Friedrich Kapp 1824–1884: Ein Lebensbild aus den deutschen und den nordamerikanischen Einheitskämpfen [Reprint 2021 ed.] 9783112486924, 9783112486917

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Friedrich Kapp 1824–1884: Ein Lebensbild aus den deutschen und den nordamerikanischen Einheitskämpfen [Reprint 2021 ed.]
 9783112486924, 9783112486917

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FRIEDRICH KAPP 1824 — 1884 EIN LEBENSBILD AUS DEN DEUTSCHEN UND DEN NORD AMERIKANISCHEN EINHEITSKÄMPFEN

VON

EDITH LENEL

tt

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9

3

L E I P Z I G / J. C. H I N R I C H S ' S C H E

5 BUCHHANDLUNG

KÖNIGSBERGER HISTORISCHE

FORSCHUNGEN

HERAUSGEGEBEN VON FRIEDRICH BAETHGEN u. HANS ROTHFELS

BAND 8

PRINTED IN GERMANY Druck von Wilhelm Hoppe, Borsdorf-Leipzig

Meinen Geschwistern in der Fremde und in der Heimat FRITZ

VICTOR

LUISE ANTONIE L U D W I G MORITZ zu Eigen

Vorwort Friedrich Kapp hat die Absicht geäußert, seine Erinnerungen aufzuzeichnen, aber es ist bei dem Vorsatz geblieben. Eine spätere Lebensbeschreibung wird die Eigenart einer Autobiographie nicht ersetzen können; sie wird statt dessen die Persönlichkeit in ihrem geschichtlichen Zusammenhang sichtbar machen. Unter denen, die die Revolution von 1848/49 in empfänglichen Jugendjahren handelnd miterlebten, nimmt Kapp eine besondere Stellung ein. Wie so viele der „Achtundvierziger" fand er in den Vereinigten Staaten eine Zuflucht und widmete bald mit den Besten unter ihnen seine Kraft in führender Stellung der neuen Heimat. Aber es macht seine Eigentümlichkeit aus, daß er dabei bewußt Deutscher blieb und in Bismarcks Schöpfung den Beginn der Erfüllung seiner einst gescheiterten Hoffnungen sehen lernte. Er ist der einzige unter den führenden Achtundvierzigern in Amerika, der den Weg in das innerlich nie aufgegebene Vaterland zurückfand, um ihm bis zum Lebensende zu dienen. Es ist daher wohl berechtigt, wenn das Lebensbild dieses Mannes hier zum ersten Male einem weiteren Kreis zugänglich gemacht wird. Der Schilderung der Vorfahren wurde ein gewisser Raum gewährt, denn wesentliche Züge in Schicksal und Charakter Kapps erklären sich aus seiner Herkunft. Darüber hinaus birgt die Familiengeschichte genug des Typischen und des Besonderen, um an die Stelle einer allgemeinen Schilderung des geistigen Hintergrundes der Zeit zu treten. Herangezogen wurden außer Kapps literarischer Produktion vor allem seine Briefe, soweit sie nur immer erreichbar waren. Der größte Teil davon befindet sich in Familienbesitz; ein kleinerer, aber nicht unwichtiger liegt in Archiven und Bibliotheken. Auf die Herkunft des unveröffentlichten Materials ist bei Zitaten jeweils in Anmerkungen verwiesen.

IV

Vorwort

Lücken und Ungleichheiten ließen sich trotz vielfacher Bemühungen nicht überall ergänzen. Am bedauerlichsten ist, daß unmittelbar nach Kapps Tode der in seinem Besitz befindliche Nachlaß vernichtet wurde. In Amerika vorhandenes Material ist möglicherweise von mir übersehen worden, da ich nicht selber an Ort und Stelle nachprüfen konnte. Ein Verzeichnis der benutzten Literatur schien bei der Art der Aufgabe und des Stoffes nicht notwendig 1 . Da mir Kapps Briefe nur zum Teil im Original, zum Teil in Abschriften erreichbar waren, die im Bezug auf die Wiedergabe der Interpunktion und Orthographie nicht durchweg zuverlässig sind, wurde beides den modernen Regeln angeglichen, um Einheitlichkeit zu erzielen. Persönliche Eigentümlichkeiten Kapps wurden dabei nicht verwischt. Dagegen wurde die altmodische Schreibweise in Zitaten aus Büchern und in einigen wenigen Briefen beibehalten, die nicht von Kapp verfaßt sind, und deren Original ich benutzte. Worte, die in den Briefen unterstrichen waren, sind im Druck gesperrt. Ergänzungen sind von mir in eckiger Klammer beigefügt, runde Klammern stammen von Kapp selbst her. 1 Von wichtigen Aufsätzen und Nekrologen über Kapp sind zu nennen: Ludwig Bamberger: Der Bürger zweier Welten, Gartenlaube Nr. 22, 1869, S. 341 ff. Ludwig Bamberger: Zur Erinnerung an Friedrich Kapp, Gesammelte Schriften, Berlin 1898, Bd. 2, S. 129ff. Georg von Bunsen: Friedrich Kapp: Gedächtnisrede, Volks wirthschaftliche Zeitfragen, Heft 49, Berlin 1885. Hermann von Holst: Friedrich Kapp, Preußische Jahrbücher, Bd. 55, 1885, S. 217ff. Von Inama: Friedrich Kapp, Allgemeine Deutsohe Biographie, Bd. 51, S. 33 ff. Heinrioh Armin Rattermann: Friedrich Kapp, Deutsch-Amerikanisches Magazin, Bd. 1, 1887, S. 17ff. S. 226ff. S. 360ff. Julius Rodenberg: Friedrich Kapp, Deutsche Rundschau, Bd. 41, 1884, S. 456 ff. Ohne Namen: Friedrich Kapp, Dictionary of American Biography, ed. by Dumas Malone, London, New York o. J. Vol. X, S. 259f. Was die wesentlichen Arbeiten Kapps selber anlangt, so befindet sich am Schluß des Nekrologs von H. A. Rattermann auf S. 371 ff. ein Verzeichnis derselben. Es wurde hier nicht wiederholt, zumal da es mir nicht möglich war, es abschließend zu vervollständigen.

V

Vorwort

Für gütige Auskunft und überlassenes Material habe ich meinen Verwandten zu danken, vor allem meiner Großmutter, Frau Grete Borckenhagen, der Tochter Friedrich Kapps. Sie hat meinen Geschwistern und mir seit unseren Kindertagen das Bild unseres Urgroßvaters lebendig vor Augen gestellt und, indem sie half, uns in seinem Geiste zu erziehen, hat sie die Überlieferung treuer weitergegeben, als bloße Aufzeichnung es vermag. Die Namen der Vorstände von Bibliotheken und Archiven sowie der anderen Damen und Herren, die mir in liebenswürdiger Weise halfen, sind zu zahlreich, als daß ich sie einzeln aufzählen könnte. Ich bitte, mich mit einem allgemeinen Dank begnügen zu dürfen. Ausdrücklich aber zu bekennen, was ich, weit über den Rahmen dieser Arbeit hinaus, meinem Vater und meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Hans Rothfels, schulde, ist mir eine angenehme Pflicht. Heidelberg.

VI

Edith

Lenel.

Inhaltsverzeichnis Vorwort Inhaltsverzeichnis

Seite

IV VII

I. T e i l : 1. K a p i t e l : V o r f a h r e n 1 Der Vater S. 1—11; Alexander Kapp S. 11—14; Ernst Kapp S. 14—25 2. K a p i t e l : K i n d h e i t und J u g e n d in Hamm; S t u d i e n z e i t in Heidelberg und B e r l i n (1824—45) 26 Jugend S. 26; Studien, Umwelt und Verkehr in Heidelberg S . 2 9 ; in Berlin S. 42; Berufsentscheidung S. 44. 3. K a p i t e l : Im J u s t i z d i e n s t ; Die R e v o l u t i o n 1848/49 . . 46 Auskultator in Hamm S. 46; Berührung mit dem philosophischen Sozialismus S. 47; politische und journalistische Betätigung S. 48, Verlobung S. 54; Teilnahme an der Revolution S. 54; Zeitungskorrespondent in Prankfurt S. 58; demokratischer Agitator in Frankfurt und im Badischen S. 59; Frankfurter Aufstand S. 61; Flucht nach Brüssel und Paris S. 61; bei Alexander Herzen und in Genf S. 64; Ergebnis der Revolution für Kapp S. 65; Auswanderung nach den Vereinigten Staaten S. 66; die Familie der Braut S. 68. II. T e i l : 4. K a p i t e l : Die J a h r e in Amerika (1850—70) 72 Lage des Einwanderers S. 72; Jurist, Auswanderungsberater und Redakteur S. 73; Absage an sozialistische und revolutionäre Ideen S. 79; Ansicht der amerikanischen Zustände um 1850 S. 80; Durchbruch bewußten Deutschtums S. 83; Verhältnis zum Beruf S. 87; die „Atlantischen Studien" S. 88; Aufsätze über die Parteien der Vereinigten Staaten S. 92; Arbeiten zur Sklavenfrage S. 94; politische Tätigkeit in der Republikanischen Partei S . 9 9 ; Reise nach Deutschland S. 103. 5. K a p i t e l : Die J a h r e in Amerika (1850—70). F o r t s e t z u n g 104 Versuche in Deutschland wieder Fuß zu fassen S. 104; Sonderstellung Kapps gegenüber den anderen Achtundvierzigern in den Vereinigten Staaten S. 109; der amerikanische Sezessionskrieg S. 110; Kapps literarische Arbeiten S. 111; die Steuben-Biographie S. 112; die Biographie Kalbs S. 114; die „europäische Seite der amerikanischen Geschichte" S. 115; Berührung mit amerikanischen Historikern S. 116; „Der Soldatenhandel deut-

VII

Inhaltsverzeichnis scher Fürsten nach Amerika" S. 119; Preußentum und Unitarismus (Friedrich der Große und Alexander Hamilton) S. 121; „Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika" S. 123; deutsche Nation und amerikanisches Volkstum S. 126; Einwanderungskommissar S. 129; Charakter der wissenschaftlichen Arbeiten Kapps S. 131; der Krieg 1866; gewandelte Stellung zu Bismarck S. 133; Abschiedsadresse der Deutschamerikaner S. 137.

Seite

III. T e i l : 6. K a p i t e l : Ausklang in B e r l i n (1870—84) 140 Wiedereinleben in Deutschland S. 140; Kriegsausbruch 1870 und Kapps Tätigkeit während des Krieges S. 141; Eintritt in die nationalliberale Partei S. 142; Wahl Kapps 1872 S. 143; parlamentarische Tätigkeit S. 144; Lebenserfahrungen und politische Uberzeugungen S. 145; Gegensatz zum Bismarckschen Reich S. 146; Wirksamkeit im Beichstag S. 148; Kapp als Freihändler; Ansichten über Kolonisation S. 154; Zerfall der nationalliberalen Partei S. 157; Stellung zu Bismarcks Sozialpolitik und zum Kulturkampf S. 158; Tätigkeit innerhalb der Partei S. 163; Krankheit und Entschluß zur Aufgabe parlamentarischer Tätigkeit S. 164; [Arbeiten zur Amerikakunde S. 168; Biographie Bollmanns S. 171; die Geschiohte des deutschen Buchhandels S. 172; Tod S. 176; Wesen der Geschichtsschreibung Kapps S. 177; Würdigung S. 179.

VIII

I. TEIL „Laß' die angestammte Securitas adversus homines et adversus deos Wahlspruch des Hauses sein!" Das Taciteische Wort gab Christian Kapp seinem Neffen Friedrich als Widmung in eines seiner Bücher.

I. KAPITEL

Vorfahren Die Familie Kapp läßt sich bis vor den Ausbruch des dreißigjährigen Krieges zurückverfolgen. Damals saß sie in Oberfranken, nahe Hof und Bayreuth. Der älteste feststellbare Vorfahr ist Hans Kapp, dessen Söhne Jost und Hans 1618 und 1622 geboren wurden. Jost Kapp war Schneider in Hirschberg in Schlesien; seine Linie ist männlicherseits im Anfang des 19. Jahrhunderts ausgestorben. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts gingen zuerst Glieder der Familie vom Handwerk zu gelehrten Berufen über. Unter denen, die Gelehrte wurden, haben einige das durchschnittliche Maß überragt, z. B. Johann Erhard Kapp, Theologe und Philosoph, professor eloquentiae an der Universität Leipzig1. Unter seinem Rektorat wurde der junge Lessing in Leipzig immatrikuliert. Neben ihm sind die Theologen und Philologen Johann Kapp, geboren 1739 und Johann Christian Kapp, geboren 1764 zu nennen2. Am häufigsten begegnen protestantische Pastoren, Gymnasial- und Universitätslehrer, gelegentlich auch Juristen. 1 Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 15, S. 105 f. 2 Vgl. a. a. O. S. 106.

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Künigsb. bist. Forsch. 8

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I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

Die äußeren Verhältnisse, in denen man lebte, waren eng und bescheiden. Reichtum gab es nur an Kindern, gewöhnlich sechs bis zwölf in den einzelnen Familien, die mit viel Gottvertrauen und spärlichen Mitteln erzogen wurden. Der Großvater Friedrich Kapps war der Justizamtmann Johann Christian Wolfgang Kapp in Ludwigstadt in Franken. Seine Frau holte er sich aus dem Pfarrhaus in Christfeld. Aus ihrer Ehe gingen zwölf Kinder hervor. Für uns sind drei der acht Söhne am wichtigsten: Friedrich Christian Georg, der Vater Friedrichs, Alexander Otto Emmerich und Ernst Christian Kapp. Sie waren von entscheidender Bedeutung für die Erziehung Friedrich Kapps und seine Mitgift fürs Leben. In der äußeren Erscheinung und im Wesen hatte er wohl viel von seiner Mutter geerbt. Sie hieß Amalie Keck und war eine Tochter des Pfarrers Johann Nikolaus Keck in Drossenfeld und eine entfernte Nichte ihres Gatten. Da sie indessen schon 1836 an der Schwindsucht starb, als der Sohn erst zwölf Jahre alt war, wuchs dieser ganz in den Anschauungen und der männlichen Zucht des Vaters und der Brüder seines Vaters auf. Sie haben seiner Lebenshaltung und Vorstellungswelt unverwischbare Züge eingeprägt. Friedrich Christian Georg Kapp wurde 1792 in Ludwigstadt geboren. Den ersten Unterricht fand er in seinem Heimatort. 1806 trat er in das Gymnasium in Bayreuth ein, wo er vier Jahre blieb. Er empfing dort eine gediegene humanistische Erziehung, die er als älterer Mann in einem Schulprogramm des Hammer Gymnasiums reizvoll geschildert hat 1 . Der Stern über seiner Schulzeit war Jean Paul; die Gymnasiasten verehrten ihn glühend. Jean Pauls Erziehungsmaximen haben Kapp sein Leben hindurch begleitet. Seine Gymnasialund Studentenjahre fielen in die Zeit der Napoleonischen Unterjochung und der deutschen Befreiungskriege. Wie weit er persönlich davon ergriffen wurde, entzieht sich der genauen Kenntnis. Gut preußisch fühlte man schon im Ludwigstädter Amtmannshaus. Denn Friedrich Christian spricht in einer seiner späten Schriften einmal von seinem Vater, der „König1 Wiederabgedruckt von A. von der Leyen unter dem Titel: Jugenderinnerungen eines alten Schulmannes, Deutsche Rundschau Bd. 192» H. 12, Jg. 48. 1922, S. 284ff.

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Werdegang des Vaters

lieber durch und durch Preußischer Justizamtmann war" 1 . So wird das Kappsche Haus die Zuteilung von Ansbach und Bayreuth an Bayern durch den Vertrag von Ried ebenso ungern gesehen haben, wie die übrige Bevölkerung 2 . 1810 bezog Kapp die Universität Erlangen, wo er bis 1813 unter Ammon, Vogel und Bertholdt Theologie hörte. Gleichzeitig studierte er Sprachen und Philosophie und unterrichtete als Mitglied des philologischen Seminars bereits am Gymnasium. 1813 erwarb er die philosophische Doktorwürde. 1813/14 finden wir ihn zur Fortsetzung seiner Studien in Heidelberg; 1815 nach Erlangen zurückgekehrt, habilitierte er sich dort für Philosophie und hielt Vorlesungen; bald aber wurde er zur Übernahme einer pädagogischen Aufgabe nach Würzburg geholt. Seine angeborene pädagogische Begabung muß schon damals aufgefallen sein. Ehe er sein Würzburger Amt übernahm, ging er für einige Monate als Pestalozzis Schüler nach Iferten, um dessen neue Erziehungs- und Lehrmethoden kennen zu lernen. 1816 gründete er dann selber in Würzburg eine Erziehungsanstalt, bei der ihn die Bayrische Regierung unterstützte, indem sie ihm für seine Zwecke das Augustinerkloster einräumte. Indessen ließ sich das Unternehmen aus wirtschaftlichen Schwierigkeiten kaum zwei Jahre halten. Auf Kapp lag außer der Sorge für seine eigene Zukunft wohl auch die für die Ausbildung seiner jüngeren Geschwister. Denn seine Eltern waren rasch hinter einander 1814 gestorben. Es scheint, daß sich dadurch sein Schicksal in diesen Jahren eng und gebunden gestaltete. Er kehrte 1818 nach Erlangen zurück, nahm seine Privatdozentur wieder auf und war gleichzeitig Konrektor am Gymnasium. Aber auch diesmal war seine Lehrtätigkeit in Erlangen nicht von Dauer. Der Anregung des von Erlangen nach Bonn berufenen Naturwissenschaftlers Nees von Esenbeck war es zu verdanken, wenn bald nach dessen Übersiedlung an die rheinische Universität der preußische Minister Altenstein sich bewogen fand, „dem . . . Dr. Kapp zu seiner ferneren Aus1 Kirche, 2 Leipzig

1*

Vgl. Friedrich Kapp: Die Unabhängigkeit der Schule von der Berlin 1860, S. 67. Vgl. H. von Treitschke: Deutsche Geschichte, Neue Ausgabe, 1927, Bd. 1, S. 497f.

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I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

bildung behülflich zu sein und ihn zugleich in den Stand zu setzen, für die wissenschaftlichen Anstalten in Bonn nützlich zu werden" 1 . So vertauschte Kapp zum Sommersemester 1819 Erlangen mit Bonn. Eine erneute Habilitation blieb ihm nicht erspart. Er schloß sie am 11. Dezember 2 mit einer öffentlichen Antrittsrede: „De Lessingii praecepto quodam paedagogico" ab. Seine Vorlesungen waren im wesentlichen der Geschichte und Systematik der Erziehung gewidmet. Er hat damals von Nees von Esenbeck angeregt mit diesem und anderen Naturwissenschaftlern Pläne entworfen, die ihn noch Jahre später beschäftigen sollten und auch in seiner literarischen Produktion einen Niederschlag fanden 3 . Seine akademische Laufbahn entwickelte sich indessen nicht seinen Wünschen entsprechend. Seine Bitte um ein Extraordinariat für Pädagogik und im Zusammenhang damit sein Vorschlag, junge Theologen und Philologen schon während ihres Studiums unter seiner Leitung praktisch-pädagogisch arbeiten zu lassen, wurden von der Fakultät und dem Ministerium abschlägig beschieden. Kapp sah sich auf die Gymnasiallaufbahn verwiesen 4 . So schied er 1821 aus dem Bonner Lehrkörper aus und folgte einer Berufung als Oberlehrer an das Gymnasium in Hamm. Dort fand Kapp die dauernde Stellung, die ihn, den Franken, für den größeren Teil seines Lebens nach Westfalen verpflanzte. Er war vor allem für den philologischen Unterricht in den oberen Klassen berufen worden. Schon 1822 erhielt er den Titel Direktor, Ostern 1823 übernahm er die tatsächliche Leitung, und im August 1824 wurde er feierlich als 1 Schreiben des Ministerii Altenstein an Nees von Esenbeck vom 14. Dezember 1818, (Akten der Bonner philosophischen Fakultät). Herr Prof. Dr. Levison in Bonn hatte die große Liebenswürdigkeit, für mich diese Akten und die des Kuratoriums der Universität Bonn durchzusehen. Vgl. auch: F. von Bezold: Geschichte der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität, Bonn 1920, Bd. 1, S. 230f. und A. Dyroff in dem Sammelwerk gleichen Titels, Bonn 1933, Bd. 2, S. 138f. 2 Herr Prof. Dr. Levison machte mich auf das richtige Datum: 11. nicht 1. Dezember 1819, wie Bezold (a. a. O. S. 230) angibt, aufmerksam. .3 Vgl. Friedrich K a p p : Der wissenschaftliche Schulunterricht als ein Ganzes, Hamm 1834, Vorwort und S. 21 ff. 4 Über die Einzelheiten vgl. F. von Bezold und A. Dyroff a. a. O.

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Gymnasialdirektor in Hamm

Direktor eingeführt. Er bekleidete dieses Amt bis zu seiner auffallend früh erfolgten Pensionierung im Oktober 1852. In den Akten steht nichts über politische Gründe seiner Entlassung 1 . Aber es liegt nahe zu vermuten, daß man, obwohl Kapp als hervorragender Lehrer und Schulmann bekannt war, sich in diesen Jahren der Reaktion des freigesinnten und seine Kritik nicht verhehlenden Mannes so bald wie nur angängig zu entledigen suchte und darum den erst Sechzigjährigen in den Ruhestand versetzte. Während Kapps Amtszeit erfreute sich das Gymnasium zu Hamm eines ausgezeichneten Rufes. Vor allem genoß es den hoher Forderungen auf dem Gebiete der alten Sprachen. Aber in seinem Beruf als Lehrer und Leiter seiner Anstalt fand Kapp noch Zeit zu schriftstellerischer und organisatorischer Arbeit. Beides befruchtete sich gegenseitig. Das Amt des Erziehers war in seinen Augen das vornehmste. Seine ungewöhnliche Begabung dafür bewahrte eine große Schar von Schülern, darunter der eigene Sohn und Bruder, in dankbarer Erinnerung. Kapp war ein Jünger der deutschen idealistischen Philosophie und klassischen Dichtung. Sein Denken und Handeln war durch sie bestimmt, in ihrem Geist erzog er seine Schüler und schrieb er seine Schriften. Während die Bonner Zeit wesentlich im Zeichen Schellings stand, wurde das System dieses Philosophen später durch die Hegeische Philosophie abgelöst. Auch Kapps politische Haltung war durch seine philosophische Uberzeugung bestimmt. So schildert ihn charakteristisch ein Freund und Konreferendar seines Sohnes Friedrich in einem Brief an Hammacher 2 aus dem Jahre 1845: „Hegelianer, war er früher ein Anhänger Preußens unter Altensteins Regime, indem er Preußen als den Staat des Fortschritts und der Intelligenz ansah. Jetzt durchschaut 1 In der Abteilung für höheres Schulwesen am Oberpräsidium der Provinz Westfalen zu Münster teilte man mir auf meine Anfrage hin mit: „Die Pensionierung des Direktors Kapp im Jahre 1852 ist nicht aus politischen Gründen erfolgt." 2 Karl Keller an Friedrich Hammacher, Hamm, 22. Oktober 1845. (Nachlaß Hammacher im Reichsarchiv in Podsdam). Über Hammacher vgl. die Biographie von A. Bein: Friedrich Hammacher, Lebensbild eines Parlamentariers und Wirtschaftsführers 1824—1904, Berlin 1932, bes. S. 14 f.

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I. Teil.

I. Kap.: Vorfahren

er das ganze System der Heuchelei durch und durch und ist ein entschiedener Liberaler geworden. Fern von irgend einem religiösen oder politischen Vorurtheil, steht er mit uns jungen Kerlen auf dem selben freien Standpunkte, verzweifelt an der Wiedergeburt unseres Vaterlandes auf friedlichem Wege." Bei solchen Anschauungen kann es nicht Wunder nehmen, daß Kapp die Revolution 1848 mit überschwenglichen Hoffnungen begrüßte. Er hielt sich auch nicht zurück, an den Dingen mitzuwirken, die ihm zumeist am Herzen lagen, den Bildungsfragen der Nation. Mit zwei Schriften griff er in den publizistischen Kampf der Revolutionsjahre ein: mit seinen Aufrufen „Zur Umgestaltung der deutschen Nationalerziehung" und „An den gesamten deutschen Lehrstand". Der erste Aufruf, der gleich zu Beginn der Revolution erschien, brachte ihm die Drohung seines Provinzial-Schulkollegiums mit einer Disziplinaruntersuchung ein „wegen unbefugten Einmischens in die Politik". Trotzdem nahm Kapp dann im Juli des Jahres an den Beratungen über die den Unterricht behandelnden Paragraphen der preußischen Verfassung teil, die eine freie Fraktion aus Schulmännern verschiedener Parteien und Bekenntnisse in der Berliner Nationalversammlung durchführte 1 . Schon vorher war er mit zwanzig anderen preußischen Gymnasialdirektoren zur Besprechung der Reform des höheren Schulwesens vom Ministerium Schwerin berufen worden. Aber nicht nur von oben die Reform zu fördern bemühte sich Kapp. Er war überzeugt, daß auch die deutsche Lehrerschaft das Ihrige zur Erneuerung des Bildungswesens beitragen müsse durch korporativen Zusammenschluß. Diesem Gedanken diente der zweite Aufruf, 1 Vgl. Friedrich Kapp: Die Unabhängigkeit der Schule von der Kirche, S. l l f . ; Kapp hat 1848 in Berlin mit Diesterweg zusammengearbeitet. A. a. O. schreibt er: „Diese Fraktions-Versammlung, zu welcher der Seminar-Direktor Dr. Diesterweg und der Unterzeichnete [seil. Kapp], wir hatten. . . die genannten Paragraphen gemeinsam entworfen, als Vertrauensmänner mit Sitz und Stimme und allzeit freiem Worte eingeladen zu werden die Ehre hatten, diese Versammlung also legte am 21. Juli [1848] das sorgfältigst berathene . . . Ergebniss ihrer elf Sitzungen . . . allen Lehrer-Vereinen und Freunden der Schule des ganzen Landes in 6000 Exemplaren vor." — Vgl. auch W.Appens: Die Pädagogischen Bewegungen des Jahres 1848, Elberfeld 1914, S. 156 ff.

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Seine publizistische Tätigkeit 1848

der den „gesamten deutschen Lehrstand" in Bewegung zu bringen suchte: „In ihm liegt eine Welt, unsere Zukunft. Nur so wird das nächste Jahrhundert dem mündig, frei und selbständig gewordenen Lehrstande und seinen 24 Buchstaben gehören" 1 . Kapp selber wurde der Organisator des westfälischen Vereinslebens und suchte den Lehrern, unabhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit und gleichviel, ob sie an Volks-, Mittel- oder höheren Schulen unterrichteten, ein festes Standesbewußtsein und seine eigene heilige Überzeugung von den hohen Pflichten der Lehrerschaft einzuimpfen2. Im engen Zusammenhang mit diesen Bestrebungen stand eine Forderung, die Kapp nicht müde wurde zu wiederholen: die der Unabhängigkeit der Schule von der Kirche 3 . Ihr diente seine Flugschrift über die Umgestaltung der deutschen Nationalerziehung, die zugleich eine Fülle positiver Vorschläge enthielt. E r wollte das Unterrichtsministerium von dem der geistlichen Angelegenheiten trennen und aus den theologischen Fakultäten geistliche Seminarien machen. Zum Ersatz sollten die Universitäten vorerst „eine staatswissenschaftliche oder politische Fakultät" erhalten. Hier wird der Hegeische Grundzug dieser Staatspädagogik besonders deutlich. „Der Staat nämlich", so heißt es in der Flugschrift, „das ist der Geist, soweit er sich in der Welt bisher verwirklicht hat, hat seinen eigenen Begriff noch nicht erfaßt. E r muß Providenz über und für die Einzelnen sein" 4 . Das gesamte Bildungsproblem sollte nach einem einheitlichen Plan geordnet werden. Bildung und Erziehung sind Aufgabe des Staates, und nur des Staates 6 . Das Bildungsproblem reicht von der Kleinkinderbewahr- und Mutterschule bis zu einer allgemeinen deutschen Akademie der freien Wissenschaften. In dem Gedanken der Mutterschule — „ein Kind lernt von seiner 1 Der Aufruf erschien als Flugblatt am Allerseelentag 1848. 2 Vgl. W.Appens: a . a . O . S. 145ff. 3 Über die Rolle, die diese Forderung in der Revolution 1848 überhaupt spielte, vgl. W.Appens: a . a . O . S. 214f. 4 Vgl. Friedrich Kapp: Aufruf zur Umgestaltung der deutschen Nationalerziehung, 2. Auflage, Arnsberg 1848, §§ 6, 7, 8. 5 F . Kapp: a . a . O . §§8, 9. Vgl. auch F . Kapp: G. W. F . Hegel als Gymnasialrektor oder die Höhe der Gymnasialbildung unserer Zeit, Minden 1835, S. 115.

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I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

Mutter in den ersten drei Jahren mehr, als ein Weltumsegler von allen Völkern der Erde zusammengenommen"1 — erkennt man unschwer Pestalozzische Ideen. Als Erziehungsziel ganz allgemein stellte Kapp auf, „daß die Jugend . . . je nach ihren unterschiedenen Bildungsstufen und Lebenszwecken vor allem zum klaren und verständigen Bewußtsein aller ihrer Verhältnisse, Pflichten und Rechte, sodann zum gründlichen Denken, endlich zur geistigen Freiheit erzogen werde"2. Dafür sind verschiedene Schularten mit unterschiedlichen Aufgaben notwendig. Die Volksschule soll neben dem Religionsunterricht vor allem deutsche Geschichte und das Verständnis für deutsche Dichtung pflegen und einführen „in die klare offene Welt der bestehenden Gemeindeund Staatsverhältnisse". — „Vor allem aber werde ein nach und nach das gesamte Volk umfassendes System der Turnkunst und der Gesangbildung im größten Stile auferbaut, damit die Gesundheit, die Heiterkeit, die Wahrhaftigkeit und Schönheit des Volkes mit seiner Versittlichung Hand in Hand gehe" 3 . Die in der Volksschule empfangene Unterweisung soll in Fortbildungsschulen vertieft werden. Kapp forderte diese Fortbildungsanstalten für Knaben und Mädchen vom 14. bis zum zurückgelegten 18. Jahr 4 . Der humanistischen Bildung, die für die Universität vorzubereiten hat, maß er einen entscheidenden Wert zu. Weil er sie in ihrer Tiefe und Gründlichkeit ungeschmälert zu bewahren wünschte, hielt er sie nur einer begrenzten Zahl von Schülern für zugänglich und forderte deshalb neben dem Gymnasium eine zweite höhere Schule, die höhere Bürger- und Berufsschule6. Mit besonderem Nachdrucke endlich und in Ausführungen sehr aktueller Art behandelte Kapp die Universitäten. „Die Palladien Deutschlands", wie er sie nannte, „müssen Nationalanstalten werden und von nun an wieder an die Spitze jeder geistigen Bewegung treten, damit die Tragweite des Gedankens den Ereignissen immer voraus sei. Sie haben ihre 1 Vgl. F. Kapp: Aufruf usw. §34. 2 Ebenda § 17. 3 Ebenda §§ 35 und 21. 4 Ebenda § 10. 5 Ebenda §§ 12, 13. Vgl. auch Kapp: G. W. F. Hegel als Gymnasialrektor usw., S. 130.

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Pädagogische Schriftstellern

häufig noch zu mechanische, zu massenhaft stoffartige Überlieferung einer für die Zwecke des Staates angeerbten Staatskultur immer mehr und mehr auf schlagende Resultate und geistvolle Übersichten zu beschränken, alles andere aber dem Privatstudium und der gemeinsamen Durcharbeitung in den wissenschaftlichen, die praktische Vorbildung nicht ausschließenden Seminarien zu überweisen. Sie werden sich daneben unter der Aegide unbedingter Lehr- und Lernfreiheit, in eigentliche philosophische Denkschulen im Sinne J. G. Fichtes, des deutschesten aller Männer, nach und nach selbst umgestalten. Die kleineren unter ihnen erweitern sich vorerst zu großen polytechnischen Schulen" 1 . Die Krönung dieses Systems sah Kapp in einer allgemeinen deutschen Akademie. Sie sollte die höchste Instanz für alle Fragen der Wissenschaft und Bildung sein 2 . Kapps Vorschläge verhallten ungehört. Mehr bedeutete seine literarische Tätigkeit für das Spezialgebiet, das ihm seine Stellung nahelegte, für die Methodik des Gymnasialunterrichts. Wenn Kapp dabei das Schwergewicht durchaus auf die alten Sprachen legte, so war er doch von jeder Einseitigkeit entfernt. Er wollte die Naturwissenschaften und mit ihnen die Anschauung nicht vernachlässigt wissen. Das gab den Anlaß zu seinem Buche: Der wissenschaftliche Schulunterricht als ein Ganzes oder die Stufenfolge des naturkundigen [!] Schulunterrichts als des organischen Mittelgliedes zwischen dem der Erdkunde und der Geschichte (Hamm 1834)3. Auch über die Methode des Geographieunterrichts hat er sich geäußert 4 . Eine Reihe kleiner Aufsätze verschiedenen Inhalts erschien in Zeitschriften und in den Programmen seines Gymnasiums. 1 Vgl. Aufruf § 14 und § 37. 2 Ebenda §§ 15 und 38. — Seine Gedanken über die Unabhängigkeit der Schule von der Kirche trug Kapp 1860 noch einmal in einer seiner letzten Schriften vor. Sie trägt diese Forderung als Titel. Kapp hatte viel von ihr erhofft, als er sie während der „Neuen Aera" erscheinen ließ. Doch blieb sie wirkungslos. 3 Vgl. dazu die Bemerkungen oben auf S. 4. Mit Schellingscher Naturphilosophie und Goethescher Metamorphosenlehre hat sich K a p p vermutlich unter dem Einfluß von Nees von Esenbeck beschäftigt. 4 F. Kapp: Lehrgang der zeichnenden Erdkunde, Minden 1837.

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I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

Manches an Kapps Gedanken wirkt heute überraschend modern. Sucht man ihn einzuordnen, so zeigt sich doch, daß er seiner ganzen Haltung nach zu einem Geschlecht gehörte, das in unpolitisch-universalen Ideen lebte. Er zog seine Lebensluft aus dem geistigen Klima der Goethe—Hegelzeit; er war im Grunde von Fragen staatlicher Machtpolitik unberührt und ohne eigentliches Verständnis für sie. Die Begriffe „Weltbürgertum" und „Nationalstaat" lagen in seinem Denken noch ungeschieden nebeneinander. Sein angeborenes, von ihm auch betontes Preußentum und seine Verwurzelung in der deutschen klassischen Philosophie führten ihn jedoch in einer Zeit, in der die idealistischen Systeme allmählich zerbröckelten, zu Reformgedanken, die zwar die universale und kosmopolitische Betrachtungsweise noch nicht abgestreift hatten, die aber, weil sie den Staat in seiner überragenden Bedeutung anerkannten und ihn in den Mittelpunkt alles erzieherischen und wissenschaftlichen Tuns stellten, eben darum notwendig auch schon nationale und politische Züge trugen. Ein ausgefülltes Leben lag hinter ihm, als er im Februar 1866 starb. Auf die Nachricht vom Tode des Vaters schrieb der Sohn aus Amerika an seine Schwester einen Brief 1 , der beide, Vater und Sohn, gleichermaßen ehrend charakterisiert: „Der Tod Vaters," so hieß es darin, „kam mir sehr unerwartet. Wenn ich auch wußte, daß seine Gesundheit in den letzten Jahren nicht die stärkste war, so lag mir doch der Gedanke an einen so plötzlichen Zusammenbruch fern. Vor meinem geistigen Auge wird Vater immer als der geistig strebende, jugendkräftige und überzeugungstreue Mann stehen, der sich bis an sein Ende einen idealen Schwung des Geistes bewahrte . . . Vater mag durch eine mit seinen Jahren nicht mehr in Einklang stehende Jugendlichkeit Euch hie und da Anstoß gegeben haben, ich war in der Beziehung glücklicher durch die weite Entfernung ihm gegenüber gestellt. Es war in meinen Augen ein Unglück für diesen rastlosen und strebsamen Geist, daß er sich in seiner Jugend in zu engen Verhältnissen bewegt, daß er sich in seinen Mannesjahren nicht 1 17. März 1866. — Die Briefe Kapps an seine Schwestern befinden sich im Besitze der Nachkommen Kapps (in der Folge zitiert als „Familienpapiere").

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Friedrich Kapp über seinen Vater

genug ausgelebt hat. So verfiel er in seinen späteren Jahren in den Widerspruch, daß er nachholen und nachleben wollte, was nicht mehr nachzuholen und nachzuleben war, und daß er sich manchen Mißdeutungen aussetzte, deren Vermeidung bei seiner sonstigen Bedeutung und hervorragenden Bildung ich lieber gesehen hätte. Doch wir können ihn nicht anders machen als er war, und wäre er nur der ausgezeichnete Lehrer gewesen, der wie wenige auf die Jugend einzuwirken und sie zu heben verstand, so würde er genug für seine Zeit geleistet haben. Für uns aber war er mehr. Ich besonders bin ihm ewig Dank dafür schuldig, daß er mich in meinen Bestrebungen nie hinderte, sondern, wo er konnte, meine Ziele förderte. Ohne seine Vorurteilslosigkeit wäre ich vielleicht bei meiner Anschauung der Dinge in den kleinlichen preußischen Verhältnissen längst verbittert und verkommen, während ich jetzt selbst meines Glückes Schmied bin und von meinem sauer erarbeiteten Besitze aus dem, was mich in der Heimat gedrückt haben würde, mit Prometheus zurufen kann: »Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte, die Du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut du mich beneidest.« Ich denke Vaters Andenken am besten dadurch zu ehren, daß ich auf meine eigene Kraft baue, mich so unabhängig wie möglich im Leben stelle und mit denselben finsteren Mächten den Krieg fortsetze, den er sein ganzes Leben lang energisch geführt h a t . . . " Neben dem Vater sind es dessen Brüder Alexander und Ernst gewesen, die — bei ähnlicher Begabung und Neigung — den jüngeren Friedrich Kapp stark beeinflußt haben. Alexander, 1799 in Ludwigstadt geboren, wandte sich dem Studium der Altphilologie zu und trat schon 1821 als außerordentlicher Kollaborator in das Gymnasium zu Hamm ein. Das war unmittelbar nach der Berufung des Bruders an die Anstalt und hing zweifellos damit zusammen. Über eine Oberlehrer- und Konrektorenstelle am Mindener Gymnasium gelangte er 1832 an das in Soest. Die Revolution von 1848 hat er aktiv offenbar nicht mitgemacht. Aber er teilte die politische Überzeugung des Bruders und entschloß sich während der preußischen Reaktionsjahre, in die freiere Schweiz 11

I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

auszuwandern. 1854 legte er sein Amt freiwillig nieder und siedelte mit seiner Familie nach Zürich über. Dort gründete er eine Erziehungsanstalt für Mädchen, die er mit seiner geistvollen Frau und zwei Töchtern leitete. Nebenher unterrichtete er am Züricher Polytechnikum. Er wurde Schweizer Bürger; 1869 starb er. Seine wichtigsten Arbeiten schrieb er in den dreißiger und zu Beginn der vierziger Jahre. Denn auch er begnügte sich nicht mit der voll Hingabe geübten Erziehertätigkeit. Zu ihrer theoretischen Unterbauung entstanden seine philosophisch-pädagogischen Schriften 1 . Die Hegeische Philosophie war ihr Ausgangspunkt und deutlich atmen sie den Geist ihrer Entstehungszeit: „Die Philosophie beginnt in unseren Tagen, nachdem sie sich in so vielen Seiten entfaltet hat, den Charakter der Allgemeinheit zu gewinnen, nach welchem sie bis jetzt vergebens gerungen hat" 2 . Historisches und systematisches Interesse durchdrangen sich gleichermaßen in Alexander Kapps Darstellung der Platonischen und Aristotelischen „Erziehungslehre". Er wollte nicht nur einen ihm notwendig erscheinenden Beitrag zur Geschichte der Erziehung liefern und zu ihrer Pflege auf den Hochschulen anregen 3 . Er wollte zugleich beweisen, „daß für die Wissenschaft unserer Zeit in jenen Lehren beider Hellenen eine ganz neue Aufgabe liege. Denn diese zeigen darin eine große Idee, welche sie bereits verfolgten und welche wir, wenn gleich unter anderen Gesichtspunkten, auch verfolgen sollen" 4 . Die große Idee ist: Staatspädagogik, und die anderen Gesichtspunkte ergeben sich aus dem dialektischen Geschichtsprozeß, in dem das Wesen des modernen Staates 1 Alexander Kapps Hauptwerke sind: Piatons Erziehungslehre als Pädagogik für die Einzelnen und als Staatspädagogik oder dessen praktische Philosophie, Minden und Leipzig 1833. Aristoteles' Staatspädagogik als Erziehungslehre für den Staat und die Einzelnen, Hamm 1837. Die Gymnasialpädagogik im Grundrisse, Arnsberg 1841. 2 Vgl. Alexander Kapp: Piatons Erziehungslehre usw. S. 399. Anm. 1. 3 Vgl. Alexander Kapp: ebenda Einleitung S. VI; dazu Aristoteles' Staatspädagogik usw. Einleitung S. VI. Ferner die kleine Abhandlung: Commentatio de historia educationis et per nostram aetatem culta et in posterum colenda, Hamm 1834. 4 Vgl. A. Kapp: Aristoteles' Staatspädagogik usw. Einleitung S. X X X V f .

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Alexander Kapp

sich entwickelt hat. Der moderne Staat ist zum Selbstbewußtsein herangereift; als ein Vernunftwesen im Großen soll er sich selbst erziehen 1 . Doch muß er sich vom Geist des Christentums leiten lassen. Denn als das Besondere im Gegensatz zum antiken Staat erschien Alexander Kapp, daß „in der Staatserziehung der neueren, christlichen Völker die Humanität ihren ganzen Inhalt entfalten" könne. Vor ihm, dem Jünger Hegels, stand der Staat in seiner vollen Majestät, aber in den halkyonischen Tagen, in denen er schrieb, sah er nur die geistige und sittliche Seite; die machtpolitische blieb ihm verborgen. „Der geistige Mensch reift erst im geistigen Staat" 2 . Von hier aus kam er zu sehr modern aussehenden Forderungen. Er will „Einwirkungen" des Staates auf die Erwachsenen aller Stände zu einer „wahrhaft ethischen Lebensordnung" und schlägt dafür korporative Gliederung aller beruflich Tätigen vor. Ehegesetze sollen gesunde Nachkommenschaft gewährleisten, körperliche Ertüchtigung als abwehrende Vorsorge die Volksgesundheit sichern; staatliche Organisation aller Hilfsmittel soll Verarmung verhüten. Der Staat muß sich um die Tätigkeit der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst kümmern, um dadurch auf die Bildung des Volkes zu wirken. Das schließt in sich die Sorge für Bibliotheken, Theater und Tagesliteratur, die einer geregelten Pressefreiheit zu unterwerfen ist. So sehr beschäftigte ihn die ethisch-pädagogische Aufgabe des Staates, daß er geradezu als dessen höchsten Zweck die Vervollkommnung des in ihm lebenden Volkes setzte. Einen Ausschnitt aus den Problemen der Erziehung behandelte Alexander Kapp in seiner Gymnasialpädagogik, der er, charakteristisch genug, als Motto den Satz aus Hegels Rechtsphilosophie voransetzte: „Die Pädagogik ist die Kunst, die Menschen sittlich zu machen; sie betrachtet den Menschen als natürlich, und zeigt den Weg, ihn wiederzugebären, seine erste Natur zu einer zweiten umzuwandeln, so daß dieses Geistige in ihm zur Gewohnheit wird". In den Begriffs1 „Der Staat will und soll sein eigener Erzieher werden und diese Aufgabe statt der außer und neben ihm stehenden Kirche selbst an sich lösen." Vgl. A. Kapp: ebenda S. X X X I X f . 2 A. Kapp: ebenda S.LI.

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I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

Schemata der Hegeischen Philosophie entwickelt er seine Gedanken über den Unterricht, dessen Stoff, die Methode und Disziplin. Interessant ist ein Anhang, in dem er eine Anweisung für Fußreisen mit Schülern gibt. Dabei stützte er sich auf seine eigenen Erfahrungen. Jahrelang h a t t e er in seiner Schule den Turnunterricht gegeben und war mit seinen Schülern und Kindern gewandert. Die ganze Energie und Lebenskraft, die ihn und seine Brüder auszeichnete, spricht aus seiner Schilderung. Es war ein unbeugsames Geschlecht, das bei aller Gelehrsamkeit weit davon entfernt war, seinen Lebenszweck nur in der geistigen Leistung zu sehen. Am eindringlichsten zeigt das der Lebenslauf des jüngsten Bruders Ernst Kapp, des geistig bedeutendsten unter seinen Geschwistern 1 . In Ludwigstadt 1808 geboren, verlebte er infolge des frühen Verlustes der Eltern eine traurige Kinderzeit. Als der ältere Bruder Friedrich in H a m m F u ß gefaßt hatte, holte er den Kleinen zu sich. Noch nicht siebzehnjährig bestand er an des Bruders Schule sein Abitur und wandte sich, dem Beispiel beider Brüder folgend, dem Studium der Altphilologie und dem Lehrer beruf zu. E r begann ihn am Gymnasium in Hamm auszuüben. 1830 vertauschte er die erste Stelle mit einer in Minden; dort stieg er zum Oberlehrer und Prorektor auf. Auch er besaß didaktisches Geschick in hohem Maß gleich seinen Brüdern. Dazu gesellte sich eine ursprüngliche spekulative Begabung, die ihn zur wissenschaftlichen Produktion drängte. Es scheint, daß er durch die Beschäftigung seines Bruders Friedrich mit Geographie und ihrer Unterrichtsmethode zuerst auf das Gebiet hingewiesen wurde, auf dem er dann vor allem sich betätigte. Zugleich waren es auch bei ihm Erfordernisse der Lehrstunden, die ihn zu seinen ersten Untersuchungen anregten. 1831 erschien im Programm des Mindener Gymnasiums ein Beitrag von ihm zum geschichtlich-geographischen Unterricht. 1833 1 Über Ernst Kapp vgl. Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 51, S. 31 ff. Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik, Jg. XX. 1898, S. 40 ff. Ferner Th. Berndt: Ältere Geschichte des Königlichen Gymnasiums in Hamm 1781—1836, Hamm 1909, S. 71. In diesem Abriß sind auch Notizen über die älteren Brüder Friedrich und Alexander enthalten: vgl. S. 65ff.

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Ernst Kapp

folgte ein Büchlein über die Einheit des geschichtlich-geographischen Schulunterrichts, zu dem er im selben Jahr als praktische Ausführung einen Leitfaden beim ersten Schulunterricht in der Geschichte und Geographie herausgab 1 . 1845 veröffentlichte er dann seine Philosophische oder Vergleichende Allgemeine Erdkunde 2 . In diesem Werk legte Ernst Kapp in umfassender Weise die Ergebnisse vor, die er während seiner Lehrtätigkeit in intensivem Studium gewonnen hatte. Sein Leitmotiv war, den Gesamtstoff der damals noch jungen Wissenschaft der Geographie ,,in das Gebiet des Gedankens zu versetzen" 3 . Das Werk erschien in jener Zeit „des Übergangs vom konstruktiven zum empirischen, vom idealistisch spekulativen zum realistischen Denken" (Meinecke). Schon der Titel „Philosophische oder Vergleichende Allgemeine Erdkunde" verrät Kapps Herkunft aus der Schule Karl Ritters. „Verglichen" wird nicht morphologisch der Inhalt der Wissenschaft, sondern die Geschichte der Bewohner mit der Natur ihres Schauplatzes. Dabei wird das kausale Verhältnis zwischen beidem erkannt. In dieser Methode konnte eine geographische Teleologie stecken, die Ernst Kapp weder vermieden hat noch vermeiden wollte. Zugleich ist sie eigentümlich verkoppelt mit geschichtsphilosophischer Spekulation Hegelscher Prägung 4 und insofern eingeengt in ein Gehäuse, das unbefangene Empirie nicht zuzulassen scheint. So kam es, daß ein berufener Kenner wie Oskar Peschel, als er 1869 1 Ernst Kapp: Die Einheit des geschichtlich-geographischen Schulunterrichts, Minden und Paderborn 1833. Leitfaden beim ersten Schulunterricht in der Geschichte und Geographie, Minden und Leipzig 1833; die 7. Auflage erschien 1870 in Braunschweig. 2 Studien, die vielleicht Vorarbeiten dazu bildeten, hatten schon 1836 eine Publikation veranlaßt: De incrementis quae ratio docendae in scholis historiae et geographiae cepit. Es war ein Verzeichnis der Literatur, die die Methodik des Geographieunterrichts betrifft. Joh. Gottfr. Lüdde setzte die Arbeit Kapps 1849 fort unter dem Titel: Die Geschichte der Methodologie der Erdkunde, Leipzig 1849. 3 Ernst Kapp: Philosophische oder Vergleichende Allgemeine Erdkunde als wissenschaftliche Darstellung der Erdverhältnisse und des Menschenlebens nach ihrem inneren Zusammenhang, 2 Bände, Braunschweig 1845, Vorrede, S. V. 4 Vgl. E. Kapp: ebenda Vorrede S. XII.

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I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

die zweite Auflage des Buches eingehend würdigte, über die Methode bemerkte: ,,. . . die Botschaft [kommt] heutigen Tages um zwanzig Jahre zu spät. Die Lehren der Geologie haben die Selbstvergötterung des Menschen streng und gründlich gedämpft" 1 . Gleichwohl ist mit dieser Kritik das Werk nicht abgetan; auch Peschel verschloß sich nicht den fruchtbaren Gedanken, die in den Forschungszielen der Ritterschen Schule lagen. Als die Methode als solche aufgegeben war, haben doch die Anregungen der Schule weitergewirkt. Friedrich Ratzel z. B. hat sie aufgenommen und sich dabei auch auf Ernst Kapp ausdrücklich berufen 2 . Im Wesen der Methode lag es, daß die Kapitel über politische Geographie den größten Teil des Kappschen Buches einnehmen. Der Verfasser sucht darzulegen, daß der Gang der Weltgeschichte in seiner Gliederung nach einzelnen Völkern durch die verschiedenen Festlandsräume der Erdoberfläche bestimmt worden sei. Entscheidend für deren Gestaltung aber war das Wasser in seinen Erscheinungsformen als Fluß, Binnenmeer und Ozean. So unterscheidet er das potamische, das thalassische und schließlich das ozeanische Weltzeitalter; d. h. die ältesten Staaten sind an den Strömen des Orients entstanden, die Staaten des klassischen Altertums am Mittelmeer; die führenden Staaten der Neuzeit am Ozean. Die Weltzeitalter haben jedoch nicht einfach einander abgelöst, sondern das frühere liegt jeweils als Moment im folgenden beschlossen 3 . Die Gewässer sind demnach konsti1 Vgl. 0 . Peschel: Uber die Beziehungen zwischen Geschichte und Erdkunde in seinen Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde, Leipzig 1877ff., S. 398 ff., urspr. veröffentlicht im „Ausland", Nr. 9, 27. Februar 1869. S. 198ff. — Sehr bezeichnend für die Ablehnung aller Spekulation und des „Hegeischen Formalismus" ist die absprechende Kritik, die die zweite Auflage des Werkes in der Historischen Zeitschrift Sybels, Bd. 21, S. 401 ff., 1869 erfuhr. 2 Friedrich Ratzel: Anthropogeographie, 2. Auflage, Stuttgart 1899, S. 15f. und S. 37. Grundgedanken der Biogeographie im 1. Teil von Ernst Kapps Buch, der sich mit der physischen Geographie befaßt, hat Ratzel systematisch ausgebaut. 3 Vgl. E. Kapp: Philosophische usw. Erdkunde, Bd. 2, 1. Auflage S. 98: „Die thalassischen Gebiete und ihre Kulturerfüllung, in der alten Zeit Ziel der Geschichte, wurden nach dem Gesetz aller Entwicklung auf der höheren Stufe der ozeanischen Welt Momente, sie haben Bedeutung

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Die philosophische Erdkunde

tutive politische Mächte. Nach Kapp kommt „der Begriff der neuern Zeit. . . nur durch das Moment der Oceanität zu Stande, indem der Ocean, als das Element der Unruhe, die Bewegung, welche vor Schlaf und Tod schützt, an die Nationen bringt, indem er als allgemeines Yölkerband Handel und Wandel hervorruft.. ." 1 . Es ist kein Zufall, daß Seeley in seinem Buch „Expansion of England" den Begriff der Ozeanität als Bestimmungsfaktor für die neuere Geschichte aufgegriffen und sich dabei auf Kapp bezogen hat 2 . Darin liegt ein tieferer geistesgeschichtlicher Zusammenhang; denn die imperialistische Bewegung, als deren literarischer Vorkämpfer in England Seeley mit Recht gilt, hat in Kapp einen Vorläufer gehabt3. Was diesen zu seinen Untersuchungen antrieb, war nicht das wissenschaftliche Interesse allein, sondern zugleich eine starke politische Leidenschaft. Geographie war für ihn „eine tief . . . in das Leben des Staates eingreifende Wissenschaft". Er verband mit ihr nationalpädagogische Absichten: „Sie soll den Nationen . . . ein klares Bewußtsein von ihrer weltgeschichtlichen Bestimmung und die Einsicht, wie die Lebensordnung der Natur ihres Landes entsprechend zu regeln sei, vermitteln helfen"4. Für Deutschland hatte Kapp eine besondere Bestimmung vor Augen. „Seiner räumlichen Mittellage im europäischen Continent entsprechend wird es auch die geistigen Richtungen der übriund Geltung nur in dieser, nur in so weit sie berührt und durchdrungen werden von ozeanischen Mächten." 1 Vgl. ebenda Bd. 2, 1. Auflage, S.73ff, ferner S. 128. 2 Vgl. Seeley: Expansion etc. (Tauchnitz) S. 98: In the school of C. Ritter much has been said of three stages of civilisation determined by geographical conditions, the potamic which clings to rivers, the thalassic, which grows up around inland seas, and lastly the oceanic. This theory looks as if it had been suggested by the change which followed the discovery of the New World, when indeed European civilisation passed from the thalassic to the oceanic stage. — Über Seeley vgl. A. Rein: Sir John Robert Seeley, Eine Studie über den Historiker, Langensalza 1912, S. 76ff. Ferner: Die Ausbreitung Englands, herausgegeben und einr geleitet von Karl Alexander von Müller, Berlin und Leipzig 1928. S. S. X X I V f f . 3 Vgl. A. Rein: Das Problem der Europäischen Expansion in der Geschichtsschreibung (Übersee-Geschichte, Bd. 1) Hamburg 1929, S. 30f. 4 Ebenda Vorrede S. I X und Bd. 2, 1. Auflage, S. 193. 2

Königgb. hist. Forsch.

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I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

gen Nationen in sich zur Vermittlung bringen. Hierdurch auf die Bahn zu einem alle überragenden Standpunkt geleitet, muß es die Aufgabe seiner Zukunft, allordnend die Geschicke der Welt zu bestimmen, immer entschiedener offenbaren" 1 . Noch bevor in Deutschland die nationale Einigung vollzogen war, steckte Kapp das Ziel bereits sehr viel weiter. Seine Hoffnung setzte er dabei auf den Zollverein: „Seine nächsten Consequenzen sind Belebung und möglichste Hebung des internationalen Verkehrs durch Steigerung der Communicationsmittel, ferner Ausdehnung über alle deutsche und germanische Nachbarstaaten, Erschaffung einer Marine und überhaupt oceanische Geltung. Dadurch wird der Zollverein der Träger auch des deutschen Geistes" 2 . Ozeanisch und germanisch waren für Kapp schlechthin identische Begriffe. Die Ablösung des thalassischen durch das ozeanische Prinzip bringt daher notwendig den Sieg des germanischen. „Dieser Sieg ist aber nur dann der wahre, wenn das neue Princip nicht durch Vernichtung des Vorhandenen, sondern durch Aneignung und Aufhebung desselben zum Leben kommt" 3 . . . Man sieht, wie sich hier machtpolitische Wünsche mit Gedanken einer deutschen Mission eigenartig mischen. Der Akzent liegt doch auf dem zweiten. Die durch idealistische Spekulation genährte Ideologie überwuchert das wirklich Erreichbare. Denn noch fehlte die Erfahrung machtpolitischer Auseinandersetzung 4 . Nach all dem kann es nicht verwundern, daß das Jahr 1 Ebenda Bd. 2, 1. Auflage, S. 298. 2 Ebenda Bd. 2, 1. Auflage, S. 339. Vgl. auch S. 342 ff. und. S. 351: „Des deutschen Volkes Aufgabe aber ist keine andere als die, daß es das Geschäft eines Mittlers auf sich nimmt zur dereinstigen politischen Erlösung der Welt." 3 Ebenda Bd. 2, 1. Auflage, S. 166. 4 Es mag dahingestellt bleiben, ob eine der Wurzeln der imperialistischen Gedankengänge Kapps im klassischen Humanitätsideal zu suchen ist, das in der deutschen Nation als reinster Geistes- und Kulturnation die eigentliche Menschheitsnation sah. Ohne tieferes Eingehen auf die Genesis des imperialistischen Denkens in Deutschland überhaupt ist die Frage nicht zu entscheiden. — Interessant sind die Veränderungen in der zweiten Auflage der Philosophie der Erdkunde, die 1868 ersohien und die deutlich die Erfahrungen widerspiegelt, die K a p p seit der ersten Auflage hatte machen können. 18

Publizistische Tätigkeit 1848

1848 auch Ernst Kapp hoffnungsfreudige Erregung brachte. Es entsprach seiner aktiven Natur und der jahrelangen theoretischen Beschäftigung mit dem Wesen des Staates, daß er in den publizistischen Kampf der Re volutions jähre mit einer Broschüre eingriff. Sie trug den Titel: Der Constituirte Despotismus und die constitutionelle Freiheit. Seine Auffassung vom Staat als Organismus und seine Meinung, daß die soziale Frage „der Kern der ganzen politischen Bewegung des Jahres 1848" sei, waren die darin vorgetragenen Grundgedanken1. Zu dem Organismusbegriff paßte Kapps Ab» lehnung einer Volksvertretung auf Grund allgemeiner Wahlen. Das Frankfurter Parlament der Paulskirche griff er deshalb an. Er sah darin „eine unwahre, aller Unterschiede innerer Gliederung entbehrende" Nachahmung französischer Vorbilder, während „der Grundtypus des germanischen Staates . . . das ständische Wesen" sei2. Eine ständisch gegliederte Volksvertretung muß die Krönung einer Stufenfolge sein, die mit einer gewählten Gemeindevertretung beginnend, über Kreis und Provinzialstände bei der Landesvertretung endet. Nur in solchem ständischen Aufbau kann die Teilnahme jedes Bürgers am Staatsganzen geweckt werden3, und nur eine ständisch zusammengesetzte Volksvertretung gewährleistet Schutz vor „constituirtem Despotismus". Das monarchische Prinzip muß, selbst in Republiken, erhalten bleiben, denn „eine oberste und letzte Entscheidung . . . muß vorhanden sein"4. In einem Staat also mit einer organisch sich aufbauenden Volksvertretung unter einem Staatsoberhaupt, das über allen Parteien steht, glaubte Kapp „die constitutionelle Freiheit" verwirklicht5. 1 Die Auffassung vom Staat als einem Organismus hat Kapp schon in seiner Philosophischen Erdkunde durchgeführt, auf die er in seiner politischen Broschüre mehrfach sich bezieht. Das Zitat vgl. E. Kapp: Der Constituirte Despotismus usw., Hamburg 1849, S. 50. Vgl. auch ebenda S. 24. 2 Ebenda S. 60. 3 Vgl. dazu ebenda S. 64f., ferner Philosophische Erdkunde, Bd. 2, 1. Auflage, S. 86. 4 Ebenda S. 72. 5 Die Übereinstimmung mit gewissen Steinschen Gedanken ist auffallend. Tatsächlich lassen Einflüsse sich nicht nachweisen. Für die Ent2*

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I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

So wie Kapp den Staat als Ganzes mit dem menschlichen Organismus verglich und eine vollkommene Übereinstimmung fand, so entsprechen, nach einer etwas gewaltsamen Konstruktion, den Funktionen eines Organismus auch vier Stände im Staat: der Nährstand, der Stand des Handels, des Gewerbes und der Industrie, der Stand der Intelligenz und der Stand der Arbeit. „Arbeiten müssen freilich alle Stände, aber wir wissen, was wir heutiges [!] Tages unter »Arbeiter« ganz insbesondere zu verstehen haben. Diese Arbeiter haben keinen Besitz an Capital oder an Grund und Boden, welchen sie ausbeuten könnten, diese Arbeiter haben nichts als ihren Arm, ihr Capital ist die Arbeitskraft ihrer Hände"1. Die Arbeit aber trägt nach Kapp einen sittlichen Adel, denn erst sie als bewußte Tätigkeit macht den Menschen zum Menschen und damit zum Staatsgeschöpf. „Die Arbeit ist die Seele der Cultur"2. Mit der Lösung des Arbeitsproblems, nämlich mit der erfüllten Forderung, „daß die Arbeit den ihr entsprechenden Platz in der Thätigkeit des Staatsorganismus einnehmen müsse"3, ist auch die Lösung der sozialen Frage unmittelbar verknüpft. Auf die politische Erziehung und die soziale Anerkennung des vierten Standes kommt es an. „Das ist die Panacee der socialen Leiden, welche den gährenden Elementen der Gesellschaft die Wohltat des organischen Gleichgewichts verleihen wird"4. Diese Zuspitzung auf das Erziehungsproblem entsprach dem praktischen Idealismus, dieses Geschlechts, der sich pädagogisch färbte (Westphal). Man bemerkt in diesen Gedankengängen leicht die Elemente verschiedenartiger Herkunft; eine Staatsauffassung, die, erwachsen aus Einsichten des Geographen, doch geformt ist von romantischen und idealistischen Einflüssen. Dazu gesellen sich Vorstellungen, die anzuklingen scheinen an Lehren des damaligen sogenannten philosophischen Sozialismus. Der Schluß, daß Ernst Kapp diese Lehren vertraut waren, liegt nahe. Sein Neffe Friedrich hat sich in den Jahren vor der stehung dieser Gedanken darf vielleicht der westfälische Boden mit in Betracht gezogen werden, auf dem einst auch der Freiherr vom Stein fruchtbare Anregungen empfangen hatte. 1 Ebenda S. 46 f. 2 Ebenda S. 46. 3 Ebenda S. 48. 4 Ebenda S. 87.

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Auswanderang nach Texas

Revolution mit ihnen auseinandergesetzt und stand mit ihren Verkündern zum Teil in persönlicher Berührung. Wir kommen darauf später noch zu sprechen. Wesentlich ist, daß die Anschauungen, die Kapp vortrug, zusammengehalten waren von einem persönlichen Ethos: er stand für seine Überzeugungen ein. Die Broschüre erregte bei Kapps vorgesetzter Behörde, dem Provinzialschulkollegium, Anstoß, eine Tatsache, die angesichts der freimütigen Kritik 1 nicht merkwürdig erscheint. Der Verfasser mußte sich die Einleitung eines Disziplinarverfahrens und kränkende Zurücksetzung gefallen lassen. Da legte er sein Amt aus eigenem Entschluß nieder: „Von jeher begeistert für alles, was humane Bildung heißt, aber Feind jeder knechtischen Form ihrer Ausübung, Todfeind jeder Schablonendressur des Geistes, scheide ich freiwillig aus meinem Lehramte. Der ehrliche Mann erhält sich das Bewußtsein der Wahrheit gegen sich und andere um jeden Preis. Unbeirrt durch achtungswerthe Anträge, welche mir anderwärts ein Auskommen versprechen, verlasse ich Deutschland, um zunächst Bequemlichkeit mit Mühsal, die gewohnte Feder mit dem ungewohnten Spaten vertauschend, als freier Mann meinen Fuß auf freie Erde zu setzen" 2 . Der Vierzigjährige hatte beschlossen, mit seiner tapfern Frau und fünf Kindern, von denen das älteste dreizehn, das jüngste zwei Jahre zählte, in Texas zu farmen. Er erlernte die wichtigsten Handwerksgriffe und ließ sich 1849 in Sisterdale am Guadalupefluß nieder. Dort wurde er ein Pionier des Deutschtums. Die Gegend, in der er sich eine neue Heimat gründete, hieß scherzweise „das lateinische Settlement". Denn es befand sich dort eine Ansiedlung von Deutschen, die meist wie Kapp aus politischen Gründen das angestammte Vaterland verlassen hatten und aus sozial höheren Schichten kamen. Mit zähem Fleiß hatten die zum Teil nicht völlig unbemittelten Menschen sich eine neue Existenz geschaffen. Sie 1 „Die vorhandenen Autoritäten sind abgenutzt und haben sich überlebt." Vgl. ebenda Vorwort, S. VIII. 2 W. Wolkenhauer: „Dr. Ernst Kapp" in Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik. Jg. XX, 1898, S. 42. Dem Verfasser dieses Nekrologs haben offenbar Familienpapiere vorgelegen, die mir unerreichbar waren.

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I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

bauten gute Häuser, sie besaßen Bibliotheken und Musikinstrumente. So wurde dort in einer von der Natur reich gesegneten Gegend deutsche Kultur gepflegt 1 . Kapp legte nach und nach eine große Farm an mit Baumwollkulturen und Schafzucht. Daneben hatte er eine Kaltwasserkuranstalt. Er war ein überzeugter Anhänger dieses Hilfsmittels zur Ab1 Vgl. W. Kaufmann: Die Deutschen im amerikanischen Bürgerkrieg, München und Berlin 1911, S. 146f. —• Anschaulich schildert das Leben der Deutschen in Sisterdale Julius Pröbel (in: Ein Lebenslauf, Stuttgart 1890f., Bd. 1, S. 477f.): „Gegen Ende des Monats Juni [1853] war ich in San Antonio, wo ich mich in einen Kreis von Deutschen versetzt sah, die mir mit Beweisen von Achtung und Freundschaft entgegenkamen. Ich ließ mich dadurch zu einem kurzen Aufenthalt bestimmen, während dessen ich eine deutsche Niederlassung am oberen Guadalupeflusse besuchte. Soviel ich später vernommen, ist sie in dem großen Bürgerkriege vernichtet oder wenigstens schwer heimgesucht worden, wobei mehrere Personen, welche ich bei meinem Besuche kennen lernte, den Tod gefunden haben. Damals wohnten hier, sich dem Landbau widmend, mit ihren Familien Männer von höherer Bildung, wie Ottmar von Behr und der als Gelehrter bekannte ehemalige Professor Kapp, in deren Wohnungen ich ausgewählte Litteratur, Gemälde, Pianos mit Noten klassischer Musik und andere Gegenstände eines verfeinerten Lebens vorfand. Der erste Mensch, welcher mir in dieser von Wildnis umgebenen Oase deutscher Bildung und Genialität zu Gesicht kam, war der ehemalige Preußische Lieutnant von Donop, den ich auf dem Felde hinter dem Pfluge hergehend antraf. Auf dem erhöhten Flußufer stand die Wohnung Behrs, von welchem ich gastfreundlich empfangen wurde. Ich sah mich bei ihm in einer interessanten Geniewirtschaft, zu der es ohne Zweifel gehörte, daß sich einige nicht mehr ganz kleine Kinder beiderlei Geschlechts nackt präsentierten. Von da zu Kapp mußte ich über den Fluß, was bei der Beschaffenheit der Ufer und dem Wasserstande zu Pferde nicht für ratsam gehalten wurde. Ich ging, meine Kleider in einem Bündel auf dem Kopfe tragend, bis an den Hals durch das Wasser, darauf vorbereitet, im Notfalle meine Zuflucht zum Schwimmen zu nehmen. Hegels Werke in Kapps Bibliothek, in welcher ich zu meiner Beschämung sogar meine »Soziale Politik« sah, nahmen sich an diesem Orte der Welt wunderlich genug aus. Als neue Litteratur fand ich hier das mir noch unbekannte Heinesche FaustTanzpoem. Als ich aber mit Kapp auf einem Spaziergange, diese Dichtung in der Hand, mich im Freien setzte, umringte uns zutraulich eine Herde wunderbar zahmer Schweine, die ich bei meiner Ankunft, ein Töchterchen des Herrn Professors zu Pferde im Galopp hatte eintreiben sehen. So grenzten hier rohe und gebildete Lebenszustände in idyllischer Eintracht hart aneinander. Im Hofe an Kapps Hause hing ein von dessen Sohn erlegter Bär, von welchem ich, wenn ich mich recht erinnere, eine Keule habe verzehren helfen."

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Politische Stellungnahme

härtung des Körpers. Auch literarisch ist er für seine Verbreitung eingetreten mit einer kleinen reizvollen Biographie J. H. Rausses, „des Reformators der Wasserheilkunde". Er schloß sie ab an Bord des Schiffes, das ihn und die Seinen in die neue Welt brachte 1 . Trotz der ungewohnten, schweren Arbeit auf seiner Farm behielt Kapp genügend geistige Spannkraft für eine sorgfältige Erziehung seiner Kinder, insbesondere seiner Söhne, denen er eine humanistische Bildung zuteil werden ließ. Mit der Flinte und dem Homer wuchsen die Knaben auf. Ein lebhafter brieflicher Austausch hielt die Verbindung mit der alten Heimat aufrecht. Der amerikanische Sezessionskrieg mit seiner scharfen Parteibildung brachte auch in die friedliche deutsche Ansiedlung Spannungen. Sie hingen mit der Beurteilung des Sklavereiproblems zusammen und mit der Politik, die der Repräsentant von Texas in Washington während der Reorganisationsperiode durchführte. Die Folge der Entwicklung war, daß die ersten Ansiedler zum guten Teil in andere Gegenden zogen und daß ihre Besitzungen in neue Hände übergingen. Ernst Kapp stand auf Seiten der Sklaven haltenden Konföderierten im Gegensatz zu weitaus den meisten Deutschen in den Vereinigten Staaten während des Bürgerkrieges, auch zu seinem Neffen Friedrich, dessen Stellung noch ausführlich zu behandeln sein wird. Seine persönlichen Erfahrungen als Farmer in einem Südstaat ließen ihn trotz seiner freiheitlichen Humanitätsideale zu einer entgegengesetzten Entscheidung gelangen wie seine Landsleute in den Nordstaaten. Denn diese lebten unter anderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen und urteilten weit stärker aus theoretischen Erwägungen heraus als Ernst Kapp 2 . Im Jahre 1 E. Kapp: J. H. Rausse, der Reformator der Wasserheilkunde, Hamburg 1850. 2 Die Kenntnis der Stellung Ernst Kapps im Sezessionskrieg verdanke ich der Freundlichkeit seines Enkels, Herrn Prof. E. Kapp in Hamburg. Die Angaben W. Kaufmanns (a. a. O. S. 148) sind danach nicht richtig. — Ernst Kapp teilte auch nicht die Auffassung seines Neffen Friedrich von dem Farmerleben der gebildeten Deutschen in Amerika, wie dieser sie später (1852) in seinem Aufsatz über die „lateinischen Bauern" niederlegte. (Vgl. Kap. 4, S. 74ff. dieser Arbeit). Man wird dabei nicht

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I. Teil. I. Kap.: Vorfahren

1865 betrat er zum ersten Mal wieder deutschen Boden. Seine finanziellen Verhältnisse ermöglichten ihm ein Leben als unabhängiger Mann. Der begonnene politische Umschwung in Deutschland bewog ihn, ins alte Vaterland heimzukehren. Er ließ sich in Düsseldorf nieder, nun wieder der ehemaligen wissenschaftlichen Tätigkeit zugewandt. Als erstes galt es, die Philosophische Erdkunde neu zu bearbeiten. Dann begab sich Kapp auf ein Gebiet, das in der damaligen Zeit noch völlig unbeachtet dalag. Die fruchtbare Problemstellung war nicht einmal erkannt; es handelte sich um die Philosophie der Technik. 1877 erschien zu Braunschweig das Buch: „Grundlinien einer Philosophie der Technik". Kapp gab ihm den Untertitel: „Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten". Das Werk war das Ergebnis von Erfahrungen seines Farmerlebens. Er versuchte darin, das Wesen der Technik aus dem Prinzip der „Organprojektion" zu erklären. Den Gang seiner Darlegung faßte er selber kurz so zusammen: „Zunächst wird durch unbestreitbare Thatsachen nachgewiesen, daß der Mensch unbewußt Form, Funktionsbeziehung und Normalverhältnis seiner leiblichen Gliederung auf die Werke seiner Hand überträgt und daß er dieser ihrer analogen Beziehungen zu ihm selbst erst hinterher sich bewußt wird. Dieses Zustandekommen von Mechanismen nach organischem Vorbilde, sowie das Verständnis des Organismus mittels mechanischer Vorrichtungen, und überhaupt die Durchführung des als Organprojektion aufgestellten Princips für die, nur auf diesem Wege mögliche, Erreichung des Zieles der menschlichen Thätigkeit, ist der eigentliche Inhalt dieser Bogen"1. Das Ziel menschlicher Tätigkeit aber ist beschlossen in der Arbeit „für die Zwecke des Staates als berufsständische Arbeit" 2 . Es handelt sich bei der Untersuchung letztlich um einen Beitrag zur Erkenntnistheorie. Ein „neuer thatsächlicher Ausgangspunkt" sollte geschaffen werden für die Wahrheit, „daß die Culturwelt in ihrer Rückbeziehung auf das proji-

übersehen dürfen, daß deutschen Einwanderer 1 Vgl. E. Kapp: Vorwort, S. Vf. 2

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die Verhältnisse in Sisterdale für die farmenden besonders günstig lagen. Grundlinien zu einer Philosophie der Technik, Ebenda S. 347.

Die Philosophie der Technik

cirende menschliche Selbst allein geeignet ist, weiteres Licht über das geheimnisvolle Dunkel zu verbreiten, in welches annoch die wichtigsten Vorgänge des organischen Lebens gehüllt sind. In zweiter Instanz an den Dingen sich messend, erkennt der Mensch sich als das Maß der Dinge in erster Instanz!" 1 Es ist ohne weiteres deutlich, wie diese Konzeption an der Wurzel zusammenhängt mit den früheren Forschungen Kapps, auch wenn das Ziel in einer neuen Richtung liegt. Ihr Nährboden ist derselbe wie ehedem, wenn schon der in den dazwischen liegenden Jahren vollzogene Wandel in der wissenschaftlichen Forschung zu Positivismus und Materialismus an Polemik, aber auch an gelegentlicher Zustimmung in dem Werke klar zu fassen ist. Dem Verfasser war noch ein langer Lebensabend beschieden in körperlicher Rüstigkeit und geistiger Frische. Er starb erst 1896. Mit ihm ging einer der letzten Vertreter eines Menschentypus dahin, wie es ihn so nur in Deutschland während einer bestimmten Epoche gegeben hat. Sie gehörten einer akademischen Bildungswelt an, wurzelten in einem Kosmos universaler Ideen und schöpften aus ihm die geistigen und ethischen Antriebe zur Gestaltung ihrer Werke und ihres Lebens. Es war eine geistige Aristokratie, die unberührt von den Erfahrungen machtpolitischer Kämpfe trotzdem die politische Entwicklung Deutschlands, das Erstarken des nationalen und freiheitlichen Gedankens nachdrücklich gefördert hat. Sie wurde abgelöst durch die Generation, der Friedrich Kapp angehörte. Der Art, wie sie ihre Aufgaben löste, wenden wir uns jetzt zu, indem wir sein Leben betrachten. 1 Ebenda S. 28.

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I. Teil. II. Kap.: Kindheit und Studienzeit

II. KAPITEL

Kindheit und Jugend in Hamm. Studienzeit in Heidelberg und Berlin (1824—45) Wir haben die geistige Atmosphäre kennen gelernt, in der Friedrich Kapp aufwuchs. Die Menschen seiner Umgebung waren trotz der engen Verhältnisse, in denen sie lebten, voll idealen Schwunges und geistiger Regsamkeit, ihrer selbst gewisse Naturen mit einem autonomen Sittlichkeitsempfinden. Die Bindungen, die aus einem kräftigen Familiensinn und Standesbewußtsein erwachsen und in heimatlicher Erde verwurzelt waren, wirkten noch nach und begannen nur unmerklich sich zu lockern. Friedrich Alexander Kapp kam am 13. April 1824 als zweites Band und erster Sohn unter fünf Geschwistern in Hamm zur Welt. Die niederdeutsche Heimat bekundete sich schon in seinem Aussehen, dem Erbteil der Mutter: eine hohe breitschultrige Erscheinung mit blauen Augen und lockigem blonden Haar. Auch den urwüchsigen Humor, der sich in derber Drastik wie in anmutiger Schalkhaftigkeit äußerte, und das heitere Gemüt, das Leben und Menschen nahm wie sie sind, hat er wohl von der Mutter überkommen. Aus der väterlichen Familie stammte die historisch-wissenschaftliche Begabung, die politische Leidenschaft, ein starker pädagogischer Trieb, die gesunde, in der Jugend oft überschäumende Lebenskraft. Das Kind entwickelte sich langsam. Erst der Drei- oder Vierjährige lernte sprechen, eine Geduldsprobe für den ehrgeizigen Vater. In der Schule wurde er ein tüchtiger Schüler, aber Primus durfte er als Direktorssohn nie sein; er mußte sich mit dem zweiten Platz begnügen. Über der geistigen wurde die körperliche Ausbildung nicht vernachlässigt. Mit Turnen, Schwimmen, Wandern, das auch der Student weiter trieb, wurde der Körper gestählt. Die anfängliche Sorge des Vaters, der Junge könnte die Veranlagung zur Schwindsucht von der 26

Schulzeit

Mutter geerbt haben, blieb unbegründet. Er wuchs frisch und fröhlich heran. Sogar im Konfirmandenunterricht, den Knaben und Mädchen gemeinsam hatten, konnte er seinen Übermut nicht zügeln und meldete sich einmal züchtig, während der Schalk in seinen Augen saß: „Herr Pastor, sagen Sie doch der Rieken Schulz, daß sie mich nicht immer so ankuckt!" Worauf das empörte, unschuldige Rieken in die Höhe fuhr: „Der abs-cheuliche Junge, ich habe ihn ja gar nicht angekuckt!" Bei der ausgesprochen humanistischen Erziehung, die ihm vom Vater zuteil wurde, verstand es sich von selber, daß ihm die Stadtmauer und die mittelalterlichen Türme Soests, das er von Besuchen bei dem Onkel Alexander her kannte, in seiner Phantasie wie das alte Troja vorkam. Dem früh sich regenden historischen Sinn gaben Wanderungen in der an geschichtlichen Denkmälern reichen Heimat Nahrung. Von dem siebzehnjährigen Primaner sind Briefe an den Vater erhalten, der zu einer längeren Kur abwesend sein mußte. Ein wenig altklug, geben sie doch ein gutes Bild von dem Schulleben des Gymnasiasten, und so möge einer aus der Reihe hier folgen 1 : Hamm, den 10. August 1841. Lieber Vater! Nichts hat uns in den letzten Tagen mehr Freude verursacht, als Dein Brief, den wir gestern erhielten, Nödden 2 lief zweimal täglich auf die Post; aber wir mußten bis heute [!] warten. Desto beruhigender und erfreulicher war aber auch sein Inhalt. Das Deine Gesundheit Betreffende habe ich sogleich einigen der Herren Lehrer und meinen Mitschülern mitgeteilt. Die letzteren erkundigten sich gleich nach Deiner Rückkehr, und lassen Deine herzlichen Grüße dankbar erwidern; zugleich aber bitten wir Dich, in einem spätem Briefe den Tag Deiner Rückkehr ganz bestimmt anzugeben, da die Prima mit den älteren Sekundanern Dir entgegenzugehen und [Dich] feierlich einzuholen wünscht. Doch das hat ja noch 1 Dieser sowie alle übrigen Briefe an den Vater befinden sich unter den Familienpapieren. 2 Der jüngste Bruder Otto.

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I. Teil. II. Kap.: Kindheit und Studienzeit

vier bis sechs Wochen Zeit. Über die häuslichen Angelegenheiten werden Dir Amalie und Ida 1 genug schreiben, deshalb melde ich Dir kurz, wie es jetzt bei uns in der Sehlde geht. Der Herr Rektor Rempel erfüllt mit einer ungemeinen Sorgfalt und lebendigem Eifer die Direktorialgeschäfte, er scheint sich auch recht über sein ihm übertragenes Amt zu freuen, denn wo er es nur anbringen kann, nennt er sich „den zeitigen Dirigenten der Anstalt." Wenn die kombinierten oder Deine andern Lehrstunden auch bei weitem den Deinigen nicht gleichkommen, so haben sie ganz unsere Erwartungen übertroffen. Im Französischen lesen wir das bekannte neue Schauspiel von Eugène Scribe: „Le verre d'eau." (Die Geschichte mit der Herzogin Marlborough und der Königin Anna); im Griechischen lesen und übersetzen wir teilweise schriftlich die Euripideische Iphigenia Taurica; die eine Mathematikstunde wird zur Mineralogie benutzt, im Virgil und Sallust werden wir auf ein ganz neues und uns bisher unbekanntes Feld geführt, und selbst Konrektor Hopf bemüht sich uns die Stunde so angenehm als möglich zu machen, indem er uns das neueste Werk über die Einheit des Homer von Gepper vorliest. In den übrigen Lehrstunden ist's natürlich noch wie früher. In der Klasse ist bisher nichts Bemerkenswertes vorgefallen und so geht alles seinen alten Gang. Dennoch aber fehlt die leitende Hand, wie wir schon in vielen Fällen gesehen haben . . . Da ich, wie Du leicht denken kannst, in den Ferien 2 nichts Bedeutendes arbeiten konnte, so habe ich die Zeit nach meiner Rückkehr desto gewissenhafter dazu benutzt. Meine beiden deutschen Aufsätze sind schon fertig, ich will die Reisebeschreibung jetzt anfangen, und ebenso sind die beiden lateinischen Arbeiten schon abgegeben. Da Du wahrscheinlich doch vor Mitte September nicht zurückkehrst, so bitte ich Dich, das Thema für die Rede auf den 15. Oktober doch genauer zu bestimmen. Wenn ich nicht irre, hieß es: „Parallele 1 Die beiden Schwestern. 2 Er hatte mit dem Bruder Karl während der Ferien eine Wanderung durch Westfalen gemacht.

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Wahl der Universität Heidelberg

zwischen Friedrich dem Großen und Napoleon"; soll es dabei bleiben? Wir wünschen es alle zu wissen. Die Stelle in Deinem Briefe über den Schriftstellerruhm der Familie Kapp hat mir bewiesen, daß ihr auch die verdiente Anerkennung widerfährt. Doch darf es bei diesem Ruhme nicht bleiben, er muß sich mehren, und auch ich hoffe einst zu dessen Vergrößerung mein Scherflein beizutragen. — In Minden habe ich die Rosenkranzische Psychologie repetiert und außerdem hat Onkel1 mich noch vieles Neue gelehrt, so z. B. den Unterschied zwischen Seele, Bewußtsein und Geist; auch von Funke, einem sehr geistreichen und tüchtig gebildeten Mann habe ich manche bessere Ansicht und Idee gelernt. (IST. B. ich vergesse nicht, Dich auf seinen Aufsatz im dritten Hefte des Freihafens, 1840: „Über das ewig Weibliche mit Bezug auf Goethes Faust" aufmerksam zu machen, das Beste, was bisher nach Onkels Ansicht, über den Faust erschienen ist.) In Bückeburg zeigte mit der Archivrat Strauß eine Handschrift Herders. Es war eine Art von Konduitenliste über die Bückeburger Schulen; unten am Rande standen die Taciteischen Worte: „Quae sine ira et studio, quorum causas procul habeo." Bei jenem jedoch bewährt sich auch das Sprichwort: Docti male pingunt. Hoffentlich wirst Du meine Handschrift auch verzeihen, wenn ich Dir verspreche, einst ein doctus oder gar doctissimus zu werden . . . Im Früjahr 1842 bestand Friedrich Kapp seine Abgangsprüfung vom Gymnasium und bezog zum Sommersemester die Universität Heidelberg. Er sollte Jura studieren; denn die bescheidenen Mittel des Vaters erlaubten nur ein Brotstudium. Daß die Wahl auf Heidelberg fiel, hatte verschiedene Gründe. Die Erinnerungen des Vaters an seine eigenen Studien dort mochten mitsprechen. Dann lebte seit 1833 ein entfernter Vetter des Vaters, Christian Kapp mit seiner Familie in Heidelberg. Den Ausschlag wird der gute Ruf der Universität, gerade auch der juristischen Fakultät, gegeben haben. Für Friedrich Kapp wurde es bedeutsam, daß er an diese südwestdeutsche Hochschule nach Baden geriet. 1 Des Vaters Bruder Ernst Kapp.

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I. Teil. II. Kap.: Kindheit und Studienzeit

Heidelberg stand seinem Rang nach über dem einer Landesuniversität. Freiburg sollte speziell badischen Bedürfnissen gerecht werden. Heidelberg dagegen „hatte die Aufgabe eine allgemeine deutsche Hochschule zu sein, Zuhörer aus allen Ländern, aus je mehreren je besser, anzuziehen, ihnen also Entsprechendes zu bieten . . Friedrich Kapp faßte seine Beobachtungen bald nach seiner Ankunft in Heidelberg einmal treffend zusammen in einem Brief an seinen Vater 2 : „An keinem andern Orte Deutschlands wird, meines Erachtens, das akademische Leben freier und ungebundener sein als gerade hier in Heidelberg. Der Student ist und gilt alles, nach ihm richtet sich alles, er bringt Leben und Geld in die Stadt. Dazu sind fast lauter reiche Ausländer hier, besonders kurländischer, mecklenburgischer, pommerscher, holsteinischer Adel, außerdem reiche Schweizer, Wallachen und Moldauer. Die ärmeren badischen Landeskinder gehen alle nach Freiburg, wo sie mit der Hälfte ihres hiesigen Wechsels noch besser leben können als hier. 9/io sind auswärtig, a / 10 einheimisch. Die Lage Heidelbergs zieht die meisten an, die wieder fast alle Juristen sind. Kommt man in eine Kneipe, so hört man über nichts anderes als juristische Materien sprechen, über Vangerow, Mittermaier, Roßhirt usw., kurz die anderen Fakultäten kommen gar nicht in Betracht. Die theologische Fakultät, obwohl mit einigen berühmten Lehrern besetzt, zählt einen Studenten weniger als Professor, welches Mißverhältnis jedoch nicht so auffallend ist, als es dereinst in Greifswald war, wo in einer großen Gesellschaft alle plötzlich an die Fenster eilen, mit Fingern auf die Straße deuteten und verwundernd ausriefen: Da geht er, da geht er!i Auf die Frage eines Fremden, wer diese merkwürdige Person sei, erfolgte die Antwort: »Unser Student!« Die Hälfte der Ausländer sind Preußen; aber natürlich lauter Juristen, bei Vangerow sitzen jetzt gewöhnlich 200 Zuhörer. Für Philosophie ist, wie ich Dir schon geschrieben habe, gar nichts zu 1 Vgl. R. von Mohl: Lebenserinnerungen, Stuttgart und Leipzig 1902, Bd. I, S. 219. Mohl kam zwar erst 1847 als Professor nach Heidelberg, doch gilt seine Feststellung auch schon für die Jahre vorher. 2 29. Mai 1842 (Familienpapiere).

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Korpsleben

suchen, das Klima und das heitere, lebenslustige Volk paßt nicht dazu. Dies und die teure Lebensart sind auch das Einzige, was mir m i ß f ä l l t . . . " Im Laufe seines ersten Semesters trat Kapp in das Korps Suevia ein. Er wurde ein tüchtiger Fuchs und später Chargierter seiner Verbindung. Im Paukbuch des Korps steht er mit 15 gefochtenen Partien verzeichnet. Dem Vater, der — offenbar in Sorge um das Studium seines Sohnes — Näheres über das Verbindungsleben wissen wollte, schrieb er 1 : „Die Frage, ob ich bei den Schwaben bin, beantworte ich Dir mit ja, und Du wirst um so weniger dagegen einzuwenden haben, wenn ich Dir schreibe, daß sie die wissenschaftlich gebildetsten Studenten sind. So hat unser Senior, der ein einhalb Jahr in Berlin war, eine Monographie über den Besitz geschrieben, zwei Kameralisten haben ein Preisausschreiben gewonnen, und die hiesigen Professoren erlauben ihren Söhnen nur zu uns zu gehen. Der jetzige Geheimrat Chelius hat die Suevia aufgetan. Dabei sind die Schwaben die besten Schläger und das älteste Korps. Solltest Du vielleicht glauben, daß ich so zu sagen mit Leib und Seele Student wäre, ein Raufbold, Mensursimpel usw., so wird Dich Onkels späterer Brief hoffentlich vom Gegenteil überzeugen . . . " In einem anderen Briefe heißt es 2 : „. . . der Zweck jeder hiesigen Verbindung ist nur ein rein geselliger und ein Schutzund Trutzbündnis gegen feindselige Angriffe. Wir sind im Ganzen dreißig Mann stark und stehen in diesem Semester nur mit den Westfalen schlecht, welche aus allen Weltgegenden zusammengelaufen sind und ein reines Adelskorps wie die Bonner Preußen bilden. So, denke Dir, hielten die Westfalen einst einen großen Auszug, bei welchem die adeligen und gräflichen Füchse die ersten Wagen besetzten und die bürgerlichen bemoosten Häupter hinten nachfuhren. Ebenso sind auf der Kneipe selbst zwei Tische, an deren oberen die Junker, am unteren die bürgerlichen Canaillen sitzen. Die Leutchen trinken feine Weine, Bowlen, Tee, besuchen die Bälle, gehen herum wie das Modejournal und 1 20. Juli 1842 (Familienpapiere). 2 20. Februar 1843 (Familienpapiere).

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I. Teil.

II. Kap.: Kindheit und Studienzeit

schlagen sich wenig. Mit den Pfälzern stehen wir auch schlecht, deren Senior Götz von Berlichingen, der direkte Nachkomme vom eisernen Götz, der einzige ordentliche Kerl ist; es sind rohe Gebirgsvölker aus dem Odenwald, Schwarzwald und Spessart. Mit dem Saxoborussen und Vandalen, lauter Mecklenburgern, Preußen, überhaupt Norddeutschen, und mit den Nassauern stehen wir ganz gut. . . Man spürt, wie die demokratische Luft Badens schon auf ihn gewirkt hat und ihm den hergebrachten Vorrang adliger Kommilitonen lächerlich erscheinen ließ. Die Zeichnung eines Freundes aus dieser Zeit zeigt den Studenten mit langen Locken in selbstbewußter Haltung. Unter der schön geformten Stirn schauen die Augen kühn in die Welt. Um die geschlossenen Lippen spielt ein trotziger Zug. Man glaubt es ihm, wenn er damals an den Vater, von dem er sich zu Unrecht gekränkt glaubte, schrieb1: „Ich habe noch nie Furcht gehabt, weder in geistigen noch äußeren Beziehungen des Lebens; sollte ich Dir das noch nicht bewiesen haben, so wird mir hoffentlich die Zukunft noch Gelegenheit genug bieten . ." Unter der Studentenschaft hatte Kapp sich schnell ein gewisses Ansehen erworben, das sich bei einer Beschwerde zeigte, die in Karlsruhe vorgebracht werden sollte. Er schrieb darüber dem Vater2: „ . . . V o r vierzehn Tagen wurde mir von Seiten meiner Kommilitonen eine große Ehre zu Teil, die ich um so höher schätze, als sie aus der Anerkennung meiner Gesinnung hervorgegangen ist. Ich wurde nämlich als Deputierter nach Karlsruhe ans Ministerium geschickt, um in der bekannten Geschichte gegen die Pedelle bei dem Minister, und falls dies nicht helfen sollte, beim Großherzog selbst Beschwerde zu führen. Mit wahrhaft höflicher Grobheit (! ?) drang ich in die Leute, und wenn ich mich auch ganz heiser sprach und räsonierte, so hatte ich doch die Freude, daß alle Klagen aufs Bereitwilligste angenommen und ihnen jetzt auch schon größtenteils abgeholfen ist. Zum ersten Mal in meinem Leben fuhr ich mit Vierspänner und zwei Livreebedienten zu einem Minister, um ihm Vorstellungen zu machen; 1 26. November 1842 (Familienpapiere). 2 17. Dezember 1843 (Familienpapiere).

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Deputierter der Studentenschaft

zum ersten Mal brauchte ich in zwei Tagen beinahe fünfundzwanzig Taler für Aufenthaltskosten und Luxusartikel, wie z. B. Trinkgelder an Bediente und großartiges Fahren beim Visitenmachen; aber wahrscheinlich wird's auch das letzte Mal sein. Sogar weißseidene Binde und Glaceehandschuhe wurden mir ersetzt. Ich hatte mir noch einen Begleiter wählen dürfen, und mit diesem zog ich denn in Karlsruhe ins Theater, ins Konzert zu Liszt, wir tranken feine Weine und Champagner, als wenn es kein Geld kostete. Alles nach dem Grundsatze: Ein Deputierter der Heidelberger Studenten muß seine Leute auch repräsentieren; ein badischer Landtagsdeputierter hat täglich fünf fl. Diäten, einer der Heidelberger Studenten muß wenigstens fünfzehn fl. haben, und wir brauchten fast noch darüber. Jedem einzelnen machten die Kosten für unsere Aussendung kaum acht Kreuzer. Offen gestanden mußte ich über mich selbst lachen, als ich mit wichtiger Amtsmiene in einem Vierspänner Besuche machte; wenn Dich Dein Vater sähe, dachte ich, der würde Dir ins Gedächtnis zurückrufen, was Du noch vor zwei Jahren warst — ein Primaner, der den Monolog aus dem Ajas um diese Zeit lernte! c 0 fiev oqxtyevg usw.

In Karlsruhe habe ich so recht gelernt, wie klein und winzig das Ländchen Baden ist; diese Renommage auf der einen, und diese Kriecherei auf der anderen Seite, besonders vor Preußen. 0, wenn Preußen nicht wäre, dann könnten wir viel freier handeln, sagte mir der Minister des Innern;. . . aber wir müssen besonders für Heidelberg besorgt sein, denn im vorigen Sommer erklärte mir ein hoher preußischer Beamter, daß Preußen, sobald in Heidelberg sich etwas ihm Mißfälliges blicken ließe, das Verbot der Universität wieder eintreten lassen würde. Was nun zu machen? Aber so geht's durch alle Verhältnisse durch. Baden und ähnliche kleine Staaten sind zwar de iure souverän; aber de facto ebenso gut mediatisiert wie andere kleine Fürstentümer..." 1 1 Einer oppositionellen Bewegung der Heidelberger Studentenschaft gegen den Seniorenkonvent, aus der schließlich im Wintersemester 1844/45 ein burschenschaftlicher Verein, die Allemannia hervorging, scheint Kapp nicht ferngestanden zu haben. Er hat offenbar Diskussionen zwischen Burschenschaftlern und Korpsburschen veranlaßt, die zur Gründung der 3

Königs*», hlst. Forsch.

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I. Teil. II. Kap.: Kindheit und Studienzeit

Über dem flotten Studentendasein wurde das Studium nicht vernachlässigt. Sich die Zeit einzuteilen hatte Kapp schon auf der Schule gelernt. So wurde es ihm auf der Universität nicht schwer, neben seinen Pflichtvorlesungen Zeit und Kraft auch für andere Beschäftigung übrig zu behalten. Er hörte im Laufe seiner vier Heidelberger Semester bei Vangerow deutsches Privatrecht, bei Mittermaier Kriminalrecht, bei Zoepfl Staatsrecht, bei Oppenheim Geschichte der Staatswissenschaft. Dazu kamen historische Kollegien bei Schlosser und Häusser, philosophische bei Reichlin—Meldegg,, fleißige Privatlektüre deutscher Literatur und Philosophie, zumal der Hegeischen, und die Repetition des juristischen Stoffes. Durch seine Verwandten war er in einer Reihe von Häusern eingeführt und lernte die Heidelberger Geselligkeit kennen, die für seinen Maßstab sehr üppig war. In Briefen an seine Schwestern finden sich ergötzliche Schilderungen, wie er es ermöglichte mit seiner geringen Barschaft den Ansprüchen an modische Kleidung zu genügen1: „Wir wissen uns zu helfen^ und so kommt es, daß ich bis jetzt auf jedem Balle ein anderes Halstuch, Weste und Tuchnadel anhabe. Wir haben nämlich zu sechs ein Schutz- und Trutzbündnis gemacht, indem einer vom andern am Ballabend Weste und Halstuch anzieht, das wechselt immer ab, und am Tage nach dem Balle wird das Zeug wieder vertauscht. So trug ich schon Westen und Tücher von allen Farben, weiß, rot, blau, violett, grauseidene usw. Niemand merkt das. . . . " Solche Gesellschaften genoß Kapp, jugendlich und unverwöhnt wie er war. Er erwarb sich dabei gewandte Umgangsformen und Sprachkenntnisse. Denn die Konversation wurde auf den Bällen noch auf Französisch und Englisch geführt. — Mit seinen Lehrern trat er zum großen Teil in persönliche Berührung, und der frische, gescheite Student war überall gern gesehen. Aber die Anregungen, die er bei seinem neuen Verbindung führte. — Den Hinweis verdanke ich Kapps gleichnamigem Enkel Herrn Friedrich Kapp, ehemaligem Heidelberger Vandalen. Er stellte mir die als Manuskript gedruckte Geschichte seines Korps zur Verfügung, die kurz von dem oben berührten Hergang erzählt. 1 22. Januar 1843 (Familienpapiere).

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Das Kappsche Haus in Heidelberg

Studium empfing, waren nicht das Wichtigste, was er aus dieser Zeit davontrug. Eigentlich bestimmend war vielmehr der Verkehr im Hause seines Onkels Christian Kapp, wo er während seiner Heidelberger Semester wie ein Sohn aus- und einging. Die steigende Gärung des politischen Lebens machte sich zu Beginn der vierziger Jahre auch in der Heidelberger Gesellschaft bemerkbar. Man kennt die, im Vergleich mit anderen deutschen Bundesstaaten eigenartige und in vielen Zügen beispielhafte innenpolitische Entwicklung Badens in den Jahrzehnten des Vormärz bis zur Revolution von 1848/49 1 . 1841 hatte unter dem Ministerium Blittersdorff eine antikonstitutionelle Phase eingesetzt, die die politischen Leidenschaften aufwühlte und die liberale Richtung in einen ursprünglich nicht beabsichtigten Radikalismus hineintrieb. Christian Kapp nun gehörte zu jenen Liberalen radikaler Prägung, und sein Haus war in den vierziger Jahren der beliebte Mittelpunkt eines Kreises ähnlich gerichteter Menschen. Es verkehrten bei ihm Ludwig Feuerbach, sein ältester und vertrauter Freund, ferner der Publizist Karl Theodor Welcker, der Schriftsteller Berthold Auerbach, Gottfried Keller, der im Winter 1848/49 die religionsphilosophischen Vorlesungen Feuerbachs im Heidelberger Rathaus hörte, Hermann Hettner und Jacob Moleschott, beide damals Privatdozenten und eng miteinander befreundet, der Maler Bernhard Fries, Heinrich Bernhard Oppenheim, der sich in Heidelberg für Staatswissenschaften habilitiert hatte, aber wegen seiner politischen Überzeugung später die Universitätslaufbahn aufgeben mußte. Dazu manche andere, die sicher waren, um ihrer Gesinnung willen in dem gastfreien Hause gut aufgenommen zu werden. Sie alle hat Friedrich Kapp in seiner Studentenzeit oder bei späteren Besuchen der Verwandten kennen gelernt. 1 Vgl. Ludwig Häusser: Denkwürdigkeiten zur Geschichte der Badischen Revolution, Heidelberg 1851. Dazu die Bemerkungen von E. Mareks in: Ludwig Häusser und die politische Geschichtsschreibung in Heidelberg, S. 312f. ( = Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert, Bd. I, Heidelberg 1903). Ferner: K. Ruckstuhl: Der Badische Liberalismus und die Verfassungskämpfe 1841/43. Berlin und Leipzig 1911.

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I. Teil. I I . Kap.: Kindheit und Studienzeit

1876 gab er den Briefwechsel zwischen Ludwig Feuerbach und Christian Kapp heraus1. Er trug damit gleichsam eine Dankesschuld ab, die er den beiden Verfassern der Korrespondenz schuldete, vorab dem damals schon fast vergessenen Christian Kapp, dessen Charakter und Lebenslauf er eine längere Schilderung widmete2. Sie ist durch den Abstand von Jahren ein wenig gedämpft, aber die eindringliche Erinnerung, die der sprühend temperamentvolle, von einem stürmischen Pathos getragene Mann während seiner besten Jahre in dem jungen Studenten hinterlassen hat, ist deutlich erkennbar. Christian Kapp war 1798 in Bayreuth geboren und hatte unter dem Eindruck Hegels sein Theologiestudium mit dem der Philosophie vertauscht. Die Laufbahn an seiner Heimatuniversität Erlangen gab er auf, weil ihm die reaktionären Verhältnisse in Bayern unerträglich schienen. Seit 1833 lebte er in Heidelberg und übernahm dort 1839 eine philosophische 1 Offiziell zeichnete als Herausgeber der Sohn Christians, August Kapp. Tatsächlich war Friedrich Kapp der Redaktor des Briefwechsels. Die Einleitung zeigt unverkennbar seine Stileigentümlichkeiten. Den unmittelbaren Beweis erbringt sein Brief an Julius Rodenberg vom 11. März 1876: „Seit einigen Wochen befinde ich mich in dem Besitze von etwas über hundert Originalbriefen von Ludwig Peuerbach an einen geistvollen, aber etwas verbohrten Verwandten Chr. Kapp in Heidelberg. Diese Briefe werfen ein höchst interessantes Licht auf die philosophische und persönliche Entwicklung Peuerbachs, beleuchten die zeitgenössischen literarischen und wissenschaftlichen Beziehungen der Zeit von 1842—1848 und enthalten eine Fülle geistvoller Bemerkungen. Ich beabsichtige, sie später herauszugeben." — Die Briefe Kapps an Rodenberg im Nachlaß Rodenberg wurden mir von der Verwaltung des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar zur Benutzung bereitwillig überlassen. 2 1839 hatte Ludwig Peuerbach in den Halleschen Jahrbüchern einen Aufsatz über seinen Freund veröffentlicht: Dr. Christian Kapp (wieder abgedruckt in: Ludwig Feuerbachs sämtliche Werke, neu herausgegeben von W. Bolin und F. Jodl, Stuttgart 1903 ff, Bd. 2, S. 145 ff). Er gibt darin einen kurzen Überblick der bis dahin erschienenen Werke. — Georg Weber kommt in seinen „Heidelberger Erinnerungen" (Stuttgart 1886, S. 222 ff.) auf Christian Kapp etwas abschätzig zu sprechen. C a r l N e u m a n n mutmaßt mit Recht, daß in der Weberschen Schilderung ein Niederschlag des Universitätsklatsches zu finden sei, und daß er Kapp nicht ganz gerecht würde. (Vgl. C. Neumann: Kuno Fischer als Heidelberger Privatdozent gemalt von Bernhard Fries in: Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg und der Kurpfalz, Bd. 11, 1924, S. 201.)

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Christian Kapp

Professur. Er faßte sie als Kampfposten auf. Wie er sich bemühte, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer und David Friedrich Strauß an die Heidelberger Hochschule zu ziehen, so suchte er Gervinus eine ordentliche Professur zu verschaffen und die Habilitation von Moritz Carrière durchzusetzen, der in Berlin durch Ranke und Hengstenberg abgewiesen war. Ferner stemmte er sich gegen einen Beschluß des Senats, nach dem — auf Wunsch der Regierung — dem schlechten KollegienBesuch durch Prüfungen am Schlüsse des Semesters gesteuert werden sollte. Die schonungslose Offenheit, mit der Christian Kapp seine Meinung vorzubringen pflegte, und seine radikale Gesinnung führten schließlich zu heftigen Reibereien mit der Fakultät und der Regierung, so daß er sein Amt trotz großen Lehrerfolges niederlegte 1 . Friedrich Kapp hat einen Teil dieser Kämpfe miterlebt und wurde, da er dem Onkel als Amanuensis diente, von diesem in die Einzelheiten eingeweiht. Dadurch hat sich früh in ihm eine tiefe Abneigung gegen Professoren und ihren Beruf herausgebildet, die er sein Leben lang nicht mehr ablegte 2 . Nach dem Ausscheiden aus dem Lehramte wandte sich Christian Kapp politischer Tätigkeit zu. 1845 bis 1849 1 Vgl. A. Kapp: Briefwechsel Feuerbach-—Kapp, Leipzig 1876, S. 243 und Anhang, S. 269 ff. Christian Kapps Versuche, Bruno Bauer und David Friedrich Strauss nach Heidelberg zu ziehen, sind meines Wissens bisher unbekannt und ein nicht unwesentlicher Beitrag zur Geschichte der Heidelberger Universität in den vierziger Jahren. Sie gehen zweifelsfrei hervor aus einer Angabe in einem Brief F. Kapps an seinen Vater vom 14. August 1842. 2 Im Februar 1883 schrieb Friedrich Kapp an seinen Onkel Ernst nach der Lektüre von Moleschotts damals erschienenem Büchlein: Hermann Hettners Morgenroth 1847—1851 (Gießen 1883) und in der Erinnerung an seine eigenen Heidelberger Semester: „Der alte Kapp [seil. Christian] in Heidelberg gehörte während meines Aufenthalts dort noch äußerlich der Fakultät an. Da ich sonst viel im Schreiben half, so überließ er mir auch die Akten, Gutachten und Voten der philosophischen Fakultät. So wurde ich mit neunzehn Jahren heimliches Mitglied derselben und dekretierte im Namen des alten Kapp drauf los, daß es eine Freude oder vielmehr keine Freude war, denn es muß häufig recht viel Blech gewesen sein, das ich in meiner Gesinnungstüchtigkeit losließ. Ich möchte wohl die Akten vom Frühjahr 1843—1844 einmal wiedersehen . . ." (Familienpapiere im Besitze der Enkel von Ernst Kapp.)

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I. Teil.

II. Kap.: Kindheit und Studienzeit

saß er auf der äußersten Linken der zweiten badischen Kammer. 1848 wurde er als Abgeordneter in die Paulskirche gewählt. Der Übername, der ihm dort zuteil wurde, war „die Reichshyäne". Denn in seiner Maßlosigkeit bezeichnete er die Nationalversammlung des öfteren als „Leiche". Ihre Politik hielt er für verderblich, und da seine Opposition fruchtlos war, verzichtete er im Juli nach der Wahl des Reichsverwesers auf weitere Mitarbeit. Die Gründe seines Austritts legte er seinen Wählern in einer Broschüre dar 1 . Von da an gab er auch die politische Tätigkeit auf. Eigentlich demagogische Eigenschaften fehlten ihm gänzlich. Friedrich Kapp hat ihn als einen zu klaren Denker und zu gründlichen Kenner der Geschichte charakterisiert, „als daß er nicht den Staat als sittlichen Organismus begriffen und die Notwendigkeit erkannt hätte, ihn, sobald er seiner Aufgabe entsprach, in seinen bestehenden Gewalten zu stützen, statt zu schwächen. In seiner tiefsten Seele war zu allen Zeiten das uneigennützige Verlangen einer selbstthätigen Hingabe an den Staat lebendig, die ihm aus den geliebten Vorbildern des klassischen Alterthums, aus der volksthümlichen Überlieferung, aus der in sein Fleisch und Blut übergegangenen Anschauungsweise seiner echt preußischen Familie überall entgegenleuchtete" 2 . Entfalten konnte sich diese Veranlagung aber nicht. Durch sein Leben in deutschen Kleinstaaten, erst in Bayern, dann in Baden, wurde sie abgebogen zur völligen Verneinung aller bestehenden staatlichen, sozialen und wissenschaftlichen Zustände. Sein Tatendrang stieß überall auf Schranken. Auch seine wissenschaftlichen Fehden gingen im Grunde wirkungslos aus. Schelling hatte ihn in unverantwortlicher Weise des Plagiats bezichtigt, und seitdem war er dessen unversöhnlicher Gegner. Er gehörte zu den geistig Unzufriedenen, an denen die gärende Zeit reich war. Die Vielseitigkeit seiner Begabung und Interessen ließ ihn nicht zu gesammelter Leistung und damit zu dauernder Wirkung kommen. — Wie so oft bei Naturen gleich der seinigen gab er 1 Vgl. Christian Kapp: Die Gründe meines Austritts aus der Nationalversammlung. Ein Sendschreiben an meine Wähler, Darmstadt 1848. 2 Vgl. A. Kapp: a. a. 0 . Einleitung, S. 22.

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Ludwig Feuerbach

das Beste, was er besaß, im mündichen Gedankenaustausch. Der junge Anselm Feuerbach hat ihn 1849 gemalt. „Ein angehender Fünfziger, schon wohl beleibt, in einen Pelzmantel gehüllt, sieht er mit dunkelfeurigen Augen aus dem Bild heraus, leicht vorgeneigt sitzend und bereit, mit heftigem Wort den Frager zuzudecken"1. Mit zunehmendem Alter wurde er kränklich und schrullig und zog sich auf sich selber zurück. Aber in den vierziger Jahren machten seine Eigenschaften ihn zu einem geeigneten Gastgeber einer geistvollen Geselligkeit. Sein Heim befand sich anfangs in dem stattlichen Palais, das Johann Adam Breunig 1712 in der Hauptstraße für den Herrn von Moraß gebaut hatte 2 . Er teilte es mit dem Mediziner Chelius. In späteren Jahren bewohnte er ein Landhaus auf der rechten Neckarseite, „das Waldhorn", dessen Garten am Abhang des Heiligenberges er mit seltenen, ausländischen Koniferen schmückte. Sein Freiheitsfanatismus ging so weit, daß er die Bäume und Sträucher in seinem Garten unbeschnitten wachsen ließ, wie sie wollten. Unter den Freunden, die sich hier zusammenfanden, war es außer dem Hausherrn vor allem Ludwig Feuerbach, dem Friedrich Kapp bleibende Anregung für seine Entwicklung verdankte. Er hat ihn in seinem zweiten Semester im Hause des Onkels zum ersten Male gesehen. Zwischen den völlig verschiedenen Menschen, dem fast vierzigjährigen, der Höhe seines Schaffens und seines Ruhmes entgegengehenden Philosophen und dem jungen, noch nicht neunzehnjährigen Studenten wurde bald eine Freundschaft fürs Leben geschlossen. Friedrich Kapp war eine im Grunde unkomplizierte Natur und in keiner Weise spekulativ veranlagt. Seine Beschäftigung mit Philosophie in den Studienjahren ergab sich mehr aus der Gewohnheit der Zeit und der Art seiner Erziehung als aus einem angeborenen Drang. Die Werke Feuerbachs lernte er vollständig kennen, und die Produktion des Freundes hat er mit warmer Teilnahme verfolgt. Auch der Einfluß der Feuerbachschen Lehren auf seine sich bildende Weltanschauung ist 1 Vgl. C. Neumann: a.a.O. S. 200. 2 Vgl. K. Lohmeyer: Das barocke Heidelberg und seine Meister, Heidelberg 1927, S. 15. — Heute ist in diesem Bau das kurpfälzische Museum untergebracht. 39

I. Teil. II. Kap.: Kindheit und Studienzeit

unverkennbar. Wir werden später den Niederschlag in Kapps historischen Arbeiten und in seiner politischen Haltung beobachten1. Trotzdem war dieser Einfluß nicht ein spezifisch philosophisch-wissenschaftlicher, so wenig, wie das auch sonst von Feuerbachs Wirkung in jenen Tagen gilt. Sie entsprang weit mehr der, einer realistischen Lebensauffassung überhaupt zustrebenden Zeitströmung. Man begreift aus der geistigen Situation der Zeit heraus den Reiz, den Feuerbachs Atheismus für einen jungen, suchenden Menschen haben mußte. Er beruhte ja nicht auf müder Skepsis, sondern auf einem kritisch gerichteten Wahrheitsdrang und schien zwingend zu beweisen, daß er allein die Wirklichkeit für sich habe. Hier lag eine Handhabe zum Kampf gegen „die Winkelgänge der modernen Kompromißtheologie" (P. Hensel), deren Vertreter, die verhaßten „Pietisten und Pfaffen" in Kapps Augen zugleich die Gegner jedes politischen Fortschritts waren. Daneben war es weniger die Ethik Feuerbachs als das immanente Ethos seiner Lehre, welches das Gefühl für Verantwortung und Wagnis im individuellen Dasein kräftig steigerte und in der Natur Kapps verwandte Saiten anrührte. Das mag ihn, der sich geistig nicht frühreif, sondern stetig entwickelte, wohl aber charakterlich schon damals seine besondere Prägung zeigte, dem fertigen Manne anziehend gemacht haben2. Aus Kapps Briefen an seinen Vater wird ersichtlich, wie mächtig die Persönlichkeit Feuerbachs auf ihn wirkte. Anderes kam hinzu. Die politischen Lehren, die er aus der badischen Politik, den bis zu prinzipiellen Auseinandersetzungen vordringenden Debatten der zweiten Kammer in diesen Jahren ziehen konnte, die persönliche Bekanntschaft mit den populärsten Abgeordneten Itzstein, Welcker, Bassermann, Soiron, Mathy, alles das hat zweifellos in seine damals einsetzende, bewußte politische Willens- und Meinungsbildung hineingespielt. Er las mit angespanntem Interesse die Presse. 1 Vgl. auch S. Rawidowicz : Ludwig Feuerbachs Philosophie, Ursprung und Schicksal, Berlin 1931, S. 474. 2 Eine bezeichnende Äußerung Feuerbachs über den Studenten vgl. A. Kapp: a . a . O . S. 233; auch abgedruckt in: Ausgewählte Briefe von und an Ludwig Feuerbach, hrsgb. von Wilhelm Bolin, Leipzig 1904, Bd. 2, S. 126.

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Johanna Kapp

Er hatte mit den Privatdozenten H. B. Oppenheim und Quitzmann und mit einigen radikal denkenden Studenten ein literarisches Kränzchen, in dem über die gegenwärtigen politischen und wissenschaftlichen Bestrebungen diskutiert wurde. Er begeisterte sich mit seinen Kommilitonen an der Tageslyrik der Hoffmann von Fallersleben, Freiligrath und Herwegh. Aber die geistige Grundlage, den zusammenhaltenden Rahmen dafür gewann er vor allem doch in seinem Umgang mit Christian Kapp und Ludwig Feuerbach. In seitenlangen Ergüssen gibt er die Gespräche mit Feuerbach wieder. Sein Glaube an Hegel wurde hier zuerst erschüttert, die Notwendigkeit und das Kommen einer Revolution prophezeit. So berichtet er in einem Brief an den Vater 1 von dem mahnenden Zuruf des Philosophen: „Werden Sie auch ein Revolutionär . . . helfen Sie die alten eingerosteten Formen mit umstoßen und eine neue und freie Wissenschaft errichten! Von dieser Seite muß man das Leben auffassen. Da gibt's für mehr als ein Menschenalter Arbeit und mehr als einen Kranz der Unsterblichkeit.. Das waren Worte, die sich dem jungen Studenten tief einprägten und in der Folge ihre Früchte trugen. Eine Schilderung der Heidelberger Semester Kapps bliebe unvollständig, würde nicht auch die einzige Tochter Christian Kapps, Johanna, erwähnt. Als er die Siebzehnjährige kennen lernte, war sie dem noch schüchternen, kaum dem Knabenalter entwachsenen Studenten an gesellschaftlicher Fertigkeit und seelischer Reife weit überlegen. Ohne schön zu sein, muß sie einen unendlichen Zauber ausgestrahlt haben, dem sich kaum einer der vielen Gäste ihres väterlichen Hauses entziehen konnte. Eine reiche geistige und künstlerische Begabung hatte sich in dem angeregten Leben ihres Elternhauses voll entfaltet. Ihr leidenschaftliches Temperament, unter dem sie selber schwer gelitten hat, war ein Erbteil von ihrem Vater. Es war ihr nicht gegeben, ihre mannigfaltigen Gaben in harmonischem Zusammenklang zu vereinigen. Schon als junges Mädchen hatte sie des Vaters Freund, Ludwig Feuerbach, eine tiefe Neigung entgegengebracht, die von dem so viel 1 7. November 1842 (Familienpapiere). 41

I. Teil. II. Kap.: Kindheit und Studienzeit

älteren Manne erwidert wurde, obwohl er durch Ehe und Kinder gebunden war. Im Überschwang ihrer Jugend und Leidenschaft glaubte Johanna den geliebten Mann für sich gewinnen zu können. Durch Jahre voll aufflammender und wieder verlöschender Hoffnung zog sich der innere Widerstreit; er breitete schließlich über das Wesen des Mädchens eine tiefe Leidensfähigkeit und Resignation1. Friedrich Kapp brachte der gefeierten und viel umworbenen Kusine bald eine schwärmerische Verehrung entgegen, aus der dann eine zarte, nie getrübte Freundschaft erwuchs. Johanna wurde die Vertraute seiner jugendlichen Empfindungen und Gedanken. Auf den frühzeitig mutterlos Gewordenen, der in einem für edlen weiblichen Einfluß so empfänglichen Alter stand, hat der innige persönliche und späterhin schriftliche Umgang eine aus seiner menschlichen Entwicklung nicht fortzudenkende Wirkung ausgeübt. Durch ihn wurden die ritterlichen Seiten seiner Natur und Verehrung für echtes Frauentum geweckt. Als Kapp im Frühjahr 1844 Heidelberg verließ, um in Berlin seine Studien zu beenden und um dort zugleich seiner militärischen Dienstpflicht zu genügen, standen die wesentlichen Züge, die im Bilde des Studenten aufgetaucht waren, fest. Er hatte seine Lebensbahn mit Bewußtsein eingeschlagen. Der strenge Militärdienst in der ersten Fußkompagnie der Gardeartillerie-Brigade drängte die Studien freilich stärker zurück als Kapp lieb war. Zwar hatte er zunächst die Freude eines gesunden und kräftigen Menschen an der soldatischen Zucht. Von absprechender Kritik, die bei der radikalen Haltung, in die er allmählich hineingeraten war, 1 Die verletzend sezierende Darstellung des Verhältnisses zwischen Johanna Kapp und Ludwig Feuerbach von W. Bolin in der Einleitung der Ausgewählten Briefe von und an Ludwig Peuerbach ist parteiisch wie alle Arbeiten Bolins über Peuerbach. Aus dem mir vorliegenden, fast vollständigen Briefwechsel zwischen Johanna und Friedrich Kapp und aus der Familienüberlieferung ergibt sich ein anderes Bild Johannas, so wie ich es oben zu zeichnen versuchte. — Vgl. auch bei J. Baechtold: Gottfried Kellers Leben, 4. Auflage. Stuttgart und Berlin 1895, Bd. I, S. 335ff., Johannas Brief und Gedicht an Gottfried Keller, dessen Werbung sie abgeschlagen hatte.

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In Berlin

erwartet werden könnte, findet sich anfangs kein Wort. Erst allmählich riefen erschwerende Umstände, so namentlich der nur knappe Wechsel, den der Vater gewähren konnte und der Kapp oft zum Hungern zwang, unliebsame Empfindungen in ihm hervor. Auch wurde die freudige Hingabe an den Dienst im preußischen Heere durch gelegentlich schikanöse Behandlung der Einjährigen abgekühlt. Vor allem aber entbehrte er den geistigen Verkehr. Zu so zwangloser Geselligkeit wie in Heidelberg kam es in Berlin nicht. Kapp stellte bald fest, „daß der Name Kapp bei den hiesigen Konservativen und Frommen keinen guten Klang hat, besonders bei der Schelling—Neander—Puchtaschen Partei, die auf das Buch von Onkel in Heidelberg erbost ist1. Wie sich fromme Christen bei dem Namen des Teufels bekreuzigen", schrieb er dem Vater2, „so geht's diesem Volk auch bei dem Namen Kapp, der bei ihnen auf einer Linie mit Bauer, Feuerbach und anderen steht." Trotzdem beschloß Kapp auf väterlichen Rat, bei Schelling Kolleg zu hören. Kirchenrecht belegte er bei Friedrich Julius Stahl. Über den Eindruck, den die beiden Gelehrten auf ihn machten, verlautet in seinen Briefen nichts. Der Kollegbesuch war wegen des Militärdienstes unregelmäßig und mußte häufig ganz ausfallen. — Wichtiger war, daß sich in Berlin die ersten Beziehungen zur Publizistik anspannen. Kapp wurde vom Herausgeber des Westphälischen Dampfbootes, Otto Lüning, zur Mitarbeit aufgefordert. Er schrieb um diese Zeit dem Vater 3 : „Ich habe mir jetzt in Berlin einen so angenehmen Kreis von Bekannten gebildet, daß es mir trotz meiner bedrängten pekuniären Verhältnisse immer besser hier gefällt. Ich wollte, Du lerntest diese jungen Leute einmal kennen, dann würdest Du gewiß an einer baldigen glücklichen Zukunft Deutschlands um so weniger zweifeln. Mein Wunsch ist, daß nur alle so bleiben möchten! Junge Privatdozenten, Korrespondenten liberaler Zeitungen, Studenten und Lite1 Gemeint ist das Buch: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Ein Beitrag zur Geschichte des Tages von einem vieljährigen Beobachter (Leipzig 1843), das einen scharfen Gegenangriff auf Schellings Unterstellung von Plagiaten enthielt. 2 20. April 1844 (Familienpapiere). 3 20. Oktober 1844 (Familienpapiere).

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I. Teil. II. Kap.: Kindheit und Studienzeit

raten, alles bewegt sich hier strebend und lernend durcheinander" Im Frühjahr 1845 bestand Kapp seine Prüfung als Auskultator. Die Studienjahre waren damit abgeschlossen. Die praktische Ausbildung wollte er in Westfalen durchmachen. Sein Entschluß, Advokat zu werden, war gefaßt. Bei dem Einblick, den er in die Universitätsverhältnisse getan hatte, konnte es eine Veranlagung wie seine nicht locken, nach dem Plan des Vaters die Laufbahn eines Hochschullehrers einzuschlagen. Er begründete diesem gegenüber die Beruf s1 Leider ergibt sich aus Kapps brieflichen Äußerungen keine genauere Angabe, in welchem radikalen Kreise er in Berlin verkehrte. Bruno Bauer, von dem er einen tiefen Eindruck davontrug, hat er im Salon der Bettina von Arnim kennengelernt. Er schrieb darüber dem Vater: „Neulich sah ich ihn, diesen so viel verketzerten und verschrienen Bruno Bauer, und kann wohl gestehen, daß er durch seinen bloßen Anblick schon den bedeutendsten Eindruck auf mich gemacht hat. Nie sah ich einen schönern Kopf, auf dem das Denken seine tiefen und edelsten Spuren so rein und großartig ausgeprägt hat, nie noch eine höhere und freiere Stirn, die freilich dem ganzen Gesichte einen zu kalten und abstoßenden Zug gibt. So denke ich mir einen alten griechischen Philosophen, und wenn ich eine Büste von Plato oder Aristoteles anzufertigen hätte, ich würde Bauers Kopf als Modell wählen. Er ist jetzt mit allen zerfallen und will ganz allein stehen; dieses spricht er überall auch aus, weil er es für die größte Tugend des Kritikers hält. Nur seinen Bruder Edgar und einige Berliner Literaten sieht er um sich; aber es ist wahrhaft ekelhaft, dieses Volk zu erblicken, wie es jedes Wort seines Meisters gierig aufschnappt und glaubt, daß dessen Größe ihre eigene Kleinlichkeit erheben würde. Schade, daß Bruno Bauer so ganz unzugänglich ist, sonst würde ich mich ihm gleich anzuschließen suchen; an ihn herandrängen mag ich mich nicht. Seine Kulturgeschichte hast Du gewiß auch schon gelesen, wie hat mich das Buch angeregt, begeistert, aber auch erbittert! Da sieht man erst, wie man Geschichte schreiben muß. Der 2. Teil, Deutschland zur Zeit der französischen Revolution ist jetzt auch erschienen; ich habe ihn aber noch nicht gelesen. Der „Briefwechsel zwischen Bruno und Edgar Bauer" 1839—1842 zeigt deutlich, wie enorm Bruno gearbeitet hat, ehe er so weit kam, und daß er durch die Fakultäten selbst bis aufs äußerste getrieben wurde. Zugleich lehrt er auch die Not kennen, mit welcher Bruno zu ringen hatte, die Gemeinheit dieser Fakultätsmenschen, zu denen selbst Marheineke teilweise gehört" (2. Juli 1844, Familienpapiere). — Uber die Berliner radikalen Kreise vgl. G. Mayer: Die Anfänge des Radikalismus im vormärzlichen Preußen, Zeitschrift für Politik, Bd. VI, 1913, S. l f f . ; ferner vom selben Verfasser: Friedrich Engels, Haag 1934, Bd. 1, 2. Aufl., S. 80 ff.

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Berufsentscheidung

wähl in einem Briefe1, der die Verbindung des wissenschaftlichen und des politischen Ziels deutlich belegt. Er sei entschlossen, heißt es da, „Advokat in der Rheinprovinz zu werden; in diesem belebtesten Teile Preußens und Deutschlands kann man bei reinem, gewissenhaften Streben schon etwas ausrichten2. Die Advokaten werden allmählich die Beichtväter und Stellvertreter des Volkes und sind berufen, die Wortführer bei den künftigen preußischen Kammern zu werden. Das ist eine schöne und herrliche Aufgabe für einen Juristen; der bleibt im Leben und wirkt fürs Leben. Wissenschaftliches Streben ist hierbei gar nicht ausgeschlossen, im Gegenteil aufs innigste mit dem praktischen Leben verknüpft, wenn man das erfüllen will, was die Zeitinteressen fordern." Seinen Wunsch, als Rechtsanwalt so unabhängig wie möglich zu leben, hatten die Berliner Beobachtungen noch verstärkt. Auch darüber äußerte er sich zum Vater mit aller Schroffheit3 : „. . . wenn ich erst in der Rheinprovinz Advokat bin, so lache ich all dieses Volk samt seinem gemeinen Treiben aus; wenn man dieses Beamtenleben und Kriechen an der Quelle kennen lernen will, so braucht man nur nach Berlin zu gehen . . . " Die großen Linien des Lebens zeichneten sich in solchen Zeugnissen ab: unabhängig, seinen Überzeugungen treu zu kämpfen, voll ungebrochener Zuversicht auf das Kommen einer besseren Zeit zu trauen und dafür zu arbeiten, so sah Kapp seine Zukunft vor sich. 1 15. Januar 1845 (Familienpapiere). 2 Neben der fortgeschrittenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung des Rheinlandes mag ihn auch der Gedanke an das rheinische Recht bestimmt haben; ausgesprochen hat er diesen aber nirgends. 3 2. Oktober 1844 (Familienpapiere).

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I. Teil. III. Kap.: Im Justizdienst.

Die Revolution 1848/49

III. KAPITEL

Im Justizdienst.

Die Revolution

1848/49

Von der erhofften Wirksamkeit als Advokat trennten Kapp noch die unumgänglich nötigen Jahre juristischer Praxis im Staatsdienst. Seine lebhafte Abneigung gegen jede Art von Beamtentätigkeit lernten wir bereits kennen. Sie hat sich während seiner Dienstzeit als Auskultator und Referendar nur noch gesteigert. Das ist bei den politischen Anschauungen, wie er sie sich in seinen Studentenjahren erworben hatte, nicht erstaunlich; insbesondere wenn man sich gleichzeitig die engen Verhältnisse im vormärzlichen Preußen vor Augen hält. Im April 1845 trat Kapp beim Oberappellationsgericht in Hamm in den Justizdienst ein. Von Anfang an beschloß er, so schnell wie möglich die vorgeschriebenen Examina hinter sich zu bringen. Zwar fand er Gefallen daran, erworbene theoretische Kenntnisse im Leben anzuwenden. Aber die juristische Praxis füllte ihn nicht aus; in seinen Briefen findet sich häufig die Klage, zu sehr mit Arbeit überbürdet zu sein, so daß ihm nicht genügend Zeit übrig blieb für die Dinge, die ihm am Herzen lagen. Der Einundzwanzigjährige war noch erfüllt von Impulsen aus seiner Studienzeit. Wissenschaftliche Weiterbildung durch Philosophie, Geschichte und Nationalökonomie waren ihm ein unwiderstehliches Bedürfnis. Vor allem aber lockte ihn die politische Tätigkeit. Die ererbte pädagogische Veranlagung regte sich in ihm und trieb ihn dazu, sich für seine politischen und weltanschaulichen Überzeugungen einzusetzen. An dem kleinen Hamm fielen ihm nach seiner Heimkehr aus Heidelberg und Berlin die spießbürgerlichen Seiten auf, die ihm gelegentlich Stoßseufzer entlockten. Aber er war eine zu tätige Natur, um dabei stehen zu bleiben. Ein „aufgeklärteres" Leben sollte künftig durch die Ruheseligkeit und die festgefahrenen Begriffe seiner Mitmenschen pulsieren. E r 46

Berührung mit dem philosophischen Sozialismus

stieß damit in Westfalen auf einen geeigneten Boden. Denn hier und im Rheinland befand er sich in wirtschaftlich und politisch besonders regen Provinzen des damaligen Preußen. Unter seinen Altersgenossen am Gericht fand Kapp einige, die gleich ihm radikale politische Ansichten vertraten. Den die Zeit bewegenden sozialen Fragen war er wohl schon in seinen Berliner Semestern nahegerückt. Im Salon der Bettina von Arnim, in dem er einige Male verkehrte, scheint er zuerst darauf aufmerksam geworden zu sein1. Jetzt vertieften sich diese Interessen. Wenn Kapp von Hamm aus sehr bald Beziehungen anknüpfte zu den sozialistischen Kreisen Bielefelds und Münsters, so war das eine Wirkung der Zeit und Umgebung, in der die aufkommenden sozialistischen und kommunistischen Lehren frühzeitig Widerhall hervorgerufen hatten. Den geistigen Mittelpunkt des sozialistischen Kreises, in dem Kapp verkehrte, bildete der von Moses Heß und Karl Grün vertretene, „wahre oder philosophische Sozialismus"2. In den folgenden Jahren spielte er in Kapps Leben eine nicht unbeträchtliche Rolle. Trotzdem wird man ihm nicht mehr als peripherische Bedeutung zumessen dürfen, da er nur in der Unterordnung unter politische Ziele auftrat. Weder hat Kapp die Tragweite der kommunistischen Ideen ermessen noch sie begrifflich durchgearbeitet. Er war durch die Feuerbachsche Philosophie3 in einem allgemeineren Sinn empfänglich geworden für sozialistische Verkündigung. In dem Kreis, in 1 Vgl. auch K. Grün: Ludwig Peuerbaoh in seinem Briefwechsel und Nachlaß usw., Heidelberg 1874, Bd. I, S. 363ff. und Ausgewählte Briefe von und an Ludwig Feuerbach, hrsgb. von W. Bolin, Bd. 2, S. 137ff. Dort ist ein Brief Feuerbachs an Kapp abgedruckt (15. Oktober 1844), in dem Feuerbach schreibt: „ . . . Ich lernte nämlich erst diesen Sommer. den Communismus etwas näher kennen, unter anderen die Schrift W. [eitling]'s »Garantien der Harmonie und Freiheit«. . ." usw. Z Vgl. dazu Hammacher: Zur Würdigung des „wahren" Sozialismus im Archiv für Geschichte des Sozialismus usw., Bd. I, S. 41ff. 3 Über die Bedeutung der Feuerbachschen Philosophie für die verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Lehren hat zuletzt S. Rawidowicz im Rahmen seines Buches gehandelt: Ludwig Feuerbachs Philosophie usw., S. 411 ff. Uber den Einfluß auf Moses Heß besonders S. 456ff., auf Karl Grün S. 464ff. —• Vgl. auch Gustav Mayer: Die Anfänge des politischen Radikalismus in Preußen: Ztschr. f. Politik, Bd. 6, 1913, S. 75ff.

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I. Teil.

III. Kap.: Im Justizdienst. Die Revolution 1848/49

dem er aus- und einging, befanden sich auch einige wegen ihres Radikalismus aus dem preußischen Heer entlassene junge Offiziere, die Annecke, Korff, Willich und ihre Freunde. Sie alle beseelte der Geist der Opposition gegen den preußischen Staat in seiner gegenwärtigen Gestalt und drängte sie zu revolutionären Zielen, die gut zu ihren sozialistischen Vorstellungen paßten. Kapps Selbstbezeichnung als „Proletarier" und „Kommunist" in dieser Zeit ist also nur cum grano salis zu verstehen. Ein Brief an seine jüngere Schwester1 ist charakteristisch für seine Auffassung, auch wenn er sich darin dem Verständnis der Leserin angepaßt haben wird: „Für jetzt sei Dir nur so viel im Voraus gesagt, daß Sozialismus und Kommunismus die Lehre derjenigen Wissenschaft sind, welche sich zum Ziele gesetzt hat, das Elend und die Knechtschaft der jetzt leidenden Menschheit aufzuheben . . . Halte es ja nicht für etwas Zufälliges, daß jetzt auf einmal so vielfache Bestrebungen für das Wohl des Volkes auftauchen und daß die Wissenschaft mit diesen gleichen Schritt hält. Das Losungswort der neuen Zeit ist: »Wir wollen Menschen sein.« Das heißt Anerkennung unserer Rechte und gleiche Behandlung vor dem Gesetze, die freie Entwicklung unserer Fähigkeiten und Anlagen haben. Es wird freilich noch mancher den Launen der Pfaffen und Geld- und Geburtsdespoten geopfert werden; aber diese Forderung macht sich mit der ganzen Zentnerschwere ihres Gehaltes täglich mehr geltend und hat — ich leugne es nicht — den gewaltsamen Umsturz alles Bestehenden zur Folge, da die jetzt Herrschenden zu blind sind, als daß sie die Winke der Zeit erkennen könnten. Du siehst, wir stehen vor großen Ereignissen . . . " Sein Ziel sah Kapp zunächst darin, seine Mitbürger von der Notwendigkeit politischer Parteinahme zu überzeugen. So gründete er einen Leseverein, durch den er sie mit politischen und philosophischen Neuerscheinungen bekannt machte. An Johanna Kapp schrieb er darüber2: „Bei uns in Westfalen fängt nach allen Seiten hin ein neuer Geist sich zu 1 23. Novomber 1845 (Familienpapiere). 2 4. November 1845 und 18. Dezember 1845 (Familienpapiere).

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Politisch-pädagogische Bemühungen

regen an; der Leseverein, den ich hier gründete, zählt an sechzig Mitglieder. Wir halten englische und amerikanische Zeitungen, da uns die zensierten deutschen nicht genügen. Mit zwei Freunden habe ich versucht, die hiesigen Bürgersöhne für die Bestrebungen und Interessen der Gegenwart zu gewinnen. Das schlägt alles ganz prächtig an und wird gewiß dereinst seine Früchte tragen. Ein hiesiger jüdischer Kaufmann, ein ganz ausgezeichneter Mensch, liest den Bürgern im Wirtshause aus Friedrich Feuerbachs »Religion der Zukunft« vor, sowie aus Weitlings »Garantien und Harmonie der Freiheit«. Einen Aufruf, wie er hierzulande überall unters Volk verteilt ist, lege ich bei. Wo ist denn Ludwig Feuerbachs neuestes Werk: »Wie ich Kommunist wurde« erschienen? Ich habe es hier noch nicht bekommen können. . . . Seit dem 1. Dezember habe ich nun auch ein Lesezimmer aufgetan; es gedeiht auch sehr gut; der Geschmack und das Bedürfnis der hiesigen Bürger ist jetzt an politischen Journalen einmal geweckt; es gilt jetzt, ihn konsequent und allmählich, aber sicher weiterzubilden. Ich habe jetzt ordentlich eine Soldateska mir gebildet, die mit mir auf Werbung ausgeht; den Leuten, die nicht gleich beitreten wollen, bringen wir die Bücher umsonst ins Haus, bis sie sich schämen, umsonst Teil zu nehmen, wo die anderen bezahlen — und ihr Beitritt ist erzwungen. Da ich jeden Hammenser einzeln kenne, so behandle ich ihn auch danach, gebe ihm die entsprechenden Bücher. Unter meinen Kollegen habe ich endlich nach langen Bemühungen einen totalen Bruch herbeigeführt; es hat glücklicherweise schon Zank und Streit gegeben; eine Versöhnung ist nicht mehr möglich. Auf diese Weise habe ich viele, besonders die Halbentschiedenen, auf meine Seite gezogen; sie können zu ihren Gegnern nicht mehr übertreten, und so sind sie mir zu Gefallen. Jetzt müssen sie radikal werden... Neben dem Leseverein kam ein Leseabend der freidenkenden Juristen und Lehrer des Städtchens zu Stande. Über diese „litterarische Soirée", die wöchentlich einmal am Montag von sechs bis neun Uhr im Hause des Direktors Kapp gehalten wurde, berichtet ein Freund des Hauses: „Sie unter-4

Königsb. bist. Forach.

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I. Teil.

III. Kap.: Im Justizdienst. Die Revolution 1848/49

scheidet sich von der Essener darin, daß nicht selbständige Arbeiten vorgetragen werden, sondern ein Aufsatz aus einer Zeitschrift oder einem größeren wissenschaftlichen Werke vorgelesen und zur Grundlage einer Diskussion gemacht wird, welche letztere jedoch sich viel freier bewegt und durch keine Polizei, resp. Zensur begränzt ist, wie die Essener. So wurde gestern die Charakteristik Mirabeaus nach Dahlmanns Französischer Revolution, welche vor vier Wochen erschienen, vorgetragen, woran sich sehr interessante Diskussionen, welche namentlich das Verhältnis der Zeit vor der Französischen Revolution zu unserer jetzigen und die große Übereinstimmung zum Gegenstande hatte, anreihten. Da Leute der Reaktionsparthei unseren Kreis nicht verherrlichen und Denunziationen nicht zu befürchten sind, so kannst Du denken, wie frei gesprochen wird" 1 . Sogar bis auf die Freundinnen seiner Schwestern erstreckten sich Kapps pädagogische Bemühungen. Wir erfahren aus einem Briefe an Johanna Kapp 2 , daß der junge Auskultator zunächst das Salletsche „Laienevangelium" mit ihnen durchnahm und bis zu Feuerbach vorzudringen hoffte. Worauf es ihm dabei ankam, hat er der Freundin gegenüber ausgesprochen: „Manche Leute können gar nicht begreifen, daß ich alles mögliche aufbiete, um mehrere derartige Vereine ins Leben zu rufen und glauben, ich könnte meine Mußestunden lieber zu etwas Besserem gebrauchen, aber sie kennen auch das Vergnügen nicht, welches in uns entsteht, wenn wir gescheute Menschen teilweise durch unsere Mithülfe Vorurteile abwerfen sehen. Ich selbst gewinne auf diese Art am meisten und kann am Ende später in größeren Kreisen zur Geltung bringen, was mir jetzt im kleineren zu verbreiten vergönnt ist." Neben dieser Arbeit in seinem Heimatstädtchen versuchte Kapp publizistisch weiter hinaus zu wirken. Seit den 1 Aus einem Brief von Karl Keller meinsamen Freund Friedrich Hammacher damals in Essen ähnlichen Bestrebungen F. Hammacher usw., S. 10 ff. Kellers Brief (R. A.). 2 11. Mai 1845 (Familienpapiere).

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an seinen und P. Kapps ge(22. Oktober 184S), der sich hingab. Vgl. dazu A. Bein: liegt im Nachlaß Hammacher

Journalistische Tätigkeit

Berliner Semestern lieferte er gelegentlich Beiträge für das „Westphälische Dampfboot". Mit dessen Herausgeber Otto Lüning und einigen Mitarbeitern, z. B. Joseph Weydemeyer, einem ehemaligen preußischen Offizier, und Otto Kriege, einem begeisterten Feuerbachianer, hatte er persönlich Bekanntschaft geschlossen. Sie gehörten zu dem Bielefelder sozialistischen Kreise. Aber es ist sicher kein Zufall, daß in Kapps Aufsätzen im „Westphälischen Dampfboot" und in den von I. Kuranda redigierten „Grenzboten", so weit sie sich mit Sicherheit feststellen lassen, die politische Tendenz die sozialistische überwiegt 1 . Zu Ende des Jahres 1845 tauchte bei ihm und seinen Freunden Karl Keller und Christian Esselen der Plan auf, selber eine Zeitschrift herauszugeben2. Sie sollte ein ergänzendes Seitenstück zum „Westphälischen Dampfboot" bilden. Karl Keller bezeichnete als Programm „die Vermittlung der politischen und sozialen Interessen und Zurückführung derselben auf denselben Boden" 3 . Bei Kapp indessen herrschte das politische Interesse vor. Recht charakteristisch schrieb

1 Über Charakter und Geschichte der „Grenzboten", des Vorgängers der von Gustav Preytag und Julian Schmidt geleiteten Zeitschrift vgl. O. Westphal: Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus, Berlin und München 1919, S. 42f. — Kapps Aufsätze erschienen anonym oder unter einer Chiffre. Daher ließen sich nur die Beiträge von ihm feststellen, die er zufällig in seinen Briefen erwähnt: im „Westphälischen Dampfboot" Jg. 2, 1846, S. 362ff.: Aus dem Münsterlande und S.414ff.: Das Bettelgesetz; in den „Grenzboten", Ztschr. f. Politik und Literatur, Jg. 5, II. Semester, 3. Bd., 1846, S. 351ff., Westfälische Zustände 1. Abtlg. und S. 446ff. Westfälische Zustände 2. Abtlg. Die Aufsätze: Aus dem Münsterlande u n d : Westfälische Zustände überschneiden sich inhaltlich weitgehend. 2 Vgl. dazu A.Bein: a . a . O . S. 14f. — Christian Esselen hat sich nach der Revolution 1848 nach Amerika gewandt, wo er sich einen Ruf verschaffte durch die Herausgabe der „Atlantis", in deren Spalten sich ein Teil der philosophischen Kämpfe seiner Landsleute abspielte, vor allem die Auseinandersetzung über die Feuerbachsche Philosophie. Rawidowicz (a. a. O. S. 474) streift den Einfluß Peuerbachs auf die deutsche politische Emigration nach 1848/49 nur flüchtig. Über Esselen und die „Atlantis" vgl. H . A. Rattermann in: Deutschamerikanische Geschichtsblätter: Bd. 12, 1912, S. 405ff. 3 Karl Keller an Friedrich Hammacher, 20. Dezember 1845. (R. A.) 4*

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I. Teil.

III. Kap.: Im Justizdienst.

Die Revolution 1848/49

er damals an Johanna Kapp 1 , seine Haupttendenz sei „Süddeutschland und Norddeutschland so viel als möglich näher zu bringen". Durch seine Beziehungen nach Baden versuchte er, auch dort Mitarbeiter zu werben. Er wollte fortlaufende Berichte über die badischen Kammerverhandlungen bringen; H. B. Oppenheim, Christian Kapp, Friedrich und Ludwig Feuerbach sollten mitarbeiten. Das Projekt gedieh jedoch infolge der Geld- und Zensurschwierigkeiten über den ersten schüchternen Anfang nicht hinaus. Ein anderer Rückschlag erfolgte auf beruflichem Gebiet. Kapps Bestrebungen waren bei der Justizbehörde nicht unbemerkt geblieben und wurden naturgemäß ungern gesehen. Es gab Vermahnungen und Drohungen; eine Haussuchung, ja die Entlassung aus dem Dienst war zu befürchten. Wohl hatte Kapp im Sommer 1846 seine Referendarprüfung abgelegt, aber noch stand das Assessorexamen vor ihm. Ein Zusammenstoß mit seinem Vorgesetzten erschwerte den Weg zu diesem Ziel aufs Äußerste. Der Anlaß lag im Verkehr Kapps mit seinen radikalen Freunden. Er berichtete darüber der Schwester2: „Gegen Ende der vorigen Woche läßt mich der Präsident zitieren und macht mir ernstliche Vorhaltungen darüber, daß ich als königlicher Beamter (!) es wagte, mit einem aus dem Dienst entlassenen Offiziere umzugehen und dadurch gleichsam gegen die weisen Maßregeln des hohen Willens S. Majestät zu demonstrieren suchte. Ich stellte eine solche beabsichtigte Demonstration natürlich entschieden in Abrede, bemerkte indeß, daß Annecke mein Freund sei, den ich liebte und ehrte, und daß mich die seitens des Staates gegen ihn getroffenen Maßregeln keineswegs von dem ferneren Umgange mit ihm abhalten würden. Ja, erwiderte der Präsident, ich könnte in so viel Privatbeziehungen zu ihm stehen als ich wollte; dies dürfe aber nicht öffentlich sein. Ich sagte, ich wäre nicht gewohnt, meine Freundschaft in eine öffentliche und eine private einzuteilen und glaubte überhaupt nicht, daß ich als Beamter gezwungen sein müsse, zu heucheln. Nun fingen natürlich die gegenseitigen Liebeserklärungen an. Ich 1 19. Dezember 1845 (Familienpapiere). 2 12. März 1847 (Familienpapiere).

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Erster Auswanderungsplan

merkte zu gut, daß der Präsident, ein so humaner und keineswegs bürokratischer Mann, nicht aus eigenem Antrieb gegen mich auftrat, sondern dazu veranlaßt war. Er sagte u. a., daß er schon dreimal angegangen sei, gegen mich einzuschreiten und meine Entlassung aus dem Justizdienst zu bewirken, aber stets habe er, ungeachtet der vielen Zuflüsterungen von allen Seiten her, mir die Hand über den Kopf gehalten. Ich würde in Hamm und Umgebung als Führer der Atheisten und Kommunisten angesehen, und sehe er sich nach allen diesen Vorgängen gezwungen, mich nicht eher zum dritten Examen zu präsentieren, als bis ich entschiedene Spuren von Sinnesänderung, resp. Besserung abgelegt hätte; am besten täte ich aber, mich an ein anderes Oberappellationsgericht versetzen zu lassen, wo meine Ansichten unbekannt wären und natürlich nicht hervortreten dürften. . . . " Der Präsident schätzte Kapp richtig ein; dieser war um des Fortkommens willen zu einer Sinnesänderung nicht bereit. Äußerlich erwies er sich als folgsam, indem er sich von Hamm nach Unna i. W. versetzen ließ. Aber Reibungen dieser Art, zusammen mit den unklaren kommunistischen Ideologien, brachten ihn schon in dieser Zeit auf den Gedanken, nach Amerika auszuwandern. Der Kusine schrieb er damals 1 : „In ein einhalb bis zwei Jahren könnte ich nun den königlich preußischen Beamtenhimmel erstiegen haben, wenn ich nicht andere Pläne mit mir herumtrüge. Ich habe nämlich vor, mit anderen gleichgesinnten Freunden und Bekannten Europa ganz zu verlassen und nach Nordamerika zu gehen, und dort das in der Tat zu verwirklichen, was wir hier als wahr erkannt haben und in Gedanken mit uns herumtragen. Wir werden dort eine kommunistische Kolonie bilden und als Menschen leben. Ich bin für diese Bande von kriechenden Hunden, die sich Deutsche nennen, nun einmal verdorben; ich bin zu stolz, um mich im christlich-germanischen Preußen als Beamter knechten zu lassen oder selber knechten zu helfen. Ich fühle Kraft genug in mir, um mir mein Schicksal selbst zu schaffen. . . . " Eine Zeit lang wurde nun dieser Plan erörtert; aber er scheiterte bald an seiner inneren Unmöglichkeit. Ein Ereig1 31. Juli 1846 (Familienpapiere).

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I. Teil.

III. Kap.: Im Justizdienst. Die Revolution 1848/49

nis kam hinzu, das K a p p ohnedies wieder stärker an die gegebenen Verhältnisse fesselte. Nach längerem Schwanken, ob er das Schicksal eines Mädchens an seine ungewisse Zukunft binden dürfe, verlobte er sich im Herbst 1847 mit Louise Engels aus Köln. Der starke Lebensmut beider überwand jedes Bedenken. Die Braut hatte ihm geschrieben 1 : „. . . wohin Du auch gehst, ich folge Dir. Ich würde es für sehr unrecht halten, wenn ich auf Dein Handeln, natürlich auf Dein wohl überlegtes Handeln, einen hemmenden Einfluß üben wollte." Aber die objektiven Hindernisse waren damit nicht aus dem Wege geräumt. Zudem lebte K a p p in der Erwartung der Revolution. Noch war über seine Zukunft nichts entschieden, als sie ausbrach. E r gab den Staatsdienst auf, u m sich in ihren Dienst zu stellen. Nicht aus Zufall suchte er als Schauplatz revolutionärer Tätigkeit den Südwesten auf. Wir erfahren aus einem Briefe an die Schwester 2 , daß K a p p auf dem Wege dorthin mit Moses Heß in Köln zusammentraf: „Ferner," heißt es da, „lernte ich Marx und einige Flüchtlinge kennen, die lange in London gelebt haben. Ich traf sie alle in dem Gottschalkschen Handwerkerverein 3 , dessen Mitglied ich bin. Wir hielten hier gegenseitig Reden, in denen wir oft einander bekämpften, im Grunde waren wir indessen die besten Freunde." Man spürt aus diesen Zeilen den jugendlichen Enthusiasmus, der sich leichten Herzens über die, gerade im sozialistischen Lager tiefgehenden Differenzen hinwegsetzte. Während eines kurzen Aufenthalts in F r a n k f u r t berief K a p p — Ende April — zusammen mit Moses Heß und Christian Esselen eine Arbeiterversammlung ein 4 . Sie forderte von dem 1 Der Brief ist in einer Abschrift Kapps (Familienpapiere) erhalten; das Original stammt vermutlich aus dem September 1847. 2 25. April 1848 (Familienpapiere). 3 Uber den Gottschalkschen Handwerkerverein vgl. H. Stein: Der Kölner Arbeiterverein (1848—49), Köln 1921; dazu die eingehende Besprechung im Marx—Engels Archiv, Bd. 1, 1926, S. 429ff. Ferner G. Mayer: Friedrich Engels, Bd. 1, S. 297. 4 Danach ist die Angabe von Max Quarck in seinem Buch: Die erste deutsche Arbeiterbewegung, Leipzig 1924, S. 102, daß Esselen Anfang Mai nach Frankfurt gekommen sei, zu berichtigen. Uber die Frankfurter Arbeiterbewegung 1848 vgl. ebenda S. 102ff. Kapps Name wird in diesem

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Teilnahme an der Revolution

Fünfzigerausschuß, der die Nationalversammlung vorbereitete, die Zurückberufung des außerbadischen Militärs, das gegen den Heckerputsch zusammengezogen war 1 . Freilich galt die Instanz, an die man sich wandte, in Kapps Augen wenig oder nichts. Er schrieb damals dem Vater 2 : „Der hiesige Fünfziger Ausschuß ist das verrottetste, reaktionärste Institut, das es nur geben kann. Ich habe einer Sitzung desselben beigewohnt, in der man den Antrag stellte, den König von Hannover oder Preußen zu ersuchen, sich an die Spitze eines Bundesheeres zu stellen, um die Ruhe in Deutschland wiederherzustellen. Dem entschiedenen Auftreten von Jacoby, Blum, Simon und Raveaux 3 ist es zu verdanken, daß dieser Antrag nicht durchging. . . . Im Volke hier herrscht dagegen der gesunde Sinn, der den weisen Herren im Römer abgeht. Es dreht sich natürlich alles um die Frage: Republik oder Monarchie? Ich habe aus dem Munde von Handwerkern, Kommis und Bauern die erstere auf eine so gewandte, feine und praktische Weise verteidigen hören, daß ich namentlich den preußischen Beamten eine gute Dosis dieser Darstellungsgabe wünschte. . . . Ich habe bis jetzt noch nirgends öffentlich gesprochen, um desto sicherer mein Terrain kennen zu lernen; dafür indessen im Stillen so gut gewirkt als ich konnte, u. a. auch eben mit Heß und Esselen, im Auftrage mehrerer Bekannten für diese eine Proklamation ans Volk entworfen." Von Frankfurt aus ging Kapp nach Mannheim. Zum ersten Male erlebte er dort Straßenkämpfe und Barrikaden. Über den Heckerputsch waren unzutreffende Siegesnachrichten verbreitet worden, so daß während der letzten Tage des April fast die Republik ausgerufen worden wäre. Es kam schließlich Zusammenhang nicht erwähnt. Ob er an der Arbeit in dieser Bewegung weiterhin beteiligt war, läßt sich nicht genauer feststellen. Der Akzent wird auch während der Revolution für ihn mehr auf der politisch-radikalen als auf der sozialistischen Betätigung gelegen haben. 1 Über die Adresse vgl. V. Valentin: Frankfurt a. M. und die Revolution von 1848—49, Stuttgart, Berlin 1908, S. 184. Ihr Inhalt ist dort z. T. wörtlich angeführt. Die Namen von Heß, Esselen und Kapp als den Urhebern werden nicht erwähnt. 2 24. April 1848 (Pamilienpapiere). 3 Dieser letzte Name war unleserlich geschrieben und ist von mir aus dem Zusammenhang erschlossen.

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zu blutigen Zusammenstößen mit hessischen und bayrischen Truppen 1 . Noch unter dem Eindruck dieser Mannheimer Vorgänge nahm Kapp wenige Tage später seinem Vater gegenüber die soeben angerührte Kernfrage der Verfassung wieder auf. Er schrieb ihm 2 : „Wegen meines Republikanismus brauchst Du Dir zuvörderst keine Sorgen zu machen. Die Unmöglichkeit seiner augenblicklichen praktischen Durchführung ist mir hier an dem Scheitern des Heckerschen Unternehmens klar geworden. Es fällt mir nicht ein, den Fürsten in die Arme zu fallen, da sie durch ihre bereits wieder offen sich brüstende Perfidie und Reaktion nur für die Zwecke der Republik arbeiten. Gleichwohl hindert dies nicht, daß Jeder, welcher der Konsequenz seiner Grundsätze fähig ist, überall wo er kann, die republikanische Richtung mit geistigen Gründen befördern hilft. Es ist dies im Interesse des ganzen Volkes wünschenswert, damit die Masse von Einsicht, Bildung und Charakter stärker auf die Leitung eines Ereignisses Einfluß erlange, welches nach den Gesetzen der Logik und Geschichte ganz unvermeidlich ist. Das Wenige, was ich für öffentliche Blätter geschrieben habe, war darum auch in diesem Sinne." So bekannte sich Kapp, wenn auch mit einigen realistischen Einschränkungen zum Prinzip der Republik. Voll Zuversicht genoß er bei den Heidelberger Verwandten den berauschenden südlichen Fühling. Er selbst hoffte, mit der Feder für das ersehnte Ziel kämpfen zu können: „Ich habe mich in die hiesigen revolutionären Zustände schon so hineingelebt," schrieb er der Schwester 3 , „als wenn ich von Anfang an darin gewesen wäre; ich kann selbst kaum glauben, daß ich drei Jahre lang ein Mitglied der preußischen Bürokratie war.. . . Nicht wir Republikaner und Humanisten sind Terroristen, sondern diese Pfahlbürger und engherzigen Beamtenseelen, die von der süßen Gewohnheit des Daseins nicht lassen können und jeden Fortschritt in die alten Fesseln, die sie zwar nicht einmal fühlen, zurückschleudern wollen." 1 Vgl. dazu V. Valentin: Geschichte der deutschen 1848/49, Berlin 1930, Bd. I, S. 499f. 2 7. Mai 1848 (Familienpapiere). 3 6. Mai 1848 (Familienpapiere).

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Revolution

Kapps ,.Republikanismus''

Kapps hoffnungsvoller Stimmung über seine eigene Zukunft lag der in diesen Tagen aufgetauchte Plan zu Grunde, Redakteur zu werden. Die badischen Radikalen Itzstein und Brentano wollten in Mannheim ein radikales Blatt ins Leben rufen, da die Volks- und die Abendzeitung dort eingegangen waren und es der Linken daher an einem Organ fehlte 1 . Kapp war die Stelle eines zweiten Redakteurs angeboten worden. Über seine Überlegungen und die politische Perspektive, in der er lebte, unterrichtet ein Brief, in dem er den Rat des Vaters einholte 2 : „Zu der selbständigen Leitung eines Blattes," so erkannte er an, „fehlen mir noch die Kenntnisse und die praktische Gewandheit; ich muß Politik und Sprachen noch ganz anders studieren, ehe ich einen solchen Posten gut ausfüllen kann. Die Gelegenheit mich heranzubilden, habe ich dagegen als zweiter Redakteur; ich lerne den Dienst von der Pike an kennen, kann mich in alle Branchen ganz bequem hineinarbeiten und bin noch früh genug bei der Hand, wenn ich auch zwei Jahre dazu brauchen sollte. Ich habe eine genügende Existenz, die bei der Bedeutung, welche die periodische Presse mit jedem Tage mehr gewinnt, später eine sehr gute werden muß, umso eher, als u n s e r e Zeit erst kommt. Darum möchte ich mich beim Parlament auch nicht in einer amtlichen Stelle verwenden lassen. Alle Auspizien deuten darauf hin, daß es den feigsten Konstitutionalismus vertreten wird, dem ich so wenig als dem speziell preußischen dienen mag. Es wäre das ein Verrat an meinen eigenen Grundsätzen. Die Reaktion arbeitet uns prächtig in die Hände, es kann darum auch nicht ausbleiben, daß in sehr kurzer Zeit 3 unsere Gegenreaktion die jetzigen Reaktionäre verdrängen und die Republik proklamieren wird. Diese ist unvermeidlich; ihr erster entschiedener Sieg ist die vom Parlamente ausgehende Erwählung des deutschen Kaisers; diese Narrheit gibt allen Monarchien in Deutschland den Todesstoß. Männer aber, welche dem Parlamente gedient haben, sind für die Republik 1 Vgl. dazu: Nicolaus Niebier: Die radikale Presse in Baden während der Revolutionsjahre 1848/49 in: Die Pyramide, Wochenschrift zum Karlsruher Tagblatt, Jg. 13, Nr. 33—35, 1924, S. 159ff., bes. S. 164. 2 7. Mai 1848 (Familienpapiere). 3 Dahinter hat der Vater ein Fragezeichen gesetzt.

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unmöglich geworden; sie verlangt neue Menschen und als solche müssen wir ihr uns stellen." Ob der Vater dem Plane widerriet oder ob die drängenden Ereignisse dazwischen traten, ist unbekannt. Jedenfalls finden wir Kapp wenige Tage, ehe die Nationalversammlung in der Paulskirche sich konstituierte, wieder in Frankfurt als Korrespondent verschiedener Zeitungen 1 . Für seine Auffassung ist bezeichnend, daß er damals vorschlug, sein jüngster Bruder Otto, der vor der Berufswahl stand, solle Seemann werden: „Die deutsche Flotte kommt so sicher als die Republik, die deutsche Flotte ist schon jetzt der allgemeine Ruf im Lande; das Parlament wird sie schaffen." Das bewegte Frankfurter Leben nahm er mit offenen Sinnen in sich auf. Er berichtete darüber dem Vater in einem Briefe 2 , der die Stimmung anschaulich schildert und auch sachliche Einzelangaben von Interesse enthält: „Es ist hier . . . eine solche Fülle von Geist und Kraft augenblicklich versammelt, daß man sich, um eine Vorstellung davon haben zu können, mitten darin bewegen muß.. . . Das Parlament ist kaum halb vollzählig; seine Sitzungen, in denen ich bis jetzt auf der Journalistenbank zwischen Fröbel und E. Dronke saß, drehten sich nur um Äußerlichkeiten; auch haben sich die Parteien noch nicht scharf sondern können, aber selbst die Anfänge deuten auf die Großartigkeit des sich hier entwickelnden politischen Lebens hin. Die Majorität ist allerdings noch so borniert, daß sie die Volksherrschaft mit dem Königtum vereinigen zu können glaubt; aber die ausgezeichnete Minorität bildet eine solche kompakte bewußte Masse, daß sie durch ihre eventuell zu stellenden Minoritätsprotestationen sich einen moralischen Einfluß und materiellen Sieg beim Volk sichern kann und muß. Du solltest einmal diese Versammlungen sehen: Jesuiten und Pietisten, Feudalisten und Absolutisten, Aristokraten und Bürokraten, konstitutionelle Bourgeois und 1 Aus seinen Briefen geht hervor, daß er u. a. regelmäßig Berichte für die „Reform" schrieb, die A. Rüge und H. B. Oppenheim herausgaben. Die „Reform" gehörte zu den vielen ephemeren Erscheinungen der Revolutionszeit. Ihre Korrespondenzen sind nur mit Chiffern bezeichnet. Kapps Beiträge sind nicht mit Sicherheit zu ermitteln. 2 14. Mai 1848 (Familienpapiere).

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Demokratischer Agitator in Prankfurt und im Badischen

Republikaner. Alle diese bewegen sich jetzt noch harmlos durcheinander. Indessen bald wird sich Spreu und Weizen voneinander sondern. Die radikale Partei hat schon ihr eigenes Lokal; gestern versammelte man sich; es war ein zu interessanter Abend. Ich ging mit Fröbel hin. Wir trafen dort Rüge, Jordan, Nauwerck, Zitz, Dronke, Jacoby, Bernays usw., kurz eine Masse von Menschen, [die] den Augenblick verstehen und ihn zu benutzen wissen. Es wurde viel und sehr gut geredet, natürlich bloß von den Parlamentariern. Der gescheuteste, am meisten politisch gebildete von allen ist Fröbel, dessen Umgang ein wahrer Genuß ist; er steckt das ganze Parlament in die Tasche" 1 . Seine Abende verbrachte Kapp im allgemeinen im demokratischen Klub. Zu seinem näheren Umgang gehörten in den Sommermonaten hauptsächlich Fröbel, Ludwig Feuerbach, Rüge und sein Onkel Christian Kapp, bis dieser sein Mandat in der Paulskirche niederlegte und Frankfurt verließ. Kapp selber unterbrach den Aufenthalt in der Parlamentsstadt gelegentlich mit Agitationsreisen ins Badische. Er versuchte dort bei Nachwahlen Mandate für Fröbel und Feuerbach in die Nationalversammlung durchzusetzen. Dann sammelte er Unterschriften für eine Petition, die auf friedlichem Wege in Baden die Republik durchsetzen wollte 2 . Mit dem unterdrückten Heckerschen Aprilputsch war die republikanische Bewegung nicht zur Ruhe gekommen. Sie hatte im Gegenteil neuen Auftrieb erhalten. Die badische Regierung war unfähig, ihrer Herr zu werden, und als die Petition, für die Kapp agitierte, tatsächlich mehrere tausend Namen erhielt, glaubten gewisse Kreise dem Großherzog anraten zu müssen, er solle die Regierung niederlegen und damit die Möglichkeit zur Rettung der Dynastie durch eine starke Regentschaft geben. Am 14. Juni trat in Frankfurt der Kongreß der deutschen demokratischen Republikaner zusammen. Kapp war dazu von Frankfurt und Hamm als Deputierter gewählt. Er be1 Kapp hatte Fröbel zuerst in Mannheim in den erregten Apriltagen persönlich kennen gelernt. Dessen „System der socialen Politik" (2 Bde. Mannheim 1847) hatte er schon vorher, offenbar mit Beistimmung gelesen. Vielleicht trug das mit zu seinem überschwenglichen Urteil bei. 2 Vgl. V. Valentin: a. a. O. Bd. II, S. 172.

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zeichnete den Kongreß in einem Briefe an die Schwester 1 als „ein um so prächtigeres Ereignis, als das Parlament ein lächerliches Monstrum ist". Auch er überschätzte die Möglichkeit, die in der Nationalversammlung nicht vertretenen Kräfte zu mobilisieren. Doch in dem Maße, wie die Anläufe der revolutionären Bewegung verpufften, nahm auch Kapps Optimismus ab. Schon im August schrieb er dem Vater 2 : „Die Fortsetzung dieses Korrespondentenlebens ist geisttötend, wenigstens hier in Frankfurt. Ich habe deshalb den Plan gefaßt, für einen Winter nach Paris zu gehen, mich in das dortige Treiben und politische Leben zu werfen und dadurch, daß ich zugleich Korrespondent für einige Zeitungen bin, meinen Unterhalt zu bestreiten. Ich lerne auf diese Art das täglich mehr Unentbehrliche der französischen Sprache, arbeite mich zugleich in die Staatswissenschaften hinein und beabsichtige dann, mich später einmal an irgend einer Universität oder noch besser, einer freien Akademie als Dozent der Politik niederzulassen, resp. Zeitungsredakteur zu werden. . . . Unsre deutsche Bewegung verspricht für unsere Richtung nichts mehr. Die Reaktion geht wieder mit vollen Segeln durchs Land und die Schlaffheit des Volkes bringt uns um die wenigen Errungenschaften der Barrikaden. Hier in Frankfurt ist's ein wahrer Jammer. . . . Die Linke ist ebenso haltlos, unentschlossen und eitel als die Rechte reaktionär und frech ist." Von dieser Zeit an sind nur spärliche Briefe Kapps erhalten. Im August war er in Köln zur sechshundert Jahrfeier des Dombaus. Ein kecker Streich, der seinen noch lebendigen Studentenübermut beweist, ist von dem damaligen Fest überliefert. Beim Ball waren dem späteren Kaiser Friedrich die schönen Töchter des Kölner Stadtkommandanten aufgefallen, Kapps Braut und ihre Schwester, und er bat sie zum Tanz. Der demokratische Heißsporn aber trat dem Prinzen mit den Worten entgegen, die Damen seien schon engagiert. Als er so die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, mußte er freilich rasch das Feld räumen. Es ist möglich, daß er 1 12. Juni 1848 (Familienpapiere). 2 9. August 1848 (Familienpapiere).

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Der Frankfurter Aufstand

danach noch einmal zu Hause in Hamm war. Das würde die Lücke in seinen Briefen erklären. Aber allzulang kann er nicht verweilt haben. Die Ereignisse trieben ihn nach Frankfurt zurück. Dort hatte sich inzwischen die Lage mit der Annahme des Waffenstillstandes von Malmö durch die Paulskirche am 16. September kritisch zugespitzt. Die Außenpolitik wurde als zentrales Problem der deutschen Revolution sichtbar. Die Nationalversammlung erlitt durch ihren Schritt einen schweren Schlag. Die Bedeutung dieses Vorgangs ist von den radikal Gerichteten vielleicht mehr instinktiv als verstandesmäßig bewußt erfaßt worden. Die Reaktion auf den Beschluß der Paulskirche erfolgte jedenfalls spontan in der auf der Frankfurter Pfingstweide zusammentretenden Massenversammlung. Auch Friedrich Kapp hat dort gesprochen. Schon Tags zuvor hatte er „als Leiter des demokratisch-republikanischen Vereins die Fäuste von zweitausendsiebenhundert Arbeitern zur Verfügung" gestellt, „wenn sich die Linke permanent erklären wollte" 1 . In der Paulskirche selbst trug Robert Blum bekanntlich den Sieg über die radikalsten Mitglieder seiner Partei davon, und der geschlossene Austritt der Linken oder der Antrag auf Auflösung der Nationalversammlung unterblieb. An den wüsten Straßenkämpfen des 18. September, die darauf folgten, war Kapp unbeteiligt. Er hat sie im Gegenteil, wie ein späteres Zeugnis belegt 2 , zu verhindern gesucht. An Briefen aus diesen erregten Tagen selbst fehlt es völlig. Sie setzen erst im Oktober wieder sparsam ein. Damals scheint die steckbriefliche Verfolgung begonnen zu haben 3 , die Kapp über die Grenze trieb. Er wandte sich fürs erste nach Brüssel. Von dort berichtete er an die Kusine 4 : „Der Kreis, in dem ich mich bewege, ist sehr angenehm. Einige Deutsche, Franzosen und Belgier bilden ihn. Ist die Zahl der hiesigen Republikaner auch nicht groß, so sind sie desto tüchtiger und am allermeisten 1 Vgl. Valentin, a. a. O. Bd. II, S. 159. 2 Brief an seinen Vater vom 24. Dezember 1849 (Familienpapiere). 3 Aus den Polizeiakten im Geh. Staatsarchiv in Berlin-Dahlem war Näheres nicht zu entnehmen. 4 18. Oktober 1848 (Familienpapiere).

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von jener Maulfertigkeit entfernt, die bei uns alles verdirbt, ja schon die ganze Revolution zu Schanden gemacht hat. So wenig ich auch bei dem Frankfurter Aufstand kompromittiert bin, so gewiß mich ein Geschworenengericht freispräche, ebenso sicher wird das Frankfurter Hochnotpeinliche Halsgericht absichtlich die Sache in die Länge ziehen und mich am Ende noch beistecken. Wäre ich einer der Urheber des Kampfes, so wollte ich dies alles ganz gerne auf mich nehmen; dann wüßte ich doch, wofür ich im Auslande jetzt wäre [!]; es ist aber unerträglich, so f ü r nichts und wieder nichts das Feld räumen zu müssen." Den Winter brachte K a p p in Paris zu, aber unter recht anderen Umständen als er noch im August geplant hatte. E r und Moses Heß, der sich schon im Mai nach Paris begeben hatte 1 , lernten die Flüchtlingsmisere am eigenen Leibe kennen. Mit Zeitungsberichten und Sprachunterricht schlug K a p p sich mühselig durch. Allmählich gelang es ihm, regelmäßige Korrespondenzen zu bekommen, nachdem die ersten Abmachungen für Wiener Blätter durch die blutigen Oktoberunruhen in der österreichischen Hauptstadt zunichte geworden waren. Sein Stolz verbot ihm, zu Hause etwas über seine Lage wissen zu lassen, wohl aber entwickelte er der Schwester eine umfassende revolutionäre Perspektive 2 : „Ich brauche Dich wohl nicht erst zu versichern, daß mir Paris in jeder Beziehung ausgezeichnet gut gefällt und meine Erwartungen bedeutend übertroffen hat. Wenn es mir gelingt, mir hier eine einigermaßen dauernde Existenz zu gründen, und die Ereignisse nicht rufen, so werde ich wohl fürs erste nicht weggehen. Überall wohin ich komme, finde ich etwas Neues und lerne, so daß ich kaum noch zum Verdauen all dieser großartigen Eindrücke gekommen bin. Ich gehe hier fast nur mit Handwerkern um, da ich nur abends regelmäßig ausgehe. . . . Es wird in unserem Kreise fast nur über soziale Fragen und über die Präsidentenwahl 3 sowie die deutschen 1 Über Heß während der Revolutionszeit vgl. Theodor Zlocisti: Moses Heß, der Vorkämpfer des Sozialismus und Zionismus. 2. Aufl., Berlin 1921, S. 244ff. 2 23. November 1848 (Familienpapiere). 3 Am 10. Dezember wurde Louis Napoleon durch Plebiszit zum

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Als Flüchtling in Paris

Angelegenheiten diskutiert, alles mit einem Anstand, einer R u h e und Würde, wie man sie in Deutschland gar nicht kennt. . . . Soweit mich die Vorgänge in Preußen nicht in Anspruch nehmen, treibe ich jetzt politische Ökonomie.' Sie wird eine mit jedem Tage unentbehrlichere Wissenschaft, da wir einem totalen Untergange der bestehenden Verkehrs- und Lebensverhältnisse entgegengehen. Eine neue Welt liegt mit einer absterbenden Kulturepoche im Kampfe, alle Verwicklungen treffen zusammen, um die Entscheidung zu einer grausenhaften, blutigen zu machen. Wir stehen am Vorabend einer Umwälzung, wie sie die Welt noch nicht gesehen h a t ; es ist darum auch die Aufgabe eines jeden denkenden Menschen, sie mit Bewußtsein durchzumachen, um auf diese Weise das Seinige zur Lösung der schrecklichen Gegensätze beizutragen. Das Resultat ist die demokratisch-soziale Republik; dem Absolutismus sowohl wie der Bourgeoisie ist das Messer an die Kehle gesetzt. Hier in Paris ist alles auf den erbittertsten Kampf gefaßt; der Tag der Präsidentenwahl ist die erwünschte Gelegenheit, wo die Entscheidung beginnen wird. Die hiesige Republik ist ein Hohn auf das Wort; in Rußland sieht es nicht viel schlimmer aus. . . . Die Ermordung Blums h a t den revolutionären Terrorismus sanktioniert. Es ist bereits so> weit gekommen, daß er unser einziges Rettungsmittel b l e i b t . . Die ganze Energie meines Hasses gilt den königlichen Bluthunden und ihrem Schweif; von unseren Feinden habe ich gelernt, was man zu t u n hat. . . ." Man sieht an solchen Äußerungen, wie auch K a p p der in Flüchtlingskreisen leicht eintretenden Blickverschiebung nicht entgangen ist. Mit den energischsten Naturen unter ihnen teilte er den Willen zum höchsten Einsatz: „Wenn nur der Kampf in Preußen losginge," schrieb er der Kusine 1 , „dann eilte ich so schnell als möglich hin, u m meine H a u t zu Markte zu tragen gegen den Absolutismus." Man wird solche revolutionären Zeugnisse trotz Kapps jugendlich erregbarem Temperament und seiner Veranlagung,, sich momentanen Eindrücken hinzugeben, ernst nehmen Präsidenten der Republik gewählt. Der Brief ist am 23. November geschrieben. 1 4. Dezember 1848 (Familienpapiere).

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dürfen. Die aufgewühlte Pariser Atmosphäre schuf Ausblicke, die eine nüchterne Erkenntnis der politischen Lage kaum zuließen. Auch der nahe Verkehr mit dem schwärmerischen Moses Heß mag in diesen Wochen zu Kapps Stimmung beigetragen haben. Sein Einfluß ist unverkennbar in den Pariser Briefen. Zu Beginn des Jahres 1849 lernte Kapp zu Paris in dem Emigranten Alexander Herzen einen der bekanntesten Vertreter des russischen „Westlertums" kennen 1 . Herzen nahm Kapp als Mitarbeiter seiner literarischen Bestrebungen und als Erzieher seines Sohnes in sein Haus auf. Im Juli 1849 wurden Kapp und Herzen von der Napoleonischen Polizei aus Paris ausgewiesen. Sie vertauschten ihren Aufenthalt in Frankreich mit dem in Genf. Dieser Wechsel der Umgebung zusammen mit dem größeren zeitlichen Abstand ließ Kapp die Dinge bald nüchterner betrachten. Zwar befand sich auch in Genf ein Heerlager von Flüchtlingen aus Deutschland, Frankreich, Italien und Ungarn; und auch Kapps literarische Tätigkeit — er hatte die deutsche Bearbeitung der Herzenschen Schrift „Vom anderen Ufer" übernommen 2 — bewegte sich noch in den Gleisen der Flüchtlingspolitik. Aber Kapp dachte zu kritisch und gesund, als daß er nicht die lächerlichen Seiten dieses Treibens rasch durchschaut hätte. So schrieb er sehr bezeichnend dem Vater 3 : „Die meisten der Flüchtlinge bilden ein schauerliches Korps. Der eine schimpft den anderen, erhebt sich über ihn, nennt ihn Feigling und Verräter und sucht sich möglichst durch viel Schmutz und Faulenzen auszuzeichnen. Wer nicht mit ihnen umgeht, ist selbstredend ein Bourgeois oder ein Aristokrat. Die deutsche Demokratie muß wahrhaftig noch gehörige Prügel bekommen und gereinigt werden, ehe sie siegen und sich als Siegerin behaupten kann." „Flüchtling zu sein, ist jetzt ein förmliches Hand1 tragen, 2 1850. 3

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Vgl. Alexander Herzen: Erinnerungen, aus dem Russischen überherausgegeben und eingeleitet von Otto Buek, 2 Bde., Berlin 1907. Vom anderen Ufer. Aus dem Russischen Manuskript, Hamburg 13.Auguat 1849 (Familienpapiere).

Ergebnis der Revolution für Kapp

werk," stellte Kapp fest, aber es war ein Handwerk, zu dem er selbst sich nicht brauchbar fand 1 . Was gleichwohl die Revolution für seine persönliche Entwicklung bedeutet hat als Antrieb wie als Lehre, das faßte Kapp in einem Briefe an seine Kusine Johanna zusammen, kurz ehe er daran ging, diesen Abschnitt auch äußerlich zu liquidieren 2 : „Ich bin wenigstens," so meinte er, „bis zu dem Punkte gekommen, daß ich mich nicht mehr mit der Blindheit eines Studenten in jede verpfuschte Geschichte stürze aus Lust am Skandal, sondern daß ich die Dinge wenigstens etwas im Zusammenhang betrachte und danach ihre Tragweite bemesse. So habe ich mich auch nicht bei der badisch-pfälzischen Aufregung beteiligt, nachdem ich an Ort und Stelle die Verhältnisse kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hatte. Ich kam mit dem besten Willen hin und hatte selbst meine ganze Stellung in Paris aufgegeben, reiste aber tags darauf wieder ab, weil mir auf Schritt und Tritt die gänzliche Planund Kopflosigkeit entgegentrat 3 . Der deutsche Philister ist eben selbst in seiner Empörung noch empörend. Es ist freilich leicht, hier zu kritisieren, aber schwer es besser zu machen. Ich bin übrigens auch nicht so anmaßend, das letztere von mir zu behaupten, im Gegenteil fühle ich den großen Fragen der Zeit gegenüber meine Unzulänglichkeit vollkommen, da ich mich nicht für bedeutend genug halte, sie zu lösen. Mögen andere das tun, ich will sie, soviel an mir ist, unterstützen und wenigstens durch eitles Hervordrängen die Revolution nicht verpfuschen helfen. Hinsichtlich des zu erreichenden 1 Bezeichnend ist auch eine Äußerung Kapps gegenüber Moses Heß aus dieser Zeit: „Ich . . . halte . . . die bloße theoretische Agitation für ein viel zu untergeordnetes Revolutionsmittel und persönlichen Beruf im Vergleich zu meinem ganzen Lebensglück." Vgl. Th. Zlocisti: a . a . O . S. 247. Zlocisti haben bei der Abfassung seines Buches noch Briefe Kapps an Heß vorgelegen, die ich im Heß-Nachlaß im Archiv der ehemaligen S . P . D . , jetzt Geh. Staatsarchiv Berlin-Dahlem, nicht mehr habe finden können. 2 1. August 1849 (Familienpapiere). 3 Die Tatsache, daß Kapp am Pfälzer Aufstand nicht teilgenommen hat, muß unterstrichen werden, da z. B. der Nekrolog Georg von Bunsens (Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 49,1885, S. 6) darüber eine falsche Angabe bringt, ebenso die Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 51, S. 34. 5

Köntgsb. bist. Forsch.

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Zieles stimme ich mit Robespierre überein, daß jede Revolution, welche die Lage des Volkes nicht g a n z verbessert, nur ein neues Verbrechen an der Menschheit ist. Für uns Jüngere gibt es eigentlich kein größeres Unglück, als daß die Bewegung ein paar Jahre zu früh für uns ausbrach; an diesem so häufigen Dualismus zwischen dem guten Willen und der unzulänglichen Kraft wird noch manches zu Grunde gehen; ein noch größeres Unglück aber ist es, daß die wenigsten sich das gestehen wollen." Während so Kapps innere Stellung zu den revolutionären Hoffnungen sich wandelte, schwand auch die äußere Basis seines Genfer Aufenthalts. Die persönlichen Verhältnisse Herzens verschlechterten sich, so daß gegen Ende des Jahres 1849 Kapp nicht länger bei ihm bleiben mochte. Schon seit Monaten war er zudem mit Plänen beschäftigt, die ihm endgültig eine Existenz und die Heirat ermöglichen sollten. Da tauchte von neuem der Gedanke auf, nach Amerika auszuwandern. Im gleichen Jahre ging ja auch Kapps Onkel Ernst nach Texas. Überhaupt steigerten sich zum ersten Male die Ziffern der deutschen Auswanderung gewaltig. Kapp hat zeitweilig daran gedacht, sich dem Onkel und seiner Familie anzuschließen, die auch seinen jüngsten Bruder Otto mitnahm. Kapps älteste verheiratete Schwester und ihr Mann spielten gleichfalls eine Zeitlang mit dem Gedanken auszuwandern. Friedrich Kapp war fest entschlossen, so bald er festen Fuß gefaßt hätte, den Vater und die jüngere Schwester nachkommen zu lassen 1 . Amerika winkte als das Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten. Trotzdem bekannte er der Kusine 2 in dem gleichen Briefe, in dem er die Bilanz der Revolutionserfahrungen zog: „Die endliche Entscheidung

1 Eine Tochter des nach Zürich übersiedelnden Alexander Kapp, Cäcilie, ist tatsächlich noch in den sechziger Jahren nach Amerika ausgewandert. Sie war eine der ersten weiblichen Professoren in den Vereinigten Staaten und lehrte am Vassar-College. Im Alter ist sie aber wie die anderen Kapps nach Deutschland zurückgekommen. Auch August Kapp, ein Sohn Christians, ist nach den Vereinigten Staaten ausgewandert, nach kurzer Zeit indessen heimgekehrt. 2 1. August 1849 (Familienpapiere).

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Auswanderung nach den Vereinigten Staaten

wurde mir. . . recht schwer, da mich eben die Entwicklung und die Teilnahme an der deutschen Bewegung so sehr in Anspruch nimmt, daß ich bei einigermaßen günstigen Vermögens- oder Erwerbsaussichten gern hier bliebe. Hier bleiben wie die Sachen jetzt stehen, hieße aber mein schönes Verhältnis zu Louise ganz aufgeben und mir alles persönliche Glück abschneiden. Da ich nun aber berechtigt zu sein glaube, nach diesem vor allem zu streben und da ich nur auf seiner Grundlage später einen kleinen Teil zur etwaigen Humanisierung der europäischen Verhältnisse beitragen kann, so glaube ich mich durch meine Auswanderung keines Verrats an der Revolution schuldig zu machen." Kapp dachte anfangs nicht daran, seine juristische Ausbildung zum Fortkommen in Amerika zu benutzen und schlug sogar ein Anerbieten dieser Art zunächst aus. Er wollte wie sein Onkel Ernst Land erwerben und siedeln; also galt es, sich darauf vorzubereiten. Seine Braut hatte sich einverstanden erklärt, und beide waren überzeugt, daß sie ihr Schicksal meistern würden. Erst sein Schwiegervater brachte Kapp dazu, es doch auf andere Weise zu versuchen und sich an einem Unternehmen zu beteiligen, das Julius Eröbel, Franz Zitz und ursprünglich auch Ludwig Bamberger planten. Sie wollten ein „überseeisches Geschäftsbüro" gründen ,,zur Besorgung von Rechts-, Erbschafts- und Vermögens-Angelegenheiten, welche eine in Europa und Amerika zusammen wirkende Thätigkeit verlangen". So hieß es in den Anzeigen, als der Plan Wirklichkeit wurde. Bamberger schied sehr bald aus. Fröbels Name stand nur auf dem Firmenschild, ohne daß er sich beteiligte. Außer Kapp blieb demnach nur Zitz bei dem Vorhaben. Er war damals Mitte der Vierzig und hatte bereits eine erfolgreiche Rechtsanwaltspraxis in Mainz hinter sich, aus der ihn die Revolution herausriß1. Die Mittel der beiden Geschäftspartner verteilten sich so, daß auf Zitz' Seite Erfahrung und materielles Vermögen waren; Kapp hingegen brachte Schwung und härteren Willen hinzu. Im Dezember 1849 kam Kapp heimlich nach Deutschland 1 Vgl. über ihn Ludwig Bamberger: Erinnerungen. S. 27ff. 5*

Berlin 1899,

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zurück, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Noch war er nicht freigesprochen; nicht einmal der Steckbrief gegen ihn war zurückgezogen. Den Januar und Februar 1850 brachte er mit dem Ordnen seiner Angelegenheiten incognito in Köln bei der Braut zu. Ihr Vater konnte sich nicht entschließen, die Tochter sogleich in die ungewisse Zukunft ziehen zu lassen. So mußte sich Kapp damit bescheiden, die Reise allein anzutreten; in wenigen Monaten wollte die tapfere Braut ihm folgen. Am 10. März 1850 schiffte er sich in Antwerpen zur Fahrt nach New York ein, und Mitte April betrat er nach einer stürmischen Reise den Boden des Landes, in dem er sich eine neue Heimat gründen wollte. Die erste Phase seines Lebens lag hinter ihm. Der ungestüme Jüngling war in einer an Hoffnungen und Enttäuschungen reichen Epoche zum Manne gereift. Aber nächst den Ereignissen der Zeit hatte auch das Wesen des Mädchens, das er sich zur Gefährtin seines Lebens gewählt, an seiner Entwicklung mitgearbeitet und wurde nun für sein weiteres Leben von unauslöschlicher Bedeutung. Louise Engels war die älteste Tochter eines der wenigen bürgerlichen Offiziere der damaligen preußischen Armee, die bis zu den höchsten Stellen aufgestiegen sind. Ihr Vater, Friedrich Engels 1 , entstammte einer hugenottischen Adelsfamilie, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts um des Glaubens willen das angestammte Vaterland verlassen hatte und sich am Rhein niederließ. Dort germanisierten sich die d'Ange bald, sie verdeutschten ihren Namen in Engels und legten den Adel ab. Ihre Mitglieder waren reformierte Geistliche, Juristen und Fabrikanten. In Kettwig am Rhein sollen sie die Tuchfabrikation eingeführt haben. Friedrich Engels war zum Mediziner bestimmt, aber noch ehe er sein Studium beginnen konnte, trat er in das Napoleonische Heer ein. Sein jüngerer Bruder war zum Dienst gepreßt worden, und Friedrich Engels stellte sich, um ihn davon zu befreien, als sein Ersatzmann. Als blutjunger Leutnant machte er den spa1 Den Angaben über die Familie Engels (d'Ange) liegen Nachrichten eines Familienstammbaumes zu Grunde, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts angelegt wurde, sowie mündliche Familienüberlieferung.

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Die Familie der Braut

nischen und den russischen Feldzug mit. Er wurde dabei ein glühender Bewunderer Napoleons. Gleichwohl quittierte er den französischen Dienst vor den Freiheitskriegen. Durch sein Ehrenwort gebunden, konnte und wollte er diese auch auf der preußischen Seite nicht mitmachen. Aber unmittelbar danach trat er in die preußische Armee ein. In ihr stieg er schließlich zum Generalmajor und Kommandanten von Köln auf. In der Revolution von 1848 rettete er durch seine kaltblütige Unerschrockenheit die Stadt Köln vor wiederholten revolutionären Anschlägen1. Die dankbaren Bürger errichteten später ihrem Kommandanten auf dem Melatenfriedhof ein Monument. Die mütterlichen Vorfahren von Louise Engels waren rheinische Bürger und Patrizier. Von ihres Vaters und ihrer Mutter Seite her war eine aufrichtige und streng kirchlich protestantische Frömmigkeit Tradition. Louise Engels war ungewöhnlich vielseitig gebildet. Als Friedrich Kapp die Einundzwanzigjährige kennen lernte, hatten die Eindrücke der Jugendzeit sie über ihre Jahre hinaus gereift. Denn bei ihrer Mutter, einer zarten Frau, waren früh Anzeichen einer Gemütserkrankung aufgetreten, und schon das Kind hatte bei der Pflege, die es besonders gut verstand, geholfen. Als sie heranwuchs, war sie dem vereinsamenden Vater ebenso sehr vertraute Freundin wie Tochter. Für den durch und durch preußischen Royalisten bedeutete es den härtesten Schlag, als dieses, sein liebstes Kind, sich mit einem Manne verlobte, der politisch und religiös so anders dachte wie er. Aber er war zu groß gesinnt, um sich der Tochter in den Weg zu stellen. Auch mag ihm der bezwingende persönliche Zauber des jungen Schwiegersohns den Entschluß erleichtert haben. In Kapps Wesen lagen starke Gegensätze zu dem seiner Braut. Das zeigte sich schon in ihren Erscheinungen. Seine hohe blonde Gestalt voll sprühender Lebendigkeit stand neben dem gemessenen Stolz und der aristokratischen Würde des schwarzhaarigen und dunkeläugigen Mädchens. Beide begegneten sich in dem Adel der Gesinnung und einem unbeugsamen Lebensmut; aber seiner strahlenden Heiterkeit stand 1 Über sein Verhalten vgl. Hans Stein: a. a. O. S. 73ff. und 8. 88.

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I. Teil.

III. Kap.: Im Justizdienst.

Die Revolution 1848/49

ihr leidenschaftliches und zugleich schroffes und schwerblütiges Wesen gegenüber. Sie gab sich nicht leicht, doch wem sie ihr Vertrauen einmal geschenkt hatte, an dem hielt sie in unerschütterlicher Treue fest. Sie besaß einen fast männlich scharfen Verstand, ohne daß sie je damit hervorzutreten gewünscht hätte. Voll weiblicher Hingebung und zarter Zurückhaltung vermochte sie dem Manne, sooft er dessen bedurfte, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. In dankbarem Freimut hat er oft bekannt, wie sie ihn vor unbedachten Schritten zurückgehalten habe. Man möchte glauben, daß das sioher in sich ruhende Wesen dieser vornehmen preußischen Offizierstochter auch schon auf die brausende Leidenschaft des jungen Revolutionärs beschwichtigend gewirkt h a t G e w i ß war er darauf angelegt, sich nicht in sinnlosem Draufgängertum zu vergeuden bei allem persönlichen Mut und ehrlichen Willen zum Einsatz. Aber darin zeigte sich der Kern seiner Natur, daß er mäßigenden} Einfluß zugänglich und fähig war, sich zu zügeln. Hier scheint uns der entscheidende Zug seiner Beteiligung an der Revolution überhaupt zu liegen. Der Gegensatz zu der Generation seines Vaters und der Brüder seines Vaters liegt offen zutage. Jene wurzelten noch unmittelbar in der philosophischen Welt- und Staatsauffassung des deutschen Idealismus. Ihre Teilnahme an der Revolution war ideologischen Gepräges und von doktrinären Zügen nicht frei; ideologisch bestimmt war auch die Entscheidung Ernst Kapps, das Leben, zu dem er erzogen war und in dem er Ausgezeichnetes geleistet hatte, abzubrechen und als Siedler in einer fernen, unkultivierten Gegend von vorn anzufangen. — Nicht als ob der Generation Friedrich Kapps die weltanschaulichen Ideologien als Grundlage und Impulse ihres Handelns gefehlt hätten! Aber ihre Inhalte hatten sich gewandelt. Im geistigen Aufbau Friedrich Kapps war die Feuerbachsche Philosophie zum wesentlichen, ja vielleicht zum entscheidenden Ferment geworden. Dieser Tatsache kommt über die bloß individuelle hinaus auch sympto1 Der Briefwechsel aus der Brautzeit wurde auf den Wunsch von Louise Kapp—Engels nach ihrem Tode 1916 vernichtet.

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Unterschied der Generationen

matische Bedeutung zu. Wir sahen, wie stark Kapp aus einem idealistischen Altruismus heraus, dessen Ausgangspunkt in Feuerbachschen Lehren zu suchen ist, von sozialistischkommunistischen Zeitströmungen ergriffen wurde, obwohl sie eigentlich fern der bürgerlichen Artung seiner Persönlichkeit verliefen. Sein Temperament und seine Jahre drängten ihn, anders als Vater oder Onkel, die in erster Linie publizistisch zu wirken suchten, zur aktiven Betätigung im öffentlichen Leben, und so vermochte er auch ganz anders die Grenzen des praktisch Durchführbaren zu erkennen. Ohne seine Ideale als solche aufzugeben, ist ihm die Aussichtslosigkeit der revolutionären Ziele früh aufgegangen, und schon im Sommer 1849 zog er in Genf, nach dem kurzen Intermezzo wieder aufflackernder Hoffnungen in Paris, ein endgültiges Fazit. Der angeborene Instinkt seiner klaren Natur setzte sich stets wieder durch gegen Einflüsse, denen er bei seinem Temperament und der Empfänglichkeit seines Alters zeitweilig unterlag, die ihm im Grunde aber nicht gemäß waren. Dieser Instinkt erleichterte ihm auch, sich wieder in eine bürgerliche Existenz einzuordnen. Es war sicher nicht von ungefähr, daß er, dem Rat des Schwiegervaters folgend, nicht als Farmer in den abgelegenen Süden oder Westen der Vereinigten Staaten, sondern als Jurist nach New York ging. Wie eine Vorahnung der Zukunft klang es, als er dem Vater zum Abschied schrieb, er hoffe, „daß dereinst die Erfahrungen des gereifteren Mannes dem Vaterlande zu Gute kommen werden."

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n. TEIL ,Jm Hintergrunde aller meiner Pläne liegt Deutsehland, die Rückkehr nach Deutschland. . . ." Friedrich List. „Sanctus amor patriae dat

animum." Freiherr vom

Stein.

IV. KAPITEL

Die Jahre in Amerika (1850—70) Friedrich Kapp hat seine Laufbahn in New York mit 5 Francs 3 Sous in der Tasche begonnen 1 . Die Lage des Ankömmlings hat er selber ungeschminkt geschildert: „Frei tritt der Einwanderer hier an's Land; allein seine Freiheit ist nichts als das nackte Leben, welches er aus dem politischen Schiffbruch gerettet hat. Vom ersten Tage seiner Ankunft an auf seine eigene Kraft angewiesen, muß er Alles von vorn wieder anfangen und findet weder eine Stütze in seinen früher eingewanderten Landsleuten, welche ihn lieber ausbeuten oder wegen seiner »Grünheit« bemitleiden, noch in den Eingeborenen, welche ihn mit einem nur zu natürlichen Mißtrauen betrachten. End weder — oder, er muß biegen oder brechen, Ambos [!] oder Hammer sein! Es bleibt ihm keine andere Wahl, als daß er sich sofort in den Maelstrom des amerikanischen Lebens stürzt, um mit den Anderen ringend und kämpfend nach einem Ziel zu schwimmen. Es ist der 1 Vgl. H. von Holst: Bd. 55, 1885, S. 226.

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Friedrich

Kapp; Preußische

Jahrbücher,

Lage des Einwanderers

Krieg Aller gegen Alle! Wer nicht oben bleibt, wird erbarmungslos unter die Füße getreten. Diese eiserne N o t w e n digkeit wirkt selbstredend ganz niederdrückend auf den Einzelnen. Unbekanntschaft mit der Sprache und den Sitten des Landes, eine Fülle ungewohnter Anschauungen und Eindrücke und die Unbehaglichkeit des ersten Einwohnens in die neuen Verhältnisse, alle diese Mißstände tragen nicht grade dazu bei, das Selbstvertrauen zu heben oder die Freudigkeit des Schaffens zu erzeugen. In dieser mißlichen Lage macht sich bei schwachen Naturen eine dumpfe Resignation geltend, während sie bei energischen und kräftigen Menschen einen unbezähmbaren Thätigkeitstrieb, ein ungestümes, sehr häufig planloses Vorwärtsstreben erzeugt. Selbst der dem Ankömmling keineswegs lieblich klingende deutsch-amerikanische Trost, daß erst der letzte europäische Thaler ausgegeben sein müsse, ehe an ein selbständiges Fortkommen in Amerika zu denken sei, gilt in nur beschränktem Grade für den politischen Flüchtling, da er in der Regel gar keine oder nur sehr wenige Thaler zu verlieren hat" 1 . Kapp selber gehörte unstreitig zu den energischen Menschen, bei denen Schwierigkeiten einen unbezähmbaren Tätigkeitstrieb entbanden. Es zeigte sich bald, daß mit der überseeischen Agentur, die er gemeinsam mit Zitz und dem rasch wieder ausscheidenden Fröbel gegründet hatte, vorerst nicht viel zu verdienen war. Kapp erzählte später oft mit Humor davon, daß sie noch lange „ihre Aufmerksamkeit fast ungetheilt den Fliegen an den Fensterscheiben und dem aus dem nächsten Schornstein aufwirbelnden Rauch hätten widmen können" 2 . Die Konkurrenz mit unzähligen, teils schon eingebürgerten Landsleuten war scharf. Die Ausgaben für das neue Unternehmen überwogen zunächst die Einnahmen. Auch eine Umstellung des Geschäfts hauptsächlich auf Auswandererberatung fruchtete nicht viel. Die im Beginn der fünfziger Jahre zu bisher unerhörten Zahlen sich steigernde deutsche Auswanderung, die 1854 mit 427 833 Einwanderern einen Rekord erreichte, schien zwar einer solchen Änderung 1 Vgl. F. Kapp: Aus und über Amerika, Berlin 1876, Bd. 1, S. 308f. 2 So die mündliche Redeform bei H. von Holst a. a. 0 . S. 228.

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II. Teil. IV. Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

günstig. Aber je besser Kapp die amerikanischen Verhältnisse kennenlernte, desto genauer vermochte er auch die der Auswanderung entgegenstehenden Gründe zu beurteilen. Eine Ausdehnung dieses Geschäftszweiges konnte er vor seinem Gewissen jedenfalls nicht verantworten. Schon nach zwei Monaten schrieb er dem Vater 1 : „Mit den gepriesenen Herrlichkeiten des Farmerlebens ist es . . . so weit nicht her, wenn man kein großes Kapital zur Bewirtschaftung hat. Ein armer Deutscher muß hier in Amerika erst arbeiten lernen; in seiner Heimat ist es Spielerei. Bauern kommen ausgezeichnet gut weg. Ebenso ganz reiche Leute; aber diejenigen, welche nicht von Jugend auf Landwirtschaft trieben und kein einträgliches Handwerk kennen, sollten doch ja von Amerika wegbleiben, selbst wenn sie ein wenig Vermögen haben. Nach allem, was ich gesehen, — und ich war nur in der Nähe von New York! — können sich gebildete Menschen hier als Farmer so leicht nicht glücklich fühlen. Ich bin neugierig, was Onkel Ernst schreibt. Gewöhnlich lügen die meisten Berichte, die nach Deutschland kommen aus Eitelkeit und dummem Stolz. . . . Dazu lebt der Deutsche in einem so seligen Himmel der süßesten Illusionen und Abstraktionen, daß er die Wahrheit nicht glauben will, weil sie ihm nicht gefällt. — Rate allen, die nicht Bauer, Handwerker oder sehr reich sind, die Auswanderung eher ab als zu. Die blödsinnigen Ansichten über hiesige Zustände sind denn doch zu teuer mit dem Lebensglück ganzer Familien bezahlt." Die Problematik der „lateinischen Bauern" hat Kapp 1852, nachdem er auf Geschäftsreisen seine Erfahrungen erweitert hatte, auch literarisch in einer reizvollen Studie behandelt 2 . Es fehlt seiner realistischen Darstellung nicht an Ironie, die zeigt, wie vollkommen er selber inzwischen den Gedanken zu farmen, aufgegeben hatte. „Es lautet so schön, so idyllisch, wenn Sie in Europa vom Blockhaus in der einsamen Prairie lesen, von der 1 25. Mai 1850 (Familienpapiere). 2 Vgl. Kapp: a . a . O . Bd. 1, S. 291ff. Die ursprüngliche Passung erschien in etwas anderer Form unter dem Titel: der romantische Westen in: Atlantische Studien, Göttingen 1853ff., Bd. 2, S.30ff. Zu dem Aufsatz Kapps vgl. auch: W. Kaufmann: Die Deutschen im amerikanischen Bürgerkrieg, S. 148, Anm. 1. 74

Die „lateinischen Bauern"

Frische des Ansiedlerlebens und von dem stillen Glücke des Farmers. Da denken Sie sich unwillkürlich den sonnenverbrannten Mann, der freudig in jeder Furche seines Pfluges die dem starren Boden eingeprägten Schriftzüge der Zivilisation erblickt und der für alle Last des Tages, für alle ungewohnten Mühen am Abende volle Erholung bei einem liebenden, ebenso unverdrossenen, schaffenden Weibe findet. Die Kinder müssen sich da natürlich jubelnd auf des Vaters Knie lehnen und neugierig seinen Erzählungen aus Europa oder der großen Welt horchen. Sie glauben nicht anders, als daß Gesang und Freude, Geselligkeit und Gesundheit das ländliche Stillleben verschönern, und daß die Familie den Augenblick nur segne, in welchem sie den »gastlichen« Boden dieses freien Landes betreten, während ihr die alte Heimath keinen Seufzer der Sehnsucht, keine Träne mehr entlocke. 0 süße Täuschung! Sehen Sie nur hinein in die bescheidene Hütte und suchen Sie einmal das gerühmte Glück mit Händen zu greifen. Gewöhnlich ist es so still, daß der Farmer selbst nichts davon empfindet. Sein ganzes Leben ist ein unausgesetzter und mit verschiedenem Glücke geführter Kampf mit den Elementen. Der Eine geht daraus hervor als Schurke, der Andre als geistig und körperlich abgestumpfter Mensch und der Dritte, ja der Dreißigste vielleicht, als Held und Sieger. Aber auch er ist der Welt verloren, dem nimmer ruhenden Kampfe der Gegenwart entrückt, eine lebendige Ruine, welche den charakteristischen Stempel des Tages trägt, an welchem er die streitenden Heere in Europa verließ. Leidiger Trost dies, daß auch um das Blockhaus der Geist der Geschichte wehe! Ja um's Blockhaus herum weht er wohl, aber nicht hinein, nicht in die monotone Abgeschiedenheit des Farmers, denn der Geist äußert sich nur da, wo Gegensatz, Leben und Bewegung herrscht. . . . Die von den gescheiterten Freiheitsbewegungen der vierziger Jahre nach Amerika geschleuderten und namentlich die dort als Farmer niedergefallenen Auswanderer stecken eben noch mitten in der Romantik und hängen ihr höchstens zur Beschönigung ihrer eigenen logischen Schnitzer ein andres Mäntelchen um. Wie hätten sonst diese Männer, welche in Europa so viel Verstand, so uneigennützige, hochherzige Hingabe an eine 75

II. Teil. IV. Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

Idee bewiesen, hier mit ihrer ganzen geistigen Vergangenheit brechen und sich blindlings dem gemüthlichen Dusel in die Arme werfen können? Eine merkwürdige Verirrung dies: Leute, die ihr früheres Leben in Amtsstuben und auf Kathedern zugebracht, die kaum je einen Spaten und eine Hacke in der Hand gehalten haben, die also auch ganz anders organisirt und gefasert sind als ein Bauer, diese Leute geben sich mit aller, einer bessern Sache würdigen Energie unsägliche Mühe, zu verbauern und ihrer eigensten Natur untreu zu werden, ja sie nennen es noch eine ä la Faust erfolgte geistige Wiedergeburt, wenn sie auf's Feld hinaus gehen und graben, um dort im Alltagsgeklatsch, Pflügen und Whisky jeden Anflug geistigen Strebens zu verlieren. Praktisch werden! heißt die Parole, mit der sie in dies neue Lebensstadium treten, und praktisch sein ist der höchste Ruhm, den sie aus diesem kleinlichen Ringen um das tägliche Brot davontragen. So werden sie, wenn sie nach Amerika kommen, Farmer und lullen ihr revolutionäres Ich in den Schlaf mit Phrasen von der ethischen Verklärung der Natur, von ihrer, selbst unter den äußersten Widerwärtigkeiten bewährten Manneswürde"1. Zog Kapp die Bevölkerungsschichten in Betracht, die sich an ihn um Rat wandten, so konnte er nicht Gewinn suchen mit Ratschlägen, die seinen Ansichten nicht entsprachen. „Zu den Einwanderern habe ich gar keine Beziehungen mehr," schrieb er darum schon 1852 an Feuerbach 2 , „indem wir diesen Zweig unseres Geschäfts deshalb aufgegeben haben, weil die Leute doch nie hören wollen und weil jeder gutgemeinte Rat in den Wind gesprochen ist." Aber die Umstände drängten; im Sommer 1850 hatte Kapp geheiratet ; er mußte für seine junge Frau und sich das tägliche Brot herbeischaffen. So benutzte er jede sich bietende Gelegenheit. Er versuchte es mit einem Weinhandel, der freilich wenig gewinnbringend ausfiel. Er fertigte Übersetzungen an und erteilte Privatstunden. Auch dabei fehlte es nicht an ärgerlichen Zufällen. Beim Wettbewerb um deutschen Sprachunterricht wurde er bei einer jungen Amerikanerin von einem ungarischen 1 Vgl. Kapp: a . a . O . Bd. 1, S. 293 ff. 2 10. Dezember 1852. — Die noch erhaltenen Briefe Friedrich Kapps an Ludwig Feuerbach befinden sich unter den Familienpapieren.

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Redakteur der New Yorker Abendzeitung

Husaren ausgestochen. Die Wogen der Begeisterung für Ungarn gingen zu Anfang der fünfziger Jahre in den Vereinigten Staaten hoch, besonders während Kossuth seinen Triumphzug durch das Land hielt. Und der ungarische Husar hatte „einen Dolman, Säbel und blauschwarzen Schnauzbart, wenn er auch vom Deutschen ungefähr so viel verstand wie ich vom Neugriechischen" 1 . Die nächstliegende Verdienstmöglichkeit für Kapp blieb, wie schon in den Flüchtlingsmonaten in Paris, die journalistische. Er wurde „Redacteur en Chef" an der New Yorker Abendzeitung. Seine Pariser und Genfer Erfahrungen kamen ihm jetzt zustatten. Freilich mußte er nach seinen eigenen Worten 2 „arbeiten wie ein Pferd, Leitartikel und alle Korrespondenzen schmieren, bis die Maschine erst in Gang ist". Wenn man auf viertausend Abonnenten komme, hoffte er achtzig Dollars monatlich einzunehmen. Aber neben dem notwendigen Lebensunterhalt hatte er von Anfang an ein weiter gestecktes Ziel vor Augen. „Ich sehe," schrieb er dem Vater 3 , „daß meine Arbeiten einen Erfolg haben und sich in ihren Rückwirkungen über die vier Millionen [seil. Deutsche] in den ganzen Vereinigten Staaten erstrecken. Die bisherige deutsche Presse bot nur das widerliche Schauspiel von elender Katzbalgerei verbummelter Hohlköpfe, die ihr Blättchen mit Gezänk und rührenden Geschichten füllten und sich flottweg Redakteur nannten. Ich habe mit meinen Gesinnungsgenossen einen ganz neuen Boden betreten, das Feld prinzipieller Debatten, und alle Persönlichkeiten [!] links liegen lassen. Wir haben natürlich eine Masse Gegner, allein da wir täglich zum Publikum reden, so dringen wir täglich mehr durch und sind schon jetzt eine nicht mehr wegzuschimpfende Macht geworden. Du wirst in der Abendzeitung Dinge finden, über die in Deutschland schon niemand mehr debattiert; hier müssen und können sie nicht oft genug gesagt werden. Andererseits aber haben wir einen so großen Wirkungskreis, daß er auch Europäern in mehr als einer Beziehung manches Interessante bieten muß. Es ist mir immer ein eigentümlich freudiges Gefühl, meine Artikel in dem 1 Vgl. H. von Holst: a . a . O . S. 227. 2 An den Vater, 25. September 1850 (Familienpapiere). 3 19. November 1850 (Familienpapiere).

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II. Teil. IV. Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

fernen Westen, in dem nordwestlichen Wisconsin, in St. Louis, Iowa und New-Orleans, ja Galveston abgedruckt zu sehen. Unser Unternehmen, ohne Kapital unter den enormsten Schwierigkeiten ins Leben gerufen, steht jetzt fest. Die Annoncen decken uns bald: ich habe in der vergangenen Woche die ersten sieben Dollars eingenommen. Mein Gehalt beläuft sich auf zwölf Dollars per Woche, sobald ich sie nämlich ganz und regelmäßig ausgezahlt erhalte." Die deutsche Presse in den Vereinigten Staaten fing damals an, Bedeutung zu erlangen. Der Aufschwung war den Achtundvierzigern in erster Linie zu verdanken. Sie hoben das Niveau der Zeitungen, trieben selbständige Politik und machten ihre Blätter wettbewerbsfähig. Das Pioniergefühl, das Kapp als Redakteur beseelte, ist daher leicht begreiflich 1 . Seine Tätigkeit dauerte indessen nur kurz. Eigentümerin der Zeitung, die er leitete, war die Assoziation der Schriftsetzer. Kapp als Redakteur sollte freie Hand haben für alles, was er in das Blatt aufnehmen wollte. Über dieser Abmachung kam es rasch zum Bruch. Die Ursache war nicht, wie die Setzer nach Kapps Austritt behaupteten, sein erbärmliches Gehalt, das unregelmäßig und nur unvollständig ausgezahlt wurde 2 . Über den wahren Grund, der nicht ohne symptomatische Bedeutung ist, berichtete Kapp seinem Vater 3 : „Ich werde Dir geschrieben haben, daß ich schon seit dem 1. Januar [1851] von der Redaktion zurückgetreten bin und daß das Blatt, welches ich so schön und mit so viel Liebe in die Höhe gebracht hatte, jetzt unter den rohen Händen eines Industrie-Ritters verkommt. Mich hat nicht die Bourgeoisie und die Bürokratie, sondern das Proletariat selbst tot gemacht, die Borniertheit der selben Leute, für die ich zu arbeiten glaubte. Ich war so blödsinnig der Noblesse von Tagelöhnern zu vertrauen und wurde schließlich ausgelacht. Du wirst mir 1 Über die Entwicklung der deutsch-amerikanischen Presse vgl. Albert B. Paust: The German Element in the United States, New York 1927, Bd. 2, S. 365ff., besonders: S. 369ff. Ferner Georg von Bosse: Das deutsche Element in den Vereinigten Staaten usw. Stuttgart 1909, S. 252. 2 Vgl. H. von Holst: a . a . O . S. 228f. 3 24. März 1851 (Familienpapiere).

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Absage an sozialistische und revolutionäre Ideen

nicht zumuten, Dir meine eigene Blamage zu erzählen, denn das ist meine romantische Täuschung, doch genug, ich wollte in meinem Blatte dem Volke den Atheismus mundgerecht machen, die Setzer weigerten sich, meine Artikel zu setzen, ich wurde von der Abonnenten-besorgten Assoziation überstimmt und hielt es nach dieser Niederlage für meine Pflicht zurückzutreten." Kapps journalistische Betätigung im Hauptberuf blieb also eine Episode. Aber sie war nicht bedeutungslos für ihn, da die Erfahrungen den Rest seiner sozialistischen Neigungen beseitigten. Das amerikanische Leben mit seinem Grundsatz: „Charity begins at home" und seinem Ideal des „Selfmademan" leistete ohnehin sozialistischen Gedanken keinen Vorschub. Etwas von der harten Nüchternheit des Neulandes berührte zudem verwandte Seiten in Kapps Natur. Bei aller ethischen Überzeugungstreue lag ihm nichts ferner als Prinzipienreiterei. E r war immer bereit, aus Tatsachen zu lernen. So ist eine Bemerkung schon bald nach der Landung in einem Brief an den Vater 1 bezeichnend: „In der Studierstube läßt sich die Welt ganz gut auf den Bock Hegelscher Kategorien spannen, aber hier in Amerika verhöhnt sie auf Schritt und Tritt die fertige Weisheit." Auf der gleichen Linie lag seine Ablehnung, sich an einer Revolutionsanleihe zu beteiligen, die Gottfried Kinkel 1851 von London aus ins Werk setzte 2 . Er sah die Sinnlosigkeit dieses typischen Flüchtlingsprojekts nur zu gut und hat das Kinkel keinen Augenblick verhehlt: „Ich glaube, der wesentliche Unterschied zwischen uns liegt eben darin, daß ich den Grund unserer Niederlage in uns selbst suche, während I h r dort mehr oder weniger den außer uns liegenden Ursachen die Schuld unserer kläglichen Existenz beimeßt 3 . I n Amerika hat K a p p sich anfangs offenbar in den Bahnen der demokratischen Partei bewegt. Die New Yorker Abendzeitung war ein demokratisches Blatt 4 . Er selber h a t 1 16. Juli 1850 (Familienpapiere). 2 Über diesen Plan vgl. Carl Schurz: Lebenserinnerungen, Berlin 1906, Bd. 1, S. 383ff. 3 Vgl. H. von Holst: a. a. O. S. 230. 4 Ebenda S. 228. Es war mir nicht möglich, die Tendenz der Zei-

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II. Teil. IV. Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

später rückblickend bemerkt, daß es im Jahre 1850 unter den Deutschen Amerikas noch als Ketzerei gegolten habe, kein Demokrat zu sein. „Whig zu heißen oder zu sein, war in den Augen eines gesinnungstüchtigen Deutschen der schlimmste Vorwurf, den man Jemanden machen konnte; er war gleichbedeutend mit Aristokrat, herzlosem Geldmenschen und Bösewicht" 1 . Für die Neuankömmlinge, die von den amerikanischen Parteiverhältnissen wenig oder nichts wußten, war es vielfach zunächst der Klang des Wortes „Demokrat", mit dem sie andere Vorstellungen verbanden, als den Tatsachen entsprach. Die älteren deutschen Einwanderer waren zum überwiegenden Teil Jacksonsche Demokraten. Sie vertraten die Grundsätze, wie sie einst in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ausgesprochen worden waren, die Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen, zunächst einmal die der Weißen. Auf ihren besonderen Fall angewandt bedeutete dieses Axiom, daß es keine Unterschiede zwischen Einheimischen und Neuzugewanderten geben solle, und diente zugleich als Waffe gegen nativistische Strömungen. Hinzu kamen soziale und wirtschaftliche Beweggründe 2 . Der Anschauungswandel, den Kapp sehr bald durchmachte, ist charakteristisch nicht nur für ihn, sondern für viele der Achtundvierziger. Er hängt zusammen mit der Zersetzung und Umbildung, der die Parteien unter dem Druck des Sklavereiproblems und seiner Auswirkungen in der amerikanischen Innenpolitik seit etwa 1850 unterlagen. Nicht nur die politischen Verhältnisse der Vereinigten Staaten lernte Kapp anders einschätzen. Ein recht herbes Urteil über die amerikanischen Zustände im allgemeinen stellte sich früh bei ihm ein. Kapp empfand lebhaft, was tung selber kennen zu lernen. Ich war auf die Bemerkungen in den Nekrologen H. von Holsts und H. A. Rattermanns (Deutsch-Amerikanisches Magazin, Bd. 1, 1887, S. 24) angewiesen. Vgl. aber bei E. Bruncken: German' Political Refugees in the United States during the Period from 1815—1860 in Deutsch-amerik. Geschichtsblätter, Jg. 1904, H. 1, S. 44. Danach soll sich Kapp anfangs den Whigs angeschlossen haben. 1 Vgl. Kapp: a . a . O . Bd. 1, S.317. 2 Vgl. dazu Albert B. Paust: a. a. O. S. 126ff. und Gustav Körner: Das deutsche Element in den Vereinigten Staaten 1818—1848, Cincinnati 1880, S. 208 f.

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Ansicht der amerikanischen Zustände um 1850

Treitschke einmal als „die eigentümliche Dünne der geistigen Luft in jungen Pflanzungsländern" bezeichnet, die für feine Naturen etwas Abstoßendes habe 1 . In einem Brief an Feuerbach hat er sich eingehend darüber geäußert 2 : „Ich kam hierher wie so viele andere, die hier eine Stätte für ihre individuelle Unabhängigkeit suchten, die aus den Traditionen, welche in Europa über Amerika verbreitet sind, flott weiter schlössen, daß die neue Welt auch ihrem geistigen Inhalt nach eine neue sei, und welche sich dagegen empörten, daß das hiesige Leben nichts anderes sei als eine neue Ausgabe des selben alten christlich romanisch-germanischen Textes, der Europa zum Gefängnis jedes emanzipierten Mannes macht. Ich lernte täglich mehr meinen Irrtum kennen; ich bin darüber weder gereizt noch erbittert, denn ich sah ein, daß Amerika bei den gegebenen Verhältnissen nicht anders sein kann. Amerika ist groß durch das, was es nicht ist, durch das, was es nicht hat und so gut als die Vorzüge, welche ein Individuum nicht aus eigener Kraft aus sich herausgearbeitet hat, bei seiner Würdigung nicht in die Wagschale fallen, ebenso wenig begründet dieser Mangel einer Vergangenheit in der Wirklichkeit einen Anspruch auf Größe und prinzipielle Überlegenheit. Die Vorzüge des Landes hat Goethe am besten in ein paar Worten geschildert: »Dich stört nicht im Innern zu lebendiger Zeit Unnützes Erinnern und vergeblicher Streit.« Damit ist alles gesagt, die Schattenseiten sind nirgends in ihrer wahren Bedeutung hervorgehoben, weil noch wenig oder gar keine Menschen der modernen Entwicklung sich hier naturalisiert haben, oder wenn sie es versuchten, darüber verrückt geworden und zu Grunde gegangen sind. . . . 1 Vgl. H. von Treitschke: Politik, 5. Aufl., Leipzig 1922, Bd. 1, S.85. 2 28. Januar 1851 (Familienpapiere). — Aus diesem Brief sind Teile veröffentlicht von W. Bolin in seinem Buch: Ludwig Peuerbach, Sein Wirken und seine Zeitgenossen. Stuttgart 1891, S. 188ff. Bolin sind seinerzeit die Briefe Kapps an Ludwig Peuerbach für seine Arbeit überlassen worden. Er hat auch andere Briefe aus etwas späterer Zeit im Auszug veröffentlicht, aber nur einseitig ausgewertet; denn die Tendenz seines Buches läuft vor allem auf eine Verherrlichung Peuerbachs hinaus. Vollständig abgedruckt finden sich Briefe Kapps an Peuerbach aus den sechziger Jahren in: Ausgewählte Briefe von und an Ludwig Peuerbach, hersgb. von W. Bolin, Bd. 2. >6

Königsb. b!*t. Forsch.

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II. Teil. IV. Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

Kein Land wirkt aber begriffsverwirrender, entgeistigender als die Vereinigten Staaten auf diejenigen, welche sich ihres Zieles nicht ganz fest bewußt sind, zuvörderst ist es die ungeheure Expansionskraft der Amerikaner, welche den Gesichtspunkt der meisten Einwanderer verrückt; die hier ins Kolossale ausgedehnte Kategorie der Quantität — um hier eine Bezeichnung der Schule zu gebrauchen — verblendet die Mehrzahl und läßt sie übersehen, daß von einem geistigen Gehalte, von einer idealen Richtung gar nicht die Rede sein kann, geschweige denn ist. Amerika hat nur eine andere politische Form vor Europa voraus; sonst steht es ihm in allen Dingen nach. Wer seine Ideale in einer versteinerten Konstitution, in dem gesetzlichen Unfug der albernen politischen Parteien und unter einer öffentlichen Sitte, die t y rannischer ist als der Despotismus des Zaren, verwirklicht sieht, der möge hierher kommen; wenn er Geld hat, wird es ihm gut gehen und wird er den Boden für die künftigen Generationen urbar machen. Der Typus und Ausgangspunkt der Vereinigten Staaten ist das Land, welches von den großen geistigen und politischen Revolutionen der letzten hundert J a h r e unberührt geblieben ist, England, das europäische China. Sie haben von ihm den praktischen Blick, die kaufmännische Initiative und Zähigkeit geerbt und in sich ganz enorm vervollkommt, aber sie tragen darum auch die Sünden des Mutterlandes: den religiösen Aberglauben, der zum vollständigen Blödsinn ausartet, den Mangel an Kunstsinn und Wissenschaft, den bornierten Nationalitätsstolz. Der Amerikaner ist noch mehr als der Engländer der protestantische Jude, er ist der Philister unter den Wilden, der Knecht der Pfaffen und Vorurteile, der naive welterobernde Jüngling und der alte abgefeimte Schurke, der schrankenloseste Naturmensch und der Beschränkteste aller Kultivierten: kurz ein beständiger Widerspruch. Es gibt nur deshalb weniger Konflikte hier, weil der Raum so unbegrenzt ist und vorläufig für jede Narrheit mehr als hinreichendes Terrain gestattet. . . . Ich könnte diesen Punkten noch viele andere hinzufügen, glaube ich, um den Beweis zu liefern, daß hier nur ein quantitativer Unterschied vor der alten Welt herrscht. Der Segnungen, welche der Liberalismus des vorigen J a h r h u n d e r t s 82

Kapps bewußtes Deutschtum

den Völkern gewähren konnten, erfreut sich Amerika im vollsten Maße; allein sie reichen doch nicht hin, um den Anforderungen der Gegenwart zu entsprechen; es existiert hier nach wie vor eine exploitierende und exploitierte Partei; es gibt hier sehr viel Freiheiten, unendliche Vorzüge vor Europa, allein noch keine Freiheit, kein den ganzen, den physischen und geistigen Menschen befriedigendes Leben. Dies scheint mir, wenn nicht überhaupt, doch für unsere und die nächsten Generationen unmöglich." Über der Terminologie des Achtundvierzigers und der ein wenig burschikosen Schreibweise, die auch andere Briefe Kapps auszeichnet, ist der Hauch von Resignation in diesem Briefe nicht zu verkennen. Man darf Kapp deshalb nicht unter die sogenannten Amerikamüden rechnen, die mit der gleichen Ablehnung, mit der sie erst Europa verlassen hatten, dann auch Amerika enttäuscht den Rücken kehrten, oder dort, innerlich gebrochen, untergingen 1 . Entschlossenheit und männlicher Behauptungswille, die schon so früh in Kapps Wesen hervortraten, setzten sich auch jetzt durch. Zudem hat er über den Schatten nie die Lichtseiten des amerikanischen Lebens verkannt. Aber für ihn war eine Haltung undenkbar, wie sie etwa Carl Schurz einnahm und in dem Worte aussprach: „Da ich beschlossen hatte, die Vereinigten Staaten zu meiner bleibenden Heimat zu machen, nahm ich mir vor, alles von der günstigsten Seite zu betrachten und mich von keiner Enttäuschung entmutigen zu lassen" 2 . Schurz ist der repräsentative Vertreter jener deutschen Achtundvierziger, die die Vereinigten Staaten wahrhaft zu ihrem neuen Vaterlande machten und Amerikaner wurden, wenn auch nicht ohne ein stolzes Wissen um den Wert der kulturellen Mitgift, die sie als Deutsche mitbrachten. Kapp lernte gerade in Amerika sich bewußt als Deutschen fühlen. Züge einer gewissen Weltbürgerlichkeit, die ihm als Ausdruck seiner demokratischsozialistischen Ansichten in den vierziger Jahren noch angehaftet hatten, fielen von ihm ab. Mit Stolz erkannte er, frei 1 Eine Studie über „Nordamerika im Urteil des deutschen Schrifttums", speziell eine Untersuchung über den „Amerika-Müden" Kürnbergers gibt Hildegard Meyer (Übersee-Geschichte, Bd. III, Hamburg 1929). 2 Vgl. Carl Schurz a. a. 0 . Bd. 2, S. 1. 6*

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von partikularistischen Bindungen, den Deutschen in sich und die Unveräußerlichkeit seines Deutschtums. Es wurde ihm zu einem schlechthin unantastbaren Wert. Die Generationen-alte Tradition bürgerlichen Gepräges mit ihrer verpflichtenden Erziehung, deren Voraussetzung deutsche Kultur und Geistigkeit waren, machten Kapp das Aufgeben der eigenen und die Assimilierung an eine fremde Nationalität unmöglich. Auch darin war der aus fast unmittelbar bäuerlichen Verhältnissen stammende Carl Schurz, der mit Frau, Eltern und Schwester in Watertown in Wisconsin ansässig wurde und von dort aus in seine politische Wirksamkeit hineinwuchs, Kapps Widerspiel 1 . Der Bedeutung, die der Verbindung des sozialen mit dem nationalen Element für die Erhaltung der angeborenen Volkszugehörigkeit zukommt, war sich Kapp durchaus bewußt. In eindringlichen Worten schrieb er darüber dem Vater 2 : „Ich behaupte nicht allein, sondern ich sehe es jeden Tag in tausend Beispielen, daß ein Mensch, der in seinem innersten Wesen weder Bauer noch Handarbeiter, noch Kaufmann ist, sich hier nie heimisch fühlen kann und daher je eher, desto lieber wieder von hier loszukommen suchen wird. Unsere Heimat ist Europa, resp. Deutschland, und es ist eine Lüge, daß man sich eine zweite Heimat gründen kann. Ich bin hier im Gegensatz zu dem Auftreten der übrigen Nationalitäten selbst ein DeutschNationaler geworden, wenn auch nicht in den bornierten Schranken der ehemaligen Burschenschaftler. Je länger ich im Auslande bin, desto weniger verzweifle ich an Deutschland ; ja ganz Europa müßte an sich verzweifeln, wenn Deutschland an sich zu verzweifeln Grund hätte. Ich müßte mich sehr in der Geschichte irren, wenn nicht in dem nächsten revolutionären Umschwünge, mag dieser nun selbst Jahrzehnte oder Menschenalter auf sich warten lassen, Deutschland nicht wieder die Initiative ergriffe, die es bis zur Reformation in allen europäischen Angelegenheiten hatte, die es aber durch die falsch durchgeführte Reformation sich entwinden ließ. Unsere Zeit kommt erst und sie wird so groß 1 Vgl. ebenda S.36ff. 2 24. Januar 1855 (Familienpapiere).

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Begründung des eigenen Standpunktes

kommen, wie die Geschichte noch nichts gesehen hat. Bisher war unsere Bewegungspartei mittelalterlich, katholisch oder französisch; aber von nun an wird sie eine wahrhaft nationale, reale auf Geschichte und Vernunft basierte sein. Deutschland wird politisch den Schritt tun, den es in seiner Literatur, Poesie und Philosophie den übrigen Völkern vorgemacht hat. Haben manche von diesen auch die politische Praxis für sich, so ist trotzdem der Deutsche doch schon weiter, weil bei ihm die politische Aktion nur die letzte Tat ist, während die anderen diese ohne die gehörigen Prämissen poniert [!] haben. . . . Alles was ich hier denke, lese und arbeite, hat als ersten und letzten Gesichtspunkt diese unausbleibliche Zukunft, die ich noch als kräftiger Mann werde Gegenwart werden sehen; in dieser Einheit meines Strebens bin ich auch kugel- und feuerfest gegen manche kleine Unannehmlichkeit, die der Aufenthalt in einem so barbarischen Lande mit sich führt, und weiß mich darin zu finden, daß ich hier meine schönsten Jahre verbringen muß. Der hiesige Aufenthalt hat wenigstens das Gute, daß er den Blick freiläßt, daß er einen nicht kleinlich und kleinstädtisch macht, daß er einen nicht durch unnütze Chikanen verbittert, und daß er einem jeden Augenblick vor die Augen führt, daß man mitten in der Welt lebt und von keiner ihrer Bewegungen ausgeschlossen ist." Das tragische Schicksal, das über der Auswanderung von Hunderttausenden Deutscher nach Amerika waltete, ein in politischer Ohnmacht zerrissenes Vaterland hinter sich zu lassen, war im Grunde die Ursache dafür, daß sie der Heimat verloren gingen und oft auch in der Fremde kein Zusammengehörigkeitsgefühl aufbrachten. Kapp aber war tief durchdrungen von der Hoffnung auf ein in Bälde erstehendes, einiges Deutschland. Eben diese Überzeugung gab ihm die Zuversicht zu dem Entschluß, der nahezu am ersten Tage seines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten auftaucht, sein Deutschtum um jeden Preis zu behaupten. Er war sich über die Schwierigkeiten, die aus diesem Entschluß hervorgingen, im klaren, und er hat die Bitterkeit des „Outsidertums" genügend auskosten müssen. Aber das hat ihn nicht davon abgehalten; ja er hat — wie wir noch sehen werden — gerade aus der 85

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Spannung, die seine Haltung verursachte, die besten Kräfte gezogen zu der ihm eigentümlichen Leistung. Den Schritt zur Naturalisation, die ihn und seine Familie zu amerikanischen Bürgern machte, hat Kapp trotzdem getan, so bald das amerikanische Gesetz ihn ermöglichte, am 8. März 1855. Materielle Notwendigkeit zwang ihn dazu. Er wußte nicht, wie lange sich sein Aufenthalt in New York erstrecken würde, und erst wenn er das amerikanische Bürgerrecht besaß, konnte er, nach Ablegung einer Prüfung, Notar und Advokat werden. Langsam, aber zäh hatte er neben anderen Beschäftigungen die Firma Zitz, Kapp und Co. in die Höhe gebracht, so daß sie ihm und der wachsenden Familie ein anfangs schmales, später sicheres Auskommen gewährte. Sobald er eingebürgerter Jurist war, konnte er sie weiter ausbauen. Von 1855 an, als dieser Punkt erreicht war, schwanden die drückenden materiellen Sorgen; die weitere Entwicklung der Firma vollzog sich in stetigem Aufstieg. In den sechziger Jahren wurde der Deutschamerikaner Charles Goepp als dritter Teilhaber für die ausgedehnten Geschäfte aufgenommen. Kapp wurde mit der Zeit der gesuchteste deutsche Advokat in New York. Sein Geschäft, schrieb er dem Vater 1 , gehe vielleicht besser als das eines gleichaltrigen preußischen Rechtsanwalts. „Ich habe eine anständige Praxis unter den deutschen Großhändlern, Bankiers und Importers. Die Leute brauchen alle einen Vertrauensmann; ich bin es bei vielen und stehe mich gut dabei; ich mache täglich mehr Fortschritte und gewinne mir allmählich einen immer größeren Kreis." Sein Deutschtum hätte Kapp in dem schon damals aufreibenden, amerikanischen Geschäftsleben indessen ohne die treue Hilfe seiner Frau kaum erfolgreich bewahren können. Sie verfolgte ebenso unerschütterlich wie er dies Ziel. In eiserner Energie erzog sie zusammen mit Kapp die sechs Kinder, die sie ihm im Laufe der Jahre schenkte, zu Deutschen. Eine gewisse Erleichterung boten dabei die infolge der Massenauswanderung der fünfziger Jahre entstandenen deutschen Privatschulen. Sie behielten in den folgenden 1 12. August 1856. — (Familienpapiere.)

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Verhältnis zum Beruf

Jahrzehnten dank der Impulse, die von den sozial und ihrer Bildung nach hochstehenden Schichten der Einwanderer ausgingen, ein ungewöhnliches Niveau 1 . Vor allem aber war es der Geist des Hauses, das Kapp und seine Frau im fremden Lande schufen, und das den Kindern die deutsche Abkunft und Heimat verkörperte. Es stand jeder geistigen Anregung offen und war — sobald die Mittel es erlaubten — eine Stätte der Zuflucht für Landsleute und sonstige Gäste. Als Kapp sich 1857 in Mansfield Place ein eigenes Haus kaufen konnte, da wurde es in unbegrenzter Gastlichkeit zu einem Mittelpunkt deutschen Lebens in New York. Wohl keiner der vielen Gäste, der es einmal betreten, hat sich dem von ihm ausgehenden Zauber entziehen können 2 . Das Verhältnis zu seinem Beruf hat Kapp Feuerbach gegenüber 3 einmal scherzhaft so beschrieben': „Es kommt mir jetzt doch zustatten, daß ich der elenden Vettel, der Jurisprudenz jahrelange Liebkosungen erwies; sie ist jetzt nicht undankbar und verhilft mir zu einem anständigen Aus1 Vgl. dazu Georg von Bosse: a. a. O. S. 252; ferner den betreffenden Abschnitt in der kleinen, übersichtlich und volkstümlich gehaltenen Darstellung Georg von Skals: Die Achtundvierziger in Amerika (die Paulskirche, Prankfurt 1924) S.33ff. — Wo Kapp den Schulunterricht für seine Kinder nicht ausreichend fand, griff er persönlich ein. So regte er ihre Lektüre an und gab ihnen zeitweilig vor allem Geschichts-, aber auch Geographie- und Lateinstunden. Mit beiden Eltern musizierten die Kinder fast täglich. 2 Ein ansprechendes Zeugnis enthalten die Lebenserinnerungen Otto von Corvins, der 1861 als Berichterstatter deutscher und englischer Zeitungen über den Bürgerkrieg schrieb und in diesem Jahr zum ersten Mal nach New York kam, wo er auch mit Kapp zusammentraf: „Unter den andern Deutschen, die ich damals in New York kennen lernte, war mir Friedrich Kapp der liebste. E r hatte sich mit dem tauben Zitz von Mainz assoziiert und betrieb ein einträgliches Advokatengeschäft in Wallstreet. E r wohnte jedoch in einer Seitenstraße des Broadway . . . Kapp lud mich zum Essen ein und ich habe selten angenehmere Stunden zugebracht, nie eine glücklichere Familie gesehen. Kapp selbst war ein noch junger Mann (37 Jahre), groß, blond, mit dem offensten, ehrlichsten und hübschesten deutschen Gesicht. Seine liebenswürdige Gemahlin paßte ganz und gar zu ihm, und die Kinder waren echte deutsche Kinder." (Vgl. Ein Leben voller Abenteuer, hrsgb. von H . Wendel, 2 Bde., Frankfurt 1924, Bd. I I , S. 756f.) 3 10. Dezember 1852 (Familienpapiere).

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kommen." So blieb die Lage ähnlich wie in Kapps Dienstzeit als Auskultator und Referendar. Er konnte seiner Natur nach in seinem juristischen Beruf nicht aufgehen. Die journalistische Tätigkeit, die er schon damals aus dem Drang heraus, politisch zu wirken, ergriffen, die ihm dann zeitweilig den Lebensunterhalt verschafft hatte, entsprach einer eingewurzelten Neigung; sie kam dem pädagogischen Trieb und der politisch-patriotischen Leidenschaft in ihm entgegen. Kapps spätere historische Arbeiten sind, wie noch zu zeigen sein wird, aus seinen publizistischen hervorgewachsen und haben nahezu alle von diesem Charakter etwas behalten. Kapp war sich im klaren über diese Veranlagung. „Hätte ich Geld genug," schrieb er dem Vater 1 , so würde ich mich sofort ausschließlich auf die Journalistik werfen, denn ich würde mir neben einem einträglichen Geschäft einen schönen Wirkungskreis schaffen." Da dieser Wunsch unerfüllt blieb, suchte er sich in anderer Form Bahn zu schaffen. Das Gegebene war die Mitarbeit an einer Zeitschrift. Im Jahre 1852 waren die „Atlantischen Studien" von „Deutschen in Amerika" gegründet worden. Die Aufsätze darin erschienen fast durchweg anonym oder nur durch Initialen bezeichnet. Die Hauptmitarbeiter waren neben Kapp der Redakteur August Becker, ferner Bernhard Domschke, Adolf Douay, Julius Fröbel, Otto Reventlow2. Die Zeitschrift kam in Göttingen heraus; sie war vor allem auf deutsche Leser berechnet. Zu dem ersten Bande hatte Kapp nicht weniger als sechs Artikel beigesteuert3. „Die Tendenz", schrieb er an Feuerbach4, „geht auf Rektifizierung der Ansichten über Amerika." Ein Jahr später legte er dem Freund die Gründe, die die Zeitschrift ver1 31. Dezember 1851 (Familienpapiere). 2 Vgl. dazu E. Bruncken: German Political Refugees in the United States during the Period from 1815—1860, a. a. O., Jg. 3, H. 3, 1903, S. 40f. und H. A. Rattermann: Dr. O. Seidensticker und die deutschamerikanische Geschichtsforschung, ebenda Jg. 11, H. 3, 1911, S. 137f. 3 Humbug und Barnum, S. 14ff.; St. Augustine, S.35ff.; die politischen Parteien in den Vereinigten Staaten, S. 81 ff.; Havana, S. 109ff.; Rowdies and Loafers, S. 161 ff.; Columbia am Brazos in Texas, S. 173ff. 4 10. Dezember 1852 (Familienpapiere).

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Die „Atlantischen Studien"

anlaßt, insbesondere die Gedanken, die ihn bei seinen eigenen Beiträgen geleitet hatten, noch einmal ausführlich dar 1 . Er habe sich vor allem immer auf den Boden der Tatsachen gestellt und höchstens von diesem aus hie und da räsonniert. Die untergeordnete Bedeutung solcher unvermeidlich subjektiven Erörterungen, ferner den fragmentarischen Charakter der Aufsätze solle ihre Briefform andeuten. „Weder meine Mitarbeiter noch ich beabsichtigen etwas Abgeschlossenes, Ganzes zu schreiben; denn das vermöchten wir. . . nicht wegen unserer Stellung inmitten dieser sich täglich neu gestaltenden und umformenden amerikanischen Entwicklung." Die Tatsache, daß überwiegend Schattenseiten Amerikas geschildert seien, rechtfertigte er mit dem Hinweis darauf, daß „die ganze W e l t . . . ja schon längst voll von Gemeinplätzen über die Lichtseiten" sei. „Warum also diese Dinge nochmals breittreten . . . ? . . . Es scheint mir vielmehr," so schrieb er, „für einen Menschen, der sich der hohen Bildung seines Volkes würdig zeigen will, eine unerläßliche Aufgabe, in diesem Chaos von Unklarheit und arrogantem Dünkel die Gesamtsumme des europäischen Lebens in die Wagschale zu legen gegen die amerikanische Routine und von diesem Standpunkte aus die hiesigen Zustände zu kritisieren. Was Amerika in Zukunft sein oder nicht sein, leisten oder nicht leisten wird, kommt dabei gar nicht in Betracht; denn wir haben es nur mit der Gegenwart zu tun und alle diese zahlreichen Phantasien über die Zukunft des Landes sind nichts als bodenlose Kartenhäuser oder unklare Produkte der jeweiligen guten oder schlechten Verdauung. Washington, Jefferson, Franklin u. a. haben doch gewiß das Amerika ihrer Zeit gekannt, und wie wenig haben sie sich das gegenwärtige träumen lassen. Wie der Dampf und die Baumwolle einen Strich durch ihre Rechnung machten, so liegen in der Zukunft eben so gut noch hundert neue Faktoren, welche die heutigen Berechnungen über den Haufen werfen können. Der Deutsche namentlich hat von Amerika die Unabhängigkeitserklärung und die Konstitution, dabei einige revolutionäre Namen von gutem Klange im Kopf und daraus bildet er sich seine An1 15. Oktober 1853 (Familienpapiere).

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sieht über die Vereinigten Staaten. Es scheint mir darum eine besonders für Deutschland wichtige Aufgabe zu sein, durch eine nüchterne Darstellung der wirklichen Verhältnisse, wie sie sich im Leben den äußeren Formen gegenüber bilden, dem leeren Formalismus und impotenten Pessimismus zu steuern, der sich jetzt überall in Europa breit macht und es als ausgemachte Tatsache annimmt, daß Europa zu alt und schwach zum Handeln sei. . . . Noch einmal, es scheint mir mehr auf die Erfassung der Totalität des hiesigen Lebens in seinen verschiedenen geistigen und materiellen Richtungen anzukommen. Zu dieser Erkenntnis fehlte bisher fast jeder Anfang. Die „ A t l a n t i s c h e n S t u d i e n " sind mit der erste Schritt dazu, wenn auch mit allen Mängeln und Fehlern eines solchen Erstlingsproduktes behaftet." Wandte die neue Zeitschrift sich demgemäß vor allem an die Deutschen in der alten Heimat, so blieb sie doch auch unter den Deutschen Amerikas nicht unbeachtet. Hier stieß sie indessen auf beträchtlichen Widerstand. So spiegelte sich bald in ihren Spalten der Kampf wider, den die sogenannten „Grünen" — das waren die Neuankömmlinge — mit den „Grauen", den alteingesessenen Deutschen, ausfochten 1 . 1 Vgl. z . B . Bd. 2, S. 193 ff.: „Deutschamerikanische Kritik dieser Blätter und charakteristisches Benehmen zweier Buchhändler in Philadelphia." — Einen Nachhall dieses Gegensatzes zwischen den Vorachtundvierzigern und den Achtundvierzigern findet man auch noch in dem Nekrolog auf Friedrich Kapp von H. A. Rattermann (a. a. O.) Rattermann war als Vierzehnjähriger 1846 nach Cincinnati gekommen. E r stammte aus kleinen Verhältnissen in Ankum in Westfalen und hat sich in Amerika mit Fleiß und Zähigkeit in die Höhe gearbeitet. Da er nur bis zum dreizehnten Jahr die westfälische Dorfschule besucht hatte, war er ausgesprochener Autodidakt. Seine Leidenschaft galt der Geschichte. Er hat unermüdlich sich vor allem der deucschamerikanischen Geschichte gewidmet und in vielen Einzelforschungen einen Teil der Grundlagen gelegt, auf denen die moderne Forschung Fausts, Bosses und Cronaus über deutsch-amerikanische Geschichte aufbaut. Den Autodidakten spürt man bei seinen Arbeiten freilich deutlich. Es fehlen methodische Schulung, Weite des Horizonts, gelegentlich auch notwendige Wissensgrundlagen. In dem zum Teil polemisch gehaltenen Nachruf auf Kapp treten diese Züge ebenfalls hervor. Rattermann hat politisch eine andere Richtung vertreten als Kapp und war betonter Deutschamerikaner. Dafür, daß Kapp sein Deutschtum aufrecht erhielt und für die daraus sich ergebenden Folgen

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Gegensatz der „Grünen" zu den „Grauen"

Kapp, der freilich die Anfangsschwierigkeiten der „Grünen" alle selber mit erlebt hatte und der insofern Partei war, hat die „Grauen" einmal als „das alte vorsündfluthliche Element" bezeichnet, „welches von dem politischen Sturme, der 1848 und 1849 über das westliche Europa brauste, nicht berührt worden war" 1 . Darin lag tatsächlich der wesentliche Unterschied, der die Zwistigkeiten hervorrief. Auch war die Masseneinwanderung der fünfziger J a h r e in ihrer sozialen Zusammensetzung sehr viel bunter als die eindeutiger zu bestimmende Einwanderung der vorangegangenen Dezennien 2 . Viele der Ankömmlinge waren von unruhiger Geschäftigkeit und unangebrachter Kritik an amerikanischen Einrichtungen nicht frei. Anmaßende Überheblichkeit zeichnet auch manche der Beiträge zu den „Atlantischen Studien" aus. Wie indessen allmählich die „Grünen" zu „Grauen" wurden, verschwanden die Reibungsflächen, und die Zeitschrift wurde durch das Ziel, das sie sich gesetzt hatte, überflüssig. Sie hat es denn auch nicht über acht Bände gebracht und stellte 1857 ihr Erscheinen ein. Kapps Mitarbeit war an den frühen Bänden reger als später 3 . E r befand sich, als sie erschienen, noch in der ersten scharfen Auseinandersetzung mit dem ungewohnten Leben, und die Tendenz der Zeitschrift war gleichsam ein Ventil für sein Bedürfnis, sich klar zu werden über die Verhältnisse, in denen er sich zu bewähren hatte. Neben Erlebnissen auf seinen ausgedehnten Geschäftsreisen in den Süden und Westen der Union schilderte er das charakteristische, den Deutschen überraschende Unwesen, das Rowdies und Loafers damals in den Großstädten noch ungehindert treiben konnten, und die verhat er kein Verständnis aufbringen können. — Vgl. über ihn: „Aus H. A. Rattermanns Leben" im Jahrbuch der Deutschamerikanischen Historischen Gesellschaft von Illinois Jg. 1918/19, S. 88ff. Ferner O.Lohr: „Der deutsch-amerikanische Geschichtsforscher H. A. Rattermann" in: Der Auslandsdeutsche, Jg. 15, Nr. 22, 2. Novemberheft 1932, S.593f. 1 Vgl. Kapp: a . a . O . Bd. 1, S.311. 2 Vgl. dazu G. von Bosse: a . a . O . S. 253 f. 3 Für die Beiträge zu Bd. 1 der „Atlantischen Studien" vgl. S. 88, Anm. 3; in Bd. 2 erschien von den charakterisierten Aufsätzen „Der romantische Westen" auf S.30ff. Vgl. auch S. 74, Anm. 2. 91

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schiedenen Abarten des „Humbug". Die Aufsätze zeigen Kapps scharfe Beobachtungsgabe und seinen überlegenen Humor. Sie sind noch heute von kulturgeschichtlichem Wert und anregend zu lesen. Wesentlicher und zugleich bezeichnend für die Sicherheit, mit der er bereits die entscheidenden politischen Probleme der neuen Heimat aufgriff, sind seine Beiträge über „Die Politischen Parteien der Vereinigten Staaten," über „Die Politik der Vereinigten Staaten unter Präsident Pierce" und ein kurzer Lebensabriß des Generals von Steuben, dessen Bedeutung damals fast vergessen war 1 . Vielleicht war es kein Zufall, daß Kapps erste größere Arbeit von der amerikanischen Parteigeschichte ausging. Das entsprach der Eigentümlichkeit eines Denkens, das Politik und Geschichte von innen her, aus Forderungen der Doktrin zu verstehen suchte. Man begreift zudem, daß für den Deutschen, der eben die mühsamen Anfänge von Partei-Leben — und Politik in der verlassenen Heimat sich hatte herausbilden sehen, ein eigener Reiz darin lag, solchen Erscheinungen in den andersartigen Verhältnissen der Vereinigten Staaten nachzuspüren. Bewußt hob seine Schilderung den für deutsches Denken fremdartigen Charakter hervor: „Die beiden großen Parteien, welche noch jetzt Demokraten und Whigs heißen, unterscheiden sich, nachdem die letztern schon unter ihren Vorgängern, den Föderalisten, sich dem republikanischen Princip als der leitenden Staatsidee untergeordnet hatten, jetzt nicht mehr durch entgegengesetzte Principien, sondern höchstens durch entgegengesetzte Maßregeln und enthalten in sich die unzufriedensten [!] 2 Elemente von Freiheit und Unfreiheit, von Fortschritt und Rückschritt. Sie bilden darum auch nicht gegeneinander, sondern höchstens in sich selber die schreiend1 Die Politischen Parteien usw. in Bd. 1, S. 79ff. und Bd. 2, S. l f f . Die Politik der Vereinigten Staaten usw. in Bd. 3, S . l f f . General von Steuben in Bd. 2, S. 88 ff. — Ein kurzer Lebensabriß über den Generalmajor von Kalb in Bd. 3, S. 32ff. ist unbezeichnet, während Kapps sonstige Arbeiten mit seinen Initialen kenntlich gemacht sind. Es muß dahingestellt bleiben, ob er von Kapp stammt. Seine gleichzeitigen Briefe weisen nicht darauf hin. Rattermann dagegen führt ihn an in seinem Verzeichnis der Schriften von Friedrich Kapp (vgl. a. a. O. S. 372). 2 Es ist möglich, daß hier einer der in den „Atlantischen Studien" nicht seltenen Druckfehler vorliegt.

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Aufsätze über die Parteien der Vereinigten Staaten

sten Gegensätze. Man kann daher nicht sagen, die Demokraten seien die fortschreitende und die Whigs die zurückhaltende, jene die unbedingt demokratische, und diese die unbedingt aristokratische Partei. Die eine ist so gut republikanisch als die andere; aber jene hat einen mehr radikalen Charakter und eine populäre Methode des Fortschritts für sich, weil die demokratischen Ideen besser mit dem Instinkte und dem unbestimmten Fortschrittsdrange der Massen harmonieren, während die Whigs mehr Nachdruck auf die Thatsachen der Wirklichkeit und die positiven Verhältnisse legen und darum weniger eine populäre Bedeutung im Volksleben gewinnen können. Die Demokraten nehmen das Volk, wie es sein sollte — die Whigs, wie es ist, jene stehen mit ihren Idealen im Widerspruch, weil sie — Jefferson einzig ausgenommen — bisher weder einen mächtigen Staatsorganismus zu schaffen, noch überhaupt, wenn sie am Ruder waren, ihre Versprechungen und abstracten Grundsätze zu erfüllen wußten; diese gerathen mit der Theorie in Collision, weil sie ihren die Praxis beherrschenden Einfluß nicht anerkennen können oder wollen. . . . Es würde schwer sein, den erbitterten Kampf der beiden Parteien zu begreifen, wenn das hiesige politische Leben von noch andern als rein persönlichen Zwecken und Motiven beherrscht würde, und wenn seit dem Anfang die Geschichte dieses Landes außer der politischen Unabhängigkeit und äußeren Freiheit noch sonst eine ethische Frage ihrer Lösung harrte 1 . . . . Auch wenn man bei dieser Interpretation des amerikanischen Parteilebens in Betracht zieht, daß Kapp für uneingeweihte deutsche Leser schrieb und diesen die amerikanischen Parteien verständlich machen wollte, so spürt man doch aus seiner Ausdrucksweise und seinem tastenden Bemühen um theoretische Unterschiede zwischen Whigs und Demokraten, daß er selbst noch tief im deutschen Denken über Parteiwesen steckte. Sein starker Wirklichkeitsinstinkt warf zwar das Schema der Parteinamen über Bord. Aber noch hatte er sich nicht frei gemacht von der Vorstellung, daß weltanschaulich gebundene Ausrichtung und sozial verhältnismäßig einheit1 Vgl. Atlantische Studien: Bd. 1, S.84ff.

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liehe Zusammensetzung das Wesen jeder Partei bestimmen müßten, Elemente also, die in den Anfängen der deutschen Parteibildung eine so wichtige Rolle spielten. Die Bedeutung des reinen Willens- und Machtmoments, die Eigengesetzlichkeit einer bestehenden Partei, die frei von der Bindung an Doktrinen jeweils taktisch handelt, diese Faktoren, die amerikanische Parteien verständlich machen1, werden bei Kapp moralisch abgewertet. Als echter demokratischer Achtundvierziger griff er unvermeidlich die Sklavenfrage als eine schlechthin ethisch-politische auf und stellte sie in den Mittelpunkt der Parteigeschichte. Er hielt die Sklavenfrage für „das innere Zersetzungs-Element der alten Parteien" und glaubte, daß in ihr „deren Abgelebtheit und Unfähigkeit zur äußeren Erscheinung" käme 2 . Sie wurde von da an ein Thema, das ihn so schnell nicht wieder los ließ. Im Jahre 1854 gab er eine Broschüre heraus, sein erstes förmliches Buch: Die Sklavenfrage in den Vereinigten Staaten, geschichtlich entwickelt 3 . 1860 erschien eine erweiterte und umgearbeitete Auflage unter dem Titel: Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten 4 . Kapp verzichtete beide Male darauf, neue Forschungsergebnisse vorzulegen. Er hat die Quellen seiner Darstellung selber im Vorwort genannt: die „Geschichte der Vereinigten Staaten" von Richard Hildreth und eine Broschüre John Palfrey's: „Five years progress of the slave power." Dem Maßstabe wissenschaftlicher Kritik entzieht sich daher Sinn und Wert dieser Arbeiten; sie verfolgen 1 Über Soziologie von Parteien vgl. Otto Westphal: Die Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus, S. 14f. Ferner G . R i t t e r : Allgemeiner Charakter und geschichtliche Grundlagen der politischen Parteibildung in Deutschland in: Volk und Reich der Deutschen, hrsgb. von B . H a r m s , Berlin 1929, Bd. 2, S. 3ff. 2 Vgl. Atlantische Studien, Bd. 1, S. 82. 3 Die Arbeit erschien für Deutschland bei Wigand in Göttingen, für Amerika bei L . W. Schmidt in New York. Die Kapitel 1, 3, 11 und 12 wurden auch veröffentlicht in den „Atlantischen Studien" Bd. 5, S. 161ff„ Bd. 6, S. 86ff., Bd. 7, S. 81ff. und Bd. 8, S. 116ff. Die in den Kapiteln 8 und 9 der Broschüre behandelte Geschichte und Charakteristik der politischen Parteien überschneidet sich inhaltlich, z.T. wörtlich, mit den diese Themen erörternden Aufsätzen in den Atlantischen Studien. 4 Die zweite Auflage ist bei Hauser in New York verlegt.

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Arbeiten zur Sklavenfrage

kein wissenschaftliches, sondern ein publizistisches Ziel. Die Geschichte der Union erscheint in Kapps Erzählung vor allem bedingt durch das Sklavenproblem. Daraus ergibt sich, daß er, als strikter Gegner der Sklaverei, es an scharfer Kritik einzelnen Maßregeln und Persönlichkeiten gegenüber nicht fehlen läßt. Das Gedeihen des Landes und Volkes trotz einer vielfach verfehlten Politik und korrupten Regierung erklärt er damit, daß „eben die Regierung gar keinen bestimmenden Einfluß auf die Entwicklung des Volkes hat. Dieses h a t überall die Mittel sich selbst zu helfen, es bedarf gar keiner Regierung, und wenn es auch eine hat, so liegt die Initiative in ihm und nicht in Washington" 1 . Den Unterschied zwischen Europa und den Vereinigten Staaten sieht er in dem Individualismus, auf den die amerikanische Gesellschaft gegründet sei 2 ; sie sei unabhängig vom Staat. „Die Freiheit ist deshalb hier faktisch überall so weit vorhanden, als sie die Majorität begehrt und versteht, und als diese den Politikern von Profession die öffentlichen Angelegenheiten noch nicht zur Ausbeutung für Privat-Interessen überlassen hat. Wenn das Volk hier nicht frei ist und bleibt, so ist es mehr als irgend wo anders seine Schuld. . . Es vermöge die Gesetze zu u m gehen und lasse sich darum Akte gefallen, die ein europäisches Volk zur Revolution trieben 3 . Darum betrachtete K a p p die Aussichten für den Kampf gegen die Sklaverei 1854, im J a h r e der Kansas-Nebraska-Bill 4 noch äußerst skeptisch und, m i t den Erfahrungen der gescheiterten deutschen Revolution, nicht ohne Ironie 5 . Er verwahrte sich dagegen, daß die 1 Vgl. die Sklavenfrage usw., S. 173 und Geschiohte der Sklaverei usw., S. 503. 2 Den Individualismus als einen der bedeutsamsten und kulturgeschichtlich wichtigsten Vorzüge Amerikas hob Kapp schon 1853 Feuerbach gegenüber brieflich hervor. 3 a. a. 0. S. 174 u. S. 177, bzw. S. 504f. und S. 506. 4 Die Einrichtung von Territorialregierungen in Kansas und in Nebraska hatte von demokratischer Seite Gesetzentwürfe veranlaßt, nach denen den Squattern die Zulassung oder das Verbot der Sklaverei in diesen Territorien überlassen bleiben sollte. Als diese Entwürfe am 30. Mai 1854 als Gesetze in Kraft traten, bedeutete das einen Bruch des Missouri-Kompromisses von 1820, gemäß dem nördlich von 36° 30' die Sklaverei verboten war. 5 „Vielleicht wird den hiesigen Gegnern der Sklaverei an ihrem bis-

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Amerikaner, „dieses freie Volk", das sich bei der „ersten großen inneren Krise, die es b e d r o h t . . . nicht zu helfen und zu rathen" wisse, das „kaum einen Schritt zur Beseitigung seiner inneren Gebrechen" tue, die Stirn habe, „die hierher verschlagenen Europäer zu bedeuten, daß sie hier erst zu lernen hätten, was ein freies Volk sei. . . . Was man drüben vermißte, ist hier in noch höherem Grade nicht vorhanden. Es fehlt an reifen Charakteren und reifen Ideen; statt dessen aber herrscht ein Überfluß von Onkel Tom'schen Sentimentalitäten und urchristlichen Phantasieen, von naturrechtlichen Luftschlössern und idealen Träumereien, ein Chaos unzähliger sich widerstrebender Ansichten, so daß das Einzige, was klar, die Unklarheit und das Einzige, was gewiß, die Ungewißheit des Erfolges der jetzigen Kämpfe ist" 1 . Als K a p p 1860 die zweite Auflage herausgab, kurz bevor die republikanische Partei ihren Kandidaten, Lincoln, durchbrachte, war seine Stimmung hoffnungsvoller. Indem er ein Wort Sewards aufgriff, rief er aus: „Die Sklavenfrage ist keine Negerfrage. Sie ist die ewige Streitfrage zwischen einer kleinen bevorrechteten Menschenklasse und der großen Masse der Nicht-Bevorrechteten, die ewige Streitfrage zwischen der Adelsherrschaft und der Volksherrschaft" 2 . Er hielt das Ende des Konflikts in den Vereinigten Staaten für noch sicherer als die Ablösung der Feudalherrschaft in Europa: ,,. . . beide Welttheile kämpfen diesen Kampf gemeinschaftlich. Der Ball ist im Rollen und läßt sich nicht mehr halten. Möge Deutschland aber vor Allem für seine, hoffentlich allernächste Zukunft der Amerikanischen Entwicklung die große Lehre entnehmen, welche bitteren Leiden, welche furchtbaren Kämpfe ein Volk sich aufladet, wenn es bei der Neubildung seines Staatslebens den Wurzeln der Tyrannei selbst nur den kleinsten, bescheidensten Winkel läßt" 3 . Die prinzipielle Zuspitzung des konstitutiven Gedankens herigen Widerstande klar, daß sich Reformen und Revolutionen nicht durch den bloßen guten Willen der Individuen machen lassen. . . . " — Vgl. Die Sklavenfrage usw., S.184. 1 Ebenda S. 184f. 2 Vgl. Geschichte der Sklaverei, S. 516. 3 Ebenda S. 516.

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Ihre Tendenz

springt in jeder der beiden Fassungen ohne weiteres in die Augen. Kapp selber hat ihn auch formuliert in einem offenen Brief an seinen Freund Frederick L. Olmsted 1 , den er der zweiten Auflage seines Buches, der Geschichte der Sklaverei, voransetzte. Er begründete hier das leidenschaftliche Interesse des revolutionären Flüchtlings an der Sklavenfrage: „If the history of the American revolution proved to me that Germany has not been worse, but only more unfortunate than the American people, the omnipresent slavery contest showed, that they too, in spite of their revolutionary success, are still fighting the same battle, in which the European nations are engaged. I therefore viewed the question of slavery not with the eyes of an American politician, but in its connection with the general development of the human race toward liberty. I look at it as a European, who has seen enough of the world to understand that the task of freedom and civilization is the same here as well as in Europe, although the forms, in which the contest manifests itself, may be different" 2 . Die Aussage Kapps, daß er seinen Standpunkt als Europäer gewählt habe, darf man dahin präzisieren, daß er als Deutscher in erster Linie für Deutsche schrieb. Wie der leidenschaftliche Wunsch für eine freiheitliche politische Entwicklung der Heimat ihn an diesen Stoff band, so wollte er für das deutsche Publikum aus der brennenden amerikanischen Tagesfrage eine Lehre ziehen. Aus der geistigen Vermittlerrolle der politischen Emigration zwischen der Heimat und der Fremde sah er eine solche Tätigkeit geradezu als verpflichtende Aufgabe herauswachsen. So meinte er, „daß wir »verlorene Posten in dem Freiheitskriege« wohl im Stande sind, einige nicht ganz werthlose Tropfen in den großen Entwicklungsstrom der Nation fließen zu lassen . . ." 3 . 1 Olmsted war ein Farmer aus den Südstaaten, der in den fünfziger Jahren durch seine Schriften über die Sklavenfrage großes Aufsehen erregt hatte. — Das folgende Zitat gebe ich in der englischen Originalfassung Kapps, um durch eine Übersetzung die Eigentümlichkeit seiner Diktion, die auch in dem ein wenig deutschen Englisch hervortritt, nicht zu verwischen. 2 Vgl. Geschichte der Sklaverei, S. IV. 3 Ebenda S. X. Königab. bist. Foracb.

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Es ist nicht unwesentlich, daß Kapp selber, geistesgeschichtlich gesehen, sich mit der Zielsetzung seiner Arbeit in Feuerbachschen Spuren stehen sah. Er schrieb ihm damals 1 : „Wenn es Dir nicht unangenehm ist, will ich Dir die zweite Auflage der Sklavenfrage dedizieren2. Der Grund, der mich zu diesem Wunsche bestimmt, ist mehr ein sachlicher als ein persönlicher. Ich möchte nämlich in dem Eingange, an Dich anknüpfend, meinen Standpunkt der hiesigen Politik gegenüber auf die Anschauungs- und Behandlungsweise zurückführen, die sich zuerst durch Deine Schriften in der deutschen philosophischen Literatur zur Geltung gebracht hat. Wer jetzt überhaupt etwas Verständiges auf historischem und politischem Gebiete sagen will, kann nicht anders als in Deine Fußstapfen treten und Zeugnis von Deiner Bedeutung ablegen. Ob dieses Zeugnis im Sinne und zur Zufriedenheit des Meisters ausfällt, ist freilich eine andere Frage, aber sei dem wie ihm wolle, es scheint mir nicht überflüssig, den innigen Zusammenhang oder besser Ausfluß einer historischen Arbeit mit und aus der philosophischen Weltanschauung zu konstatieren und herzuleiten, welche der literarischen und überhaupt gebildeten Welt den jetzigen Ausdruck verliehen hat. Sklaverei und Freiheit sind hier die selben Gegensätze wie drüben Christentum und Philosophie, Köhlerglauben und Wissenschaft, Romanen- und Germanentum, Despotismus und Republik. Es gehört sich aber meines Erachtens, diese innere Verwandtschaft dem Publikum gehörig unter die Nase zu reiben und ihm zu zeigen, daß nur die Form des Kampfes eine andere ist, während er seinem Wesen nach unter allen zivilisierten Völkern der selbe ist. Ich schreibe diese Zeilen, alle drei Minuten unterbrochen, auf meiner Geschäftsstube und kann mich deshalb nicht besser explizieren. Es ist genug, " wenn man den Kopf nur oben behält Der Kampfruf, denn ein solcher war Kapps Buch, besonders in seiner knappen und eindringlichen Fassung, wurde auch in Amerika gehört. Mit einem Schlage trat sein Ver1 Der Brief ist nur unvollständig unter den Familienpapieren erhalten, die Datierung fehlt. Er gehört jedenfalls ins Jahr 1860. 2 Feuerbaoh lehnte die ihm zugedachte Widmung ab.

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Politische Tätigkeit in der Republikanischen Partei

fasser in die vorderste Reihe der Abolitionisten1. Seinem Vater berichtete er 2 : „Ich muß herzlich darüber lachen: Ich bin plötzlich eine Autorität geworden. Selbst amerikanische Zeitungen sagen: Fr. Kapp sagt, Fr. Kapp führt näher aus, beweist etc.; aber ich muß auch hinaufügen, meistens webt mir die Unwissenheit und Faulheit den Heiligenschein, wie das ja bei allen Autoritäten der Fall ist. Freilich, nur eine Aufforderung mehr für mich, zu arbeiten und sich [!] selbst zu korrigieren." Der Fortgang der Ereignisse führte Kapp in den folgenden Jahren, wie einst in Deutschland, auch wieder unmittelbar in die Politik. Infolge der Kansas-Nebraska-Bill waren die alten Parteiorganisationen, vor allem die der Whigs vollends zerbrochen. Vor der Präsidentenwahl von 1856 war die neu entstandene republikanische Partei bereits so stark, daß sie ihren eigenen Kandidaten aufstellte. Im Rückblick auf diese Zeit, da „jene frische freiheitliche Bewegung gegen die Herrschaft der Sklavenhalter begann, welche endlich zum Siege über die südliche Aristokratie geführt"3, bekannte Kapp später sogar, damals habe er sich versucht gefühlt, in Amerika heimisch zu werden. Seine gleichzeitigen Briefe widersprechen diesem späteren Zeugnis. Jedenfalls wurde er eine der deutschen Hauptstützen der republikanischen Agitation im Osten, vor allem in New York, wo sein Name unter Landsleuten und Amerikanern einen guten Klang besaß. Feuerbach hat er davon eingehender erzählt. Seinem Brief 4 kommt wiederum eine besondere Bedeutung zu wegen des ihm stets gegenwärtigen Zusammenhangs zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Problem: „An der hiesigen Politik", so schrieb er, „habe ich mich während der letzten Präsidenten-Wahl zum ersten Mal aktiv beteiligt. Die zur Entscheidung kommende Frage hatte ebenso gut ihre europäische als amerikanische Seite. Zugleich war es mir darum zu tun, mir einige Routine in der politischen Praxis zu erwerben und einen tie1 Vgl. auch Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode: Deutschland und die Vereinigten Staaten. Berlin und Leipzig 1933, S. 62. 2 10. April 1855 (Familienpapiere). 3 Vgl. Kapp: Aus und über Amerika, Bd. 1, Vorwort S. VI. 4 10. Dezember 1856 (Familienpapiere). 7*

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II. Teil. IV. Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

feren Blick in den Partei-Mechanismus zu tun, als es einem „Outsider" möglich ist. Diese Zwecke habe ich völlig erreicht und darum bedaure ich auch die Zeit nicht, die ich darauf verwandte. Es war diese letzte Wahl insofern von Bedeutung für die Stellung der Deutschen zur amerikanischen Politik, als wenigstens die Hälfte davon der sog. demokratischen Partei den Rücken kehrte und sich an die Republikaner anschloß. Die moderne Immigration von 1848/49 brachte diesen Umschwung zu Stande. Hecker, Struwe, Froebel, Bayrhoffer, Brentano, Heinzen etc. und wie alle Größen jener Zeit heißen mögen, traten zu den Republikanern. Ich war Präsident des hiesigen Deutsch-Republikanischen Zentralkomitees und kam als solcher mit allen amerikanischen Parteiführern in Berührung; sie suchten mich alle auf und poussierten mich, weil sie einen Einfluß bei mir voraussetzten, den ich in Wirklichkeit gar nicht besaß. Als Hecker hier im Oktober eine Rede hielt, fand unsere Versammlung im glänzendsten Opernhause der Stadt statt; es waren an zehntausend Menschen anwesend. Ich hatte dort zu präsidieren und schrie mich selbstredend lahm und heiser. Es war bei dieser Bewegung unter den Deutschen mir besonders interessant zu beobachten, wie alle verhaltenen Winde der mißglückten Revolution von 1848/49 hier losbrachen, trotzdem daß Verhältnisse und Boden ganz andere waren. Übrigens bestärkt mich diese persönliche Erfahrung nur in der Überzeugung, daß ein gebildeter Deutscher hier n i e Wurzel fassen kann. Das selbstgefällige, heuchlerische, aus einer spezifisch christlichen Weltanschauung hervorgehende Wesen des Amerikaners steht in direktem Gegensatz zu jedem gesunden Menschen, ganz abgesehen davon, daß unser Einen eine zweite und noch blamablere Auflage des passiven Widerstandes anekelt (wie er hier in Sachen Kansas aufgeführt wird), nachdem wir drüben schon eine gehörige Dosis davon genossen haben. Ich freue mich immer, wenn sich ein fremdes Volk blamiert, das die Deutschen als Model [!] zu betrachten gewohnt waren; es ist dies der einzige Weg, unsere lieben Landsleute ad absurdum zu führen und sie zur Erkenntnis zu bringen, daß sie endlich einmal auf sich selbst vertrauen lernen und an die Arbeit gehen, ohne die Parole von außen her zu erwarten. Nach den deutschen Zeitungen

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Die Präsidentenwahl von 1860

zu schließen, hat die amerikanische Entwicklung der letzten sechs Jahre mit den dortigen Vorurteilen aufgeräumt." Die Republikaner brachten 1856 ihren Kandidaten Fremont bekanntlich noch nicht durch. Doch hatte sich bereits die entscheidende Bedeutung der Deutschen gezeigt. 1860 trat sie in noch gesteigertem Maße hervor. Auch diesmal wieder war Kapp an der Wahlkampagne beteiligt. Die wichtige Chicagoer Partei-Konvention, auf der Lincoln zum Präsidentschaftskandidaten nominiert wurde, hat er zwar nicht mitgemacht1. Aber an der Konferenz der deutschen Republikaner im Deutschen Haus in Chicago hat er teilgenommen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sogar mit zu den Anregern dieser wichtigen Zusammenkunft gehörte. Denn der Anstoß dazu ging aus von dem Zentralkomitee der deutschen Republikaner New Yorks2, dem Kapp wie 1856, so vermutlich auch 1860 angehörte, und sie kam zustande gegen die Bedenken einer Reihe prominenter deutscher Parteimit1 Das geht hervor aus einem Brief an [August? Hermann?] Becker vom 14. Juli 1860. Kapps Briefe an Becker liegen im Archiv der ehemaligen SPD., jetzt Geh. Staatsarchiv Berlin-Dahlem. Es war nicht möglich, den Adressaten Becker genau zu identifizieren. 2 Vgl. dazu P. I. Herriott: The Conference of German Republicans in t h e Deutsches Haus, Chicago, May 14—15, 1860. (Transactions of the Illinois State Historical Society for 1928) S. 49. Der Wortlaut des Aufrufs des New Yorker Komitees ist folgender: — The German-Republican Central Committee of New York at its last regular meeting adopted the following resolution: „That from every state of the Union, where there are German Republican Organizations, three German delegates should be elected to a meeting to be held in Chicago on May 14 th, for the purpose of effecting an Organization of the German Republicans, in order to submit to the then National Convention the draft for a platform as jointly prepared by all t h e local societies, and also to better control the German delegates to said National Convention securing the nomination of determined and reliable canditates for President and Vice-President." — The GermanRepublican Central Committee of New York has taken this matter in hand. It is of t h e opinion that the time is pressing that all similar organizations in t h e Union, without fault-finding, should declare themselves in harmony with the above resolution. The selection of the delegates, of course, is left to t h e several states. The undersigned Committee should be notified of such elections as soon as possible. New York, March 20, 1860. — Die Teilnehmer an der Chicagoer Conferenz hat Herriott aus gleichzeitigen Zeitungsberichten festgestellt, vgl. a . a . O . S. 63 ff.

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glieder des damaligen Westens, z. B. Gustav Körners und Carl Schurz'. Tatsächlich waren die Forderungen, die die Konferenz in einer Entschließung am 15. Mai 1860 zusammenfaßte 1 , und die von den deutschen Teilnehmern an der nur wenige Tage später stattfindenden großen Partei-Konvention dort vertreten wurden, von wesentlicher Bedeutung für die Gestaltung des Parteiprogramms der Republikaner und auch nicht ohne Einfluß auf die Nomination Lincolns. Die Anerkennung von Kapps Auftreten kam darin zum Ausdruck, daß er zu den zwölf deutschen Präsidentschaftselektoren unter den einhundertdreiundachtzig der Sklavenfreien Staaten gehörte. Das war, nach seiner eigenen Aussage, „die unbedingt ehrenvollste Stellung, welche die Parteien zu vergeben haben"2, und damals eine doppelte Auszeichnung, insofern es bisher kaum je deutsche Präsident1 Vgl. Herriott a . a . O . S.93. Der Wortlaut der Resolution ist folgender: — The German American delegates to the National Republican convention are requested to submit the following as the sentiment of the majority of the German Republican voters of the Union and to use all honorable means to secure their recognition in proper form by t h e national convention, to-wit: — 1. That, while we firmly adhere to the principles of the Republican party as they were laid down in the Philadelphia platform of 1856, we desire that they be applied in a sense most hostile to slavery. — 2. That we demand a full and effective protection at home and abroad of all the rights of all classes of citizens irrespective of their descent, that our Naturalization laws as handed down by the Fathers of the Revolution and the constitution are just in principle, and ought n o t now to be changed in a manner that the time of probation for acquiring t h e rights of full citizenship and suffrage be prolonged, and that state legislatures be prohibited from passing any laws discriminating between native and adopted citizens in regard to the exercise of the right of suffrage, as was intended by the so-called Massachusetts Amendment. — 8. That we favor the immediate passage by Congress of a Homestead law by which the public lands of the Union may be secured for homesteads of the people, and secured from the greed of speculators. — 4. That the territory of Kansas which now, under a constitution republican in form and expressive of the will of an overwhelming majority of the people, asks admission into t h e Union, be admitted without delay as a sovereign state and without slavery. — 5. We pledge ourselves to support any aspirant for the presidency and vice-presidency who stands on this platform, and has never opposed the republican platform of 1856, nor has ever been identified with the spirit of the Massachusetts Amendment. 2 Vgl. K a p p : a . a . O . Bd. 1, S.320.

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Reise nach Deutschland

schaftswähler gegeben hatte. In ihr äußerte sich sinnfällig die Achtung der Amerikaner vor dem deutschen Element. Bisher hatte der amerikanische Nativismus in ihm verächtlich nur „voting cattle" gesehen. Kapp hat bis zu seinem Fortgang aus Amerika der republikanischen Partei zugehört. Zu einer nach außen hin so sichtbaren Rolle wie in den Anfangszeiten der Partei ist er in den folgenden Jahren nicht mehr gekommen. Er selber hat sich brieflich über seine Tätigkeit in der amerikanischen Politik so gut wie gar nicht geäußert. Die Gründe sind unschwer zu erraten. Seine volle Hingabe gehörte ihr nicht. Er hatte eingegriffen in die amerikanische Politik, so erläuterte er es in Übereinstimmung mit früheren Zeugnissen noch einmal dem Vater gegenüber 1 : „nicht weil diese Frage [seil, der Sklaverei oder Freiheit] amerikanisch, sondern weil ihre Beantwortung für die ganze zivilisierte Welt eine große ethische Bedeutung hat". Seine Leidenschaft gehörte Deutschland. Im Jahre 1862, als der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten schon im Gange war, in dem die deutschen Achtundvierziger mit ihrem Blut den Bund mit ihrem neuen Vaterlande besiegelten, fand Kapp, nach Erlaß der Amnestie in Preußen, endlich die ersehnte Gelegenheit, die alte Heimat persönlich wieder aufzusuchen. Er kam von der Hoffnung beseelt, sie möchte ihm schon jetzt die Möglichkeit der Heimkehr bieten. 1 3. Mai 1857 (Familienpapiere).

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II. Teil. V.Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

V. KAPITEL

Die Jahre in Amerika (1850—70) Fortsetzung

„Mein Herz ist viel enger mit der Heimat verwachsen, als ich mir früher einbildete. . . . Ich gebe noch immer die Hoffnung nicht auf, daß es mir gelingen möge, einen Wirkungskreis zu finden, damit wir alle zurückkehren können. Es gibt nur ein Deutschland, seine Fortschritte sind kolossal, und die Entwicklung ist eine sehr gesunde. Es wäre eine Freude, sich an ihr zu beteiligen." Diese Worte schrieb Kapp an seine Frau als er in den Spätsommer- und Herbstmonaten des Jahres 1862 Deutschland von Norden nach Süden, von Westen nach Osten durchreiste und mit eigenen Augen die Entfaltung der wirtschaftlichen und politischen Kräfte feststellte. Der bürgerliche Grundzug seines Wesens tritt in manchen seiner Reisebriefe besonders deutlich hervor. So äußerte er gegenüber der Lebensgefährtin, bei näherer Einsicht in die treibenden Kräfte des deutschen Lebens gewöhne er sich zunehmend ein, um dann fortzufahren 2 : „Man begeht in Amerika den großen Fehler, daß man nur nach der politischen Außenseite urteilt, das offizielle Preußentum ist allerdings sehr gemein und faul, aber der große Fortschritt ist der, daß man es als den allgemeinen Hemmschuh allen Fortschritts erkennt und ihm gegenüber tritt. Die Regierung ist eine feindliche Macht, nicht mehr die väterliche Autorität. Selbst Offiziere und Beamte sprachen sich in Wesel über König und Regierung aus, daß ihnen vor fünfzehn Jahren die Festung zuteil geworden wäre. Die Beamten sind nichts als ein Proletariat, der Ton der Handelskammern und ähnlicher Institute der Regierung gegenüber ist kein bittender, demütig ersterbender mehr, sondern ein männlich fester, bestimmt fordernder und kritisierender. In den industriellen Bezirken ducken sich 1 3. September 1862 (Familienpapiere). 2 27. August 1862 (Familienpapiere).

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Versuche in Deutschland wieder Fuß zu fassen

die Vertreter der Regierung, sogar die Gensdarmes und Offiziere sind höflich, freundlich und gefällig und geben selten Anlaß zur Klage" 1 . Man wird bei dieser Schilderung nicht vergessen dürfen, daß in eben den Monaten, als Kapp schrieb, in Preußen „der Konflikt" spielte, der mit der Berufung Bismarcks als Ministerpräsident im September 1862 seinen ersten Höhepunkt erreichte. Auch weniger demokratisch Gesinnte als Kapp waren damals zu herber Kritik an den Maßregeln der preußischen Regierung bereit. Bei seinem ausgeprägten Unabhängigkeitsbedürfnis ist es zudem nur zu begreiflich, daß seine Zu1 Ludwig Bamberger hat in seinen „Erinnerungen" (Berlin 1899) S. 503f. einen Brief Kapps vom 23. Oktober 1862 abgedruckt, der, auf der Rückreise nach New York geschrieben, seine Eindrücke noch einmal zusammenfaßt: „In Deutschland besuchte ich Köln, die Provinz Westfalen, Kassel, Frankfurt, Stuttgart, Karlsruhe, Heidelberg, Weimar, Meiningen, Koburg, Bamberg, Nürnberg, Mainz, Darmstadt, Bonn, Berlin, Danzig, Leipzig und Hamburg. Ich bin im ganzen mit meinem Aufenthalt sehr zufrieden. So sorgfältig wir auch die Zeitungen lesen mögen, so entgeht uns im Auslande doch alles, was zwischen den Zeilen steht, und das ist die Hauptsache: es ist die größere Selbständigkeit des Volkes, seine Teilnahme am politischen Leben, sein ökonomisches Gedeihen und sein Selbstbewußtsein. In Weimar wohnte ich dem Volkswirtschaftlichen Kongreß bei. Die dort gefallenen Reden waren sachgemäß, sehr verständig, nirgends Phrase und überall fester parlamentarischer Takt. Die bedeutendste Persönlichkeit war wohl Schulze-Delitzsch; die besten Redner waren norddeutsche Freihändler. Überhaupt kam mir der Fortschritt in Norddeutschland am größten vor, vielleicht auch nur, weil ich hier den besseren Maßstab anlegen konnte. Berlin ist jetzt eine mächtige Fabrikstadt, die vom Hofe ebenso unabhängig dasteht wie Paris; meine heimatliche Provinz (der protestantische Teil Westfalens) ist eigentlich nur e i n Bergwerk, e i n Hammer und Hochofen. Einer meiner alten Schulfreunde, der vor 1848 einen Eisenhammer mit achtzehn bis zwanzig Arbeitern hatte, lud mich ein, seine Fabrik zu besuchen. E r beschäftigt jetzt fünfhundert Arbeiter und machte gerade Telegraphendrähte für den Amur und Kamschatka. Die Beamten sind die reinen Proletarier dem aufstrebenden Bürgertum gegenüber, die jungen Juristen in meiner Provinz halbe Cretins, Menschen, bei denen ich auch nicht einen über die Routine seines [!] Geschäftes hinausgehenden, allgemeinen freien Gedanken fand. Die Zukunft Deutschlands steckt nicht mehr in seiner studierenden, resp. auf Universitäten herumbummelnden Jugend, sondern in den jungen Technikern, Industriellen und besseren Handwerkern. In Preußen kann man jetzt mit den Eseltreibern der Paderborner Heide über Politik sprechen; sie verstehen die zweijährige Dienstzeit und was damit zusammenhängt, sehr g u t . "

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kunftspläne sehr bald um den Gedanken kreisten, nicht im Staatsdienst, sondern in der mächtig aufblühenden Industrie sich eine Tätigkeit zu suchen. Gustav Mevissen, der große Industrielle im Rheinland forderte Kapp, wie dieser an seine Frau schrieb1, auf: ,, Wollen Sie nicht lieber nach Europa zurückkehren? Wir brauchen tüchtige Männer, die ihre im Ausland gewonnenen Erfahrungen in Deutschland verwerten." Eine andere Möglichkeit schien sich beim Nationalverein aufzutun, dem Kapp seit seiner Gründung angehörte, und der ihm eine Stellung in der Geschäftsleitung anbot. Er sollte Reiseinspektor mit dem Wohnsitz in Koburg werden. Aber er lehnte ab, da ihm damit jede Aussicht auf Verwendung in der Industrie verbaut worden wäre. Auch hätte das materielle Entgelt kaum ausgereicht zum Unterhalt seiner großen Familie2. Vorübergehend erwog Kapp den Gedanken, ein Konsulat in Deutschland zu übernehmen; die selbe Überlegung hielt ihn davon ab, die er bereits wenige Jahre früher einem ähnlichen Ansinnen seines Vaters gegenüber geäußert hatte. Er wolle, so hatte er es damals 3 ausgedrückt, seine bescheiden unabhängige Stellung nicht mutwillig zerstören und einem Phantom nachjagen, das ihn innerlich doch nicht befriedige. Als Kapp im November 1862 nach New York zurückreiste, hing die Entscheidung über die Heimkehr nach Deutschland noch in der Schwebe. Auch einen bald darauf erfolgenden Versuch seines Freundes Eduard Cohen, des bekannten Hamburger Arztes, ihn als Journalisten nach Hamburg zu ziehen, glaubte er abschlagen zu müssen. Die Begründung4 ist per1 30. September 1862 (Familienpapiere). 2 An seine Frau, 14. Oktober 1862 (Familienpapiere). Vgl. auch H. Oncken: Rudolf von Bennigsen, Stuttgart und Leipzig 1910, Bd. 1, S. 471 und S. 668. 3 30. April 1859 (Familienpapiere). 4 An Eduard Cohen, 30. September 1864. — Die Briefe Kapps an Cohen befinden sich unter den Familienpapieren. — Cohen war von 1880 bis 1884 Bismarcks Hausarzt. Seine Aufzeichnungen Bismarckscher Worte: vgl. Erinnerungen an Bismarck ges. von Brauer, E. Mareks und K. A. von Müller, 5. Aufl., Stuttgart und Berlin 1915, S. 297ff. — In Kapps Briefwechsel mit Cohen aus dem Anfang der achtziger Jahre ist ihre verschiedene, bei Cohen durch seine häufige persönliche Berührung mit Bismarck bestimmte Stellung zum Kanzler reizvoll zu beobachten. 106

Hindernisse

sönlich wie sachlich von Interesse und mag daher hier folgen: „Um gleich in medias res überzugehen, so brauche ich Dir wohl nicht erst zu sagen, wie mich Dein Vorschlag mit Deiner Hülfe eine Zeitung zu gründen und mir damit die Rückkehr nach Deutschland zu ermöglichen, gerührt und zu Dank verpflichtet hat. Es ist mir ein in der Fremde doppelt wohltuendes Gefühl zu wissen, daß man werktätige und hülfsbereite Freunde hat, auf die man sich im Notfall verlassen kann. Wenn ich nun auch Dein freundliches Anerbieten ablehnen muß, so habe ich doch die selbe Befriedigung und Freude daran, als Du, indem Du es machtest. Aber nun laß' uns einmal die Sache von ihrer objektiven Seite ruhig betrachten. In Deutschland ist die Presse. . . noch keine Macht, sondern ein von der Laune eines beliebigen Polizisten oder Verwaltungsbeamten abhängiges und seitens der Regierenden durchaus mißtrauisch angesehenes Institut. Für ein unabhängig sein wollendes Blatt ist es durchaus unmöglich, nicht in Konflikt mit den bestehenden Gewalten zu geraten, denen jeder Tadel als unehrerbietig gilt, selbst wenn die Form noch so rücksichtsvoll und gemessen wäre. Kann man dieser nichts anhaben, so verfolgt und bestraft man den im Blatte selbst herrschenden Geist und macht es durch gesetzliche Chikanen tot. So lange Bismarck und [? in ?] Preußen am Ruder ist, und so lange ein preußisches Verbot einen glatt ruinieren kann, ist die unabhängige Presse rechtlos. . . . Deutschland wird erst eine freie Presse haben, wenn es politisch frei ist. Bis dahin ist das in Zeitung angelegte Kapital so gut wie verspielt." Die Fäden, die Kapp in Deutschland angeknüpft, und an denen man hüben und drüben noch eine Weile gesponnen hatte, rissen schließlich alle ab. Der Brief, den er im Rückblick auf diese Versuche an Cohen 1 richtete, beleuchtet das Problem der Rückwanderung und die Schwierigkeiten, denen Kapp begegnet war: „Man scheint es in Deutschland schlechterdings nicht zu begreifen oder begreifen zu wollen," schrieb er, „daß ethische, sittliche, sogenannte ideelle Gründe einen Mann veranlassen können, sein Vaterland der Fremde vorzu1 2. Juli 1864 (Familienpapiere).

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ziehen, man schließt aus dem bloßen Wunsche der Rückkehr, daß der sie Erstrebende entweder ein Lump sei, der es im Auslande zu Nichts gebracht habe, oder daß seine dortige Stellung unhaltbar geworden sei. Nun ist aber bei mir weder das eine noch das andere der Fall. Ich lebe in sehr schönen, äußerlich durchaus befriedigenden Verhältnissen, bin im Stande, mir alljährlich etwas zurückzulegen und habe eine geachtete und freie Stellung. Allein mir fehlt der Boden unter den Füßen, darum die Befriedigung meines Strebens. Ich fühle die Lust und Kraft in mir, mich in weiteren Kreisen zu betätigen und meinem Vaterlande etwas zu nützen, kurz, dem geteilten Wesen ein Ende zu machen, in welchem ich mich infolge meines erzwungenen Aufenthaltes im Auslande befinde. Ich wäre deshalb gern nach Deutschland gegangen, wenn ich dort auch nur die Hälfte meines hiesigen Einkommens bekommen hätte; allein ich kann bei den Verpflichtungen, die ich gegen meine Familie habe, nicht aufs Geratewohl hingehen und muß deshalb hierbleiben. Dazu kommt noch ein anderes Motiv, meine Kinder wachsen heran; die älteste, Clara, ist fast schon ganz erwachsen, ihre Anschauung wurzelt schon fest im hiesigen Leben, vor einem Jahr war der letzte Termin zur Übersiedlung, da wäre den Kindern das Erdreich, in das sie verpflanzt worden wären, kein fremdes geblieben, jetzt würden sie mitten in ihrer Entwicklung gestört und sich in Deutschland vielleicht ebenso unbehaglich fühlen als ihre Eltern in Amerika. Es hat lange gedauert, ehe meine Frau und ich bei dieser Erkenntnis angekommen sind, sie hat Uns sogar einen harten Kampf gekostet, allein wir haben uns jetzt darein gefunden. Ich habe mir nun . . . mein Ziel auf weitere zehn Jahre gesteckt und mir vorgenommen, sobald ich fünfzig Jahre alt bin, zurück zu kehren, weil . . . dann . . . meine Kinder versorgt sind." So blieb die Reise nach Deutschland ein Intermezzo. Der damalige Stand der deutschen politischen Entwicklung bot dem Demokraten von 1848 nicht Anreiz genug, um jeden Preis die Übersiedlung zu bewerkstelligen1. Die Versuche, wirtschaftlich eine auskömmliche und befriedigende Position 1 An seinen Vater schrieb Kapp am 29. August 1863 (Familienpapiere): „Meine Versuche dahin [seil, nach Deutschland] zurückzukehren,

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Sonderstellung Kapps unter den Achtundvierzigern in U. S. A.

zu erringen, waren fehlgeschlagen. Dennoch bezeichnet die Reise im Verlauf der Jahre, die Kapp in Amerika zubrachte, einen Einschnitt. Sie hat an Kapps innerer Haltung nichts geändert, aber sie markiert den Punkt, an dem der Unterschied, der Kapp von der überwältigenden Mehrzahl der anderen Achtundvierziger trennt, anfing, deutlich herauszutreten. Bisher war dieser Unterschied gleichsam latent gewesen. Kapp hatte teilgenommen an den Anfängen der unvergänglichen Leistung, mit der die deutschen Achtundvierziger ihre politische Mission in Amerika vollendeten, deren Erfüllung die eigentümlichen Bedingungen der deutschen Geschichte ihnen nicht gewährt hatten. Diese Leistung galt der Sklavenbefreiung und der Erhaltung der staatlichen Einheit der Union. Sie gipfelte in der Teilnahme am Bürgerkrieg und in seiner siegreichen Überwindung. Die deutschen Achtundvierziger besaßen für das Wesen der amerikanischen Auseinandersetzung ein elementares Verständnis. In ihren Augen ging der Kampf um die gleichen Ideale, um „Einheit und Freiheit", für die sie in der alten Heimat anscheinend vergebens ihre Kräfte eingesetzt hatten 1 . So kam es, daß sie nahezu einmütig die Sache des Nordens zu ihrer eigenen machten. Durch das ungeheure Blutopfer, das die Deutschen im Sezessionskrieg für die Vereinigten Staaten brachten 2 , wurden sie zu Söhnen des selbstgewählten neuen Vaterlandes. Nicht aus Zufall stieg in den Jahren während und nach dem Bürgerkrieg eine große Zahl der Hervorragendsten unter ihnen in verantwortungsreiche Ämter der Union auf. Darin aber sind jetzt sämtlich gescheitert. Unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen habe ich auch keine Lust, sie zu erneuern. So sehr ich eine Wirksamkeit in der Heimat, selbst in der bescheidensten Stellung, dem Leben im Ausland vorziehe, so passe ich doch nur in eine aufstrebende politische Entwicklung und mit der Bande Bismarck—Bodelschwingh würde ich am dritten Tag nach meiner Rückkehr wieder in Skandal und Streit geraten." 1 Kapp hat als erster schon 1861 in einem Aufsatz die Bedeutung der deutschen Achtundvierziger in den Vereinigten Staaten gewürdigt. Vgl. „Aus und über Amerika", Bd. 1, S. 307ff., besonders S. 316ff. 2 Vgl. dazu Wilhelm Kaufmann: Die Deutschen im amerikanischen Bürgerkrieg.

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trennte sich Kapp sichtbar von den Gesinnungsgenossen in der Sklavenfrage. Wollte er Deutscher bleiben, so konnte er diesen Weg nicht mit ihnen gehen. Wir sahen, wie bereits seine Teilnahme an der amerikanischen Politik, die publizistische wie die praktische, von einem Doppelgedanken getragen war, der Erfüllung einer allgemeinen ethischen Aufgabe zu dienen, zugleich aber auch, sich selber für künftige deutsche Aufgaben zu schulen und den Weg zu ihrer Lösung zu weisen durch die Lehre, die er aus den amerikanischen Ereignissen unmittelbar glaubte ziehen zu können. Die große Krisis des amerikanischen Bürgerkriegs hat er zwar, durch und durch politisch empfindend wie er war, mit leidenschaftlicher Sorge erlebt. Das beweisen die Aufsätze, in denen er, noch vor Ausbruch des Krieges, die amerikanischen Tagesfragen behandelte, und die fortlaufenden Korrespondenzen, die er von 1860 bis 1865 für die „Kölnische Zeitung" schrieb1. Aber nirgends verleugnet er seinen Standpunkt als Deutscher. Und höchst bezeichnend: Als nach der Niederlage des Nordens bei Chancellorsville in einem Ausbruch nativistischen Dünkels dieses Unglück dem deutschen Truppenkontingent zur Last gelegt wurde, war es Kapp, der kurze Zeit danach in New York die erste Massenkundgebung zusammenbrachte, in der er selbst gegen die Verleumdung Protest erhob und die amerikanische Ungerechtigkeit der opfervollen deutschen Leistung gegenüber in die Schranken wies 2 . 1 Die Aufsätze sind unter dem Sammelnamen „Kotton is king", die Korrespondenzen ohne die eigentlichen Kriegsberichte unter dem Titel: „Ein Tagebuch" wieder abgedruckt in: Aus und über Amerika, Bd. 2, S. 69 ff. und S. 139 ff. — Bezeichnend ist eine Äußerung Kapps in einem Briefe an seine Frau aus dem Beginn des Krieges: „Die amerikanischen Verhältnisse werden sich wohl bis zu meiner Rückkehr [seil, aus Deutschland] etwas mehr geklärt haben. So wenig Begeisterung ich auch für die Vereinigten Staaten habe, so werde ich doch, wenn es verlangt wird, meine Pflicht tun. Daß ich mich nicht dazu herandränge, bedingen unsere Familienverhältnisse, denn wenn mir ein Unglück zustoßen sollte, so kümmert sich niemand um Euch, und Du und die Kinder sind doch mein Alles und Nächstes. Allein selbst diese Bedenken müssen in den Hintergrund treten, wenn es sich um Sein oder Nichtsein der nationalen Existenz handelt" (10. September 1862 Familienpapiere). 2 Kapps Rede findet sich in: Ein Tagebuch (a.a.O. S. 280ff.). Vgl. auch W. Kaufmann: a. a. O. S. 517.

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Der amerikanische Sezessionskrieg

Unter allen Deutschen Amerikas gab es vielleicht keinen, der mehr dazu berufen war als Kapp. Denn darin kam zu sinnfälligem Ausdruck, was ihn erfüllte, seit den Tagen, da ihm die Fremde das stolze Bewußtsein seines Deutschtums gegeben hatte: der amerikanischen Umwelt zu zeigen, was das deutsche Element für sie bedeute, und der deutschen Heimat an der Leistung ihrer ausgewanderten Söhne ihre Fähigkeit zum Einheitsstaat aufzuweisen. Das war das große Thema, das Kapp nicht müde wurde, in vielen Variationen zu wiederholen. So entstanden seine literarischen Arbeiten, nicht nach einem vorgefaßten Plan, — dazu war Kapp eine zu spontane Natur, — aber das Pathos seiner Empfindung war so eindeutig und mächtig, daß der vollendete Kreis seiner Arbeiten durchaus organisch erwachsen anmutet. Ihre Wurzeln reichen zudem fast sämtlich schon in die fünfziger Jahre zurück, auch wenn sie zum Teil erst in der Mitte und am Ende der sechziger Jahre erschienen. Den Widerstand aller technischen Schwierigkeiten überwindend hat Kapp in frühen Morgen- und späten Abendstunden unter wirtschaftlichen Opfern der Erfüllung der Aufgabe gedient, die er sich als Pflicht gesetzt hatte. Immer wieder finden sich in seinen Briefen Bitten, ihm bei der Beschaffung von Büchern und Quellen behilflich zu sein: „Das große Unglück für jeden, dernicht genug unabhängig ist," so schrieb er, „besteht darin, daß man so wenig Zeit und Geld zum Buchschreiben hat. Es ist eben reiner Luxusartikel. Will man Quellen haben, so muß man sie kaufen, die öffentlichen Bibliotheken sind sehr schlecht und nur am Tage während der Geschäftsstunden geöffnet, wo ich Geld zu verdienen suchen muß. Ich habe mir jetzt z. B. den ganzen Schloezer (Staatsanzeiger und Briefwechsel, etwa 120 Bände) kommen lassen müssen, weil ich ihn hier nicht auftreiben konnte. Ehe ich nur die Materialien für St[euben] ganz zusammen habe, muß ich für Abschreibegebühren und Bücher wenigstens 120—200 Dollars daran wenden. Ich habe bis jetzt für mein bißchen Schriftstellerei nicht allein nichts verdient, sondern noch dazu bezahlt" 1 . 1 Der Brief ist an Feuerbach gerichtet. Der Anfang fehlt, damit

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II. Teil. V. Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

An der Spitze der Arbeiten Kapps steht die in diesem Briefe erwähnte Biographie Steubens. Wir sahen, wie ihn das Leben dieses Deutschen bereits während der Periode seiner Mitarbeit an den „Atlantischen Studien" angezogen hatte. I m Jahre 1858 veröffentlichte er seine auf breitester Quellengrundlage aufgebaute Biographie, 1859 folgte eine von Bancroft eingeleitete englische Ausgabe des Werkes 1 . Den unmittelbaren Anstoß dazu hatte K a p p der in der Mitte der fünfziger J a h r e im Zusammenhang mit den Parteiumgruppierungen besonders heftig einsetzende Amerikanismus, das Treiben der „Knownothings", gegeben. Mit Steuben als einem der hervorragendsten jener Fremden, „welche die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten begründen halfen und durch ihre uneigennützigen Thaten den Nachkommen jener Unabhängiggewordenen einen beschämenden Spiegel vorhalten" 2 , wollte K a p p paradigmatisch das Verdienst eines Deutschen an dem amerikanischen Schicksal darstellen. Ursprünglich war als erste Ausgabe auch die englische geplant. Noch tiefer aber reichte der dem ersten verwandte und nicht minder persönliche Antrieb, den K a p p in seiner Protestrede nach der Schlacht von Chancellorsville so formulierte: „Zwei Eigenschaften sind es vor Allem, welche den politischen Menschen machen, die hehre Anschauung vom Vaterlande und das starke Gefühl der persönlichen Würde. Das Exil, das fast Alles nimmt, l e g t . . . zum Ersatz dafür den Keim dieser K r ä f t e in die Seele. Manchen daheim, wohl auch den Besten, bewältigt die Macht der vollendeten Thatsache, und in der Nähe der engen Verhältnisse verkümmert seine Vorstellung von dem noch immer zerklüfteten Vaterlande. Vor der Seele der ihr räumlich entrückten Verbannten steht aber die Hei-

auch das Datum; er ist vermutlich ins Jahr 1856 zu setzen (Familienpapiere). 1 Leben des Amerikanischen Generals Friedrich Wilhelm von Steuben, Berlin 1858. The life of Frederick William von Steuben, Major General in the Revolutionary Army, New York 1859. Die englische Ausgabe ist gewidmet „to the memory of Friedrich Engels, late Major General in the Prussian Army and Commandant of Cologne on the Rhine, an honest man, a brave soldier and a true friend by his grateful son-in-law." 2 Vgl. Kapp: Leben Steubens, Vorwort, S . I I . 112

Die Steuben-Biographie

math in ihrer ganzen vollen Größe und Schöne, kein Grenzpfahl, keine Schranke verkleinert sie ihnen, und sein ganzes Streben geht dahin, auch im Auslande als ein ihrer würdiger Sohn dazustehen"1. Vaterländischen Stolz und nationale Kräfte aufzurufen, mit diesem Wunsche wandte sich Kapp in seinem „Leben Steubens" vor allem an seine Landsleute in der alten Heimat. Das Vorwort der deutschen Ausgabe rief Steubens Beispiel als Beweis dafür an, „daß der Deutsche selbst unter den schwierigsten Verhältnissen, selbst ohne jeden politischen Rückhalt und ohne den heimathlichen Boden unter seinen Füßen, in erster Reihe mit den Tüchtigsten seiner Zeit steht, daß also Deutschland, sobald es erst dazu kommt, seine eigenen Angelegenheiten gründlich zu ordnen, die rechten Leute dazu in Hülle und Fülle finden muß." Seine Absicht war, einen „gesunden nationalen Egoismus"zu predigen und vor „kosmopolitischer Verschwommenheit" zu warnen. Mit scharfen Worten wandte sich das Vorwort gegen Nachäfferei und Verkleinerungssucht: „Wir haben die Bedeutung des nationalen Momentes in unserer Geschichte ganz übersehen oder uns durch unsere inneren und auswärtigen Feinde verwischen lassen, ja wir bilden uns theilweise noch ein, wir könnten es ganz überspringen. Wenn wir es selbst nicht erkennen, so wird uns seine Erkenntniß von Anderen noch hart genug aufgedrängt werden. Wir mögen anfangen, was wir wollen, wir müssen uns zuerst einen Boden schaffen, auf dem wir stehen und unserem nationalen Willen Geltung verschaffen können"2. Ein politisches Ideal, das ihm unaufhörlich vor Augen stand, führte Kapp die Feder, als er das Lebensbild des friderizianischen Offiziers entwarf, der mit unermüdlicher Hingabe an die amerikanische Sache so Großes zum Sieg der Unabhängigkeit beigetragen hatte. „Omnia reliquit servare rem publicam." Den altrömischen Spruch setzte Kapp als Motto über das Leben seines Helden. Die Gegenwartsbeziehung macht das Wesen dieser historischen Arbeit Kapps aus. Darin zeigt sich die nahe Verwandtschaft zu seinen publizistischen Arbeiten über die 1 Vgl. Kapp: Aus und über Amerika, Bd. 2, S.283. 2 Vgl. Kapp: Leben Steubens, Vorwort, S. III. KönlBsb. hlst. Forsch.

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I I . Teil. V . K a p . : Die Jahre in Amerika (1850—70)

Sklavenfrage und die Gleichartigkeit der Antriebe zu diesen wie zu jener. Sie war der bleibende Grund, auf dem auch seine weiteren Bücher entstanden. In der langen, vielfach ermüdenden Darstellung, die das Material mehr ausbreitet als verarbeitet, ist noch das historische Erstlingswerk zu erkennen. Kapp hat in späteren Jahren diesen Mangel selber bedauert und hätte ihn zweifellos in einer zweiten Auflage, zu der er freilich nicht mehr kam, zu beseitigen gesucht. Allerdings war es auf der anderen Seite sein Gedanke, daß eine Biographie um so besser sei, je mehr Material und je weniger Raisonnement sie enthalte. Er sah in ihr nur „eine einzelne Planke zu dem Bau, den der Historiker erst zusammenfügt" 1 . Der Keim zu Kapps nächstem Buch, der Biographie des Generalmajors Johann Kalb, war bereits mit der Lebensbeschreibung Steubens gelegt. Kapp selber hat sie als „nothwendige Ergänzung" dazu bezeichnet; denn „beide Arbeiten erschöpfen die Aufgabe, deren geschichtliche Behandlung ich mir gestellt hatte: sie weisen den Einfluß und den Antheil nach, welchen deutsche Generale auf und bei der Begründung der amerikanischen Unabhängigkeit gehabt haben" 2 . Schon 1 Ebenda S. V. — Kapp folgte damit dem Grundsatz, den LudwigPeuerbaoh in der Lebensbeschreibung seines Vaters ausgesprochen hatte: „Mögen die Herren Historiker sich noch so sehr mit ihrer Objektivität brüsten: Es gibt nur Eine, und diese besteht darin, auf das eigene Wort zu verzichten, den Gegenstand unmittelbar selbst reden zu lassen. Es vertritt jeder sich selbst am besten." (Vgl. Ludwig Feuerbach: Anselm Eitter von Feuerbachs Leben und Wirken usw., Leipzig 1852, Vorw. S. XV.) — Kapp hatte dieses Werk seines Freundes empfangen, als er selber schon an seinem „Steuben" arbeitete, und er äußerte sich beifällig gerade zu der Behandlung des Gegenstandes in einem unvollständigen, vermutlich aus dem Jahre 1856 stammenden Brief an Ludwig Feuerbach (Familienpapiere). — Vgl. auch W. Bolin: Ludwig Feuerbach, Sein Wirken und seine Zeitgenossen, S. 245. Dazu K a p p : The life of Steuben, Preface, S. X. — Feuerbach hatte die Bearbeitung der Biographie seines Vaters aus Pietät übernommen. Ursprünglich war sie seinem Bruder, dem Juristen Eduard, zugedacht. Dieser starb aber vor Vollendung der Arbeit,. Für Kapp hatte die Biographie, abgesehen von seinen Beziehungen zur Familie Feuerbach, besonderes Interesse, da während seiner Studienjahre ihre Bearbeitung durch ihn von der Familie zeitweilig geplant war. 2 Vgl. K a p p : Leben des amerikanischen Generals Johann Kalb, Stuttgart 1862, Vorwort S. VII. — Das Buch ist „Franz Sigel, dem Helden

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Die Biographie Kalbs

während seiner Beschäftigung mit dem Leben Steubens h a t t e K a p p in einem Brief an Feuerbach 1 bemerkt: „Mich zieht in der amerikanischen Geschichte nur ihre europäische Seite an; um sie aber verdienter Maßen in den Vordergrund zu stellen, muß ich die Geschichte der Vereinigten Staaten gründlicher studieren, als es die Eingeborenen zu t u n gewohnt sind. H ä t t e ich die gehörige Muße, so würde ich meinen ursprünglichen Plan [seil, einer Biographie Steubens] auf eine Darstellung der europäisch-amerikanischen Wahlverwandtschaften und Wechselbeziehungen im amerikanischen Revolutionszeitalter ausdehnen. Die hiesige Revolution war nichts als die politische Konsequenz der Reformation; der Kampf selbst nichts als der Abschluß des Reformationszeitalters. Eine Monographie über dies Thema existiert nicht. Ich würde mir zutrauen, sie, wenn auch mit weniger gelehrtem Apparat, doch besser zu schreiben als ein deutscher Historiker, weil ich aus eigener Anschauung Land und Leute hier kenne, weil ich hier auf durchaus realem Boden stehe und mich deshalb nicht ins Luftreich hohler Hypothesen zu verlieren brauche" 2 . I n seinem ,,Leben Kalbs" hatte K a p p Gelegenheit, sich eingehender als in seinem „Steuben" mit den amerikanischeuropäischen Beziehungen während des Unabhängigkeitskrieges zu beschäftigen. Über die Beschreibung des Lebens hinaus ergaben die sorgfältig zusammengetragenen Quellen, vor allem Briefe Kalbs, in manchen Punkten eine tiefere Kenntnis der politischen Beziehungen Frankreichs zu England in den J a h r e n 1767 bis 1777, sowie unaufgeklärter Motive damaliger französischer Staatsmänner. „Kalb nimmt ebensowohl ein politisches wie militärisches Interesse in Anspruch. Seine Beziehungen zu Choiseul und Broglie, Lafayette und Washington lassen einen klaren Blick in die geheimsten Werkvon Carthage und Pea Ridge", gewidmet, und in dem offenen Brief an Sigel (S. V) ist der Einsatz Steubens und Kalbs für die amerikanische Sache bewußt in Beziehung gesetzt zu dem Eintreten der damaligen Deutschen für die Erhaltung der Union im amerikanischen Bürgerkrieg. 1 10. Dezember 1856 (Familienpapiere). 2 Kapp selber hat sich wissenschaftlich mit dem von ihm in diesem Brief angeschnittenen Thema, dem später u. a. Ernst Troeltsch einen Teil seiner Studien widmete, nie befaßt.

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II. Teil. V . K a p . : Die Jahre in Amerika (1850—70)

statten der Geschichte jener Zeit thun und führen den Leser, über den engen Baum einer bloß soldatischen Laufbahn hinaus, mitten in das verwickelte Getriebe der großen Politik" 1 . Das Erscheinen der englischen Ausgabe des Lebens Kalbs ließ Jahre lang auf sich warten2. Erst 1884, kurz vor Kapps Tode kam die Übersetzung, „The life of John Kalb" in New York heraus. Die Übereinstimmung der Arbeitsgebiete brachte Kapp frühzeitig in Berührung mit amerikanischen Historikern. Dem Vater3 nannte er Bancroft und Washington Irving als an seinen Arbeiten besonders interessiert, „weil sie in ihren Werken gerade bei diesem Zeitpunkt angelangt sind, den ich zu behandeln denke, und weil ich in der deutschen Literatur besser zu Hause bin als sie, ihnen darum direkt oder indirekt in manchem als Wegweiser diene"4. An der großen Geschichte 1 Vgl. K a p p : Leben Kalbs, Vorwort S. X I I I . 2 Am 15. August 1880 sehrieb K a p p : Heute sind es hundert Jahre, daß der General Kalb bei Camden blieb. In Deutsehland bin ich wohl der Einzige, der daran gedacht und im Geiste den alten Helden gefeiert hat. Meine englische Ausgabe seines Lebens ist seit 1870 gesetzt, sogar stereotypirt und in einigen Exemplaren abgezogen; allein der Besitzer Geo. H . Moore, der Oberbibliothekar der Lenox-Sammlungen, hat sie nicht drucken, resp. veröffentlichen lassen, obgleich er durch Vertrag dazu gebunden gewesen wäre. Jetzt sagt er, es wolle kein Verleger das Geld an Papier und Einband wenden. Sogar ein gestochenes Portrait habe ich ihm geliefert. Als ich im vergangenen Winter in Boston war, hatte ich Aussicht, Osgoods für den Verlag zu gewinnen, allein ein paar Tage nach meinem Besuche brannten sie ab. Ich habe kein persönliches, resp. pekuniäres Interesse mehr an dem Buche; es gehört Moore; allein es ist mir natürlich durchaus nicht angenehm, die Platten im Keller verschimmeln zu sehen. Obgleich ich um jeden Heller Honorar bei meinem englischen Steuben betrogen bin, so hat er doch wenigstens das Licht der Welt erblickt und kann nicht mehr totsgeschwiegen werden. De Kalb [die von Kalb selber gebrauchte Form seines Namens] dagegen wird von anderen Autoren benutzt, die ihn zufällig kennen, z. B. Bancroft, die mir nicht einmal Kredit für ihre Auszüge geben. Meine amerikanischen Erfahrungen als Autor sind so schlecht und niederschlagend, als sie nur sein können, und doch habe ich den Kalb nur gegen den Druck hingegeben, nichts dafür verlangt." Der Adressat des Briefes war anscheinend H . A. Rattermann, der ihn in seinem Nekrolog (a. a. O. S. 371, Anm. 37) zitiert. 3 9. Februar 1856 (Familienpapiere). 4 Auch Franz Lieber hat Kapp mehrfach geholfen. Seinem Schwiegersohn A. von der Leyen schrieb er am 3. Juni 1873: „Ich habe Lieber 116

Berührung mit amerikanischen Historikern

der Vereinigten Staaten, die Bancroft schrieb, h a t K a p p durch Beschaffung von Quellen, die jenem unbekannt waren, mitgearbeitet: „Ich habe," schrieb er an Sybel 1 , „an diesem 9. Band [seil, der History of the United States 2 ] einen mehr als äußerlichen Anteil. Ich machte Bancroft auf die in Deutschland befindlichen Schätze aufmerksam, fand zuerst die Notiz in Fransecky und kaufte bei meinem Besuch in Deutschland die Eelkingschen Manuskripte. Mein Schwager, Oberst Zimmermann, in Berlin ging auf meinen Wunsch die ganze militärische Literatur durch und Meierte etwa neun Bände seltener Materialien, die sonst einem Amerikaner durchaus unzugänglich sind. Später habe ich alles gehörig registriert, geordnet und teilweise übersetzt. Mir kam es darauf an, das einseitig verdammende Urteil der Amerikaner über die Beteiligung der Deutschen am Kriege auf sein rechtes Maß zurückzuführen, es zu mildern, und auf der anderen Seite deutsches Verdienst zur Geltung zu bringen. Ich glaube, daß mir das gelungen ist und ich glaube, damit meinem Vaterland einen Dienst erwiesen zu haben, denn Bancrofts Urteil und Darstellung wird für alle späteren Geschichtsschreiber maßgebend, wenigstens nicht umzustoßen [?] sein." Trotz dieser Zusammenarbeit blieb für K a p p als Deutschen den Amerikanern gegenüber auch hier eine Kluft bestehen. In einem Brief an Becker 3 , dessen Argumente persönlich und sachlich interessant sind, betont er, man müsse seine Selbständigkeit bewahren: „Ich habe hier einen sehr angenehmen und feingebildeten Kreis von amerikanischen Freunseit 1855 gekannt und zu Zeiten in regem Verkehr mit ihm gestanden . . . Ich bin ihm vielfach behülflich gewesen, habe ihm Teile des corpus iuris übersetzt, das er in der Urschrift nicht lesen konnte, ihm zuerst Mommsens Geschichte Roms zugänglich gemacht, die er dahinten in Süd Carolina nicht hatte und die ihm ein wahres Arsenal von Argumenten lieferte . . ." — Von 1835 bis 1857 war Lieber Professor an der Universität Columbia in Süd Carolina. Das Werk, auf das Kapp anspielt, ist vermutlich die zweite, wesentlich erweiterte Auflage von Liebers: On civil liberty and selfgovernment. — Kapps Briefe an Alfred von der Leyen sind im Besitz von dessen Kindern. 1 3. November 1866 — (Nachlaß Sybel, Geh. Staatsarchiv BerlinDahlem). 2 Der Band behandelt die amerikanische Revolution. 3 2. Januar 1857 — (Archiv der ehemaligen S.P.D., jetzt Geh. Staatsarchiv Berlin-Dahlem). Vgl. Kap. 4, S. 101, Anm. 1.

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II. Teil. V.Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

den und Bekannten (Olmsted, Brace, Curtis, Hurbbet [?], Bancroft etc.); ich bin stets aufs zuvorkommendste und anerkennendste von ihnen behandelt und kann überhaupt über meine persönlichen Beziehungen nicht klagen; allein zwischen uns herrscht eine nicht wegzuschaffende Verschiedenheit der Grundanschauungen des Lebens. Diese Leute haben alle, ohne es sich sagen zu können oder dessen nur bewußt zu sein, einen Parvenü-Stolz; sie halten sich mehr oder weniger für das auserwählte Volk Gottes, ein Ausfluß der puritanischen Richtung, die sich auf das alte Testament stützt. Die amerikanische Geschichtsschreibung hat bei ihrer großen Jugend (kaum dreißig Jahre alt) schon recht viel und Tüchtiges geleistet; Prescott, Bancroft, Hildreth, Ticknor, neuerdings auch Motley können sich den besten Historikern der Gegenwart an die Seite stellen, Prescott namentlich hat eine Lücke ausgefüllt, an die ein europäischer Geschichtsschreiber noch gar nicht gedacht hatte; allein die deutsche Geschichtsschreibung, namentlich aber Forschung stehen höher; sie sind leider nur dem großen Publikum nicht so zugänglich. Ich glaube aber, nach den bisherigen Anfängen zu schließen, daß die Amerikaner eine bedeutend höhere Stellung einnehmen werden, sobald sie das Christentum los geworden sind. Die damit verbundene Heuchelei verdirbt sie; selbst wenn sie nicht koscher sind, so suchen sie es zu scheinen, sie glauben in vollem Ernst, die ganze Welt und ihre Entwicklung über den Leisten der Dreieinigkeit, Vorsehung etc. schlagen zu können. I n ihrer eigenen Geschichte haben sie nur zwei Kategorien, gut oder böse, Engel oder Teufel. Was ihnen nicht in ihren K r a m paßt, wird ignoriert oder verleumdet. So z. B. Steuben, den ich nur aus Reaktion gegen diese kleinliche nativistische Engherzigkeit zum Gegenstand einer Biographie ausgewählt habe. Ich kenne seine Bedeutung aus den Quellen, die auch einzelnen amerikanischen Historikern bekannt sind; allein sie schweigen darüber; sie lassen einen solchen Mann höchstens mit gnädigem Kopfschütteln in den Kreis ihrer Revolutionsheiligen ein; sie sind so borniert, daß sie glauben, es beeinträchtige den R u h m Washingtons, wenn er unparteiisch geschildert würde. Doch ich gerate da auf mein Steckenpferd und will darum lieber abbrechen." 118

„Der Soldatenhandel deutscher Pürsten nach Amerika"

Kapps eigene Arbeiten wurden nur langsam bekannt. In der „Historischen Zeitschrift" Sybels fanden sie allerdings bald eine warme Besprechung1. Kapp selber nahm diese Rezension kühl und ohne jegliche Autoreneitelkeit auf. Er sprach Cohen gegenüber mit einiger Verächtlichkeit von „jener literarischen Camaraderie und Selbstberäucherung, welche der Gelehrtenwelt mehr als irgend einem anderen Beruf eigen" sei. Er glaubte nicht mehr in diese „mutual self-admiration Kreise" zu passen, „zu denen man in Deutschland wie überall gehören muß, um Erfolg zu haben"2 und beurteilte den wissenschaftlichen Betrieb wie das Rezensionswesen mit der Schärfe des Außenseiters. Jedoch erwog er einen Wechsel des Tätigkeitsfeldes, als er während seiner Deutschlandreise selber feststellte, wie wenig man ihn als Verfasser seiner Arbeiten über die Sklavenfrage und den Steuben kannte. Damals schrieb er seiner Frau3: „Ich bin nicht niedergeschlagen, daß ich meine Zeit auf solche Arbeiten verwandt habe, aber ich werde sie in Zukunft anders benutzen, vorläufig hänge ich die Geschichte ganz an den Nagel und studiere Nationalökonomie. Mein literarischer Kitzel ist jetzt befriedigt, und was ich getan habe, ist für mich nicht verloren. Es ist eigentlich recht gut für den Menschen, daß er hie und da einmal wieder in die Welt kommt, damit er einsehen lernt, wie jämmerlich klein er ist, und wie wenig im Zusammenhang mit dem Großen und Ganzen er bedeutet." Indessen, Kapps historiographische Tätigkeit ging nicht aus „literarischem Kitzel" hervor, wie er selber sich ausdrückte, und so stark auch, angesichts des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland nationalökonomische Fragen sich in ihm regen mochten, der Trieb gerade zu publizistischgeschichtlichen Arbeiten lag zu tief in ihm, als daß er davon hätte lassen können. Schon 1864 erschien ein neues Buch von ihm: „Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Ame1 Vgl. H. Z„ Bd. 2, Jg. 1859, S. 504ff. Die Rezension des Lebens Steubens ist nur mit einer Chiffre bezeichnet. Das Leben Kalbs besprach Aegidi in H. Z., Bd. 11, Jg. 1864, S. 373ff. Er hatte Kapp bei der Materialsammlung geholfen. 2 7. April 1865 (Familienpapiere). 3 24. September 1862 (Familienpapiere).

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II. Teil. V.Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

rika" 1 . Vielleicht in keinem anderen seiner Bücher ist so tief das „mea res agitur" zu spüren wie in diesem, das er selber ein politisches Pamphlet genannt hat, und das am deutlichsten den Doppelcharakter der historischen Quellenarbeit wie der zeitgebundenen politischen Tendenzschrift trägt. So erklärte das Vorwort, daß dies traurige Stück deutscher Geschichte, daß „die umständliche Beschreibung der nackten und baar bezahlten Schande . . . keine bloße Vergangenheit" betreffe, sondern „handgreifliche Gegenwart, deren Leiden und Schmerzen heut noch ungeheilt sind. Das Verbrechen, dessen Erzählung ich mir vorgenommen habe, ist noch nicht gesühnt, ja es wird noch täglich, wenn auch in zivilisirteren, minder verletzenden Formen überall da begangen, wo das Volk, ohne um seinen Willen gefragt zu werden, für fremde, nicht selten antinationale Zwecke geopfert wird. Die Ursachen, die es erzeugt haben, sind noch heute in derselben zersetzenden Kraft vorhanden; sie wurzeln in unserer nationalen Zersplitterung, in der deutschen Kleinstaaterei" 2 . Der Kampf, den Kapp hier gegen die Kleinstaaterei für die nationale Einheit ausfocht, war nur eine Fortführung dessen, wofür der junge Demokrat 1848 sich eingesetzt hatte. Aber seine Erfahrungen hatten sich in der Zwischenzeit vertieft. Er hatte die Geschichte des deutschen Elements in Amerika zu betrachten angefangen; seine Mißachtung innerhalb des fremden Volkskörpers waren eine Tatsache, die er selber mit zorniger Bitterkeit empfand. Den Grund auch dieses Unglücks fand er in der Kleinstaaterei. Während er an seinem Buche arbeitete, erlebte er den gewaltigen Kampf der Union um ihre staatliche Einheit. In Amerika ging in Erfüllung, was er für Deutschland ersehnte. Das Haupthindernis für die deutsche Einigung lag eben, wie er glaubte, in der Zersplitterung der nationalen Kräfte. So begreift man die grimmige Verachtung, mit der er von den „Raubstaaten" sprach und ihre Fürsten als Vaterlandsverräter an den Pranger stellte. Am Verhalten Friedrichs des Großen aber, der sich nicht aus Humanität dem Soldatenhandel in den Weg gestellt hatte, sondern aus dem 1 Kapp: Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Amerika (1775—1783), Berlin 1864. — Die zweite, vermehrte Auflage erschien 1874. 2 Ebenda Vorwort, S. X H I f .

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Preußentum und Unitarismus

Zwang seiner damals gegen England gerichteten Politik heraus 1 , wollte Kapp dartun, wie nur dem Großstaat, der fähig ist, nach Staatsräson zu handeln, ein Rieht auf Existenz zukommt. „Raubstaat ist jedes politische Gemeinwesen, welches sich nicht auf die ihm innewohnende Kraft stützt, sondern an eine selbständige Macht, an einen fremden Willen anlehnt, welches höchstens in friedlichen Zeiten sein Scheinleben fristen kann, aber beim bloßen Gerücht einer Gefahr schmeichelnd und bittend bei einem wirklichen Staate unterkriechen muß, um sein bischen Dasein noch um eine Spanne zu verlängern. Der Staat ist Macht und Ehre, Größe und Selbständigkeit, Heimath und Vaterland; der Raubstaat bedeutet Ohnmacht und Ehrlosigkeit, Armuth und Abhängigkeit, Kirchturmpolitik und Polizeipferch . . ." 2 . Man hört diesen Worten den höchst persönlichen Klang der eigenen düsteren Erfahrung des wider Willen Ausgewanderten und sehnsüchtig im Exile Lebenden an. Nicht zufällig wählte Kapp als Beispiel für den Großstaat sein Heimatland Preußen. In den Kleinstaaten, die er in seiner Darstellung geißelte, wollte er die Gegner Preußens und damit die Gegner der deutschen Einheit treffen. Man wird Kapp darum nicht als „Kleindeutschen" im damaligen Wortsinn ansprechen dürfen. Dem draußen Lebenden lag das Problem des preußischösterreichischen Dualismus verhältnismäßig fern. Wohl gehörte Kapp zu dem Kreis von Männern, die sich seit 1859, also seit dem Akutwerden der deutschen Frage durch den italienisch - österreichischen Krieg, auf Anregung Ludwig Bambergers zur Zusammenarbeit an einer Zeitschrift einigten. Zuerst waren es die „Demokratischen Studien", und als diese rasch eingingen, die „Deutschen Jahrbücher für Politik und Literatur". Aber die Mitarbeiter wichen im einzelnen stark voneinander ab und begegneten sich nur in ihren unitarischen Tendenzen. So wurde Kapps „Soldatenhandel" von ihnen freudig begrüßt und von Bamberger eingehend gewürdigt 3 . 1 Ebenda S. 151ff. 2 Vgl. Kapp: Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika, 1. Bd., 3. Aufl., New York 1869, S. 59. 3 Bambergers Anzeige erschien unter dem Titel: „Ein Vademecum für deutsche Untertanen" in den Jahrbüchern für Politik und Literatur 121

II. Teil. V . K a p . : Die Jahre in Amerika (1850—70)

In den „Deutschen Jahrbüchern" hat Kapp dann auch, nur wenige Monate nach dem Erscheinen des „Soldatenhandels" einen Aufsatz über „Friedrich den Großen, England und die Vereinigten Staaten" veröffentlicht 1 . Er schrieb darüber dem Vater 2 , er sei „ein Tribut der Dankbarkeit, den jeder Deutsche diesem Manne schuldig ist, der so viel für sein Land getan und uns Deutsche in den Augen des Auslands so hoch gehoben hat". Wie tief die Neigung zum Unitarismus in Kapp Wurzel gefaßt hatte, zeigt die Tatsache, daß diese Überzeugung selbst seine Beurteilung der amerikanischen Geschichte beeinflußte: „Ich hoffe," schrieb er an Sybel 3 , „Ihnen im Laufe des Winters für die »Historische Zeitschrift« einen Essay über Alexander Hamilton, den ersten Finanzminister der Vereinigten Staaten und ihren bedeutendsten Staatsmann schikken zu können. Hamiltons Stellung zu den Fragen der deutschen Gegenwart, welche zugleich die Fragen der damaligen politischen Situation waren: Einheitsstaat gegen Partikularismus, sein im »Föderalisten« geführter Kampf für die Unterordnung der Einzelstaaten unter die Autorität des Bundes, alle diese Beziehungen zu unsern heutigen Kämpfen machen die Bedeutung dieses großen Mannes dem deutschen Leser doppelt klar und verständlich. Hamilton ist bedeutender, genialer als Jefferson, aber dieser ist von den Massen auf den Schild erhoben und Parteigötze geworden" 4 . Das Buch über den Soldatenhandel war das erste Ergeb(hrsgb. von H . B. Oppenheim) Bd. 13, 1864, S. 54ff., wieder abgedruckt in L. Bamberger: Gesammelte Schriften, Berlin 1898, Bd. 1, S. 192ff. Bamberger hat Kapp bei der Beschaffung des Materials zu seinem Buch geholfen, und Kapp hat es ihm dediziert. Vgl. auch L. Bamberger: Erinnerungen, S. 513ff. Über die Entstehung der „Demokratischen Studien" vgl. Bamberger, ebenda S.393ff. Dazu auch H . Oncken: Historisch-politische Aufsätze und Reden, München und Berlin 1914, Bd. 2, S. 258. — Über die deutschen Jahrbücher vgl. O. Westphal: Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus, S. 167f. — Ebenfalls angezeigt wurde Kapps Soldatenhandel in H . Z., Bd. 12, 1864, S. 477ff. 1 Vgl. Deutsche Jahrbücher, Bd. 13, 1864, S. 129ff. 2 17. Juni 1864 (Familienpapiere). 3 21. August 1868 (Nachlaß Sybel, Geh.St.A. Berlin-Dahlem). 4 Kapp hat den geplanten Aufsatz nie geschrieben, da andere Dinge dazwischen traten.

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„Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika"

nis der Erfahrungen und des historisch-politisch gerichteten Nachdenkens Kapps über die Kleinstaaterei. Älter und nur infolge der mühsamen Vorarbeiten langsamer gefördert war sein Plan einer Geschichte der deutschen Einwanderung. Bis in die Mitte der fünfziger Jahre reichte er zurück, und schon damals hatte Kapp begonnen, Material dafür zusammenzutragen. Als er den „Soldatenhandel" abgeschlossen hatte, war er so weit, daß er an die Ausführung gegen konnte. Er schrieb darüber an Feuerbach 1 : „Ich habe, da ich nur so lange als nötig hier zu bleiben gedenke, und im Jahre 1870 im Stande zu sein hoffe, als unabhängiger Mann nach Deutschland zurückzukehren, mir vorgenommen, die Zwischenzeit mit Arbeiten auszufüllen, die meinen Landsleuten drüben hoffentlich zugute kommen werden. Ich habe deshalb meinen alten Plan, eine Geschichte der deutschen Einwanderung zu schreiben aus den selben Gründen wieder aufgenommen, die ich in der Einleitung zu meiner Schrift über den Soldatenhandel ausgeführt habe. Es kann den deutschen Kollegen nicht schaden, die Kleinstaaterei von den verschiedensten Seiten beleuchtet und als die Hauptquelle unseres politischen Elends nachgewiesen zu sehen. Mir stehen hier Hülfsmittel zu Gebote, die man in Deutschland gar nicht kennt, ja von deren Vorhandensein man kaum eine Ahnung hat." Was die genannten Hilfsmittel betraf, so hatte der Geschichtsschreiber des Staates New York, I. R. Broadhead, Kapp auf die noch nie verwendeten Akten über die deutsche Einwanderung in New York hingewiesen. Sie wurden der Grundstock seiner Arbeit, in der er zunächst „die Geschichte der Deutschen im Staate New York bis zum Anfange des 19. Jahrhunderts" behandelte. Aber Kapp begnügte sich nicht mit diesen Quellen. Jahre lang benutzte er Geschäftsreisen und kurze Ferienaufenthalte auf dem Land, um durch persönlichen Verkehr mit den Nachkommen der Einwanderer des 18. Jahrhunderts, durch Untersuchung ihrer Häuserformen und Ortsanlagen, durch Einsichtnahme in ihre Familienbibeln und Gesangbücher, durch Nachrichten über ihre Überlieferungen und Gewohnheiten selber ein möglichst treues 1 10. Dezember 1864 (Familienpapiere).

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II. Teil. V . K a p . : Die Jahre in Amerika (1850—70)

Bild dessen zu bekommen, wovon er erzählen wollte. Einer „tabula rasa" gegenüber empfand er stark die verführerische Anziehungskraft des unerforschten Gegenstandes. Seine Quellen flössen so reichlich, daß er schon 1859 an Feuerbach schrieb 1 : „Ich befinde mich der Wahl der Stoffe und dem Material gegenüber in einem wahren embarras de richesse; ich weiß kaum, was ich zuerst wählen soll." Dieser Zauber des Stoffes ließ ihn nicht mehr los. Im Jahre 1867 konnte Kapp seine Arbeit erscheinen lassen als den ersten Band einer Geschichte der deutschen Einwanderung 2 . Die erste Auflage war überraschend schnell vergriffen; eine zweite mußte folgen, und 1869 konnte Kapp bereits die dritte herausbringen3. Das Interesse des deutschen Elements, das in den Jahren zuvor durch die Ereignisse des Sezessionskrieges in Anspruch genommen worden war, kam der Arbeit entgegen, die als Ausdruck für sein im Kriege erstarktes Selbstbewußtsein gelten konnte. Kapp hat seinem ersten Bande keine Fortsetzung mehr folgen lassen. Über den Grund des Abbruchs äußerte er sich in 1 15. März 1859 (Familienpapiere). 2 K a p p : Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika, Bd. 1: Geschichte der Deutsehen im Staate New York bis zum Anfange des 19. Jahrhunderts, New York 1867. — Die Ausgabe für Deutschland erschien in Leipzig 1868. Die oben S. 121 bereits zitierte Stelle über die Raubstaaten erschien darin nicht im Text, sondern als „Druckfehler". Kapp bemerkte darüber an Feuerbach: „Es wird Dich interessieren zu hören, daß der Druckfehler am Ende der deutschen Ausgabe durch den Verleger [seil. Quandt und Händel] verursacht ist, welcher in Leipzig nicht den Mut hatte, die anstößige Stelle über den Raubstaat im Text zu bringen. Ich zwang sie aber dazu, sie wenigstens als Druckfehler aufzunehmen. Diese polizeiwidrige Furcht ist an sich schon Grund genug, daß die Raubstaaten, Bayern an der Spitze, endlieh aufhören." (4. Januar 1868, Familienpapiere). — Eine Besprechung des Buches, wiederum von Aegidi in Bonn, erschien H . Z., Bd. 21, 1869, S. 424ff. 3 Im Jahre 1884 gab Kapp unter dem Titel: „Die Deutschen im Staate New York während des achtzehnten Jahrhunderts" eine Zusammenstellung der Kapitel aus seinem größeren Werk heraus, die diese Epoche behandeln. Das Buch erschien als erster Band einer von Carl Schurz veranstalteten Schriftenreihe: Geschichtsblätter, Bilder und Mittheilungen aus dem Leben der Deutschen in Amerika. — Ein einzelnes Kapitel, ein Aufsatz über „Peter Minnewit aus Wesel" war bereits 1866 in der Historischen Zeitschrift abgedruckt worden (H. Z., Bd. 15, 1866, S. 225ff.). Sybel als Herausgeber hatte, damit die politische Tendenz j a

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Ihr Leitgedanke

einem Brief an Feuerbach 1 : „Es kam mir darauf an," heißt es da, „die Gesichtspunkte festzustellen, unter denen ein solcher Gegenstand behandelt werden soll; eine weitere Detailmalerei ist für denkende Beobachter überflüssig; die politischen Gesichtspunkte sind in jedem Staate der Union dieselben, gerade so wie sie in der alten Heimat für die Auswanderer dieselben waren und teils noch sind." Dazu kam, daß Kapp, wie er selber gestand, sein Buch viel mehr im Hinbück auf deutsche als auf amerikanische Verhältnisse geschrieben hatte. Das Vorwort stellt diesen Leitgedanken ausdrücklich heraus: „Wenn die gedrückten und mißhandelten Angehörigen eines Volkes, welches durch Jahrhunderte langes, theils selbstverschuldetes, theils von Außen eingebrochenes Unglück geknickt war, wenn diese Angehörigen auf fremdem Boden verhältnismäßig so Bedeutendes leisteten, was werden erst die Söhne dieses, zur Einheit und Freiheit emporstrebenden Volkes auf heimischem Boden vollbringen! Das ist der Trost allen Elends, dessen Bild ich dem Leser enthülle, das ist die siegesgewisse Sicherheit, welche ich aus den Leiden unsrer armen Bauern und Hinterwäldler für unsere nationale Zukunft herauslese"2. Aus dieser Äußerung wird deutlich, daß für Kapp auch in dieser Arbeit nicht das Interesse an der bloßen Feststellung der geschichtlichen Vergangenheit, sondern das ihm an seinem Thema politisch bedeutsam Erscheinende im Vordergründe stand. Man darf wohl sagen, daß in seiner Geschichte der deutschen Einwanderung die historisch-politische Doppeltendenz, die in seinen Biographien einzelner hervorragender Deutscher zuerst sich andeutete, in der Monographie des MassenVorganges, wie ihn die deutsche Einwanderung darstellt, gipfelte, wenn er auch nur einen Teil dieses großen Themas behandelt hat. Im Hintergrunde seiner Konzeption nicht übersehen würde, einen an ihn gerichteten Brief Kapps, in dem dieser sich darüber aussprach, als Einleitung dazu teilweise veröffentlicht. (Der Brief Kapps stammt vom 3. Dezember 1865, Nachlaß Sybel, Geh. St. A. Berlin-Dahlem). 1 4. Januar 1868 (Familienpapiere). 2 Vgl. Kapp: Geschichte der deutschen Einwanderung: 3. Auflage, Vorwort, S. XXVII.

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II. Teil. V.Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

stand doch das Ganze dieser historischen Erscheinung. Die leicht wahrnehmbaren und bald auch kritisierten Mängel, die sich aus der Schwierigkeit des Unternehmens erklären, t u n Kapps Mut und dem Scharfblick, mit dem er seine Fruchtbarkeit und die Notwendigkeit seiner Behandlung erkannte, keinen Abbruch, sondern sind erst recht geeignet, beides unter Beweis zu stellen 1 . Die Wirkung des Buches unter den Deutschen Amerikas war denn auch stark. Sie äußerte sich nicht nur in dem hohen Absatz, der die rasche Folge von Auflagen hervorrief, sondern das Werk brachte die Deutschen zum erstenmal auch nachhaltig zur Besinnung über ihre eigene Geschichte. Der Wunsch, mehr zu erfahren, wurde wach; man erkannte, d a ß es nötig sei, Archive einzurichten und systematisch die Quellen zur deutsch-amerikanischen Geschichte zu sammeln. Kapps Buch gab schließlich den Anstoß zur Gründung einer der ersten deutsch-amerikanischen historischen Zeitschriften 2 . Auch f ü r die innere Auseinandersetzung im Deutschamerikanertum war die Bedeutung des Kappschen Buches groß. Es setzte eine ungeahnt heftige Erörterung über die Stellung und Zukunft des deutschen Elements in den Vereinigten Staaten ein. I n dieser Lebensfrage hatte K a p p mit dem ihm eigenen Realismus aus seiner historischen Erkenntnis das Fazit gezogen: „Wer auswandert, der giebt sein Vaterland auf und geht ihm verloren. Man kann so wenig zwei Vaterländer als zwei Väter haben. Also entweder Deutscher oder Amerikaner, der Deutschamerikaner ist nur ein Übergang, der in der zweiten Generation verschwindet. Wer deutsch sein will, der bleibe entweder zu Hause oder kehre in die 1 Das Urteil H. A. Rattermanns in seinem Nekrolog auf Kapp (a. a. O. S. 364) über die Geschichte der Einwanderung als seine schwächste historische Leistung mit allen Ausstellungen im einzelnen ist ungerecht. Es entsprang aus dem Rückblick späterer Jahre, in denen die Aufgabe, die Kapp als erster allein in Angriff genommen, durch systematisches Sammeln des Materials bereits erheblich erleichtert war. Eine umfassende Kenntnis des Gesamtstoffs, wie sie dadurch mit der Zeit ermöglicht wurde, war von Kapp weder zu erwarten noch zu verlangen. 2 Vgl. Deutsch-Amerikanische Geschichtsblätter: Jg. 11, H . 3 , 1911, S. 139f. Ferner „Das Programm des deutschen Pioniers" in: Der deutsche Pionier, Jg. 1, H. 1, 1869, S. l f f . 126

Deutsche Nation und amerikanisches Volkstum

Heimat zurück, denn die Auswanderung ist für den Einzelnen, welcher zu ihr greift, der nationale Tod" 1 . Kapps Darlegung rief eine Flut von Vorwürfen gegen ihn hervor, die er selber in die Sätze zusammengefaßt h a t : E r stelle eine vollständige Amerikanisierung der Deutschen in Sprache und Sitte in Aussicht, er räume dem deutschen Elemente eine bloß vorübergehende Bedeutung im amerikanischen Leben ein, er spreche ihm eine nationale Zukunft in Amerika ab, er lasse sich von dem herrschenden Amerikanertum zu sehr imponieren, und von seinem Standpunkt aus sei es überhaupt verlorene Mühe gewesen, die Geschichte der deutschen Einwanderung zu schreiben 2 . Man hätte K a p p wohl schwer tiefer verkennen können. Diese Anklagen zeigen aber deutlich den fundamentalen Unterschied, der sich zwischen ihm und seinen Landsleuten in Amerika herausgebildet hatte. Seine historische Forschung hatte ihn die eigentümlichen Bedingungen, die für die deutsche Einwanderung nach Amerika bestanden hatten und die Wandlungen, die darin allmählich zu seiner Zeit eintraten, klar durchschauen lassen. Er kannte das Gesetz des Kulturgefälles 3 und seine Bedeutung für die Kolonisation. Die Begabung der Deutschen zum Kolonisieren hatte ihm die ostdeutsche Kolonisation gezeigt 4 . Bei der Eroberung des amerikanischen Kontinents aber hatten „die Romanen die Offiziere ohne Heer, von den Germanen dagegen die Engländer ein Heer mit Offizieren, die Deutschen endlich ein Heer ohne Offiziere" 6 gestellt, wie er es kurz formulierte. F ü r die Bedeutung des Nationalitätsgefühls und f ü r die Herausbildung des amerikanischen Nationalstolzes hat er, gerade wegen des leidenschaftlichen Festhaltens an seiner eigenen 1 Vgl. Kapp: a.a.O. S.370. 2 Ebenda Vorwort, S. XVI. — Kapp war die grundsätzliche Aussprache seiner Ansichten über das Problem der Stellung und Zukunft des deutschen Elements in den Vereinigten Staaten so wichtig, daß er die Vorworte zu der zweiten und dritten Auflage der Geschichte der deutschen Einwanderung, in denen er sich mit seinen Angreifern auseinandergesetzt, hatte, noch einmal als Einzelabhandlung abdrucken ließ in: Aus und über Amerika, Bd. 1, S.331ff. 3 Ebenda Vorwort, S. VII und S. XXIff. 4 Ebenda S. 7 ff. 5 Ebenda S.3. 127

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Volkszugehörigkeit, eine geschärftere Empfindung besessen als seine Landsleute1. Eben die Bewahrung seines Deutschtums hatte ihm die Augen darüber geöffnet, daß es nur eine Alternative gäbe, Rückwanderung oder Aufgehen im amerikanischen Volkstum. Wie weit er gleichwohl davon entfernt war, den in Amerika eingewanderten Deutschen seiner spezifischen Aufgabe zu entbinden, hat er unmißverständlich ausgesprochen: „Noch gilt es auf dem großen Gebiete der Vereinigten Staaten den gemeinschaftlichen Kampf des Geistes gegen die Naturwüchsigkeit, den Kampf der Zivilisation gegen die Roheit. Es ist Platz für Alle, für jedes ehrliche Streben, für jeden denkenden Kopf, für jeden arbeitenden Arm, denn die Allen gemeinsame Arbeit wird nicht dadurch erreicht, daß der Eine den Andern zur Seite schiebt oder gar verdrängt, sondern daß ein Jeder mit Aufbietung aller seiner Kräfte, in Reih' und Glied kämpfend, das hohe Ziel erstrebt. Also nicht in der Absonderung von den amerikanischen Bildungselementen liegt das Heil der deutschen Einwanderung, nicht in phantastischen Träumen von einem in Amerika zu gründenden deutschen Staate, einer deutschen Utopia, kann sie gedeihen, nicht abseits vom Wege, sondern mitten im Leben und Streben ihrer amerikanischen Mitbürger ist ihr eine erfolgreiche und Segen bringende Thätigkeit vorgezeichnet. Eine deutsche Nation in der amerikanischen kann sie nicht sein, aber den reichen Inhalt ihres Gemüthslebens, die Schätze ihrer Gedankenwelt kann sie im Kampfe für die politischen und allgemein menschlichen Interessen in die Wagschale werfen, und ihr Einfluß wird um so tiefer gehen, ein um so größeres Feld der Bethätigung sich schaffen, je weniger tendentiös[!] sie auftritt, je mehr sie aber zugleich an dem festhält, was Deutschland der Welt Großes und Schönes gegeben hat" 2 . Was war Kapps gesamte literarische Produktion, insoweit sie für Amerika geschrieben war, anderes als der Kampf um Anerkennung der deutschen Leistung für Amerika durch die Amerikaner und Festigung des deutschen Selbstbewußtseins innerhalb der deutschen Einwanderung? 1 Ebenda Vorwort, S. XVII und S. XXVII. 2 Ebenda S. 369.

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Einwanderungskommissar

Nur indem er selber Deutscher blieb, hatte er dieses Werk vollbringen können, aber er hat zugleich damit denen seiner Landsleute die Pfade geebnet, die Amerika zu ihrer dauernden Heimat erkoren und den Weg gingen, den er dann für sie als unvermeidlich erkannt hatte. So wie einst in den fünfziger Jahren aus Kapps publizistischer Tätigkeit gegen die Sklaverei seine praktisch-politische erwachsen war, so ging aus seiner Schriftstellern über die deutsche Einwanderung in den sechziger Jahren seine Wirksamkeit in der einzigen öffentlichen Stellung hervor, die er je in den Vereinigten Staaten bekleidet hat: von 1866 bis 1870 war er Mitglied des Board of the Commissioners of Emigration des Staates New York. Er ergänzte damit in einem verantwortungsreichen Ehrenamt auch hier das von ihm theoretisch und literarisch Vertretene nach der praktischen Seite. Aus seinen in diesem Dienst gemachten Erfahrungen entstand sein Buch über „Immigration and the Commissioners of Emigration"1. New York als der bedeudendste Einwandererhafen der Welt bot Gewähr für die Typik seiner Feststellungen. Umgekehrt hat auch die Anlage des Buches für Kapp etwas Typisches. Eine historische Einleitung und eine nationalökonomische Untersuchung über die wirtschaftliche Bedeutung der Aus- und Einwanderung am Schluß rahmen das eigentliche Thema des Buches ein: Entstehung und Ausbau der humanitären und sanitären Einrichtungen des Board of Emigration. Kapp selber hat während seiner Amtszeit 1868 in der Regierung von New York ein Gesetz durchgebracht: „For the more effectual protection of Emigrants arriving at the port of New York." Damit wurde den Commissioners eine rechtlich wirksame Handhabe gegeben, die selbst damals noch häufig grauenvollen Zustände in den Zwischendecks der Auswandererschiffe zu bekämpfen2. Neben den allgemein humanitären Zielen, die den 1 Friedrich Kapp: Immigration and the Commissioners of Bmigration of the State of New York, New York 1870. Dem selben Bereich gehört ein Aufsatz an, dem ursprünglich ein Vortrag zugrunde lag: „Die Einwanderung in New York", abgedruckt in: Aus und über Amerika, Bd. 1, S. 199ff. 2 Vgl. Kapp: a. a. 0 . S.39f. — In: Aus und über Amerika, Bd. 1, Köoigab. bist. Forsch.

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Einwanderern das Eingewöhnen im fremden Lande erleichtern sollten, hat Kapp nie unterlassen, auch der Aufgabe zu dienen, die er sich im besonderen gesetzt hatte: „Vielleicht interessiert Sie," schrieb er an Sybel1, „die Einlage über die hier neugegründete Arbeiterbörse, die ich jüngst mit meinen Kollegen vom Board der Commissioners of Emigration — wir sind eine Staatsbehörde von zehn, die unentgeltlich zu dienen haben — ins Leben rief. Alle Arbeitsucher und Arbeitgeber werden u m s o n s t bedient. Wir rechnen darauf, vom Frühjahr an wenigstens tausend bis zweitausend Stellen je Woche nachzuweisen, und ich hoffe, auf diese Weise innerhalb zehn Jahren den Süden wieder zu einem zivilisierten Land machen zu helfen. Die meisten Gesuche kommen aus dem arbeitsarmen Süden. Bis jetzt bin ich im Board noch nicht damit durchgedrungen, daß auch die Prozente der Lesens- und Schreibenskundigen bei den Arbeitern angeführt werden, weil sich die Irländer dadurch zurückgesetzt fühlen; es wird mir aber noch gelingen, auch in dieser Weise den aktenmäßigen Beweis der Superiorität der deutschen Einwanderer zu liefern." Damit schließt sich der Ring dessen, was Kapp in einem genau zwanzigjährigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten vollbrachte. Sein Werk ist von derselben Geschlossenheit, die seine kraftvolle Persönlichkeit auszeichnete. Sein eigenes Urteil über seine wissenschaftlichen Arbeiten lernten wir schon kennen. Er war von jeder Selbstüberschätzung frei und fähig, gegenüber ihrem Rang den richtigen Abstand einzuhalten2. S. 223 ff. und S. 235ff. sind Berichte wieder abgedruckt, die Kapp als Commissioner über unvorschriftsmäßig ausgerüstete Schiffe geschrieben hat. 1 19. Dezember 1867 (Nachlaß Sybel, Geh. St. A. Berlin-Dahlem). 2 Bezeichnend für Kapp ist sein Brief an Sybel, der der Anlaß wurde zu seiner Ehrenpromotion 1868: „Entschuldigen Sie mich, wenn ich jetzt in einer rein persönlichen Angelegenheit Ihre Gefälligkeit in Anspruch nehme. Ich ersehe nämlich aus den deutschen Zeitungen, daß die Universität Bonn im Herbst 1868 das fünfzigjährige Jubiläum ihres Bestehens feiert. Wenn, wie es bei derartigen Gelegenheiten üblich war, die verschiedenen Fakultäten Ehrendoktoren ernennen, so möchte ich Sie ersuchen, falls es mit Ihren sonstigen Verbindlichkeiten und Pflichten nicht kollidiert, mich auf die Liste der zu creierenden Doktoren zu setzen. Die

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Charakter der wissenschaftlichen Arbeiten Kapps

Zeitgeschichtlich gesehen reihen sie sich unter die Bestrebungen der politischen Geschichtsschreibung ein. In ihrer Eigenwüchsigkeit scheinen sie der Frische und Neuheit der in ihnen behandelten Themen zu entsprechen. Die Methode hatte Kapp sich selber gesucht, wie ihm ja von der Universität her die spezifische Schulung des Historikers fehlte. Aber wir sahen, daß er umfassender, als das Fachstudium es ihm hätte vermitteln können, durch Herkunft und Tradition in der Gründe, welche mich bei dieser Bitte leiten, sind eigentlich nur politischer Natur. Es ist für mein hiesiges Geschäft durchaus gleichgültig, ob ich diesen Titel führe oder nicht; auch wird dadurch meine Stellung in der deutschen literarischen Welt nicht verbessert und aus dem Titel als solchem mache ich mir ebenfalls nicht viel. Allein ich beabsichtige nach wie vor, 1870 nach Deutschland zurückzukehren und mich an dem dortigen politischen Leben zu beteiligen. Nun aber fehlt mir infolge einer dann mehr als einundzwanzigjährigen Abwesenheit aller lokale Popularitätsboden und überhaupt das Feld zur Wiederanknüpfung persönlicher Beziehungen. Wenn man so lang im Auslande war, zumal wenn man als junger Mann wegging, wo man kaum eine Spur seines geistigen Lebens zurückließ, wenn sogar die zurückgelassene Familie in der Zwischenzeit gestorben und verdorben ist, so muß man eben in der Heimat ganz von vorn anfangen, ganz von der Pike auf dienen. Ich habe vor, mich nach Westfalen zu wenden, der Provinz, der ich durch Geburt, Erziehung und kurze amtliche Tätigkeit angehöre. Eine Ehrenbezeugung, wie die von mir gewünschte, wird mir hier bedeutend die Bahn ebnen, zumal sie von einer Universität käme, welche sowohl f ü r die Rheinprovinz als für Westfalen errichtet wurde. Meine Arbeiten und Bestrebungen sind den braven Landsleuten, an deren Stimmen ich zu appellieren gedenke, nicht einmal von Hörensagen bekannt, während die Universität Bonn in jedem Dorfe Westfalens ehemalige Schüler und Angehörige hat, so daß die Gewährung meines Wunsches ein offener Empfehlungsbrief an meine zukünftigen Wähler sein würde. Ich erlaube mir, mich an Sie als Mitglied der Philosophischen Fakultät zu wenden, auf deren Gebiet meine Schriften ausschließlich liegen, während ich in meinem eigentlichen Fach, der Jurisprudenz über den engen Kreis meines täglichen Berufes hinaus gar nichts geleistet habe. Ich muß übrigens bemerken, daß ich in Heidelberg und Berlin und nicht in Bonn studiert habe (1842—1845). Wenn Sie aus dem einen oder anderen Grunde in dieser Angelegenheit nichts tun können, so bitte ich Sie, diese Zeilen als nicht geschrieben zu betrachten und mir Ihre persönliche Behelligung nicht übel zu nehmen." (19. Dezember 1867, Nachlaß Sybel, Geh. St. A. Berlin-Dahlem.) Zu Kapps Ehrenpromotion vgl. auch F. von Bezold, Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 1, £ .522. 9*

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Welt des deutschen Idealismus beheimatet war, freilich schon mit Zügen seiner Auflösung. Auf Kapp hatten diese vor allem in der Form der Feuerbachschen Philosophie gewirkt. Von einer Abhängigkeit von dieser im einzelnen kann gleichwohl nicht die Rede sein. Dazu war Kapp eine Feuerbach zu konträr gerichtete Natur, und dafür ist er zu früh in eine völlig andere Welt, eben die noch unfertige, amerikanische gestellt worden. Seine Ubereinstimmung mit Feuerbachschen Anschauungen, wie er sie selber in seiner Behandlung der Sklavenfrage festgestellt hat, liegt mehr an der Oberfläche als im wesentlichen des Begriffs und etwa der Systematik. Kapp war überhaupt nicht Systematiker. Er dachte als Historiker. Das zeigt sich sehr charakteristisch in dem Kapitel über die Herrenhuter in seiner Geschichte der deutschen Einwanderung. Er hatte sich hierzu, da es an Material in Amerika fehlte, Feuerbachs Hilfe erbeten, aber er griff aus dessen mehr religionspsychologisch gerichteter Abhandlung mit sicherem Instinkt das historisch Tatsächliche heraus 1 . 1 Kapp hatte an Feuerbach geschrieben: „Falls Dich keine dringenden Arbeiten beschäftigen, bitte ich Dich, mir einen Aufsatz über die Herrenhuter zu schreiben. Sie spielen eine hervorragende Rolle in der Geschichte der deutschen Einwanderung und bilden das geistige zivilisierende Element unter all den verwahrlosten Kleinbürgern und Bauern, welche Not oder Abenteuersucht nach Amerika getrieben hatte. Die Herrenhuter — hier nennt man sie Moravians oder Moravianbrothers — sind vortreffliche Bürger, fleißig und sparsam, ausdauernd und kühn, aber im öffentlichen Leben bedeuten sie nichts. Entweder beugen sie sich der herrschenden Macht oder ziehen sich in die Schneckenstube ihres religiösen Lebens, besingen das Gotteslamm und bekehren die Indianer. Es kommt mir nur auf den geschichtlich philosophischen Nachweis an, wie diese Herrenhuter als ein Flügel des wieder erwachten geistigen Lebens und Denkens im Gegensatz zu dem verknöcherten und vom Staate beschützten Luthertum gar keine allgemeinen Gesichtspunkte haben konnten, wie sie zwischen oder ausschließlich mit ihrem Ich beschäftigt nur bei sich und mit sich verkehren, und wie ihre bürgerliche Stellung aus ihrer Religion zu erklären ist. In ihren Leistungen übertreffen sie alle zeitgenössischen Mitansiedler durch Tätigkeit und Erfolg. Ihr Stifter und Kirchenvater Zinzendorf ist mir eine durchaus antipathische Natur; er ist aber eine merkwürdige Mischung von klarem praktischem Verstand und bodenloser Schwärmerei, von Eitelkeit und Hingebung. Wenn ich auch die Möglichkeit der Entstehung dieser Sekte und ihres relativen Fortschritts zu verstehen glaube, so fehlen mir doch die zur Begründung und Durchführung meiner Ansicht erforderlichen Quellen und Vorkenntnisse,

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Der Krieg von 1866

Schon die Geschichtsschreibung Kapps führte uns auf die Frage nach seinem Wurzelgrund. Er hat niemals etwas wissen wollen von seiner Bezeichnung als „Bürger zweier Welten" 1 . Er sei Deutscher. Diese Ablehnung war nicht nur subjektiv richtig; auch objektiv betrachtet ist Kapp, bei aller selbstverständlichen Loyalität gegenüber den Vereinigten Staaten, deren Schutz als amerikanischer Bürger er genoß, in den zwanzig Jahren seines Auslandsaufenthalts in Gesinnung und Tun immer Deutscher geblieben. Tatsächlich aber hat er durch seine historischen Arbeiten als Erster die Fragen deutschamerikanischer Beziehungen unter großen Gesichtspunkten erörtert und damit die Bedeutung der Deutschamerikaner geholfen in helles Bewußtsein zu heben 2 . Er selber hat je länger, desto intensiver die politische Entwicklung beider Länder, Amerikas wie Deutschlands miterlebt und in Parallele gesetzt. Die deutschen Ereignisse des Jahres 1866 erschienen ihm als ein tiefer Einschnitt, als „wichtigster Markstein" der nationalen Entwicklung seit der Reformation. „Dieser Krieg", so schrieb er der Schwester 3 , „eröffnet die Aera der Wiedergeburt Deutschlands. Er hat dem Raubstaatensystem den ersten gewaltigen Stoß versetzt, er hat der Nation wieder Selbstgefühl und berechtigten nationalen Stolz eingehaucht und seine Früchte werden sich mit jedem Jahre noch viel gewaltiger zeigen, als sie sich schon geäußert haben. Was ist daran gelegen, wer die zur Reorganisation unseres Vaterlandes unerdas unerläßliche Stratum, auf dem ich meine Darstellung aufbauen könnte." (10. Dezember 1864, Familienpapiere.) — Der vollständige Brief Kapps ist abgedruckt in: Ausgewählte Briefe von und an Ludwig Feuerbach, hrsgb. von W. Bolin, Bd. 2, S.306ff. — Vgl. auch Feuerbachs Briefe an Kapp vom 1. März 1866, ebenda S. 317f. und 9. Juli 1866, ebenda S. 325f. Das Kapitel über die Herrenhuter vgl. Kapp: Geschichte der deutschen Einwanderung, S. 200ff. — Feuerbachs Abhandlung: Zinzendorf und die Herrenhuter ist aus seinem Nachlaß veröffentlicht von Karl Grün: Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlaß usw., Bd. 2, S. 236ff. 1 B.Auerbach hat in seinem Roman: Das Landhaus am Rhein, für dessen eine Figur Kapp als Modell diente, diese Bezeichnung zum ersten Mal auf Kapp angewandt. L. Bamberger griff sie 1869, dem Erscheinungsjahr von Auerbachs Werk, auf in seinem Aufsatz: Der Bürger zweier Welten, Gartenlaube, Nr. 22, 1869, S. 341ff. 2 Vgl. H. Oncken: a. a. 0 . Bd. 1, S. 112. 3 18. September 1866 (Familienpapiere).

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läßliche Revolution macht, wer den Boden für die spätere Aktion rein und frei macht, wenn es nur überhaupt geschieht. Im Gegenteil, mir ist in dieser Beziehung Bismarck und der Hohenzoller noch lieber als die bewaffnete Demokratie, denn wenn jene erst anfangen, ihre Kollegen zum Teufel zu jagen, so kommen sie gewiß nicht wieder, ja andere werden ihnen bald folgen. Wir sehen von hier aus als Nichtbeteiligte die große geschichtliche Wendung, die jetzt in Deutschland vor sich geht, objektiver und ruhiger an, und so sehr ich weiß, daß ich in allen übrigen Lebensfragen mit der in Preußen herrschenden Clique auseinandergehe, ja daß, wenn ich da wäre, ich sofort mit ihr in die Haare geriete, so stehe ich doch in der auswärtigen Politik unbedingt zu Bismarck und statt seine Hände zu binden, würde ich es für meine Pflicht halten, ihn mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu stärken und zu stützen. Unsere preußischen Liberalen haben sich in der Hitze des Kampfes vielfach verritten und verfahren, möglich, daß sie mich im Augenblick für einen Reaktionär halten würden, aber ich glaube, daß meine Politik auf die Dauer die richtige ist. Wäre ich bei Ausbruch des Krieges in Deutschland gewesen, ich hätte den Feldzug als Freiwilliger mitgemacht. Was jetzt geschehen ist, ist die unerläßliche Bedingung für eine gedeihliche nationale Zukunft, ohne Bismarck hätten wir nie diesen Krieg gehabt; jetzt liegt das Ziel klar und festabgesteckt vor uns; und die späteren Schritte sind verhältnismäßig leicht." Man darf diesen Brief als ein charakteristisches Zeugnis dafür betrachten, wie den Draußenstehenden über alle innenpolitischen Gegensätze hinweg das Wesentliche des Ereignisses ansprach, und wie leidenschaftlich er es bejahte. Wenn ihm schon lange Preußen als der einzig berechtigte deutsche Großstaat erschienen war, so erkannte er jetzt seinen Beruf zur Führung: „Wir können," schrieb er dem süddeutschen Feuerbach 1 , „. . . nur mittels Preußens zur Einheit gelangen, 1 10. August 1866 (Familienpapiere). Vgl. Ausgewählte Briefe von und an Ludwig Feuerbach usw., Bd. 2, S. 328; vgl. auch ebenda S. 332 die Antwort Feuerbachs vom 2. Dezember 1866 auf Kapps Brief. Über der Beurteilung der Ereignisse des Jahres 66 schieden sich die Ansichten der beiden Freunde. 134

Gewandelte Stellung zu Bismarck

jedenfalls Preußen nicht umgehen. Der südwestdeutsche Republikanismus hat sich blamiert und ist ausgespielt; es war doch nicht viel mehr als wüstes Wirtshausgeschrei und höhere und niedere Bummelei. Was man auch sonst mit Recht oder Unrecht gegen Preußen sagen mag, es ist Zucht und Kraft in dem Volk und nur, wenn Süddeutschland diese Eigenschaften in gleichem Grade entwickelt, können wir auf den endlichen Sieg hoffen". Damit rückte Kapp, der für das ganze Deutschtum gekämpft hatte, jetzt ausdrücklich in die kleindeutsche Front. Er trat in die gleiche Linie mit den Männern, die als Historiker diesem Ziel ihre Kraft gewidmet hatten und konnte zugleich der Kampfgemeinschaft seine besonderen amerikanischen Erfahrungen hinzu bringen. So schrieb er damals an Heinrich von Sybel 1 : „Von allen sogenannten Achtundvierzigern ist mir keiner bekannt, der nicht die Niederlage Österreichs für ein Glück erklärte, einzelne Badenser meinen, man könne noch nicht wissen, was Bismarck für neue Schandtaten im Schilde führe; aber diese weisen Männer zählen kaum ein halbes Dutzend. Wir hiesigen Deutschen sehen aus zwei Gründen klarer in den gegenwärtigen Entwicklungsprozeß der Heimat; einmal standen wir dem Kampfe fern; statt Parteien zu sein, waren wir bloße Zuschauer, kennen also die Erbitterung nicht, welche die liberalen Elemente zu Hause teilweise beseelt, und sind bereiter, das wirkliche Verdienst Bismarcks etc. anzuerkennen; dann hatten wir hier gerade einen Kampf durchgemacht, der die selben Zustände erstrebte, die wir in Deutschland hinter uns gelassen hatten. Die hiesigen Rebellen wollten nichts als die Kantönlisouveränität, die Raubstaatenwirtschaft; sie wollen die Union zerreißen, um besser die Herren spielen und die Neger besser prügeln zu können, kurz die Gemeinsamkeit des Zieles zwischen den Baumwollenstaaten und den deutschen Kleinstaaten lag so offen am Tage, daß wir hier wirklich leichtes Spiel hatten, anders Denkende zu unserer Ansicht zu bekehren. Eine noch schönere Erscheinung war die, daß all die alten politischen Flüchtlinge ihr bißchen persönliches Weh, ihren Groll und Ingrimm über der Erhebung 1 3. November 1866. (Nachlaß Sybel, Geh. St. A. Berlin-Dahlem).

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des Vaterlandes vergaßen. Ein alter Radikaler, der hinten am Missisippi schulmeistert, schrieb mir bei der Nachricht von Königgrätz triumphierend: »Es ist doch erhebend, daß wir vor vierundzwanzig Jahren wenigstens viel exerziert haben, und noch schöner wäre es gewesen, wir wären mit dabeigewesen, denn wir hätten uns so gut wie die Besten geschlagen.« Wir haben hier keine Zeit, den Doktrinär zu spielen; wir stehen zu sehr mitten im Leben, als daß wir Flüchtlingspolitik k la London, Schweiz und Süddeutschland treiben könnten." In dem gleichen Briefe kündigte Kapp seinen Entschluß an, „1870 nach Hause zurückzukehren und dann aktiven Teil an der Politik zu nehmen. Was Deutschland noch fehlt, sind ein paar hundert unabhängiger Männer, welche die Politik zu ihrem Beruf machen und sich so leicht nicht blenden lassen, welche vom Staate keine Stellen, sondern nur die freie Betätigung ihres Wesens und Strebens verlangen." Alle Vorbehalte, die Kapp nach seiner Deutschlandreise 1862 die Rückkehr noch verwehrt hatten, schrumpften zusammen. Wenn er ohnehin entschlossen war, 1870 in das Vaterland heimzukehren, so konnte er es jetzt, ausgesöhnt mit dem Gang der deutschen Entwicklung. Er hat die Bismarcksche Lösung nicht in ihren Mitteln, aber in ihrem Erfolg akzeptiert. In den letzten Jahren seines Amerika-Aufenthalts hat er bereits in dem Sinn, wie er es Sybel gegenüber ausgesprochen hatte, sich bemüht, die deutsche Regierungspolitik zu unterstützen. Das geschah 1868/69 bei dem Versuch des norddeutschen Bundes, durch internationale Abkommen die Fragen der Aus- und Einwanderung zu regeln, wobei Kapp in seiner Eigenschaft als Commissioner of Emigration für den Staat New York an den Verhandlungen führend beteiligt war 1 . Auch von dem vorübergehend auftauchenden Plan Bismarcks, für den Kriegsfall gegen Frankreich in Amerika eine Flotte aufzukaufen, hat Kapp gewußt. An Bamberger 1 Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen im deutschen Reichstag vom 13. März 1878, S. 500. 136

Heimkehr nach Deutschland

schrieb er damals 1 : „ . . . über Bismarcksche Pläne, bei denen ich, soweit sie Amerika betreffen, eine Hand im pie [Pastete] habe, mündlich mehr; es ist besser, über diese Dinge nicht zu schreiben. Nur so viel, daß seit der Luxemburger Frage Deutschland in die Lage kommen kann, sehr bald eine Kaperflotte gegen die Franzosen zusammenzubringen, und diese Flotte kann in sehr kurzer Zeit hier beschafft werden, wenn die hiesigen Behörden nicht ein, sondern beide Augen zukneifen. Abgesehen von der Unfähigkeit des hiesigen Gesandten lassen sich solche Dinge besser durch Outsiders arrangieren." Im Frühjahr 1870 hatte Kapp seine Verhältnisse in New York so weit abgewickelt, daß er als materiell unabhängiger Mann seine Rückübersiedlung nach Deutschland vornehmen konnte. Am 29. April 1870 schiffte er sich mit seiner Familie als Ehrengast des Norddeutschen Lloyd ein zur Fahrt in die Heimat. Seine deutschen Landsleute in Amerika gaben ihm das Abschiedsgeleit mit den Worten 2 : „Ein Fremdling landeten Sie hier vor zwanzig Jahren, Deutschland hatte keine Stätte mehr für Sie und in Amerika war keine für Sie bereitet. 1 18. September 1869 (Nachlaß Bamberger im Besitz von Dr. E . Feder, Berlin). — Der vollständige Brief ist abgedruckt in E. Feder: Bismarcks großes Spiel. Die geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers, 2. Aufl., Frankfurt 1934, S. 589 f. Da mir das Original vorlag, habe ich den Lesefehler: „eine Hand im pic" statt „im pie" verbessert. Vgl. auch ebenda S. 120 f. — Über Bismarcks Absichten vgl. Die auswärtige Politik Preußens, Bd. VIII, bearb. von H.Michaelis, Oldenburg 1934, S. 740 f. Nr. 535. — Kapp war mit dem Gesandten des Norddeutschen Bundes in Washington, Freiherrn von Gerolt, gut bekannt und wird von diesem Bismarcks Plan erfahren haben. 2 Die Abschiedsadresse ist von Hermann von Holst verfaßt. Als er nach Kapps Tod den Nachruf für die Preußischen Jahrbücher übernommen hatte, schrieb er an Kapps Schwiegersohn Afred von der Leyen: „Hat sich im Nachlaß die Adresse gefunden, die ihm bei der Rückkehr nach Deutschland überreicht wurde? Wenn, so bitte ich [um] eine Abschrift. Ich selbst war der Verfasser und es liegt mir nur daran, mir die Stimmung der leitenden deutschen Kreise von New York recht lebendig zu vergegenwärtigen. Denn daß die Adresse dieser Stimmung richtigen Ausdruck verlieh, wurde nicht nur von allen Teilnehmern an dem Abschiedsessen, sondern auch von der gesamten Presse anerkannt." (27. Dezember 1884. — Dieser Brief sowie eine Abschrift der Adresse befinden sich im Nachlaß v. d. Leyen im Besitz von dessen Kindern, Berlin.)

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II. Teil. V.Kap.: Die Jahre in Amerika (1850—70)

Nicht leicht wäre es jetzt, die Hände zu zählen, welche Sie hier zurückhalten möchten, und viele strecken sich Ihnen bereits von drüben zum herzlichen Willkommen entgegen. Ihre zwanzigjährige Arbeit auf diesem Boden hat zu reiche Früchte getragen, als daß die Besten Deutschlands Sie nicht ebenso freudig empfangen sollten, als die Deutschen Amerikas Sie ungern ziehen lassen. Nur der Gedanke, daß Ihre Kraft hinfort im Dienst des alten Vaterlandes tätig sein wird, kann diese mit Ihrem Scheiden versöhnen. Sie kehren nicht nur mit einem Namen zurück, der denen wohl bekannt ist, welche die Fortschritte der Wissenschaft mit aufmerksamem Auge verfolgen, Sie nehmen die ungeteilte Hochachtung und Anerkennung Ihrer Mitbürger und die Liebe aller derer mit sich, welche in nähere Berührung mit Ihnen gekommen. Der Lohn ist wohl verdient, denn rastlos und in mannigfacher Weise sind Sie vom ersten bis zum letzten Augenblick bemüht gewesen, Ihren Landsleuten in der Fremde den Weg zu ebnen und ihnen zu dem Bürgerrecht vor dem Gesetz auch das tatsächliche Vollbürgertum zu erringen. Dem deutschen Stamm war bisher sein Recht nicht geworden. Erst Sie haben ihm dazu verholfen, indem Sie den Schleier von der Vergangenheit zogen. Weder Mühe noch Kosten haben Sie gescheut, den Beweis zu liefern, wie vollen Preis die Deutschen stets für ihren Bürgerbrief gezahlt, und indem Sie nachwiesen, wie viel dieselben — große wie kleine — zum Aufbau der Republik getan, spornten Sie die lebende Generation an, mit der gleichen Hingebung und Energie an ihrem Ausbau zu arbeiten. Und der geschichtlichen Lehre gaben Sie durch Ihr Beispiel doppeltes Gewicht. Sie haben nicht um Beifall gebuhlt, und nie gezögert die wunden Flecken zu berühren, wenn die Wahrheit und das Beste der Allgemeinheit es forderten. Aber Sie rügten nicht, um zu rügen, sondern um zu bessern; denn es ist Ihnen Lebensbedürfnis gewesen, das Ganze wie den Einzelnen nach Kräften zu fördern. Vielen haben Sie ermöglicht, an der rechten Stelle und in der rechten Weise ihre Kräfte zur Geltung zu bringen; denn wer Hülfe verdiente, dem standen Sie mit Rat und Tat zu Seite. Und Sie warteten nicht, bis Ihr Beistand gesucht ward. Sie wußten, daß jeder des Beistandes 138

Abschiedsadresse der Deutschamerikaner

bedürftig ist, der seinen Fuß auf diesen Boden setzt, um hier ein neues Vaterland zu suchen, und Sie liehen allen diesen Ihre Hand. Jahrelang haben Sie auf Mittel und Wege gesonnen, Unbill jeder Art in wirksamer Weise von ihnen abzuwehren, unablässig haben Sie sich bemüht, dem Einwanderer das amerikanische Gestade wirtlicher erscheinen zu lassen und ihm einen gastlichen Empfang zu bereiten . . . Was Sie getan, haben Sie nicht um des Lohnes willen getan, selbst nicht um den Lohn des Dankes. Ihnen genügte das Bewußtsein, ernst gestrebt und Ihre Pflicht erfüllt zu haben. Uns aber geziemt es, Ehre und Dank dem Manne zu bieten, der so hohes Streben hat, den Bürgerpflichten so weite Grenzen weist und den selbstgesetzten Pflichten so getreulich nachlebt. Blicken Sie einst im Lichte dieses Tages auf Ihre zwanzigjährige Wirksamkeit in den Vereinigten Staaten zurück, dann möge sich das Wort bestätigen: »Olim meminisse juvabit«."

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III. Teil. VI. Kap.: Ausklang in Berlin (1870—84)

HI. TEIL „Die Hingebung. . . . an das zeitlich bedingte Wahre und Gute ist etwas unbedingt Herrliches . . . ." Jacob Burckhardt.

VI. K A P I T E L

Ausklang in Berlin (1870—84) „Unser Einer muß hier von vorne anfangen; leicht gemacht wird es uns nicht. Man betrachtet uns mit einer gewissen Neugier, aber nicht mit warmem innerlichen Interesse, geschweige denn freundschaftlicher Teilnahme . . Diesen Eindruck hatte K a p p noch fast ein J a h r nach seiner Rückkehr nach Deutschland. Dennoch hat er keinen Augenblick seinen Entschluß und zumal den Zeitpunkt, in dem er ihn ausführte, bedauert. Brach doch wenige Monate, nachdem er den vaterländischen Boden wieder betreten hatte, der deutsch-französische Krieg aus. Wenn er schon den vorangegangenen von 1866, noch fern der Heimat, mit freudiger Begeisterung in Gedanken begleitet hatte, wie viel mehr diesen, der das Einigungswerk krönte und den auf deutschem Boden mitzuerleben ihm vergönnt war: „Ich brauche Dir 1 An H. von Holst, 2. März 1871. — Die Briefe Kapps an H. v. Holst liegen im Nachlaß Holst in der University of Chicago. Prof. Buth Hofrichter (Vassar-College, Poughkeepsie) und Fräulein Hilde und Fräulein Erika Hofrichter hatten die Liebenswürdigkeit, sie für mich durchzusehen und mir dadurch zugänglich zu machen.

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Kriegsausbruch 1870

wohl nicht zu sagen," schrieb er an Cohen1, „daß ich mir gratuliere, zu einer so großen Zeit nach Deutschland zurückgekehrt zu sein . . . .In solchen Zeiten wie den gegenwärtigen, wo das vollberechtigte Selbstbewußtsein der Nation hochgeht, und jeder einzelne sich glücklich preist, das Unerwartete, Langgehoffte mitzuerleben, in solchen Zeiten sollten sich gleichgesinnte Freunde öfter sehen, statt einander zu schreiben. Noch nie habe ich die Unzulänglichkeit von Feder und Tinte so sehr gefühlt." Kapps Plänen für die Wahl seines Wohnsitzes und für seine Tätigkeit in Deutschland, denen der feste Umriß bei seiner Heimkehr noch gefehlt hatte, gab der Krieg schnell Gestalt. Alle früher gehegten Bedenken, sich in Berlin niederzulassen, schwanden jetzt vor dem Wunsche, dem Zentrum der deutschen politischen Ereignisse künftig so nahe wie möglich zu sein. Nach kurzen Sommermonaten am Rhein und in der alten westfälischen Heimat wurde von August 1870 an bis zu Kapps Tode Berlin sein Wohnsitz, den er freilich nicht selten auf längere Zeit verließ 2. Auch seine Tätigkeit wiesen der Krieg und dessen Folgen rasch in eine bestimmte Richtung, so daß er von sich aus wieder heimisch wurde. Zunächst war eine vorübergehende Aufgabe zu übernehmen, von der Kapp freilich meinte: „Es scheint, ich soll einmal von Amerika nicht loskommen, aber ich kann in dieser Stellung wirken und nützen" 3 . Vor allem bot sie ihm die erwünschte Gelegenheit, bei der durch den Krieg verursachten Arbeit mit anzugreifen. Er wurde nämlich der Vertreter der von den Deutschen in Amerika gebildeten Hilfsvereine, die Mittel zur Pflege von Verwundeten und zur Unterstützung von Kriegswitwen und Waisen sammelten. Die Millionen-Summen, die eingingen, und die es an die richtigen Stellen zu verteilen galt, machten Kapps Amt im Berliner Zentralkomitee verantwortungsreich. Sein offener Blick für praktische Erfordernisse 1 18. Dezember 1870 (Familienpapiere). 2 1871 kaufte Kapp in dem kleinen sohlesischen Bad Charlottenbrunn ein Sommerhäuschen, wo er Jahr für Jahr mit Kindern und Enkeln •einen Teil des Sommers zubrachte. 3 An Ernst Kapp, 9. September 1870 (Nachlaß E. Kapp im Besitz von dessen Enkeln, München).

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III. Teil. VI. Kap.: Ausklang in Berlin (1870—84)

und seine uneigennützige Initiative, die das als richtig Erkannte durchzusetzen wußte, ließen ihn für seine glückliche Lösung uneingeschränkte Anerkennung finden 1 . Noch auf andere Weise suchte Kapp zu wirken. Er benutzte seine Verbindungen mit amerikanischen Zeitungen, um journalistisch für die deutsche Sache einzutreten. Die Bedeutung der „public opinion" in den Vereinigten Staaten vermochte er aus eigener Erfahrung damals wohl besser einzuschätzen als die meisten seiner Landsleute. Mit feuilletonartigen Plaudereien in der einflußreichen New Yorker Wochenschrift „The Nation", die psychologisch geschickt abgestimmt waren, suchte er das amerikanische Publikum für die deutschen Verhältnisse zu erwärmen2. Zu Beginn des Krieges absorbierten, nach seinen eigenen Worten, vor allem die Vorgänge auf dem Kriegsschauplatz selber jedes andere Interesse. Er lebte in dem Vollgefühl des Augenblicks, da die zweihundertjährige französische Suprematie aufhöre und Deutschland an die Spitze der zivilisierten Welt trete „in einem besseren und höheren Sinn als die eitlen Franzosen" 3 . Im August 1870 stand aber auch für Kapp schon, wie er an Eduard Cohen schrieb4, der Entschluß fest, sich als Parlamentarier politisch zu betätigen: „Ich werde versuchen, daß ich in das erste deutsche Parlament gewählt werde. Norddeutschland hat ausgespielt, es lebe das einige Deutschland!" Bei seinen politischen Überzeugungen verstand es sich von selbst, daß Kapp der nationalliberalen Partei beitrat, die jetzt in die stolzeste Periode seit ihrem Bestehen einrücken sollte. 1 Vgl. dazu auch J. Rodenberg: Friedrich Kapp, Deutsche Rundschau, Bd. 41, 1884, S. 457. 2 Kapp hat außer für „The Nation" auch für andere amerikanische Blätter, z. B. für die Illinois Staatszeitung, geschrieben. An „The Nation" hat er auch in späteren Jahren noch mit gearbeitet. Die Beiträge darin erschienen aber anonym, so daß nur zwei aus der Zeit des Krieges von 1870/71, die er zufällig in Briefen erwähnt, zu ermitteln waren: The Nation XI. 1870, S. 169f.: „The Prussian Losses-Field" und ebenda S. 222f.: „Prussian Sanitary Experience." 3 An Ernst Kapp, 8. August 1870 (Nachlaß E. Kapp, München). 4 13. August 1870 (Familienpapiere).

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Wahl Kapps in den Reichstag

Bereits bei der Wahl am 3. März 1871 wünschten Duisburg und Elberfeld Kapp als ihren Abgeordneten in den Reichstag zu schicken. Fortschrittler, Nationalliberale und Konservative hatten sich auf seine Kandidatur gegen den Sozialisten Schweitzer geeinigt1. Fürs erste mußte er die Wahl ablehnen, denn er war nach deutschem Gesetz noch nicht wieder wählbar, da er zwar so schnell wie möglich, doch erst im Oktober 1870 die preußische Staatsangehörigkeit für sich und seine Familie zurückgewonnen hatte. Wohl aber gelang es Kapp, bei einer Nachwahl im Kreise Salzwedel-Gardelegen im Frühjahr 1872 ein Reichstagsmandat zu erobern. Seit 1866 hatte der Kreis konservativ gewählt. Über seine Wahl berichtete Kapp brieflich an Eduard Cohen2: „Ich habe meine beiden Gegner, zwei Junker reinsten Blutes, mit zwei Drittel Majorität glänzend geschlagen, den Bezirk zehn Tage lang bereist und vierzehn Reden verübt. Ich trieb das Geschäft ganz in amerikanischer Weise und habe einen Triumph errungen, an den selbst meine Freunde bis zum Eintreffen der Wahlresultate nicht glauben wollten." Tatsächlich vereinigten Kapps Gegner nur 4938 Stimmen auf sich, während ihm 8495 zugefallen waren3. Seine parlamentarische Tätigkeit beschränkte sich indessen nicht auf den Reichstag, wenn er diesem auch die weitaus meiste Zeit und Kraft widmete. Schon im November 1871 war er zum Stadtverordneten von Berlin gewählt worden. Er lehnte aber bereits zum Januar 1873 die Wiederwahl ab und begründete das gegenüber seinem Schwiegersohn Alfred von der Leyen 4 mit den charakteristischen Worten: ,,Le jeu ne vaut pas la chandelle. Was ich in dem Kollegium lernen konnte, habe ich gelernt. Die Städteordnung paßt für kleine Verhältnisse, aber nicht mehr für das Kaiserdorf Berlin." Den selben Wahlkreis wie im Reichstag vertrat Kapp von 1874 bis 1877 auch im preußischen Landtag. Bei der Reichstagswahl von 1878 trug infolge der verwandelten poli1 Vgl. H. von Holst: Friedrich Kapp, Preußische Jahrbücher, Bd. 55, 1885, S.256. 2 3. März 1872 (Familienpapiere). 3 Vgl. auch H. von Holst, a. a. 0. S. 256. 4 11. Januar 1873 (Nachlaß von der Leyen, Berlin). 143

I I I . Teü. VI. Kap.: Ausklang in Berlin (1870—84)

tischen Verhältnisse Kapps konservativer Gegner den Sieg über ihn davon, während 1877 seine Wählerschaft, wohl unter dem Eindruck einer Entscheidung Bismarcks für Kapp auf die Anfrage eines überloyalen Wählers hin, noch mit einer beträchtlichen Majorität zu ihm gehalten hatte 1 . Einen neuen Wahlkreis wollte Kapp 1878 nicht übernehmen2. Erst 1881 eroberte er sich sein altes Mandat zurück, um es bis zu seinem Tode 1884 zu behalten. Nach außen hin ist Kapp als Parlamentarier wenig hervorgetreten, und an politischen Zeugnissen aus seinen letzten vierzehn Lebensjahren ist nicht allzuviel erhalten3. Sie reichen aber aus, um seine Grundansichten und die Eigenart seiner politischen Tätigkeit erkennen zu lassen. Da drängt sich vor allem auf, wie unmittelbar sein Handeln und Denken aus praktischer Erfahrung hervorging. Dem widerspricht es nicht, daß er beides historisch zu rechtfertigen liebte. Denn auch sein historisches Denken war ja, wie wir früher sahen, be-

1 Vgl. dazu L. Parisius: Deutschlands politische Parteien, Berlin 1878, Bd. 1, S.90, Anm. 1; ferner Poschinger: Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Breslau 1894ff., Bd. 2, S. 239f. und die Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags vom 2. Dez. 1882, S. 589 f. Kapp hat anläßlich einer Besprechung von Wahlbeeinflussungen im Reichstag den Fall, der zur Anfrage bei Bismarck und dessen Entscheidung für ihn geführt hatte, eingehend dargelegt. Kapps konservativer Gegner, Graf von Schulenburg-Beetzendorf hatte damals zu den Deklaranten der Kreuzzeitung gehört und war deshalb dem Kanzler als Abgeordneter nicht erwünscht. 2 Am 8. Juni 1878 schrieb F. Kapp an Ernst Kapp: „In den Reichstag werde ich mich wohl nicht wieder wählen lassen, da meine Wähler wie die Bevölkerung der meisten ländlichen Kreise, den jetzigen Konflikt nicht versteht und unter dem Eindruck des jüngsten Attentats sofort das Gegenteil von dem t u t , was ich zu tun für meine Pflicht halte. Einen neuen Wahlkreis mag ich mir nicht suchen, weil mir zur Zeit dringendere Arbeiten obliegen." (Nachlaß E. Kapp, München). 3 Der fragmentarische Charakter des Materials erklärt sich einmal aus der unter diesem Gesichtspunkt schon häufig bedauerten und auch für viele andere Parlamentarier geltenden Tatsache ihres ständigen Aufenthalts in Berlin, der an die Stelle schriftlichen, überwiegend mündlichen Gedankenaustausch treten ließ. Für Kapp speziell kommt hinzu, daß sein Nachlaß vernichtet ist, aus dem sich vermutlich gerade für die letzte Phase seines Lebens noch Aufschlüsse hätten gewinnen lassen. 144

Lebenserfahrungen und politische Überzeugungen

stimmt durch die politische Situation seiner jeweiligen Gegenwart. Der Zusammenhang von Geschichte und Politik war für ihn selbstverständlich. Was ihn von seinen nationalliberalen Freunden unterschied, war aber die praktische Erfahrung. Er hatte nicht umsonst zwanzig Jahre in den Vereinigten Staaten mit ihrem ausgebildeten Verfassungsleben zugebracht in einer Zeit, da in Preußen erst in harten Kämpfen die konstitutionelle Praxis ausgeprobt wurde und theoretische wie historisch-staatsrechtliche Erwägungen sie begleiteten. Gewiß war Kapp, indem er den amerikanischen Boden als demokratischer Achtundvierziger betrat, gegenüber den Institutionen der neuen Heimat keineswegs unkritisch gewesen. Sie ernüchterten ihn stark. Trotzdem kam gerade denjenigen Seiten seiner Natur, die durch Wirklichkeitssinn, Selbständigkeit und Tatkraft gekennzeichnet waren, der amerikanische Lebensstil nicht wenig entgegen. Der Aufenthalt drüben ließ diese Anlagen viel ungehemmter sich entfalten, als die gleichzeitigen Verhältnisse in Deutschland es gestattet haben würden. Auch weitete sich sein Gesichtsfeld durch die Tätigkeit als Commissioner of Emigration und die besonderen Erfordernisse der New Yorker Praxis als Rechtsanwalt. Beide Bereiche vermittelten ihm eine genaue Kenntnis des internationalen, speziell des angelsächsischen Rechts und hatten ihn mit wirtschaftlichen und nationalökonomischen Fragen in dauernde Berührung gebracht. Nicht zuletzt aber wirkten die Erfahrungen als Auslandsdeutscher und zugleich auch als Bürger eines Staates, der in schweren Kämpfen seine Einheit befestigt hatte, bei der Formung des von ihm für Deutschland erstrebten Zieles mit. Der parlamentarische Einheitsstaat war zwar schon die Sehnsucht des jungen Achtundvierzigers gewesen. Das Haupthindernis im Wege — wie Kapp schien: der deutsche Partikularismus, war ihm in seiner verhängnisvollen Auswirkung aber erst durch seine persönlichen Erlebnisse und seine dadurch angeregte Geschichtsforschung in Amerika klar geworden. Die Überwindung der sezessionistischen Gelüste in den Vereinigten Staaten setzte er gern in eine natürlich gegebene Parallele zu dem allmählichen Prozeß der deutschen Reichsgründung. An ihrem Fortgang wollte er mitarbeiten, so wie er in den Vereinigten Staaten Königab. h!9t. Forsch.

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III. Teil. VI. Kap.: Ausklang in Berlin (1870—84)

für Einheit und Freiheit eingetreten war. Auch hier ist er in gewissem Sinne Widerpart von Carl Schurz — um diesen noch einmal als repräsentativen Vertreter der deutschen Achtundvierziger in Amerika zu nennen. Ihn hatte Bismarck der Heimat nicht zurückgewinnen können, weil er ihrer inneren Entwicklung unversöhnlich gegenüberstand1. Kapp hingegen war zurückgekehrt, getrieben von sanctus amor patriae. Aber er hat darum das von ihm als notwendig angesehene Ziel des parlamentarischen Einheitsstaates nie aufgegeben. Sehr bezeichnend schrieb er schon im September 1870, inmitten des Hochgefühls der nationalen Bewegung, Sätze nieder, die zeigen, daß er die sich bereits abzeichnende Lösung der Reichsgründung nur als Etappe auf dem Wege, nicht als Abschluß der deutschen Einigung auffaßte: „Die nächste Zukunft Deutschlands ist der schlappe Bundesstaat, die Einigung aber nicht die Einheit, und wir werden eine lange Zwischenstation machen müssen, ehe wir zum Einheitsstaat gelangen. Die deutsche Einheit ist ein ebenso nebelhaftes Wesen, wie die amerikanische Union ihrer Zeit war. The Union shall and must be preserved mag im Kriege ein ganz guter Schlachtruf sein, aber leider zerrinnt sie unter den Händen, wenn man im Frieden ihren Inhalt analysieren und fassen will. Die Raubstaaten werden gekräftigt aus diesem Kriege hervorgehen. . . . Der Vorzug, den wir vor den Amerikanern haben, ist der, daß wir einmal im Fluß sind und nicht stehen bleiben werden. Ich will zufrieden sein, wenn die Resultate im Innern nur ein Vierzigstel von den Gewinnen nach Außen bedeuten"2. Dem eigentlichen Verständnis für die Struktur des Bismarckschen Reiches, für die Elemente, die nicht dem liberalen nationalstaatlichen Denken entstammten3, stand er damit fern. Er war überzeugt davon, daß der parlamentarische Einheitsstaat, wenn vielleicht auch nicht ohne schwere Kämpfe, allmählich verwirklicht würde4. 1 Vgl. Carl Schurz: Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 501; Bd. 3, S. 304f. Ferner Georg von Skal: Die Achtundvierziger in Amerika, S. 7f. und S. 55. 2 Vgl. H . von Holst: a . a . O . S. 254. 3 Vgl. dazu H. Kothfels: Bismarck und der Osten, Leipzig 1934, S. 14ff. 4 Vgl. Kapps Vorwort zur 2. Auflage des Soldatenhandels deutscher

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Gegensatz zum Bismarckschen Reich

Diese Vorstellung bildete das Zentrum seiner politischen Gedankenwelt und bedingte alle seine Schritte. Dabei war er sich der Bedeutung seiner amerikanischen Eindrücke für seine Auffassung bewußt. So schrieb er seinem Schwiegersohn Alfred von der Leyen 1 : „Es wird bei uns nicht eher besser, als bis wir den Raubstaaten den Garaus gemacht haben. . . . Das ist das A und 0 , aus dem all unser Weh zu kurieren ist. Erst wenn wir das erreicht haben, können wir behaupten, ein Reich zu sein. Ich verstehe die Frage besser als die meisten deutschen Parlamentarier, weil ich ihr zwanzig Jahre lang in den Vereinigten Staaten gegenüber gestanden habe. Jeder Deutsche hat den partikularistischen Sparren in sich. Wie könnte das auch anders sein, nachdem man mehr als tausend Jahre gebraucht hat, ihn demselben einzutreiben? 2 " Auch für den parlamentarischen Ausbau des Reichstags trat Kapp ein. Indessen ist doch sehr bezeichnend, welcher Anlaß ihn zu einer ausführlichen Äußerung darüber bewog. Einem der gerade von demokratisch-liberaler Seite aus wiederholten Anträge, die mit Abänderung des Artikels 32 der Reichsverfassung Diäten einführen wollten, hat Kapp sich entschieden widersetzt. Wohl leiteten auch ihn politischFürsten nach Amerika (Berlin 1874) S. V I , , . . . der fürstliche Widerstand gegen den einheitlichen Staat, welcher — wenn ich anders unsere geschichtliche Vergangenheit recht verstehe — das letzte Ziel unsrer politischen Entwicklung ist . . . ." S.VII „Er [seil, der Ausgang des Konflikts zwischen Zentralgewalt unter Preußens Führung und Kleinstaaten] wird mit dem Siege der Staatsidee, der korrekten Durchführung des einheitlichen Staates enden." 1 30. August 1877 (Nachlaß v. d. Leyen, Berlin). 2 Eine bezeichnende Äußerung Kapps für eine Einzelfrage, die er in unitarischem Sinn gelöst wünschte, bezieht sich auf die Verstaatlichung der Eisenbahnen: „. . . Bamberger ist nicht gut auf die neue Maybachsche Vorlage zu sprechen. Ich kenne sie noch nicht. Das Ziel, welches das Reichseisenbahnamt erreichen muß, ist mir klar: einheitliche Gewalt über die Kleinstaat- und Privatbahnen, ebenso unbedingt wie in Post- und Telegraphensachen, allein das Wie ist mir noch nicht klar. Der Partikularismus ist auf diesem Gebiet noch zäher als auf dem politischen, und das will doch wahrhaftig viel sagen" (an Alfred von der Leyen, 7. Mai 1875, Nachlaß von der Leyen, Berlin). — Grundsätzliche Äußerungen Kapps über die Souveränität des Reichs gegenüber den Einzelstaaten und über die Rolle des Reichstags siehe auch in den Stenogr. Berichten über die Verhandlungen des Reichstags vom 28. April 1873, S. 372ff. 10*

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III. Teil. VI. Kap.: Ausklang in Berlin (1870—84)

taktische Erwägungen bei seiner Argumentation, aber im Grunde ging es ihm um etwas anderes, um das Prinzip des Ehrendienstes. Seiner Auffassung lag etwas Aristokratisches zu Grunde, was an frühere angelsächsische Begriffe erinnert. Wenn er den Verzicht auf eine kleine persönliche Entschädigung forderte, um „die höchsten Interessen der Nation wirksam zu fördern, um die Unabhängigkeit, den Einfluß und die Macht des Reichstags nach oben und auch nach unten hin zu befestigen" 1 , so charakterisieren diese Bemerkungen zugleich Kapps eigene parlamentarische Tätigkeit. Es lag tief in seiner Natur begründet, daß er sich dafür Gebiete wählte, auf denen er unbedingter Sachkenner war. Alle seine Äußerungen in Kommissionen wie im Plenum tragen zugleich den Stempel gründlicher Vor- und Mitarbeit. Sein parlamentarisches Debüt sollte ursprünglich stattfinden mit einer Interpellation wegen Waffenverkaufs an französische Agenten durch die Regierung der Vereinigten Staaten während des deutsch-französischen Kriegs. Er unterließ sie aber, weil ein solcher Schritt von Bismarck für unzweckmäßig gehalten wurde 2 . Ein Hauptgebiet seiner parlamentarischen Wirksamkeit wurde dann das zwischenstaatliche Vertragswesen. Den zahllosen Abkommen, die über Fragen des Handels, der Schifffahrt und der Post, über die Auslieferung von Verbrechern und die internationale Regelung von Erbschaftsangelegenheiten in den ersten Jahren des Reiches abgeschlossen wurden, brachte Kapp unerschöpfliche Geduld entgegen. Er war erfüllt von dem Gedanken, auch in solchen scheinbar geringfügigen Fällen das Ansehen des Reichs zu wahren. Aus seiner 1 Vgl. Stenogr. Berichte vom 30. November 1875, S. 353 und ebenda Sitzung vom 29. März 1878, S. 600, in der Kapp während einer Etatsberatung äußerte: „Es widerspricht . . . jedem gesunden finanziellen und konstitutionellen Prinzip, Auslagen zu bewilligen, welche die Regierung nicht gefordert hat." — Um die sachliche Arbeit der Abgeordneten zu fördern, hat sich Kapp unermüdlich um den Ausbau der Reichstagsbibliothek mit historischen, nationalökonomischen und juristischen Werken bemüht. Er selber hat Teile seiner großen Bibliothek der Bücherei des Reichstags vermacht. 2 Vgl. H. von Holst: a. a. O. S. 260. Ferner: Stolberg-Wernigerode: Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika, S. 144f.

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Wirksamkeit im Reichstag

praktischen Erfahrung heraus konnte er gelegentlich Präzisierungen der Vertragstexte zum Zwecke juristischer Eindeutigkeit vorschlagen 1 . Seine eigentliche Domäne aber waren das Konsulats- und Auswanderungswesen, beides Bereiche, in die er während seines zwanzigjährigen Auslandsaufenthalts tiefe Einblicke hatte t u n können, so daß er wußte, was not t a t . F ü r seine Vorschläge h a t er zäh gekämpft. Abgesehen von den auf den Gegenstand unmittelbar sich beziehenden Anlässen ging kaum eine Reichshaushaltsberatung in den Zeiten seines Mandats vorüber, ohne daß er sein ceterum censeo wiederholte, das Konsulatswesen müsse einheitlich vom Reich aus geordnet und das Reich ausschließlich durch Berufs- statt durch kaufmännische Konsuln vertreten werden. Ferner forderte er eine ausreichende Zahl und Ausstattung der Konsulate und verbesserte Ausbildung der Konsuln, namentlich die Einführung von Prüfungen, die ihres Amtes würdige Männer als Vertreter des Reichs und Deutschtums gewährleisteten. K a p p wußte aus persönlicher Anschauung, wie sehr ein umsichtiger Konsul den Auslandsdeutschen und dem deutschen Ansehen in der Welt nützen konnte. Er hatte die Genugtuung, daß mit auf Grund seiner Bemühungen das deutsche Konsulatswesen allmählich in der von ihm gewünschten Richtung verbessert wurde 2 . Ebenso unermüdlich wirkte K a p p für eine Reihe von Maßnahmen im Auswanderungswesen, die sich ihm im Laufe der Zeit als notwendig aufgedrängt hatten. Er f ü h r t e dabei fort, was er in New York als Commissioner of Emigration einst begonnen hatte. Das ihm eigentlich vorschwebende Ziel war freilich, die Auswanderung überflüssig zu machen, indem 1 Vgl. dazu die Stenogr. Berichte vom 2. Nov. 1874, S. 16f.; 14. Dez. 1874, S.663; 14. Januar 1875, S.985f.; 2. Nov. 1875, S. 38ff.; 11. April 1877, S. 378ff.; 7. Mai 1883, S. 2350ff.; 27. März 1884, S. 233; 26. Juni 1884 S. 1051 f. und S. 1084ff. — Vgl. auch Stolberg-Wernigerode: a. a. O. S. 160. 2 Bemerkungen Kapps zum Konsulatswesen siehe in den Stenogr. Berichten vom 12. April 1872, S. 181; 17. Mai 1872, S. 438f.; 6. Juni 1872, S. 779f.; 9. Juni 1873, S. 1032f.; 14. März 1874, S. 335f.; 5. Dezember 1874, S. 516f.; 25. Januar 1876, S.896f.; 6. November 1876, S . 5 0 ; 25. Februar 1878, S.208; 30. November 1881, S. 113f. und S. 120f.; 5. Februar 1883, S. 1239ff. 149

I I I . Teil. VI. Kap.: Ausklang in Berlin (1870—84)

man die sozialen und wirtschaftliehen Lebensbedingungen in der Heimat hob. Mit der schweren nationalen Einbuße, die der aus der Auswanderung entstehende Verlust an wertvollen Menschen, ihrem beweglichen Besitz und ihrer Werte schaffenden Arbeitskraft für das Mutterland bedeutet, hat er sich häufig befaßt und auf die Notwendigkeit wirksamer Gegenmaßnahmen hingewiesen1. Aus diesem Gedanken heraus trat er, um ländliche Bevölkerung auf der Scholle zu halten, für Siedlung, besonders im Osten Deutschlands ein 2 . Indessen wußte Kapp, daß unter den bestehenden deutschen Verhältnissen an zahlenmäßig beträchtlichen Rückgang der Auswanderung zunächst nicht zu denken war. Bei dieser nun einmal gegebenen Tatsache setzte er ein, als er im Februar 1878 einen Gesetzentwurf im Reichstag einbrachte „betreffend die Beförderung von Auswanderern nach außerdeutschen Ländern" 3 . Darin war im wesentlichen zusammengefaßt, worauf er schon in früheren Jahren im Reichstag hingewiesen 1 Vgl. dazu Kapps Aufsatz: Über Auswanderung in: Aus und über Amerika, Bd. 1, S. 161ff., besonders S. 172ff. und S. 191ff. Ferner Kapps Aufsatz: Der deutschamerikanische Vertrag vom 22. Februar 1868 in: Preuß. J b b . Bd. 35, 1875, S. 509ff. und S. 600ff.; Bd. 36, 1875, S. 189ff. Sowohl in diesem letztgenannten Aufsatz wie in parlamentarischen Äußerungen (z. B . im Reichstag am 16. April 1874) ist Kapp dafür eingetreten, Auswanderer nach Möglichkeit daran zu hindern, daß sie sich ihrer militärischen Dienstpflicht entzögen. 2 Vgl. „Über Auswanderung" a . a . O . S. 188f. Ferner Stenographische Berichte über die Verhandlungen im Preuß. Abgeordnetenhaus vom 6. Februar 1875, S. 115f. und die Stenogr. Berichte über die Verhandlungen im Deutschen Reichstag vom 6. Mai 1872, S. 274f. — In diesem Zusammenhang ist auf die Tatsache hinzuweisen, daß der zu seinem Vater Friedrich Kapp in ausgeprägtem politischen Gegensatz stehende Sohn Wolfgang als Generallandschaftsdirektor von Ostpreußen 1907/08 eine Kolonisations- und Landarbeitervorlage im Generallandtag einbrachte, die zwar am staatlichen Widerspruch scheiterte, die nichtsdestoweniger aber zur Behandlung der inneren Kolonisation einen entscheidenden Anstoß gegeben hat. — Vgl. H. Rothfels: Wolfgang Kapp, Deutsches Biographisches Jahrbuch, Bd. IV, Das Jahr 1922, S. 132 ff. 3 Der Entwurf mit Motiven ist abgedruckt in den Stenogr. Berichten über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, J g . 1878, Bd. 3, Nr. 44, S. 522ff. — Obwohl Kapps Entwurf nicht Gesetz wurde aus Gründen, die noch erwähnt werden, behandle ich ihn im folgenden verhältnismäßig ausführlich, weil er Kapp selber wichtig war und seine Anschauungen gut beleuchtet. — Vgl. auch Auswanderung und Auswan-

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Gesetzentwurf über die Beförderung von Auswanderern

hatte. In der Rede, mit der Kapp seine Vorlage im Plenum empfahl, äußerte er nachdrücklich: „Der vorliegende Entwurf läßt. . . die Frage über die wirthschaftliche, sittliche und politische Stellung des Staates ganz aus dem Spiel. Er will weder die Auswanderung ermuthigen noch entmuthigen. Er behandelt sie einfach als eine Thatsache, mit der man rechnen muß . . . 1. Wirksame Mittel des Staates, die Auswanderung zu hemmen, erwartete er in den seinen Gesetzentwurf begleitenden Motiven allein von der sozialen und wirtschaftlichen Gesetzgebung2. Nachdem der Grundsatz der Auswanderungsfreiheit im Reiche anerkannt und gesetzlich festgelegt war — ein Grundsatz, dem Kapp unbedingt zustimmte, betrachtete er als Grundtendenz eines Auswanderungsgesetzes lediglich die des Schutzes und der Fürsorge für die Auswanderer3. Kapp verfolgte aber auch noch ein zweites Ziel, das seinen unitarischen Bestrebungen entsprach, dem freilich von Seiten der Regierung dann auch vor allem Widerstand entgegengesetzt wurde. Nach der Reichsverfassung unterstanden zwar die Bestimmungen über die Auswanderung der Gesetzgebung des Reichs4. Aber abgesehen davon, daß von diesem Recht noch kein Gebrauch gemacht war, hatte die Gewerbeordnung von 1869 ausdrücklich vor den Auswanderungsunternehmern und -Agenten Halt gemacht. Ihr Gewerbebetrieb blieb den partikularrechtlichen Bestimmungen der einzelnen Staaten überlassen, die vielfach in Widerspruch zueinander standen und teilweise auch veraltet waren. Kapp wollte nun durch seinen Entwurf zugleich diesen ganzen Stoff für das Reich einheitlich regeln und die durch Widersprüche und veraltete Gesetze entstandenen Unzuträglichkeiten beseitigen. Deshalb behandelte er im ersten Teil seines Entwurfs die Grundsätze, nach denen die Befugnisse der mit Auswanderungsvermittlung befaßten Betriebe geordnet werden sollten. Erst daran schlössen sich im zweiten Teil die Maßderungspolitik, hrsgb. von E. v. Philippovich = Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 52, Leipzig 1892, S. X X I f f . 1 a. a. O. Sitzung vom 13. März 1878, S. 500. 2 a . a . O . Jg. 1878, Bd. 3, Nr. 44, S. 528. 3 Ebenda S. 528. 4 Vgl. die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871, Art. 4, Ziffer 1.

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III. Teil. VI. Kap.: Ausklang in Berlin (1870—84)

nahmen zum Schutz der Auswanderer und endlich im Schlußteil die Strafbestimmungen gegen Übertretungen. Bei der Regelung des Gewerbebetriebes von Auswanderungsunternehmern und -Agenten wandte sich Kapp aus seinen Erfahrungen heraus gegen das Vorurteil, das in den Lockungen von Agenten einen wesentlichen Anlaß zur Auswanderung erblickte und ihn durch ein zweckmäßig abgefaßtes Gesetz forträumen zu können glaubte. Die Verhütung unlauterer Agitation wollte Kapp vielmehr den entsprechenden Bestimmungen des Strafgesetzbuchs überlassen. Die Erteilung von Konzessionen sollte lediglich von der persönlichen Eignung des Bewerbers und einer Kaution abhängen. Den Grundsatz, die Zulassung von Auswanderungsunternehmern von dem Bedürfnis danach abhängig zu machen, glaubte Kapp fallen lassen zu dürfen. Denn nach seiner Ansicht lag in der Natur des Gewerbes, das größere Geldmittel, weit verzweigte Verbindungen, regelmäßige Verfügung über Schiffsgelegenheiten voraussetzt, eine selbsttätige Einschränkung. Zugleich hoffte Kapp, bei dieser Handhabung dem Treiben unkonzessionierter Winkelagenten den Boden zu entziehen. In den Einzelbestimmungen über die Konzessionserteilung richtete er sich nach der Gewerbeordnung von 1869. Auch die Paragraphen über Schutz und Vorsorge für die Auswanderer konnten auf ältere Vorschriften zurückgreifen, insbesondere auf die Hamburg-Bremer Praxis, sowie auf Vorschläge, die 1868 eine vom Kanzler ernannte Kommission nach den dortigen Erfahrungen niedergelegt hatte. Sie waren vom Bundesrat schon damals für eine künftige Auswanderungsgesetzgebung als geeignet anerkannt worden. Um von vornherein die Ausführung der Schutzmaßregeln zu gewährleisten, wünschte Kapp überwachende und bevollmächtigte Auswandererbehörden in allen Hafenorten einzurichten, wo Auswanderer nach Übersee befördert wurden. Die Verträge sollten jeweils die Beförderung über See, nicht nur bis zu einem Zwischenhafen, und die vollständige Beköstigung der Auswanderer während der Überfahrt mit einschließen. Die Auswanderer wurden in ihrem Recht und in ihrer Gesundheit geschützt bei Erkrankung, unverschuldeten Verzögerungen vor und während der Reise, Schiffbruch und 152

Sein Scheitern

anderen Seeunfällen. Der Entwurf enthielt ferner Bestimmungen über den Prüfungszwang der Seetüchtigkeit und ausreichender hygienischer Einrichtungen der Auswandererschiffe durch die Hafenbehörden, sowie über die Pflicht zur gesundheitlichen Untersuchung der einzelnen Auswanderer. Die Strafbestimmungen im dritten Teil entsprachen im großen Ganzen denen des Strafgesetzes von 1871. Schließlich hatte Kapp noch den Fall eines internationalen Abkommens über Auswanderungswesen berücksichtigt, indem er diejenigen Bestimmungen, die bei einer internationalen Vereinbarung vor allem in Frage kamen, nicht in das Gesetz selber aufnahm, sondern dem Bundesrat und damit einfacheren Änderungsmöglichkeiten vorbehielt. Kapp selber erstrebte durchaus eine internationale Konvention und hatte schon 1868 bei dem ersten derartigen Versuch des Norddeutschen Bundes in New York — allerdings vergeblich — mitgearbeitet Auch seinem Vorgehen im Reichstag blieb der Erfolg versagt. Schon bei der ersten Vorlage des Entwurfs im Plenum erfuhr Kapp Widerspruch durch den Regierungsvertreter, der die Dringlichkeit eines solchen Gesetzes bestritt und materielle Bedenken erhob gegen die vorgesehene Einschränkung der einzelstaatlichen Rechte 2 . Immerhin wurde eine Kommission gebildet zur Beratung des Entwurfs. Sie hat ihn in eingehender Arbeit so umgestaltet, daß er den von der Regierung geäußerten Bedenken entgegenkam, ohne Kapps Gedanken der Vereinheitlichung völlig fallen zu lassen 3 . Die Session ging jedoch zu Ende, ohne daß die Entwurfsberatung im Plenum erledigt worden wäre, da Bismarck im Juli 1878 nach der Ablehnung des Sozialistengesetzes auf Grund des zweiten Attentats auf Kaiser Wilhelm den Reichstag auflöste, und Kapp, wie früher erwähnt, bei den Neu1 Vgl. Kap. 5, S. 224 und E. von Philippovich: a. a. O. S. XVII. 2 Ob überhaupt und inwieweit bei diesem Widerspruch der Regierung die momentane innenpolitische Situation mitbestimmend war, darf in unserem Zusammenhang dahingestellt bleiben. — Über Bismarcks Stellung zur Auswanderung vgl. Stolberg - Wernigerode: a. a. O. S. 198 ff. 3 Um die Arbeit der Kommission kennen zu lernen, wurden die Akten über die Kommissionssitzungen und der umgestaltete Gesetzentwurf in den Aktenbeständen des Reichstags benützt.

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wählen sein Mandat einbüßte. Unter den veränderten parteipolitischen Verhältnissen der achtziger Jahre ist er bei seinem Wiedereintritt in den Reichstag nicht mehr auf den Entwurf zurückgekommen. E r beschränkte sich darauf, bei der Behandlung von Auswanderungsfragen für seine Meinung einzutreten und — zumal bei dem Wiederanschwellen der Auswandererziffern seit den achtziger Jahren — auf ein Gesetz zu dringen 1 . Schon die Haltung Kapps in der Auswanderungsfrage, insbesondere seine Stellung gegenüber dem Konzessionswesen geben einen Eindruck von seinen nationalökonomischen Ansichten, von seinem Eintreten für wirtschaftliche Freiheit. Entsprechende Äußerungen aus den frühen siebziger Jahren liegen kaum vor. Das ist sicher kein Zufall. Erst als es beim Umschwung vom Freihandel zum Schutzzoll galt, die bisher ohne Schwierigkeiten behauptete Position zu verteidigen, hat K a p p seinen freihändlerischen Standpunkt auch im Reichstag gelegentlich geltend gemacht 2 . Ganz unumwunden tritt dieser aber vor allem in Kapps strikter Ablehnung von Kolonien hervor. Anläßlich des neunzehnten Kongresses deutscher Volkswirte, der im Oktober 1880 in Berlin tagte, hat er gemeinsam mit F. C. Philippson sogar einen Antrag eingebracht, der Kongreß möge sich gegen die Erwerbung von Kolonien als einen Anachronismus aussprechen 3 . Naturgemäß betrachtete K a p p die Frage der Kolonisation im Zusammenhang mit dem Problem der Auswanderung, wie sich denn seine Pole1 Vgl. Stenogr. Berichte vom 2. Dezember 1881, S. 153ff. und 5. Februar 1883, S. 1297ff. Ein Auswanderungsgesetz zum Schutz vor Irreführung und Ausbeutung wurde erst lange nach Kapps Tod im Juni 1897 erlassen. 2 Vgl. Stenogr. Berichte vom 9. Januar 1883, S. 815ff.; 9. April 1883, S. 1778ff. und 30. Mai 1883, S. 2672ff. 3 Der Antrag in extenso lautet: I. Die Auswanderung ist eine jener großen, Jahrtausende alten Erscheinungen im Völkerleben, welche ihre hinreichende Erklärung finden in dem wirklichen oder vermeintlichen Gegensatze der leiblichen Bedürfnisse und politischen oder geistigen Ziele des Einzelnen zur jeweiligen wirthschaftlichen, intellektuellen und staatlichen Lage der Allgemeinheit; sie entspringt einem Triebe, welcher den Segen der Kultur über unangebaute Welttheile ausgebreitet und den Fortschritt der Menschheit mächtig gefördert hat.

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Ansichten über Kolonisation

mik gegen diejenigen Befürworter der Kolonisation wandte, die glaubten, beides miteinander verknüpfen zu können, indem man den Auswandererstrom nur in Kolonien zu leiten habe. Schon allein die Psychologie der Auswanderer, die der Bevormundung satt seien, die auf eigenen Füßen stehen und niemandem als sich selbst verantwortlich sein wollten 1 , ließ nach Kapps Dafürhalten eine solche Verkoppelung gar nicht zu. Vor allem aber waren es freihändlerische Motive, die ihn so unbedingt „die liberale Doktrin kolonialer Enthaltsamkeit" (Oncken) vertreten ließen: „Die Freiheit der Bewegung", so äußerte er in längerer Rede auf dem Kongreß, „. . . schafft neue Verbindungen, innigere Beziehungen, neue Interessen und bedeutend erhöhte Gewinne. Was beim Ausbruch des amerikanischen Krieges als Ruin des englischen Handels bezeichnet wurde, das erwies sich bald als der größte Segen. Adam Smith behielt Recht: Der ganze englische Diese zu Zeiten starke, zu Zeiten minder starke Bewegung läßt sich, ob bequem oder unbequem, durch Polizei, Zwang oder Erschwerung weder eindämmen noch verhindern. Es gibt nur einen Weg, ihr vorzubeugen: Durch Gewährung eines möglichst unbeschränkten Baumes für die Entfaltung der geistigen und wirthschaftlichen Kräfte des Einzelnen muß diesem das Vaterland so lieb und theuer gemacht werden, daß er seine Blicke und Schritte nicht mehr in die Fremde zu lenken braucht. II. Die Kolonisation ist angesichts des im Laufe des letzten Jahrhunderts aus engen n a t i o n a l e n Schranken zu großen i n t e r n a t i o n a l e n Beziehungen erwachsenen Weltverkehrs, angesichts der in Folge der amerikanischen Befreiungskriege jetzt fast ganz aufgehobenen Handelsund Kolonialmonopole und angesichts des nunmehr freien Welthandels ein A n a c h r o n i s m u s , in den zu fallen weder augenblickliche Nothstände noch die Interessen der Arbeit nöthigen. Heutzutage bietet die fernere Ausbildung des Systems der Handelsverträge für die Angehörigen der vertragschließenden Staaten das zweckmäßigste Mittel, sich die Vortheile und Wohlthaten zu sichern, welche man in früheren Zeiten durch die Kolonisation zu erreichen suchte. Während der Reichsregierung die Pflicht obliegt, die Auswanderung auf Grund bestehender Gesetze unbehelligt zu lassen, sie aber vor Ausbeutung und Bedrückung zu schützen, hält es der volkswirthschaftliche Kongreß für nicht zulässig, daß auf Kosten der Gesammtheitund zu Gunsten einzelner Klassen theuere und aussichtslose, wenn auch wohlgemeinte Versuche mit Errichtung irgend welcher Art von Kolonieen angestellt werden. (Vgl. Bericht über die Verhandlungen des 19. Kongresses deutscher Volkswirthe in Berlin, Berlin 1880, S. llOf.) 1 a. a. 0 . S. 122.

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Export, welcher sich im Jahre 1772 auf drei Millionen Pfund Sterling belief, hatte dagegen 1872, also ein Jahrhundert später, bereits die Höhe von sechsundvierzig Millionen Pfund Sterling per Jahr erreicht. Nun wird angesichts dieser Entwicklung und der h e u t i g e n Lage des Welthandels uns Deutschen vorgeschlagen, daß wir, obgleich die Erfahrungen Englands und anderer Kolonialmächte 1 uns vorliegen, es jetzt noch mit einer Kolonialgründung versuchen sollen. Mir scheint das ebenso unthunlich, ebenso unmöglich, als ob ein erwachsener Mensch seine Kinderschuhe wieder anziehen wollte" 2 . Neben dieser Begründung, die allein in dem Antrag zu Wort kommt und der liberalen Doktrin entspricht, ist doch nicht unwesentlich und für Kapps realistische Betrachtungsweise bezeichnend, daß in seiner Ablehnung von Kolonialexperimenten auch Motive gesamtpolitischer Art anklingen, die der Auffassung Bismarcks im Grunde nicht so fern stehen. E r sah die außenpolitischen Verwicklungen voraus, die Kolonialerwerbungen im Gefolge haben mußten, und seine Warnung vor Konjunkturgewinnen wie seine Mahnung zu männlicher Beschränkung haben im Hinblick auf die nachbismarckische Zeit einen besonderen Klang: „Die ganze Welt," fuhr er in jener Rede fort, „betrachtet uns mit Mißtrauen und die Engländer erst recht. Überhaupt kann sich wohl ein Privatmann da, wo er eine günstige Gelegenheit erspäht, in eine neue und größere Stellung hinein drücken; ein Staat, eine Großmacht aber muß mit allen ihren Machtmitteln eintreten, wenn sie eine neue Position erringen und behaupten will. Es darf ihr dann selbst auf einen Krieg nicht ankommen und wenn sie ihn nicht will, so wird er ihr von ihren mißgünstigen Nachbarn schon aufgedrängt werden . . . . Wir Deutsche aber haben viel wichtigere und dringendere Aufgaben zu erfüllen, als uns unnöthiger Weise Verlegenheiten auf den Hals zu laden. . . . Zersplittern wir lieber unsere Kraft nicht! Nationen wie Individuen werden nur dadurch groß, daß sie sich zu beschränken wissen. Nur wer seine, ihm 1 Über den Niedergang der spanischen und frühen französischen Kolonisation hatte sich Kapp schon vorher geäußert. Vgl. ebenda S. 123f. 2 Ebenda S. 126 f.

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Zerfall der nationalliberalen Partei

von der Natur gezogenen Gränzen richtig erkennt, nur der vermag etwas Nachhaltiges, Tüchtiges zu leisten: Das ist keine feige Resignation, das ist selbstbewußte männliche Stärke" 1 . So hat Kapp Bismarcks behutsame Kolonialpolitik begrüßt 2 , deren Anfänge er gerade noch erlebte, und die nichts von Kolonialchauvinismus an sich trug, wie Kapp die von ihm bekämpften Bestrebungen nannte. Auf anderen Gebieten hingegen war er inzwischen zu seinem Gegner geworden. Die veränderte Zollpolitik hatte ja bekanntlich über ihre wirtschaftliche Bedeutung hinaus in Folge des taktischen Vorgehens und der weiteren Absichten Bismarcks wie ein Sprengmittel auf den deutschen Liberalismus gewirkt. So weit er sich bisher in der nationalliberalen Partei zusammengefunden hatte, reichte jetzt Bennigsens virtuos gehandhabte Kunst des Kompromisses nicht mehr aus, um die auseinanderstrebenden Geister weiterhin zusammenzuhalten 3 . Für Kapp blieb seine Stellungnahme keinen Augenblick fraglich. Wie stark seine freihändlerische Richtung angesichts der Mißstände, die das hochschutzzöllnerische System in den Vereinigten Staaten teilweise mit sich gebracht hat, drüben schon, nach dem Verblassen der sozialistischen Jugendideen, befestigt worden war, läßt sich im einzelnen nicht ausmachen 4 . Als gewiß aber darf man annehmen, daß auch hier den Lebenserfahrungen eines Mannes, der sich ohne alle materiellen Mittel zur Unabhängigkeit hinaufgearbeitet hatte, eine wichtige Rolle zukommt bei seinem Eintreten für „das freie Spiel der Kräfte." Ihn darum schlechthin unsozial zu nennen 6 , geht zu weit; denn Kapps gesamte praktische Tätigkeit zum Schutze der Auswanderer etwa bezog sich doch auf Hilfe für solche, die unerfahren, vereinzelt und wirtschaftlich meist 1 Ebenda S.129f. und S.138. 2 Vgl. H. von Holst: a . a . O . S. 258. 3 Siehe dazu L. Maenner: Deutschlands Wirtschaft und Liberalismus in der Krise von 1879, Einzelschriften zu Politik und Geschichte, 20. Schrift, Berlin 1928. 4 Vgl. H. von Holst: a . a . O . S. 259. 5 So R.Hessen: Deutsche Männer, Fünfzig Charakterbilder, Stuttgart 1912, S. 402. Der Verfasser hat sich vor allem die Konfrontation Kapps mit Schurz angelegen sein lassen.

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schwach der Vergewaltigung durch Stärkere entzogen werden sollten. Die mit der Schutzzollpolitik im Zusammenhang stehende Aera der großen sozialen Gesetzgebung Bismarcks 1 hat K a p p nur noch in ihrem Beginn erlebt, aber es ist keine Frage, daß er sich ihr gegenüber ablehnend verhalten hätte 2 . Seine eigene Forderung sozialer Maßnahmen zur Hebung der unteren Volksschichten und damit zur Eindämmung des Auswanderertriebes bot nur eine schmale Berührungsfläche mit Bismarcks Ideen. Dessen Grundauffassung von Staat und Gesellschaft stand K a p p nach Tradition und Lebensschicksal unendlich fern. Er selber gehörte trotz seiner episodenhaften sozialistischen Jugendneigung durchaus zu jener Generation liberalen Bürgertums, die aus eigener K r a f t und Zähigkeit die erste große Wirtschaftsblüte Deutschlands heraufgeführt hatte, die vor allem auch überzeugt war, mehr als nur eine Klasse zu vertreten 3 . So blieb er den Prinzipien wirtschaftlicher Freiheit, an die jene Generation glaubte, treu. Die beginnende tiefe soziale Zerklüftung und die Probleme der Arbeiterschichten, die zu den schwierigsten Fragen der Innenpolitik im neuen Deutschen Reich führten, sind für K a p p bei seinen vorwiegend politischen Gesichtspunkten nicht mehr so fordernd in Erscheinung getreten, daß er in den Kampf um ihre Lösung eintrat. Die tieferen Beweggründe, die hinter Bismarcks Wechsel vom Freihandel zum Schutzzoll sich verbargen, konnte er deshalb nicht erkennen. I n der Tatsache aber des Wechsels allein, die verbunden war mit der taktischen Maßnahme der Zusammenarbeit Bismarcks mit Zentrum und Konservativen, konnte für ihn nur ein tiefer Widerspruch zu den Erfordernissen deutscher Politik liegen. Ebenso h a t K a p p den mit dieser Schwenkung verknüpften Abbruch des Kulturkampfs nicht nur politisch, sondern vor allem auch 1 Siehe dazu H. Rothfels: Prinzipienfragen der Bismarckschen Sozialpolitik, Königsberger Universitätsreden III., 1929, S. 12ff. 2 Die deutsche Freisinnige Partei, der Kapp in den letzten Monaten seines Lebens zugehörte, hatte die Bekämpfung des Staatssozialismus auf ihrem Programm stehen. Vgl. Die deutschen Parteiprogramme, 4. Aufl. hrsgb. von W. Mommsen und G. Franz, Leipzig und Berlin 1932, Bd. II, S. 40. 3 Vgl. L. Maenner: a . a . O . S . U .

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Stellung zu Bismarcks Sozialpolitik und zum Kulturkampf

geistig als anfechtbar empfunden. Der Kulturkampf war für ihn die berechtigte Abwehr des modernen Staates gegen die Übergriffe einer mittelalterlichen Kirche 1 . In seinen Augen war das Christentum lediglich ein historisches Phänomen ohne entscheidende Gegenwartsbedeutung. — Noch einmal muß an dieser Stelle der Name Feuerbachs fallen. Die genuin religiöse Veranlagung, die diesen ursprünglich zum Philosophieren getrieben hatte, ging Kapp ab, und nicht so sehr die Einzelheiten seiner Philosophie hatten ehedem auf den in den Weltanschauungskämpfen seiner Jugend begriffenen Studenten überwältigend gewirkt. Wohl aber Feuerbach selber als Erscheinung im Ganzen, in der sich gleichsam die geistigen Tendenzen seiner Zeit verkörpert hatten, der Zerfall der Hegeischen Einheit von Philosophie und Religion, der unausweichliche Gegenschlag, der aus Religion Anthropologie machte und das im Gegensatz zur Spekulation unaufhaltsame Eindringen realistischer, empirischer Forschung, die Wissen und Glauben für immer von einander zu scheiden schien. Hinzugetreten war im besonderen wohl auch die innere Verwandtschaft zwischen aufklärerischen Zügen in Kapps wie in Feuerbachs Wesen. Dieses alles hatte noch für die Weltanschauung des gereiften Mannes die bestimmenden Elemente abgegeben. So erklären sich die Äußerungen Kapps über Feuerbach, so die feindseligen Ausfälle gegen das Christentum, denen wir früher begegneten. Indem Kapp im Strom seiner Zeit mitzog, steigen hier Schranken auf, die vielen der Besten seiner Generation gesetzt waren. Er lebte in der Zuversicht auf mögliche Perfektibilität der Welt. Vor einem seichten Optimismus bewahrte ihn freilich die unbestechliche Wahrhaftigkeit seines Wesens und sein hochgespannter sittlicher Idealismus. Doch blieben solcher Haltung die Bezirke religiöser Abgründigkeit und Erschütterung verschlossen 2 . Aus der tiefen Verschiedenheit seines Weltbildes von dem 1 Vgl. zwei Reden Kapps zu Kulturkampffragen im Preußischen Abgeordnetenhaus in den stenographischen Sitzungsberichten vom 6. Mai 1874, S. 1477ff. und vom 16. März 1875, S. 844ff. 2 Charakteristisch ist, daß Kapp Luther einmal als demokratischen Agitator bezeichnet hat. (Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 406.)

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auf ganz anderem Grunde entstandenen Bismarcks 1 entsprang naturgemäß Kapps Unvermögen, seit den ausgehenden siebziger Jahren der Politik des Kanzlers noch zu folgen. Bei aller angeborenen Empfänglichkeit für historische Größe, für die Bedeutung von Bismarcks Persönlichkeit und Staatsmannschaft, hat Kapp über ihn speziell als Wirtschaftspolitiker sehr bitter geurteilt 2 . Von den reichlich vorliegenden Zeugnissen sei nur ein besonders charakteristisches aus einem Briefe an Eduard Cohen 3 angeführt: „Bei uns sieht es jetzt in der Politik schlimm genug aus. Was soll daraus werden? Ich glaube unsere Seestädte werden zuerst ein Lied von der neuen Zollwirtschaft zu singen haben. Ist es an sich schon ein Leichtsinn, ein sechzig Jahre altes Wirtschaftssystem, das sich im ganzen vortrefflich bewährt hat, in einigen Monaten auf den Kopf stellen zu wollen und ohne jede Vorbereitung den Sprung ins Ungewisse zu wagen, so ist es doppelt demütigend und beschämend, in diesem Wettlauf der kleinlichsten engherzigsten Interessen größere Gesichtspunkte und Grundsätze von den einzelnen als überflüssige Bagage über Bord werfen und fast die ganze Nation wie eine Herde kopfloser Hämmel hinter Bismarck herlaufen zu sehen; ein verlorener Feldzug könnte unsere materiellen und geistigen Interessen nicht ärger schädigen als dieser von Bismarck mit 1 Vgl. dazu O. von Bismarck, Deutscher Staat, Ausgewählte Dokumente eingeleitet von H. Rothfels, München 1925, besonders S. XXIIIff. 2 Mit Bismarck persönlich zusammengekommen ist Kapp außer bei den für Parlamentarier üblichen Einladungen sofort nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Frühsommer 1870, als Bismarck ihn zu einer längeren Audienz zu sich bat. Kapp hat gleich nach diesem Empfang sein Gespräch mit Bismarck, der ihn nach amerikanischen Verhältnissen fragte, aufgezeichnet. Diese Aufzeichnung ist vermutlich mit Kapps Nachlaß zusammen vernichtet worden. Ein sehr ungenügender Niederschlag der von Bismarck dabei getanen Äußerungen, die zweifellos auch entstellt sind durch die Art der Wiedergabe — man kann sich kaum enthalten diese als schnoddrig zu charakterisieren — findet sich in: Bismarcks großes Spiel, die geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers, hrsgb. von E. Feder, 2. Aufl., S. 120f. — Bezeichnend waren Bismarcks Worte beim Empfang Kapps: „Sie sind Friedrich Kapp! ? Ich habe Sie mir älter vorgestellt . . . " — wie denn Kapp bis zu seinem Tod immer jugendlicher wirkte als er tatsächlich war. 3 5. April 1879 (Familienpapiere).

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Urteil über Bismarck als Wirtschaftspolitiker

Hülfe der Junker, Pfaffen und Ultramontanen, kurz aller Reichsfeinde gewonnene Sieg. Er wird uns mehr als ein Jahrzehnt in unserer Entwicklung zurückwerfen. Es ist ein doppelt großes Unglück, daß ein um unser Vaterland sonst so hochverdienter Staatsmann sich an die Spitze derer stellt, welche das Reich nicht wollen, welche es wie einen carnevalistischen Zwischenakt betrachten und dementsprechend handeln. Ich sehe voraus, daß Du mir nicht beistimmst in meinen Voraussetzungen, und ich selbst wünschte mir nichts mehr, als daß ich unrecht hätte in meinem Urteil; aber ich kenne leider die treibenden Kräfte in unserem öffentlichen Leben zu gut, als daß ich nicht befürchten müßte, recht zu haben. Es ist auch ein schlechter Trost sich sagen zu können, daß man nicht mit dabei war, daß man seine Hände in Unschuld waschen kann 1 ; denn es bleibt doch immer mea res quae agitur, wenn ich sie auch bei der jetzigen Strömung der Dinge nicht anders hätte gestalten können. Vorläufig allerdings ist es mir lieb, daß ich ein Stilleben führen und meinen Studien leben kann, es ist auch vielleicht meiner Gesundheit zuträglicher2, daß ich mich nicht täglich zu ärgern brauche; allein diese Zustände ziehen mich im Lauf der nächsten Zeit eher wieder in die alten Kreise zurück, als daß sie mich ihnen ganz entfremdeten." Kapp hatte recht mit seiner letzten Vermutung. Die Wirtschaftspolitik Bismarcks mit Hilfe von Zentrum und Konservativen trieb Kapp wieder stärker in die Politik zurück als in der ersten Zeit nach seinem Ausscheiden aus dem Reichstag. Die Sezession des linken Flügels seiner Partei gab ihm den Anstoß. Er hat die Perspektive, in der er diesen wichtigen parteigeschichtlichen Vorgang sah, Eduard Cohen gegenüber folgendermaßen gezeichnet 3 : „Inzwischen hat sich die Trennung zwischen den beiden Flügeln der nationallibeTalen Partei vollzogen. Ich hätte es lieber gesehen, wenn die Trennung schon vor eineinhalb Jahren geschehen wäre, als Forckenbeck sein Präsidium4 niederlegte. Indessen ist später 1 2 3 4 11

Der Brief stammt aus der Zeit, als Kapp nicht im Reichstag saß. Kapp war damals schon seit einigen Jahren zuckerkrank. 27. August 1880 (Familienpapiere). seil, im Reichstag. Königsb. bist. Forsch. 8

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immerhin doch besser als gar nicht. Ohne diesen Schritt würde unser ganzes parlamentarisches Leben versumpfen, und sicherlich wäre es nicht so tief gesunken, wenn Bismarck von Anfang an gefühlt hätte, daß es im Parlament noch unabhängige Männer genug gibt, die seinen Überraschungen festen Widerstand zu leisten entschlossen sind und im rechten Augenblick auch »nein« zu sagen wissen. Die Reichsregierung betreibt zur Zeit nur eine einseitige Interessenpolitik der besitzenden Klassen auf Kosten der nichtbesitzenden, während es ihrem Wesen besser entspräche, wenn sie eine Politik der ausgleichenden Gerechtigkeit in den Vordergrund ihrer Tätigkeit stellte. Das kann auf die Dauer nicht gehen; der Schacher der Interessengruppen fängt angesichts der schlechten Ernte schon jetzt an zusammenzubrechen; Bismarck lebt nicht ewig, der Kaiser erst recht nicht. Es muß also eine Partei existieren, welche den liberalen Geist unserer Institutionen aufrecht erhält, welche die Nation den konservativen Gelüsten nicht blindlings überantwortet, sondern fest auf ihren Grundsätzen beharrt und sich nicht auf den Altenteil setzen läßt. Es kommt gar nicht auf eine große Zahl an, sondern auf einen festen entschlossenen Willen, der sich erreichbare Ziele setzt und nie den zweiten Schritt vor dem ersten tut. Die nächsten Wahlen werden zeigen, daß die Bewegung Widerhall in den Wählern findet. Ich habe mich ihr angeschlossen, weil, wenn auch zur Zeit außer aller politischen Wirksamkeit, ich es für meine Pflicht halte, Farbe zu bekennen. Dieser neue Ansatz zu einer Partei wird, wenn ich mich nicht arg täusche, in nicht zu langer Zeit die ausschlaggebende Partei des Landes werden, zumal sie eigentlich die alte nationalliberale Partei in ihren ursprünglich gewollten Zielen darstellt, aus einer Zeit freilich, wo diese sich nicht in jedem Augenblick auf einen andern Leim locken ließ." So brachte Kapp aus einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber der Sache und aus einem gewissen esprit de corps seinen Parteigenossen gegenüber das Opfer — denn ein solches war es bei seinem Gesundheitszustand und bei seiner Beanspruchung durch andere Dinge — sich offiziell den Sezessionisten anzuschließen, obwohl er in den Einzelheiten offenbar nicht vollständig mit ihrem Vorgehen einverstan162

Tätigkeit innerhalb der Partei

den war 1 . Bei der Wahl von 1881 stellte er sich seiner Partei erneut für den Reichstag zur Verfügung, und bei der Fusion der Sezession mit der Fortschrittspartei im Frühjahr 1884 trat er noch in die Deutsche Freisinnige Partei ein. So wenig wie im Reichstag ist Kapp innerhalb des Parteilebens nach außen stark hervorgetreten. Aber wie er dort intensiv mitarbeitete, so hat er auch schon seit 1873 an der organisatorisch-verwaltenden Arbeit des nationalliberalen Komitees sich beteiligt 2 . Bei einzelnen Fragen der Parteitaktik wird er wenig bemerkbar 3 ; doch zeigen seine Unterschriften unter den Wahlaufrufen der nationalliberalen Partei von 1877 und 1878 und unter der Austrittserklärung der Sezessionisten, daß man 1 Außer dem oben zitierten Brief Kapps an Cohen vom 27. August 1880 gibt es keine authentische Äußerung von ihm zur Frage der Sezession und zum modus procedendi dabei. — Die Angaben im Text, die über seine eigenen brieflichen hinausgehen, beruhen auf zuverlässiger mündlicher Überlieferung. 2 ,,. . . Ich selbst war in den letzten Wochen sehr mit den Wahlen zum Landtag beschäftigt. Ich gehöre nämlich dem nationalliberalen Komitee an und habe als solcher alle Tage ein bis zwei Stunden zu t u n " (An Ernst Kapp, 26. Oktober 1873, Nachlaß E. Kapp, München). Dazu ein Brief R. von Bennigsens an Rickert vom 13. Sept. 1880; vgl. H. Oncken: Rudolf von Bennigsen, Bd. 2, S. 434: „Was den von Kapp verwalteten Parteifonds anlangt, so bezweifle ich nicht, daß sich eine Verständigung finden wird . . . " — Da die Geschichte der nationalliberalen Partei noch aussteht, ist es mir nicht gelungen, näheres über Art und Dauer seiner Tätigkeit festzustellen. 3 Ein Zeugnis für Kapps Stellung zur Reform des Wahlgesetzes enthält: Heyderhoff-Wentzke: Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks, Bonn, Leipzig 1926, Bd. 2, S. 96f. (Brief Kapps an H. von Sybel vom 21. Dezember 1873). Als die Frage des Budgetrechtes bei der Militärvorlage 1874 wieder akut wurde, schrieb Kapp an A. von der Leyen: „Hier stinkt alles von Kompromiß; ich bin zwar für die verlangte Zahl, aber gegen deren unbedingte Bewilligung. Jetzt soll sie auf sieben Jahre bewilligt werden." (10. April 1874, Nachlaß v. d. Leyen, Berlin). — Vgl. auch H. Oncken: a . a . O . Bd. 2, S. 258. Anm. 1. Ob und wie viele andere schriftliche Zeugnisse für diese Tätigkeit Kapps verloren gegangen sind, muß bei der Ungunst der Materiallage dahingestellt bleiben. Sehr viele, vielleicht die meisten Fragen sind mündlich besprochen worden, zumal Kapp seit dem Frühjahr 1883 in der sog. Sezessionistenhöhle wohnte (Tiergartenstraße 37, Ecke Hitzigstraße) zusammen mit Georg von Siemens, Ferdinand Springer, Heinrich Rickert, Theodor Barth.

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auf seinen Namen Wert legte 1 . Auch als es sich um die Gründung eines politischen Wochenblattes für die Zwecke der Sezessionisten und um die Herausgabe einer autographischen Korrespondenz handelte, war Kapps geschäftliche Erfahrung und Hilfe erwünscht 2 . So kam es, daß er bis zu seinem Tode dem Parlament angehörte. Aber das Motiv war in den letzten Jahren weit mehr Gewissenhaftigkeit im Gegensatz zu der Freudigkeit der ersten Jahre. Schon 1882 war er entschlossen, am Ende der Legislaturperiode sein Mandat niederzulegen 3 . Die andere Seite seiner Natur, der Trieb zu wissenschaftlicher Beschäftigung machte sich übermächtig geltend; wie wir noch sehen werden, im Zusammenhag mit der innenpolitischen Wendung. Auch suchte ihn, seit er von seiner Zuckerkrankheit wußte, öfter der Gedanke heim, es möchte ihm kein langer Lebensabend beschieden sein und es gelte, die noch geschenkte Frist zu nutzen 4 . Einer seiner Freunde berichtet: „Die Wehmut, ja Niedergeschlagenheit, mit der er mir brieflich von der Konstatierung der tückischen Krankheit Mittheilung machte, waren ergreifend, weil sie in so grellem Kontrast zu seinem ganzen Wesen standen. Es ist das erste Wort gewesen, aber auch das letzte geblieben, das ich von ihm in diesem Ton gehört. Der Schlag war zu unerwartet gekommen, und was ihn schreckte und ihm schier unerträglich war, das war der Gedanke, vielleicht dazu verurtheilt zu sein, Jahre und Jahre leben zu müssen, ohne arbeiten und wirken zu können. In dem nächsten Brief, den ich aus Carlsbad von ihm erhielt, schrieb er: »Es ist mir ein peinliches Gefühl, daß ich mir überhaupt von meinem Leichnam Rechenschaft ablegen und beinahe die Hälfte des Tages zu seiner Pflege verwenden muß. 1 Vgl. Heyderhoff-Wentzke: a. a. O. Bd. 2, S. 166ff.; S. 201ff.; S. 349, S. 384. 2 Ebenda S.294, S. 296, S.361. 3 „Ich sehe täglich mehr, daß meine erste Pflicht darin besteht, die Buchhandelsgeschichte zu vollenden, die, je tiefer ich darin eindringe, desto interessanter für mich und zur Kulturgeschichte wird. So werde ich mit dem Ablauf meines Reichstagsmandats die Politik an den Nagel hängen und andere für sie sorgen lassen" (An Eduard Cohen, 29. Mai 1882, Familienpapiere). 4 Äußerungen der Art finden sich in Briefen an Eduard Cohen.

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Krankheit und Abstandnahme von der parlamentarischen Wirksamkeit

Wo soll der Gebrauch der Kräfte bleiben. Man lebt doch nicht, um zu v e g e t i r e n « " E s kamen zwar Zeiten der Besserung und K a p p gab sich in seinem ungebrochenen Wirkungsdrang neuer Hoffnung hin. Doch mahnten ihn seine Jahre, die ihm gebliebenen K r ä f t e zu konzentrieren. — Die schwache Seite des Parlamentarismus kannte er schon aus Amerika und er verkannte sie auch in Deutschland nicht. So soll er einmal scherzhaft übertreibend geäußert haben: ein Parlamentsmitglied verliere jährlich 5 % seines natürlichen Verstandes und wer dem Reichstag und dem Preußischen Landtag angehöre, nicht nur 10% sondern 20 % 2 . J e länger desto mehr erkannte er auch die Unvereinbarkeit seiner wissenschaftlichen Studien mit der Beanspruchung durch den Reichstag und seine geringe Eignung zu einer parlamentarischen Laufbahn im üblichen Sinn. Er schrieb darüber an einen seiner Bekannten 3 : „Mit solcher Arbeit verträgt sich . . . eine parlamentarische Tätigkeit n i c h t . . . . Wenn es f ü r mich möglich gewesen wäre, so hätte ich sie gern fortgesetzt; indessen ist sie, wenn man sich ihr nicht ganz widmet, unfruchtbar. Ich schlage die positiven Früchte durchaus nicht hoch a n ; allein man kann doch manches verhindern und manche gute Initiative ergreifen. Wer in öffentlichen Dingen nichts f ü r sich selbst will, der wird immer etwas nützen können, aber nicht viel. Übrigens habe ich mich auch durch meine historischen Arbeiten und die sich daran knüpfenden Gesichtspunkte als Parlamentarier vor mir selber unmöglich gemacht. Ein guter Politiker muß auch etwas für sich wollen, egoistische Ziele (wenn auch keine gemeinen) verfolgen und unter allen Umständen sich an die Spitze arbeiten. Er muß Leidenschaften, Sympathien, Antipathien für sich auszubeuten und im Interesse seiner Sache zu verwenden wissen. Dann wird er auch etwas erreichen. Mir fehlt dieser Ehrgeiz. Ich wünsche und strebe, meinen eignen Interessen zu dienen, und ganz unabhängig von Dritten meinen Weg zu gehen. Unterordnung unter den Willen eines Dritten wird mir sehr schwer; ich 1 Siehe H. von Holst: a . a . O . S. 262. 2 Ebenda S. 256, Anm. 1. 3 An Julius Duboc, 31. August 1884. — Veröffentlicht in der Nationalzeitung am 24. Dezember 1884.

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glaube fast, sie ist mir unmöglich. Sodann habe ich aber durch meine Arbeiten in Archiven und sonstiger mühsamer Zusammenstellung der gefundenen Resultate entschieden die Gabe eingebüßt, meine Gedanken sofort im Vortrag elegant und formell abgerundet auszudrücken. Mit anderen Worten, je älter ich geworden bin, desto schlechter rede ich. Als junger Mensch sprach ich fließend und oft gut, als alter Kerl weder fließend noch gut. Man wird über Beschäftigungen wie die meinen gegen sich selbst zu kritisch und verbessert sich, ehe nur das heraus ist, was man ursprünglich sagen wollte, die Worte werden einem zu Krüppeln, so daß man besser das Maul hält und lieber manchen Blödsinn über sich ergehen läßt." Kapp hätte schon 1872 Gelegenheit zu ausschließlich wissenschaftlicher Betätigung gehabt. Damals war ihm an der neu gegründeten Universität Straßburg ein Extraordinariat für amerikanisches Staatsrecht und amerikanische Geschichte angeboten worden. Über den Anlaß dazu hat er sich Ernst Kapp gegenüber geäußert 1 : ,,. . . als zweites Geschäft teile ich Dir mit, daß Roggenbach, der mit der Reorganisation der Straßburger Universität betraut ist, jetzt sich hier aufhält. Er hat es sehr gut vor und wird aus der Anstalt eine wahre Musteruniversität machen, wenn man ihm seine Forderungen bewilligt. Delbrück will von Reichs wegen n i c h t s geben, Bismarck dagegen soll einen Machtspruch tun. Von diesen also wird die Ausführung der wirklich noblen, großartigen und deshalb bei einer Universität allein zweckmäßigen Pläne abhängen. Ich begegnete Roggenbach vor diesem Tag auf der Straße. Er teilte mir in der Eile mit, was er zu tun beabsichtigte, meinte, er wolle auch deutschamerikanische und amerikanische Studenten heranziehen, ich solle ihm raten, er müsse mich ausführlich sprechen. Ich sagte ihm, ich wisse ein Mittel, seine Absichten ins Werk zu setzen, er solle Professuren gründen, wie man sie sonst noch auf keiner Universität habe, wie z. B. Professuren [für] amerikanische Geschichte, des amerikanischen Staatsrechts und der Geographie überhaupt. Die Sache schien ihm einzuleuchten, nur 1 28. Oktober 1871 (Nachlaß E. Kapp, München).

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Straßburger Professur für amerikanische Geschichte?

würde es schwierig sein, die rechten Leute zu finden. Ich sagte ihm, auch dafür wisse ich Rat. Im Begriffe, ihm stehenden Fußes nähere Mitteilungen zu machen, wurden wir unterbrochen. Wir schieden unter dem Versprechen Roggenbachs, daß er mich an einem der nächsten Morgen aufsuchen wolle. Bis jetzt ist er allerdings noch nicht gekommen. Allein ich glaube, daß er kommen wird. Natürlich werde ich dann gehörig ins Zeug gehen. . . .