahrgenommen, wobei die Eigenschaft »erotisch« mit den Beurteilungen der Stimme als sympathisch, angenehm und mit einem positiven Gesamteindruck hoch korreliert. Bei Männern wird eine behauchte Stimme hingegen als unsympathisch und im Gesamteindruck negativ bewertet. Männer sollten also unbedingt mit unbehauchter Stimme sprechen. Frauen können diese Eigenschaft je nach Absicht und erwünschtem Wirkungsgrad dosieren. Durch Hinzufügen der Eigenschaft ›Nasalität‹ kann die erotische Wirkung noch verstärkt werden. Nasalität entsteht, wenn über die Nasalkonsonanten /m/ oder /n/ hinaus auch bei der Bildung anderer Laute, insbesondere der Vokale, das Gaumensegel abgesenkt wird und so der Nasenraum als zusätzlicher Resonanzraum den Klang beeinflusst, wie etwa bei den französischen Nasalvokalen. Der typische Schnupfenklang, bei dem die Nasalkonsonanten gerade nicht durch die Nase artikuliert werden können, hat mit dieser Nasalität nichts gemeinsam. Durch das abgesenkte Gaumensegel verändert sich der Stimmklang hin zum Ausdruck sinnlicher Erregung, wie z. B. den des Nahrungsgenusses, des körperlichen Wohlbehagens und auch der sexuellen Sinnlichkeit. Gerade in Kombination mit Behauchung tritt dieser Effekt deutlich in Erscheinung. Nasalität allein, ohne Behauchung, kann aber auch – speziell bei männlichen Sprechern – den Eindruck von Arroganz hervorrufen. Unterschiede im Beurteilungsverhalten zwischen Hörern und Hörerinnen sind im Allgemeinen kaum zu finden. Mehrfach konnte in Untersuchungen bestätigt werden, dass sich Hörmuster über soziale Kategorien hinweg recht homogen verhalten. Solche Hörmuster sind soziokultureller Natur und haben sich im Laufe der Geschichte in einer Sprachgemeinschaft herausgebildet. Neben der Persönlichkeit eines Sprechers / einer Sprecherin und den Hörmustern ist für den Sprechstil auch die Sprechsituation von großer Bedeutung. So unterscheidet sich der Sprechstil in der Regel danach, ob man mit einem Kind oder Erwachsenen, privat oder öffentlich, mit einer vertrauten oder fremden Person spricht. Ein Sprechender nimmt so genannte ›Sprechrollen‹ ein, die mit sozialen Rollen ver145 © Verlag K

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bunden sind. Da Frauen und Männer von klein auf soziokulturell bedingt unterschiedlich behandelt werden und grundverschiedene Erwartungen und Anforderungen an sie gestellt werden, ist davon auszugehen, dass es geschlechtsspezifische Sprechrollen gibt. Durch die existierenden Hörmuster wird erwartet, dass diese auch eingenommen werden; Sprecherinnen und Sprecher werden – ob sie es wollen oder nicht – von Hörern beiderlei Geschlechts nach unterschiedlichen Kriterien beurteilt. III. Alter und Stimme 2 Mit zunehmendem Alter kommt es in den Kehlkopfknorpeln zu Verknöcherungen (Ossifikationen). Hauptsächlich sind der Schildknorpel und der Ringknorpel von der Verknöcherung betroffen. Zusätzlich wird die Oberfläche der Gelenkstellen, speziell zwischen den Stellknorpeln und dem Ringknorpel, dünner und zerfällt nach und nach in eine unregelmäßige, kollagene Faserstruktur. Dies wirkt sich nachteilig auf die Geschmeidigkeit der Stellknorpelbewegungen und damit auf die Position der Stimmlippen aus. Zudem kommt es zu einer Erschlaffung der Bänder der Verbindungskapseln. Beide Aspekte zusammen haben eine Änderung der Öffnungsgröße der Glottis zur Folge, die sich als glottale Fehlfunktion bemerkbar macht. Bei beiden Geschlechtern treten ähnliche physiologische Veränderungen im alternden Kehlkopf auf, jedoch mit verschiedenen zeitlichen Abläufen. Bei Männern treten bereits in der dritten Dekade erste Veränderungen im Gewebe auf, ab der fünften oder sechsten Dekade sind diese dann deutlich ausgeprägt. Frauen hingegen weisen erst ab der fünften Dekade Veränderungen auf, die außerdem insgesamt schwächer ausgebildet sind. 2

Markus Brückl/Sendlmeier: »Junge und alte Stimmen«, in: Sendlmeier/Astrid Bartels: Stimmlicher Ausdruck in der Alltagskommunikation, Berlin 2005, S. 135– 163; Ralf Winkler/Walter Sendlmeier: »EGG open quotient in aging voice – changes with increasing chronological age and its perception«, in: Logopedics Phoniatrics Vocology 31/2, 2006, S. 51–56.

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Die obere Zellschicht der Stimmlippen, das Epithel, flacht mit zunehmendem Alter ab. In der obersten Schicht des Bindegewebes nimmt die Dichte der elastischen Fasern ab, besonders ausgeprägt bei Männern. Ab dem 40. Lebensjahr reduziert sich das Gewebe der mittleren Schicht. Die größten Veränderungen vollziehen sich ab dem 50. Lebensjahr in der tiefen Schicht, wo eine Verdickung kollagener Fasern den Verlust einer linearen Form hin zu einem zerfaserten Gebilde hervorruft. Diese Veränderungen in den tieferen Schichten sind im Alterungsprozess von Frauen nicht vorhanden. Der für die Feinregulierung der Phonation zuständige Vokalismuskel verliert mit zunehmender Querschnittsabnahme seiner Muskelfasern an Kraft. Dies führt zusammen mit der Umwandlung des Gewebes zu einem Verlust an Spannung, Elastizität und Masse der Stimmlippen. Dies kann Unregelmäßigkeiten im Schwingungsverhalten nach sich ziehen, was wiederum perzeptiv zu einem rauen Klangeindruck führt. Ebenso können Lücken im Glottisverschluss entstehen, die zu einer rauschartigen Behauchung führen. Dünnere und steifere Stimmlippen, wie sie sich durch die veränderte Struktur des Bindegewebes ergeben, schwingen schneller und mit kleinerer Amplitude. Dies entspricht der Tatsache, dass ältere Männer höhere Grundfrequenzen aufweisen. Bei Frauen hingegen sinkt die Sprechstimmlage im Alter. Sowohl für junge als auch für ältere Frauen ist häufig das Auftreten von unvollständigen Glottisverschlüssen beobachtet worden. Hier zeigten sich aber Unterschiede in der Art der unvollständigen Glottisverschlüsse, die nicht immer über die gesamte Länge entstehen. Bei jungen Frauen überwiegt der so genannte ›posterior chink‹, ein hinterer Spalt, und bei älteren Frauen der so genannte ›anterior gap‹, eine vordere Lücke. Eine befriedigende Erklärung für diese Unterschiede wurde bislang nicht gefunden. Die unterschiedliche Art der Behauchung kann aber auditiv unterschieden werden. Der Kehlkopf senkt sich insgesamt mit zunehmendem Alter ab, wodurch der Resonanzraum über der Glottis, also das Ansatzrohr, verlängert wird. Die Gesichtsmuskulatur unterliegt ebenso wie die Zunge einem Elastizitätsverlust und allgemeinem Schwund mit der Folge einer Abschwächung der Muskelkraft. Verschliffene, undeutlichere und langsamere Artikulation könnten die Folge sein. 147 © Verlag K

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Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang jedoch auch, dass altersbedingte hormonelle Veränderungen Auswirkungen auf den Stimmklang haben. So ist nicht nur in der Pubertät mit dem Wachstum des Kehlkopfes ein wesentlicher Einfluss gegeben, sondern auch die hormonellen Veränderungen insbesondere bei Frauen aufgrund des Klimakteriums bzw. nach der Menopause stellen eine wichtige Ursache für stimmliche Veränderungen dar. Insgesamt ist zu beachten, dass Alterungserscheinungen nicht nur vom kalendarischen Alter abhängig sind, sondern in starkem Maße auch vom gesundheitlichen Status und dem Gesamtzustand des Organismus. So gibt es denn auch mehr alte Menschen als ausgeprägt alt klingende Stimmen. Betrachtet man die Variation der Grundfrequenz in fließender Rede, so zeigt sich, dass ältere Frauen die Grundfrequenz mehr modulieren, also lebendiger sprechen, während ältere Männer monotoner im Vergleich zur Gruppe der Jüngeren sprechen. Unabhängig vom Geschlecht verliert die Stimme im Alter in erheblichem Maße an Stabilität. Für die Amplitudenpertubation (Shimmer) konnten insbesondere für die älteren Frauen gegenüber den jungen Frauen – besonders ausgeprägt beim spontanen Sprechen – signifikante Erhöhungen der Werte ermittelt werden. Für Frauen sind die Shimmerwerte ein guter Indikator für die Altersgruppe. Unabhängig vom Geschlecht treten durchweg größere Lautheitswerte bei älteren Sprechern auf. Das lautere Sprechen der älteren Sprecher und Sprecherinnen wird möglicherweise als Kompensation für die schwache und behauchte Stimme eingesetzt. Es könnte aber auch eine Folge der Schwerhörigkeit älterer Menschen sein. Die Betrachtung der Rauschabstände des ungefilterten Signals liefert nur bei älteren Frauen einen Hinweis auf einen glottalen Spalt. Der mittlere Öffnungsquotient, der anhand elektroglottographischer Messungen ermittelt wird, ist unabhängig vom Geschlecht höher bei der Gruppe der älteren Sprecher und kann als Hinweis auf fortschreitende laryngale Degeneration im Alter interpretiert werden. Das Sprechtempo sinkt sowohl für Frauen als auch für Männer im Alter ab. Die Analyse der lokalen Variationen des Sprechtempos in Spontansprache zeigt, dass besonders die schnellen Abschnitte verlangsamt werden, was zu einer Einschränkung der Variationsbreite und 148 © Verlag K

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somit zu einer gleichförmigeren Sprechweise führt. Beim Lesen werden von älteren Frauen und Männern häufiger Pausen als von den jungen Sprechern gemacht. Zahlreiche Perzeptionsexperimente belegen, dass es Hörern möglich ist, mit hoher Korrektheit Sprachproben unterschiedlichen Altersgruppen zuzuordnen. Die Genauigkeit der Schätzungen steigt mit zunehmender Komplexität der zu beurteilenden Stimuli, denn in spontaner fließender Rede sind natürlich mehr Hinweise auf einen Sprecher / eine Sprecherin enthalten als in einem isolierten Wort. Testet man die Merkmale Tonhöhe, Tempo, Dehnung und Glottaler Spalt gezielt auf ihre Relevanz für die Wahrnehmung von Alter, so zeigt sich, dass trotz einiger Überschneidungen die genauen Charakteristika für Männer und Frauen getrennt bestimmt werden müssen. Für die Unterscheidung junger und älterer Frauen sind besonders die Merkmale Stimmstabilität (Shimmer), mittlere Grundfrequenz, Signal-Rausch-Verhältnis und Tempo (Phone/s) wichtig. Für die Unterscheidung junger und älterer Männer sind es die Merkmale Tempo (Silben/s), Lautheit, SignalRausch-Verhältnis und Stimmstabilität (Jitter). Hohes Sprechtempo führt also stets zur Wahrnehmung einer jüngeren Person. Der Variation des Tempos kommt wahrscheinlich der größte Einfluss auf die Beurteilung des Alters zu. Steigende Tonhöhe führt bei weiblichen Stimmen zur Wahrnehmung jüngerer Stimmen, bei männlichen Stimmen führt steigende Tonhöhe hingegen zur Wahrnehmung älterer Sprecher. Das Auftreten eines glottalen Spaltes und das daraus resultierende behauchte Rauschen führt zur Wahrnehmung erhöhten Alters. Die Merkmale Glottaler Spalt und Tonhöhe sind in ihrer Wirkung auf die Hörerwahrnehmung etwa gleich groß. Eine Dehnung in den betonten Silben wird bei den männlichen Stimmen stärker als bei den weiblichen Stimmen von den Hörern mit erhöhtem Alter in Verbindung gebracht. Der Effekt der Dehnung betonter Silben ist am stärksten beim schnellen Sprechen wahrzunehmen, was plausibel erscheint, denn hier ist die Dauer der Dehnung relativ zu den übrigen Segmentdauern am größten. Abhängig vom Geschlecht ist eine starke Wirkung der Dehnungen bei unterschiedlichen Tonhöhen zu finden. Bei weiblichen Stimmen ist die Wirkung am größten bei mittlerer Ton149 © Verlag K

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höhe, bei männlichen Stimmen hingegen ist die Wirkung der Dehnung bei hohen Stimmen am größten. Selten auftretende Fehlurteile in der Altersschätzung durch Hörer sind darin begründet, dass nicht alle jungen Sprecher jung klingen und nicht alle Sprachsignale alter Sprecher typische Merkmale alter Stimmen aufweisen. Dies zeigt, dass die Stimm- und Sprechmerkmale eher einen direkten Zusammenhang mit dem Konzept des biologischen oder auch wahrgenommenen Alters als mit dem chronologischen Alter aufweisen. Ein weiterer wichtiger Hinweis auf das Alter ist im Stimmklang enthalten. So wird bei geringerer seitlicher Kompression sowie geringerer longitudinaler Spannung, also bei fehlenden Kräften in Richtung geschlossener Glottis, der Vorgang des Öffnens der Stimmlippen verkürzt, während das Schließen weniger schnell erfolgt. Die sich ergebende Form der Glottispulse ist eher sinusförmig als sägezahnförmig, was spektral mit einer stärkeren bis vollständigen Dämpfung der höheren Harmonischen einhergeht. Diese Art der Anregung tritt bei alten Menschen häufiger und ausgeprägter auf. Im Gegensatz dazu entsteht bei jüngeren Sprechern durch stärkere Rückstellkräfte eine impulsförmigere Anregung, die eine geringere Dämpfung hin zu den höheren Harmonischen aufweist. Für Hörer ist dieser Unterschied – unabhängig von der Tonhöhe des Grundtons – in Form eines dumpferen (älteren) oder aber eines helleren (jüngeren) Stimmklangs erfahrbar. Die Beschreibung der physiologischen Korrelate legt diese altersabhängigen Veränderungen im Grunde genommen nahe. IV. Emotionaler Ausdruck durch Stimme und Sprechweise 3 Was ändert sich eigentlich an unserer Sprechweise, wenn wir ärgerlich, freudig, traurig oder ängstlich sprechen? Mit ›Freude‹, ›Trau3

Walter Sendlmeier: »Phonetische Variation als Funktion unterschiedlicher Sprechstile«, in: Wolfgang Hess/Karlheinz Stöber (Hrsg.), Elektronische Sprachsignalverarbeitung, Bonn 2001, S. 23–35; Gudrun Klasmeyer/Sendlmeier: »Voice and Emotional States«, in: Raymond Kent/Martin Ball: Voice Quality Measurement, San Diego 2000, S. 339–359.

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er‹, ›Ärger‹ (Wut) und ›Angst‹ sind vier Emotionen genannt, die in der einschlägigen psychologischen Forschung unstrittig als Basisemotionen eingestuft werden. In vielen Ansätzen wird noch der Zustand Langeweile hinzugefügt. Und diese fünf Basisemotionen sind Gegenstand der folgenden Betrachtungen. Aus unserer Alltagserfahrung wissen wir, dass der emotionale Zustand von Sprechern auch unabhängig vom Inhalt des Gesagten erkannt werden kann. Zunächst zum stimmlichen Ausdruck: Beim Schwingen der Stimmlippen verläuft das Schließen der Glottis wesentlich schneller als das Öffnen der Glottis, was neben den oben beschriebenen muskulären Rückstellkräften auch an der durch den Bernoulli-Effekt bewirkten Sogwirkung liegt. Die Analysen emotionaler Sprechweisen zeigen, dass sich je nach Emotion die Form der Glottispulse verändert, die wiederum zu einer Veränderung des Glottisspektrums führt. Die Veränderung des Glottisspektrums ist dann für die Hörer als bestimmter emotionaler Stimmklang zu identifizieren. Die Glottispulse zeigen bei den Emotionen Ärger und Freude steilere Flanken und längere geschlossene Phasen als die entsprechenden Anregungssignale bei neutraler Sprechweise. Bei Ärger sind die geschlossenen Phasen am längsten. Die Anregung ist also impulsförmiger als bei neutralen Äußerungen. Diese impulsförmigere Anregung wiederum führt im spektralen Bereich (also in der Energieverteilung auf die Obertöne) dazu, dass hier im mittleren und hohen Frequenzbereich mehr Energie vorhanden ist als bei der neutralen Sprechweise. Anders formuliert: Die spektrale Dämpfung der höheren Harmonischen ist bei Freude und Ärger geringer als bei neutraler Sprechweise; am geringsten ist sie bei ärgerlicher Sprechweise. Die Grundfrequenz der ärgerlichen und freudigen Äußerungen weist insgesamt eine größere Variationsbreite (F0-Range) auf als die neutralen Äußerungen. Die mittlere Stimmtonfrequenz wird angehoben, und zwar bei den freudigen Äußerungen noch mehr als bei den ärgerlichen. Beide Phänomene, sowohl die impulsförmigere Anregung (mit der resultierenden geringeren spektralen Dämpfung) als auch die variationsreichere und höhere Grundfrequenz- (Intonations-) Kontur müssen auf eine Veränderung der Spannungszustände der an 151 © Verlag K

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den Steuerparametern beteiligten Muskeln zurückzuführen sein. Der aktivere Einsatz der muskulären Kräfte betrifft bei Freude und Ärger vor allem die Erhöhung der passiven Längsspannung durch verstärkte Kontraktion der Cricothyroid-Muskeln und eine Erhöhung der Mediankompression durch verstärkte Kontraktion der cricoarythenoidei lateralis. Die Erhöhung der Mediankompression ist bei Freude deutlich geringer als bei Ärger, was bei Freude zu kürzeren geschlossenen Phasen innerhalb eines Anregungszyklus’ führt. Bei trauriger Sprechweise ist die Form der Glottisanregung gerade nicht impulsförmig, sondern sogar fast sinusförmig, bewegt sich also – wenn man die sägezahnähnliche Form der Glottispulse der neutralen Sprechweise als Bezugsgröße nimmt – gerade in die andere Richtung. Im Glottisspektrum führt die sinusförmige Anregung dazu, dass im tieffrequenten Bereich mehr Energie als in den neutralen Äußerungen liegt, während im mittleren und höheren Frequenzbereich deutlich weniger Energie als in den neutralen Äußerungen auftritt. Im Anregungssignal sind hochfrequente Rauschanteile enthalten, die Hinweise auf eine Behauchung geben. Eine Ähnlichkeit mit den Eigenschaften älterer Stimmen ist zu beobachten. Zusätzlich treten bei traurigen Sprechern Laryngalisierungen auf. Die traurigen Äußerungen sind also durch eine knarrende bis behauchte Anregung gekennzeichnet. Eine Grundfrequenzbewegung findet kaum statt; außer bei der Frageintonation ist sie nur abwärts gerichtet. Auffallend ist bei den traurigen Äußerungen auch, dass die Vokale weit weniger Energie als in den neutralen Versionen aufweisen. Die geringe Energie der Vokale und die fast monotone, nur gering fallende Intonation weisen auf eine allgemeine Passivität und geringen Muskeleinsatz hin. Bei ängstlichen Äußerungen sieht die Form der Anregungsimpulse – soweit überhaupt welche vorhanden sind – der bei Trauer durchaus ähnlich; die frequenzabhängige Energieverteilung ist bei ängstlichen Äußerungen aber eine andere. Im hochfrequenten Bereich ist hier viel Energie anzutreffen; jedoch handelt es sich hier primär nicht um einen harmonischen Anteil (wie bei Freude und Ärger), sondern um einen turbulenten, d. h. rauschhaften Anteil. Man könnte von einer Art geflüsterter Falsettstimme sprechen. 152 © Verlag K

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Die mittlere Grundfrequenz liegt recht hoch; sie weist aber nur eine geringe Variationsbreite auf. Die Form der Glottispulse ähnelt bei gelangweilter Sprechweise der bei normaler (neutraler) Sprechweise sehr. Die Vokale sind wie bei der Trauer sehr energiearm; sie weisen jedoch keine Laryngalisierungen auf und zeigen eine deutlich geringere spektrale Dämpfung als die traurig gesprochenen Äußerungen. Neben dem stimmlichen Ausdruck, also den Funktionen, die auf Aktivitäten im Kehlkopf zurückzuführen sind, lässt sich auch analysieren, was sich in Abhängigkeit von den verschiedenen Emotionen im Sprechtrakt verändert und welche zeitlichen Strukturen des Sprechbewegungsablaufs modifiziert werden. Für die Artikulation der Vokale lässt sich über die Lage der Formanten einiges über die Zungenposition ableiten. Im Vergleich zur neutralen Version ergeben sich – gemittelt über alle akzentuierten Vokale – für Langeweile, Trauer und Angst größere Abstände zwischen den ersten beiden Formanten, bewirkt durch Absenkung des ersten Formanten und Anhebung des zweiten Formanten. Die geringeren Werte für den ersten Formanten lassen sich mit einem geringeren Öffnungsgrad des Unterkiefers erklären. Traurige, gelangweilte und auch ängstliche Sprecher neigen offensichtlich zu einer eingeschränkteren Motorik, die sich hier beim Öffnen des Mundes für die Vokalartikulation in einer Reduktion des Kieferwinkels niederschlägt. Die Erhöhung des zweiten Formanten kann mit einer palataleren Artikulationsweise erklärt werden, die mit einer geschlosseneren Kieferstellung gut vereinbar ist. Dagegen ist die Formantstruktur bei Ärger und Freude besonders durch einen erhöhten Wert des ersten Formanten gekennzeichnet. Dieser Anstieg des ersten Formanten kann gut mit einer Vergrößerung des Öffnungsgrades des Unterkiefers erklärt werden. Bei Ärger und Freude scheint ein ausladenderer Bewegungsablauf mit deutlichen Öffnungs- und Schließbewegungen sowie einer präziseren Vokalqualität typisch zu sein. Bei den freudigen Äußerungen ergibt die Analyse der Formantfrequenzen auch einen Anstieg des zweiten Formanten. Dieses Ergebnis lässt sich durch eine allgemeine Verkürzung des Artikulationstrakts erklären. Die Verkürzung könnte durch lächelnde Sprechweise verursacht werden. Ein zusätz153 © Verlag K

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licher Faktor könnte in einer Anhebung des Larynx bestehen, die oft mit einer erhöhten Grundfrequenz einhergeht. Dies ist bei freudiger Sprechweise wahrscheinlich, da sie mit stark angehobener Grundfrequenz einhergeht. Bei ärgerlicher Sprechweise weist die Zunahme der spektralen Balance bei stimmlosen Frikativen auf eine stärkere Konstriktionsenge bei Konsonanten hin. Beide Phänomene zusammen – größere Öffnung bei Vokalen und größere Enge bei Konsonanten sind ein deutliches Anzeichen für einen stärkeren artikulatorischen Aufwand bei ärgerlicher Sprechweise. Die Betrachtung der Gesamtdauer einzelner Sprechproben zeigt, dass nur ängstliche Äußerungen in ihrer Dauer reduziert sind, während alle anderen emotional gehaltvollen Sprachproben länger als die neutrale Variante sind. Die Rangfolge der Dauern mit zunehmenden Werten ist: Angst, Neutral, Freude, Ärger, Trauer, Langeweile. Die Daueränderungen in den verschiedenen Sprechweisen basieren auf unterschiedlicher zeitlicher Ausdehnung der Konsonanten und Vokale. Sowohl Langeweile als auch Ärger und Trauer sind dadurch gekennzeichnet, dass fast alle Lautsegmente gedehnt werden, wobei Trauer als einzige Emotion die Besonderheit aufweist, dass Konsonanten mehr gedehnt werden als Vokale. Eine ganz andere Tendenz zeigen die freudigen Äußerungen; hier werden die Konsonanten gekürzt, während die Vokale gedehnt werden. Aber auch bei der Emotion Ärger treten bisweilen bei Nasalen und Plosiven Kürzungen auf, wobei bei den stimmhaften Plosiven sowohl die Dauer der Stimmanlautzeit (VOT) als auch die Okklusionsphase verkürzt werden, während bei den stimmlosen Plosiven nur die Okklusionsphase gekürzt wird. Interessanterweise treten bei den ängstlichen Äußerungen trotz der vielen Kürzungen fast aller Laute bei den stimmlosen Plosiven deutliche Dehnungen der Stimmanlautzeit auf, die sich auch in einer hohen Anzahl stark aspirierter Plosive niederschlägt, was wiederum den Eindruck einer geflüsterten Falsettstimme verstärkt. Die insgesamt geschlossenere Artikulation in einem ängstlichen Zustand hängt wahrscheinlich mit einer grundsätzlich starren und angespannten Körperhaltung zusammen. Trauer und Angst sind bei allen Sprechern die Emotionen, die die meisten Verschleifungen und Elisionen – zum Teil sogar die 154 © Verlag K

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Auslassung ganzer Silben – nach sich ziehen. Die Äußerungen mit ärgerlicher Sprechweise zeigen bei allen Sprechern die geringsten Auslassungen und Verschmelzungen. Bemerkenswert ist dies vor allem deswegen, weil Ärger nach Angst die Emotion ist, die mit der schnellsten Sprechgeschwindigkeit einhergeht. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass ein enger Zusammenhang zwischen Sprechtempo und Reduktionsphänomenen besteht. Dieser Zusammenhang scheint bei ärgerlicher Sprechweise außer Kraft gesetzt zu werden. Fasst man die Beobachtungen zur Artikulationsgenauigkeit zusammen, so ist festzuhalten, dass die Sprechweise bei Angst und Trauer einerseits und Ärger andererseits sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Ärger ist die einzige Emotion, bei der sich im Vergleich zur neutralen Version auch elaborierte Elemente in der Sprechweise finden lassen. Ärger geht also häufig mit einer präzisen Artikulation einher. So lassen sich viele Beispiele dafür finden, dass bei Ärger deutlicher artikuliert wird als in neutraler Sprechweise und auch deutlicher als bei allen anderen Emotionen. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass bei ärgerlichen Äußerungen eine Zunahme stark betonter und eine Abnahme unbetonter Silben eintritt. Bei ängstlichen und traurigen Äußerungen tritt genau das Gegenteil ein. Betonte Silben werden in aller Regel mit einer präziseren Artikulation realisiert, unbetonte Silben hingegen mit ausgeprägten Reduktionen. Bei Trauer und Langeweile ist die hohe Anzahl von konsonantischen und vokalischen Reduktionen besonders bemerkenswert, da die Sprechgeschwindigkeit bei diesen Emotionen geringer ist als bei anderen Emotionen oder der neutralen Sprechweise und daher eine unpräzise Artikulation eigentlich unwahrscheinlich ist. Eine Erklärung für die starke Reduktion bei Trauer und Langeweile ergibt sich aus der geringen Muskelspannung, mit der diese Emotionen aufgrund des geringen Erregungsgrades einhergehen. Diese These wird durch die Ergebnisse der Analyse der spektralen Energieverteilung bei stimmlosen Frikativen unterstützt. Die weniger ausgeprägte Verengung ist ein Zeichen für einen geringeren artikulatorischen Aufwand bei Trauer und Langeweile. Betrachtet man die Satzmelodien emotionaler Äußerungen, so ist anhand der Intonationskonturen zu erkennen, dass eine relativ 155 © Verlag K

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zuverlässige Diskrimination zwischen Emotionen mit hohem und niedrigem Erregungsgrad möglich ist. Es können deutliche Unterschiede zwischen traurigen, gelangweilten und neutralen Äußerungen einerseits und ängstlichen, freudigen und wütenden Äußerungen andererseits gefunden werden. Darüber hinaus zeigen sich auch signifikante Unterschiede zwischen Langeweile und Trauer sowie zwischen Freude und Wut. Auch Angst ist von anderen Emotionen abgrenzbar. Die Messungen zur Variationsbreite und zur Stimmlage ergeben, dass die ängstlichen Äußerungen einen ähnlich schmalen Variationsbereich wie traurige Äußerungen besitzen und die Minima der Grundfrequenz (F0) zwischen den Akzenten leicht unter den Werten von Freude und Wut liegen. Beide Merkmale zusammen sind ein eindeutiges Indiz für eine ängstliche Äußerung. Zusätzlich dazu weist Angst die kürzesten Akzente, als einzige Emotion eine insgesamt ansteigende F0-Kontur und den höchsten finalen F0-Wert auf. Bei einigen ängstlichen Sätzen gab es kein finales Absinken, sondern sogar einen leichten Anstieg auf der letzten Silbe. Die Analyse ergibt auch signifikante Unterschiede zwischen Trauer und Langeweile. Gelangweilte Äußerungen unterscheiden sich von den anderen Emotionen durch eine signifikant längere Dauer der Akzente und ein längeres Absinken der Grundfrequenz auf der letzten Silbe. Weiterhin sind die Unterschiede zwischen F0-Maxima und F0-Minima der Akzente signifikant größer als bei den traurigen Äußerungen. Die Grundfrequenzkontur zeigt insgesamt bei Langeweile ein stärkeres Absinken als bei traurigen Sätze. Die Suche nach Parametern, die eine zuverlässige Diskrimination zwischen Freude und Wut ermöglichen, bleibt schwierig. Nur zwei deutliche Unterschiede lassen sich bislang anhand der Satzmelodie ausmachen: die Steilheit des finalen Absinkens und der Unterschied zwischen den F0-Maxima und -Minima bei den Satzakzenten. Bei den ärgerlichen Äußerungen weisen beide Parameter höhere Werte auf. Bei der Analyse von Satzmelodien emotionaler Äußerungen können verschiedene Typen von Intonationskonturen innerhalb einer Emotion gefunden werden. Dies gilt speziell für wütende, freudige und gelangweilte Äußerungen und zu einem geringeren 156 © Verlag K

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Teil auch für ängstliche Äußerungen. So lässt etwa eine Unterscheidung der Kategorie Ärger in ›Wut‹ und ›unterdrückten Ärger‹ oder die Aufteilung von Trauer in ›offene Trauer‹ und ›stille Trauer‹ eine jeweils noch einheitlichere Interpretation zu. V. Stimme und Persönlichkeit 4 Wenn eine Stimme fest klingt und die Satzmelodie lebendig daherkommt, sind unmittelbar erste Hinweise gegeben, dass Eigenschaften wie Willensstärke, Energie, eventuell auch Durchsetzungsvermögen oder innere Beweglichkeit vorhanden sind. Die Art der Betonung kann dann Aufschluss geben, ob die Energie eher in Richtung des Durchsetzungsvermögen im Sinne eines Befehlstones geht oder aber eher in Richtung einer Begeisterungsfähigkeit. Ein minimales Zittern im Stimmklang könnte andeuten, dass es um die Selbstsicherheit dieses Menschen doch nicht so zuverlässig bestellt ist. Unser menschliches Ohr ist für solche Nuancen hoch sensibel. Unsere Fähigkeiten werden in diesem Bereich oft stark unterschätzt, weil solche Analysen und Bewertungen im Alltag unbewusst ablaufen und Laien nicht in der Lage sind, ihre Urteile auf einer Metaebene zu begründen. Eine Begründung ist im Alltag auch nicht erforderlich. Wichtiger ist, dass Stimmen unmittelbar auf uns wirken und wir uns solchen Beurteilungen kaum entziehen können. Jeder Mensch kann schon nach einem ersten Eindruck einer Stimme sagen, ob die Stimme nach seinem Gefühl angenehm oder unangenehm klingt. Fragt man Hörer gezielt nach dem Eindruck eines Stimmklanges und gibt man dazu Beschreibungshilfen in Form unterschiedlicher Adjektive, so können Hörer in aller Regel Stimmen schnell und zuverlässig charakterisieren. Auch bei der Wiederholung solcher Befragungen bleiben die Hörer stabil bei ihrem Urteil. Ob eine

4 Ewa Stalewska: Der Ausdruck der Persönlichkeit in Stimme und Sprechweise, Berlin 2008 (Masterarbeit am Institut für Kommunikation und Sprache der TU Berlin, betreut durch Walter Sendlmeier)

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Stimme eher warm oder weich klingt oder aber eher scharf, kalt und hart, kann von Hörern sehr klar eingeschätzt werden. Da die Stimme einen Einblick in die Seele, in die Innerlichkeit, in den Charakter eines Menschen gibt, ist sie etwas Intimes. Sie verrät eventuell auch unsere Angst zurückgewiesen zu werden, unsere Sehnsüchte oder unsere Aufgeregtheit und Verlegenheit. Wer seine Stimme einsetzt bzw. zu erkennen gibt, öffnet sich somit ein Stück weit, oder anders formuliert, er/sie kommt aus der Deckung, gibt seine/ihre Person durch den Klang der Stimme preis. Schon durch den ersten Höreindruck von Stimme und Sprechweise erhalten wir ein recht differenziertes »Bild« von einem Menschen. Wer sich nach diesem Höreindruck nicht abwendet, sondern auf diesen Menschen zugeht, hat tatsächlich ein echtes Interesse an genau diesem Menschen. Die Anonymität und Beliebigkeit von Personen bezogenen Daten wird durch den spezifischen Stimmklang und die individuelle Art der Satzmelodie und der Aussprache aufgehoben. Der Zugang zu wesentlichen Aspekten der Persönlichkeit ist unmittelbar und weitgehend unverfälscht gegeben. Wer auf einen Menschen zugeht, dessen Stimme man kennt, weiß weit mehr worauf er/sie sich einlässt als bei Vorliegen einer bloßen schriftlichen Beschreibung und auch weit mehr als bei der Betrachtung eines Bildes. Beides kann sehr leicht manipuliert werden und sagt über das tatsächliche Wesen eines Menschen recht wenig aus. Die Persönlichkeitsforschung hat sich seit langem um die Messung von stabilen Persönlichkeitsmerkmalen bemüht. Am bekanntesten sind die beiden Merkmale Extraversion und Neurotizismus geworden. Inzwischen haben sehr viele Untersuchungen immer wieder die Existenz von fünf Dimensionen nachgewiesen, die man auch als die Big Five, die großen Fünf, bezeichnet. Ihre Ausprägung bei einzelnen Personen kann sehr zuverlässig durch einen Persönlichkeitstest – den NEO-PI-R – ermittelt werden. Dieser weltweit in der Forschung und klinischen Praxis am häufigsten eingesetzte Fragebogen zur Messung des Fünf-Faktoren-Modells der Persönlichkeit basiert auf den Ergebnissen jahrzehntelanger faktorenanalytischer Forschung mit umfangreichen Bevölkerungsstichproben und klinischen Probandengruppen. Das revidierte NEO-Persönlichkeitsinventar (NEO-PI-R, nach Costa und McCrae) erfasst 158 © Verlag K

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mit 240 Items die Hauptbereiche interindividueller Persönlichkeitsunterschiede. Der besondere Vorteil dieses Inventars liegt in seiner großen Bandbreite. Es ermöglicht eine umfassende und zugleich detaillierte Persönlichkeitsbeschreibung. Auch für die Erhebung von Fremdbeurteilungen, z. B. durch Familienangehörige, nahe stehende Bekannte oder Klinikpersonal steht eine entsprechende Form zur Verfügung. In der Praxis wird sehr häufig eine Kurzform dieses Tests eingesetzt, die unter der Bezeichnung NEO-Fünf-Faktoren Inventar (NEO-FFI) firmiert und ebenfalls sehr zuverlässige Ergebnisse liefert. Es können folgende fünf Kern-Dimensionen unterschieden werden, die die Basis unserer Persönlichkeit bilden: die Faktoren Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Für die ersten beiden Faktoren, die oft als die wichtigsten eingeschätzt werden, gibt es erste Ergebnisse im Hinblick auf stimmliche und sprechsprachliche Indikatoren. Die Skala Neurotizismus erfasst Unterschiede in der emotionalen Stabilität gegenüber der emotionalen Labilität. Stabilität wird durch Attribute wie stabil, ruhig, sorglos und unempfindlich gekennzeichnet, Labilität dagegen durch Attribute wie angespannt, besorgt, unsicher und sensibel. Die Skala Extraversion unterscheidet gesellige Menschen, die gesprächig, aktiv und heiter sind und gern auf andere Menschen zugehen von solchen, die eher zurückhaltend sind und oft den Wunsch verspüren allein zu sein, ohne aber unter sozialer Ängstlichkeit zu leiden. Sprecher und Sprecherinnen, die sich mithilfe des NEO-FFI selbst als eher ängstlich, unsicher, besorgt und sensibel einschätzen, werden auch von Hörerinnen und Hörern aufgrund kurzer Sprachbeispiele dieser Sprecher – ebenfalls mit Hilfe der Frageitems des NEO-FFI – als eher labil eingestuft. Die Sprachbeispiele bestanden aus ca. 15 Sekunden gelesener bzw. spontan gesprochener Rede, deren Inhalt keinerlei Aufschluss über Charaktereigenschaften ergab; in einem weiteren Testteil wurde lediglich der gehalten realisierte Vokal /a/ dargeboten. Je komplexer die sprachlichen Strukturen sind, desto deutlicher treten die Sprechereigenschaften zu Tage. Aber bereits anhand der isoliert erzeugten und wenige Sekunden 159 © Verlag K

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gehaltenen Vokale konnten signifikante Korrelationen zwischen den Beurteilungen der Persönlichkeitseigenschaften durch die Sprecher selbst und den Fremdbeurteilungen durch Hörer gefunden werden. Für die Skala Extraversion ergaben sich ebenfalls signifikante Korrelationen zwischen den Selbsteinschätzungen der Sprecher und Sprecherinnen und den Fremdbeurteilungen durch Hörer, wobei den Hörerurteilen wiederum lediglich die kurzen sprachlichen Äußerungen der Sprecher zugrunde lagen. Die Einstufungen auf den NEO-FFI-Items sind in hohem Maße ähnlich. Sprecher, die sich selbst eher als gesellig, gesprächig und Personen orientiert – also extrovertiert – einstuften, wurden auch von den Hörern als extrovertiert wahrgenommen. Und Sprecherinnen und Sprecher, die sich selbst als introvertiert einstuften, wurden auch von den Hörern als eher zurückhaltend und weniger an anderen Menschen orientiert beurteilt. Die Sprechweise der als stabil eingestuften Sprecher/Sprecherinnen ist gekennzeichnet durch spektrale Eigenschaften, die in höheren Frequenzen mehr Energie und klarere Formantkonturen aufweisen. Dieses Merkmal geht wahrscheinlich auf stärkere Rückstellkräfte der an der Phonation beteiligten Muskeln zurück. Weiterhin ist die mittlere Tonhöhe der als stabil eingestuften Sprecherinnen niedriger als die der als labil beurteilten Sprecherinnen. Die Maße für Stimmstabilität (Shimmer, Jitter und Tremor-Index) sind für die als labil eingestuften Sprecherinnen deutlich höher als bei den als stabil eingestuften. Die extrovertierten Sprecher weisen eine schnellere und bisweilen deutlichere Artikulation als die introvertierten Sprecher auf. Die Sprechweise der introvertierten Sprecher ist besonders durch eine geringere Dynamik und geringere Grundfrequenzvariation gekennzeichnet; ihre Satzmelodie wirkt insgesamt monotoner. Als extrovertiert wahrgenommene Sprecher und Sprecherinnen weisen entsprechend eine größere Variationsbreite hinsichtlich prosodischer Merkmale auf. Die extrovertierten Sprecher sprechen auch deutlich lauter als die introvertierten Probanden.

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VI. Synchronstimmen 5 Der Frage nach der stimmlichen Manifestation von Charaktereigenschaften kann man sich auch über eine Analyse von Synchronstimmen nähern. Durch eine solche Analyse kann deutlich werden, wie sehr durch die Stimme und Sprechweise die Interpretation des Charakters einer Filmrolle beeinflusst werden kann. Am Beispiel des US-amerikanischen Kinofilms »Die Promoterin« sind wir der Frage nachgegangen, inwieweit sich der Einsatz einer Synchronstimme verändernd auf den entsprechenden Charakter einer Filmrolle auswirkt bzw. ob Hörer die verschiedenen Stimmen und Sprechweisen in der Originalversion und in der synchronisierten Fassung unterschiedlich wahrnehmen. Der Film erzählt die Lebensgeschichte einer erfolgreichen, selbstbewussten Frau namens Jackie Kallen, die sich als Boxpromoterin in einer Männerwelt zu beweisen versucht. Die Rolle der Jackie Kallen wird von der amerikanischen Schauspielerin Meg Ryan gespielt; die deutsche Synchronsprecherin ist Ulrike Möckel. Meg Ryan spricht diese Filmrolle mit einer tiefen und rauen Stimme; an Äußerungsenden kommt es häufig zu einer ausgeprägten Knarrstimme. Die Sprechweise wirkt monoton und ruhig, oft gelangweilt und sogar depressiv. Die Artikulation ist undeutlich und teilweise durch völlige Tilgung der Plosive im Auslaut geprägt. Die deutsche Synchronstimme hat dagegen eine etwas höhere, festere und klarere Stimme. Nur selten ist leichtes Knarren in der Stimme wahrnehmbar. Die Sprechweise wirkt sehr lebendig, zielstrebig und engagiert; die Artikulation ist deutlich und oft mit hartem Stimmeinsatz. Beide weisen häufige Betonungen auf, allerdings scheinen diese auf unterschiedliche Art erzeugt zu werden. Ergänzt man die auditive Beschreibung in einem zweiten Schritt durch systematische Hörtests in Form eines Polaritätsprofils – bestehend aus 20 adjektivischen Gegensatzpaaren – zur Erfassung der Sprechwirkung, so ergeben sich folgende Beobachtungen. Die sta5

Dagny Trägler: Der Einfluss der Synchronstimme auf die Charakterdarstellung, Berlin 2007 (Magisterarbeit am Institut für Kommunikation und Sprache der TU Berlin, betreut durch Walter Sendlmeier)

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tistischen Auswertungen zeigen deutliche Unterschiede in der Beurteilung der Stimme und Sprechweise der beiden Sprecherinnen. Das US-amerikanische Original wurde von Hörern beider Muttersprachen Deutsch und Englisch insgesamt als monotoner, gleichgültiger, behauchter, weniger energisch, eintöniger, rauer, weniger autoritär, undeutlicher, tiefer, langsamer und schwächer eingestuft als die deutsche Synchronstimme. Aber sie wurde auch als entspannter, natürlicher und angenehmer empfunden. Demnach erscheint Meg Ryan in ihrer Umsetzung des Filmcharakters von der Intention, wie der Charakter verstanden werden soll, weiter entfernt zu sein als die deutsche Stimme, die der Interpretation als einer starken Geschäftsfrau nach den Hörerurteilen eher entspricht. Interessanter Weise scheint es in dem vorliegenden Fall der Synchronstimme besser gelungen zu sein als der Originalstimme, den in Interviews von Regisseur und Drehbuchautorin geäußerten Vorstellungen des Filmcharakters zu entsprechen. Auch die Ergebnisse der akustischen Analyse weisen deutliche Unterschiede auf. Meg Ryan spricht mit einer für Frauenstimmen sehr tiefen mittleren Grundfrequenz und weist einen relativ geringen Stimmumfang sowie geringe Stimmvariabilität auf. Ihre Intonationsverläufe enthalten viele lange, gerade und flach abfallende Konturlinien. Dies weist auf eine monotone, gleichgültige, wenig energische und eintönige Sprechweise hin. Betonungen werden primär durch Veränderungen der Vokalqualität, Dehnungen von Silben sowie Betonungspausen erzeugt. Sie spricht im Vergleich zu der deutschen Sprecherin langsamer. Die Stimmqualität Meg Ryans ist durch relativ wenig Energie im oberen Spektralbereich, hohe Jitterund NHR(noise-to-harmonic-ratio)-Werte sowie zahlreiche Laryngalisierungen gekennzeichnet. Dies sind die akustischen Korrelate der auditiv als rau, behaucht und knarrend empfundenen Stimmqualität. Die deutsche Stimme wird insgesamt in einer höheren Tonlage realisiert; zudem weist sie einen größeren Stimmumfang sowie eine größere Standardabweichung auf. Die Intonationsverläufe sind sehr bewegungsreich; ausgeprägt steigende und fallende Intonationsverläufe kennzeichnen vor allem betonte Silben. Dies ist die akustische Grundlage für die Wahrnehmung der Sprechweise durch die Hörer als abwechslungsreich, engagiert, energisch, leben162 © Verlag K

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dig und hoch. Die Wahrnehmung der Artikulation als sehr deutlich kann durch die dezentralisierte Lage der ersten beiden Formanten bestätigt werden. Betonungen werden primär durch Veränderungen der Intonationskontur auf Silbenebene erzeugt. Aufgrund der höheren Wortlastigkeit der deutschen Sprache muss Ulrike Möckel mehr Text artikulieren als das englische Original, was zu einer höheren Sprechgeschwindigkeit und kürzeren Pausen führt. VII. Bildhafte Vorstellungen von Radiomoderatoren 6 Im Rahmen von Untersuchungen zu Stimme und Sprechweise im Hinblick auf Indikatoren für zugrunde liegende oder auch andere wahrnehmbare Eigenschaften von Menschen lässt sich auch die Frage aufwerfen, ob Hörer und Hörerinnen sich von Sprechern und Sprecherinnen eine bildhafte Vorstellung machen, wenn ihnen nur Information über den auditiven Kanal zur Verfügung steht. Die sehr wenigen, älteren Arbeiten zu dieser Thematik legen nahe, dass sich Hörer ein mentales Bild von einem Sprecher / einer Sprecherin machen, auch wenn sie diese nicht visuell wahrnehmen können. Neuere Forschung zu dieser Fragestellung liegt nicht vor. Erste eigene Untersuchungen mit drei Sprechern und drei Sprecherinnen zu der Frage, ob sich Radiohörer von Radiomoderatoren eine bildhafte Vorstellung machen, ob sich die mentalen Bilder der Hörer ähnlich sind und inwieweit die bildhaften Vorstellungen mit bestimmten stimmlichen und sprecherischen Merkmalen in Verbindung gebracht werden können, wurden mithilfe eines Phantombildprogramms durchgeführt. Für die im Fragebogen erhobenen körperlichen Merkmale gab es bei den Hörerurteilen deutliche Übereinstimmungen. Die Einschätzungen des Alters, der Körpergröße und selbst der Haarfarbe wiesen große Übereinstimmungen auf. Auch für die Vorstellung der äußerlichen Attraktivität, der Statur (schlank vs. dick) oder des 6

Jan Gerhard: Die Analyse bildhafter Vorstellungen von Radiomoderatoren mit Hilfe des Programms Phantombildgenerator, Berlin 2008 (Magisterarbeit am Institut für Kommunikation und Sprache der TU Berlin, betreut durch Walter Sendlmeier)

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Ausmaßes der eingesetzten Mimik gab es hohe Übereinstimmungen in den Hörerbeurteilungen. Die mit dem Phantombildprogramm erhobenen Gesichter wiesen jedoch nur bedingt Ähnlichkeiten auf. Dennoch sind auch hier gewisse Tendenzen zu ähnlichen Annahmen über das Aussehen der Sprecher zu finden. Einige seien hier beispielhaft aufgeführt: – Sprecher 1, der die tiefste Stimme hat, wurde ein sehr attraktives, maskulines Erscheinungsbild attribuiert. Mit den höchsten Anteilen an bärtigen Gesichtern, sehr markanten Gesichtszügen und eher dunklen Augen scheint er vielen Hörern dem Klischeebild eines attraktiven starken Mannes zu entsprechen. Seine Phantombilder sehen sich am ähnlichsten. – Für Sprecher 2 ergab sich eine sehr deutliche Tendenz zum Klischeebild des jungen, eher schmalen und modernen Mannes mit aktueller Frisur. Er hat in der Vorstellung der Hörer volle Haare und etwas hellere Augen. Seine Phantombilder ähneln sich ebenfalls in hohem Maße, die Hörer gaben aber an, dass sie das mentale Bild dieses Sprechers nicht so deutlich vor Augen hätten; umso mehr überrascht die große Übereinstimmung. – Für die Phantombilder von Sprecher 3 sind erhebliche Abweichungen festzustellen, insbesondere hinsichtlich der Breite des Gesichtes. Dennoch wurde dieser Sprecher recht einheitlich als am wenigsten attraktiv eingestuft. Seine – für einen Mann – sehr hohe Stimmlage und die sehr angespannte Sprechweise könnten die Ursache für das eher negative Gesamtbild dieses Sprechers sein. – Für die drei Sprecherinnen lassen sich ähnliche Tendenzen aus den Daten ableiten. Die Korrelationen der Hörerbeurteilungen mit den akustischen Messungen stimmlicher Parameter erbrachten ebenfalls zahlreiche signifikante Zusammenhänge. So führte etwa eine tiefere Stimmlage zu einer Beurteilung als attraktiver; dies galt vor allem für die männlichen Sprecher. Auch eine schnellere Sprechweise führte zu einer Beurteilung als attraktiver. Sprecher mit einem hohen F0-Range wurden eher als fülliger eingeschätzt. Gab es in der Satzmelodie eine schnellere Folge von Konturrichtungsänderungen, so wurden die Sprecher als sportlicher, jünger und insgesamt als agiler 164 © Verlag K

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eingeschätzt. Bei einem hohen Anteil steigender Konturen wurden die Sprecher als weniger sportlich und weniger attraktiv beurteilt. Positiv wurde ein hoher Anteil an fallend-steigenden Konturen wahrgenommen, die stark mit Größe und Attraktivität korrelierten. VIII. Das vegetative Nervensystem Sind Eigenschaften von Stimme und Sprechweise im Kontext der Übernahme sozialer Rollen primär das Ergebnis gelernter Verhaltensweisen, so sind stimmliche Merkmale als Ausdruck von Persönlichkeitseigenschaften eher eine Mischung aus gelerntem und angeborenem Verhalten. Stimmliche Veränderungen in Abhängigkeit des emotionalen Zustandes sind sicherlich als universell determiniert zu betrachten, wenn auch im Ausprägungsgrad kulturell überformt. Emotionale Zustände wie Trauer oder Ärger werden in manchen Kulturen offener gezeigt als in anderen. Die überdauernden Persönlichkeits- bzw. Charaktereigenschaften und auch die stärker schwankenden emotionalen Zustände stehen nicht nur mit bestimmten Erregungen im zentralen Nervensystem in einem Zusammenhang, sondern werden auch stark durch Aktivitäten der beiden Komponenten des vegetativen Nervensystems – des Sympathikus und des Parasympathikus – beeinflusst. Das vegetative Nervensystem steuert lebenswichtige Funktionen des Körpers wie Kreislauf, Verdauung, Stoffwechsel, Atmung, Sekretion usw. Die Aktivierung von Sympathikus und Parasympathikus führt dabei zu entgegengesetzten Wirkungen. Es ist die abwechselnde Aktivität dieser beiden Mechanismen, die so die Regulation der Körperfunktionen ermöglichen. Auch bei Emotionen und bestimmten Charakterausprägungen zeigen sich eher sympathische oder aber parasympathische Aktivitäten. Es gibt bisher keine Untersuchungen darüber, welche direkten Auswirkungen der vegetativen Erregung auf die Physiologie der Sprachproduktion bestehen. Dass solche Auswirkungen bestehen, ist nahe liegend, wenn man z. B. bedenkt, dass Sprechen ganz wesentlich von der Atmung abhängig ist. Zudem führen sympathische 165 © Verlag K

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und parasympathische Erregung zu veränderter Muskelaktivität – besonders der quer gestreiften Muskulatur. Solche Veränderungen des Muskeltonus und der Muskelinnervation betreffen grundsätzlich auch die an Stimmbildung und Artikulation beteiligten Muskeln. Außerdem haben die an der Mimik beteiligten Muskeln, die zum Teil mit artikulatorisch bedeutsamen Muskeln identisch sind (Lippen, Wangen, Kiefer) phylogenetisch ihren Ursprung im Atmungsapparat (der Wirbelfische) und weisen direkte Verbindungen zum vegetativen Nervensystem auf. Es könnten bei den Emotionen, die mit sympathischer Erregung verbunden sind, eine bessere Kontrolle, stärkere Anspannung und größere Beweglichkeit der an der Sprachproduktion beteiligten Organe die Folge sein. Bei übergroßer sympathischer Erregung könnten sich diese Auswirkungen jedoch auch so steigern, dass sowohl im laryngalen als auch im supralaryngalen Bereich extreme Anspannung und Engebildung die Folge sein könnten. Ebenso geht bei übergroßer sympathischer Erregung die Speichelproduktion zurück, was bei ängstlichen Menschen oder in Angstsituationen deutlich die Beweglichkeit der Artikulationsorgane einschränkt. Dies ist auch der Grund dafür, dass an einem Rednerpult häufig ein Glas Wasser steht. Die Emotionen, bei denen eine parasympathische Erregung auftritt, weisen dagegen eine geringere Muskelaktivität auf, weil durch parasympathische Erregung der Herzschlag verlangsamt und die Muskulatur weniger stark durchblutet wird. Je nach Stärkegrad der parasympathischen Erregung wäre ein normaler, moderater Anspannungsgrad bis hin zu einer totalen Erschlaffung und Lähmung der laryngalen und supralaryngalen Muskulatur die Folge (Depression, Trauer). IX. Einstellung und Ironie 7 Eine bewusste Steuerung der stimmlichen und sprecherischen Eigenschaften liegt hingegen vor, wenn Sprecher und Sprecherinnen in mündlichen Äußerungen durch ihre jeweilige Sprechweise ihre 7

Berit Johansen/Sendlmeier: »Prosodische Indikatoren ironischer Sprechweise«, in: Walter Sendlmeier/Astrid Bartels (Hrsg.): Stimmlicher Ausdruck in der Alltags-

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Einstellung zu Objekten bzw. Sachverhalten oder zu Personen, über die etwas mitgeteilt wird, zum Ausdruck bringen. Beschränkt man sich bei der Behandlung dieser Frage auf die prosodischen Phänomene der Sprechweise und zum anderen auf die Dichotomie einer positiven vs. negativen Bewertung des Mitgeteilten, so können systematische Unterschiede beobachtet werden. Die Realisierung von Sätzen wie etwa »Bayern München ist wieder Deutscher Meister geworden«, ist je nach Einstellung zu diesem Fußballverein (Fan oder Gegner) eine ganz andere; der Unterschied tritt insbesondere an der Satzmelodie der beiden Realisierungen zu Tage. Lässt man Sprecher semantisch neutrale Sätze unter Vorgabe gegensätzlicher Kontexte, die entweder eine positiv oder eine negativ wertende Sprechweise evozieren, aussprechen, so sind die korrekten Zuweisungen der Wertungen durch Hörer zu den von den Sprechern intendierten Evaluationen durchweg sehr hoch. Am höchsten fallen die korrekten Interpretationen für die positiv wertenden Sprechweisen aus: Hier liegen die Erkennungsraten zwischen 93,5 % und 99,5 %. Hörer sind also insgesamt sehr gut in der Lage, wertende Färbungen einer Sprechweise zuverlässig zu erkennen. Die positiv wertende Sprechweise ist durch eine höhere mittlere Stimmlage und eine erhöhte Sprechgeschwindigkeit gekennzeichnet. Die Betonung wird ganz überwiegend primär durch Tonhöhenänderungen realisiert und nicht durch Änderungen der Lautstärke oder Dehnungen. Die Äußerungen sind rhythmisch beschwingt und abwechslungsreich. Die negativ wertenden Äußerungen klingen hingegen häufig gelangweilt, manche erzeugen sogar den Eindruck von Unlust, Abscheu oder Ekel. Die mittlere Sprechstimmlage ist deutlich tiefer und die Sprechgeschwindigkeit deutlich langsamer. Die Stimme klingt meist normal, aber bisweilen ist sie durch Behauchungen und Laryngalisierungen gekennzeichnet. Die Betonung erfolgt primär durch Dehnungen; eine Akzentuierung durch Tonhöhenvariation kommt dagegen selten vor. Die Satzmelodie erscheint eher monoton. kommunikation, Berlin 2005, S. 39–70; Ines Enterlein/Astrid Bartels/Sendlmeier: »Prosodische Indikatoren der Sprechereinstellung«, in: Sendlmeier/Bartels, Stimmlicher Ausdruck, S. 9–38.

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Wie aus solchen wertenden Färbungen der Sprechweise ersichtlich wird, ist die intendierte Botschaft einer sprachlichen Handlung nicht immer aus der wörtlichen Bedeutung einer Äußerung ableitbar. Eine andere Form dieses nicht-wörtlichen Sprechens ist die verbale Ironie. Die am häufigsten vorkommende Form verbaler Ironie ist die, in der die wörtliche Bedeutung positiv und die Sprecherintention negativ ist, also eine Diskrepanz zwischen unterschiedlichen Ebenen des sprachlichen Ausdrucks vorliegt. Auf diese Form der Ironie sei hier im Hinblick auf den sprechsprachlichen Ausdruck – ebenfalls unter besonderer Berücksichtigung prosodischer Merkmale – kurz eingegangen. Wie zu erwarten, sind einige Parallelen zu den Einstellungsindikatoren zu beobachten. Die ironische Sprechweise ist durch prosodische Eigenschaften gekennzeichnet, die sich von der wörtlichen Sprechweise unterscheiden. Die ironische Sprechweise ist durch eine tiefere mittlere Grundfrequenz und durch eine geringere Variationsbreite charakterisiert. Die Standardabweichung der Grundfrequenz ist deutlich geringer als bei wörtlicher Sprechweise. Die Satzmelodie ist also bei ironischer Sprechweise auffallend weniger abwechslungsreich. Entsprechend zeigt die weitere Auswertung stilisierter Grundfrequenzkonturen, dass bei ironischer Sprechweise der Anteil an geraden Konturen höher ist als bei wörtlicher Sprechweise. Der Anteil an steigenden Konturen ist bei ironischer Sprechweise kleiner und insgesamt sind die Grundfrequenzbewegungen weniger steil. Die Sprechgeschwindigkeit ist bei ironischer Sprechweise geringer. Deutliche Unterschiede sind auch in der Art der Betonung zu finden. Werden bei wörtlich gemeinter Sprechweise die Hervorhebungen von Silben, insbesondere des Satzakzentes, primär durch ein Tonhöhenmaximum realisiert, so wird die Hervorhebung betonter Silben in der ironischen Sprechweise vornehmlich durch eine deutliche Dehnung der Silben bei fast gleich bleibender oder sogar abgesenkter Grundfrequenz erzeugt. Interessant ist, dass die Intonationskontur der ironischen Sprechweise nicht nur Ähnlichkeiten mit negativ wertenden Äußerungen aufweist, sondern insgesamt eine Ähnlichkeit mit Konturverläufen, wie wir sie bei traurigen und langweiligen Sprechweisen im Bereich unserer Emotionsforschung gefunden haben. Diese Diskrepanz zwischen positiver Be168 © Verlag K

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deutung (bei wörtlicher Interpretation) und negativ bewerteter Intonation ist wohl ein entscheidender Indikator für ironische Sprechweise. X. Conclusio Schon Platon hob das Primat der Mündlichkeit als unmittelbar wirkende Kommunikationsform hervor. Mündliche Sprache ist trotz der Verfügbarkeit aller modernen Medien – einschließlich des Internet – immer noch die mit Abstand im Alltag am häufigsten genutzte Form der menschlichen Kommunikation; und sie ist die natürlichste Form der Kommunikation. Aus dieser ursprünglichen Form heraus entstand, entwicklungsgeschichtlich betrachtet, erst sehr viel später die Schriftlichkeit als sekundär abgeleitetes Medium. Für den Verlauf von Alltagskommunikation sind die Charaktereigenschaften von großer Bedeutung. Ob ein Mensch eher besorgt und unsicher oder aber eher stabil und selbstsicher ist, kann für den Verlauf eines Gesprächs sehr entscheidend sein. Ob der Kommunikationspartner eher abenteuerlustig und gesellig oder aber eher still und nach innen gekehrt ist, kann für die Harmonie oder Dissonanz einer sozialen Interaktion ausschlaggebend sein. Aber ganz unabhängig davon, ob man einem Kommunikationspartner – beruflich oder privat – mit möglichst vielen Übereinstimmungen oder aber mit sich gegenseitig ergänzenden Eigenschaften gegenüber steht, Voraussetzung ist immer, dass man überhaupt die Eigenschaften und die aktuelle Stimmung eines anderen Menschen einschätzen kann, um diesen adäquat zu adressieren. Aus den Körpermaßen sind diese Hinweise sicherlich nicht abzuleiten. Durch Stimmklang und Sprechweise findet hingegen eine Fülle zuverlässiger Informationen über die Signalquelle ihren Ausdruck. Geschickt eingesetzt sind die Möglichkeiten und Vorteile der mündlichen Rede gegenüber der Schriftsprache um ein Vielfaches höher. Wer offen und natürlich redet, dem wird Vertrauen entgegengebracht, und wer Vertrauen erhält, findet auch persönliche Anerkennung. Durch Mündlichkeit können über die reine Information hinaus Stimmungen und Wertungen vermittelt werden, 169 © Verlag K

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was besonders dann von großer Bedeutung ist, wenn es das Ziel der mündlichen Kommunikation ist, alte Gefühlshaltungen zu beseitigen und neue zu wecken. Aus den Vorzügen der Mündlichkeit ergeben sich allerdings auch mögliche Nachteile. Durch den Sprechausdruck werden mehr Informationen übermittelt, als der Sprecher eventuell preiszugeben bereit ist. Sehr schüchterne und ängstliche Menschen verzichten deshalb häufig aus Angst davor, vermeintliche Defizite zu offenbaren, auf mündliche Äußerungen. Abschließend sei noch auf den Ausdruck und die Wirkung von freiem Sprechen gegenüber dem Vorlesen eines Textes eingegangen. Häufig wird versucht, dem Hörenden vorzutäuschen, dass der Sprechende frei und spontan spreche – ein Versuch, der oft nicht glückt und sich häufig in der Sprechweise deutlich bemerkbar macht. Insbesondere in der Satzmelodie sind Unterschiede zwischen einer Vorlese- und einer Sprechintonation klar herauszuhören. Die typische, ›geleierte‹ Vorleseintonation ist insbesondere durch eine zu große Zahl betonter Silben gekennzeichnet. In einem Satz sollte aber in der Regel nur ein Satzakzent enthalten sein, dem die anderen Wortakzente deutlich untergeordnet sind. Nur so kann der Zuhörende die Kernaussage leicht erkennen. In freier und vielleicht sogar spontaner Rede gelingt dies Sprechenden meist mühelos und völlig unbewusst. Da sich ein Vorlesender, der in der Vortragsart des Vorlesens nicht ausgebildet ist – anders als beim freien Sprechen – an den Wörtern entlang arbeitet und nicht vorausschauend liest, wird der Sinn und damit die richtige Betonung oft erst zu spät erkannt; Betonungshäufungen sind die Folge und die Hörenden haben so keinen unmittelbaren Zugang zum Sinnverstehen. Der häufigste Grund für das Ablesen eines vorgefertigten Textes ist die Angst vor der Sprechsituation und die Angst sich zu versprechen. Diese Angst gilt es zu überwinden. Allzu ängstlichen Sprechern und Sprecherinnen mag das Wissen darum helfen, dass Zuhörende bei frei und spontan vorgetragenem Sprechen eine sehr hohe Toleranz für Versprecher aufweisen und viele kleinere Versprecher nicht einmal wahrnehmen oder zumindest nach kurzer Zeit schon nicht mehr erinnern. Zum freien Sprechen gehören Versprecher immer auch dazu; sie machen sogar einen Teil der Natürlichkeit aus. 170 © Verlag K

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Bei dem Vorgehen, artikulatorische und akustische Korrelate für den stimmlichen Ausdruck zu bestimmen und die Relevanz einzelner Merkmale für Hörer zu erfassen, darf nie vergessen werden, dass diese zergliedernden Einzelbefunde nur dann sinnvoll interpretiert werden können, wenn sie auf die Wahrnehmung eines Sprechers, einer Sprecherin als unmittelbar gegebene und erlebte Ganzheit bezogen werden. Für Hörer gilt in der Alltagskommunikation stets das Primat der Sinnganzheit, zu der auch die Einbettung in einen situativen Kontext gehört. Auf dieser Basis werden von Hörern kategoriale Urteile über den stimmlichen Ausdruck von Sprechern gefällt, wobei die kategorialen Urteile nicht binär als EntwederOder, sondern eher als Mehr oder Weniger gefällt werden. Ein Sprecher oder eine Sprecherin erscheinen aufgrund des Stimmklangs und der Sprechweise als mehr oder weniger sympathisch, mehr oder weniger glaubwürdig, mehr oder weniger aufgeregt, mehr oder weniger ärgerlich usw., wobei es sich bei solchen Attributionen stets um Wahrnehmungen handelt, wie sie ein jeweiliger Hörer unmittelbar erlebt.

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Wortgesichter – Zur physiognomischen Artikulation des Zeichenkörpers »Der Begriff vermag sich aber ebenso wenig von dem Worte abzulösen, als der Mensch seine Gesichtszüge ablegen kann.« Wilhelm von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus

I. Einleitung In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. 11. 2001 lese ich unter der Rubrik Dinge – Lieblingswörter folgendes: »Mein aktuelles Lieblingswort, keine Zungenbrecherin, nein: eine Zungenmasseuse – sorry aber sie lautet: Dschalalabad. […]. Einsilber und Abwerfkaliber à la Bush oder Rums oder York sind dagegen nur viril turbopotente, inhumane Rumpfbrocken. Dschalalabad zergeht ganz anders auf sofort sympathisch herzblutend mitwallender Apex linguae, wundersam flautando, [also hauchender, verschleiernder Klang, Anm. S. V.] […], richtig intonierbar praktisch nur mit Turban. Wer nüchtern an sich hält, mag Dschalabad sagen; wer noch opiumumnebelter als sowieso mittremoliert, wird in ein […] gelalltes Dschalalalabad münden. So oder so taumelt in einem HulaHoop-Aladin à la Dschalalabad die runde Fülle asiatischer Weichheit, wie in Dschihad, der wohlweislich nicht Tschihat heißt, oder in Chi, das auf chinesisch Dschi ausgesprochen wird, wie in Dschungel oder Dschunke, oder in Dschuang Dsi, der neuerdings viel stählender, militanter eingedeutscht wird: Zhuangzi, fast schon hartkantig. Ein Jammer, dass immer wieder das Harte das kaum Weichere besiegt.« 1 Der afghanische Ortsname Dschalalabad ist für den hier nur mit einem Buchstabenkürzel gekennzeichneten Autor nicht die beliebi1

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. November 2001, S. 8.

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Wortgesichter – Zur physiognomischen Artikulation des Zeichenkörpers

ge Verknüpfung einer für sich bedeutungsleeren Lautgestalt mit einem Begriffsinhalt. Die Lautgestalt des Ortsnamens legt bereits selbst begriffliche Vorstellungen und Bedeutungsstereotypen nahe. Vor allem durch das Erlebnis der Artikulation wird die Lautgestalt zum passenden Ausdruck »runder Fülle asiatischer Weichheit« im Gegensatz zu einigen namentlich genannten »hartkantigen Rumpfbrocken«. Sie ist hier somit nicht neutraler Träger des Begriffsinhalts. Beide Seiten Begriffsinhalt und Lautgestalt verschmelzen miteinander zu einer Ausdrucksplastik, zu einem Wortgesicht, wie der Psychologe Heinz Werner es nennt. Im Bereich der Eigennamen finden sich schnell weitere Beispiele für eine solche gesichtsartige Wahrnehmung von Wörtern. Von Christian Morgenstern stammt die nicht unironische Feststellung: »Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen.« Und Ludwig Wittgenstein behauptet allen ernstes, dass »der Name ›Schubert‹ irgendwie zu Schuberts Werken und seinem Gesicht passen würde.« 2 Die Existenz dieser sprachlichen Ausdrucksphänomene wirft einige Fragen auf: Wie sind diese Worterlebnisse mit dem in der modernen Linguistik geltenden Grundsatz der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens vereinbar, d. h. dass es keinen naturgegebenen Zusammenhang zwischen einem sprachlichen Zeichen und seinem Inhalt gibt, das also z. B. das mit Pferd bezeichnete Lebewesen nur zufällig zu seiner Bezeichnung gekommen ist und eigentlich auch Murmelpitz oder Banane heißen könnte? Wie weit reicht neben den genannten Fällen von Namenphysiognomik diese Auffassungsweise bzw. werden auch andere Wörter mit einem Gesicht wahrgenommen? Was leistet die Analogie mit dem menschlichen Gesicht für ein Verständnis der Wortwahrnehmung? Welches sind die Konstituenten des Wortgesichts? Was sagt dieses Ausdrucksphänomen über die Beziehung der Sprachteilnehmer zu ihren sprachlichen Redemitteln aus? Der Hamburger Psychologe Heinz Werner hat sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts theoretisch und experimentell um 2

Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Stuttgart/Zürich/Salzburg (ca. 1966), S. 527.

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eine Erforschung und – mit weniger Erfolg – um eine Anerkennung der genannten sprachlichen Ausdrucksphänomene bemüht. Ausgehend von Werners 1932 erschienenem Werk »Grundfragen der Sprachphysiognomik« möchte ich im folgenden versuchen, Antworten auf die gestellten Fragen zu finden und hierfür 1. Werners Theorie einer physiognomischen Semiotik umreißen und sie im Kontext der linguistischen Arbitraritäts-These diskutieren, 2. mit Hilfe der Schmitzschen Terminologie eine begriffliche Einordnung gesichtsartiger Erlebnisse leisten, 3. auf der Grundlage von Werner und Schmitz das Konzept der Klanggesichts von Karl Bühlers einer kritischen Revision unterziehen, 4. zusammenfassend die physiognomische Artikulation als eigenständige Gliederungsform eines Wortes herausstellen. 2. Heinz Werners Sprachphysiognomik Nach Werners Ansicht existieren zwei grundlegende Betrachtungsweisen eines sinnlichen Gegenstandes. Er kann zum einen eher rational »begrifflich-sachlich« bzw. »geometrisch-technisch« aufgefasst werden, zum anderen ist er aber auch physiognomisch, seiner inneren Bewegung, seinem Ausdruck nach wahrnehmbar. 3 Paradigmatisch für diese physiognomische Betrachtungsweise ist für ihn das menschliche Gesicht, da bei dessen Wahrnehmung in besonders deutlicher Form die Differenz zwischen qualitativem Gesamteindruck und Analyse der Teilmerkmale hervortritt. Ein Gesicht lässt sich nicht aus formalen geometrischen Merkmalen wie z. B. der messbaren Entfernung zwischen Augen und Mund erschließen. Um die spezifische Erscheinungsweise des Gesichtshaften und Physiognomischen zu kennzeichnen, reichen auch die Begriffe Ganzheit und Gestalt nicht aus. Ganz und gestaltet sind ebenso geometrische Figuren und der geometrische Aufbau des Gesichts. Im Unterschied zu den einfachen Ganzheiten und Gestalten 3

Heinz Werner: Grundfragen der Sprachphysiognomik, Leipzig 1932, S. 2.

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ist ein Gesicht bestimmt durch seine Züge. Bei diesen Zügen handele es sich um eine empfindungsmäßige Dynamik und Spannung, welche sich durch das Wortganze zieht. Nur da, wo die innere Bewegung selbst, die sich ausprägende innere Spannung anschaubar ist, könne von Physiognomie von Ausdruck gesprochen werden: Den Ausdruck eines Gegenstandes wahrzunehmen, heißt daher für Werner seine Gesichtzüge zu erfassen. Speziell im Bereich der Wortwahrnehmung bedeutet für Werner eine gesichtsartige Wahrnehmung, dass für den Hörer, Sprecher oder Leser die Materialität des Zeichens zum unmittelbaren Ausdruck des Bezeichneten wird. Wörter und auch Sätze werden nicht nur gestalthaft und ganzheitlich wahrgenommen, sondern erhalten in einem aktiven Modellierungsprozess auch optisch, akustisch und motorisch das Aussehen bzw. das Gesicht ihrer Bedeutung. Besonders bei Kindern und geistig beeinträchtigten Personen macht Werner eine ausgeprägte Fähigkeit zur gesichtsartigen Wahrnehmung von Wörtern aus. Bei gesunden Erwachsenen könne die Wahrnehmung von Wortgesichter zumindest experimentell angeregt werden. Er legte hierfür seinen Versuchspersonen Karteikarten mit darauf gedruckten Wörtern vor und forderte sie auf, die Wörter gesichtsartig aufzufassen. Ebenso wurden Wörter mit Hilfe eine Tachistoskop erst allmählich kenntlich macht. Es zeigte sich, dass die charakteristische Dynamik einer physiognomischen Wortqualität in einer spezifischen Organisation bzw. Haltung des ganzen Körpers wurzelt, die als Gesamtempfindung erfahren wurde. Die jeweilige dynamische Struktur dieser körperlichen Organisation entstammt der empfundenen Wortbedeutung und bestimmt die Ausformung und Ausmodellierung des Wortes. Eine Versuchsperson, die die Aufgabe hatte, das auf ein Kärtchen gedruckte Wort »hart« nicht begrifflich, sondern seinem gesichthaften Ausdruck entsprechend zu erleben, gibt beispielsweise folgendes zu Protokoll: »Im ersten Augenblick erlebe ich (als unmittelbar) eine bestimmte Organisation des Körpers, mit seinem Zentrum im Rücken und Hals, besonders stark in den obersten Halswirbeln. Sie entspricht genau dem Wortbild und seiner Bedeutung, hat etwas Stählernes. Dann zerfällt das Wortbild für eine Zeit. Ich bekomme es aber doch 175 © Verlag K

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ziemlich schnell wieder, als ich das h und t besonders anpacke. Hier ist das, was ich vorher in mir erlebt hatte, anschaulich da: eine Organisation in senkrechter Richtung wie in mir. Von hier aus gewinne ich das Bild wieder. Es ist aber jetzt deutlich abgerückt von mir. Hat seine Existenz da draußen für sich. Ist von hellfarbiger Substanz, etwas starr und stakig, auch eckig.« 4 In den sechziger Jahren hat Werner diese körperliche Organisation dann als Tonusvorgänge des Gesamtorganismus interpretiert, wobei physiologisch ausgerichtete Erklärungsmuster in den Vordergrund treten. 5 Wie Werner weiterhin herausarbeitet, fokussieren die begrenzten Modellierungsmöglichkeiten des jeweiligen Zeichenkörpers auf eine bestimmte Ansicht des Signifikats. Gleich der Betrachtung durch einen Filter werden bestimmte Momente der Lautgestalt und bestimmte Momente des Bedeutungsinhalts hervorgehoben, andere unterdrückt. Claude Lévi-Strauss berichtet vergleichbar über die linguale Einfärbung seiner Begriffsvorstellungen: »Für mich, der ich in gewissen Zeiten meines Lebens ausschließlich Englisch gesprochen habe, ohne deshalb zweisprachig zu sein, besagen fromage und cheese zwar dieselbe Sache, aber mit unterschiedlichen Nuancen; fromage erinnert an etwas Schweres, eine fettige und bröcklige Materie, an etwas kräftig Schmeckendes. Es ist ein Wort, das besonders gut das bezeichnet, was die Milchhändler ›pâtes grasses‹ nennen, während cheese viel leichter, frisch, etwas scharf und im Munde zergehend (vgl. die Form der Mundöffnung) klingt und mich unmittelbar an Weißkäse erinnert. Der ›archaische Käse‹ ist also für mich ein anderer, je nachdem ob ich französisch oder englisch denke.«6 4

Ebd., S. 53. Werner/Bernard Kaplan: Symbol formation – An organismic-developmental approach to language and the expression of thought, New York/London/Sydney 1963. 6 Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I (zuerst 1958), aus dem Franz. von Hans Naumann, Frankfurt/Main. 1977, S. 108; Eine Sammlung persönlicher physiognomischer Erlebnisse deutscher und französischer Wörter hat zur gleichen Zeit der Schriftsteller Rudolf Leonhard zusammengestellt. Vgl. Rudolf Leonhard: Das Wort, Berlin 1931. 5

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Dass nun zu solchen Ausdeutungen des Zeichenmaterials ebenso viele Gegenbeispiele auffindbar sind, wertet die physiognomische Phonetik Werners nicht ab. Im starken Kontrast zu den materialistischen Ausdruckslehren, die traditionell von festen Bedeutungsbeziehungen ausgehen, ergibt sich für Werner der Ausdruck auf der Grundlage einer sprachspezifischen Ausdrucksbasis und dem konkreten Situationszusammenhang. Werner sieht sich hier durch die Experimente von Helmuth Plessner und Frederik Buytendijk über die Ausdrucksbilder des menschlichen Gesichts bestätigt. Aus deren Experimenten geht hervor, dass mit Ausnahme von Lachen und Weinen das mimische Ausdruckbild je nach Situationskontext vielfältige Deutungen zulässt. 7 Durch die Forschungen von Paul Ekman wissen wir heute, dass die Ausdrucksbilder einiger Basisemotionen durchaus kulturübergreifend in gleicher Weise gedeutet werden. 8 Und so zeigt auch ein interlingualer Vergleich der semantischen Ladung von Sprachlauten, dass anders als Werner vermutet, einige universale Tendenzen der Zuschreibung bestehen. Beispielsweise bewerten Sprachteilnehmer genetisch nicht verwandter Sprachen den qualitativen Gegensatz zwischen artikulatorisch vorderen und hinteren Vokale tendenziell als Gegensatz von höher – tiefer, kleiner – größer, heller – dunkler, leichter – schwerer, spitzer – stumpfer und aktiver – passiver. 9 Ungeachtet seiner Ablehnung materialistischer Ausdruckslehren und der Betonung der Situationsdeterminiertheit jeder Lautsemantik räumt Werner an einigen Stellen der lautlichen Materie einen gewissen Eigenwert ein. Sie soll den Rohstoff für die Modellierung des Wortgesichts bilden. 10 Sofern sie für die Ausdrucksplastik »tauglich« sind bzw. die Bedeutung des Wortes veranschaulichen können, bilden einzelne Laute oder Lautverbindungen »Kraftzentren« und »dynamische Gipfel« aus, die auf die gesamte Lautstruktur ausstrahlen und diese entsprechend modifizieren. 7

Vgl. Werner, Grundfragen, S. 6 ff. Vgl. Paul Ekman: Gesichtsausdruck und Gefühl. 20 Jahre Forschung von Paul Ekman. Hrsg. von Maria von Salisch, Paderborn 1988. 9 Vgl. Stefan Volke: Sprachphysiognomik – Grundlagen einer leibphänomenologischen Beschreibung der Lautwahrnehmung, Freiburg/München 2007, S. 123 ff. 10 Werner, Grundfragen, S. 86 ff. 8

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Werner unterscheidet zwischen einer phonetischen und einer physiognomischen Betrachtungsweise der Sprachlaute. In der phonetischen Einstellung werden analog mit der »geometrisch-technischen« Behandlung der Farben als »nüchterner Stellenwert im spektralen System« die Laute als Glieder einer Lautordnung betrachtet und ihnen relativ eindeutige und starre Qualitäten zugeschrieben. 11 In der physiognomischen Einstellung besitzen die Laute hingegen eine Fülle von Qualitäten, die je nach Wortbedeutung bzw. -dynamik akzentuiert sind. Der Vokal /i/ kann je nach Kontext z. B. für Helligkeit, Winzigkeit, Schnelligkeit, Spitzigkeit stehen. Hintergrund dieser semantischen Ladung der Sprachlaute bilden intermodalen Qualitäten wie Volumen, Dichte, Gewicht, Helligkeit, Aktivität die mit dem Sprachschall innig verwoben sind und ebenso Artikulationsempfindungen und Buchstabenformen ihr charakteristisches Gepräge verleihen. 12 Im Sinne Roman Jakobsons besitzt der Sprachlaut auf diese Weise »außerhalb seines grundlegenden und konventionellen Sprachgebrauchs, eine latente synästhetische Assoziation und so eine unmittelbare, semantische Nuance« 13 Wie sind diese Worterlebnisse im Lichte der linguistischen Arbitraritätsthese zu bewerten? III. Die relative Arbitrarität des Zeichens Der Grundsatz der Arbitrarität des sprachlichen Zeichen im Sinne einer Beliebigkeit der Verbindung von Zeichenkörper und Bedeutung hat für den historischen Wortbildungsprozess weitestgehend seine Berechtigung. Für »linguistisch ›unverdorbene‹ Sprachteilhaber« 14 besitzt er in Hinsicht auf den bereits konstituierten Wort11

Ebd., S. 4 u. 90. Vgl. Suitbert Ertel: Psychophonetik – Untersuchungen über Lautsymbolik und Motivation, Göttingen 1969 u. Volke, Sprachphysiognomik. 13 Roman Jakobson/Linda R. Waugh: Die Lautgestalt der Sprache, (aus dem Engl. von Christine u. Thomas F. Shannon), Berlin/New York 1986, S. 259. 14 Gerhard Augst: Untersuchungen zum Morpheminventar der deutschen Gegenwartssprache, Tübingen 1975, S. 205. 12

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schatz bekanntlich keine Gültigkeit. Der Zusammenhang zwischen Signifikat und Signifikant ist innerhalb einer Sprachgemeinschaft durch Konvention geregelt. Er beruht auf einer »Kollektivgewohnheit«. Für die einzelnen Sprecher sind diese Verknüpfungen daher nicht beliebig. Die Sprecher wachsen in diese Verwendungen der sprachlichen Mittel gleichsam hinein, so dass »die sprachlichen Tatsachen kaum zu Kritik Anlaß geben« und »jedes Volk«, so Ferdinand de Saussure »im allgemeinen mit der Sprache, die es empfangen hat, zufrieden ist.« 15 Jakobson erwähnt hierzu passend »[d]ie schweizer-deutsche Bauersfrau, die angeblich gefragt hat, warum Käse bei ihren französischen Landsleuten fromage hieße – »Käse ist doch viel natürlicher!«16 Georg von Gabelentz veranschaulicht den gemeinten Sachverhalt mit der Anekdote über einen Sprachteilnehmer, der kundtat: »Aber die Franzosen sind närrische Leute, – die nennen ein Pferd Schewall!« 17 Allein von der Fiktion eines linguistischen Außenposten her, d. h. für einen objektiven Beobachter, der sich selbst als Mitglied einer Sprachgemeinschaft ausklammert, erscheint das Verhältnis von Signifikant und Signifikat arbiträr: »Die Entscheidung, dass das sprachliche Zeichen arbiträr sei, weil dasselbe Tier in einem Land Ochs und in einem anderen bœuf heißt, läuft daraus hinaus zu behaupten, dass der Begriff der Trauer ›arbiträr‹ sei, weil sie in Europa durch schwarz, in China durch weiß symbolisiert wird. 18 Werners Sprachphysiognomik ist als Versuch zu verstehen, gegenüber der linguistischen Wirklichkeit des sprachlichen Zeichen, die durch Kenntnisse der Sprachgeschichte und des Sprachsystems geprägt ist, jener für den Sprachteilnehmer unvoreingenommeneren Beziehung zu den Worten und Sätzen zur Anerkennung zu verhelfen. Von einigen Autoren werden die Modellierungen von Wort15

Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 85. 16 Jakobson: »Zeichen und System der Sprache«, in: ders., Form und Sinn – Sprachwissenschaftliche Betrachtungen, München 1974, S. 7–30, hier S. 18. 17 Georg von Gabelentz, Die Sprachwissenschaft – ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, Leipzig 1891, S. 217. 18 Émil Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 63.

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gesichtern indessen nur als Trugschlüsse und Täuschungen gewertet. Der Romanist Mario Wandruszka hält im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den Ausdruckswerten des Lautmaterials fest, dass »der Mensch […] immer wieder […] zwischen der […] Lautgestalt des Wortes und der darin ausgedrückten Vorstellung eine innere Verbindung her[stellt]. Der Mensch, der in den Worten der ihn aufnehmenden Sprachgemeinschaft fühlen, wollen, erkennen lernt, erfährt die Welt als naiver Realist: aus der Lautgestalt ihrer Namen treten ihm die Dinge selbst entgegen, in dieser und keiner anderen Lautgestalt liegen sie beschlossen. Die Dinge heißen so, weil sie so sind, sie sind so, weil sie so heißen.« Diese »Selbsttäuschung« gehöre »zum Wesen der Sprache« und gibt »zuerst dem Wortlaut der Muttersprache seine innere Notwendigkeit, eine Art Unumstößlichkeit […], die man dann aber auch in fremden Sprachen erfahren kann, so daß einem das eine oder andere fremde Wort in seiner Lautgestalt treffender, glücklicher zu sein scheint als ein etwa entsprechendes Wort der Muttersprache.« Er bezeichnet sie als »sekundäre Motivation« der Wörter, die »immer und überall in der Sprache am Werk [ist]«. 19 Auch de Saussure räumt im Rahmen der Lautsymbolik eine solche Neigung der Sprachteilnehmer ein und erklärt es für möglich, dass bestimmte Wörter wie beispielsweise frz. fouet (Peitsche) oder frz. glas (Totenglocke) »für manches Ohr einen Klang« hätten, »der an sich schon etwas vom Eindruck der Wortbedeutung erweckt.« Die Sprachgeschichte zeige jedoch, dass die lateinischen Grundformen dieser Wörter einen solchen suggestiven Klang nicht besaßen und ihr jetziger Klang daher nur ein zufälliges Ergebnis darstellt. 20 Bei dieser Beweisführung wird unzulässiger Weise die synchronische mit der diachronischen Betrachtungsweise vermengt. De Saussure ist »durch die Etymologie derart voreingenommen […], dass er viel mehr wert darauf legt, woher die Wörter stammen, als wozu sie geworden sind.« Ist ein Wortklang nicht immer suggestiv gewesen, so wird seine aktuelle suggestive Kraft außer Acht gelassen 19

Mario Wandruszka: »Ausdruckswerte der Sprachlaute«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift IV, 1954, S. 231–240, hier S. 233. 20 de Saussure, Grundfragen, S. 81.

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und als Phantasiegebilde erklärt. 21 Was leistet die LautsymbolikForschung, die von de Saussure in dieser Frage für zuständig erklärt wird, bei der Aufklärung dieser Phänomene? Im Zentrum der neueren Forschung stehen: 1. die potentielle Lautsymbolik bzw. die Symbolfähigkeit sinnfreier Lautgebilde (Logatome); 2. die Formen expressiver Lautsymbolik im Wortschatz der Sprachen, in denen die Sprachlaute entsprechend ihrer symbolfähigen Eigenschaften Verwendung gefunden haben. 22 Als eine zentrale Untergruppe expressiver Lautsymbolik werden die Erscheinungen sogenannter »Phonästheme« untersucht, die entsprechend der von Werner postulierten einzelsprachlichen Ausdrucksbasis sprachspezifische Verknüpfungen von Lauten und Bedeutungen innerhalb des Wortschatzes darstellen. Im Deutschen, dessen phonästhemische Strukturen im Gegensatz zum Englischen noch kaum erforscht sind, können beispielsweise von den 132 Wörtern, die mit der Verbindung Kn- beginnen acht Bedeutungsreihen unterschieden werden, darunter die Bedeutungsreihe »Zusammenballung«, vertreten u. a. durch »Knäuel, knäueln, Knödel, Knolle, Knoten, knüpfen« oder die Bedeutungsreihe »Reiben, Drücken«, vertreten u. a. durch »Knatsch, kneifen, kneten, knutschen«.23 Charakteristisch für die Phonästheme ist ihre Reihenbildung. Verschiedene Phonästhemreihen können einander überlagern und sich zu ganzen Netzwerken verzweigen. Der Gebrauch von Wörtern einer semantischen Kategorie, die übereinstimmende Lautsegmente aufweisen, stiftet den Ausdruckswert der Phonästheme maßgeblich mit. 24 21

Otto Jespersen: Die Sprache, ihre Natur, Entwicklung und Entstehung, Heidelberg 1925, S. 400. 22 Vgl. Ertel: »Der Lautcharakter künstlicher Lautgebilde«, in: Psychologische Forschung 28, 1965, S. 491–518, hier S. 491 ff. 23 Viliam Schwanzer: »Charakteristische schallnachahmende Lautgruppen im Deutschen«, in: Proceedings of the 6th international congress of phonetic sciences, Prag 1970, S. 803–805. »Knolle […]. Gehört zu den Wörtern für verdickte Gegenstände mit Anlaut kn-, vgl. Knauf (Knopf, knüpfen, Knüppel, Knopper, Knospe), Knödel, Knorren (Knorz, Knirps, Knorpel), Knödel, Knubbe, Knust, Knüttel. Ein weiterer Zusammenhang mit den Wörtern für ›zusammendrücken‹ und Anlaut kn- ist denkbar.«, in: Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch, 22. Auflage, Berlin/New York 1989, S. 384 f. 24 Vgl. J. R. Firth: Speech, London 1930, S. 187, zitiert nach: Hans Käsman: »Das

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Die Formen subjektiver Modellierung von Wortgesichtern führt man in der Forschung als impressive Lautsymbolik. Während der Anteil expressiver Lautsymbolik im Wortschatz der Sprachen relativ gering ausfällt, ist es ein wesentliches Merkmal impressiver Lautsymbolik, dass sie theoretisch den gesamten Wortschatz eines Sprachteilnehmers kennzeichnen. In der Vergangenheit verabsolutierten entsprechend einige Autoren ihre subjektiven Wortmodellierungen und nahmen sie zum Ausgangspunkt, nahezu allen Wörtern des Wortschatzes eine eigentliche und allgemeingültige lautsymbolische Natur nachzuweisen. 25 In Abgrenzung von dieser »lautsymbolischen Raserei« richtet sich das gegenwärtige Forschungsinteresse vielmehr auf den objektiven und für jedermann geltenden Anteil der semantischen Ladungen des Lautmaterials, der mit Hilfe von Statistik und psychologischem Experiment ermittelt wird. Gegenüber de Saussure kommt dem Phonetiker und Kommunikationswissenschaftler Gerold Ungeheuer seine Kenntnis der Forschungen Heinz Werners zugute. Er löst die Diskussion um die subjektive Wortgesichter aus dem Kontext lautsymbolischen Fragestellungen und richtet den Fokus auf das besondere Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat, das in diesen Fällen zum tragen kommt. Im Rahmen seines Programms einer Psychophonetik betont er die Bedeutung von Werners Sprachphysiognomik für die Frage der qualitativen Repräsentation von Wörtern. Zusammenfassend schreibt er hierzu: »Was uns hier interessiert, ist der Tatbestand, dass aufgrund […] der physiognomischen Wahrnehmung der Lautbestand eines Wortes, im verstehenden Auffassen der Sprache, so sehr mit seinem Wortsinn verschmelzen kann, dass für den Hörer bestimmte Merkmale der Wortbedeutung, unmittelbar einsichtig werden. Hierbei handelt es sich keineswegs um onomatopoetische Phänomene, sondern um solche, in denen begrifflichsachlicher Wahrnehmung nach der Wortlaut keinerlei lautmalerienglische Phonästhem sl-«, in: Anglia – Zeitschrift für englische Philologie 10, 1992, S. 307–346. 25 Eine neueres Beispiel dieses Versuchs ist Ludwig Zollitsch: Biologie der Wörter – Eine etymophthongologische Systematik der deutschen Wörter einschließlich der Lehnund Fremdwörter, Uffing 1975 ff.

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sche Tendenz besitzt und trotzdem für die physiognomische Perzeption markante Charakteristika der Wortbedeutung in der Schallgestalt sich unmittelbar ausdrücken.« 26 Wie kann diese nach Ungeheuers Worten »innige Amalgamierung von Lautung und Bedeutung« der begrifflichen Vorstellung nahe gebracht werden? Ungeheuer geht in dieser Frage nicht auf Werners Konzept des Gesichtes ein, sondern versucht durch Vermutungen über die »neurologischen Korrelate im Gehirn« den sprachphysiognomischen Sachverhalten Plausibilität zu verleihen. Hier seien »ja Lautung wie Bedeutung als elektrische Impulssignale repräsentiert […], und [treffen] in demselben Schwall neuronaler Entladungs- und Hemmungsmixturen die Signalfäden etwa von Wortlautung und Wortinhalt aufeinander […] und [beeinflussen] sich unentwirrbar gegenseitig«. 27 Unabhängig von den möglichen neurophysiologischen Parallelvorgängen ist zu erkunden, ob nicht bereits auf phänomenologischer Ebene das Konzept des Gesichthaften begrifflich noch um einiges präziser gefasst und einsichtig gemacht kann. Es bleibt der besondere Verdienst Heinz Werners, jene zur alltäglichen Sprachwirklichkeit zählenden Ansichten der sprachlichen Mittel als wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand gewürdigt und anhand der von ihm konstatierten Mikroprozesse der Modellierung eine erste umfassendere theoretische Einordnung unternommen zu haben. IV. Gesichter als Situationen Auch bei Hermann Schmitz findet sich eine Analogisierung mit dem menschlichen Gesicht. Die Wahrnehmung von Gesichtern 26

Gerold Ungeheuer: Phonetik und angrenzende Gebiete – Miszellaneen, Fragmente, Aufzeichnungen aus dem Nachlaß, herausgegeben von Wilhelm H. Vieregge und Joachim Göschel, Stuttgart 1993, S. 19. 27 Ders.: »Über den arbiträren Charakter des sprachlichen Zeichens«, in: Sprache – Gegenwart und Geschichte (Sprache der Gegenwart, Band 5 – Schriften des Instituts für deutsche Sprache Mannheim), Düsseldorf 1969, S. 65–77, hier S. 76.

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dient ihm jedoch nicht als Zeugnis einer besonderen Auffassungsart der Gegenstände, sondern als Leitbild der normalen durchschnittlichen Wahrnehmung von Menschen und Dingen. Während bei Werner der Akzent auf dem Ausdruck eines Sinns liegt, geht es für Schmitz um das Eindruckmachen von Menschen und Dingen. Am Leitbild des Gesichtes erläutert Schmitz das Primat des Eindruckshaften in der Wahrnehmung. Nicht einzelne klar voneinander separierte Sinnesdaten werden wahrgenommen, sondern ein Gemenge von Sachverhalten, Programmen und Problemen. Hierfür ein längeres Zitat Schmitz’: »Was Menschen gewöhnlich unbefangen wahrnehmen, das sind in erster Linie Eindrücke. […] Was für ein Gegenstand so ein Eindruck ist, macht man sich leicht an einem interessanten Gesicht klar, besser vielleicht an einem gemalten oder in Stein gehauenen, etwa einem Porträt der Römer- oder Barockzeit. Es spricht zum Betrachter, wird ›vielsagend‹ genannt, macht einen fesselnden, vielleicht tiefen Eindruck, den man so leicht nicht los wird; man kann aber nicht genau sagen, was es sagt, man ahnt es nur, obwohl der Eindruck insgesamt scharf bestimmt ist. Man spürt die Sachverhalte, Programme und Probleme, die das Gesicht und der Mensch zu sagen hat, […] z. B. vorschwebende Ankündigungen dessen, womit man zu rechnen hätte, wenn man mit dem Menschen zu tun bekäme, […] Programme (Zumutungen) und Probleme können z. B. in seinem stechenden oder verschleierten usw. Blick zu liegen scheinen, usw., aber viel zu wenig davon hebt sich einzeln so ab, dass man einen Aufsatz darüber schreiben könnte, was das Gesicht zu sagen hat, ohne an dem intuitiv doch schon deutlichen und eigenartigen Eindruck vorbeizureden. Man hat es also mit einem Mannigfaltigen zu tun, das prägnant geschlossen und abgehoben ist, aber doch eigentümlich binnendiffus: Die vorschwebenden Sachverhalte usw. sind nicht alle einzeln und lassen sich deshalb auch nicht aufzählen, weil in ihrem Verhältnis zu einander nicht oder nicht in allen Fällen feststeht, welche mit welchen identisch und welche von welchen verschieden sind.« 28 28

Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand – Grundzüge der Philosophie, S. 19 f.

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Für diese Verhältnisse der Unklarheit, was mit wem identisch oder von wem verschieden ist, hat Schmitz bekanntlich die Bezeichnung »chaotische Mannigfaltigkeit« eingeführt. Die beschriebene Art von situativem Eindruck im Ganzen bezeichnet er als »impressive Situation«. In die impressive Situation sind weiterhin intermodale Qualitäten, die er synästhetische Charaktere nennt, und Bewegungssuggestionen des Steigens, Fallens, Wachsens, Schrumpfens, Strömens etc. eingelassen, die als Brückenqualitäten oder Kanäle leiblicher Kommunikation den Wahrnehmenden in Beschlag nehmen. Sie lassen sich mit Hilfe der Schmitzschen Kategorien des leiblichen Empfindens rekonstruieren. Ein Beispiel für einen solchen synästhetischen Charakter ist die Helligkeit, die als Konstellation von Spannung, Richtung privativer Weitung (vom Typ des Steigens) und epikritischer Tendenz kategorial beschrieben werden kann. Die Dinge der Wahrnehmung besitzen unter diesem Blickwinkel, wie Schmitz schreibt, sozusagen eine »leibartige Physiognomie«. 29 Werners Rede von einer Dynamik und Spannung als typischem Merkmal des Gesichtshaften wird so durch die Beteiligung von synästhetischen Charakteren und Bewegungssuggestionen am Wahrgenommenen verständlich. Vergleichbar mit Werner weitet nun auch Schmitz den Begriff Gesicht über das menschliche Antlitz hinausgehend auf alle entsprechend charakterisierbaren Wahrnehmungserlebnisse aus. Dinge erscheinen in der Wahrnehmung nach Schmitz als ein bestimmter Charakter mit wechselnden Gesichtern. Der Charakter gibt zu verstehen, um was für ein Ding es sich handelt und worauf man von ihm gefasst sein muss; die Gesichter wandeln sich bei stets konstant bleibendem Charakter. Ein Beispiel für den Wechsel der Dinggesichtes liefert für ihn der herannahende Zug, der zunächst als kleiner Farbfleck erscheint und dann mehr und mehr an Größe und Kontur gewinnt.30 Haben diese Feststellungen Konsequenzen für das Konzept der gesichtsartigen Wortwahrnehmung? Was für die normale Wahr-

29 30

Vgl. Volke, Sprachphysiognomik, S. 196 ff. Ders.: Die Wahrnehmung, System der Philosophie III/5, Bonn 1978, S. 111 ff.

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nehmung von Dingen und Menschen zutrifft, gilt dies in gleicher Weise für die Wahrnehmung von Wörtern? Ich komme damit auf Karl Bühlers Konzept der Identifizierung von Wörtern zu sprechen. Dieses Konzept enthält Anleihen an der Wernerschen Begriffsbildung und kommt ebenso der Schmitzschen Definition impressiver Situationen als primärer Wahrnehmungseinheiten entgegen. V. Karl Bühlers Konzept des Klanggesichts Bühler begrüßt in seiner 1933 erschienenen Ausdruckstheorie Werners terminologischen Vorschlag das Ausdruckshafte als »Gesicht« zu bezeichnen, weil er auf das Gebiet verweist, wo alle Erwachsene noch originär ausdruckshaltige Wahrnehmungen haben. Gleich Werner versteht er hier »Gesicht« als sinnfälligen Ausdruck von etwas oder jemandem. 31 Diese gesichtsartige Wahrnehmung soll zu einem früheren Stadium der Menschheitsentwicklung als auch im Frühstadium der Entwicklung von Einzelindividuen noch ausgeprägter gewesen sein. Er verweist auf den »physiognomischen Blick« mit dem seiner Erfahrung nach Jugendliche ohne Schwierigkeiten eine enorm hohe Zahl von Automarken voneinander unterscheiden können und kommt damit zugleich, so ist zu beobachten, auf die gesichtsartige Wahrnehmung im Sinne eines Eindruckmachenden zu sprechen. In seiner ein Jahr später erscheinenden Sprachtheorie unterzieht er allerdings Werners »Sprachphysiognomik« einer grundlegenden Kritik. Der laut Bühler in Werners Experimenten »hochgezüchtete Ausdruckswille« sei durch einen wenn auch psychologisch verständlichen Anschauungshunger und einer Sehnsucht nach einem direkten Kontakt und Verkehr mit den Sinnendingen motiviert. Dabei ist festzustellen, dass Bühler in seiner Besprechung den Existenzbereich der ikonisch ausgestalteten Wortphysiognomien einseitig auf den Sprechausdruck im Sinne eines »pointierte(n) Ausspre31

Karl Bühler: Ausdruckstheorie – Das System an der Geschichte aufgezeigt, Jena 1933, S. 203.

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chens« beschränkt. In der Struktur der Sprache gäbe es zwar bestimmte Fugen und Spielräume für so eine malende Modellierung der Lautsubstanz, die beschränkten Möglichkeiten würden im Ganzen jedoch kein kohärentes Darstellungsfeld ergeben. 32 Indessen stoßen wir bei Bühler für die Kennzeichnung der akustischen Wortwahrnehmung im Allgemeinen erneut auf den von Werner eingeführten Terminus »Gesicht«. 33 Der von den Phonologen um Nikolaus Trubetzkoy vertretenden Vorstellung, dass das Wort anhand einer Kette einzelner Phoneme identifiziert werden würde, stellt Bühler das Konzept des »Klanggesichts« oder »akustischen Gesichts« eines Wortes zur Seite. Ausschlaggebend für das Erkennen von Wörtern seien ganzheitliche Aspekte und nicht erst die Zergliederung in Einzelmerkmale: Man kann so Bühler »als Psychologe der aufstrebenden Phonologie unserer Tage nicht oft genug ins Merkbuch schreiben«, daß nämlich »kein Mensch imstande ist, Tausende von Gebilden, die einzig durch Notae-Kombinationen charakterisiert wären, praktisch so spielend, schnell und sicher auseinander zuhalten, wie das jeder normal geübte Partner einer Sprachgemeinschaft mit den Klangbildern der Wörter fertig bringt.« 34 Nach Bühler haben die Wortbilder beides, ein akustisches Gesicht, vergleichbar mit dem optischen Angesicht, dem Wuchs oder Gang eines Menschen und ein »Signalement«, d. h. eine Phonemstruktur. Die Auffassung des Wortes vollziehe sich vergleichbar mit unserer alltäglichen Personenidentifizierung: »ich erkenne Hunderte von näheren Bekannten am Gesicht oder Wuchs, an eigenartigen Bewegungen oder an der Stimme. Und das heißt begrifflich gefasst: an Komplexcharakteren, um die ich mich nicht besonders zu bemühen brauche, weil sie mir im Verkehr wie von selbst aufgehen und behalten werden; sie entstehen jedenfalls vielfach ohne eine nachweisbare Aufgliederung in Sondermomente.« Bühler versteht die Phoneme oder Sondermomente, als »Lautmale« am Klanggesicht. Sie seien die »Konstanzmomente« am sich in bestimmten Grenzen veränderbaren Gesicht der Klangbilder. 35 32 33 34 35

Ders.: Sprachtheorie – Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934, S. 195 ff. Ebd., S. 271 ff. Ebd., S. 282. Ebd., S. 275.

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Mit Schmitz gelesen gehört die Phonemstruktur eines Wortes zu dessen stets konstant bleibendem Charakter, der zu verstehen gibt, um welches Wort es sich handelt. Das je nach Stimmlage und Sprechausdruck variierende ganzheitliche Klangbild entspräche auch nach der Schmitzschen Terminologie dem Gesicht eines Wortes. Die Komplexcharaktere und Gestaltqualitäten, die Bühler zufolge das Klanggesicht ausmachen und an denen die Wörter vorwiegend erkannt werden, ergeben sich nach seiner Ansicht z. B. aus der »Melodie«, d. h. dem »Stimmhöhenrelief des Lautstroms«, dem »rhythmischen Gepräge« und den »Helligkeits- und Sättigungswellen der Vokalität.« 36 Hierbei handelt es sich um Gestaltverläufe bzw. Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere. Es fällt allerdings in Bühlers Konzept der Wortwahrnehmung auf, dass er zwar von der Identifizierung von Wörtern spricht, das spezifisch Gesichtsartige jedoch nicht mit dem Wort als Ganzem, sondern allein mit dessen klanglicher Seite in Verbindung bringt. Im Gegensatz zu Werner bei dem explizit von Wortgesichtern die Rede ist. Damit unternimmt Bühler eine für die Analyse günstige aber der Sprecherwirklichkeit nicht gerecht werdende Abstraktion und Verkürzung des Sachverhalts. Der Vergleich mit den Verhältnissen bei der alltäglichen physiognomischen Personenidentifizierung kommt indessen einer Interpretation des Worteindrucks als impressiver Situation im Sinne eine relativ chaotisch-mannigfaltigen Ganzheit entgegen. Ein Wort wird als mehr oder minder gegliederte »inhaltlichlautliche Ganzheit« 37 wahrgenommen. VI. Physiognomische Artikulation Nach de Saussure konstituiert sich das Wort als sprachliches Zeichen erst durch seine Verbindung von »Lautbild« und »Vorstel36

Ebd., S. 284. Leo Weisgerber: Grundzüge der inhaltsbezogenen Grammatik, Schwann 1962, S. 209. 37

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lung« als Ganzes. 38 Er vergleicht in den »Grundfragen« jene unauflösbare Einheit von Signifikant und Signifikat bekanntlich mit den zwei Seiten eines Blattes Papier, die man genauso wenig zu trennen vermag, wie den Laut vom Gedanken; 39 ein Bild, das allerdings eine anschauliche Abhebbarkeit der beiden Aspekte des Zeichens einbegreift. Lautbild und Begriffskonzept bilden eine »psychische Einheit mit zwei Gesichtern« (»une entité psychique à deux faces«). 40 An anderer Stelle wird de Saussure nicht müde zu betonen, dass die Differenzierung der beiden Aspekte und deren separate Untersuchung eine Abstraktion darstellt und dass allein die umspannende Ganzheit von Signifikat und Signifikant als »das konkrete Objekt« und damit als der Gegenstand einer sprachwissenschaftlichen Analyse zu betrachten ist. 41 Unter dem Einfluss der Assoziationspsychologie wird die Verknüpfung von ihm einmal als eine assoziative hingestellt, 42 an anderer Stelle geht aus seinen Beschreibungen hervor, dass beide Seiten dieser Ganzheit nicht einfach als separate Bestandteile assoziativ aneinander haften, sondern sich gegenseitig durchdringen: »Das Signifié allein ist nichts, es wird von einer unförmigen Masse aufgesogen. Das Gleiche gilt für das Signifiant.« 43 Benveniste spricht ähnlich von der »Konsubstanzialität des Ausdrucks und Inhalts.« 44 Das begriffliche Konzept entwickelt sich nach de Saussure zu einer Eigenschaft der akustischen Substanz und umgekehrt. 45 Ihre Fusion vollzieht sich als ordnende Glie-

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de Saussure, Grundfragen, S. 78. Ebd., S. 134. 40 de Saussure: Cours de linguistique générale, édition critique préparée par Tullio de Mauro, Paris 1985, S. 99. 41 Ders., Grundfragen, S. 122. 42 Ebd. 43 nach: Annette Kaudé: Saussures letztes Wort – Deutsche Übersetzung und Deutung der Hörermanuskripte zur dritten Genfer Vorlesung über allgemeine Sprachwissenschaft (1910–1911), (Dissertation), Düsseldorf 2006, S. 268, unter: http://deposit.ddb. de/cgi-bin/dokserv?idn=981587445&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename= 981587445.pdf (Stand: 01. 12. 2008). 44 Benveniste, Probleme, 1974. 45 Kaudé, letztes Wort, S. 268. 39

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derung und Artikulation, womit er an ein von Wilhelm von Humboldt herausgestelltes Grundprinzip von Sprache anknüpft.46 Über die Bewegung der Sprechorgane hinausgehend meint Artikulation in diesem erweiterten und hier von de Saussure angesprochenen Sinn die »Zerlegung von Erfahrungstatsachen in eine Folge von Einheiten, die jede eine lautliche Form und eine Bedeutung haben.«47 André Martinet prägte hierfür den Ausdruck der »doppelten Artikulation«. Jede Äusserung erhält auf diesen zwei Ebenen eine sprachspezifische Strukturierung. »Auf der ersten Ebene oder ersten Artikulation ist die Äußerung linear in bedeutungsvolle Einheiten gegliedert (signifikative Einheiten: Sätze, Syntagmen, Wörter etc.), von denen die kleinsten Moneme (oder Morpheme) genannt werden […]. Auf der zweiten Ebene oder zweiten Artikulation ist jedes Monem seinerseits in bedeutungslose Einheiten gegliedert (distinktive Einheiten), deren kleinste die Phoneme sind […]. So […] erscheint die doppelte Artikulation als eine Universale der Sprache.« 48 Das »Theilungsgeschaft der Sprache«, wie es Humboldt nennt, umfasst eine ganze Reihe von Artikulationen, die einander überlagern. Nach dem Medium der Unterteilung können beispielsweise die Artikulation des Sprechwerkzeuge, die Artikulation des Hörens und die Artikulation des graphischen Erscheinungsbildes, also die Einteilung durch Buchstaben unterschieden werden. 49 Im Sinne Humboldts ist »Artikulation [die] Grundfunktion des Denkens, sie ist Grundfunktion des Lautlichen, und sie ist der Begriff der Verbindung des Lautlichen mit dem Begrifflichen in der Sprache.« 50 Wichtig ist hierbei, dass diese innige gliedernde »Vermählung« von Form und Begriffskonzept, zwei zunächst »gestaltlose Massen« betrifft. De Saussure: »Das Denken, für sich genommen, ist wie eine Nebelwolke, wo nichts notwendigerweise ab46

de Saussure, Grundfragen, S. 134. André Martinet: Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft, Stuttgart 1963, S. 21. 48 Jean Dubois: Dictionnaire de linguistique, Paris 1973, S. 49 f. zitiert nach Jürgen Trabant: Artikulationen – Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt/Main 1998, S. 71. 49 Vgl. Trabant, Artikulationen, S. 85 f. 50 Ebd., S. 83. 47

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gegrenzt ist. Es gibt keine von vornherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt […] Die lautliche Masse ist ebenso wenig etwas fest Abgegrenztes und klar Bestimmtes; sie ist nicht eine Hohlform, in die sich das Denken einschmiegt, sondern ein plastischer Stoff, der seinerseits in gesonderte Teile zerlegt wird, um Bezeichnungen zu liefern, welche das Denken nötig hat.« 51 Erst durch die Artikulation erhalten nach de Saussure die beiden »Massen« als »Laut-Gedanke« Umriss und Kontur. Innerhalb der Wahrnehmungspsychologie sind vergleichbare Gestaltbildungsund Gliederungsprozesse eingehend untersucht worden. Hieraus ist die Erkenntnis erwachsen, dass die menschliche Psyche »angelegt [ist], diffuses Ganzheitliches zu durchformen und umgekehrt unverbunden Stückhaftes als Glieder zu einem gestalthaften Ganzen zusammenzuschließen.«52 Wie bei der Perzeption visueller oder akustischer Reizgrößen, macht sich auch bei der Gliederung eines Wortes als inhaltlich-lautliche Ganzheit ein solcher »Gestaltungsdrang« geltend. Die »allgemeine Tendenz auf Gestaltetheit« und »Sinnhaftigkeit« zeigt sich u. a. als Bedürfnis einer auf Transparenz und Durchsichtigkeit ausgerichteten morphematischen Artikulation des Zeichenkörpers. Es ist auf Morphemebene ein »›Drang‹ zum sprechenden Wort, zum aussagenden Namen« zu verzeichnen, eine »Absicht,« wie Hans Martin Gauger feststellt, »in einem Wort über das Bezeichnete etwas zu sagen, das dessen Wesen ergreift oder doch vorgibt, es zu tun.«53 Die Durchsichtigkeit entsteht nach Gauger dadurch, »dass ein Wort dasjenige Wort (oder diejenigen Wörter) – formal und inhaltlich – in sich selbst enthält, durch das (oder durch die) es bedingt ist.« 54 Hierbei gewährt das Wort dem Sprecher genaugenommen Durchsicht auf die Wörter, von denen es abhängt, »an denen [es] im Bewusstsein des Sprechers ›festgemacht‹ 51

de Saussure, Grundfragen, S. 133. Friedrich Sander: »Experimentelle Ergebnisse der Gestaltpsychologie«, in: Volkert/Sander: Ganzheitspsychologie – Grundlagen, Ergebnisse, Anwendungen, München 1962, S. 73–117, hier S. 105. 53 Hans Martin Gauger: Durchsichtige Wörter – Zur Theorie der Wortbildung, Heidelberg 1971, S. 182. 54 Ebd., S. 12. 52

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[ist]«. 55 Beispielsweise ist das Wort »Hängematte« auf diese Weise durch den Zusammenhang mit den Wörtern »hängen« und »Matte« semantisch transparent. Das Wort wird durch seine Morphemstruktur etymologisch an die den Sprechern bewussten Wortfamilien angeschlossen. Sind Wörter ganz oder teilweise undurchsichtig geworden oder entziehen sich als Fremdwort einer morphematischen Eingliederung, erfahren sie in vielen Fällen im Laufe der Zeit nach dem Vorbild eines vertraut klingenden Wortes eine Restrukturierung in Form phonematischer Umbildungen oder analogischer Neuinterpretationen. Am Ende dieses Gliederungsprozesses, der sogenannten Volksetymologie, ist das Wort durch seine Einbettung in eine bekannte Wortfamilie für die Sprachteilnehmer wieder durchschaubar (Bsp. karibisch »hamáka« ! deutsch »Hängematte«). Berücksichtigt man nun die Tatsache, dass Laute und Lautverbindungen bereits unterhalb der Morphemschwelle semantische Ladungen besitzen, werden die Modellierungen von Wortgesichtern im Sinne Werners als weiteres Zeugnis der auf sinnhafte Transparenz und Durchsichtigkeit ausgerichteten Artikulation des Zeichenkörpers verständlich. Im Unterschied zum Gliederungsprozess der Volksetymologie betrifft diese sozusagen physiognomische Artikulation eine aktuelle Strukturierung des Wortkörpers ohne Eingriff in dessen phonematische Konstruktion. Die Glieder erscheinen als inhaltlich-lautliche »Besonderungen« des Ganzen und lassen unter Wahrung der Phonemordnung ein »Relief« entstehen. 56 Zweitens zielt die Transparenz des Wortes nicht vordergründig auf dessen morphematische Einbettung in eine bekannte Wortfamilie, sondern auf eine bis auf die Einzellautebene hinabreichende sinnvolle Gestaltetheit der Zeicheneinheit. Auf welche Weise vollzieht sich nun dieser physiognomisch gliedernde Angleichungsprozess von Form- und Bedeutungsseite? Zunächst ist festzuhalten, dass Sprachteilnehmer keine Klanggesichter der ihnen vertrauten Wörter wahrnehmen, die dann 55

Ebd. Vgl. Gunther Ipsen: Theorie des Erkennens – Untersuchungen über Gestalt und Sinn sinnloser Wörter, München 1926, S. 446.

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nachträglich mit Bedeutungen versehen werden. Sie erkennen vielmehr akustisch erscheinende Wörter die ihnen als relativ binnendiffuse inhaltlich-lautliche Verlaufsganzheiten, d. h. als Wortgesichter entgegentreten. Wörter sind für die Sprachteilnehmer keine bilateralen Zeichen, sondern unilaterale Gebilde. Die erlebte Notwendigkeit der sprachlichen Mittel schafft den Rahmen für eine modellierende Angleichung von Signifikat und Signifikant. Den Klanggestalten, aber auch den Artikulationsmustern und Schriftbildern sind synästhetische Charaktere und Bewegungssuggestionen eigen, die gleichsam wie eine gefärbte Brille wechselseitig mit den Begriffskonzept die Sichtweise auf das materielle Erscheinungsbild bzw. auf das Begriffskonzept beeinflussen. Bestimmte Aspekte werden hervorgehoben, andere unterdrückt. Je nach Akzentuierung erfährt der Bedeutungsinhalt bzw. das materielle Erscheinungsbild eine entsprechende Nuancierung. Diese Nuancierungen drängen sich dem Wahrnehmenden jedoch vielmehr auf, als das er selbsttätig die Worterscheinung in seinem Sinne umgestalten würde. Vergleichbar mit dem Klecksographien im Rorschachtest oder den Ausdeutungen eines Wolkengebildes fungieren in der physiognomischen Artikulation des Wortes die jeweils materiellen und inhaltlichen Grundlagen »mit ihren Grenzen und Möglichkeiten als regulierende ›Wirklichkeit‹«57 . Aus diesen Grenzen und Möglichkeiten ergeben sich die von Wittgenstein angesprochenen »feinen Unterschiede des Geruchs« der Wörter, die bei der Wahl des »richtigen« Wortes eine entscheidende Rolle spielen. 58 Für einen Sprachteilnehmer muss ein Wortgesicht dabei keineswegs in sich stimmig sein; es kann, wie beispielsweise der französische Dichter Mallarmé angesichts der Bezeichnungen »jour« und »nuit« beklagt, im starken Kontrast zum intuitiven Verständnis des ausgedrückten Sachverhalts – hier der Verhältnisse von hell und dunkel – stehen. Der inhaltliche und lautliche Verfügungsrahmen für die physiognomische Artikulation sperrt sich in diesen Fällen

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Vgl. Erich Franzen: Testpsychologie – Persönlichkeits- und Charaktertests, Frankfurt/Main 1958, S. 123. 58 Wittgenstein, Philosophische, S. 531.

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der intendierten ikonischen Annäherung von Signifikat und Signifikant. Es ist hervorzuheben, dass eben nicht nur das Begriffskonzept durch die Lautung eine Nuancierung erfährt, sondern auch die Lautung selbst durch die Begriffsseite konturiert wird. Ein »feines Aufhorchen« zeigt nach Wittgenstein, dass ein Homonym in den unterschiedlichen Sprachspielen auch anders erlebt wird: »Du kannst dir das Wort ›weiche‹ vorsprechen und es dabei einmal als Imperativ, einmal als Eigenschaftswort meinen. Und nun sag ›Weiche!‹ Begleitet das gleiche Erlebnis beide Male das Wort – bist du sicher?«. 59 Der Klang eines Wortes, so der Sprachphilosoph Julius Stenzel, darf nicht als etwas Losgelöstes betrachtet werden: »Sprachlicher Klang ist, sofern er Sprache ist, von vornherein durch Bedeutung auch in seinem Leiblich-Sinnlichen verändert, er ist etwas ganz anderes als bloßer Klang im akustischen Sinne«. Stenzel veranschaulicht diesen Sachverhalt an den beiden Wendungen »er schlug ins Gesicht« und »er schlug Vertagung vor«. Er verweist darauf, dass der »Klang der neuen Bedeutung ›vorschlagen‹ […] nichts mehr von dem eigentlichen Grundklange, dem Gefühl und der Geste des Schlagens [enthält]; mit der sinnlichen Bedeutung scheint der natürliche Ton des Wortes geschwunden zu sein. Dies zeigt, wie sehr jenes Evidenzgefühl auf der Bedeutung beruht, wie wenig es in der entwickelten Sprache a priori mit der Lautgruppe als solcher verbunden ist. Klang und Bedeutung durchdringen sich gegenseitig«. 60 Neben dem Begriffskonzept und den synästhetischen Charakteren und Bewegungssuggestionen des Lautmaterials sind die Wortphysiognomien kontaminiert mit ähnlich klingenden Wörtern oder Wortabschnitten, Wortfeldbeziehungen und individuellen Erfahrungen der Sprecher. Die physiognomische Artikulation wird von einer mehr oder weniger subjektiven Klang- und Bedeutungslogik geleitet. Je nach Ausmaß der einbegriffenen Sachverhalte, Programme und Probleme verfügen die Wortgesichter so über subjek59

Wittgenstein, Philosophische, S. 528 Julius Stenzel: »Philosophie der Sprache«, in: A. Baumler/M. Schröter (Hrsg.): Handbuch der Philosophie, München/Berlin 1934, S. 3–114, hier S. 93.

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tiv unterschiedliche Grade »semantischer Dichte«. 61 Grundsätzlich sind für den Sprachteilnehmer alle Wörter, wenn auch in verschiedener Ausprägung, physiognomisch artikuliert. Es bedarf allerdings besonderer Zuwendung, um der mannigfachen Momente der impressiven Situation eines Wortgesichtes bewusst zu werden. Das Zeitungsbeispiel am Anfang des Aufsatzes und die Erlebnisprotokolle von Werners Versuchspersonen resultieren aus einer solchen auf Explikation ausgerichteten Betrachtungsweise. Schließlich sind alle Wortgesichter potentiell auf eine leiblich spürbare Weise wirkungsmächtig. Die in Werners Protokollen beschriebenen gesamtkörperlichen Empfindungen gehen auf das Vermögen der synästhetischen Charaktere und Bewegungssuggestionen zurück als Kanäle leiblicher Kommunikation zu fungieren. In ausgeprägten Situationen leiblicher Kommunikation werden die Gesichter der Wörter am eigenen Leibe gespürt, aber nicht als etwas vom eigenen Leibe, sondern als etwas, das ihm zustößt. Besonders im Kontext lyrischer Rede aber auch wenn ein Wort zum ersten Mal gehört wird, entfaltet das Wortgesicht im besonderen Maße seine Fähigkeit, leiblich nahe zu gehen und zu berühren. Wörter können auf diese Weise ein Verhältnis zwischen sich und dem Wahrnehmenden entstehen lassen und so auch missfallen oder lieb gewonnen werden. VII. Epilog »Das vertraute Gesicht eines Wortes, die Empfindung, es habe seine Bedeutung in sich aufgenommen, sei ein Ebenbild seiner Bedeutung, – es könnte Menschen geben, denen das alles fremd ist. (Es würde ihnen die Anhänglichkeit an ihre Worte fehlen.)« 62

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Ich verwende diesen Begriff in Anlehnung an Peter Blumenthal: Semantische Dichte – Assoziativität in Poesie und Werbesprache, Tübingen 1983. 62 Wittgenstein, Philosophische, S. 530.

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

I. Musikalischer Ausdruck ist ästhetischer Ausdruck und mehr Dass der Ausdruck die äußere, sinnliche Erscheinung innerer psychischer Vorgänge ist, so eine Definition, gilt für den musikalischen Ausdruck in besonderer Weise. Zuinnerst ist die Musik nichts als eine Abbildung leibseelischer Vorgänge in Töne. Der Transformationsprozess vollzieht sich ästhetisch. Ästhetisch meint Grundkategorien sinnlicher Erfahrung wie das Schöne und das Erhabene. Dabei gehört zum Erhabenen eine charakteristische Gefühlsresonanz. Kant: Das Erhabene rührt. Das entwicklungsfähigere Schöne stellt das originäre Kriterium ästhetischer Wahrnehmung dar. Musikalischer Ausdruck war und bleibt wesentlich ästhetischer Ausdruck. Dass er dazu wahrhaftig sein soll, ist eine Sache der allgemeinen Redlichkeit, die die Kunst insofern adeln kann, als das Ästhetische unter der Forderung der Redlichkeit je ein reifes und damit eigentliches Ästhetisches ist. Es trägt somit auch ein nichtsinnliches Reifemaß in sich. Da ist ein Moment der Emanzipation, welches den kritischen Geist als unverzichtbaren Mitschöpfer hineinträgt. Auch die sinnlichen Qualitäten des Ästhetischen entstammen dem Wesen des Menschen. Es konstituiert sich aus Optima eben typisch menschlicher Rezeptivität und – wichtig für die Zeitkunst Musik – spezifisch menschlicher Mneme. Die Musik ist eine auditive Wahrnehmungs- und Gedächtniskunst unter ästhetischen Zielen. Musik ist je das Menschliche in Tönen in einer ethnisch-historischen Situation und kein Ding an und für sich. Es ist hier nichts von ungefähr. Wo John Cage die Musik quasi aus der Luft greifen will, ist sie nicht mehr. 196 © Verlag K

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

Will hinsichtlich musikalischen Ausdrucks in der Analyse mehr erfasst werden als Phänomene darstellerischer oder zeichenhafter Art – denen man, überhaupt Ausdruck zu sein, auch schon abgestritten hat –, dann muss geschaut werden, wie sich der Mensch im »Spezifisch-Musikalischen« entäußert. Jenes Spezifische gibt es nur in Konsubstantialität mit dem Anthropos nach dessen eigenem Wesen. Entsprechend beschreibt auch die Musiktheorie letzthin Gesetzmäßigkeiten menschlichen Wahrnehmens und Denkens. Hierarchie und Ökonomie der Wahrnehmung, manifest etwa im Gebot liegen bleibender Stimmen, sowie die Gestaltgesetze bilden den formenden Hintergrund. Bedingung für musikalischen Ausdruck überhaupt und ästhetischen Ausdruck insbesondere ist die Sprachhaftigkeit der Musik, die sich durch unzählige Rückkopplungen im sozialen Raum findet. Das meint nicht nur Gewöhnung. Redundanz- und Prägnanzbildung entlang dem Wesen der anthropologischen Struktur ist damit gleichermaßen angezeigt. Tonalität, Metrum, Rhythmen sind redundante Elemente, die den informativen nicht nur Fundament sind, sondern eine prägnante Basis für leiblich vitale und seelisch spannungshafte Bewegungen geben. Die Musiksprache baut auf den Spannungsbogen von Heimat und Abenteuer. Ein Grundimpuls des Lebens tut sich kund, der bereits dort beginnt, wo das kleine, schwache Leben sich von der mütterlichen Quelle tastend entfernt, um dann zu ihr zurückzukehren. Dort sammelte sich Lebenserfahrung, mit dem Auszug in den harmonikalen Raum wächst die künstlerische Reife. Hier wie dort werden Widerstände bildend. Beiderseits muss um willen der Entwicklung ein Risiko eingegangen werden. Es braucht Momente der gestaltlichen und der geistigen Spannung, mithin der Unsicherheit. Aus ihrem zarten Strom lebt der musikalische Ausdruck nicht minder als aus den Anlandungen in sicheren Häfen. Musik sei – wie auch das Leben – als eine Folge von Spannungen zu betrachten, formulierte Strawinsky in der »Musikalischen Poetik«. Jenen Grundimpuls der Spannung zwischen Heimat und Abenteuer kennt die Musik im Rhythmischen oder Harmonischen geradeso wie in der Variation thematischen Materials, bei welcher Gedächtnisarbeit maßgeblich wird. Es ist gleich eine zweifache 197 © Verlag K

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Heimat des Gedächtnisses, die dem Abenteuer Rückhalt bietet. Da ist der Werkkontext wie dann des Weiteren die Musiksprache in genere. Aus beidem ergibt sich vielfältig Wahrnehmungs- und Gedächtnisspannung, die – und hier kreiert sich Ausdruck – mit der Empfindungswelt zusammengeht. Geradeso rührt das bedachte Spielen mit erinnerten Normen die Empfindungswelt an. Zum ästhetischen Eindruck gehört bei alledem ein optimaler Informationsfluss. Eine Bedingung für diesen ist eine mehrdimensionale Struktur von Parametern, die untereinander ein elastisches harmonisches Gefüge bilden, in welchem komponierte Spannungsläufe und eben künstlerische Normverletzungen doch ästhetisch äquilibrieren. Die Struktur geht aufwärts von den Grundstöcken der Harmonik – Tonalität, Kadenzen – zu den Extravaganzen der Melodie. Unter der Entlastung durch redundante Elemente spitzt sich das Wahrnehmungsgeschehen zu den Figurationen hin zu. Auf den prägnanten Informationsträger wird sich, teleonomisch gut begründet, die Aufmerksamkeit unwillkürlich richten. Der Informationsträger ist wesentlich auch der Träger des Ausdrucks. Die Hierarchie der Parameter, und damit die Informationsverteilung auf die Parameter, kann kulturbedingt variieren. Man denke an die Disposition des Rhythmus in schwarzafrikanischen Stilen. Andererseits bleibt durch die Systemfähigkeit der raum-zeitlich entfaltbaren Parameter, insbesondere Melodie und Rhythmus, eine Invarianz gegeben. Alle entwickelte traditionelle Musik imponiert gerade auch deswegen, weil im Ereignisverlauf ein beharrlich adäquates Informationsquantum Berücksichtigung fand. Musikgenuss ist jedoch mehr als ein durch Quanten ermöglichtes Lernen am Tonstoff. Historisch wird die Originalitätssucht zum Beleg, die, wo sie auftrat, kaum Bleibendes hinterließ. Nach der anderen Richtung wird das Klassische Zeuge. Die Existenz des Klassischen deutet auf ein zweites Gütekriterium neben der Neuheit hin: die Prägnanz und Gestaltqualitäten. Sie sind noch einmal etwas anderes als Redundanz; nämlich als sinnliche Qualitäten basale Furchungen zur Ordnung des Wahrnehmungslebens. Der ästhetische Eindruck verdankt sich Prägnanz und Neuheit. Ästhetischer Ausdruck erwächst auf dem Boden, welchen Präg198 © Verlag K

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

nanz und Informationsoptima bereiten. Diese sind zudem Vorbedingungen für das, was mit dem Ausdruck evoziert wird: Gefühle, Anmutungen, leibliche Regungen. Die artifiziellen Konzepte der Avantgarde des 20. Jahrhunderts erweisen: Werden jene Vorbedingungen ignoriert, kommen die Resonanzen des Gefühls wie die des Leibes kaum mehr zur Geltung. Gefühle, Anmutungen, leibliche Regungen hängen nicht der ästhetischen Wahrnehmung wie Aufputz oder Folgeglied an, sondern gehören zu den Konstituenten derselben. Am Erhabenen wird das sogleich deutlich. Mit seiner Pracht verbindet man zuvörderst die Spezifität des Gefühls als dann erst eine der Wahrnehmung. Auch das Gedächtnis spielt ihm eine ganz untergeordnete Rolle gegenüber emotiven Resonanzzusammenhängen, die bis in den Seelenkeller hinabführen. Urerfahrungen an Massen und Mengen, an Größen und Tiefen, solche aus dem Feind- und Beuteleben spielen ein. Gefühl, leibliche Regung und sensueller Eindruck gehen Hand in Hand. Abgeschwächt gilt die Liaison von ästhetischem Eindruck und derlei Erlebnisqualitäten auch für das anmutende Schöne. Es spricht indessen unmittelbarer, ohne Vermittlungen an. Es steht für den autotelen Charakter des Ästhetischen. Schon gar gilt jene Verbindung für die vitalen Gehalte in der Musik. Der Eindruck verdankt sich hier ja nicht dem ruhenden Bild, als vielmehr der spannungsvollen Bewegung. Das ist es, was die Musik nicht nur zu einer Zeitkunst macht, sondern zu einer Kunst von Leib und Gefühl. Davon lässt sich nicht abstrahieren. Arnold Schönberg erkannte das wohl noch an, als er aufs Komponieren statt auf die Reihe insistierte. Sein Temperament verschlug es ihm jedoch, zu sehen, dass die Absicht, sich mit Musik auszudrücken wie zuvor, durch die Reihe karikiert war. Zu den rezeptiven Qualitäten und zur leiblich emotiven Resonanz kommt für den Ausdruck noch ein Drittes hinzu: Weltbezüge, die durch Musik möglich sind und die aus der Musik dechiffriert werden. Bezüge zur Dingwelt, zur Lebenswelt stellt ein gesungener Text her. Bisweilen vollziehen die Töne dessen Aussagen tonmalerisch mit. Durch »außermusikalische« Ideen geleitet, kann selbst Instrumentalmusik auf einmal so erscheinen, als könne sie sprechen. Die 199 © Verlag K

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Programmmusik machte sich ähnliche Gestaltzüge in Welt und Tonwelt zunutze. Bei ihr gibt es nicht nur Einzelentsprechungen, sie stellt sich als ein Komponieren von Bildern vor, welches sodann etwas Bestimmtes, was nicht mehr nur Tonverbindung und ästhetisches Erlebnis ist, zum Ausdruck bringt. Wo Musik auf Welt referiert, da tut sich eine kommunikative Dimension auf, die sich von der Vermittlung innermusikalischer Gehalte unterscheidet. Es ist die Möglichkeit gemeint, übers Spezifisch-Musikalische hinaus bald wortäquivalent mit dem Spezifisch-Musikalischen, seinen Ähnlichkeiten zur Ding- und Erlebniswelt, oder mit Hilfe von Geräuschen oder durch Verbalisierungen – gesungener Text, Werktitel, Satzüberschrift, beigegebene Mitteilungen, gar ein Programm – Bedeutung zu bilden. Es zeigt sich eine Intentionalität von anderem, alltagssprachlich fassbarem Gepräge. Es wäre eine Verkürzung, das Ausdrucksgeschehen in der Musik aufs Nonverbale zu reduzieren, wie etwa Albert Wellek dies offenbar mit der Unterscheidung von »Ausdruck« und »Darstellung« tun wollte. In der akustischen Modalität, schon gar mit der Musik als einem Ausdrucksraum, der nichts wirklich aus sich entlässt, bleibt alles ausdruckshaft umspielt, sei nun auch tatsächlich einmal Referenz gegeben. Darstellung in der Gestalt von Tonschwellung und Raumdirektiven ist stets ausdruckshaft geformt. Darstellung rekurriert wesentlich auf Ausdrucksvorgänge. II. Systematisierung musikalischer Ausdrucksphänomene II.1 Das Kontinuum des musikalischen Ausdrucks Das Kontinuum der Möglichkeiten musikalischen Ausdrucks entfaltet sich zwischen zwei Polen, deren einer ein Musikalisch-Innerstes darstellt, welches zum Ausdruck kommt, während ihm gegenüber ein Feld gelegen ist, wo sich mit den Klängen dingweltliche Vorstellungen verbinden. Am Klange geweckter Assoziationen ist jenseits denotativ ikonischer Fälle ein großer inhaltlicher Spielraum eröffnet. Das Spezifisch-Musikalische dagegen ist allenfalls spezi200 © Verlag K

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fisch-musikalisch polyinterpretabel. 1 Es herrscht ansonsten Eindeutigkeit der Mitteilung. Künstlerische Interpretation und selektive Momente in der Wahrnehmung lassen gleichwohl die Bedeutung in Nuancen schillern. Da gibt es mit der Interpretation jene hohe Kunst zu erfassen, was der Komponist eigentlich sagen wollte. Aber die Frage nach der Adäquatheit des Verstehens und jene der Ausdrucksstimmigkeit nimmt der Tatsache nichts, dass das Spezifisch-Musikalische immer klar und prägnant in der Aussage dasteht. Fraglos ist ebenso wahr, dass die Interpretation den Ausdruck erst belebt, gerade auch eine gestische Schicht vital und eindrücklich macht. Musik, die, wie die romantische Symphonik, der Interpretation Räume eröffnet, wird lebendig durch den adäquaten Ausdruck. Und dieser famose Ausdruck resultiert nicht zuletzt aus einer Stimmigkeit zu den gestischen, anmutungshaften, leiblichen und gefühlshaften Seiten des Hörempfindens. Eine Logik der Töne stimmt harmonisch zu der des Gefühls und des Leibes; denn sie ist ja nichts als nach der Beschaffenheit des Geistes und des Leibes zusammen. Zu unterscheiden sind somit zwei große Kategorien musikalischen Ausdrucks. Da ist ein spezifischer Ausdruck, der sich aus dem Klangspiel ergibt und mit der Verwirklichung der autonomen Kunst selbstgenügsam Vollendung fand. Dieser Ausdruck ist begriffslos. Er schließt nicht den erlebenden Menschen, das gerade nicht, aber doch die Semantik der Welt der Dinge aus. Daneben steht als Zweites eben jene Verbindung des Tönespiels mit der Welt der Dinge. Musik gewinnt Zeichenqualität wie eine Wortsprache mit Referenzen und gestaltlichen Prädikationen. Die Gestaltisomorphie ersetzt das Lexikalische. Diese Kommunikation kennt das ikonische Abbildungsverhältnis geradeso wie sprechakthafte Anmutungen im Sinne von Assertiven, Direktiven oder Interrogativen. Die Ästhetik des 19. Jahrhunderts focht um die Geltung des Darstellens. Ob die Darstellung, die die äußere Welt hineinträgt, der Musik nicht schädlich sei? Die Aufladung mit solchen Bedeu1

Leonard Bernstein: Musik – die offene Frage, 4. Auflage, München 1989, S. 189 ff.

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tungen mag das Eigentliche der Musik gefährden. Dahinter steht die Sorge, der Komponist gäbe das künstlerische Raffinement für andere, wenn nicht für wesensfremde Ziele her. War doch die Tonkunst gerade erst von allen Bindungen frei. Und ist sie nicht auf ihrer Höhe und ganz bei sich im Kontrapunkt und der motivischen Arbeit? Musikdrama und Programm, hieß es, verschenkten die Musik ans Wort oder an ein Schwelgen in Bildern. 2 Hegel stand eher einsam mit seinen Bedenken, mit der autonomen Musik entstände ein bloßes Spiel ohne emanzipatorische Potentiale. Im dritten Teil seiner »Ästhetik« spricht er zum »allgemeinen Charakter der Musik«. Er will einräumen, dass die Musik als autonome »in ihr eigenes Element zurückgegangen sei«. Aber die Kunst ist jetzt einseitig. Es bleibe nur das »Interesse für das rein Musikalische der Komposition und deren Geschicklichkeit«. Man fände die Kunst um Dimensionen des »allgemeinmenschlichen Kunstinteresses« verkürzt. Sicherlich trägt der Einwand eine richtige Beobachtung vor. Aber das gleiche gilt für Hugo Riemanns Einwurf, das Darstellen

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Hugo Riemann warnt im Sinne der autonomieästhetischen Position in einem Beitrag zum Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (Berlin 1913) vor der Überbewertung des Tonmalerischen. In Anerkennung, dass es das Grundwesen der Musik sei, »direkt Ausdruck seelischen Empfindens zu sein«, ergibt sich mit dem Programm die Gefahr, die Poesie zum beherrschenden Gestaltungsimpuls zu machen, im Zuge dessen Gestaltkreation und -wandlung entlang der immanenten Bildungsgesetze für bloße »Ausdrucksmotive« – er meinte eben Darstellungsmotive – herzugeben. Dabei zeige sich, er denkt an symphonische Dichter und Gesamtkunstwerkler, fortgesetztes Ankämpfen gegen die formgebenden Faktoren sowie eine »ängstliche Scheu vor dem klaren Tageslichte der Selbstverständlichkeit einer normalen harmonischen Kadenzierung, rhythmischer Periodisierung, thematischer Dialektik«. »Alles das läuft aber auf das eine hinaus, dass einem wirklich großzügigen formenden Gestalten konsequent aus dem Wege gegangen wird, an dessen Stelle vielmehr ein buntscheckiger Wechsel von Momentwirkungen tritt, ein ewiges Gären und Treiben, ein chaotisches Werden und Wollen, das nicht zum organischen Wachsen führt. Das Urteil des Gemeingefühls über diese krampfhaften und krankhaften Versuche, die mangelnde Fähigkeit, große Formen mit bedeutendem Inhalt zu füllen, durch Vortäuschung einer neuartigen Formgebung zu verdecken, die in Wirklichkeit eben keine Form, sondern eine Unform, die Negation der Form ist, steht seit langem fest« (in: Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Berlin 7.–9. Oktober 1913, Bericht, Stuttgart 1914, S. 524 f.).

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

beinhalte die Gefahr, jenes »Interesse für das rein Musikalische der Komposition und deren Geschicklichkeit« zu vernachlässigen. 3 Der kritische Punkt jener theoretischen Betrachtungen liegt nun aber gar nicht in der profilierten Streitsache, als darin, auch gegen das evozierte Gefühl und die Empfindung überhaupt zu Felde zu ziehen. Der Disput ist vordergründig und belangt bisweilen Unschuldige. Zu behaupten, mit der Darstellung werde a priori vom Wesentlichen abgelenkt, generalisiert derart grob, wie die Polemik gegen die Darstellung alles einbegreift, was nicht die Logik der Töne selbst ist. Warum sich unter einem Programm nicht das Ganze und Innere der Musik auf eine eigene, kunstvolle Weise artikulieren können sollte, will schon kaum einsichtig werden. Die Versuchung, sich ablenken zu lassen, ist da, gewiss, aber der Komponist wird ihr nicht erliegen, wenn er wertbewusst schafft. Das Problem im Diskurs liegt woanders. Man zeigt sich gewillt, ein »An sich« der Musik zu kreieren. Wobei immer wieder verkannt, manchmal geleugnet wird, dass die Musik Musik des Menschen ist. Das »Außermusikalische« wird instrumentalisiert, um mit einer Rede von Uneigentlichkeit auch gleich von Leib und Gefühl zu abstrahieren. Der Kenner ist Kenner der Tongesetze; weiter nichts. Da Musik dann dazu auch noch Höheres zum Ausdruck bringen soll, da sie nur so ihr Innerstes fände, geraten Leib und Gefühl in den Verdacht bloßen Scheins; die eingefleischte theologische Wendung. Es zeigt sich eine intellektualistische Lust zur Bereinigung. Das treibt die Überlegungen weg von jedweder anthropologischen Reflexion. Da ist eine Zuneigung zum logischen Substrat ohne Welt, ohne Mensch. Mit der Neuen Musik, die eine Reinheit artifizieller Kalküle will, und die gerade ebenso willkürliche und unsinnige Ideen von Humanität vorträgt, wird jene Zuneigung paranoid. 4 Der Autonomieästhetiker wusste vom Verbrechenscharakter der Tonalität nichts. Aber auch er fehlte, als er in Bezug aufs Gefühl nicht differenzierte, es grob mit einer seichten Gefühlsschwelgerei identifizierte, die Gefühle als 3

Adorno sollte dann versuchen, emanzipatorische Potentiale und Autonomie der Musik unter einen Hut zu bringen. Vgl. Marcel Dobberstein: Neue Musik, 100 Jahre Irrwege, Eine kritische Bilanz, Wilhelmshaven 2007, S. 151 ff. 4 Dobberstein, Neue Musik.

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bloß subjektive Beigaben verkannte, oder die semantischen Optionen durch den Verweis auf eine Rezeptionsgeschichte diskreditierte, die im Überschwang Tonwerken programmatische Gehalte ablauschte, wo nichts dergleichen adressiert war. Man kann aus Musikwerken vieles heraushören, was Ähnlichkeit mit dem Bewegungs- oder Gefühlsleben oder weltlich akustischen Erscheinungen hat. Die Vergleichstat bildet nicht nur Sinn fürs spezifisch-musikalische Wandlungsgeschehen im Werk, sondern hebt auch die semantischen Gehalte aus den Klängen. In beiden Fällen gibt es ein Kontinuum zwischen Identität – Wiederholung, Ikon – und eben noch geahnter Ähnlichkeit, mit welcher sich Polyinterpretabilität in Beliebigkeit verliert. Entsprechend ist das musikalische Gestalten wesentlich ein Gestalten mit Ähnlichem, also Variation des Klangmaterials und dann im semantischen Raum: gestaltliche Verwandtschaft; als denn des Weiteren ein phänomenales Wirkenlassen von Klanggestalten. Musikalischer Ausdruck konstituiert sich dabei auf drei Ebenen, die jenes Kontinuum zwischen Begrifflichem und Unbegrifflichem entfalten. Unbegrifflich ist das Spezifisch-Musikalische mit seinen Spannungsbögen und tonlichen Bewegungsformen. Dem Begrifflichen verwandt sind die Ding- und Lebensweltäquivalente in der Darstellung. Dazwischen liegt ein Bereich durch Klänge veranlasster Erlebnisqualitäten; wenn dunkle Klangfarben oder ein schwerer Rhythmus Trauer vermitteln; wenn impressionistisch ein Umgang mit Tonalität und Klangfarbe einen Eindruck von spielerischer Leichtigkeit und Schweben erzeugt. Dort steht Bachs »Kunst der Fuge«, hier Ravels Ausschmückung der »Bilder einer Ausstellung«. Dazwischen mag man die Symphonik Schumanns stellen, bei der Ausdruck zuerst auf Empfindung statt auf Wortwörtlichkeiten abhebt und für deren Aufnahme der Komponist empfiehlt, die Partitur wegzulegen, um sich dem Eindruck hinzugeben. Wohl nicht die begriffliche, aber doch die Dimension der Empfindungen, jener gefühlsmäßigen, atmosphärischen, bewegungsoder gestaltphysiognomischen Anmutungen, führt die Musik immer mit. Noch der technische Satz der Fuge wird durch eine Vielfalt von Empfindungen belebt; wie sie sich beispielsweise beim Wechsel von dichter Verästelung und thematischer Klarheit einstel204 © Verlag K

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

len. Die »Geometrie« der polyphonen Strukturen mag vage visuelle Pendants imaginieren lassen. In Sinne derartiger Intermodalitäten besteht tatsächlich eine Nähe des Schönbergsches Oeuvres zu dem Kandinskys; wenngleich die ästhesiologischen Differenzen – hier zuungunsten einer gestaltsemantischen Unklarheit im Akustischen – bleiben. Jene Anmutungen gehören zur Musik, während den Anklängen der Dingwelt Äußerlichkeit anhaftet. Das Maß der Äußerlichkeit als auch das Maß der Dechiffrierbarkeit korreliert mit der Gestaltverwandtschaft zwischen Tongebilde und lebensweltlicher Sache. Die Äußerlichkeit ist geringer bei der höhenoszillierenden Darstellung der Wellenbewegung des Wassers als bei der Adaption eines bewegungslosen, uncharismatischen Sachverhaltes. Die Dechiffrierbarkeit ist darüber hinaus eine Funktion der expliziten Vereinbarung. Die Zeichenqualitäten changieren zwischen zwei Polen. Die Bezeichnung liegt, wie bei der natürlichen Wortsprache, jeweils auf einem Kontinuum zwischen denotativ und konkret oder allgemein und konnotativ. Die Imitation eines Vogelrufes in einer Symphonie lässt kaum Zweifel hinsichtlich Zeichenträger und Designat, die Überschrift »Gloria« eröffnet eine Fülle von Bedeutungen und Allgemeinassoziationen. Eine Tonwelle indiziert mitunter eine Wasserwelle oder eine Flugbewegung, »La Mer« erlaubt ein breites Spektrum möglicher Signifikationen. Im musikalischen Ausdruck überlagern sich somit zwei Bedeutungsschichten. Zu unterscheiden sind drei Ebenen und zwei Bedeutungsschichten, denn die musikalische Logik und die Erlebnisqualitäten kann man nicht wirklich voneinander lösen. Der Komponist des polyphonen Satzes mag nicht auf sie abheben, aber das Musikerlebnis, also Musik, lebt aus den ästhetischen wie den damit verbundenen leiblich emotionalen Resonanzen. Noch für Kompositionen mit zwölf Tönen, als deren letztes Ziel die »Fasslichkeit« bestimmt wurde, soll ein Zugleich von verstandesmäßiger und gefühlsmäßiger Befriedigung gelten. 5 Mit derlei Artefakten lässt sich freilich der ästhetische Eindruck kaum bewerkstelligen, 5

Arnold Schönberg: Stil und Gedanke, Frankfurt/Main 1992, S. 106.

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geschweige denn eine nuancierte leiblich emotionale Teilnahme. Alles, was es dazu braucht, ist beiseite geschoben. Die Zwölftonstruktur ist Logik der Abfolge. Musikalische Logik ist sie nicht. Sie kann keine Basis für ästhetisch reifen Ausdruck geben. Es braucht hierfür Redundanz- und Prägnanzanteile in der Wahrnehmung. Die mit der Reihe intendierte Redundanz, als Ersatz für die Tonalität, ist allenfalls eine des Gedächtnisses. Dieses Gedächtnis vermag derart die zwölf Ereignisse gar nicht nachzuhalten; zumal wenn sie sich verschmelzend in die Vertikale auftürmen. Aus einem sensibel äquilibrierten Vitalzusammenhang wird eine spröde Gedächtnisübung. Der Rückbezug auf eine realiter im Wahrnehmungsfeld nur abstrakt verfügbare mnestische Basis kann die Gravitationsleistung des Grundtones und den Struktursinn der Hierarchie nicht ersetzen. Es handelt sich um zwei völlig verschiedene Texturen, von welcher die eine so müßig und musikalisch unsinnig ist wie sachlich unfundiert. Prägnanz lässt sich derart konsekutiv nicht herstellen; das heißt allenfalls auf dem Papier und idealisiert. Besonders der Tiefe des Ausdrucks, die sich aus dem Spiel der Bezugsspannungen und Bewegungslinien in der Tonalität ergibt, ist die Grundlage entzogen. Die Rede vom »Aufbruch in Richtung Wahrheit«, vom »Fanatismus zur Wesentlichkeit«, von der »neuen Schönheit« oder von der »Geschichtslogik« hin zur Atonalität ist so unreflektiert und anankastisch aufgesetzt wie der Glaube daran, man könne und solle sinnvoll, oder man könne überhaupt den Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz »wegkomponieren«. 6 Der serielle Weg soll für einen höheren Menschen gegangen werden, den es nicht gibt. Gleichwohl, insistiert noch der posttonale Schönberg, hätte Musik »den Gesetzen der menschlichen Logik« zu entsprechen.7 Die Zwölftontechnik hat keinen Bezug zu jenen Gesetzen. Der Ausdruck wird eindimensional; absagend, sperrig, eng. Umso mehr die Reihe in den Vordergrund rückt, verliert er sich ganz. Zur Musik gehört der ganze Mensch. Das Vorbeidisponieren an 6

Hans Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland, München 1996, S. 758, 762, 768, 784. 7 Schönberg: Stil und Gedanke, S. 111 f.

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

Konstitutiva wie Wahrnehmung, Leib und Gefühl ist kopflos. Ein schwindelerregender Intellektualismus zieht dessen ungeachtet mit Schlagworten gegen jene Konstituenten zu Felde, als wären sie eine verstaubte Gewohnheit. Es gelte der Kunst die Freiheit zu retten. Dabei schickt man sich wortreich an, zu unterstellen, was ansonsten nur noch die Theologie gerne verkennt: nämlich die biologisch anthropologische Realität für optional, respektive für eine Theorie zu halten. Umberto Eco, daselbst in Warnung vor rhetorischen Syllogismen, will von einem »Fetischismus des Codes« wissen. Die künstlerische Zerstörung des Codes sei eine Form der Ablehnung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. 8 Das mag sein. Vor allem aber ist jene Zerstörung eine der Musik und ihrer Grundlagen, weil die mutmaßlich kritische Position neben der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sie tadelnd angeht, die anthropologische Wirklichkeit der Musik übergeht; um nicht zu sagen: so selbstgefällig wie blindlings über den Haufen rennt. II.2 Ausdrucksformen II.2.1 Zeichenqualitäten Selten referiert Musik auf die Welt wie eine Alltagssprache. Sie kann es gleichwohl, wenn Ähnlichkeit zum zu Bezeichnenden da ist oder wenn den Klängen Worte beigegeben sind. Im Gemeingang mit dem Liedtext vermag sich Musik zu semantisieren. Das kann in enger Parallele gestaltet sein, sodass die Aussagen eines Textes Satz für Satz intensiviert werden. Dies hatte Gustav Mahler im »Trinklied vom Jammer der Erde« demonstriert. Das Orchesterarrangement für Frank Sinatras und Neil Diamonds Interpretation von »The house I live in« unterstreicht, was der Text sagt. Ton und Wort mögen sich in einer ästhetischen Gegenleistung erschöpfen. Das wird die Regel sein. Sie sprechen einander ästhetisch zu, ohne sich explizit semantisch zueinander zu verhalten. Die Prinzipien können aber auch schlagartig wechseln; wie in Schuberts 8

Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 389 f.

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Liedern. Da bleibt die Begleitung lange unauffällig, um dann mit mal dem Wortinhalt etwa durch stürmisches Tremolo tonmalerisch beizuspringen, damit die erzählte Begebenheit auch akustisch ihr dramatisches Bild von Gewitter und Sturm erhält. Man hatte der Semantizität der Musik in der Rezeptionsgeschichte zuviel Bedeutung zugesprochen. Werkbeschreibungen haben jede sich irgend aufdrängende bildliche Vorstellung als Darstellungsintention gelesen. Da man nach Belieben ausmalte, ohne die Angelegenheit systematisch zu fassen, wird eine Abneigung gegen das Tondichterische bei den Hanslicks und Riemanns verständlich, als die sich denn die Frage gewissenhaft auseinanderzulegen versuchten. In der Mahnung vor dem Überschwang der Phantasie liegt ein Verdienst. Denn von jenen Bezügen zwischen Ton und Welt kann eigentlich nur gesprochen werden, wenn sie ausdrücklich vom Tondichter vermeint wurden, oder wenn durch Erfahrung vermittelt sich ihr Dasein geradezu aufdrängt oder wenn Gestaltähnlichkeit zwischen Klangzeichen und Bezeichnetem besteht. Der semantisch aufgeladene Klang lässt neben der tongestalterischen je eine zweite gestalterische Absicht vermuten. Da ist ein Ausdruckswille, bei dem ein Etwas für ein Etwas steht. Der Komponist wählt die sprachlichen Mittel aus dem Tönereich, indem er adaptierbare Bewegungen imitiert, indem er sich indexikal auf Konventionen stützt oder mit dem Zitat Musikgeschichte referiert, oder indem er den Klängen zueigene Charakteristika heranzieht. Man denke an die Belebung von Dramatik durch Dissonanzen und Septakkorde, man denke an die Anzeige von Trauer oder Erhabenheit durch die Präferenz des Tongeschlechts. Mit der Bemühung autochthoner Bedeutungsgehalte der Klänge für darstellerische Absichten wird bereits aus einem Repertoire des Ausdrucks geschöpft, das die Existenz klanginhärenter Anmutungsqualitäten erkennen lässt, die ihr Dasein weder der Ähnlichkeit noch zeitbedingter Konvention, sondern zuletzt psychischen oder psychophysischen Dispositionen verdanken, die als Klangeigenschaften in Erscheinung treten. Ähnlichkeit der Gestalt ermöglicht Verweisungsrelationen von hohem Ikonizitätsgrad. Bei solch Übereinstimmung in wahrnehmbaren Merkmalen der Farbe oder Struktur bedarf es keiner Erklä208 © Verlag K

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

rung. Berühmt wurde Beethovens Inauguration des Programms mit der »Pastorale«; obwohl er nur Empfindungen des Landlebens und nicht eigentlich Tonmalerei ins Werk setzen wollte. Der Kuckucksruf in der »Szene am Bach« exemplifiziert die Möglichkeit eindeutiger Referenzen. Das Klanggebilde bezeichnet gleich dem Wort unzweideutig, hat aber nicht die lautliche Arbitrarität der Wortbildung anbei; die im Falle des Kuckucks auch beim Wort nur bedingt gegeben ist. Es besteht beim Onomatopoetikon ob der Imitation des Naturlautes ausnahmsweise einmal keine Beliebigkeit der sprachlichen Zeichengestalt im Hinblick auf die Zusammengehörigkeit von Signifikant und Signifikat. Wenngleich es dem Wort »Kuckuck« ikonisch an Musikalität mangelt. Auch Gustav Mahler hatte den Kuckuck in der 1. Symphonie bemüht; gegenüber der Beethovenschen großen Terz lässt er die Quarte absteigen. Eben nicht arbiträr und auch nicht nach der Konvention und genauso wenig nach der Erfahrung, die Anzeichen lesen lässt, tritt das Ikon auf. Der Abbildungsbezug, durch den sich das Ikon vom Symbol als konventionellem Denotatsbezug und vom Index als Anzeichen aus Erfahrung unterscheidet, kann auf klangqualitativer, hier insbesondere Klangfarbe, oder struktureller Ähnlichkeit, also Form, Bewegung, Zeitfolge, beruhen. Musikalische Darstellung gelingt als Abspiegelung der akustischen und der Bewegungswelt oder vor dem Hintergrund einer Similarität aufgrund phänomenaler Artung. Es braucht für die Semantisierung bei den systemfähigen Parametern Tonhöhe und Rhythmus die entsprechende Veränderung in Ort oder Zeit im allgemeinen Weltgeschehen oder den phänomenalen Charakter eines Klangs, respektive einer Akkord- oder Klangfarbe, welcher Begebenheiten der Welt zumindest ähnlich ist. Zur Lokalität des Klanges im Tonraum gehören neben der Lage auch ausdruckstragende sekundäre Wesensmerkmale. Den Klängen sind Masse- und Dichteeigenschaften inhärent. Man spricht von tiefen, spitzen oder schweren Klängen. Instrumententimbres tragen Anmutungen mit. Für einige Holzblasinstrumente gilt dies besonders: Fagott, hohe Flöten, Oboe, Saxophon. Der Leichtigkeitseindruck der Flöte, die Schwere des Kontrabasses liest sich vom Ton wie vom Erscheinungsbild des Instrumentes. Dies lässt die Einbettung des Ausdrucksraumes in übergreifende und durchgängige Zu209 © Verlag K

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sammenhänge der Welt erahnen. Die Korrespondenz mit ästhesiologischen und phänomenalen Eigenheiten des Tonraumes wird dem Ausdruck dienlich, wobei dies im ikonischen Zusammenhang nicht durch die vermittelnde Stellvertreterfunktion des Zeichens geschieht, sondern dadurch, dass unmittelbarere, durch physische Erscheinungen gegebene Beziehungen zum ästhetischen Erleben selbst gestiftet werden. Ravel und Prokofjew haben sich derartige Zusammenhänge in »Bilder einer Ausstellung« beziehungsweise »Peter und der Wolf« zunutze gemacht. Und doch sind die ikonischen Bezüge im musikalischen Ausdruck selten eindeutig; wenngleich die Eindeutigkeit an und für sich zum Ikon gehört. Es ist vielfach nur die Ahnung einer semantischen Bedeutung da. Man hört, als handele es sich um Anzeichen für etwas. Maßgeblich für die Sinnstiftung ist der Ähnlichkeitsbezug und nicht die für andere Zeichentypen wichtige konnektive Erfahrung. Kaum einmal dürfte dem Ausdruck die für den Zeichentyp des Indizes relevante Kontiguität bedeutsam werden. Die Kontiguität ist hingegen für das antizipatorische Verständnis der Logik des Spezifisch-Musikalischen wichtig. Da kann die Dominante als Anzeichen für die Folge der Tonika genommen werden, und die Düpierung des aus Kontiguitäten Erlernten zeugt vitale Ausdrucksmomente. Das aus Konvention erschaffene Symbol hat ebenso Realität in der Musik. Es steht allerdings in der autonomen, funktionsentlassenen Musik an Bedeutung zurück. Renaissance und Barock waren mit ihren Madrigalismen und der Raumsymbolik diesbezüglich beredter, wenn etwa bei Bach oder Händel durch lange Noten, zeichentypisch symbolisch und ikonisch, die »Ewigkeit« zur Anschauung gebracht sein will. II.2.2. Anmutungsqualitäten Musik ist Erlebnis mit leiblichen Resonanzen. Die Rezeptionsform des Konzertsaales, bei der der Hörer in seinem Stuhl wie in einer Schraubzwinge festsitzt, täuscht. Die Musikwahrnehmung ist von den Erlebnisqualitäten nicht zu trennen; sowenig die Wahrnehmung ein bloßes Registrieren ist. Eine Differenzierung wird gleich210 © Verlag K

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

wohl hinsichtlich der beiden Bedeutungsschichten möglich, als das Zeichenhafte ein wenig distanziert, äußerlich, bald assoziativ daherkommt, während es eine Koexistenz, wenn nicht eine Identität von Klangstruktur und Erlebnisqualitäten gibt. Mit Dur und Moll gehen unwillkürlich Anmutungen einher, und bedingt dann je nach Einsatz auch Be-deutungen. Das eine drückt sich aus der und als die leibseelische Seinsweise des Menschen – warum Musik so unmittelbar anrührt – das andere ist die sporadisch aus den Klängen herauswurzelnde Welt. Der Skepsis wider das Programm ließe sich folglich nicht nur wegen der Ablenkung von der tonkünstlerischen Arbeit beitreten, sondern auch, weil mit der Darstellung das Einzigartige und Eigentliche des musikalischen Ausdrucks verkannt werden kann. Während sich das Zeichenhafte ephemer zeigt, sind die Erlebnisqualitäten mit ihren Anmutungen immer da. Die Erlebnisinhalte erscheinen, »auch und gerade die figurhaften, welche im engeren Sinne ›Gestalten‹ heißen, niemals frei von gefühlsartigen Anmutungs- oder Ausdruckscharakteren«. 9 Das durchgängige Mitgehen einer anmutungshaften Bedeutung lässt die Musik im Film besonders deutlich werden. Das Anmutungsgeschehen kommt in allen Gestalten zur Geltung, welche der kommunikativ und leibseelisch eingeschliffenen Musiksprache entstammen. Es wird sich hinsichtlich der Anmutungen wieder ein Kontinuum auftun, welches polare Extreme kennt und Kategorisierung zulässt. Sie gehen entweder spezifisch vom Musikalischen aus, wie die Wirkung eines Dreiklangs, oder führen semantische Anklänge mit, wenn etwa das Zusammen von Tempo, Klangfarbe und Melodiebewegung Atmosphären oder semantische Innuendos erzeugt. Tutti-Schläge der Bläser, wie Wagner sie zu Siegfrieds Tod erklingen lässt oder wie sie zu Strawinskys »style barbare« gehören, überhaupt, was unvermittelt und laut einsetzt, erzeugt eine Atmosphäre der Angst. Die auf die Materialvariation konzentrierte Konzertmusik des Barock oder der Klassik wird der semantischen Seite

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Albert Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, 3. Auflage, Bonn 1982, S. 204.

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einen engeren Raum geben als die ausladende harmonikale und gestaltungsfreiere Denkungsart der Romantik. II.2.3. Spezifisch tonlich ästhetische Anmutungen Das Repertoire mitgeführter Anmutungen beginnt bereits bei den isolierten Intervallen. Man vernimmt diese beim Zusammenklang der Töne wie in der Sukzession je eigen beim Fallen und Steigen. Dynamik, Würze des Halbtons, der Strebecharakter der Halbtonfortschreitungen, die hohe Reizkraft der Terzen und Sexten, der Appellcharakter der Quarte, das Melancholische der fallenden kleinen Terz bei langsamem Tempo, Quint und Terz wirken freundlich, während die Quarte etwas Introvertives hat; dann im Kontext: Anklang des abgründigsten Schicksals im Thema des ersten Satzes der »Unvollendeten« durch die fallende Quint des Holzes über den in der Tiefe wogenden Sechzehntel der Streicher. Dazu kommen tendenziell geltende Gesetzmäßigkeiten: Die Spannung eines Intervalls wächst mit zunehmender Größe und mit abnehmender Verschmelzung; je größer bis zum Tritonus der Abstand ist, je weniger Energie und Intensität haben die Intervalle. Im musikalischen Ereignis wirken die Kräfte und Ausdrucksformen ineinander in einem vieldimensionalen psychologischen Raum. Zu der in den Klängen manifesten Psychologik treten Gesetzmäßigkeiten der Zeitwahrnehmung, wie sie durch Aufmerksamkeitssteuerung, Antizipationen, Redundanzen veranlasst werden. Jene Psychologik hat Bezug zu einer Tiefenschicht der körperlichen Organisation. Heinz Werner: »Es gibt notwendige Zuordnungen zwischen der spezifisch akustischen und allgemein körperhaften Schicht, die letztlich darauf beruhen, …, daß die akustische Form überhaupt in der körperhaften Schicht urtümlich verwurzelt ist. Es besteht eine Tendenz der Adäquation der Gesamtschichtung ebenso, wie es eine Tendenz der Adäquation der einzelnen akustischen Momente (Dauer, Tonhöhe, Tonstärke) gibt.« Wie experimentell expliziert, beginnt die Adäquation und eine damit verbundene Kategorienbildung bereits bei der Einzelintervallauffassung. Maurice Merleau-Ponty protokollierte jene Entsprechung für die Farbe. Der Ausdruckswahrnehmung könne darum eine Sonderstellung 212 © Verlag K

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eignen, vermutet Hans Kunz, weil ihr ein motorisches Moment zukomme. Er spricht von Impulsstadien, in denen es sich realisieren könne, statt dass es sich ausholend in einer faktischen Bewegung kundtäte. Motorische Resonanz bedeute, dass beim Ausdruck »eben nicht bloss unsre Innerlichkeit ›gerührt‹ wird, sondern mit ihr die Motorik«. 10 Musikalische Entwicklung, mithin Komposition, ist die Verschachtelung von derlei Klangpsychologie mit allgemeinen Ablaufgesetzen wie etwa dem, dass die Spannungshaltigkeit aufeinander folgender Ereignisse wächst, je unähnlicher sie einander sind oder jenem, dass das Bewegungserlebnis primärer als das klangliche ist oder dem Sachverhalt, dass Gestaltniveau mit Wahrnehmungsvordergrund korreliert oder dass rhythmische Betonung Auswirkungen hat auf die Bedeutsamkeit von Tönen im Kontext oder dass die Aufmerksamkeit auf alles geht, was sich weniger bewegt, als es sich eigentlich bewegen sollte. Die Redundanz der informativen Träger im Werk kennt Schwellen und Optima hinsichtlich der Ausdrucksprägung des Gesamtzusammenhanges. Über die Zahl der Wiederholungen bestimmt sich ein Auffälligkeitsgefälle. »Fragt man, wie häufig ein Einzelzeichen aufzutreten hat, damit es maximale Auffälligkeit erzielt, so kommt man zu dem … Ergebnis von etwa 37 % … Bei musikalischen Kompositionen müßten Synkopen dann am auffälligsten sein, wenn sie etwa 37 % aller Takte beherrschen.«11 Die Vielfalt der Wirkungen erstreckt sich somit zwischen dem Aussagewert einzelner Intervalle und der großflächigen Charakterprägung durch markante Redundanzen. Für den Ausdruck greifen zwei Aspekte harmonisch ineinander. Da ist einerseits die Dynamik der Bewegung mit ihren Suggestionen und andererseits eine gestaltganzheitliche Ausdruckswirkung, die noch einmal etwas Verschiedenes zum anmutenden Bewegungs10 Heinz Werner: »Über die Ausprägung von Tongestalten«, in: Zeitschrift für Psychologie, 101. Band, 1927, S. 178 ff.; Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 246 ff.; Hans Kunz: Zur Phänomenologie und Analyse des Ausdrucks, Grenchen 1938, S. 115 f. 11 Rul Gunzenhäuser: »Zur informationstheoretischen Betrachtung von Lernvorgängen: Konsequenzen für die Erzeugung und Betrachtung ästhetischer Objekte«, in: Kunst und Kybernetik, Köln 1968, S. 91.

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leben ist. Die Ausdruckspsychologie kennt eine entsprechende Allgemeinunterscheidung. Sie unterscheidet zwischen der Physiognomik, die aus der Bauform von Körpern und einzelnen Teilen – Gesicht, Hand – bestimmte Bedeutungen herleitet, und der auf den Aussagewert bewegter Formen – Mimik, Gestik, Gebärden – gerichteten Pathognomik. Im Musikalischen sind beide Formen im übertragenen Sinne wieder zu finden: Die unter gefälligen Formzäsuren auf den ganzheitlichen Schönheitseindruck abhebenden Mozartschen Themen neigten eher dem physiognomischen Typus zu, die gestische Fülle mit der vitalen Raumgestaltung der Melodielinien des Brahmsschen Violinkonzertes, der Wagnerschen Gesangsartikulation oder in Mahlers »Trinklied« stände eher für den anderen Typus. Für die Physiognomik kommt zum Tragen, dass das Ganze mehr als die Summe der Teile ist. Das Übersummativitätsprinzip gilt natürlich auch für Zeitgestalten, wobei das zur Physiognomik gehörende Statische hier prägnante Ganzheitlichkeit bedeutet. Diese erzeugt eine Dinghaftigkeit, welche sodann das Prinzip motivischer Arbeit ins Werk setzen hilft. Ganzheitlicher Eindruck als Ausdruck steht als Idealtyp in der Musik neben einem expressiven Durchmessen des Raumes. Immer spielt indes beides ineinander: Der Akkord enthält schon bestimmte Spannungsdirektiven räumlicher Art und ist zugleich eine Gestalt von eigens anmutender Physiognomie. Albert Wellek wollte mit dem Begriff der »Gestalttiefe« eine physiognomische Bedeutsamkeit von Gestalten fassen, die als übersummative Qualitäten in besonderer Weise mit dem Leibseelischen korrespondieren. Aus solchen Ganzheiten waltet nicht nur der Eindruck, sondern auch die Bewegungsempfindung über die Töne hinweg. Sogar Welleks Dualität vom »polaren« und »linearen« Charakter findet in der Differenz von Physio- und Pathognomik Widerhall. Ganze Zeitalter neigten stärker dem einen oder dem anderen Prinzip zu. Technisch erobert und raumstrukturierend nahmen sich die Themen des Barock aus. Melodik erdenkt sich aus Motivtechniken, warum das Gepräge bisweilen ans Mechanische und Mathematische gemahnt. Man ahnt, wie es gemacht wurde. Der Ausdruck ist sinnfällig, aber wenig subjektiv. Die Themen der Romantik tragen dagegen einen ganzheitlichen, individuellen 214 © Verlag K

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

Habitus. Von der erfinderischen Logik ging der Weg zu Harmonie, Chromatik und Farbe, er ging von der Form zum Inhalt, vom Denken in Quintverwandtschaften zum terzverwandtschaftlichen Denken, was Farbwerte in den Vordergrund treten lässt. Der Entwicklungszug tendierte von der Tektonik zur Darstellung, von der Objektivität zur Subjektivität. Mit jener Prägnanz aus einem Guss, die vom Gemachtsein kaum etwas verrät, wird nicht nur ein Mehr an Freiheit gegen die Konvention angezeigt, sondern auch ein noch tieferer Gefühlsausdruck möglich; wie er vielleicht in einigen Werken Schuberts zwischen Klassik und Romantik Vollendung findet. Es zeichnet Bach aus, in einer Zeit mit weit größerer Verpflichtung auf Sprache und Symbolik dasselbe erreicht zu haben. Gleich welchem Typ die Melodik zuneigt, sie entstammt einem tönenden Gedankenfluss, dessen Sein, dessen Grenzen und Ausdruck sich dem realisierten Zusammenhang von Kognition und Empfindung verdankt. Es sind die Grundgegebenheiten des Denkens mit ihren Wechselbezügen zum Fühlen, die manifest werden. Wesentlich ist das Reagieren des Menschen auf Ähnlichkeit; mithin jene Kongruenz von Rezeption und Retention. Ins Spezifisch-Musikalische übertragen meint dies die Variation von Bestehendem, respektive thematisch bewusst Gesetztem. Am aufgestellten Prägnanzobjekt vollzieht sich Wiederholung und Variation durch Sequenzierung, Diminuation, motivische Umstellung, Veränderung des Kontextes, harmonischen Beleuchtungswandel und anderes. Insbesondere Verschiebungen im Raum, wie bei Sequenzierungen, beleben das Gefühl. Es erfreut sich nicht nur an der Simultanität von Symmetrie und Asymmetrie, sondern wird hineingenommen in die entstehende terrassierende Raumdynamik. Die Barockmusik lebte davon. Gedächtniskonsolidierend wirkt die unmittelbare Wiederholung, der dann aber, entsprechend der allzeit gerne verwendeten Grundform AAB, etwas Kontrastierendes, gleichwohl ästhetisch Korrespondierendes folgt. Nicht selten folgt zur Abrundung auf B wieder A. AABA ist dann die sonatentypische Grundform der Musik überhaupt wie eine natürliche Bewegung des Leibseelischen. Die Gedächtniskunst Musik hat zunächst immer gerne die Wiederholung, die zugleich einen Lerneffekt wie eine ganzheitsbildende 215 © Verlag K

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Symmetrie enthält. Dieser Part wird vom Element B abgelöst. Das Gefühl wird zweifach erhoben durch die Symmetrie als durch den kontrastierenden Wechsel, der, bisweilen selbst Wiederholung in sich bergend, mit seinem Ende zur Phrase, zum Halbsatz oder Satz zur Einheit abschließt. Basiselemente wie Grundton, bleibender Rhythmus und klangfarbliche Konstanz helfen, Maß zu halten. Sie dienen als Hintergrund für die sich profilierende Figur. Tun sie sich durch einen Wechsel selbst hervor, wird die Aufmerksamkeit oszillieren und die Wahrnehmung durch das Wandelgeschehen animiert. Die Hierarchie der Wahrnehmung, die damit verquickte Figur-GrundScheidung dazu die Limitationen spontaner Gedächtnisleistungen bilden sich in all dem ab. Aus der Fluktuation von Gekanntem und Unbekanntem, tonaler Schließung und distanzierender Belebung erwachsen Spannung und Entspannung. Geht ein Komponist wie Brahms weit mit der Variation, erschwert das die Verständlichkeit und hat Auswirkung auf die Klarheit des Ausdrucks, da diese sich nicht nur aus der momentanen Strukturiertheit des Gestaltzusammenhanges ergibt, sondern auch aus dem Redundanzgehalt des Präsentischen. Anderen, Tschaikowsky womöglich, mag man Seichtigkeit vorhalten, da sie Möglichkeiten, fürs Gedächtnis Landschaften zu formen, unausgeschöpft ließen. Jene Elemente und gesetzlichen Verhältnisse sind in eins Vorbedingungen und schon Inhalt des musikalischen Ausdrucks. In den damit einhergehenden Lernvorgängen kommt geradeso die Bestätigung durch Erfolg zum Tragen wie die Stimulation durch das Nichtidentische. Was Ästhetik und Ausdruck heißt, ist hier die optimale Verwirklichung von Gedächtnis, Leib und Empfindung in Tönen. II.2.4. Anmutungen mit semantischen Beiklängen Die Musik, wie das Denken überhaupt, bestimmen Wiederholung, Variation und Kontrast, Dissonanz und Harmonie, Monolog und Dialog. Dissonanz und Harmonie erzeugen nicht nur die erlebnisreichen Spannungsbögen. Ihnen korrespondieren Stimmungsfarben des Gemüts, als sie über sich hinaus in die alltägliche Erlebnis216 © Verlag K

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

welt weisen. Das gilt um so mehr für das Paar Monolog und Dialog. Hier schwingt unbenannte Bedeutung mit. Kontraste in der Gestaltung gemahnen an Pendants der weltlichen Erlebnissphäre. Gleichermaßen sind die elementaren Kategorien des leiblichen Befindens, wie sie zu einem Alphabet der Leiblichkeit zusammengeführt werden können, 12 in derlei Erlebniskontexten grundlegend. Die Zentralkategorie »Engung und Weitung« wird erlebbar im dialogischen Wechsel von Solo und Tutti; besonders eindrucksvoll wohl in der Verbindung mit crescendierender Erregung, wenn nach der virtuos gesponnenen Solo-Kadenz das Orchester wieder das Hauptthema anschließt, oder in Kantatenwerken, wo sich Arien und Rezitative mit Chorpartien abwechseln. Neben der Weitung des Klanges, die dann auch durch vergleichsweise lange Notenwerte und Gestaltprägnanz empfunden wird, würde das Wiedererkennen den Eindruck verstärken, denn es führt ein entsprechendes Moment mit sich, wobei im Augenblick der Füllung und Klarstrukturierung des Bewusstseinsfeldes das Empfinden leibseelischer Öffnung auflebt. Offene Weite verströmt mit einem Male der Einsatz des C-Dur Hauptthemas im Finale der 1. Brahmsschen Symphonie. Als sei es nun die Empfindung frischer Bergluft, die Verbreitung eines Sentiments, das kurz zuvor durch eine imitierte Alphornmelodie bereits belebt wurde. Schon der B-Teil in der Formgestalt AABA sowie die Reminiszenz der Reprise ruft jenes Spüren von Weite hervor. Einmal führt etwas Neues aus der Enge des Turnus – antagonistisch ist es die Freude des Wiedererkennens einschließlich der Freude am zurückerhaltenen thematischen Grund und Boden. Man kann dergleichen im Lied beim Übergang von der Strophe zum Refrain erleben. Musikalische Figuren vermögen die ganze Klaviatur leibseelischer Befindlichkeit zu vitalisieren. Bewegungsanaloga sowie das Spiel mit Erwartungen bringen Freude, Trauer, Angst zum Ausdruck. Ein accelerierendes Pizzicato, das auf dem kurzfristig erreichten Fortissimo-Höhepunkt abreißt, lässt eine beengende ge12

Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band 2, Teil I: Der Leib, Bonn 1965; ders.: Leib und Gefühl, Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, Paderborn 1989, S. 44 ff.

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spenstische Stimmung entstehen. Man schrickt beim Hören ein wenig zusammen. Melodische Figuren sind bei hinreichender rhythmischer Prägnanz gestenhafte, bewegungssuggestive Doppelgänger zu allgemeinen leiblichen Regungen. Sprachlich Fassbares, wie eine pointiert absteigende Melodiefloskel, die entfernt einem Lachen gleicht, steht neben kaum benennbaren Bewegungen, deren Verknüpfung mit dem Ausdrucksleben einstweilen im Dunkeln liegt. Fast die ganze Musik, so Hermann Schmitz, ist ein Spiel von Bewegungssuggestionen im Medium der Töne. 13 Damit ist eine stets mitgehende Aussageschicht angezeigt, die nicht das Ganze des Ausdrucks darstellt, aber wesentlich an dessen Verve mitbildet. Musik und Mensch koagieren unmittelbar – Koagieren ohne Reaktionszeit – 14 nicht im Sinne eines kausalen Nexus. Diese Unmittelbarkeit ist bezeichnend für die Musik, wenngleich es auch hier nacherlebende Einfühlungen und Analogieschlüsse gibt. Aber es gilt grundsätzlich für diese nachgreifenden Sinnsetzungen: Sie »konstituieren nicht das primäre Ausdrucksverständnis, sondern treten zu diesem bei der sekundären Ausdrucksdeutung hinzu«. 15 In und mit jeder Kultur hat »Einleibung«16 zwischen musikalischem Ausdrucksgefüge und dem impulsgebenden Mensch stattgefunden. Natürlich greift der Vorgang über die einzelne Kultur hinaus, so nämlich musikalische Kulturbildung aus dem leibseelischen Gefüge des Menschen erwächst. Das macht ein Mitgehen im beschriebenen Sinne auch mit der Musik einer fremden Kultur möglich. Im Bezug auf den leibnahen Rhythmus wird dies an erster Stelle deutlich. Dem Tonhöhenraum korrelieren Aussagewerte. Die Höhe wird Freude, Leichtigkeit, Freiheit verstrahlen. Die Nähe der tiefen Klänge zum Undeutlichen, Bedrohlichen, Stillen dient dem dramatischen Ausdruck; ein pulsierendes Drängen und Wogen in der Tiefe unterstützt den weltschmerzhaften Dunkelton am Anfang der »Unvollendeten«. 13 14 15 16

Schmitz, Leib und Gefühl, S. 13. Ebd., S. 55. Kunz, Zur Phänomenologie, S. 116. Schmitz, Leib und Gefühl, S. 55 ff.

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Ausdruck der Musik und Musik als Ausdruck

Eine weitere Dimension des Ausdrucksgeschehens ist die synästhetische. Noch jenseits der individuellen Sonderbegabung werden offenbar vor allem klangfarbliche Tönungen mit Farbwerten in Verbindung gebracht; so die Verbindung von »kühlen«, sphärischen Klängen mit der Farbe blau. Der Zusammenhang zwischen absoluter Tonerkennung und Farbenordnung wurde vielfach erwiesen. Im Sinne von intermodalen Urentsprechungen werden etwa Wärme und Kälte auf entsprechende Farben und prägende Klangfarben übertragen und die Tiefe der Tonlage mit dunklen, deren Höhe mit hellen Farben kongruieren. 17 Das Eingefangen- und Umfangensein vom Klang der Musik ermöglicht dem Ausdruck, atmosphärisch zu wirken. Die ästhesiologische Eigenart des Umschlossenseins gegenüber dem perspektivisch zentrierten Sehen lässt den Hörer in einer ganz und gar durchdringenden Weise emotional ergriffen sein. Gefühle charakterisiert Hermann Schmitz als Atmosphären, die sich ergreifend ebenso um eine große Menschengruppe wie auch um einen Einzelnen legen. Gefühlsatmosphären sind klassifizierbar: reine Stimmungen, diffuse Erregungen, zentrierte Gefühle. 18 Die Musik lässt ebengleich eintauchen in Atmosphären von Örtlichkeiten, sie vermittelt Anklänge an die dort praktizierten Handlungen, Haltungen, an mit ihnen verbundene Gemütszustände. Beethoven hatte in dieser Art in der »Pastorale« atmosphärisch gestaltet. Die weiten Wölbungen des Steines mag man hören wollen, wo Schumann die Atmosphäre einer großen Architektur wiedergeben möchte. Von dem architektonischen Bild, das im 4. Satz seiner »Rheinischen« inspirierte, ahnt der Hörer wohl kaum etwas, wenn er nicht entsprechend instruiert wurde. Die Bläserklänge können allzu viel zum Ausdruck bringen, als dass denn die Weiträumigkeit eines Domes zwingend damit in Verbindung zu bringen sei. Und doch ist die Stimmung adäquat und verdichtet sich mit der Deutung der Szene. Die Überschrift »Feierlich« gibt einen Ton vor. 17

Wellek, Musikpsychologie, S. 107 ff. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand – Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 292 ff.

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Der Orchesterdirigent – Bewegungssuggestionen und solidarische Einleibung

I. Luft sortieren und Atmosphären erzeugen Der Beruf des Orchesterdirigenten kann in sehr unterschiedlicher Weise beschrieben werden. Vom Akteur der eigenen Körperlichkeit etwa kann die Rede sein, zwischen Führung und Magie, Diktatur und Scharlatanerie, oder von Glanz und Elend des Dirigenten. Für manche gehört das berufsmäßige Dirigieren zu den Schwindelberufen, den »phoney professions«, die zwar in hohem Ansehen stehen, doch die Probleme, die sie schaffen, nicht lösen. 1 Aber auch eine Art Verkehrspolizist sei er, der »Luft sortiert«, oder einer, der die präzise und vollständige Aufgabenstellung einer Partitur umsetzt. In der Tat ist die Arbeitsteilung zwischen Dirigent und Orchester eine besondere: Die Musiker erzeugen auf ihren verschiedenen Instrumenten die Töne ihrer Stimmen, der eine, im Besitz der Partitur des Ganzen, ist von der Tonproduktion ausgeschlossen. In meinem Beitrag möchte ich einen aus meiner Sicht wichtigen Aspekt herausstellen: Die Rolle des Dirigenten bei der Erzeugung von Atmosphären und bei der körpersprachlichen Umsetzung von Bewegungssuggestionen in der Musik im Kontext der »solidarischen Einleibung« beim Musikmachen. Ästhetische Arbeit ist wesentlich auch ein Erzeugen von Atmosphären. Dabei geht es, wie Hermann Schmitz differenziert, um die »Gestaltung von Situationen, die solche Atmosphären an sich ziehen oder in sich saugen.« 2 Ästhetische Arbeit besteht aus dieser Per1

Hans Keller: Criticism, London 1987, S. 22 f. Hermann Schmitz: »Situationen und Atmosphären. Zur Ästhetik und Ontologie bei Gernot Böhme«, in: Michael Hauskeller u. a. (Hrsg.): Naturerkenntnis und Natursein, Frankfurt/Main 1998, S. 176–190, hier S. 181.

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Der Orchesterdirigent – Bewegungssuggestionen und solidarische Einleibung

spektive darin, Dingen, Umgebungen oder auch den Menschen selbst solche Eigenschaften zu geben, die von ihnen etwas Spezifisches ausgehen lassen – vom Design über Werbung, akustische Möblierung, Kosmetik bis zur breiten Vielfalt der Kunstformen. Für ein transdisziplinäres Gespräch über Atmosphären zwischen Musikwissenschaft, künstlerischer Praxis und Neuer Phänomenologie bietet insbesondere das an Musikhochschulen und Konservatorien versammelte Praxiswissen ideale Voraussetzungen: Welches Wissen um das Hervorbringen unterschiedlichster musikalischer Atmosphären läßt sich in den verschiedenen Fächern bestimmen, in Geschichte und Gegenwart? Also etwa von dem barocken Wissen um die »Leidenschaft oder Gemüths-Bewegung«, die in einer Courante vorgetragen werden soll, bis hin zur kreativen Potenz eines E-Gitarristen, vom Schubert-Sänger zum Pantomimen, usw.? Und im Blick auf die Ausbildung an diesen Institutionen könnte gefragt werden: Welcher Wissensschatz um musikalische Atmosphären sollte dem angehenden Opernsänger, welcher dem Schauspieler-Sänger im Musicalbereich geläufig gemacht werden – oder dem zukünftigen Dirigenten, der beide zu dirigieren hat? II. Musik als Bewegung Die Auffassung von Musik als Bewegung lässt sich bekanntlich weit in der Geschichte zurückverfolgen. Hervorhebenswert ist in unserem Zusammenhang die Einsicht Friedrich von Hauseggers Ende des 19. Jahrhunderts, die Musik als klingenden Ausdruck von Gefühlsbewegungen zu sehen. Die musikalischen Lautäußerungen seien »hörbar gewordene Muskelbewegungen, hörbare Gebärden.« 3 Von Hausegger beobachtete, nicht als Erster und nicht als Letzter, dass rhythmische Bewegungen sich interpersonell mitteilen; wir erleben Ausdrucksbewegungen von anderen muskulär mit. Musikforscher wie Ernst Kurth und Hans Mersmann ermöglichten vertiefte Einblicke in die Kraftartigkeit musikalischer Bewegungssuggestionen. So heißt es in Hans Mersmanns Angewandter Musikästhetik 3

Friedrich von Hausegger: Die Musik als Ausdruck, Graz 1885.

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(1926): »Was als Tongestalt gehört wird, ist nicht das Nacheinander verschieden hoher Töne, das Auf und Ab im Tonraum, sondern ein dynamisches Geschehen, Vorgang in einem Kraftfeld«. 4 An anderer Stelle sagt Mersmann über den Zusammenhang von Form und Kraft: »Form ist Projektion der Kraft in den Raum. Der Formverlauf ist in seiner Richtung, Spannung und Struktur ein Produkt der Kraft.« 5 Diese innovativen Ansätze aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind in der Musikwissenschaft jahrzehntelang fast gänzlich unbeachtet geblieben und werden erst in jüngerer Zeit durch die Neue Phänomenologie Schmitz’ aufgegriffen. Parallel dazu sind Hauseggers Ideen in den 80er Jahren von Manfred Clynes experimentell vertieft worden, in seiner »Theorie der Gefühlsbewegungen« (sentics). 6 Clynes belegt, dass motorischer Ausdruck und psychisches Erleben eng zusammengehören. In ganz verschiedenen Bereichen: z. B. im Gesichtsausdruck, in der Gestik der Hände, in der Stimmbewegung usw. wird derselbe dynamische Verlauf von Emotionen ausgedrückt. Bei dieser Dynamik der Gefühlsbewegungen sind es die genannten Bewegungssuggestionen, die eine Brücke vom Wahrgenommenen zum Wahrnehmenden schlagen, indem sie individuell am eigenen Leib gespürt werden. Bewegungssuggestionen gehören auch im Fall des Dirigenten zentral zu dem, was ein Dirigent in körpersprachlichen Ausdruck umwandelt, und was sich von ihm auf die Musiker des Orchesters und gleichermaßen aufs Publikum überträgt. Beim Dirigieren genauso wie beim Singen und Instrumentalspiel überträgt sich das spezifisch Musikalische, wie der Musikpädagoge Wolfgang Rüdiger einmal im Blick auf das instrumentale Ensemblespiel formuliert hat, durch die »Beredtsamkeit der Körper« auf die Hörer und Zuschauer. 7 Vor diesem Hintergrund sei thesenartig folgendermaßen formuliert: Zu den wesentlichen Bestimmungsmerkmalen des Dirigierens im Konzert gehört die individuelle Verlebendigung der Bewegungssuggestio4

Hans Mersmann: Angewandte Musikästhetik, Berlin 1926. Ebd., S. 630. 6 Manfred Clynes: Sentics. The touch of emotions, Bridport/New York 1979. 7 Wolfgang Rüdiger: »›… von einem einzigen Geiste beseelt‹. Grundlagen des instrumentalen Ensemblespiels«, in: Ulrich Mahlert (Hsg): Spielen und Unterrichten. Grundlagen der Instrumentaldidaktik, Mainz etc. 1997, S. 246. 5

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nen, die in der dirigierten Musik enthalten sind, gemäß dem individuellen Verständnis der Partitur. Verlebendigung heißt dabei nicht unbedingt umsetzen in eigene körperlich-tänzerische Bewegung, sehr wohl aber: mittels (mehr oder weniger sparsame) Körpersprache weitergeben an die Musiker, in weitestgehender Klarheit der körpersprachlichen Aussage – und das kann sich fallweise auf eine kleine Fingerbewegung beschränken. III. Akustische Gebärdefiguren Der große amerikanische Dirigent und Komponist Leonard Bernstein äußerte sich gelegentlich abfällig über das Taktschlagen. So formulierte er einmal folgendermaßen: »Taktschlagen ist sehr einfach. Fast jeder kann Taktschlagen lernen: eins, zwei, drei, vier und so weiter. Meine Großmutter kann das und meine Enkelin wird es irgendwann auch können. Ich habe sogar meinem Hund Walzer beigebracht, nämlich auf den dritten Schlag die Pfote heben, das kann man alles lernen. Aber wonach wir suchen, ist nicht reines Takt-Dirigieren, sondern das Musik-Dirigieren.« 8 An anderer Stelle äußerte sich Bernstein dahingehend, dass die Hauptaufgabe des Dirigenten darin bestehe, das Orchester zu animieren: »he shows them the music«. Interessant ist dabei zu bedenken, welche Dimensionen der Musik der Dirigent den Orchestermitgliedern zeigt, und auf welche Weise er sie ihnen zeigt. Und weiter: In welcher Weise und in welchem Umfang hängt das Animieren des Orchesters mit den skizzierten Bewegungssuggestionen der Musik zusammen? Eine Systematik der Ausdrucksgesten des Dirigenten eines klassischen Orchesters legten kürzlich Thüring Bräm und Penny Boyes Bräm vor. Gegenstand ihrer faszinierenden Untersuchungen das Vokabular der expressiven Linke-Hand-Gesten des Dirigenten, die – so das Ergebnis – »eine metaphorische Verbindung zwischen musikalischen Aspekten und physischen Erfahrungen her(stellen), die Menschen mit Objekten im täglichen Leben machen.« Und deren 8

Leonard Bernstein: »Die Kunst des Dirigierens«, in: ders.: Freude an der Musik, München 1982, S. 112–141.

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Effektivität engstens von der Erfahrung des einzelnen Dirigenten, von individuellen Persönlichkeitsfaktoren und Kommunikationssituationen abhängt. 9 In welcher Weise und in welcher Variationsbreite die tatsächliche Komplexität des Dirigierens, bei der diese Dirigiergesten mit Bewegungen des gesamten Körpers, des Oberkörpers und des Kopfes sowie mit dem weiten Bereich der Mimik verbunden sind, die Bewegungssuggestionen der gespielten Musik umsetzen, lässt sich anhand von aufgezeichneten Dirigaten analysieren. Als Beispiel wähle ich zunächst den Schluss von Beethovens Egmont-Ouverture, und zwar in der berühmten Aufnahme mit Sergiu Celebidache in der zerbombten alten Berliner Philharmonie, 1950. (Videobsp. Dirigieren_1 Dauer: 0:59) 10

Beim Zuhören und Zusehen erleben wir nicht Töne, die sich im Tonraum bewegen, sondern sozusagen akustische Gebärdefiguren – Gebärden, die mehr oder weniger am eigenen Leib spürbare Bewegungssuggestion vorzeichnet, ohne sie auszuführen. Diese akustischen Gebärdefiguren werden von jedem Dirigenten individuell in körpersprachliche Bewegungsaktionen umgesetzt. Diese Zusammenhänge seien jetzt an einem Detail verdeutlicht: einer zweimal wiederholten Steigerungsstelle, einem aufwärtsgerichteten Gang von der Tonika zur Dominante, im letzten Allegro con brio der Egmont-Ouverture (vgl. Notenbeispiel 1 zu Videobsp. 2). Fortissimo ist in allen Stimmen längst erreicht, der harmonische Rhythmus wechselt im zweiten abgebildeten Takt (T. 319) unvermittelt von Halben in Viertel – dann folgt eine übergebundene punktierte Halbe plus dem nächsten Takt, anschließend zwei Takte ausgehaltener Dominantseptakkord. (Im letzten abgebildeten Takt beginnt das Ganze noch einmal, die Halben sind dabei intensivie9

Thüring Bräm/Penny Boyes Bräm: »Der Versuch einer Klassifizierung der Ausdrucksgesten des Dirigenten«, in: Walter Fähndrich (Hsg.): Improvisation III, Winterthur 1998, S. 220–248, hier S. 238. 10 Alle Videobeispiele sind auf der Homepage der Gesellschaft für Neue Phänomenologie abrufbar. (www.gnp-online.de/GNP-Buchreihe.19.0.html)

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(Notenbeispiel 1: Beethoven, Egmont-Ouverture, Taschenpartitur Eulenburg-Verlag o. J., T. 318–323)

rend in punktierte Viertel aufgelöst.) Entscheidend ist, dass die gleichmäßige Aufwärtsbewegung der Halben (Bass: F E F G Gis/ Oberstimmen: f g a b h) durch die vorgezogene »zwei« des folgenden Taktes – und damit durch die Änderung des harmonischen Rhythmus – jäh gestaut. (Ein interessantes Detail sind in diesem Takt die vorbereitenden zwei Sechzehntel der Posaunen auf der ›Eins-und‹.) Äußerlich gesehen passiert in der Partitur in dem übergehaltenen Klang der Takten 319/20 gar nichts Spektakuläres: ein gehaltener Zweiklang ac, in den Violinen zu repetierten Triolen intensiviert, dann die Auflösung in den gleichmäßigen Septakkordabstieg in Vierteln. Doch ist dies nur die Außenseite dieser knapp zwei Takte. Darunter liegt etwas, was der Rhythmusforscher Gustav Becking 1928 die »psychisch-rhythmischen Unterströmungen« genannt hat: auf einem gehaltenen Ton »eine unruhige Bewegung, ein 225 © Verlag K

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Flackern, eine kontinuierliche Veränderung, ein Drängen und Streben.« 11 Es ist hochinteressant zu verfolgen, auf welche Weise Sergiu Celebidache beide Male diese beiden Takte in gleicher Weise gestaltet: (Videobsp. Dirigieren_2 Dauer: 16 sec) (aus: Video The Art of Conducting, 1.22.18.05–1.22.19.20)

Mit seiner linken Hand visualisiert Celebidache dieses untergründige Bewegungsstreben als dynamische Aufwärtsbewegung, eine Intensitätszunahme, die sich mit dem energisch vorbereiteten Abwärtsschlag auf der ›Eins‹ des anschließenden Septakkordtaktes (T. 321) entlädt. Linke Hand und Blickrichtung werden von unten nach oben gezogen, wobei die Finger allmählich gespreizt werden; während die Linke nach vorne oben ausholt, dreht sich der Körper ausgleichend nach rechts hinten; Kopf und Oberkörper werden zurückgebeugt. Auch die Standbilder lassen etwas von der Wucht und Schnelligkeit der auflösenden Kreisbewegung der linken Hand erkennen, die sich abwärtsbewegend entlädt. Eine Stelle wie diese ist zwar nur ein winziges Beispiel für eine Bewegungssuggestion des musikalischen Verlaufs, die wie hier in eine ausgeführte Bewegung umgesetzt wird. Der Dirigent zeigt in einem solchen Fall den Musikern und den Zuhörern und Zuschauern das dynamische Kraftgeschehen dieser Stelle an; die Musiker realisieren diese Stelle entsprechend der ausgeführten Bewegung, und das Ergebnis ist eine hörbare, sichtbare und zugleich unmittelbar spürbare Spannungszunahme in diesen beiden Takten. Celebidache veranschaulicht die akustische Gebärdefigur dieser Stelle zu einer suggestiven, spannungssteigernden Aufwärtsbewegung. Dabei ist der Bewegungszug der linken Hand nur ein Element, verbunden mit dem Straffen, Drehen und Zurückbiegen des Oberkörpers

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Gustav Becking: Der Musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, Augsburg 1928, S. 11.

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IV. Typen des Kraftgeschehens Jede musikalische Gestalt wie eine Melodie oder ein Thema ist in ihrem gestalthaften Gepräge mit Bewegungssuggestionen unterschiedlichster Art verbunden. Es ist interessant zu beobachten, in welcher Weise Dirigenten allein ein Detail wie eine achttaktige Periode gestisch gestalten. Eine volkstümlich-gemächliche Passage in Richard Strauss’ Till Eulenspiegels lustige Streiche etwa besteht aus zwei liedhaften Viertaktgruppen. (Der Komponist hatte dazu als Zuarbeit für einen Konzertführer in der Partitur notiert: »Als Pastor verkleidet trieft er [Till] von Salbung und Moral« (T. 179–186). 12 (Videobeisp. Dirigieren_3 Dauer: 0:47) (aus: Video The Art of Conducting, 30.32.04–30.34.12)

In einer Aufnahme mit Wilhelm Furtwängler ist deutlich zu erkennen, wie er durch das Zusammennehmen und anschließend wieder Öffnen der linken Hand, verbunden mit dem Absenken des Arms und anschließendem erneuten Hochnehmen den bewegungsmäßigen Zusammenhang der beiden Viertaktgruppen gleichsam darstellt und zudem seine auftaktige Lesart bewegungsmäßig umsetzt. Besonders auffällig ist, wie Furtwängler am Ende der acht Takte den Schluss gleichsam ergreift und dann loslässt; und wie er das daran anschließende Crescendo durch Nach-vorn-Beugen in ganzkörperliche Bewegung umsetzt. Der Beginn des Handöffnens ist mit einem leichten Senken des Kopfes verbunden, die immer weiter geöffneten Finger werden wieder eingerollt und in einer Abwärtsbewegung weiter nach unten geführt, um das Periodenende anzuzeigen. Aufschlussreich für das Verhältnis von Bewegungssuggestionen und ausgeführten Bewegungen sind insbesondere Übergangsstellen, Stellen also, an denen unterschiedliche »Typen des Kraftgeschehens« (Mersmann) aufeinandertreffen. Eine solche bietet zum Bei12

Vgl. die Konkordanz der Einträge Strauss’ in seine Partitur und der programmatischen Hinweisen Wilhelm Maukes bei Walter Werbeck: Die Tondichtungen von Richard Strauss, Tutzing 1996, S. 540.

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(Notenbeispiel: 2: Richard Strauss, Till Eulenspiegel, Taschenpartitur Eulenburg o.J, T. 179–186)

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(Notenbeispiel 3: Richard Strauss, Till Eulenspiegel, Taschenpartitur, T. 494 ff.)

spiel der Übergang bei T. 500 in Strauss’ Till Eulenspiegel. Zuvor setzte zweimal in den Hörnern mit Quartsprung aufwärts eine fanfarenartige Umgestaltung des Till-Motivs ein, ff molto marcato: Beim dritten Mal (auf dem Beispiel Auftakt zu T. 494) wird dieses umgestaltete Till-Motiv mit Oberterzen überhöht. Dann schließt sich, bei Ziffer 32 (T. 495), ein neuer Bewegungstyp an, der drei individuelle Bewegungstypen verbindet: Die Celli spielen eine eintaktige Rhythmusformel darüber die Violinen pizzicato zusammen mit den Holzbläsern das eine, die Bratschen und Hörner das andere Eulenspiegelmotiv. Die Gegenüberstellung von zwei Realisierungen – noch einmal Wilhelm Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern (Titania Palast 1950) und Sergiu Celebidache mit dem Orchester des Süddeutschen Rundfunks 1964) – führt erneut vor Augen, wie völlig 229 © Verlag K

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unterschiedlich von zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten und ihren Orchestern das Kraftgeschehen der unterschiedlichen Bewegungssuggestionen in einem solchen Ausschnitt interpretiert wird. Unterschiedliche Lesarten der Bewegungssuggestionen in der Partitur, und entsprechend unterschiedliche tatsächliche bewegungsmäßige Umsetzungen, sowohl in dem, was geschlagen wird, und hinsichtlich dessen, was in tatsächliche gestische, körpersprachliche und mimische Bewegungen übersetzt wird. Furtwängler beschränkt sich bei dem Übergang zu T. 492 auf eine Gegenbewegung von rechter und linker Hand: Die rechte Hand schnellt analog zum Terzsprung a-c des Till-Motivs nach oben, die Linke federt ausgleichend nach unten. Vgl. Videobeisp. Dirigieren_4 (Furtwängler) und Dirigieren_5 (Celebidache) (aus: Video The Art of Conducting, 37.11.19+37.12.03 und 1.25.15.09–1.25.15.17; Dauer 0:36 und 0:39)

Bei Celebidache fällt als ausnehmend spektakulär das schwungvolle Kreisen des linken Arms ins Auge, verbunden mit einem Aufrichten des gesamten Körpers und dem Öffnen des Mundes. Dadurch wird die Steigerung jeweils zum dritten Takt hin in einen prägnanten, individuellen körpersprachlichen Ausdruck übersetzt, der sich auf Musiker wie Publikum unmittelbar überträgt. Eine Art effektvoller »Tanz« zu Beginn von Ziffer 32 stellt die schwingende Bewegung der Violin-Pizzicati und Holzbläser in den Vordergrund. Die Vergrößerung gerade dieser Bewegungssuggestion in deutliche seitliche Hüftschwünge (deren Dynamik selbst noch die Folge weniger Einzelbilder spürbar werden lässt) führt den abrupten Wechsel zu einem neuen Bewegungstyps an.

Auffällig ist, wie Celebidache kurze Zeit später völlig ruhig dasteht und das komplexe Geschehen nur noch beobachtet, hier und da zum Aufeinanderhören motiviert und mit winzigen Impulsen koordiniert. Körpertheatralik steht im Dienst der Übertragung einer Lesart der Bewegungssuggestionen der Musik an dieser Stelle.

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V. Probenarbeit und solidarische Einleibung Jede Aufführung wird in den Proben vorbereitet. Und gerade Proben sind ein ganz besonderes Erfahrungsgebiet, um die vielfältigen Strategien von Musikern und Dirigenten zu studieren, ganz spezifische Atmosphären gleichsam herzustellen. Damit gehören sie mit zum »Feld der akustischen Reize durch Bewegungssuggestionen«, welches Hermann Schmitz zufolge »Domäne der stärksten und glattesten solidarischen Einleibung« ist. 13 Dazu ein letztes Beispiel: aus einem Probenmitschnitt mit den Orchester des Süddeutschen Rundfunks eine weitere Stelle aus Strauss’ Till Eulenspiegel. Nach der Fermate vor dem Übergang zu »Tills Gassenhauer« (Takt 370). In den Noten steht accelerando, und dann beim Doppelstrich Ziffer 26 ein Wechsel zu 2/4 (leichtfertig), mit Viertel = punktiertem Viertel des vorangegangenen 6/8-Taktes. Jeder Musiker und jeder Dirigent wird beim Lesen diese Beschleunigung individuell anders auffassen. Um zu einer gemeinsamen Lesart zu kommen, verfolgt Celebidache in der Probe die Strategie, das Orchester durch Mitsingen in seine höchstpersönliche bewegungsmäßige Konzeption dieser Stelle einzubinden, die auf ein geringfügiges Innehalten vor dem »Gassenhauer« (Zi. 26 = T. 375) hinausläuft. Das heißt: Er schleift gewissermaßen eine gemeinsame Lesart – seine! – auf diese Weise ein, ohne viel Erklärungen abzugeben, im Sinne einer »solidarischen Einleibung«. In welcher Weise er dann den Charakter des »Gassenhauers« bewegungsmäßig vergrößert, wie er die spezifische Atmosphäre dieser Stelle den Musikern nahe bringt, das dürfen wir in der Aufzeichnung des Probenmitschnitts medial vermittelt miterleben – und dabei bedauern, bei einer solchen Probenarbeit nicht wenigstens an einem der hinteren Pulte gesessen zu haben. (Videobeisp. Dirigieren_6, Dauer: 1:28) (aus: Video The Art of Conducting, 1.23.20.07+1.23.21.00)

Beim Wechsel zum »Gassenhauer« ab T. 375 zeigen geöffnete Augen und Mund die Stauung des Auftakts an; Die Entspannung 13

Schmitz: Was ist neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 40.

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(Notenbeispiel 4: Richard Strauss, Till Eulenspiegel, T. 367–378)

beim Beginn des Gassenhauers kommt durch Schließen der Lippen verbunden entweder mit Senken der Augen (erster Probendurchgang) oder Wechsel der Blickrichtung (2. Probendurchgang) zum Ausdruck. VI. Schluss Die besprochenen Beispiele ließen in Ansätzen deutlich werden, dass es zu den wesentlichen Bestimmungsmerkmalen des Dirigierens im Konzert gehört, die Bewegungssuggestionen der dirigierten Musik individuell zu verlebendigen, gemäß dem individuellen Verständnis der Partitur. Der Dirigent zeigt dem einzelnen Orchestermitglied, wie Thomas Kabisch formuliert hat, »die zur Bestimmung des Einzeltons erforderlichen Referenzereignisse und Refe232 © Verlag K

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Der Orchesterdirigent – Bewegungssuggestionen und solidarische Einleibung

renzgrößen« an. 14 Jedoch kapituliert die von Kabisch geforderte »produktive Trennung von Partitur und Spieler«, von der »Bezeichnung des musikalischen Tons und seiner Produktion« vor der Tatsache der solidarischen, leiblich ergreifenden Einverleibung beim gemeinsamen Musizieren. Eine besondere Bedeutung bei den dirigentischen Bewegungssuggestionen haben, so war bei unseren Beispielen zu beobachten, die Übergänge zwischen unterschiedlichen Bewegungstypen sowie Entscheidungen, wie komplexe Mischungen konkretisiert werden, d. h., welche Aspekte mehr im Vordergrund, welche mehr im Hintergrund positioniert werden. Verlebendigung der Bewegungssuggestionen heißt dabei nicht zwangsläufig: Umsetzen in körperlich-tänzerische Bewegung, sehr wohl aber: Durch sparsame oder weniger sparsame Körpersignale weitergeben an die Musiker. Dadurch werden spezifische musikalische Atmosphären erzeugt, die – wenn es glückt – Wahrnehmende und Interpreten in der gemeinsamen Wirklichkeit solidarischer Einleibung umfangen.

14

Thomas Kabisch: »Was dirigiert der Dirigent? Celebidache, Toscanini und die Dialektik des Musikalischen«, in: Die Musikforschung 58, 2005, S. 48–58.

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I. Philosophie und Tanz I.1 »Tanz verstehen« Der Tanz stellt sicherlich eine der größten Herausforderungen für die Philosophie dar. Es scheint der Philosophie fast ein Unmögliches zu sein, diese flüchtigste Kunstart unter den Künsten begrifflich zu fassen und zu bestimmen, geschweige denn zu erklären, wie und ob denn Tanz »verstanden« werden könnte. 1 So sieht sich die Philosophie immer noch und vielleicht mehr denn je vor die Aufgabe gestellt, die Produktion und Rezeption von Sinn im Tanz zu erklären. Dass der Tanz in der Philosophiegeschichte – anders als etwa die Malerei oder die Musik – kaum zur Sprache gekommen ist, mag damit zusammenhängen, dass sich bis heute keine Notationsform durchgesetzt hat, mit der Tanz schriftlich festgehalten werden könnte. Der Tanz als Bewegungsphänomen scheint sich der Fixierung in Begriffen oder anderweitigen Codes zu verweigern. Die Überlieferung und Archivierung von Tanz stellt entsprechend – trotz der erweiterten Möglichkeiten der neuen Medien (Videoaufnahmen, digitale Computersimulation in sogenannten »Tanzlabs«, in denen den tanzenden Körpern Bewegungssensoren angeheftet werden, usw.) – ein großes Problem dar. Das Fehlen des Tanzes in den Archiven und Museen einer Kultur, aber auch die lange Zeit nicht vorhandene und bis heute spärliche wissenschaftliche Be1

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass es mir in diesem Aufsatz darum geht, den Tanz in erster Linie als ästhetisches, und weniger als soziales und kulturelles Phänomen zu betrachten.

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schäftigung mit dem Tanz lässt sich wohl am ehesten dadurch erklären. 2 Dennoch muss man davon ausgehen, dass Tanz in einem bestimmten Sinne vermittelt und verstanden werden kann. Mit einem »Verstehen« von Tanz haben wir es z. B. zu tun, wenn Tanz erlernt wird, wenn Tänzer in der Improvisation miteinander kommunizieren oder auch bei der Rezeption von Tanz. Wenn wir uns ein Tanzstück ansehen, haben wir hinterher das Gefühl, der Tanz habe uns etwas (oder auch wenig oder gar nichts) »gesagt«. Allerdings lässt sich oft nicht genau erklären, was genau uns denn das Tanzstück »gesagt« habe. Diese begriffliche Unbestimmtheit, ja eventuell sogar Unbestimmbarkeit weist daraufhin, dass es sich beim »Verstehen« von Tanz (wenn wir die Tatsache, dass ein Tanz uns »etwas sagen« kann, als ein »Verstehen« anerkennen wollen) nicht um ein diskursives Erfassen von Sinn handelt. Denn meistens fällt es uns schwer, das, was uns ein Tanz vermittelt, verbal zu erfassen. Dass es auch gar nicht darum gehen kann, Tanz in Begriffe zu übersetzen, veranschaulicht folgende Anekdote, die der Choreograph William Forsythe einmal in einem Interview erzählt: »Ich erinnere mich, wie einmal ein Mann nach einer Aufführung zu mir kam. Es hatte ihm sehr gefallen und er wollte mir seine Interpretation mitteilen. Er schaute mich wissend an und sagte: ›Möwen!‹ Selbstverständlich habe ich genickt.«3 – Vielleicht ist das Betrachten und Erleben eines Tanzstückes tatsächlich, wie Paul Valéry in seinem Essay Die Seele und der Tanz vorschlägt, eher mit einer Trunkenheit oder einem Traum vergleichbar, den wir träumen, und der eine Empfindung, 2

In ihrem Aufsatz »Tanz als Szenographie des Wissens« weist Brandstetter auf diese »Tanzvergessenheit« hin, die sie damit in Verbindung bringt, dass das dynamische Körperwissen einer Kultur, das jenseits der Museen und Archive in den gelebten Traditionen und kulturellen Praktiken einer Gesellschaft zu finden ist, wissenschaftlich bisher wenig ernst genommen wurde. Den Tanz versteht Brandstetter entsprechend als ein solches dynamisches »Wissen«, das in den lebendigen Leibern einer Kultur archiviert ist. Vgl. Gabriele Brandstetter: »Tanz als Szeno-Graphie des Wissens«, in: dies./Christoph Wulf (Hrsg.): Tanz als Anthropologie, München 2007, S. 84–99. 3 William Forsythe: »Interview. Tanzdenker William Forsythe im Gespräch mit Wiebke Hüster«, in: DU 765, April 2006, S. 16–18; zitiert nach Brandstetter: »Szenographie«, S. 95.

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ein Gefühl, eine Stimmung, ja eine vielgeartete Resonanz in uns hinterlässt, die wir vergeblich vollständig in Worten auszudrücken versuchen.4 Verstehen bedeutet gemeinhin die Aneignung oder die Vermittlung von Sinn. Allerdings darf das Verstehen nicht mit dem Benennen von Dingen verwechselt werden. Verstehen meint nicht einfach die Applikation eines Begriffs auf einen Gegenstand oder einen Sachverhalt, sondern ein komplexeres Sinngeschehen. Es handelt sich insbesondere beim zwischenmenschlichen Verstehen um einen lebendigen Sinnprozess, in welchem das Ausdrücken und Artikulieren von »Sinn« (z. B. in Gespräch, Gestik oder Tanz) mit dem Wahrnehmen und Empfinden dieses »Sinns« zusammengehört. So bringt der tanzende Leib nicht nur Bewegungen, sondern damit einhergehend auch emotionale und geistige Inhalte zum Ausdruck, die von den Tanzbetrachtern, aber auch von der tanzenden Person selbst wahrgenommen und empfunden werden können. Mit dem leiblichen Ausdrücken und Artikulieren von »Sinn« im Tanz geht folglich immer auch die eigene (und ggf. fremde) Wahrnehmung und Empfindung der Tanzbewegung einher. Der tanzende Leib ist entsprechend für die tanzende Person »von innen« erlebbar, während der selbe Leib gleichzeitig für die Zuschauer des Tanzes (und auch für den Tänzer, insofern er sich selbst sehen kann) »von außen« als Ausdruck wahrnehmbar ist. 5 Eine Tanzbewegung hat jedoch nur dann ihren vollen ausdrückenden Charakter, wenn sie – motorisch, energetisch, emotional – »verstanden« worden ist: Ich kann eine Choreographie technisch perfekt einstudieren und wiedergeben, doch bleibt sie eine rein mechanische Fitnessausübung, wenn der »Geist« oder »Sinn« des Tanzes nicht »verstanden« worden ist. Dieses »Verstehen« hat wiederum mit der genauen Wahrnehmung und Empfindung der Bewegung zu 4 Vgl. Paul Valéry: »Die Seele und der Tanz«, in: ders.: Werke, Band 2, Frankfurt/ Main 1995, S. S. 92–93 sowie S. 109. 5 Das hat mit der berühmten Doppelseitigkeit des Leibes zu tun, die Edmund Husserl in seinen Leibanalysen detailliert beschreibt: Der Leib hat eine Innenund eine Außenseite; ich kann ihn aus der »Innenperspektive« empfinden oder aus der »Außenperspektive« betrachten. Auf diesen Punkt werde ich weiter unten erneut zurückkommen.

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tun: Indem ich die eigene Bewegung genau studiere, versuche ich zu begreifen, wo die Bewegung im Körper losgeht, welche Richtung sie hat, mit wie viel Energie sie ausgeübt werden muss, wohin sie zielt, in welche weitere Bewegung sie übergeht; gleichzeitig erfahre ich dabei, welcher »Sinn« oder »Geist« der Bewegung innewohnt und welche »Emotion« die Bewegung zum Ausdruck bringt. Beim Einstudieren von Tanz gehören Motorik und seelisch-geistiger Inhalt (bzw. »Ausdruck«) der Bewegung folglich zusammen. Das Erlernen einer Bewegung kann im direkten Austausch mit einem Choreographen oder anderen Tänzern geschehen; aber auch im Austausch mit sich selbst, wenn die tanzende Person z. B. eine spontan improvisierte Bewegung erinnern, wiederholen und im »Körpergedächtnis« 6 speichern möchte, um aus der Improvisation eine Choreographie zu entwickeln. Der Tänzer »weiß« oder »spürt« genau, wann eine Bewegung »sitzt«, wann sie motorisch-kinetisch »verstanden« worden ist. 7 Zunächst muss die tanzende Person also ihre eigene Bewegung »verstanden« haben, damit sie diese überzeugend und hingebungsvoll »austanzen« kann. Zu diesem ersten »Verstehen« der Bewegung durch die tanzende Person gesellt sich oft das wahrnehmende Nachvollziehen und Mitempfinden (»Verstehen«) der Bewegung durch Mittänzer. Dies geschieht in jeder Choreographie, jedoch in besonderer Weise in der Tanzimprovisation, in der dieses spontane »Verstehen« der Tanzbewegungen der Anderen unabdingbar ist. Denn die Tänzer reagieren hier unmittelbar auf die Bewegungs6

Zum Begriff des Körpergedächtnisses in der Phänomenologie vgl. Thomas Fuchs: »Das Gedächtnis des Leibes«, in: Phänomenologische Forschungen 5/2000, S. 71–89. 7 Hermann Schmitz erklärt dieses Phänomen sehr anschaulich: »Beim Erwerb einer motorischen Kompetenz, z. B. […] Tanzen […] lässt sich fast immer eine Anlernphase, in der die Orientierung ortsräumlich durch Beachtung von Lagen und Abständen, z. B. der Arme, Beine und Füße, stattfindet, von einer Phase erlangter Meisterschaft und Kompetenz unterscheiden; wenn die Schwelle überschritten wird, ›sitzt‹ die Bewegung im motorischen Körperschema, und Lagen und Abstände spielen höchstens noch eine Nebenrolle.« Hermann Schmitz: »Leibliche Bewegung auf dem Grund der Zeit«, in: Miriam Fischer/Mónica Alarcón (Hrsg.): Philosophie des Tanzes. Denkfestival – eine interdisziplinäre Reflexion des Tanzes, Freiburg 2006, S. 18–30, hier S. 26.

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impulse der anderen Leiber, nehmen sie mit ihrem eigenen Leib auf, um z. B. die Vorgaben der Anderen zu imitieren oder aber eigene Akzente dagegen zu setzen. 8 Als dritte Form der Sinnvermittlung bzw. des »Verstehens« von Tanz ist die Rezeption der Tanzperformance durch die Zuschauer zu nennen. Denn wie ich bereits angedeutet habe, »verstehen« auch die Zuschauer Tanz in besonderer Weise – und zwar, wie es scheint, in einer spontanen sinnlichen Resonanz, die sich vom begrifflichen Sinnerfassen unterscheidet, ja die sich diesem eventuell sogar entzieht. I.2 Die Idee einer »anderen Intelligenz« Doch nicht nur der Tanz deutet darauf hin, dass wir von einem vorbzw. nichtbegrifflichen Sinnverstehen ausgehen müssen. Wir wissen, dass Kleinkinder und Tiere bereits vielschichtige Sinnzusammenhänge »verstehen«, bevor sie bzw. ohne dass sie je eine Sprache oder ein Zeichensystem zur Dekodierung von Sinn erlernt haben. Es scheint ein ursprüngliches Sinnverstehen zu geben, das unabhängig von jedem eingerichteten Vokabular und jenseits jedes etablierten Codes zur Entschlüsselung von Sinnzusammenhängen funktioniert. 9 Meine Vermutung ist, dass dieses ursprüngliche Sinnverstehen auf eine »(spontane) Intelligenz des Leibes« hindeu8

Aufgrund der Spontaneität und Unmittelbarkeit der leiblichen Interaktion erweist sich die Tanzimprovisation als besonders interessant, wenn es darum geht, das Problem des Tanzverstehens zu untersuchen. Außerdem muss man sich klar machen, dass die Tanzimprovisation am Anfang der meisten Choreographien steht und damit gewissermaßen die »ursprünglichste« Form des Tanzes überhaupt darstellt. 9 Ja, genaugenommen sind die Theorien für das Verstehen von Sinn, die sich auf Zeichensysteme und Codes berufen, als wissenschaftliche Konstruktionen zu betrachten. Für das ursprüngliche Verstehen, um das es mir hier geht, sind solche Modelle unzureichend. Im Übrigen ist deshalb auch Husserls Theorie der Fremderfahrung nur bedingt überzeugend: Das Verstehen des »leiblichen Gebarens« des Anderen erklärt Husserl sich so, dass ich die Bewegungen des Anderen mit Hilfe eines sich mit der Zeit herausbildenden Zeichensystems dekodiere. Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch, Den Haag 1952, S. 166.

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tet, die der kognitiven Intelligenz gegenüber nicht als defizitär einzustufen ist, sondern die sich schlichtweg »anders« verhält, ja, die die kognitive Intelligenz eventuell sogar motiviert, 10 untermauert und ergänzt. Die Phänomene des Instinkts und der Intuition, die wir auch aus dem Tierreich kennen, gehören hier dazu. Doch auch der Sinn der Künste, der den Tieren verborgen bleibt, scheint nicht ohne diese »andere (nicht diskursive) Intelligenz« des Leibes gestiftet werden zu können. Meine These ist, dass es beim Menschen (im Unterschied zu den Tieren) eine Form der Geistigkeit gibt, die sich im Sinnlichen gibt, und zu welcher der Mensch in der ästhetischen Erfahrung Zugang hat. 11 Was ich mit dem Begriff der »anderen Intelligenz« meine, möchte ich an folgendem Beispiel veranschaulichen: Ein Kleinkind oder ein Tier betreten einen Raum und erfassen unmittelbar die Stimmung, die dort herrscht, während ein gestresster Erwachsener diese Stimmung oft gar nicht mehr wahrnimmt, weil er »mit seinem Kopf woanders ist« (woanders als sein Leib), oder weil er aufgrund der Überfülle an Reizen, der er tagtäglich ausgesetzt ist, oder auch aufgrund der allgemeinen Tendenz, das Denken über die sinnliche Erfahrung zu stellen, dem Wahrnehmen von Stimmungen gegenüber abgestumpft ist. Die »andere Intelligenz«, die ich meine, verbindet sich mit Begriffen wie »spüren«, »empfinden«, »sinnlich wahrnehmen«, »intuitiv erfassen«. Diese Vermögen besitzt jeder Mensch und jedes Tier von Geburt an; sie können besonders geschult oder auch zum Teil verlernt werden. Sie verweisen jedoch auf den »wachen« lebendigen Leib; und das bedeutet, sie betreffen 10

Husserl spricht von einer solchen unmittelbaren Motivation etwa im Zusammenhang mit dem Mienenspiel: »Das Mienenspiel ist gesehenes Mienenspiel und unmittelbar Sinnesträger für das Bewußtsein des Anderen […]. Die Mienen des Anderen bestimmen mich, (schon das ist eine Art der Motivation), an sie einen Sinn im Bewußtsein des Anderen zu knüpfen.« Husserl: Ideen II, S. 235. 11 Deshalb ist der sogenannte »Bienentanz« genaugenommen auch kein Tanz – zumindest nicht im ästhetischen Sinne. Auch das Balzverhalten von Tieren lässt sich nicht mit den Fruchtbarkeitstänzen mancher Völker vergleichen, da diese meistens in einem religiösen Kontext stattfinden. Tiere tanzen nicht, und zwar genau deshalb, weil ihnen die erwähnte »sinnliche Geistigkeit« fehlt, die sich dem Menschen in Ästhetik und Religion (etwa in der mystischen Erfahrung) offenbart.

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beim Menschen nicht allein den Leibkörper, sondern hängen auch von der seelisch-geistigen Aufmerksamkeit und Konzentration (der »Wachheit«) der Person ab. Deshalb gilt es an dieser Stelle anzumerken, dass der Leibbegriff, den ich in Bezug auf den Menschen verwende, nicht nur Seelisches, sondern auch Geistiges mit einschließt. 12 Der Geist muss sich im Spüren mit dem Leib verbinden; genauso hängt eine Wahrnehmung oder Empfindung von der geistigen Präsenz der Person ab. Wenn also im vorliegenden Aufsatz von der »anderen Intelligenz« oder auch von den »sinnstiftenden Vermögen« des Leibes die Rede ist, dann schließt das die geistige Seite des Menschen nicht aus, sondern bezieht diese mit ein. (Und genau deshalb können wir im Übrigen auch davon ausgehen, dass es eine Geistigkeit gibt, die sich uns nur im Sinnlichen gibt.) Zwar lassen sich am Menschen die Begriffe »Körper«, »Leib«, »Seele« und »Geist« unterscheiden; doch in Wahrheit handelt es sich dabei um abstrakte Unterscheidungen des reinen Denkens. Der lebendige Mensch lässt sich in seiner konkreten Lebenswirklichkeit nicht in einzelne Teilbereiche untergliedern, sondern ist, wenn er denkt, auch leiblich-seelisch anwesend. So können die seelische Gestimmtheit und die leibliche Verfassung das Denken einer Person maßgeblich beeinflussen: Wenn mich etwas belastet, lenkt mich dies von der geistigen Arbeit ab; genauso führt Schlafmangel oder Hungergefühl zu Konzentrationsstörungen und hat Auswirkungen auf mein Denkvermögen. Dies bedeutet, dass die Unterscheidung der verschiedenen menschlichen Vermögen richtig eingeordnet werden muss: Erstens sind die in der Philosophiegeschichte immer wieder neu am Menschen unterschiedenen Teilbereiche – Aristoteles geht von der Dreiteilung Körper, Seele, Geist aus; Descartes unterscheidet die beiden »Substanzen« Körper und Denken (Seele) – als Erkenntnisse des reinen Denkens zu bewerten, die z. B. dazu dienen, den Menschen vom Tier zu unterscheiden, die in der lebensweltlichen Erfahrung jedoch niemals strikt von12

Auf die enge Verbundenheit von Leibkörper und Geist weist auch Husserl in den Ideen II immer wieder hin. Vgl. etwa: »[Der Leibkörper] ist eine Sache, die geistige Bedeutung hat, die einem geistigen Sein, einer Person und ihrem geistigen Verhalten zum A u s d r u c k , zum Organ etc. dient.« in: Husserl, Ideen II, S. 204.

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einander getrennt vorkommen. Zweitens werden diese Vermögen oder Teilbereiche, die am Menschen unterschieden werden, allzu oft hierarchisiert, sodass das Geistige über das Sinnliche gestellt wird. Diese Hierarchisierung gilt es zu hinterfragen: Sind die genannten Beispiele – die feinfühlige Wahrnehmung und Empfindung von Stimmungen und Gefühlen, das vor- bzw. nichtbegriffliche Verstehen von Tanz – nicht Indizien dafür, dass es ein ursprüngliches sinnliches Sinnverstehen, ja sogar »Wissen« gibt, das neben dem diskursiven Denken seine Berechtigung haben muss? Weist nicht die Kunst daraufhin, dass es eine »Geistigkeit im Sinnlichen« gibt? Kann nicht auch ein Tanzstück in höchstem Maße abstrakt, ja »intellektuell« sein – ohne sich auf die Sprache der Worte zu berufen? 13 In diesem Sinne ist dieser Aufsatz ein Plädoyer für die Sinnlichkeit, für die sinnstiftenden Vermögen des Leibes, für die genannte »andere Intelligenz«. Gleichwohl soll es nicht darum gehen, den klassischen Sinnbegriff zu widerlegen und abzuschaffen, sondern ich möchte der an der Begriffssprache orientierten Hermeneutik eine »andere Hermeneutik« gegenüberstellen, die sich auf die sinnstiftende Fähigkeit des Leibes beruft. Dieses »andere« oder »ursprünglichere« Verstehen scheint spontan aus dem sinnlichen Erleben hervorzugehen. Somit ließe sich diese »andere Sinntheorie« auch als »(spontane) Hermeneutik des Sinnlichen«14 bezeichnen, der zufolge im Sinnlichen Sinn unmittelbar erfahrbar ist. Dies beweist die ästhetische Erfahrung des Tanzes sowie jeder anderen Kunst, in der Sinnlichkeit, Emotionalität und Geistigkeit eines Menschen – zwar je nach Werk in unterschiedlichem Maße – zusammen gefordert sind.

13

Man denke etwa an die zeitgenössische Arbeit von Choreographen wie William Forsythe oder Amanda Miller. 14 Ich entlehne diese Formulierung einem Aufsatz von Jacques Garelli, der im Werk Merleau-Pontys und Husserls eine »herméneutique spontané du sensible« diagnostiziert. Vgl. Jacques Garelli: »Espace primordial et logos du monde esthétique«, in: ALTER 4 / 1996, S. 310.

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I.3 Phänomenologie des Tanzes Insofern es sich dabei aber, wie ich betonen möchte, um eine Erfahrung handelt, die gar nicht oder nur bedingt vom begrifflichen Denken eingeholt werden kann, die man folglich nicht rein rational begreifen kann, stellt sich die Frage nach dem wissenschaftlichen (philosophischen) Diskurs. Denn so bemerkt bereits Valéry in seinem Vortrag »Die Philosophie des Tanzes«, dass er als Philosoph und Nichttänzer (»homme qui ne danse pas«) dem Phänomen des Tanzes kaum gerecht zu werden vermag. Valérys Frage ist bis heute aktuell: »Was tun im Angesicht von Tanz und Tänzerin, um sich der Illusion hinzugeben, etwas mehr zu wissen als sie selbst von dem, was sie am besten kennt und man selbst gar nicht?«15 Wie kann sich das philosophische Denken dem Körperwissen der Tänzerin annähern? Zwischen der philosophischen Frage und der Kunst des Tanzes scheint sich ein unüberwindbarer Abgrund aufzutun. Der Tanz als die Kunst des sich bewegenden Leibes verweist scheinbar auf ein völlig »anderes Wissen«, dem man von philosophischer Seite, selbst wenn man auf eigene Tanzerfahrung zurückgreifen kann, zunächst hilflos begegnet. Auch in seinem fiktiven Dialog Die Seele und der Tanz thematisiert Valéry dieses Problem: Die den Tanz betrachtenden Philosophen Sokrates und Phaidros sowie der Arzt Eryximachos merken, dass sie in Bezug auf das Körperwissen der Tänzerin Athkité Unwissende sind. Die einzige Möglichkeit, sich mit dem Tanz zu befassen, sehen sie darin, den Tanz gleichsam phänomenologisch zu beschreiben. Denn was »könnte mehr Klarheit über den Tanz geben als der Tanz selbst?« 16 Allerdings wird in Valérys Essay bald deutlich, dass dies nicht aus der distanzierten Haltung des »unbeteiligten Zuschauers« geschehen darf; denn solchen Zuschauern bleibt der Sinn des Tanzes verborgen. Dagegen müssen sich die drei Denker dem energetischen Sinn des Tanzes öffnen, sich von den wirbelnden Bewegungen der Tänzerinnen berühren, ja mitreißen und begeistern lassen. Erst dann 15

Paul Valéry: »Philosophie des Tanzes«, in: ders.: Werke, Band 6, Frankfurt/Main 1995, S. 248. 16 Valéry, »Seele«, S. 101.

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können sie den Sinn des Tanzes (sinnlich) erfahren. 17 – Was ich damit verdeutlichen möchte, ist Folgendes: Der phänomenologische Ansatz scheint mir nur dann für eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Tanz geeignet zu sein, wenn er richtig verstanden wird. Die phänomenologische Methode zeichnet sich seit Husserl zuallererst dadurch aus, dass sie deskriptiv verfährt, d. h. dass sie die einzelnen Phänomene (z. B. den Tanz), aber auch die Erfahrungen dieser Phänomene (z. B. das Erleben von Tanz), die ihrerseits ebenfalls als (Bewusstseins-) Phänomene gelten, in unzähligen Analysen immer wieder neu und weiter zu beschreiben versucht. Der Phänomenologe im strengen Sinne begibt sich dafür in die phänomenologische Einstellung, vermittels der er sich aus den subjektiven lebensweltlichen Verstrickungen befreit. Er übt eine bestimmte Haltung, ja Enthaltung, um die Phänomene so rein und objektiv wie möglich beschreiben zu können. Diesem klassischen Verständnis des Phänomenologen als dem »unbeteiligten Zuschauer« setzt Merleau-Ponty (im Grunde mit dem »zweiten« Husserl der unveröffentlichten Manuskripte) ein neues Verständnis entgegen, demzufolge der Phänomenologe sich wieder selbst verleiblicht und verweltlicht, d. h. als Teilnehmer des Sinngeschehens in der Welt begreift, von dem er entsprechend auch leiblich, affektiv und emotional berührt werden kann. Nur für den Phänomenologen in letzterem Sinne kann die Beschäftigung mit dem Tanz meines Erachtens fruchtbar sein. Wie sicherlich längst deutlich wurde, positioniert sich der vorliegende Aufsatz thematisch zwischen Phänomenologie und Hermeneutik: Die zentrale These ist, dass das Verstehen von Tanz nicht auf einen kognitiven (diskursiven) Sinnbegriff verweist, sondern auf einen Sinnbegriff, der sich mit den Vermögen des lebendigen Leibes – wie Sichbewegen, Empfinden, Wahrnehmen – verbindet. Das bedeutet aber, dass das Problem des »Verstehens von Tanz« 17

Denn für Valéry hat nur der Zugang zum Tanz, der sich mitreißen lässt. Nur dann kommt es zu sinnlicher Resonanz, Begeisterung (Inspiration) und intellektuellem Vergnügen. In seinem Vortrag erklärt er: »Und diese Resonanz überträgt sich wie jede andere. Unser Vergnügen als Zuschauer besteht darin, sich durch Rhythmen mitgerissen zu fühlen. Und in Gedanken tanzen wir selbst mit!« in: Valéry, »Philosophie«, S. 253.

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zwei philosophische Themengebiete berührt: Zum einen geht es um die Frage nach dem Sinn und nach einer adäquaten Sinntheorie, die die Produktion und Rezeption von Sinn im Tanz, d. h. das »Verstehen von Tanz«, erklären könnte; damit haben wir es mit Fragen der Hermeneutik zu tun. Insofern es sich jedoch, wie ich angedeutet habe, nur um eine »(spontane) Hermeneutik des Sinnlichen« handeln kann, die sich auf die sinnstiftenden, d. h. »Sinn ausdrückenden« und »Sinn verstehenden« Vermögen des Leibes stützt, steht vor allem die Frage nach dem Leib (bzw. nach dem Verhältnis von Leib und Sinn) im Fokus, die Gegenstand der leibphänomenologischen Forschung ist. Im Folgenden möchte ich einige Gedanken von Husserl, Merleau-Ponty und Schmitz darlegen, die mir in Bezug auf das Problem des »Verstehens von Tanz« wichtig erscheinen. 18 II. Phänomenologische Ansätze zum Problem des »Verstehens von Tanz«: Husserl, Merleau-Ponty und Schmitz II.1 Edmund Husserl: »Der Mensch ist in seinen Sinnesartikulationen Mensch!« Bereits Husserl hebt in seinen Leibanalysen die oben erwähnte Doppelseitigkeit des Leibes hervor. Husserl erklärt diesen Sachverhalt am Beispiel der sogenannten Doppelempfindung: Wenn ich meine linke Hand mit meiner rechten Hand berühre, so ist mein Leib empfindender und empfundener Leib – je nachdem, auf welche Hand ich meine Aufmerksamkeit richte. 19 Der Leib weist somit gleichermaßen eine »subjektive« und eine »objektive« Seite auf. Entsprechend lassen sich die Bewegungen des (eigenen) tanzenden Leibes »subjektiv«, d. h. »von innen«, oder »objektiv«, d. h. »von außen«, 18

Ich beanspruche hier nicht, eine Zusammenfassung der leibphänomenologischen Ansätze der drei Philosophen zu geben. Ich möchte vielmehr anhand von beispielhaft angeführten Passagen aus dem Werk der Phänomenologen zeigen, dass dort fruchtbare Überlegungen bezüglich des Verstehens von Tanz zu finden sind. 19 Vgl. hierzu u. a. Husserl, Ideen II, S. 144 f.

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wahrnehmen: Beim Tanzen kann ich etwa (»subjektiv«) empfinden, »wie sich die Bewegung anfühlt: richtig, lustvoll, anstrengend, schwer, leicht usw.«; oder ich kann meinen Körper (»objektiv«) »von außen« betrachten, wie dies z. B. im Ballett gehandhabt wird, wo die Tanzbewegungen mit Hilfe des Spiegelbildes korrigiert werden. Doch auch der Betrachter von Tanz »weiß« um diese Doppelseitigkeit des Leibes: Wie bereits erwähnt, kann eine äußerlich perfekt getanzte Choreographie zuweilen »tot« und mechanisch wirken, wohingegen ein technisch nicht ganz perfektes Tanzstück dennoch sehr energetisch, lebendig und geistreich erscheinen kann. Im besten Falle gehen technische Perfektion und (seelisch-geistiger) Ausdruck (etwa »Witz« und »Elan«) zusammen. Allerdings bedeutet die doppelseitige Struktur des Leibes keinen Dualismus. Der Leib lässt sich nicht in zwei Teile teilen, sondern er ist immer zugleich ein von außen sichtbares »Objekt« (ein Körper unter anderen Körpern) und ein von innen erlebendes »Subjekt«. Für die Fremdwahrnehmung heißt das: Ich nehme den Anderen niemals wie einen Gegenstand wahr, sondern erfasse immer auch seine Lebendigkeit, seine »subjektive« Seite, seinen seelischen und geistigen Ausdruck. 20 Das »Verstehen« eines Menschen erklärt Husserl entsprechend, wie folgt: Ich sehe den Menschen, und indem ich ihn sehe, sehe ich auch seinen Leib. In gewisser Weise geht die Menschenauffassung durch die Erscheinung des Körpers, der da Leib ist, hindurch. Sie bleibt gewissermaßen nicht beim Körper stehen, sie richtet sich nicht auf ihn wie ein Pfeil, sondern durch ihn hindurch – auch nicht auf einen mit ihm verbundenen Geist sondern eben auf den Menschen. Und die MenschenAuffassung, die Auffassung dieser Person da, die da tanzt und vergnügt lacht und plaudert oder mit mir wissenschaftlich diskutiert usw., ist nicht Auffassung eines an den Leib gehefteten Geistigen sondern die Auffassung von etwas, das sich durch das Medium der Körpererscheinung vollzieht, die Körpererscheinung wesentlich in sich schließt und 20

Im Folgenden verwende ich die Begriffe »Ausdruck« und »Artikulation« in dem Sinne, wie Husserl sie in den Ideen II im Kontext seiner Analysen des Leibes definiert. Dort wird der leibliche Ausdruck wie die (Sinnes-) Artikulation (von Sinn) immer als ein Prozess (also genaugenommen als ein Ausdrücken und Artikulieren) verstanden, was auf den performativen Charakter dieses Sinngeschehens verweist.

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ein Objekt konstituiert, von dem ich sagen kann: es h a t eine Leiblichkeit, es hat einen Körper, der ein physisches Ding ist, so und so beschaffen, und es hat Erlebnisse und Erlebnisdispositionen. Und es hat Eigentümlichkeiten, die beide Seiten zugleich besitzen: so und so zu gehen, so und so zu tanzen, so und so zu sprechen usw. Der Mensch in seinen Bewegungen und Handlungen, in seinem Reden, Schreiben etc. ist nicht eine bloße Verbindung, Zusammenknüpfung eines Dinges, genannt Seele mit einem anderen, genannt Leib. Der Leib ist als Leib durch und durch seelenvoller Leib. Jede Bewegung des Leibes ist seelenvoll, das Kommen und Gehen, das Stehen und Sitzen, das Laufen und Tanzen etc. Ebenso jede menschliche Leistung, jedes Erzeugnis usw. 21

Daraus ergibt sich, dass der Mensch (und analog der Leib) für Husserl – anders als für Descartes – kein bloßes Zusammengesetztes, sondern eine sich immerzu realisierende Einheit aus Körper und Seele, aus Leib und Geist (Sinn) darstellt. 22 Der Mensch ist kein Statisches, das sich aus zwei Substanzen zusammensetzt (dies war Descartes’ Modell), sondern ein lebendiges Seelenwesen, das sich beständig leiblich artikuliert, d. h. »kommt«, »geht«, »steht«, »sitzt«, »läuft« und »tanzt«. Entsprechend nehme ich ihn auch immer in seinen (sich oder/und etwas ausdrückenden) Bewegungen wahr. Der Mensch ist in seinen Sinnesartikulationen Mensch.23 Diese 21

Husserl, Ideen II, S. 240. Vgl. ebd., S. 237. 23 Dies verdeutlicht folgendes Zitat: »Nicht ist der Leib eine ungeschiedene physische Einheit, ungeschieden vom Standpunkt seines »Sinnes«, des Geistes. Sondern die physische Einheit des dastehenden Leibes, des sich so und so verändernden oder ruhenden, ist vielfach a r t i k u l i e r t und je nach den Umständen bald bestimmter, bald weniger bestimmt. Und die Artikulation ist ein S i n n e s a r t i k u l a t i o n , und das besagt, sie ist nicht eine solche, die innerhalb der physischen Einstellung zu finden ist, und so, als ob jeder physischen Teilung, jeder Unterscheidung physischer Eigenschaften »Bedeutung« zukäme, nämlich Bedeutung als Leib, bzw. ein eigener Sinn, ein eigener »Geist« zukäme. Vielmehr ist eben die Auffassung eines Dinges als Mensch (und näher als Mensch, der spricht, liest, tanzt, sich ärgert und tobt, sich verteidigt und angreift usw.) eine solche, welche mannigfaltige, aber ausgezeichnete Momente der erscheinenden körperlichen Gegenständlichkeiten beseelt, dem Einzelnen Sinn, seelischen Inhalt gibt und wieder die schon beseelten Einzelheiten nach den im Sinn liegenden Forderungen zu höherer Einheit verknüpft und zuletzt zur Einheit des Menschen.« in: Ebd., S. 241. 22

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Sinnesartikulationen sind einerseits sichtbare Bewegungen des Leibkörpers, aber gleichzeitig, wie Husserl sagt, »seelenvoll«, d. h. Ausdruck von Emotionen, aber auch – z. B. in der Sprache, in den Gesten – von geistigem Sinn. 24 Damit wird deutlich, dass die menschlichen Bewegungen eine Einheit aus Leib und Sinn bilden, insofern sie seelische und geistige Inhalte vermitteln. Ausdruck und Ausgedrücktes sind hierbei nicht zu trennen. 25 Außerdem gilt es zu beachten, dass jeder Mensch seine eigentümliche Ausdrucksweise hat, dass er immer »so und so« spricht oder tanzt. Dies zeigt sich z. B. darin, dass ich einen Bekannten oft bereits aus der Ferne an der Art und Weise, wie er geht oder wie er gestikuliert, erkenne. Husserl überträgt diese Analyse des menschlichen Leibes und seiner Sinnesartikulationen auf »jede menschliche Leistung, jedes Erzeugnis«. Am deutlichsten wird dies, wenn er die Einheit des (doppelt strukturierten) Leibes mit der Einheit des (ebenfalls doppelt strukturierten) Kunstwerks vergleicht. Das Kunstwerk sowie jedes Werk des Geistes stellt für Husserl analog zum Leib eine Einheit aus Leib und Sinn, aus Körper und Geist, aus Ausdruck und Ausgedrücktem dar. 26 Auch bezüglich der »geistig bedeutsamen« Gegenstände gilt also: Es handelt sich hierbei nicht um ein statisches Zusammengesetztes, sondern um eine immer wieder neu zu vollziehende Einheit. Denn Husserl fasst das Kunstwerk als die »Tat« eines animal, eines lebendigen Seelenwesens auf. 27 Mit anderen Worten: Das Kunstwerk ist das Produkt der seelenvollen Bewe24

»Einfühlung in Personen ist nichts anderes als diejenige Auffassung, die eben den Sinn versteht, d. i. den Leib in seinem Sinn erfasst und in der Einheit des Sinnes, die er tragen soll.« in: Ebd., S. 244. 25 So schreibt Husserl: »Die durchaus anschauliche Einheit, die sich uns darbietet, wo wir eine Person a l s s o l c h e erfassen (z. B. als Person zu Personen sprechen oder ihrem Sprechen zuhören […]) ist die Einheit von »A u s d r u c k « und »A u s g e d r ü c k t e m « […].« in: Ebd., S. 236. 26 »Der geistige Sinn ist, die sinnlichen Erscheinungen beseelend, mit ihnen in gewisser Weise v e r s c h m o l z e n statt in einem verbundenen Nebeneinander nur verbunden. Es ist klar, daß diese, wenn auch noch unzureichende Analyse zunächst zutrifft für alle Geisteswerke, für alle Kunstwerke und für alle Dinge, die einen komprehensiven geistigen Sinn, eine geistige Bedeutung haben.« in: Ebd., S. 238. 27 Vgl. Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905–1920, Den Haag 1973, S. 69.

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gungen eines Lebewesens. Im Werk sind die Spuren, ja ist der Ausdruck dieser beseelten bzw. »beseelenden« (sinnstiftenden) Bewegungen sichtbar. Die Betrachter des Kunstwerks sind ebenfalls beseelte Leiber (Animalien), die den Sinn des Kunstwerks erneut realisieren, indem sie sich mit ihrem Leib um das Kunstwerk herum bewegen und es auf diese Weise wahrnehmen. Ich muss leibhaftig vor dem Gemälde stehen und es sehen, damit »Kunst« geschieht; die bloße Leinwand mit Farbe allein macht die Kunst nicht aus. Der Sinn der Kunst muss wie der Sinn des Menschen sowie jedes geistig bedeutsamen Werkes lebendig realisiert, d. h. vollzogen werden. Und dies gilt sowohl für das Schaffen als auch für das Rezipieren von Kunst sowie von allen Werken des Geistes. So weist Husserl darauf hin, dass sich der volle Sinn eines Vortrags erst in der leibhaftigen (stimmhaften und gestischen) Realisierung des Vortrags erfüllt. Der geschriebene Text allein macht den Vortrag noch nicht aus; der Vortrag muss in seiner höchsten Einheit aus Leib und Sinn zum »Dastehen« und zum Erklingen gebracht werden. 28 Deshalb ist die Einheit von Kunstwerk, Lesedrama oder Tanz als eine Einheit zu verstehen, die stets realisiert werden muss. In Bezug auf das Lesedrama erklärt Husserl: »[D]ie Einheit [von physischem und geistigen Sein] ist nicht Verbindung von zweien, sondern eins, und nur eins ist da. Zur idealen geistigen Einheit gehört der ideale Wohlklang dazu.« 29 Jede Entstehung von Sinn – sei es die Produktion (Darstellung) oder die Rezeption (verstehende Wahrnehmung) eines Ausdrucks – verweist folglich auf den lebendigen Leib. Denn der Sinn des Vor28

»[D]ie bedruckte Seite und der gesprochene Vortrag ist keine verbundene Zweiheit von Wortlaut und Sinn, vielmehr hat jedes Wort seinen Sinn, und ev. haben Teile des Wortes schon Wortcharakter, wie schon da vordeutend Sinn hinweist auf einen neuen Sinn, neue Worte, wie sich Worte zu Wortgebilden, zu Sätzen, die Sätze zu Satzzusammenhängen verbinden dadurch, daß der beseelende Sinn solche Rhythmisierung hat, solche Sinnesverwebung, solche Einheit, eine Einheit, die […] ihre Leiblichkeit in Wortunterlagen hat, so daß das Ganze des Vortrags durch und durch eine Einheit von Leib und Geist ist, in den Gliederungen immerfort Einheit von Leib und Geist, welche Einheit Teil ist einer Einheit höherer Stufe, und schließlich als Einheit höchster Stufe der Vortrag selbst dasteht«. in: Husserl, Ideen II, S. 241. 29 Ebd., S. 239.

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trags, eines Lesedramas, eines Kunstwerkes oder des Tanzes ist wie der Sinn »Mensch« ein Sinn in Genese, d. h. ein Sinn, der performativ und prozessual entsteht, insofern er von Ausdrückenden und Verstehenden vollzogen wird. Der Vortrag muss gehalten werden, das Lesedrama lautlich artikuliert werden, das Kunstwerk geschaffen und betrachtet werden, der Tanz getanzt und gesehen werden. Und genau dies ist auch der Grund, warum sich all diese Ausdrucksphänomene nicht in Begriffen oder Codes fixieren und festhalten lassen, warum der bloße Text des Vortrags den Sinn des Vortrags nicht ausmacht. Zusammenfassend lässt sich damit Folgendes festhalten: In den Ideen II verdeutlicht Husserl, dass das »Verstehen« eines Menschen sowie seiner Sinnesartikulationen und aller geistig bedeutsamen Werke, die das Produkt der menschlichen Ausdrucksleistungen sind, ein Sinngeschehen ist, an dem die Verstehenden leiblich-sinnlich teilnehmen müssen: Ich muss leiblich »da« sein, damit ich den »vollen Sinn« des Vortrags erfassen kann; noch deutlicher ist dies im Falle des Kunstwerks und des Tanzes, die ich nur »verstehen« kann, wenn ich eine ästhetische Erfahrung mache, d. h. wenn ich leibhaftig und mit allen Sinnen dabei bin. Außerdem können wir in Bezug auf den Tanz mit Husserl sagen: Noch offensichtlicher als das Kunstwerk ist der Tanz die »Tat« eines animal, d. h. der Ausdruck der seelenvollen und geistreichen Bewegungen eines Menschen. II.2 Maurice Merleau-Ponty: Die Künste als Formen leiblichen Denkens Merleau-Ponty knüpft direkt an Husserls Vorgaben einer Leibphänomenologie an, die er insbesondere in der Phänomenologie der Wahrnehmung vertieft, als deren zwei Schlüsselbegriffe »Wahrnehmen« und »Empfinden« gelten dürfen. Den Leib versteht MerleauPonty als ein »Geflecht aus Sehen und Bewegung«.30 Diesem sogenannten »kinästhetischen« oder »fungierenden« Leib wird eine 30

Die Verbindung von Bewegung (kinesis) und Wahrnehmung (aisthesis) fasst bereits Husserl im Begriff der »Kinästhese«.

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unmittelbare (sinnliche) Erkenntnis von Sinn zugesprochen. Denn sich bewegend-wahrnehmend »begreift« der Leib bereits sinnhafte Strukturen und Gegebenheiten, bevor ein Bewusstsein sich eingeschaltet hat: »Die Bewegungserfahrung unseres Leibes ist kein Sonderfall einer Erkenntnis; sie eröffnet uns eine Weise des Zugangs zur Welt und zu den Gegenständen […], die es als eigenständig, ja vielleicht als ursprünglich anzuerkennen gilt. Mein Leib […] begreift seine Welt«. 31 Mit dieser unmittelbaren leiblichen Aneignung von Sinn haben wir es, so Merleau-Ponty, auch beim Erlernen von Tanz zu tun: Heißt also etwa einen Tanz erlernen, auf analytischem Wege seine Bewegungsformel finden und am Leitfaden dieser idealen Vorzeichnung mit Hilfe schon erworbener Bewegungen – denen des Laufens und Gehens – wieder zusammensetzen? Soll aber die Formel des neuen Tanzes sich bestimmte Elemente der allgemeinen Motorik integrieren können, so muß sie zunächst und zuvor schon selbst eine motorische Aneignung erfahren haben. Der Körper ist es, wie man häufig genug schon bemerkt hat, der »erfaßt« und »versteht«. Der Erwerb der Gewohnheit ist die Erfassung einer Bedeutung, aber die motorische Erfassung einer Bewegungsbedeutung. 32

Mit Merleau-Ponty lässt sich also erklären, warum Tanz nur mimetisch, d. h. von Leib zu Leib (in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis) gelehrt und gelernt werden kann: Es ist der Leib, der Tanz »versteht«, und nicht das begriffliche Denken (Bewusstsein). Der Leib hat Tanz »verstanden«, wenn er die »Bewegungsbedeutung« motorisch erfasst hat, wenn er sich die Bewegung »einverleibt« hat: »Man sagt, der Leib habe verstanden und die Gewohnheit sei erlangt, wenn er von einer neuen Bedeutung sich hat durchdringen lassen, einen neuen Bedeutungskern sich angeeignet hat«.33 Dies bedeutet aber: »Was unsere Untersuchung der Motorik uns lehrt, ist ein neuer Sinn des Wortes ›Sinn‹.« 34 31

Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 170. 32 Ebd., S. 172. 33 Ebd., S. 176–177. 34 Ebd., S. 177.

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Dieser neue Sinnbegriff, der sich direkt mit den leiblichen Vermögen verbindet, ist dem diskursiven Sinn gegenüber jedoch nicht unterzuordnen. Denn auch der Leib besitzt die Fähigkeit, abstrakten Sinn zum Ausdruck zu bringen und geistige Inhalte zu vermitteln. Dies veranschaulicht Merleau-Ponty an der »Unterscheidung von konkreter und abstrakter Bewegung, von Greifen und Zeigen«. 35 Die abstrakte Bewegung hat eine »Projektions-Funktion«, d. h. die Möglichkeit, den physischen Raum in einen fiktiven oder, wie Merleau-Ponty sagt, »anthropologischen« Raum zu verwandeln. 36 Diese Fähigkeit des Leibes nutzt der Schauspieler und insbesondere der Tänzer. So fungiert der Leib im ästhetischen Ausdruck (z. B. dem Tanz) »als Ausdrucksmittel zweckfreien räumlichen Denkens«. 37 Merleau-Ponty fügt seinem Kommentar »Die Deskription des anthropologischen Raumes könnte beliebig weiter ausgeführt werden« 38 eine Fußnote hinzu, in der er darauf hinweist, dass das Kunstwerk und der Tanz eine eigene Räumlichkeit entwerfen. Der Tanz schafft nicht nur seine eigene Zeit und seinen eigenen »zweck- und richtungsfreien Raum«, sondern bewirkt für MerleauPonty dadurch sogar eine »Aufhebung der Geschichte«: So wäre etwa zu zeigen, wie auch die ästhetische Wahrnehmung eine eigene Räumlichkeit eröffnet; daß das Bild als Kunstwerk nicht im selben Raum ist, dem es als physisches Ding und gefärbte Leinwand zugehört; daß der Tanz sich in einem zweck- und richtungslosen Raum abspielt, wie er eine Aufhebung unserer Geschichte bedeutet, wie das Subjekt und seine Welt im Tanz nicht mehr gegeneinander stehen, nicht mehr voneinander sich abheben und wie folglich die Teile des Leibes nicht mehr akzentuiert sind wie in natürlicher Erfahrung: der Rumpf ist nicht mehr der Untergrund, aus dem sich die Bewegungen 35

Ebd., S. 149. So schreibt Merleau-Ponty: »In die volle Welt, in der die konkrete Bewegung sich abspielt, gräbt die abstrakte Bewegung eine hohle Zone der Reflexion und Subjektivität, sie überschiebt dem physischen Raum einen virtuellen oder menschlichen Raum. […] Die »normale« Funktion, die eine abstrakte Bewegung ermöglicht, ist eine »Projektions«-Funktion, durch die das Bewegungssubjekt vor sich einen freien Raum sich schafft, in dem, was in natürlichem Sinne nicht existiert, einen Anschein von Dasein gewinnen kann.«, in: Ebd. S. 137. 37 Ebd., S. 129. 38 Ebd., S. 334. 36

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erheben und in den sie, einmal vollendet, zurücksinken, vielmehr ist er es selbst, der den Tanz vollführt, und die Bewegungen der Glieder stehen in seinem Dienste. 39

Somit wird deutlich, dass der Tanz mit Merleau-Ponty als ein durchaus abstraktes Denken des Leibes aufgefasst werden kann. Dies lässt sich weiter untermauern, wenn man Merleau-Pontys Betrachtungen zur Malerei auf den Tanz überträgt. Denn in Bezug auf die Malerei spricht Merleau-Ponty mehrfach ausdrücklich davon, dass der Maler (bzw. genaugenommen der Leib des Malers) im Malen »denkt« (»penser en peinture«). 40 Damit ist gemeint, dass der kinästhetische Leib des Malers beim Malen spontan »weiß«, wo der noch fehlende Pinselstrich hin muss, und dass der Leib des Tänzers auf seine Weise genau »weiß«, welche Tanzbewegung er ausführen muss. Merleau-Ponty übernimmt Husserls Vergleich des Leibes mit dem Kunstwerk. Im Kapitel »Die Einheit des Leibes und die des Kunstwerks« finden wir folgende Passage: Nicht einem physikalischen Gegenstand, sondern eher einem Kunstwerk ist der Leib zu vergleichen. Die Idee eines Bildes oder eines Musikstücks kann sich auf keine andere Weise mitteilen als durch Entfaltung der Farben und Töne selbst. […] So wie die gesprochene Sprache nicht allein durch die Worte bedeutend ist, sondern auch in Ton, Gesten und Physiognomie, und wie diese Sinnesergänzung nicht mehr nur die Gedanken des Sprechenden offenbart, sondern die Quelle seiner Gedanken und die fundamentale Weise zu sein, so ist auch die Poesie, auch wenn sie beiläufig eine erzählend-bedeutsame ist, wesentlich ein Modus der Existenz. […] Doch wenn es sich auch von unserer vitalen Gestikulation loslöst, so löst das Gedicht sich doch nicht von jederlei materiellem Grund, es ist unrettbar verloren, wenn sein Text nicht genau bewahrt ist; seine Bedeutung schwebt nicht frei im Himmel der Ideen: sie ist eingeschlossen in die Worte auf irgendeinem Stück Papier. In diesem Sinne existiert das Gedicht so wie ein jedes Kunstwerk auf die Weise eines Dinges, und nicht in der ewigen Subsistenz einer Wahrheit. […] In diesem Sinne ist unser Leib dem Kunstwerk vergleichbar. Er ist ein Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen, nicht das 39 40

Ebd. Vgl. Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, Hamburg 2003, S. 301.

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Gesetz einer bestimmten Anzahl miteinander variabler Koeffizienten. 41

Auf den Tanz übertragen, lässt sich damit verdeutlichen, warum der Tanz nicht losgelöst von der »vitalen Gestikulation« des Tänzers begriffen werden kann, warum der tanzende Leib als »Einheit aus materiellem Grund und den Ideen«, als »Modus der Existenz«, als »Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen« sich nicht in einem (»toten«) Zeichensystem fassen lässt. Der Tanz existiert nur im lebendigen (leiblichen) Vollzug. So erklärt Merleau-Ponty in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France in Anlehnung an Valéry sogar, dass alle geistigen Werke – und in der Konsequenz auch die Philosophie – nur im Vollzug (in actu) existieren. 42 Und damit ist nicht nur gemeint, dass sie im lebendigen Vollzug geschaffen werden, sondern auch, dass die Rezeption dieser Werke nur im direkten leiblichen Kontakt – gleichsam performativ – geschehen kann. II.3 Hermann Schmitz: Tanz als eine Praxis leiblicher Intelligenz Husserl und Merleau-Ponty haben das ursprünglich sinnstiftende Vermögen des Leibes in zahlreichen Analysen untersucht; Schmitz entwickelt diese phänomenologischen Ansätze in seinem Entwurf eines eigenen philosophischen »Systems« weiter. In diesem Rahmen hat er auch das phänomenologische Vokabular zur Beschreibung des Leibes um einige Begriffe bereichert. In seinem Programm bekommt insbesondere das leibliche Spüren eine neue außerordentliche Bedeutung. Schmitz’ Programm erweist sich für die Untersuchung von Tanz als äußerst fruchtbar. 43 Denn das spontan sinnvolle Verhalten des Leibes versteht Schmitz unmittelbar als »leibliche Intelligenz«. 44 So ließe sich mit Schmitz zeigen, dass ge41

Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 181–182. Vgl. Merleau-Ponty, Auge, S. 169. 43 Dies hat nicht zuletzt die Tagung »Denkfestival – eine interdisziplinäre Reflexion des Tanzes« gezeigt, die Mónica Alarcón und ich vom 23. bis 26. 03. 2006 in Freiburg veranstalteten, und für die wir auch Hermann Schmitz gewinnen konnten. 44 Das unwillkürliche Ausweichen vor herannahenden Hindernissen erklärt 42

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rade der Tänzer diese Intelligenz des Leibes erprobt, nutzt und beständig erweitert. Wenn man den Tanz als eine Arbeit an den »intelligenten« Vermögen des Leibes begreift, könnte man sogar behaupten, der Tanz sei die »Philosophie des Leibes«: Im Tanz werden kontinuierlich sowohl Bewegungs- und Verhaltensmuster als auch Denkgewohnheiten (z. B. die Raum- und Zeitauffassung) (auf-) gespürt, analysiert, hinterfragt und verändert. Schmitz hat die Begriffe des perzeptiven und motorischen Körperschemas von Husserl und Merleau-Ponty übernommen. 45 Wie für seine Vorgänger, so ist der Leib auch für Schmitz »doppelt strukturiert« bzw. »kinästhetisch« (wahrnehmend-motorisch). Die Wahrnehmung hängt mit den motorischen Vermögen des Leibes eng zusammen. In Bezug auf das Sehen bedeutet das etwa: »Der Normalfall des Sehens ist dieser optisch-motorische, nicht das ruhige Zusehen.«46 Bezüglich des Tanzes bedeutet das etwa, dass der Tänzer selten ruhig zusieht, sondern beim Sehen (sowie beim Wahrnehmen allgemein) bereits die räumlichen Strukturen, die seine Bewegungsmöglichkeiten vorzeichnen mit wahrnimmt. Allerdings eröffnet Schmitz noch ganz andere Kategorien, die dem eigenleiblichen Spüren zugehören. So spricht er von »Leibesinseln«, 47 die wir auf dem Leib unterscheiden können: Die Brustgegend bildet Schmitz zufolge etwa eine »Leibesinsel«, in der sich Emotionen oft derart ausbreiten, dass man davon spricht, das »Herz ziehe sich einem zusammen«. Man könnte leicht zeigen, dass in der choreographischen Arbeit derartige »Leibesinseln« und die dort lokalisierbaren Emotionen genau erkundet werden. Insbesondere der Ausdruckstanz hat sich intensiv mit der leiblichen Artikulation und Verortung von Emotionen beschäftigt. Dore Hoyer hat z. B. in ihrer Choreographie »Affectos humanos« verschiedene Schmitz etwa »durch die leibliche Intelligenz elastischer Eindrucksverarbeitung in der Einleibung«. in: Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg 2005, S. 133. 45 Vgl. Schmitz: »Phänomenologie der Leiblichkeit«, in: Hilarion Petzold (Hrsg.): Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven, Paderborn 1985, S. 97–98. 46 Schmitz, »Bewegung«, S. 28. 47 Vgl. Schmitz, »Phänomenologie«, S. 78–79.

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menschliche Gefühlszustände (wie Angst, Scham usw.) untersucht und diese in den leiblichen Gesten erkennbaren Ausdruckselemente tänzerisch verarbeitet. Auch das Tanztheater von Pina Bausch arbeitet mit dem leiblichen Ausdruck von Emotionen. In Bauschs Tanzstück »Frühlingsopfer« etwa lässt sich die Todesangst des Mädchens, das geopfert werden soll, in den Tanzbewegungen eindeutig erkennen. Schmitz entwickelt die Theorie der Engung und der Weitung, mit deren Hilfe er Phänomene wie das Zusammenzucken des Leibes beim Erschrecken (= Engung) oder wie die Entspannung des Leibes beim Dösen (= Weitung) erklären will. 48 Engung und Weitung zusammen bilden für Schmitz die innere Dynamik des Leibes, den sogenannten »vitalen Antrieb« des Menschen. – Auch die Phänomene der Engung und der Weitung lassen sich am Tanz veranschaulichen. Denn die Kunst des Tanzes zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, »Anspannung« und »Loslassen« in ein gutes Verhältnis zu setzen. 49 Nur so kann der Tänzer Schwung und Schwerkraft des Leibes wirklich nutzen. Die Muskeln werden für bestimmte Bewegungsabläufe angespannt, müssen jedoch in anderen Bewegungsmomenten total entspannt werden. Hier bliebe zu präzisieren, dass sich nicht immer der ganze Leib in einer Phase der Engung oder Weitung befindet, sondern dass es im Tanz oft auch zur Dissoziation verschiedener Teilbereiche kommt. D. h. es kann sein, eine Körperpartie ist angespannt, während der Rest des Leibes locker schwingt, pendelt oder einfach ruht. 50 Schmitz bemerkt, dass der leibliche Raum immer eine ganze Reihe an Richtungen aufweist. So gibt einerseits der Leib selbst 48

Vgl. ebd., S. 82–84. Z. B. arbeitet der »Modern Dance« im Stil von Martha Graham mit der Entgegensetzung von »release« und »contraction«: Das Zusammenziehen und Entfalten des Körperzentrums wird hier zum Prinzip, auf dem alle weiteren Bewegungsabläufe basieren. 50 Vgl. hierzu Christiane Berger/Robert Gugutzer: »Bewegen und Spüren. Zur Verständigung und Bewegungskoordination im Tango Argentino«, in: Fischer/ Alarcón: Philosophie des Tanzes, S. 31–45. Die Autoren zeigen auf dem Hintergrund von Schmitz’ Leibphänomenologie eine solche Dissoziation von Ober- und Unterkörper im Beispiel des Tango Argentino auf. 49

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Richtungen vor (wie die Blickrichtung, die Richtung des Atems, die Bewegungsrichtung usw.); andererseits sind auch im Raum Richtungen vorgezeichnet, die der Leib motorisch-kinetisch wahrnehmen kann. All diese am Leib und im Raum erkennbaren Richtungen deutet Schmitz als »Bewegungssuggestionen« (gleichermaßen »Bewegungsangebote«): Die unumkehrbaren Richtungen, die den leiblichen Richtungsraum gliedern, gehen aber nicht nur aus der Enge des Leibes hervor wie der Blick und das Ausatmen, sondern kommen auch auf den absoluten Leibesort zu, in Gestalt von Bewegungssuggestionen, d. h. Vorzeichnungen von Bewegung über das Ausmaß der wirklich ausgeführten Bewegung hinaus oder auch an ruhenden Gestalten. Alle Gebärden erhalten ihren Gebärdesinn durch solche Bewegungssuggestionen. 51

Nicht nur die Richtungen des eigenen Leibes sowie des Raumes können als Bewegungssuggestionen fungieren, 52 sondern auch die Gesten und Gestalten der anderen Leiber, sichtbare Gegenstände und Hindernisse sowie Geräusche oder Musik. In Bezug auf den Tanz erachtet Schmitz die Musik und den Rhythmus als besonders inspirierend: »Die Musik ist das eigentliche Königreich der Bewegungssuggestionen, die sich z. B. […] in der Inspiration von Bewegung durch Tanzmusik erweisen.« 53 Damit wird deutlich, dass der leibliche Raum für Schmitz immer schon vielfach vorstrukturiert, ja gewissermaßen bereits »inszeniert« ist: Der leibliche Raum […] ist erfüllt von einem Konzert unumkehrbaren Richtungen, die teils aus der Enge des eigenen Leibes in die Weite hervorgehen, teils als Bewegungssuggestionen einstrahlen, die von ruhenden oder von in Bewegung befindlichen Gestalten oder von Bewegungen, denen sie aufgeladen sind, ausgehen. 54

Die Aufgabe des Leibes ist es im Grunde »nur noch«, auf all diese Bewegungssuggestionen, Reize und Impulse zu antworten. Zumeist 51

Schmitz, »Bewegung«, S. 27. Auch den Stil eines Künstlers (und dementsprechend auch eines Tänzers) leitet Schmitz z. B. aus den Bewegungssuggestionen ab, die den leiblichen Dispositionen entspringen. Vgl. Schmitz, »Phänomenologie«, S. 103. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 28. 52

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tut der Leib dies sozusagen »nebenbei«, wenn wir z. B. in Gedanken versunken einen Weg entlang laufen oder unbewusst einem Hindernis ausweichen. In der Tanzimprovisation steht dieses unmittelbare Antworten des Leibes allerdings im Mittelpunkt: Hier antwortet der Leib nicht mehr nur »nebenbei« auf all die Bewegungssuggestionen des Raumes, seines Leibes und der anderen Leiber oder der Musik, sondern hier ist dieses Antworten seine Hauptaufgabe, die er in höchster Bewusstheit und Aufmerksamkeit erfüllt. Die Tanzimprovisation nährt sich gleichermaßen aus den vielfältigen Bewegungssuggestionen, die zu Impulsen für die Bewegung werden. 55 Ja, im Grunde stellt die Improvisation die Bewegungssuggestionen selbst dar, insofern sie diese tänzerisch sichtbar macht (oder auch gerade nicht).56 Schmitz schlägt die Begriffe der »antagonistischen« und der »sympathischen Einleibung« vor, um einerseits die Gegen- oder Ausweichbewegungen des Leibes (etwa das Zur-Seite-Springen beim Herannahen eines Autos) und andererseits das harmonische Zusammenbewegen der Leiber (etwa im gemeinsamen Singen und Klatschen) zu benennen.57 Diese beiden Arten der »Einleibung« kommen in der tänzerischen Praxis ebenfalls vor. Mit einer antagonistischen Einleibung haben wir es etwa zu tun, wenn ich den schnellen Bewegungen eines Mittänzers ausweiche, aber auch, wenn ich der Schnelligkeit des anderen Leibes eine langsame Dynamik entgegensetze; genauso kann ich dem tiefen Niveau des Mittänzers (d. h. seinen Bewegungen am Boden oder in der tieferen Ebene des Raumes) ein hohes Niveau (d. h. aufrechte Bewegungen oder Sprünge) entgegensetzen. Umgekehrt haben wir es im Tanz dann mit einer sympathischen Einleibung zu tun, wenn beide Tän55

Und dies kann der Anfang einer Choreographie sein, wenn die vermittels der vielfältigen Bewegungssuggestionen in der Improvisation entstandenen Tanzbewegungen wiederholt und einstudiert werden. 56 Denn Bewegungssuggestionen lassen sich auch »überhören«, »übersehen«, absichtlich ignorieren; allerdings ist dies nur eine andere Form, auf sie zu antworten. Als Beispiel wäre z. B. die Tendenz in der Tanzimprovisation von Merce Cunningham bis zu Amanda Miller zu nennen, den Tanz unabhängig von der Musik zu tanzen. 57 Vgl. Schmitz, »Phänomenologie«, S. 87–88; vgl. Schmitz, »Bewegung«, S. 23.

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zer die gleiche Dynamik und/oder dasselbe Niveau teilen, wenn sie sich gegenseitig imitieren, sich gemeinsam auf eine bestimmte Musik bewegen oder sogar völlig synchron tanzen. Dynamik (Tempo) und Niveau (Raumebene) sind nur zwei Arten von Variablen, mit denen man im Tanz »antagonistisch« (sozusagen »gegen« den anderen Tänzer, aber auch »gegen« die Musik, wenn ich mich z. B. nicht dem Rhythmus anpasse usw.) oder sympathisch (sozusagen »mit« den Mittänzern und/oder der Musik) arbeiten kann; es gibt allerdings noch viele andere Variablen (wie etwa die Bewegungsform: ob ich eher runde oder eckige Bewegungen mache). 58 Der leibliche Raum strahlt immer auch Atmosphären aus, »die den Betroffenen leiblich spürbar ergreifen, indem sie ihm durch Bewegungssuggestionen spontan ein kompliziertes, charakteristisches Ausdrucks- und Gebärdeverhalten eingeben«. 59 Schmitz fasst Gefühle nicht mehr nur als subjektive Zustände eines Menschen auf, sondern auch als »Atmosphären«. Damit kann erklärt werden, wie es kommt, dass eine Wohnung, eine Stadt oder eine Landschaft für uns einen bestimmten (etwa warmen, heimeligen, kühlen, beängstigenden oder lieblichen) »Gefühlston« 60 haben und in uns ein bestimmtes Gefühl hinterlassen: »Gefühle als Atmosphären können sich durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere allen Gestalten, auch Stimmen, Blicken und Bewegungen, so anlagern, dass sie mit diesen leibnahen Brückenqualitäten auf den wahrnehmenden Leib übergreifen und so den Menschen ergreifen.« 61 – Könnten wir mit dieser Idee räumlicher und räumlich bzw. leiblich übertragbarer Emotionen nicht auch erklären, warum uns ein Bühnentanzstück eine bestimmte Atmosphäre, ein bestimmtes Gefühl vermittelt und uns zuweilen als ganzen Menschen »ergreift«?

58

Die hier genannten Variablen entlehne ich der Theorie und Praxis des New Dance und der Contact Improvisation. Sie spielen jedoch in jeder Art von Tanzimprovisation und schließlich in jeder Choreographie eine Rolle. 59 Schmitz, »Bewegung«, S. 28. 60 Ebd., S. 29. 61 Ebd.

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III. Schlussbemerkung Das »Verstehen von Tanz« wäre folglich am ehesten als »motorische Aneignung von Sinn« (Merleau-Ponty), als »Resonanz im Sinnlichen« und »Inspiration« (Valéry), als ein allgemeines »Ergriffenenund Betroffensein« (Schmitz) zu erklären. Damit geht jedoch einher, dass ich, will ich Tanz »verstehen«, dem Tanz mit einer gewissen Anteilnahme, Offenheit und Wachheit begegnen, ihm am besten volle Aufmerksamkeit entgegenbringen muss. Dann kann es sogar sein, dass der Tanz mich in solchem Maße inspiriert, dass ich selbst Lust bekomme, mitzutanzen. Wenn dies der Fall ist, könnten wir sagen: Hier ist der Sinn des Tanzes auf mich »übergeschwappt«, auf mich übergegangen; hier hat der Sinn des Tanzes sich mir mitgeteilt, mich leibhaftig ergriffen und eingenommen. 62 Die Ansätze von Husserl, Merleau-Ponty und Schmitz, die in diesem Aufsatz mehr beispielhaft angerissen, als zusammenfassend dargestellt wurden, zeigen, dass das Problem des »Verstehens von Tanz« eine große Herausforderung für die Philosophie darstellt, insofern es auf die Sinnlichkeit und die leibliche Erfahrung verweist. Aus dem selben Grund lässt sich der Tanz auch niemals vollständig in ein etabliertes philosophisches Vokabular übersetzen oder innerhalb eines philosophischen Systems erfassen. Denn die philosophische Antwort auf die Frage nach dem Verstehen von Tanz kann nur die sein, den Leib und seine sinnstiftenden Fähigkeiten zum Zuge kommen zulassen. Der Philosophie bleibt schließlich nichts anderes übrig, als dieses »andere Wissen«, ja diese »andere Intelligenz« des Leibes anzuerkennen. Die ästhetische Erfahrung des Tanzes (sowie jeder Kunstart) macht deutlich, dass es eine Geistigkeit gibt, die sich uns nur im Sinnlichen gibt – und die auch nicht rational eingeholt werden kann. Wir müssen Merleau-Pontys Aussage, der Leib ist es, der versteht, in Bezug auf den Tanz (und die Künste allgemein) 62

Dieser Gedanke findet sich in Jean-Luc Nancys Text »Allitérations«, der in Zusammenarbeit mit der Choreographin Mathilde Monnier entstanden ist. Der Schlusssatz des Textes, den Nancy einem französischen Lied entlehnt, lautet: »Le sens de la danse est de faire, ici même, entrer dans la danse.« in: Jean-Luc Nancy / Mathilde Monnier: Allitérations. Conversations sur la danse, Paris 2005, S. 139.

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folglich besonders ernst nehmen. Und wir dürfen nicht den Anspruch haben, dieses hochkomplexe und vielfältige spontane Verstehen des tanzenden oder Tanz betrachtenden Leibes philosophisch ganz erklären zu können. Dennoch haben wir gesehen, dass die dargestellten philosophischen Ansätze in Bezug auf den Tanz (sowie auf die leibliche Erfahrung von Sinn allgemein) erstaunlich viel zu thematisieren vermögen. Die philosophische Beschäftigung mit dem Tanz ist also nicht unmöglich, sondern kann im Gegenteil sogar äußert erhellend sein, wenn man sich nur darüber im Klaren ist, dass es nicht darum gehen kann, den Tanz »auf den Begriff zu bringen«. Vielmehr gilt es anzuerkennen, dass hier ein »anderes Wissen« am Werk ist, das auf den intelligenten Vermögen des Leibes beruht. 63 Der im Sinnlichen gestiftete Sinn des Tanzes kann nur leiblich gespürt werden. Wir können als Philosophen deshalb nur über Tanz sprechen, wenn wir Tanz »am eigenen Leib« erfahren haben, d. h. wenn wir uns – als aufmerksame und affizierbare Zuschauer oder selbst als Tänzer – leibhaftig und mit all meinen Sinnen auf den Tanz eingelassen haben. Dann jedoch kann die phänomenologische Beschreibung dieser Erfahrung – und dies veranschaulicht nicht zuletzt Valérys Essay Die Seele und der Tanz – eine durchaus fruchtbare theoretische Annäherung an dieses äußerst flüchtige Phänomen sein.

63

Und diese leibliche Intelligenz ist uns nicht unbekannt; wie Schmitz zeigt, haben wir es jeden Tag mit ihr zu tun, wenn wir uns nur im Straßenverkehr orientieren. Vgl. Schmitz, »Bewegung«, S. 28.

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Ludwig Fromm

Raum und Bewegung – Orientierte phänomenale Räume

Für Christian Norberg-Schulz sind Wahrnehmungen Informationen, die uns zu zweckmäßigen Handlungen befähigen. 1 Bewegungen im Raum können zweckmäßige Handlungen sein. Dieser Text beschreibt den Bewegung bestimmenden Charakter von Raum und die Art seiner Wahrnehmung. Wahrnehmung ist nicht reine Abbildung von Raum und räumlich bedingtes Handeln ist nicht einfach Reflex. Wir nehmen Raum als unsere Umwelt ganz unwillkürlich auf. 2 Der Mensch erhält Kenntnis von ihr, indem er die leibliche Beschaffenheit des ihn umgebenden Ortes wahrnimmt. Diese Bestimmtheit des Erlebens ist auf das Tatsächliche, auf Raum und Raumform orientiert, die beschreibbar ist und sich als messbares Formgefüge darstellt. Raum und Raumform haben einen ganz bestimmenden Charakter mit speziellen Anmutungsqualitäten und physiognomischen Prägungen, die im Zusammenspiel als Atmosphären Erlebnisqualitäten bestimmen. Ein zweiter Aspekt räumlicher Wirkungen sind in den Raum eingeschriebene Bewegungen als Möglichkeiten räumlicher Nutzung. Sie stehen im Zentrum dieser Betrachtung. I. Raum-Sichten Für den Erlebenden ist der Bewegungsdrang mit dem elementaren Bedürfnis nach Orientierung gekoppelt. Der Bewegungsdrang 1

Chr. Norberg-Schulz: Logik der Baukunst, Gütersloh/Berlin/München 1968, S. 24. 2 Graf Karlfried von Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, Frankfurt/ Main 2005.

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Abbildung 1

scheint eine tief verwurzelte Grundausrichtung menschlichen Handels zu sein. Dürckheim spricht vom dem vorwärtslebenden Menschen, der sich fragt: »Wie muss man, wie kann man ihn (den Raum, Anm. d. A.) durchschreiten«. 3 Bewegungsdrang und Orientierungszwang sind nicht zu trennen. Das räumliche Formgefüge wird begrenzend und gliedernd wahrgenommen. Das Wechselspiel aus gliedernden und begrenzenden Elementen wird als Ordnung erfahren, die Möglichkeiten von Bewegung im Raum aufzeigt. Anders ausgedrückt: das Formgefüge lässt Ordnung erscheinen, ist Ausdruck einer Ordnung, die leiblich spürbar ist. Der menschliche Bewegungsdrang wirkt dabei selektiv, es werden die räumlichen Elemente ›gesehen‹, die bewegungsrelevant sind. Sein Kontext ist das Bedürfnis nach Orientierung. Für Merleau-Ponty heißt Sein Orientiertsein. 4 Dieses »existenzielle« Orientiertsein erklärt Merleau-Ponty an einem Beispiel: ein 3

Ebd., S. 38. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 294.

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Raum und Bewegung – Orientierte phänomenale Räume

Gesicht, das vertikal gespiegelt wird und unterschiedliche Wahrnehmungen provoziert (Abb. 1). Für den »nur denkenden« verändert eine 180-Grad-Drehung nichts, das Gesicht, die Beziehung seiner Elemente (Augen, Nase, Mund etc.) verändert sich nicht durch Drehung, das formale System bleibt erhalten. Der Wahrnehmende (Merleau-Ponty spricht vom »Wahrnehmungssubjekt«) erlebt das gedrehte Gesicht aber als fremd. Der Grund: die formale Struktur eines Gesichtes begrenzt sich nicht auf die Beziehung Augen, Nase, Mund etc., sondern auch auf ein Oben und Unten, eine Richtung, die dem Gesicht erst Bedeutung verleiht. Das Gesicht, wenn wir es als solches erkennen sollen, ist orientiert, ist an eine Richtung geknüpft. Orientierung als »Akt des Wahrnehmungssubjekts«5 gründet auf somit Gegebenem. Für Merleau-Ponty ist damit kein sprachliches Niveau erreicht. »Ein Gesicht sehen, heißt nicht, die Idee eines bestimmten Konstitutionsgesetzes erfassen, dem dieser Gegenstand in allen Orientierungen invariabel unterworfen bleiben muss; es heißt einen bestimmten Halt an ihm zu finden, auf seiner Oberfläche eine bestimmte Wahrnehmungsbahn mit ihrem Auf und Ab verfolgen zu können, einen Weg, der in umgekehrter Richtung so unkenntlich wird wie der Berg, den ich soeben mich zu besteigen abmühte, wenn ich ihn mit großen Schritten wieder hinabsteige.« 6 Merleau-Ponty interpretiert Wahrnehmung im Raum nicht als intellektuelle Synthese von einzelnen Elementen (»sie wäre Wahrnehmung von nichts und wäre schließlich also gar nicht«); nicht der kontingente Charakter eines Gegenstandes (also seine mögliche Zeichenfunktion) bestimmt die Orientierung, nein, Orientierung ist »selber das Mittel, vermöge dessen wir ihn (den Gegenstand, Anm. d. A.) erkennen und seiner als Gegenstandes bewußt sind«. 7 So muss das umgekehrte Gesicht ganz zwangsläufig seine Bedeutung verlieren, nur das orientierte Gesicht, wird als solches erkannt. An anderer Stelle spricht Merleau-Ponty von »vorbewußtem Weltbesitz«, der unserem Glauben an die Welt zu

5 6 7

Ebd., S. 290. Ebd., S. 295. Ebd.

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Grund liegt, der sich als Offenheit gegenüber der Welt darstellt, »Wahr-Nehmung« gestattet. Das von uns wahrgenommene Sehfeld ist als ein System organisiert, in das alle Sinnesdaten eines Gegenstandes oder Raumes eingehen (physikalische, geometrische Eigenschaften, Farben, Materialien etc. wie auch die Bedeutung der Gegenstände). Dieses System (seine Logik) weist den Dingen Bestimmungen (Orientierungen) zu, Abweichungen werden ausgesondert. Wahrnehmungen sind »von der Gewißheit der Welt« 8 getragen. So kann eine Öffnung in der Wand auf Grund ihrer Bestimmung oder Orientiertheit entweder als Fenster oder als Tür wahrgenommen werden. Das Niveau der Bestimmungen und Orientierungen entscheidet darüber, ob eine Wahrnehmung deutlich, ob ein Tun sicher sein kann. Das Niveau von Bestimmungen und Orientierungen schafft die Bedingungen für die Qualität eines »orientierten phänomenalen Raums«. 9 Stellt sich die Frage, was Qualität in diesem Zusammenhang bedeutet, nach der Ausstattung des Bewegungsraums, nach Bestimmungen und Orientierungen seiner raumbildenden Elemente, nach System und Struktur, die einen orientierten phänomenalen Raum entstehen lassen. In Karl Bühlers gestaltpsychologisch und phänomenologisch ausgerichteter Sprachtheorie 10 wird mit seiner Zweifeldertheorie der Begriff (Um-) Feld eingeführt. Seine Zweifeldertheorie unterscheidet Zeichen im »Zeigfeld« und Zeichen im »Symbolfeld«. Von Interesse sind im vorliegenden Fall die Zeichen im Zeigfeld, die sog. deiktischen Zeichen, die hinweisende, verweisende Funktionen übernehmen und die in einem situativ eingebundenen Handlungszusammenhang stehen. Deiktische Zeichen müssen selbst keine Bedeutung haben.

8

Ebd., S. 362. Ebd., S. 294. 10 Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Frankfurt/Berlin/Wien 1978. 9

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Genauso wie in der Phonologie die Bedeutung der einzelnen Phoneme lediglich darin besteht, die Opposition zwischen einem sprachlichen Zeichen und einem anderen Zeichen zu konstituieren (Hund – Hand = /u/ : /a/), ohne inhaltlich zur Unterscheidung dieser Wörter beizutragen. Die deiktischen Sprachmittel sind nur dazu da, als »Wegweiser« zu dienen, die in einem weitgehend festgelegten situativen Kontext die »Richtung« angeben und damit die Bedeutung sprachlicher Handlungen durch Situationen bestimmen. 11 Wolfgang Klein 12 setzt sich in seinem Aufsatz ›Deiktische Orientierung‹ unter anderem mit den drei Hauptformen der Deixis auseinander: Personendeixis, Zeitdeixis, Ortsdeixis. Inhaltlich beziehen sie sich auf die Koordinaten der Bühlerschen Origo Ich-JetztHier (hic-nunc-ego-Origo). 13 Sie klären, worauf sich deiktische Ausdrücke beziehen können, nämlich auf Personen, Zeitspannen und Orte. Personendeixis erklärt Klein als Ausdrücke, die sich auf Personen oder Objekte beziehen; dazu zählen Pronomina wie ich, du, mein, dein. Die Zeitdeixis beziehen sich auf Zeitspannen. Beispiel sind die Adverbien wie jetzt, gestern, vorhin. Ortsdeixis beziehen sich auf Orte, auf Teilräume des gewöhnlichen dreidimensionalen Anschauungsraums; es kann aber auch beispielsweise der auf zwei Dimensionen reduzierte Raum einer Karte sein; Beispiele sind hier, dort, links, drüben. In diesem Zusammenhang wird der Begriff Anschauungsraum eingeführt. Es ist der Raum, in dem die Menschen miteinander reden, handeln und sich orientieren. Für Positionierungen im Anschauungsraum stellt die Sprache ihre speziellen Deixis zur Verfügung. Klein hält für den Anschauungsraum fünf bestimmende Momente für konstitutiv:

11

Peter Auer: »Ausdruck – Appell – Darstellung (Karl Bühler)«, in: Sprachliche Interaktion. Eine Einführung anhand von 22 Klassikern, Tübingen 1999, S. 18– 29. 12 Wolfgang Klein: »Deiktische Orientierung«, in: M. Haspelmath/E. König/ W. Oesterreicher/W. Raible (Hrsg.): Sprachtypologie und sprachliche Universalien. Vol. 1/1, Berlin 2001, S. 575–589. 13 Bühler, Sprachtheorie, S. 102 ff.

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»1. Elemente: Sie bestehen aus einzelnen Orten, die man als Mengen von Raumpunkten auffassen kann. 2. Dimensionale Struktur: Die Orte sind in drei Dimensionen geordnet: Vertikale, Horizontale und Transversale (›hinten-vorn‹). 3. Topologische Struktur: Die Orte können ganz oder völlig ineinander enthalten sein. 4. Regio: Jeder Ort hat (mindestens) einen ›Nahbereich‹ oder, wie hier gesagt wird, eine ›Regio‹, um sich. Wie diese Regio nun genau definiert ist, ist offen: es ist gleichsam der Einflussbereich dieses Ortes. 5. Origo: Der Raum hat einen ausgezeichneten Ort, der durch die Position und Körperorientierung einer als Bezugspunkt gewählten Person gegeben ist. Die Dimensionen sind in der Regel auf diese Origo bezogen.« 14 Der so beschreibbare Anschauungsraum hat keine metrische Struktur. Er wird nicht nach Metern bestimmt. Seine Eigenschaften erlauben es also nur zu sagen, ob ein Ort in die Regio eines andern Ortes (beispielsweise der Position des Sprechers) fällt oder nicht (also ›fern‹) ist, nicht aber, wie weit er davon entfernt ist. Eine Metrik zählt zu den verschiedenen zusätzlichen Strukturen, die dem Anschauungsraum aufgeprägt werden können. Dazu zählen auch geographische Eigenschaften, wie etwa der Unterschied zwischen Berg und Tal, Land und Meer. Ortsdeiktika verweisen auf Orte, indem sie sich die Raumstruktur zunutze machen. Die Origo selbst ist durch die Position des Sprechers gegeben. Die Grenzen dieses Ortes sind nicht festgelegt. Für hier kann man sich jedoch auf die Regio stützen, d. h. hier be-

14

Klein, »Orientierung«, S. 584 ff.

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zeichnet die Regio des Sprechers, die von Fall zu Fall unterschiedlich dimensioniert oder beschaffen sein kann. Die Begrifflichkeiten des Anschauungsraums, wie sie von Karl Bühler eingeführt wurden, haben im Zusammenhang mit den hier angestellten Überlegungen Hinweischarakter. Sie beschreiben das Sagbare, sprechen von Vorstellungen, die uns beeinflussen, die gegeben sind. Deiktische Ausdrücke sind als Ausdrucksmittel in der Lage, den Angesprochenen, den (Zu-)Hörer im Raum (der im Sprechakt zu einem Verweisraum wird) zu orientieren. Das Orgio (Null- oder Bezugspunkt) definiert das jeweilige räumliche Bezugssystem. Deiktische Ausdrücke beschreiben situationsbedingt (das Bezugssystem ist vom aktuell benannten Standort abhängig) denkbare, benenn- und beschreibbare Stellungen, Positionierungen, Beziehungen, die Menschen zu Dingen und anderen Menschen im Raum haben können. Mit dem Sprechen nehmen wir Ortungen vor, stellen räumliche Beziehungen gedanklich her, bestimmen somit Raum, der uns erklärbar erscheint, Räume, die das spiegeln, was wir kennen, nämlich den gelebten Raum. Wenn es so ist, dass Worte bewirken, dass beim Sprechen (oder Zuhören) ein Anschauungsraum in der Vorstellung entsteht, wenn also die fünf Momente die den Anschauungsraum konstituieren, Elemente, Dimensionale Struktur, Topologische Struktur, Regio und Origo, die sprachlichen Mittel sind, die einen Sprecher in die Lage versetzen, Orte und Raum verständlich zu beschreiben, dann sollten sie auch, um überhaupt Resonanzen bei Zuhörenden ermöglichen zu können, als Momente einer Wahrnehmungsstruktur lesbar sein, dann sollten sie auch Auskunft über Erfahrung von Raum, über Raum und Raumbewusstsein geben können. In seinem Text »Logik der Baukunst«15 nimmt Norberg-Schulz eine Beschreibung architektonischer Formen vor. Bei seiner Methode des Beschreibens und des Analysierens von Architektur, geht er von Elementen aus, die miteinander in Beziehung stehen und so ein formales Ganzes bilden. Dabei steht der Gegenstand (das architektonische Objekt bzw. der Raum) im Zentrum seiner Aufmerksam15

Norberg-Schulz, Logik, S. 133 ff.

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keit; die Formbeschreibungen sind unabhängig von pragmatischen und semantischen Dimensionen. Zuerst werden Elemente und Relationen beschrieben, später werden formale Strukturen und Stil als Summe formaler Eigenschaften erläutert. Die Arbeit »Logik der Baukunst« wurde in Oslo 1963 erstmals veröffentlich. Norberg-Schulz nutzte die Erkenntnisse der damals jungen Systemtheorie, die sich durch Veröffentlichungen des österreichischen Biologen Karl Ludwig von Bertalanffy schnell verbreitete. Architektur wird von Norberg-Schulz als System interpretiert. Als Grundelemente, die durch Modifikationen und Beziehungen Ganzheiten bilden, werden Masse, Raum und Fläche eingeführt. Ganz im Sinne des systemtheoretischen Gedankens sind Elemente ihrem Wesen nach relativ: sie sind sowohl Ganzheiten (eine Tür) als auch Teile von Ganzheiten (Tür als Bestandteil einer Wand oder eines Raumes). Ihre Beziehungen werden topologisch (als Lagebeziehungen) und geometrisch (mit Bezug auf Punkt und Linien) hergeleitet. Die Topologischen Relationen definieren Nähe, Geschlossenheit, Durchdringung, Verschmelzung, Division, Sukzession und Kontinuität der Form von Elementen oder Teilelementen. Formale Kategorien wie Zentralität, Axialität, Richtung, Symmetrie, Parallelität, Horizontalität und Vertikalität werden als Geometrische Relationen eingeführt. Eine weitere Kategorie der Formbestimmung sind die sog. Konventionellen Relationen, die sich durch (vorgeschriebene stilistische) Kombinationen von Motiven herausbilden. 16 Zwischen den von Klein entwickelten Charakteristika der Deixis des Anschauungsraums und den Form beschreibenden, architektonischen Kategorien des Norberg-Schulz gibt es bemerkenswerte inhaltliche Überschneidungen, die auf ein gemeinsames Verständnis hindeuten, Raum als ein Vermögen zu verstehen, Stellungen und Verknüpfungen von Dingen zu ermöglichen. 17 Beide Anschauungen gehen von Elementen und Beziehungen aus und metrische Strukturen spielen jeweils nur als Relationen (groß/klein, nah/fern) eine Rolle. 16 17

Ebd., S. 134–148. siehe dazu: Merleau-Ponty, Wahrnehmung, S. 284.

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Diese Übereinstimmungen können als Bestätigung des theoretischen Ansatzes von Norberg-Schulz aufgefasst werden: die Gliederung seiner Form beschreibenden Kategorien findet ihre Entsprechung in sprachlichen Möglichkeiten, Positionierungen von Dingen oder Menschen im Anschauungsraum vornehmen zu können. Im Vergleich der beiden Texte ist auf einer strukturellen Ebene eine Brücke zwischen räumlichen Vorstellungen und Systematisierungen räumlicher Gegebenheiten sichtbar geworden. Gleichermaßen existierende Unterschiede zwischen den Modellen basieren nicht zuletzt auf den unterschiedlichen Aufgaben bzw. Motivationen der Texte. Kleins Aufsatz versucht das Verständnis von Sprechakten punktuell weiter zu entwickeln. Auch NorbergSchulz geht es um Verstehen. Doch geht er weiter. Architektur wird mit dem Mittel der Systemtheorie betrachtet und auch als System beschrieben. Es ist eine analytische Betrachtung von außen auf ein Phänomen. Der die Architektur Erlebende ist methodisch bedingt ausgeschlossen. Origo, als ein Charakteristikum des Anschauungsraums, existiert in der Logik der Baukunst nicht. Im »System der Formkategorien« 18 wie es Norberg-Schulz beschreibt, ist ein Bezugs- oder Referenzpunkt, der den Standort des Betrachters im räumlichen System definieren könnte, nicht vorgesehen. Dagegen ist für einen Sprechakt, wie ihn Klein verdeutlicht, der Ort im Raum, der die Position einer als Bezugspunkt gewählten Person beschreibt, von besonderer Bedeutung. So ist die Origo für die sprachlich, assoziative Konstruktion des Anschauungsraums unerlässlich. II. Raum und Bewegung Die Frage, ob Raum einen besonderen Charakter zeigen kann, der Bewegung motiviert, ist ganz allgemein betrachtet die Frage nach der Wirkung von Raum, nach der Wirkung von Architektur. Wenn räumliche Charakteristika wahrnehmend zu Haltungen, zu Einstellungen oder Zumutesein führen, dann kann von Effekten räumli18

Norberg-Schulz, Logik, S. 132.

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Abbildung 2 und 3

cher Wirkungen gesprochen werden, die grundsätzlich in Situationen erlebt werden. Der Begriff Situation, wie ihn Hermann Schmitz gebraucht, wird definiert als Bedeutungen, die sich aus Sachverhalten, Programmen und Problemen konstituieren. »Bedeutungen […] sind Sachverhalte (das etwas ist, überhaupt und irgendwie), Programme (das etwas sein soll oder möge) und Probleme (ob etwas ist).« 19 Nach Schmitz beziehen sich Situationen auf Ganzheiten in denen Bedeutungen binnendiffus (nicht zerlegbar in Einzelbedeutungen) erscheinen. Das kognitive Wahrnehmen spielt hier eine untergeordnete Rolle. »Das normale Wahrnehmen ist kein Registrieren von einzelnen Sinnesdaten, sondern von vorneherein ein Bemerken, was los ist, d. h. ein Umgang mit Situationen«. 20 Der Versuch, den Situationsbegriff auf Momente eines bewegungsbestimmenden Charakters von Raum anzuwenden, lässt es Notwendigkeit erscheinen, bewegungsmotivierende und bewegungsbestimmende Situationen zu benennen und zu charakterisieren. Ausgangspunkt ist der Bewegungsraum, als gebauter Raum, der sich mit Begriffen wie Begrenzung, Raum und Körper beschreiben lässt. Begrenzung, Raum und Körper werden als Raum konstituierende Elemente verstanden. Anders formuliert heißt das, Begrenzung, Raum und Körper konstituieren in ihrem Zusammenspiel

19 20

Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 89. Ders.: Situationen und Konstellationen, Freiburg/München 2005, S. 131.

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Abbildungen 4, 5 und 6

Architektur. Der Effekt des Begrenzen ist durch die Funktionen Begrenzen und Umhüllen zweigeteilt: Räume werden begrenzt, Körper werden umhüllt (gegliedert) (Abb. 2). Bilden mehrere Körper räumlich wirksame Formen, wird die Beziehung Begrenzen-Umhüllen auf einer höheren Ebene wirksam: die Hülle übernimmt begrenzende Funktionen, Körper übernehmen raumbildende Aufgaben (Abb. 3). Jedes der drei Elemente hat seinen spezifischen Charakter, der sich aus der jeweiligen Aufgabe ableiten lässt (Raum begrenzen und/oder umhüllen). Als Raumelemente, deren Sinn die Konstitution von Raum ist, weisen sie unterschiedliche Eigenschaften auf, die Norberg-Schulz systematisiert hat. Topologische Eigenschaften (Abb. 4) bestimmen über ihre Stellung im Raum. Geometrische oder dimensionale Eigenschaften (Abb. 5) der Körper/Volumina aber auch der begrenzenden und/oder der umhüllenden Flächen geben Richtungen an. Divisionen (Gliederungen) (Abb. 5) teilen oder unterteilen Ganzheiten (Flächen, Körper, Raum). Das Zusammenspiel topologischer, geometrischer, dimensionaler und gliedernder Eigenschaften definiert eine räumliche Ordnung, schafft im besten Falle einen orientierten phänomenalen Raum. Der bewegungsbestimmende Charakter der räumlichen Ordnung basiert auf Wahrnehmungen spezifischer Relationen räumlich wirksamer Elemente. Zu klären ist, ob es gelingt, sie in einer situationsorientierten Systematik zu fassen.

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III. Bewegungsmotivationen Überträgt man den Begriff der Origo aus der Sprachwissenschaft in die Raumwahrnehmung, könnte er dort für die Positionierung und Körperorientierung des Wahrnehmenden stehen und könnte somit im Raum die Dimensionen und den Nahbereich (Regio) bestimmen. Es wäre der aktuelle Ort des Wahrnehmenden, der im Bunde mit seiner Körperorientierung (zum Beispiel der Blickrichtung) Raum vergegenwärtigt. Die so entstehende Situation wird durch verschiedene Momente bestimmt. Eines beruht auf der Beziehung zwischen Nähe und Ferne, dem Hier (dem Nahbereich) und einem Dort. Beide, Hier und Dort, befinden sich im Rang eines Sachverhaltes, sind also mit Bedeutungen unterlegt. Aus der Differenz zwischen nah und fern kann sich ein Programm entwickeln (das etwas so oder anders sein möge), das in einem Motiv, in einer Motivation mündet, zum Beispiel die Ferne zu besetzen. Im Zusammenhang einer Betrachtung der Bedeutung räumlicher Tiefenwirkungen beantwortet Merleau-Ponty die Frage nach dem Wesen eines Motivs wie folgt: »Ein Motiv ist ein Antezendens, 21 das wirkt allein durch seinen Sinn, ja erst der Entschluß selbst ist es, der diesen Sinn zu einem gültigen macht und ihm seine Kraft und Wirksamkeit verleiht. Motiv und Entschluß sind zwei Elemente einer Situation: jenes ist die faktische, dieser die angeeignete Situation.« 22 Der Grund für eine Entscheidung kann im Dort gesucht werden, dass es zu erreichen gilt. Als Ursache kommt aber auch das Hier in Frage, das zu verlassen geraten scheint (Abb. 7). IV. Räumliche Situationen »Wo immer der Mensch geht oder steht, er nimmt ganz unwillkürlich Kenntnis von seinem jeweiligen Herumganzen. Dieses, wenigstens momentane ›genauere‹ Herumblicken bezieht sich nicht auf den Ort als bestimmte ›Örtlichkeit‹, sondern auf die leibhaftige Be21 22

Ursache, Grund. Merleau-Ponty, Wahrnehmung, S. 302.

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Abbildung 7

schaffenheit dieses Ortes hier. Es handelt sich um eine, wenn auch nur im Vorübergehen getätigte ›Feststellung‹ der umgebenden Mannigfaltigkeitsganzheit und der ihr innewohnenden Gliederung und Ordnung bestimmter Räume und Dinge.« 23 Gliederung und Ordnung können motivierend wirken, können Bewegung generieren. Aber, so wurde es formuliert, erst der Entschluss gibt dem Motiv Sinn, Kraft und Wirksamkeit. Ob eine Gefängniszelle, mit ihrer Ausschließlichkeit eines Nahbereichs einen Entschluss generieren vermag, das Ferne zu erreichen, wird nicht vordergründig von der räumlichen Situation diktiert. Im Labyrinth, das aus einer permanenten Abfolge von Nahbereichen besteht, die durch ihre Permanenz die Sinnhaftigkeit der Bewegungen in Frage stellen, wird der Entschluss zur Aufrechterhaltung der Bewegung zu einer fremdbestimmten Situation, zu einem lebenserhaltenden Mechanismus, zum Spiel ohne Regeln, das nur noch aus vermeintlich sinnvollen Richtungsentscheidungen Bedeutung schöpft. Dem Verdurstenden in einer Wüstenlandschaft wird der Horizont zum Ziel, zu einem Glauben, der seine Festigkeit aus dem Vertrauen auf die Welt schöpft, das jenseits der Grenze das Unbestimmte beginnt, 23

von Dürckheim, Raum, S. 37.

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das Wüste in Meer, das Sterben in Überleben wandelt. Situationen sind vielschichtig. Überlagerungen schaffen Gemengelagen mit unkalkulierbaren Wirkungen. Situationen treten als Ganzheiten auf, in denen Bedeutungen binnendiffus (nicht zerlegbar in Einzelbedeutungen) erscheinen (Hermann Schmitz). Räumliches Wahrnehmen ist auf die Dominanz räumlicher Situationen angewiesen. Sie erscheinen als Richtungen und Möglichkeiten, verweisen auf Orte und ihre Erreichbarkeit. Im Folgenden werden vier räumliche Situationen unterschieden, die sinnlich wahrgenommen werden können, die, mit anderen Worten, uns in den Sinn kommen können. Sinn wird hier in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet, die Sinnlichkeit und ›den Sinn‹ des Geistigen vermittelt. 24 Jürgen Hasse weist darauf hin, dass eine Neuorientierung auf die Sinne weniger auf kunsttheoretischen Traditionslinien basiert, als auf philosophischen Programmen der ›Ästhetik‹ und denen der ›ästhetischen Erfahrung‹. »Der Ausgangs- und Zielpunkt ist (mögliches) alltägliches Erleben, indem Denken und Fühlen zunächst auf scheinbar untrennbare Weise miteinander verbunden sind.« 25 Räumliche Situationen werden durch bestimmte (auf Bestimmung bezogene) und orientierte räumliche Konstellationen vorausgesetzt. Wahrnehmend werden sie identifiziert. Sie vermitteln sich als Ausdruck von Relationen baulich/räumlicher Gegebenheiten. IV.1 Dimension des Raums (Richtungsorientierung) In der Mathematik bezeichnet der Begriff Dimension die Anzahl der Freiheitsgrade einer Bewegung im Raum. Ein Freiheitsgrad ist ein Parameter zum Beispiel eines räumlichen Systems. Die Eigenschaften der Parameter bestimmen dieses System. Die den Raum charakterisierenden Dimensionen (Abb. 8) sind das Vertikale, das Horizontale und das Transversale (»hinten-vorn«). Sie bestimmen über die Lage von Orten im Raum und bezeichnen damit Richtun24

siehe dazu: Jürgen Hasse: Fundsachen der Sinne, Freiburg/München 2005, S. 33 ff. 25 Ebd., S. 26.

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Abbildung 8

gen. Unsere Orientierung im dimensionalen Raum erklärt Dürckheim als eine grundsätzlichen Richtungs- bzw. Raumbestimmtheit des Menschen durch die Koordinaten Oben-Unten und Vorn-Hinten. »Die […] gegebenen Momente einer bestimmten Basiertheit, eines bestimmten Unten, von bestimmter Festigkeit, ferner dann das bestimmte Zu-beiden-Seiten und Vorne insonderheit als ein Sofrei-Sein für bestimmte Bewegung sind Grundqualitäten des Erlebnisganzen, die den elementaren Leib-Selbstraum kennzeichnen. Sie werden erlebt vor allem in einem qualitativ bestimmten Zumutesein, andererseits als Ausgerichtetheit und Richtungssicherheit des Selbstes, im weiteren dann als selbstverständliche Gesteuertheit der gerichteten Bewegung des vorwärtslebenden Menschen.« An anderer Stelle spricht Dürckheim von einer »Grundqualität«, deren Bedeutung wir erst im Moment des Verlustes spüren: beim Fallen zum Beispiel oder nach Drogenkonsum, wenn der »aufrechte Gang« zur Unmöglichkeit wird. Dürckheim betrachtet die menschlichen Richtungs- bzw. Raumbestimmtheit aus der Innenwelt des Wahrnehmenden heraus. Sie ist für ihn eine Art Justierung der menschlichen Wahrnehmung auf der Grundlage leiblich/körperlicher Bedingtheiten. MerleauPonty fügt dieser Auffassung eine anders gerichtete Sicht auf die Dinge hinzu, wenn er von einem »Sinn des Gegenstandes« spricht, »der an seine Orientierung geknüpft ist«. 26 »Jeder Gegenstand hat 26

Merleau-Ponty, Wahrnehmung, S. 295.

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›sein‹ Oben und ›sein‹ Unten«.27 Nimmt der Gegenstand ›seinen‹ richtigen Platz ein, treffen wir ihn in einer bekannten Situation an, dann und nur dann, erkennen wir seinen Sinn. Hier ist auch die Ursache zu suchen, warum sich Stimmigkeits- und Unstimmigkeitserlebnisse auf der Basis leiblicher Wahrnehmungen einstellen können. Solche Wahrnehmungen hängen offensichtlich mit einem vollzogenen ›Abgleich‹ zwischen Sachverhalten und Programm zusammen, in dessen Ergebnis sich bei festgestellter Programmabweichung ein Problem einstellen kann: eine Tür, die nicht erreichbar ist, da sie sich an der Raumdecke befindet und nicht eine Wand auf Bodenniveau öffnet, um ein Durchschreiten zu ermöglichen. Bei einem so erfahrenen Unstimmigkeitserlebnis, wird kein Konstitutionsgesetz kognitiv erfasst, keine sprachliche Leistung erbracht, sondern ein ›fehlerhafter‹ Ausdruck (nämlich die Positionierung der Tür in der Decke) als desorientiert erlebt. Die drei Dimensionen Vertikale, Horizontale und Transversale, entscheiden nicht nur über die von Dürckheim beschriebene leibliche Richtungs- bzw. Raumbestimmtheit, die die Orientiertheit von Gegenständen, Raum und Raumelementen bewertet, sondern sie verweisen auch auf die Lage von Orten im Raum. Räume befinden sich über mir, unter mir, rechts und links von mir oder vor oder hinter mir. Sie deuten einen Raumverbund an und stellen somit

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Ebd.

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Abbildung 10

Bewegungsverläufe in Aussicht, über deren Realisierbarkeit das Raumgefüge und die Qualitäten der Raumöffnungen entscheiden. IV.2 Raumgefüge (Zustandsorientierung) Die Beschaffenheit des wahrgenommenen Raums in Bezug auf seine Begehbarkeit (Ortswechsel) ist eine Funktion aus Form, Größe, Stofflichkeit und der physikalischen Konditioniertheiten (Klima, Luftdruck, Helligkeit etc.) des Raums (Abb. 11). Eine quadratische Öffnung kann ich nur passieren, wenn die Öffnungsmaße meiner Körpergröße entsprechen und eine ebene Fläche kann ich nur betreten, wenn ihre Tragfähigkeit meinem Körpergewicht angemessen ist. Der Wahrnehmende fragt sich deshalb: Sind die Raumzonen außerhalb meines Nahbereichs von ähnlicher Qualität wie der bereits erkundete Raum? Wie ist er beschaffen? Tastend wird die Bewegungsfläche mit den Füßen erlebt, sehend als Bestandteil des Ganzen, die Raumgestalt wahrgenommen. Begehbar oder nicht begehbar (fest, flüssig, steil etc.) entscheidet sie über Möglichkeiten der Aneignung (Bewegung), in ihrer geometrischen Verfasstheit (Krümmung, Ebenheit, Neigung etc.) ist sie Teil des Formgefüges des erlebten Raums. Physikalische Bedingungen bestimmen über Aufenthaltsqualitäten: Raum kann lebensfeindlich oder Leben fördernd konditioniert sein. Teil der räumlichen Gesamtfigur ist die Grundfläche eines Raums. Sie wird taktil, visuell, akustisch etc. erlebt. Gehend wird 277 © Verlag K

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Abbildung 11

sie einverleibt; Ebenheit, Neigung, Treppensteigungen, Materialität, ihre Oberflächenbeschaffenheit, ihr ›Lichtverhalten‹ etc. werden nicht kognitiv erfasst, nicht wissentlich analysiert. Erst Abweichungen von der erfühlten Regel oder Täuschungen führen zu Unsicherheiten, Stolpern oder Fallen. 28 Die Wahrnehmungen der räumlichen Bedingungen, als leibliche Resonanzen, die durch das Raumgefüge bestimmt sind, dienen der Orientierung und damit auch der Sicherheit von Bewegungen im Raum. Sie entscheiden über die zugelassenen Spielräume der Bewegung. IV.3 Raumöffnungen (Mobilitätsorientierung) Bewegung ist Ortsveränderung, ist ein Wechsel der Position. Mögliche Bewegung im Raum und Bewegungen zwischen Räumen wer28

siehe dazu: Ludwig Fromm: »Überlegungen zum ›gelebten Raum‹«, in: Großheim, Michael (Hg.): Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie, Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg/München,2008, S. 238 ff.

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Abbildung 12

den von Grenzen und Öffnungen mitbestimmt. Sie schaffen Möglichkeiten Orte einzunehmen, bieten aber auch der Anschauung ein Objekt. 29 »Wie muss man, wie kann man ihn durchschreiten, das ist eine zentrale Frage, die […] auftaucht. Räumliche Gliederung und Gestalt bedeutet […] vor allem: Möglichkeit und Grenze für diese und jene Bewegung. Körper stehen da, unverrückbar oder beweglich, von dieser und jener Form, Wände sind aufgerichtet, Bewegung begrenzend und Zwischenräume von bestimmter Größe, frei zum Durchschreiten.« 30 Eine Vielzahl von räumlichen Typologien für Öffnungen und Grenzen wurden im Verlauf der Baugeschichte entwickelt und ausdifferenziert. Bei der Gestaltung von Raum und Raumfolgen kann auf unterschiedlichste Muster und Typen zurückgegriffen werden. Gordon Cullen gebraucht Begriffe wie Umschließung, Einfrie29

siehe Raum und Bewegung: eine Begrenzung, die auch Umhüllung ist, ist gegliedert, hat eine bestimmte Materialität, hat eine formale Struktur. 30 von Dürckheim, Raum, S. 38.

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dung, mehrfache Einfriedung, Enklaven, Blockierung, Abschluss, Schwellen, etc., die sich alle auf Formen von Öffnung/Begrenzung von Raum beziehen. 31 Die umfangreichste Sammlung von Mustern (Pattern) geht auf Christopher Alexander zurück. 253 kombinierbare Muster sind ein unerschöpflicher Fundus für die Planung unterschiedlichster Bauaufgaben von Gebäuden bis zum urbanen Bauaufgaben. Für das Thema Öffnung stellt er ca. 20 Muster/Pattern zur Verfügung. Einige seien genannt: »Durchbrochene Wand«, »Fenster im Inneren«, »Fenster mit Blick auf die Außenwelt«, »Aussicht des Mönchs«, »Von Raum zu Raum« etc. 32 Die von Alexander gesammelten Pattern sind nicht formal/ästhetisch systematisiert, sondern handlungsorientiert. Das bedeutet, die einzelnen Pattern sind Ganzheiten, deren Sinn sich situationsbedingt erschließt, das heißt, sie sind im von Merleau-Ponty dargestellten Sinn ›orientiert‹. Das Auge findet Halt an ihnen. »Orientierung im Raum ist nicht ein lediglich kontingenter Charakter des Gegenstandes sie ist selbst das Mittel, vermöge dessen wir ihn erkennen und seiner als Gegenstand bewußt werden.« 33 Unstimmigkeiten entstehen schnell, wenn beim Rückgriff auf Typologien oder Muster, wie sie von Alexander gesammelt wurden, Situation und Kontext im formalen Spiel vergessen wurden. IV.4 Raumverbund (Anschlussorientierung) Ausgehend von seinem aktuelle Ort vergegenwärtigt sich der Wahrnehmende des ihn umgebenden Raums: die Regio und die Dimensionen werden wahrgenommen. Aber hier endet das Raumerspüren nicht. Wahrnehmen heißt auch, den Raum als eine »Gegenform realer Bewegung« 34 zu erfassen. 31

Gordon Cullen: Townscape – Das Vokabular der Stadt, Basel/Berlin/Boston 1991, S. 207. 32 Christopher Alexander: Eine Muster-Sprache, Wien 1995. 33 Merleau-Ponty, Wahrnehmung, S. 295. 34 von Dürckheim, Raum.

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Abbildung 13

Die Frage: ›Wo befindet sich der Raum meiner Gegenwärtigkeit?‹ wird ergänzt durch das Interesse an der Art der Anbindung der Regio an entferntere Orte. Die Anschlussfähigkeit des Nahbereichs an das umgebende Raumsystem wird ausgelotet, orientiert den Wahrnehmenden. Der Mensch weiß an was für einem Ort er sich befindet und wie dieser beschaffen ist. Orientierung hat auch einen bewegungsbestimmten Aspekt. Diese Form der räumlichen Orientierung ist dann befriedigend, wenn sie sich nicht nur auf Raum als Binnenraum bezieht, sondern das umgebende Raumgefüge mit einbeziehen kann. Platzbestimmtheit wird auf ein anderes Ganzes bezogen, die räumliche Ordnung eines Hauses, eines Stadtviertels etc. Das menschliche Interesse an der räumlichen Positionierung ist auf demselben Niveau eingestellt wie Fragen nach dem Programm (nach der Funktion eines Raumes), nach Bedeutung von Raum, nach Raumgestalt oder dem Raumcharakter. Die von Dürckheim in psychologischen Kontext formulierten Aussagen zur Bedeutung der Platzbestimmtheit, wurden von Gordon Cullen in ähnlicher Weise in Bezug auf Raum und Stadtraum artikuliert. Unter der Überschrift »Betrifft das Räumliche Empfinden« behandelt er die Reaktionen unseres Körpers in seiner Umgebung. Das Gefühl eines Menschen, der einen Raum betreten hat, 281 © Verlag K

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beschreibt er mit den Sätzen: »›Ich war DA draußen.‹, ›Ich gehe DA hinein.‹, ›Ich bin DA mitten drin.‹« Wir erleben das Im-Raum-Sein als eine permanente Beziehung zwischen einem ›Hier‹ und ›Dort‹. Das eine erschafft ganz automatisch und zwangsläufig das andere.« 35 Zu einem wahrnehmbaren Raumverbund, einer gegliederte Abfolge von Raumsituationen, stellt das Labyrinth einen Gegenpol dar. Das Labyrinth ist eine immer wiederkehrende Abfolge von Nahbereichen, und notwendigen Richtungsentscheidungen. Nur der Zufall stoppt die Permanenz der Wiederholung. Ganz anders ist ein gegliederter Raumverbund angelegt. Der gegliederte Raum gewährt Einsicht in jeweils anschließende Raumfolgen (Abb. 13). Richtungsentscheidungen sind sinnvoll, da sie abwägend getroffen werden, auf der Grundlage von Einsichten: eine Regio wird mit einem Fernbereich orientierend verknüpft. V. Orientierte phänomenale Räume Die vier Bewegung motivierenden, räumlichen Situationen (Dimension des Raums, Raumgefüge, Raumöffnung und Raumverbund) stellen gleichzeitig Orientierungstypen (Richtungsorientierung, Zustandsorientierung, Mobilitätsorientierung, Anschlussorientierung) dar, die auch als Fragen des sich bewegend Wahrnehmenden an den Raum interpretiert werden. Wie sind Raum und umgebende Räume gerichtet, welche physischen Lebensbedingungen werden vorgefunden, welche Bewegungsmöglichkeiten eröffnet der Raum der gegenwärtigen Wahrnehmung und wie ist der Raum mit anderen Räumen oder Raumsystemen verbunden? Diese Fragestellungen, mit ihrem Bezug auf den Bewegungsaspekt, sind Ausdruck der allgemeinen menschlichen Raumbewusstheit, wie sie von Dürckheim ausführlich beschrieben wurde. 36 Die Formen der Raumbewusstheit sind mit dem Bedürfnis nach leiblich/räumlicher Orientiertheit verbunden. In was für einem 35 36

Cullen, Townscape, S. 9. von Dürckheim, Raum, S. 26.

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Raum befinde ich mich? Wie ist dieser Raum beschaffen? Wo befindet sich der Raum, in dem ich gegenwärtig bin? Dürckheim formuliert: »Worauf es dem Erlebenden […] ankommt, ist: das Wassein, das Sosein und Wosein des Raumes.« Das Wassein (In was für einem Raum befinde ich mich?) korrespondiert mit Fragen nach dem Sinn und der Bedeutung von Raum. Das Sosein (Wie ist dieser Raum beschaffen?) fragt nach der räumlichen Ordnung und atmosphärischen Qualitäten. Das Wosein schließlich (Wo befindet sich der Raum, in dem ich gegenwärtig bin?) fragt nach der Beziehung der erlebten Raumsituation zu anderen Räumen. Zusammengenommen stecken diese Fragestellung den Rahmen des konkreten Raumerlebens ab; ihre Beantwortung bestimmt das räumliche Erlebnis, seine Intensität und den Wunsch nach Näherung oder den Wunsch nach Meidung. Der mehrfach zitierte Norberg-Schulz, der seine Theorie der Architektur systemtheoretisch zu begründen suchte, ließ seine Architektur bestimmenden Elemente in einer Synthese zusammenlaufen und in einer architektonischen Ganzheit aufgehen, deren Bestandteile Bauaufgabe, Technik, semantische Regeln und Stil sind. 37 Auf das Fehlen einer Strukturebene, die einen Ort bereitstellen könnte, der einem Wahrnehmungssubjekt (Merleau-Ponty) als Bezugspunkt dient, wurde bereits hingewiesen. 1979 legt Norberg-Schulz in Mailand das Buch »Genius Loci« vor. Das Vorwort beginnt mit einem Kafka-Zitat: »Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, kann sie nicht widerstehen.«38 Im Vorwort selbst setzt er sich mit der naturwissenschaftlichen Methode auseinander, die die theoretische Vorgehensweise in ›Logik der Baukunst‹ bestimmte. Er schreibt: »Behandelt man Architektur analytisch, so bleibt der konkrete Umweltcharakter außer acht und damit gerade jene Eigenschaft, die das Objekt der Identifizierung durch den Menschen ist und ihm ein

37 38

Norberg-Schulz, Logik, S. 187. Ders.: Genius Loci, Stuttgart 1982, S. 5.

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Gefühl des existentiellen Halts geben kann.« 39 An gleicher Stelle: »Nach Jahrzehnten der abstrakten ›wissenschaftlichen‹ Theorie ist die Rückkehr zu einem qualitativen, phänomenologischen Verständnis von Architektur dringend geboten.« Dieser Aufforderung wurde auch mit diesem Text gefolgt. 40 Der entscheidende Unterschied zwischen analytischen (wissenschaftlichen) wie auch rein formal/ästhetischen Methoden der versuchten Annäherung an die Phänomene des Raums und phänomenologisch basierten Ansätzen ist die Frage nach der Stellung des Menschen im System der Betrachtung. Im vorliegenden Text ließ sich das richtungsorientierte Wahrnehmen, das neben dem Spüren von Atmosphären unser Raumbewusstsein bestimmt, als eine Form der leiblichen Wahrnehmung darstellen, die jenseits sprachlicher Prozesse Ausdruck wahrnimmt. Gelingt es die Position des Wahrnehmenden in Theorie und Praxis selbstverständlich zu verankern, haben orientierte phänomenale Räume im Alltag eine Chance.

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Ebd. siehe dazu: Ludwig Fromm: »Raumpaar – dem Erleben verpflichtet«, in: Der Architekt 3/2008, S. 60 ff.

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Die Autoren

PD Dr. Marcel Dobberstein, geb. 1964, 1994–2005 Dozent für Musikwissenschaft in Eichstätt und Bonn. Wichtigste Publikationen: Was ist Religion? Warum der Mensch Gott erschaffen hat, Hildesheim 2007; Neue Musik, 100 Jahre Irrwege, Eine kritische Bilanz, Wilhelmshaven 2007; Die Natur der Musik, Frankfurt/Main 2005; Kultur der Unsterblichkeit, Eine Reise zu den Gründen des Singens und Sagens, Frankfurt/Main 2004; Musik und Mensch, Berlin 2000. em. Prof. Dr. Heiner Ellgring, geb. 1942, emeritierter Professor mit Schwerpunkt Interventionspsychologie an der Universität Würzburg. Wichtigste Publikationen: (zusammen mit H. Wagner u. A. H. Clarke) Psychopathological states and their effects on speech and gaze behaviour, in: H. Giles, W. P. Robinson, & P. M. Smith (Eds.), Language- Social psychological perspectives. Oxford 1980; Zum Einfluß von Vorstellung und Mitteilung auf die Mimik. Psychologische Beiträge, 27, 1985; (zusammen mit B. Rimé) Individual differences in emotional reactions, in: K. R. Scherer, H. Wallbott & A. Summerfield (Eds.), Experiencing emotion. A crosscultural study. Cambridge 1986; Zur Entwicklung der Mimik als Verständigungsmittel, in: C. Niemitz (Hrsg.), Erbe und Umwelt, Frankfurt/Main 1987; Nonverbal communication in depression, Cambridge 1989; Die Mimik als Verhaltenseffektor limbischer Aktivität in der Psychose, in: W. Gaebel & M. Laux (Hrsg.), Biologische Psychiatrie. Synopsis 1990/91, Berlin 1992; (zusammen mit K. R. Scherer) Vocal indicators of mood change in depression. Journal of Nonverbal Behavior, 20, 285 © Verlag K

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Die Autoren

1996; Nonverbale Kommunikation, in: H. S. Rosenbusch & O. Schober (Hrsg.). Körpersprache und schulische Erziehung (2004) (2. Aufl.), Hohengren 2004; (zusammen mit K. R. Scherer) Scherer, K. R., Ellgring, Heiner. (2007). Are Facial Expressions of Emotion Produced by Categorical Affect Programs or Dynamically Driven by Appraisal? Emotion, 7, 2007.

Dr. Miriam Fischer, geb.1978, Assistentin am Philosophischen Seminar Basel. Wichtigste Publikationen: Das Undenkbare denken – Zum Verhältnis von Sprache und Tod in der Philosophie Maurice Blanchots, Freiburg 2006; (als Mitherausgeberin) Philosophie des Tanzes. Denkfestival – eine interdisziplinäre Reflexion des Tanzes, Freiburg 2006; Denken in Körpern. Grundlegung einer Philosophie des Tanzes, Freiburg/ München 2010. Dr. Janette Friedrich, geb.1961, seit 1994 Maître d’enseignement et de recherche an der Universität Genf, Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften; seit 2004 Programmdirektor am Collège International de Philosophie in Paris. Wichtigste Publikationen: Der Gehalt der Sprachform. Paradigmen von Bachtin bis Vygotskij; Berlin 1993; »Quelques réflexions sur le caractère énigmatique de l’action«, in: Jean-Michel Baudouin/Janette Friedrich: Théories de l’action et éducation (Raisons éducatives, N 4), Bruxelles 2001; »Der Phonembegriff bei Karl Bühler. Ein Plädoyer für einen formalen, philosophischen Begriff des Phonems«, in: Gerda Hassler/ Gesina Volkmann: History of Linguistics in Texts and Concepts, Geschichte der Sprachwissenschaft in Texten und Konzepten, Volume II. Münster 2004; »Die Apperzeptionsgebundenheit des Sprechens. Ein historischer Exkurs in die Diskussion um die innere Sprache«, in: Marie-Cécile Bertau/Anke Werani/Gerd Kegel: Psycholinguistische Studien 2, Aachen 2005; »Psychopathology and the essence of language: the interpretation of aphasia by Kurt Goldstein and Roman Jakobson«, in: History of Psychiatry, 17 (4) 2006; »Indices, déictiques, guidage matériel: La Sprachtheorie de Karl 286 © Verlag K

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Die Autoren

Bühler«, in: Denis Thouard: Enquête sur le paradigme indiciaire, Villeneuve d’Ascq 2007.

Prof. Dr. Dipl.-Ing. Ludwig Fromm, geb. 1950, seit 1993 Professor an der Muthesius-Hochschule Kiel. Wichtigste Publikationen: (als Mitautor) Loft-City-Projekt – konkrete Utopien für das Wohnen in der Stadt, Berlin 1994; Tipi, Ba Nag, Berberzelt – drei Zelte, Berlin 1985; Architektur und sozialer Raum – Grundlagen einer Baukulturkritik, Kiel 2000; The timeless architecture of Richard Neutra, in: Premium 02/2001; Learning from New Urbanism?, in: Dokumentation Landpreis, Kiel 2003; Schöne neue Welt, in: Dokumentation Landespreis, Kiel 2005; Zwischen Struktur und Erzählung, in: Der Architekt 5–6/2006; Atmosphärisches Rauschen, in: Petra Maria Meyer (Hrsg.), Acustic Turn, München 2008. Prof. Dr. Michael Großheim, geb. 1962, seit 2006 Inhaber der Hermann-Schmitz-Stiftungsprofessur für Phänomenologische Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Rostock. Wichtigste Publikationen: Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn 1991; Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994; Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Moderne, Berlin 1995; Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002; (als Hrsg.) Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg/München 2008; Zur Phänomenologie der Wahrnehmung jenseits von Konstellationismus und Projektionismus, in: Vera Denzer/Jürgen Hasse/Klaus-Dieter Kleefeld/Udo Recker (Hrsg.), Kulturlandschaft. Wahrnehmung – Inventarisation – Regionale Beispiele, Wiesbaden 2005 (2006); Phänomenologie der Sensibilität, Rostock 2008 (Rostocker Phänomenologische Manuskripte, Heft 2); (als Hrsg.) Rostocker Phänomenologische Manuskripte, Rostock 2008 ff.

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Die Autoren

PD Dr. Norbert Meuter, geb. 1962, Privatdozent an der Universität Koblenz, philosophischer Fachberater bei 3Sat. Wichtigste Publikationen: Narrative Identität, Stuttgart 1995; Anthropologie des Ausdrucks, München 2006. Prof. Dr. Hartmut Möller, geb. 1953, seit 2001 Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik u. Theater Rostock. Wichtigste Publikationen: (zus. mit Wilfried Gruhn), Wahrnehmung und Begriff. Dokumentation des Internationalen Symposions Freiburg, 2.–3. Juni , Kassel 2000; (als Mitherausgeber), Übersetzte Zeit. Das Mittelalter und die Musik der Gegenwart, Hofheim/Ts. 2001; (Hrsg.), Themenheft »Musikwissenschaft – Kulturwissenschaft«, MusikTheorie – Zeitschrift für Musikwissenschaft 24 (2009), Heft 4, 290–363. Dr. Magnus Schlette, geb. 1965, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kollegforschergruppe »Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive«, Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien Erfurt. Wichtigste Publikationen: Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen. Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster in der Frömmigkeitsgeschichte des Pietismus, Göttingen 2005; (zus. m. Matthias Jung als Hrsg.), Anthropologie der Artikulation. Begriffiche Grundlagen und transdisziplinäre Perspektiven, Würzburg 2005; »›Absehen von sich‹. E. Tugendhats Auseinandersetzung mit Endlichkeit und Tod«, in: G. Thomas u. a. (Hrsg.), Schlechte Endlichkeit – heilsame Begrenzung? Die Endlichkeit menschlichen Lebens in philosophischen, theologischen und medizinethischen Perspektiven, Tübingen 2009; »Das Heilige in der Moderne«, in: M. Knechtges, Christian Thies (Hrsg.), Religiöse Erfahrung in der Moderne. William James und die Folgen, Wiesbaden 2009.

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Die Autoren

em. Prof. Dr. Hermann Schmitz, geb. 1928, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Wichtigste Publikationen: System der Philosophie, Bonn 1964–1980 (10 Bücher in 5 Bänden); Die Ideenlehre des Aristoteles, Bonn 1985 (2 Bände); Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides zu Demokrit, Bonn 1988; Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, ßblockßgg. v. H. Gausebeck u. G. Risch, Paderborn 1989 (2008); Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990 (2007); Die Liebe, Bonn 1993 (2007); Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994; Logische Untersuchungen, Freiburg/München 2008. Prof. Dr. Walter Sendlmeier, geb. 1955, seit 1993 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Wichtigste Publikationen: Psychophonetische Aspekte der Wortwahrnehmung, Hamburg 1985; »Feature, phoneme, syllable or word: How is speech mentally represented?«, in: Phonetica 52, 1995; Sprachverarbeitung bei pathologischem Gehör, Stuttgart, New York 1992; (Hrsg.) Mentale Repräsentation sprachlicher Zeichen, Themenheft 2–3 der Zeitschrift für Semiotik 18, 1996; »Phonetische Reduktion und Elaboration bei emotionaler Sprechweise«, in: Martina Haase, M./Dirk Meyer (Hrsg.): Von Sprechkunst und Normphonetik, Hanau 1997; zus. mit Gudrun Klasmeyer: »Voice and Emotional States«, in: Raymond Kent/Martin Ball: Voice Quality Measurement, San Diego 2000, S. 339–359; (als Hrsg.), Sprechwirkung – Sprechstile in Funk und Fernsehen, Reihe ›Mündliche Kommunikation‹ Bd. 3, Berlin 2005; (als Mitherausgeber), Stimmlicher Ausdruck in der Alltagskommunikation. Reihe ›Mündliche Kommunikation‹ Bd. 4. Berlin 2005.

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Die Autoren

Prof. Dr. Wolfgang Tunner, geb. 1937, Lehrtätigkeit an der Universität Wien. Wichtigste Publikationen: (als Mitherausgeber) Fortschritte der Klinischen Psychologie, 23 Bände, München 1976 bis 1983; (als Mitherausgeber) Krahofer Blätter – Originaltexte zur Kunst und Psychologie, 1–20, Grein 1988–2008; Psychologie der Kunst – vom Sehen zur sinnlichen Erkenntnis, Springer, Wien 1999; Atemzüge, Wien 2003. Dr. Stefan Volke, geb. 1971, lebt und arbeitet in der Nähe von Freiburg, Wichtigste Publikationen: Sprachphysiognomik – Grundlagen einer leibphänomenologischen Beschreibung der Lautwahrnehmung, Freiburg/München 2007; »Zum Problem der auditiven Attribute in der Phonetik«, in: Michael Großheim (Hrsg.), Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie, Freiburg/München 2008; »Schallattribute und leibliche Kommunikation – Zur Phänomenologie der akustischen Wahrnehmung«, in: Holger Schulze (Hrsg.), Sound Studies Vol. III: Klanganthropologische Studien, Bielefeld 2010.

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